Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969 9783428074716, 3428074718

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Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969
 9783428074716, 3428074718

Table of contents :
Staat, Großraum, Nomos
Inhalt
Vorwort
Zur vorliegenden Ausgabe
Verfassung und Diktatur
Diktatur und Belagerungszustand
Eine staatsrechtliche Studie1
Anmerkungen des Herausgebers
Anmerkungen des Herausgebers 1
Anhang des Herausgebers
I. Die Diktatur im römischen Recht
II. Die Diktatur seit der Renaissance
III. Die Diktatur des Ausnahmezustands
V. Die Diktatur des Reichspräsidenten
VI. Die Diktatur des Proletariats
Schrifttum
Anhang des Herausgebers
(sog. Diktaturgesetz)
II.
Anhang des Herausgebers
Anmerkungen des Herausgebers
II.
Anhang des Herausgebers
Anmerkungen des Herausgebers 1
Anhang des Herausgebers
4

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C A R L S C H M IT T

Staat, Großraum, Nomos Arbeiten aus den Jahren 1916 - 1969

Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmitt, Carl: Staat, Grossraum, Nomos : Arbeiten aus den Jahren 1916-1969 / Carl Schmitt. Hrsg., mit einem Vorw. und mit Anm. vers, von Günter Mascnke. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 ISBN 3-428-07471-8 NE: Maschke, Günter [Hrsg.]

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge Vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07471-8 Gedruckt auf altcrunnsbcständi^cm (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 («*)

In dankbarer E rin n eru n g an

Günther Krauss

2. 1. 1911- 7. 9.1989 Eberhard Freiherr von Medern

29. 12.1913 - 19. 1.1993 und

Julien Freund

9. 1.1921 - 10. 9.1993

Inhalt

Vorwort.............................................................................................................

XIII

Zur vorliegenden Ausgabe ...............................................................................

XXVIII

I.

Verfassung und Diktatur

1. Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie (1916) ..........

3

2. Reichspräsident und Weimarer Verfassung (1925) ..........................................

24

3. Diktatur (1926)...................................................................................................

33

4. Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 (sog. Diktaturgesetz) (1926).....................

38

5. Der bürgerliche Rechtsstaat (1928) ...................................................................

44

6. Konstruktive Verfassungsprobleme (1932).......................................................

55

7. Starker Staat und gesunde Wirtschaft (1932)....................................................

71

II.

Politik und Idee

8. Absolutismus (1926) .........................................................................................

95

9. Macchiavelli. Zum 22. Juni 1927 (1927)..........................................................

102

10. Der Rechtsstaat (1935) ......................................................................................

108

11. Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“? (1935).....................................

121

12. Politik (1936) .....................................................................................................

133

13.

139

Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes (1937)

VIII

Inhalt

14. Dreihundert Jahre Leviathan (1951) .................................................................

152

15. Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts (1940)

156

16. Das „Allgemeine Deutsche Staatsrecht“ als Beispiel rechtswissenschaftlicher Systembildung (1940).......................................................................................

166

17. Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten (1942) ...............

184

18. Amnestie oder die Kraft des Vergessens (1949) ...............................................

218

III.

Großraum und Völkerrecht

19. Führung und Hegemonie (1939).......................................................................

225

20. Raum und Großraum im Völkerrecht (1940) ....................................................

234

21. Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (Text der 4. Aufl., 1941) .................................................................................................................

269

Vorbemerkung 269; Allgemeines 270; I. Beispiele unechter oder überholter Raumprinzipien 272; II. Die Monroedoktrin als der Präzedenzfall eines völ­ kerrechtlichen Großraumprinzips 277; III. Der Grundsatz der Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches 285; IV. Minderheiten- und Volks­ gruppenrecht im mittel- und osteuropäischen Großraum 291; V. Der Reichs­ begriff im Völkerrecht 295; VI. Reich und Raum 307; VII. Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft 314; Hinweise und Materialien 321 22. Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law“ (18901939) (1940)........................................................................................................

372

23. Die Raumrevolution. Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden (1940).................................................................................................................

388

24. Das Meer gegen das Land (1941)......................................................................

395

25. Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit (1941) ............................................................

401

26. Beschleuniger wider Willen oder: Problematik der westlichen Hemisphäre (1942)..................................................................................................................

431

27. Die letzte globale Linie (1943) .........................................................................

441

28. Antwort an Kempner (1947) ............................................................................

453

29. Maritime Weltpolitik (1949)..............................................................................

478

Inhalt

IX

IV. Um den Nomos der Erde 30. Illyrien - Notizen von einer dalmatinischen Reise (1925) ...............................

483

31. Raum und Rom - Zur Phonetik des Wortes Raum (1951) ...............................

491

32. Die Einheit der Welt (1952) ..............................................................................

496

33. Der neue Nomos der Erde (1955)......................................................................

513

34. Welt großartigster Spannung ( 1954) .................................................................

518

35. Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Emst Jüngers Schrift: „Der Gordische Knoten“ (1955).......

523

36. Gespräch über den Neuen Raum (1955 / 5 8 ) ....................................................

552

37. Nomos - Nähme - Name (1959) ......................................................................

573

38. Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg (1962) ............................

592

39. Gespräch über den Partisanen - Carl Schmitt und Joachim Schickei (1969) ..

619

Namenverzeichnis I .........................................................................................

643

Namenverzeichnis II ........................................................................................

653

Sachregister

659

Abkürzungsverzeichnis A DGB

Allgemeiner Deutscher Gewerkschafts-Bund

AJIL

American Journal of International Law

AKG

Archiv für Kulturgeschichte

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

ARWP

Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie

ASWSP

Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik

AVR

Archiv des Völkerrechts

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BYIL

British Yearbook of International Law

DJZ

Deutsche Juristen-Zeitung

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DR

Deutsches Recht

EPD

Evangelischer Presse-Dienst

FAD

Freiwilliger Arbeits-Dienst

FBPG

Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte

FN

Fußnote

FS

Festschrift

FZ

Frankfurter Zeitung

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

GZ

Geographische Zeitschrift

HLKO

Haager Landkriegs-Ordnung

HPB

Das historisch-politische Buch

HSTAD-RW

Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (das „RW“ bezieht sich auf den Nachlaß Schmitts. „RW-265, 33“ z. B. bedeutet: Nachlaß Schmitt, Karton 265, Stück Nr. 33).

HZ

Historische Zeitschrift

JIR

Jahrbuch für internationales Recht

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristen-Zeitung

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

Abkürzungsverzeichnis

MAP

Monatshefte für Auswärtige Politik

MNN

Münchner Neueste Nachrichten

Ndr.

Nachdruck

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NPL

Neue Politische Literatur

OKH

Oberkommando des Heeres

OKW

Oberkommando der Wehrmacht

PL

Patrologia Latina (hrsg. v. J. P. Migne, Paris 1878 ff.)

PM

Petermanns Mitteilungen

RAO

Reichsabgabenordnung

RdC

Recueil des Cours de l’Académie de Droit Intemacional

RDILC

Revue de Droit International et de Législation comparée

REDI

Revista Espanola de Derecho Intemacional

REP

Revista de Estudios Politicos

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RPr

Reichspräsident

RV

Reichsverfassung

RVB1.

Reichsverwaltungsblatt

Schm.Jb.

Schmollers Jahrbuch

SD

Sicherheits-Dienst

VB

Volkerbund

VBS

Volkerbund-Satzung

VBuVR

Völkerbund und Völkerrecht

Verw.A.

Verwaltungsarchiv

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer

VZG

Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

WRV

Weimarer Reichsverfassung v. 11.8. 1919

ZAkDR

Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZfG

Zeitschrift für Geopolitik

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZgStW

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

ZöR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZRG

Zeitschrift der Savingy-Stiftung für Rechtsgeschichte

ZVR

Zeitschrift für Völkerrecht

XI

Vorwort „II est surprenant, qu’au fond de notre politique nous trouvions toujours la théo­ logie“, bemerkte Proudhon einmal1. Ähnlich hätte Carl Schmitt von seiner politi­ schen Theorie sprechen können, deren Hintergrund der Kat-echon bildet; die Kraft, welche die Parusie des Antichrist aufhält und dem Menschen die Zeit verschafft, innerhalb derer die Politik ihrem befristeten Spiele nachgehen darf. Dieser Hinter­ grund erlaubt es jedoch nicht, Schmitts politische und juristische Theorie in Theo­ logie aufzulösen oder in ihr nur die Maske der letzteren zu sehen. Der Staat, der das Meer des zügellosen und bornierten Egoismus und der rohesten Instinkte äu­ ßerlich eindämmt und selbst den einflußreichen Bösewicht wenigstens zur Heuche­ lei zwingt12, ist deshalb noch kein Kat-echon; dem Leviathan, der den Behemoth niederhält, eignet keine theologische Würde, und die starke Exekutive, die sich ge­ gen das regierungsunfähige Parlament durchsetzt, bedarf nicht der Aufdröhnung mittels Eschatologie. Zwar liebte Schmitt es, seine Diagnosen bis an die Schwelle der Eschatologie zu führen, hielt dann aber gewöhnlich aus Furcht vor dem Silete jurisconsulti in munere alieno! inné3. Mochte die Emphase, mit der er von Staat und Souveränität oder von Ausnahmezustand und Bürgerkrieg sprach, sich gele­ gentlich diesem Hintergrund verdanken, so kam Schmitt doch nie über eine bloß metaphorische Politische Theologie hinaus4, auch wenn diese seinen auf das histo­ risch Konkrete gerichteten Betrachtungen zuweilen eine enigmatische Atmosphäre verlieh. 1 Proudhon, Les Confessions d’un révolutionnaire, pour servir à l’histoire de la révolution de février, Paris 1849, p. 61. 2 Vgl. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 84. 3 So schrieb Schmitt an seinen Freund Alvaro d’Ors am 13. 9. 1951, sich dabei auch auf einen Vortrag über die „Einheit der Welt“ in Barcelona beziehend u. a.: „Der Sinn meines Vortrages ist nun grade der, mit einer kalten und sachlichen Diagnose das Bild der heutigen Lage zu entwickeln und bis an die Schwelle der Eschatologie zu führen, aber keinen Schritt weiter. jHasta el umbral, pero ningün paso tras! Das gehört zu meinem Stil als Jurist, und darauf, daß ich mich streng an diesen Stil halte, beruht mein Erfolg als Jurist, allerdings auch der Haß und die Feindschaft meiner Gegner.“ (Ich danke Herrn Prof. d’Ors, Pamplona, für die Überlassung einer Kopie dieses Briefes). - Vgl. auch: Schmitt, Donoso Cortés in gesamt­ europäischer Interpretation, Köln 1950, S. 76. 4 Daß Schmitt, wie sein Kritiker Barion, nur eine „metaphorische politische Theologie“ vertritt, daß es aber darauf ankomme, eine nicht-metaphorische zu begründen und durchzu­ setzen, wie sie Pius XI. in seiner Enzyklika Quas primas (1925) skizziert habe, wird darge­ legt von Alvaro d’Ors in seinem Aufsatz „Teologia politica: una revisiön del problema“, Re­ vista de Estudios Politicos, 1976, S. 41-79.

XIV

Vorwort

Das gilt auch für die drei hier vorgestellten Themen Staat, Großraum und No­ mos, die im Werk Schmitts nicht gleichzeitig erörtert werden, sondern einander ablösen, wenn auch im Großraum der Staat aufgehoben ist und der neue Nomos der Erde auf Großräumen beruhen soll. Staat, Großraum und Nomos besitzen jedoch eine gemeinsame Aufgabe: sie sollen - in einer hier nicht zu klärenden Analogie zum Kat-echon und wohl auch als dessen Diener und Instrumente - aufhalten. Der Staat hat der bedrohlichen Invasion der menschlichen Individualität zu widerste­ hen, die im Bürgerkrieg ihre politisch deutlichste Ausprägung findet; der Groß­ raum soll den Weg in einen universalistischen, den Zusammenhang von Ordnung und Ortung zerstörenden Nihilismus versperren, wobei dem Deutschen Reich, „zwischen dem Universalismus ... des liberaldemokratischen, völkerassimilieren­ den Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären Ostens“5, eine besondere Rolle zukommt; gegenüber einem Nomos, der sich aus dem Pluralismus voneinander abgegrenzter Großräume ergibt, soll das Projekt der Einheit der Welt scheitern, das, unter dem menschenfreundlichen Motto Pax et se­ curitas, nur ein antichristliches Projekt sein kann. (Nach Schmitts Überzeugung ist dem Christen nicht zuzumuten, die Heraufkunft dieser anti-christlichen Einheit zu befördern, weil ihr die Parusie Christi folgen wird6.). Unmittelbar auffallend ist die nachlassende Genauigkeit, die stets geringere juristische Erfaßbarkeit dieser Be­ griffe, die bereits so die sich steigernde Unordnung und Verwirrung des Saeculums anzeigen, dem Schmitt sich zunächst mit noch gefestigter Gewißheit, dann mit ei­ ner vagen Zuversicht und endlich mit nichts als einer Hoffnung konfrontierte. *

*

*

Der Staat Wilhelms II. in dem Schmitt heranwuchs und seine ersten Schriften veröffentlichte, war zwar verfassungsrechtlich etwas seltsam konstruiert, schien je­ doch fest und gut gegründet zu sein und strahlte jene für uns Nachgeborene unfaß­ bare Sekurität aus, die in dem „Es ist erreicht!“ ihre so saloppe wie plausible For­ mel fand. Das „Es ist erreicht!“ galt auch für das damalige, von Paul Laband domi­ nierte Staatsrecht, das glaubte, auf politische, soziologische, historische oder teleo­ logische Erwägungen verzichten zu können und sich mit der „gewissenhaften und vollständigen Feststellung des positiven Rechtsstoffes“ und dessen „logischer Be­ herrschung durch Begriffe“ begnügen zu dürfen; diese rein juristische Methode war aber nur die Reversseite des grenzenlosen Staatsvertrauens und einer von kei­ nem Zweifel angekränkelten Staatsgewißheit7. 5 Vgl. vorl. Bd., S. 297. - Zu dieser Aufgabe Deutschlands vgl. auch: Paul Schütz, Der Anti-Christus - Eine Studie über die widergöttliche Macht und die deutsche Sendung (zuerst 1933), in: ders., Der Anti-Christus - Gesammelte Aufsätze, Kassel 1949, S. 47-50. 6 Ganz anderer Auffassung ist hier Alvaro d’Ors; der Christ muß das Ende der Welt her­ beisehnen und deshalb das Wirken des Kat-echon verwerfen: „... aquel Fin, no sölo no debe ser repugnado, sino que debe ser deseado“; in: d’Ors, De la guerra y de la paz, Madrid 1954, S. 194. 7 Vgl. zu diesem Vertrauen und dieser Gewißheit: Helmut Quaritsch, Staat und Souveräni­ tät, I, Frankfurt a. M. 1970, S. 12: „... in den repräsentativen Werken von Paul Laband und

Vorwort

XV

Man darf vermuten, daß Schmitt bereits als junger Student diese in seinem Fa­ che gängigen Illusionen durchschaute; die Distanz des katholischen Außenseiters, dessen Eltern und Verwandte den Kulturkampf erlebt hatten, trug dazu ebenso bei wie Schmitts Affekt gegen den bombastisch-leeren Bildungsbetrieb Berlins8. Daß sich in Schmitts ersten Monographien „Über Schuld und Schuldarten“ (1910) und „Gesetz und Urteil“ (1912) dafür kaum Belege finden, liegt an deren Thematik. Doch Schmitts gerne nur als Kulturkritik gewerteter Überdruß gegenüber dem Wil­ helminismus und der Moderne, wie er in den „Schattenrissen“ (1913) und dem Däubler-Buch (1916) zutagetritt, ist in hohem Maße der Überdruß an einer Lage, in der der Staat gegenüber der Gesellschaft in die Defensive geraten ist, während die bereits 1913 abgeschlossene Schrift „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ Schmitts Zweifel an der Überlebensfähigkeit nicht nur des wilhel­ minischen, sondern des modernen Staates überhaupt, kaum verhehlt. Ob der junge Habilitand, schon damals mit den imponierendsten Lauschzangen ausgerüstet, be­ reits die 1907 erfolgten Todeserklärungen von Edouard Berth und Maxime Leroy, „L’État est mort“ und „L’État cesse d’être un impératif catégorique“ kannte, ist freilich ungewiß; gänzlich akzeptieren konnte er diese Feststellungen auch 1932 noch nicht und wagte erst 1938, nach dem Scheitern des „totalen Staates“, in sei­ nem Leviathan-Buch einen ähnlich lautenden Totenschein wie die beiden Franzo­ sen auszustellen9. Doch zunächst schien der im August 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg dem moribund geglaubten Staate ein neues, kraftvolles Leben einzuhauchen. Die Ver­ hängung des Reichsbelagerungszustandes am 31. 7. und die hieraus resultierenden Notverordnungsrechte der Militärbefehlshaber einerseits, die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 4. 8., durch das die Gesetzgebungsmacht an die Exeku­ tive delegiert wurde andererseits, führten den Staat im Kriege aber nicht zu einer Einheit, sondern spalteten ihn auf in zwei nebeneinander agierende kommissari­ sche Diktaturen, eine militärische und eine zivile, die entweder mühsam koordi­ niert werden mußten oder miteinander in Konflikt gerieten101. Die „in sich zwie­ spältige staatliche Gesamtstruktur“ Deutschlands wurde in der Zerreißprobe des Großen Krieges offenbar und der „pathognomische Moment“ ließ den bis dahin verdeckten wahren Zustand erkennen11. Obgleich sich Schmitt zu dieser Erfahrung Georg Jellinek ist nichts so sicher wie der Staat.“ - Schmitt hat sich eher selten zu Laband geäußert, bes. aggressiv in: Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte (1936), Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 232 f. 8 Vgl. Schmitts Aufsatz v. 1946/47: 1907 Berlin, in: Piet Tommissen, Hrsg., Schmittiana I, 2. A., Brüssel 1988, S. 11-21. 9 Siehe dazu die Hinweise u. den Kommentar von Quaritsch, wie FN 7, S. 11 ff. 10 Vgl. Emst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, V, Stuttgart 1978, S. 66. - Ausführlicher zu diesem Problem, dessen Wurzeln für Schmitt im preußischen Ver­ fassungskonflikt liegen: ders., Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Ham­ burg 1934, S. 36-41. 11 Schmitt, wie FN 10, S. 9, 10.

XVI

Vorwort

wohl nur einmal, in „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches“ (1934) ausführlicher äußerte, muß ihre Bedeutung für sein Werk sehr hoch einge­ schätzt werden. Eine andere Erfahrung war, daß sich der Gesamtkomplex „Ausnahmezustand“ im Verlaufe des Krieges immer stärker wandelte. Die Ausweitung der verschiede­ nen Ausnahme-Maßnahmen, sei es aufgrund der militärischen Verordnungsgewalt, sei es aufgrund der zivilen Kriegsnotgesetzgebung, sprengte den herkömmlichen, militärisch-polizeilichen Ausnahmezustand mit seinen eher punktuellen Eingriffen und schuf durch die tiefgreifende Änderung des Währungs- und Finanzrechtes, des Arbeits- und Sozialrechtes, der emährungs- und kriegswirtschaftlichen Planung usw., die neue soziale und politische Ordnung des Kriegssozialismus12. In gewisser Weise wurde hier die Wandlung des Art. 48 der Weimarer Verfassung gegen Ende der Republik vorweggenommen, der zunächst auch auf relativ herkömmliche Wei­ se eingesetzt wurde und in einem System wirtschaftlich-finanzieller Notverordnun­ gen mündete13. Ab 1931, mit einer neuen Terminologie ausgestattet, hätte Schmitt, auf den Krieg zurückblickend, sagen können, daß sich damals ein merkwürdiges Ineinander von totalem Staat aus Stärke und totalem Staat aus Schwäche entwikkelt hätte ... Doch darf man sich die Entwicklung des jungen Schmitt nicht allzu „theore­ tisch“ vorstellen. Der Dozent der Universität Straßburg, an der Paul Laband seit 1872 ununterbrochen wirkte, lebte damit - und das im Kriege - in einer Provinz, in der seit dem 30. 12. 1871 der Oberpräsident über den „Diktaturparagraphen“ verfügte, der dem französischen Loi sur l’état de siège v. 9. 8. 1849 nachempfun­ den war und schließlich Hugo Preuß zum Abs. 2 des Art. 48 der Weimarer Verfas­ sung inspirierte13a; es ist erstaunlich, daß Schmitt in seinem Aufsatz „Diktatur und Belagerungszustand“ von 1916, der in Straßburg entstand und mit dem wir unsere Sammlung eröffnen, zu dieser Vorgeschichte nichts sagt. Zugleich war aber Schmitt, zwischen Straßburg und München pendelnd, ab dem 1. 3. 1917 in der Münchner Maxburg, beim Bayrischen Kriegsministerium, zuständig für die Über­ wachung der Friedensbewegung und der USPD. Schmitt verfügte also über höchst anschauliche Erfahrungen mit dem Ausnahmezustand und war sogar, an einer kei­ neswegs unbedeutenden Stelle, dessen Praktiker. D. h. auch: Schmitt wußte aus Erfahrungen heraus, über die seine Kritiker nicht verfügten, daß die Ausnahme wichtiger sei als die Regel, weil nur sie imstande ist, die Regel entweder zu retten oder eine neue zu erschaffen. Das ist zwar von simp12 Dazu Huber, wie FN 10, S. 69-115. 13 Schmitt, Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung (1931), Ndr. in: ders., Ver­ fassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 235-262. Die Strukturwandlung des Ausnahmezustan­ des schildert: Hans Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 1967, bes. S. 195 ff., 223 ff. 13a Vgl.: W. Rosenberg, Der Diktatur-Paragraph in Elsass-Lothringen, AöR, 12, 1897, S. 539-89; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichtc seit 1789, Bd. IV, 2. A., 1982, S. 440 f., 450 f.

Vorwort

XVII

1er Evidenz, doch der Anti-Schmitt-Affekt nährt sich überwiegend aus dem Haß auf die Evidenz seiner Schlüsselsätze, erklärt sich aus Apperzeptionsverweigerung. Schmitt war auch kein Romantiker der Ausnahme, wie es Leute behaupten, die „weder die Wahrheit noch die Wirklichkeit, sondern nur das Gefühl ihrer Sicherheit“14 suchen; er war zunächst und vor allem ein loyaler Jurist, der durch Aus­ schöpfung aller vorhandenen Mittel zu retten versuchte, was zu retten war. Würde Schmitt dem Bilde entsprechen, das heute so gerne von ihm gezeichnet wird, so hätte er die Republik schon kurz nach ihrer Geburt bekämpfen müssen: die Illega­ lität der Entstehung ihrer Verfassung und die Unterschrift unter das Versailler Dik­ tat hätten ihm dabei ein gutes Gewissen verschaffen können15. Doch der revolutio­ näre Umbruch von der Monarchie zur Republik war für Schmitt wenig mehr als eine bloße - sicherlich brüske - Evolution: „... im „Konstitutionellen“ liegt eine wesentliche Kontinuität, die das heutige Reich mit dem alten Reich von 1871 ver­ bindet ... Eine konstitutionelle Demokratie hat eine konstitutionelle Monarchie ab­ gelöst“16. Es galt also, den bedrohten Staat als den einzigen Fixpunkt in der Er­ scheinungen Flucht zu festigen und dazu mußte, nach Rhein- und Ruhrbesetzung, Separatismus, Hitler-Putsch, mitteldeutschem Aufstand, usw., erst einmal der Selbstbehauptungswille und die Abwehrkraft Weimars gestärkt werden: vorrangig der pouvoir neutre des Reichspräsidenten und damit die Möglichkeiten des Art. 48. Nur von einem starken Weimar aus konnte der Kampf gegen Versailles und Genf (und gegen die eigene Krankheit zum Tode) geführt werden. Daß es Schmitt um die Stärkung der Republik ging, nicht um deren Demontage, beweisen seine Vor­ träge vom 4.11. und vom 23. 11. 193217 ebenso, wie sein Engagement für Schlei­ cher. Wollte die Republik überleben, mußte sie sich freilich ändern, weniger in ih­ rer Verfassung, als in ihrer Verfassungspolitik. Daß aber auch hier im äußersten Falle Friedrich Eberts Motto galt: „Wenn wir vor der Frage stehen: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zu­ grundegehen lassen!“ - gehört eben zu den heftig verleugneten Evidenzen. Schmitts Zustimmung zum „Preußenschlag“ vom 20. 7. 1932 endlich liegt in des­ sen unmittelbarer, vielleicht sogar wichtigster Intention begründet: eine sich ab­ zeichnende Koalitionsregierung von NSDAP und Zentrum in Preußen zu verhin­ dern, bei der der NSDAP als stärkster Partei das Innenministerium und damit die Polizei in die Hände gefallen wäre18. 14 Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950, S. 84. (Von mir kursiviert - G. M.). 15 Zur Illegalität der Weimarer Reichsverfassung vgl.: Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924, bes. S. 14-21. Diese Hal­ tung wurde zwar gern als „Legitimismus“ bezeichnet, war aber letztlich legalistisch-rechtspositivistisch; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, Stuttgart 1981, S. 14 f. - Im allgemeinen ging man unter den Staatsrechtlem davon aus, daß „Legitimi­ tä t... kein Wesensmoment der Staatsgewalt“ (Heinrich Pohl) sei. 16 Schmitt, der bürgerliche Rechtsstaat (1928), vorl. Bd., S. 44. >7 Vgl. vorl. Bd., S. 55-70, 71-91. 18 So E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, Stuttgart 1984, S. 1017.

XVIII

Vorwort

Schmitts 1933 manche Beobachter verblüffende „Übergang“ zum Nationalso­ zialismus kann hier nicht erörtert werden; dies würde ein eigenes Buch beanspru­ chen. Man darf freilich behaupten, daß eine 1933 unter zahlreichen Vorbehalten gegebene Zustimmung zum Nationalsozialismus weniger erklärungsbedürftig ist, als eine sofortige, massive Ablehnung. Nachdem Schmitt 1932 noch betont hatte, daß „man etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklamiert“ 19 habe, hegte er 1933, trotz großer Niedergeschlagenheit über den Sieg der „legalen Revo­ lution“20, die Hoffnung, den Formeln des Nationalsozialismus einen Sinn geben zu können, - einen etatistischen Sinn. Daß der den Bürgerkrieg beendende, starke „to­ tale Staat“ jetzt möglich sei, war 1933/34 eine recht plausible Vorstellung, auch wenn sie im Gegensatz zu früheren Einschätzungen des Nationalsozialismus stand21. Staat und Staatlichkeit zu verteidigen und zu festigen war das eindeutige Ziel Schmitts in den Jahren 1933-36 und seine Programmschrift von 1933 war weder mit „Volk, Bewegung, Staat“ noch mit „Bewegung, Staat, Volk“ betitelt. Die Kampagne des „Schwarzen Korps“ von 1936 richtete sich denn auch nicht nur gegen den Katholiken, sondern auch gegen den Etatisten Schmitt, der mit einer ziemlichen Folgerichtigkeit der „Kronjurist“ der Präsidialregierungen gewesen war, die den Nationalsozialisten noch 1937 mehr feindseligen Respekt einflößten als die vorhergehenden demokratischen Regimes22. * * * Das „L’État est mort“ hat Schmitt erst 1937/38 ausgesprochen, als er seinen „Leviathan“ schrieb, während der unheimlichen Windstille in Europa; der zwei Jahre danach losbrechende Krieg bestätigte die These vom Ende des Staates als eines „konkxeten^an eine geschichtliche Epoche gebundenen Begriffs“. 1937, wohl im Sommer oder Frühherbst, entstand äucff Schmitts völkerrechtlicher Bericht „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“, der am 29. 10. 1937, kurze Zeit häch Röösevelts „Quarantäne“-Rede vom 5. 10. 1937 in Chicago, der Akade­ mie für Deutsches ReuhtmMünchen vorlag23. 19 Schmitt, Der Begriff des Politischen, München u. Leipzig 1932, S. 27. (Ausg. 1933, S. 23; Ausg. 1963, S. 40). 20 Dies beweist ein 10-seitiges Tagebuchtyposkript Schmitts v. 31. 3. - 13. 4. 1933; vgl. die Zitate daraus bei H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1995, 3. A., S. 98. 21 Vgl. Emst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933; dort bes. S. 31 (fehlt bezeichnen­ derweise in der 2. Aufl., 1934, wenn auch mit Copyright 1933); dazu auch G. Maschke, Nachwort zu Schmitt, der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 2. A., Köln-Lövenich 1982, S. 227-242. 22 Vgl. dazu die vom Amt Rosenberg hrsg. „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage“ v. 8.1.1937 ü. Carl Schmitt; jetzt in: Zweite Etappe, Bonn, Okt. 1988, S. 96-111, mit Anmer­ kungen u. Hinweisen von G. Maschke. 23 Der Originaltext der „Quarantäne“-Rede Roosevelts in: Detlef Junker, Kampf um die Weltmacht - Die USA und das Dritte Reich 1933-1945, Düsseldorf 1988, S. 79-82: dt. Übersetzung in: Helmut Gordon, Hrsg., Kriegsreden 1936-1941 - Das große Kesseltreiben gegen Deutschland, Leoni am Starnberger See 1992, S. 39-48 (mit Kommentar).

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Daß auf der Seite der Feindmächte eine Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff stattgefunden hatte, wurde damals von zahlreichen deutschen Völker­ rechtlern und Politikwissenschaftlem, z.T. lange vor Schmitt, erkannt. Auch die Implikationen des völkerrechtlichen Universalismus wurden durchschaut und Schmitts waches Bewußtsein vom Vorsprung der Feindseite im geistigen und wis­ senschaftlichen Präpariertsein auf den totalen Krieg war keineswegs singulär; Schmitt war hier nur der berühmteste in einer langen Reihe von Betrachtern. Das eigentlich Neue an Schmitts kleiner Schrift war, daß hier mit dem „L’État est mort“ im Völkerrecht Emst gemacht wurde. Bis dahin mußten selbst Autoren wie Norbert Gürke, die, anstelle des Staates, das Volk zum Hauptadressaten des Völkerrechts erklären wollten, resignierend eingestehen, daß das Völkerrecht mit dem Staatsbe­ griff stehe und falle24. Auch Gustav Adolf Walz, zwar von einer „durchgreifenden völkischen Bereinigung der politischen Wirklichkeit“ sprechend und ein „nicht bloß in Staaten denkendes Völkerrecht“ wünschend, konnte zum Schluß nur for­ dern, daß man „an die bescheidenen aber klaren Formen des Völkerrechts von 1914“ anknüpfe, das „trotz seiner Mängel in besserem Maße zu einer vernünftigen Regulierung der internationalen Beziehungen geeignet (sei), als das starre univer­ salistische System der Nachkriegszeit“25. Letztlich sollte, wie auch immer modifi­ ziert, der nicht-diskriminierende Staaten- und Duellkrieg wiederauferstehen26. Schmitt ließ sich auf derartige sympathische Reverien nicht ein. Er betonte zwar, gegen ein Völkerbundsrecht das auf eine Art juristische Einkreisung Deutschlands hinauslief, „daß ... eine wirkliche Gemeinschaft der europäischen Völker die Voraussetzung eines wirklichen und wirksamen Völkerrechts“27 sei, be­ zog sich damit aber nur vage auf seine bereits 1936 erhobene, nicht minder vage Forderung, daß dem Völkerbund als „einer Kombination heterogenster Gebilde ... ein anderes politisches Gebilde“28 entgegengesetzt werden müsse. Auf die Frage jedoch, was er denn „eigentlich Neues an die Stelle der alten Staatenordnung zu setzen hätte, da (er) weder einfach beim alten bleiben, noch (sich) den Begriffen*• }A Norbert Gürke, Volk und Völkerrecht, Tübingen 1935, S. 100. - Weitaus radikaler in seinen Bemühungen, das zwischenstaatliche Völkerrecht durch ein „Recht der Volker“ zu er­ setzen, war Hans K. E. L. Keller, vgl. von ihm bes.: Das Recht der Völker, I, Abschied vom „Völkerrecht“ Berlin 1938; Bd. II, Das Reich der Völker, Berlin-Schöneberg 1940. Keller wart' praktisch der gesamten völkerrechtlichen Zunft des Dritten Reiches ein Verharren im Ftatismus vor. - Als Gesamtüberblick bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. a.: F. Giese/ F. Menzel, Vom deutschen Völkerrechtsdenken der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1938. - Eine Untersuchung der Debatte zwischen dem „völkischen“ und dem „etatistischen“ Völkerrecht im Dritten Reich fehlt bisher ebenso, wie eine sachliche Gesamtdarstellung der Lage des Völ­ kerrechts zwischen 1933 und 1945, die auch die z.T. großen Leistungen dieser Wissenschaft wlthrcnd dieses Zeitraums zu würdigen weiß. G. A. Walz, Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, Berlin 1939, S. 76 f. •(· Dies gilt wohl keineswegs nur für viele Schriften Walz’, v. Freytagh-Loringhovens oder Heinrich Rogges. 11 Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, München 1938, S. 52. ;K Lt. Protokoll der Sitzung d. Völkerrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht v, 19.6.1936; Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Akademie f. Dt. Recht, 28, 192.

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der westlichen Demokratien unterwerfen“29 wolle, vermochte Schmitt im Oktober 1937 nichts zu antworten. Erst im April 1939, auf der Tagung des Kieler Instituts für Politik und Internationales Recht (vgl. vorl. Bd., S. 343), glaubte er die Antwort zu wissen: „Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht. In ihm ha­ ben wir den Kern einer neuen völkerrechtlichen Denkweise, die vom Volksbegriff aus­ geht und die im Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen läßt, die aber zugleich den heutigen Raumvorstellungen und den wirklichen politischen Lebens­ kräften gerecht zu werden vermag; die „planetarisch“, d. h. erdraumhaft sein kann, ohne die Völker und die Staaten zu vernichten und ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen Demokratie, aus der unvermeidlichen Überwindung des alten Staatsbe­ griffs in ein universalistisch-imperialistisches Weltrecht zu steuern“30.

Der Passus ist hier so ausführlich zitiert, weil er zum einen die Quintessenz von Schmitts Großraumdenken auf glückliche Weise trifft, zum anderen die unbestreit­ baren Schwächen des Konzepts ahnen läßt. Reich, Großraum, Volk und Staat, das sind vier Begriffe, die imstande sind, historisch sehr unterschiedliche Assoziatio­ nen und Empfindungen zu wecken und deren politische und juristische Implikatio­ nen eher auseinanderstreben, als in einer geschlossenen, harmonischen Einheit münden. Auch wenn wir Schmitts Spiel mit dem vieldeutigen Begriff „Reich“ hier beiseitelassen31, so wird seine Unsicherheit ebenso deutlich wie seine Ambition, das „gesamte Feld“ zu besetzen und dabei, mittels eines intellektuellen Spagats, es allen recht zu machen. Man ist versucht, an zwei Äußerungen Schmitts über Fried­ rich Schlegel und über Francisco de Vitoria zu denken: „Was will er (Schlegel G. M.) also eigentlich? Er will der Entwicklung „in teilnehmendem Mitdenken fol­ gen“ bzw.: „... was will er (de Vitoria - G. M.) eigentlich? Er will offenbar nichts an dem politischen und ökonomischen Ergebnis der Conquista ändern. Was will er also? Er will die Argumentation in die Hand bekommen, um die geistige Führung zu behalten.“32 Schmitt behielt zwar die geistige Führung in der Großraumdebatte, die Argu­ mentation jedoch bekam er nicht in die Hand. Im Zentrum seiner Thesen stand das „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ und wenn dieses Prinzip durchge29 Vorl. Bd., S. 306. 30 Ebd. 31 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt - Sein Auftrag zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995, glaubt, daß Schmitt vor allem „Reichstheologe“ war und daß die „Großraumordnung“ nur sein letzter Versuch war, seine „Reichstheologie“ durchzusetzen. Ich halte diese These, die von einem angeblichen Nicht-Etatismus Schmitts ausgeht und mit der ich mich bald ausführlich auseinandersetzen werde, für irrig; möchte aber auf den Reich­ tum an Hinweisen und Anregungen in diesem Buche aufmerksam machen. 32 Das erste Zitat aus: Schmitt, Politische Romantik, München u. Leipzig 1919, S. 94 (in der 2. A., 1925, S. 165); das zweite aus: Schmitt, Glossarium - Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, Eintragung v. 26. 2. 1948, S. 106. - Ich verdanke diesen Hinweis Herrn Andreas Raithel, Hürth b. Köln.

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setzt werden sollte, dann hatten nicht nur die infrage kommenden Mächte auf In­ terventionen gegenüber dem Deutschen Reich und dessen Großraum zu verzichten, sondern auch das Reich hatte sich aller Interventionen zu entschlagen. Letztlich hieß es, daß es sich für saturiert erklären mußte. Nach der Gründung des Protekto­ rates Böhmen und Mähren während des März 1939, nur zwei Wochen vor der Kie­ ler Tagung33, hielt Schmitt diese Situation für gegeben; der Großraum des Reiches schien vollendet. Doch gerade der Einmarsch in Böhmen und Mähren wurde auf der Feindseite, auch wenn diese keine Großraumtheorie bemühte, als Analogon zu einer raumfremden Intervention begriffen. Die internationale Politik konnte sich nicht über die Grenzen des Großraums einigen, also mußte der „Kampf um Groß­ räume“ einsetzen34, was mit der Verheißung, daß „der Großraum ... ein Bereich völkischer Freiheit und weitgehender Selbständigkeit und Dezentralisierung“35 sein müsse, wohl selbst dann in grellem Kontrast stand, wenn die Erfüllung dieser Verheißung nicht nur der Wunsch des ohnmächtigen Intellektuellen Schmitt, son­ dern auch das Ziel der mächtigen Täter gewesen wäre, - was bekanntlich nicht der Fall war. Die ihren Großraum fordernde Macht glaubte, nur mittels Expansion den ihr „gemäßen“ Lebensraum36 erlangen zu können und da angesichts der modernen industriellen Bedingungen ihre Vorstellung von Autarkie weder „selbstgenügsam“ war noch es sein konnte, unterlag sie rasch einem verschärften Gesetz wachsender Räume37. Mit dem Großraum stand es kaum anders als früher mit den natürlichen Grenzen; die in beiden Fällen gern proklamierte Selbstbescheidung und -begrenzung schlug um in eine keine Grenze kennende Expansion, es mußte ja auch das immer weiter nach vom rückende Glacis kontrolliert werden, es mußte das Terrain der „Selbstverteidigung“ immer weiter nach außen verlagert werden; wäre, end­ lich, der Großraum etabliert gewesen, hätte man einen Kontinentalblock ge­ wünscht oder einen Ergänzungsraum benötigt... 33 Pikanterweise war 1939 sogar die Gründung des Protektorates Böhmen und Mähren den kurze Zeit darauf Schmitt ob seiner Zurückhaltung scharf kritisierenden Werner Best ein „Zuviel“ an Expansion; er erklärte seinem Freunde Höhn im März 1939: „Kamerad Höhn, das ist das Ende. Bisher haben uns die Leute geglaubt, daß der Nationalsozialismus die völki­ sche Idee verkörpert und daß diese völkische Idee Grenzen kennt. Mit dem Einmarsch in Prag aber wird der Nationalsozialismus zum Imperialismus.“ (Nach: Heinz Höhne, Der Or­ den unter dem Totenkopf - Die Geschichte der SS, Essen o. J. (Lizenzausgabe des MagnumVcrlages), S. 454. 34 Vgl. das diesen Titel tragende Buch von Rolf Kapp, München 1942. 33 Vorl. Bd., S. 390. 36 Es ist auffällig, daß Schmitt das Wort „Lebensraum“ meist meidet, wohl weil es expan­ sionistisch und biologistisch gedeutet werden konnte und so auch von Hitler gedeutet wurde. Vgl. vorl. Bd., S. 465-468; auch: Adolf Hitler, Mein Kampf, 464. - 468. Aufl., München 1939, bes. S. 739-742, sowie Hitlers Zweites Buch, ein Dokument aus d. Jahre 1928, Stutt­ gart 1961, passim. 37 Zur »expansionistischen* Deutung der Autarkie vgl.: François Perroux, Autarcie et ex­ pansion - Empire ou Empires?, Paris 1940, der die „autarcie d’expansion“ von der „autarcie de repliement“ unterscheidet. Die Kritik an dem deutschen Streben nach Autarkie (der Höhe­ punkt der Diskussion um 1932, vgl. auch in d. Jahr das Buch „Autarkie“ von F. Fried) ist etwas zu wohlfeil, da z.T. schon seit 1900, spätestens aber mit der Weltwirtschaftskrise, das

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Der Großraum wurde nicht zum Widerpart des Universalismus, sondern ähnelte sich ihm an und sei es schon deshalb, daß er dessen Kriegsformen übernehmen mußte; auch er kam nicht umhin, seine „Selbstverteidigung“ im Atlantik und Pazi­ fik zu organisieren. Hier bestanden gerne übersehene, inhärente Zwangsläufigkei­ ten. Offenkundig aber war auch, daß Schmitts Gegner in der Großraumdebatte wie Reinhard Höhn und Werner Best ebensowenig wie die politische Führung Deutsch­ lands an Saturiertheit oder Selbstbescheidung dachten, wie sie SchmitU der die Propaganda vom Nationalsozialismus als Nicht-Export-Artikel und als Respekt vor jedwedem Volkstum auszunutzen versuchte, recht deutlich empfahl. „Als poli­ tischem Kampfbeginn verfocht man mit dem Großraumbegriff den Anspruch auf einen erweiterten Lebensraum, der den Daseinsnotwendigkeiten der europäischen Völker Rechnung tragen sollte“38, wandte Höhn gegen Schmitt ein und forderte, „das Wesen der Großräume einmal nicht vom Boden der Abgrenzung, sondern vom Boden der Substanz aus zu erfassen ... Dabei wird das Nichtinterventions­ prinzip nicht einfach beiseitegelegt werden dürfen. Es i s t... besonders im Augen­ blick der Entstehung von Großräumen und im Konfliktfall wichtig. Es verkörpert aber nicht das Rechtsprinzip für ein auf Großräumen beruhendes Völkerrecht“39. Weil die Großraumordnung Schmitts sich der raumfremden Expansion widersetzte, weil ihre Kritik der üblichen angelsächsischen Verfahrensweise auch als Kritik des Nationalsozialismus gelesen werden mußte und gelesen wurde - zeichnete sich doch ab, daß die von Schmitt geschilderte Pervertierung der Monroe-Doktrin sich im Falle eines von Deutschland beherrschten Großraums auf eine andere Art und Weise „wiederholen“ würde -, mußte Schmitt ins Fadenkreuz des SS-Ideologen Höhn geraten, der obendrein mit vollem Recht fragen konnte, worin sich denn das Prinzip der Nichtintervention betreffs des Großraums vom staatlichen Verbot der Intervention unterscheiden würde40. Der Staat und damit auch die Relation von Schutz und Gehorsam hatte für den Anti-Etatisten Höhn im Großraum Schmitts seine getarnte Bunkerstellung gefunden und Höhn, dessen Thesen im Gegensatz zu denen Schmitts eindeutig aggressiv und offensiv waren, zögerte nicht, den bei die­ ser Aggressivität üblichen Brei des Herzens zusammenfließen zu lassen und mo­ nierte, daß das Nichtinterventionsprinzip Schmitts „... gerade immer das Trennen­ de (unterstreicht). Es sieht den Partner überwiegend unter dem Blickwinkel des möglichen Gegners und verlangt stets die Möglichkeit einer Bedrohung.“41 Das Staatliche, d. h. nicht zuletzt Recht und Rechtssicherheit, witterte auch Wer­ ner Best in Schmitts Schrift und er kritisierte, daß durch den zu überwindenden Weltaußenhandelsvolumen sank. Interessanterweise äußert sich Schmitt im Zusammenhang mit der Großraumfrage überhaupt nicht zur Autarkie; vgl. nur später, auf recht indirekte Wei­ se, in: Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 207, Fn. 38 R. Höhn, Großraumordnung und völkisches Rechtsdenken, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum, 1941, S. 256-288, hier S. 260. Die zweite Kursivierung von mir - G. M. 39 Ebd., S. 283 f. 40 Ebd., bes. S. 278. 41 Ebd., S. 274 f.

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völkerrechtlichen Charakter der Schmittschen Theorie die in den deutschen Großraum eingegliederten kleineren Staaten auf die Idee kommen könnten, „daß sie mit dem Führungsvolk der Großraumordnung als gleiche, ’souveräne’ Partner ’völker­ rechtliche’ Verträge abzuschließen hätten und daß sie gegebenenfalls ihre ’völker­ rechtliche’ Bindung gegenüber dem Führungsvolk auch wieder kündigen könnlen!“42 Doch trotz solcher Kritik kam Schmitt mit seiner Formel „Großraum“ nicht in die Bredouille wie noch wenige Jahre zuvor mit seiner Formel „totaler Staat“. Un­ klarheit und Beliebigkeit der Interpretation bestanden hier wie dort, aber im Falle des „totalen Staates“ waren sie doch geringer und die innerpolitische Neutralität auch des totalen Staates war doch zu deutlich mit-gesetzt; auch wenn dieser Staat aus der politischen Stärke heraus neutralisieren und entpolitisieren sollte. Diese Neutralität und Entpolitisierung sollte ja gerade nicht statthaben, da sie die totalitä­ re Erfassung der Volksgemeinschaft be- oder verhindert hätte. Beim Großraum je­ doch handelte es sich um die Wirklichkeit en marche; »jeder“ wollte ihn, »jeder“ konnte ihn nach seinem Gusto modeln, doch selbst die schärfsten Gegner Schmitts mußten ihm die Palme des geistigen Pioniers zugestehen. Angesichts dieser unbestreitbaren Wirklichkeit en marche und nicht zuletzt we­ gen der polemischen Diskussion gerieten einige Schwächen der Skizze Schmitts43 aus dem Blick. Schmitts Großraum war rein kontiental geprägt und beinhaltete letztlich nichts Geringeres, als daß die Seemächte, weil sie über keinen geschlosse­ nen Großraum verfügten und nur ein Netz von Verkehrs- und Verbindungslinien kontrollierten, gefälligst abzudanken hätten; geradezu aus einer geographischen Schuld heraus. Das Problem des Gleichgewichts zwischen Land und Meer und das des Gleichgewichts zur See, das noch Napoleon und die französischen Juristen sei­ ner Zeit beschäftigt hatte44, wurde in der „Großraumordnung“ Schmitts schlicht escamotiert, im „Nomos der Erde“ allenfalls gestreift. Die Seemacht England (und nicht die geradezu „verdrängten“ Vereinigten Staaten) war hier der Feind, und das in einer Situation, in der Hitler glaubte oder mindestens hoffte, sich noch irgendwie mit dem von ihm bewunderten Empire arrangieren zu können, ja, an einem nicht allzu fernen Tage, noch zu einem Bündnis zu kommen. Der Kontrast zwischen der 42 Werner Best, Nochmals: Völkische Großraumordnung statt: ’Völkerrechtliche Groß­ raumordnung!’, Deutsches Recht, 1941, S. 1533 f., hier S. 1534. 43 Vgl. die schöne, erhellende Bemerkung von Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm, Stuttgart 1957, S. 21: „... es ist bekannt, daß andeutende Skizzen oft stärker wirken als vollendete Gemälde. Man kann ihnen die mangelnde Vollendung nicht vorwerfen; denn sie wollen nicht mehr sein, als sie sind: Vollendungen im Medium des Unvollendeten. Wäh­ rend das Gemälde im Betrachter das Gefühl für die Begrenztheit der abgeschlossenen Ver­ wirklichung auslösen kann,... wirkt in der Andeutung die Frische der Möglichkeiten“. 44 Vgl. dazu etwa die vielen Hinweise bei Roman Schnur, Land und Meer - Napoleon ge­ gen England. Ein Kapitel der Geschichte internationaler Politik (zuerst 1963), in: ders., Re­ volution und Weltbürgerkrieg, Berlin 1983, S. 33-58. Ein wichtiger Stichwortgeber war hier wohl Gabriel de Mably, Le droit public de l’Europe fondé sur les traités, 1748; auch ders., Diplomatische Verhandlungen, aus dem Franzos., Berlin o. J. (Bomgräber), bes. S. 90 f.

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zur Gänze englandfeindlichen völkerrechtlichen, geopolitischen und auslandswis­ senschaftlichen Literatur Deutschlands in den Jahren 1936-1940 und der hartnäkkigen Anglophilie Hitlers wäre einiger Beachtung w ert... Diese Literatur wiederholte imgrunde - was hier nur mit dem ganzen Aplomb der Simplifikation gesagt werden kann -, die anti-englische Polemik der wilhelmi­ nischen Zeit vor dem Ersten Weltkriege, sei es auf die nuanciertem Art eines Otto Hintze45, sei es auf die gröbere eines Graf Emst zu Reventlow, dessen Buch „Der Vampir des Festlandes“ 1915 erstmals erschien und 1939, nur etwas erweitert und aktualisiert, in der 12. Auflage herauskam. Carl Schmitt hat an diese Tradition des von ihm sonst so geschmähten Wilhelmi­ nismus angeknüpft und man darf sich fragen, ob seine Großraumordnung wirklich so verschieden war von Konzepten der wilhelminischen und noch der Weimarer Zeit, also der Mitteleuropa-Idee, der „Weltpolitik und kein Krieg“, der Südosteuro­ pa-Politik. Zwar war diesen Konzepten gegenüber der „hegemoniale Föderalis­ mus“46 Schmitts um eine juristische Fundierung bemüht, aber in welcher Weise sollte diese vonstatten gehen? Und legte Schmitt 1939 nicht den Gedanken nahe, den viele Betrachter schon vor 1914 hegten, nämlich daß Deutschland Aufstieg zur Weltmacht letztlich nur eine Art Übertragung (quasi per Storchenschnabel) des überholten europäischen Gleichgewichts auf die gesamte Erde sei und deshalb von den drei wirklichen Weltmächten (die 1939, trotz veränderter Machtpotentiale und Ideologien noch die gleichen waren wie um 1900: USA, England und Rußland!) hingenommen werden müsse?47 Worin lag denn die wirklich entscheidende Diffe­ renz zwischen dem Großraum und den Ordnungsideen vor 1914? Diese Frage drängt sich gerade deshalb auf, weil Schmitt wie nur wenige, und sicher schon vor der Niederschrift des „Nomos der Erde“ vor 1945, wußten, daß das europäische Gleichgewicht auf den nicht-okkupierten, noch freien Räumen außerhalb Europas beruhte, diese Räume aber spätestens ab 1890 geschlossen waren. Der Großraum jedoch implizierte ein Weltgleichgewicht.. 48 45 Vgl. v. Hintze: Die Seeherrschaft Englands, ihre Begründung und Bedeutung, Dresden 1907 (Gehe-Stiftung); Die englischen Weltherrschaftspläne und der gegenwärtige Krieg, Ber­ lin 1914; Imperialismus und Weltpolitik, in: Die deutsche Freiheit (Vorträge von Hamack u. a.), Gotha 1917, S. 114-169. 46 So ein Ausdruck Emst Rudolf Hubers. Vgl. zu seiner Kritik an Schmitts Großraumord­ nung unsere Hinweise, vorl. Bd., S. 360 f. 47 Gustav Schmoller lancierte ab 1900 die Theorie von den drei sich ausdehnenden, den Handel mit anderen Ländern reduzierenden und um Autarkie bemühten Weltreichen England, USA und Rußland; vgl.: Schmoller, Die Wandlungen in der europäischen Handelspolitik des 19. Jahrhunderts, Schmollers Jahrbuch, 1/1900, S. 373-382. Mitteleuropa müsse aufgrund dieser Aus- und Abschließungstendenzen zu einer „handelspolitischen Vereinigung“ gelan­ gen. Schmollers Aufsatz steht im Zusammenhang mit der sogen. Industriestaatsdebatte in Deutschland; er wird in der Literatur fast stets mit dem falschen Titel „Die Theorie von den drei Weltreichen“ versehen; so auch bei Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 207. Zum Zusammenhang und zur Kritik vgl. Heinrich Dietzel, Weltwirtschaft und Volkswirtschaft, Dresden 1900.

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Wir brechen hier diese tastenden Bewegungen ab und halten es dennoch für un­ nötig, die außerordentliche Bedeutung der Großraumtheorie Schmitts besonders zu unterstreichen. Abgesehen davon, daß hier, wie so oft, Schmitts Talent zur ’For­ mel’ und seine skizzierende Vorgehensweise ein höchst auf- und anregendes ewig­ es Gespräch entbinden, kann die samenkapselartige Fruchtbarkeit der kleinen Schrift von 1939 nur bewundert werden. Die Ergebnisse des 1945 triumphierenden Universalismus schrecken und im Kampf gegen diesen Universalismus, der sich im katastrophischen Zerfall der Welteinheit, in deren endloser Fragmentierung, im „Scheitern der Vernunft an den Formeln der Globalisierung“4 849 vollendet, wird man Schmitts Vortrag von 1939 wiederentdecken müssen: als ein „Leinen los!“ zu der langen, ununterbrochenen Fahrt, auf der wir uns immer noch befinden ... *

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Auffällig ist, daß Schmitt, der seine „Großraumordnung“ in der Öffentlichkeit ziemlich eifrig propagierte (vgl. vorl. Bd., S. 358), bereits am 25. 1. 1941 den letz­ ten Vortrag zum Thema hielt und daß schon im August die vierte und letzte Aufla­ ge seiner Schrift erschien, obgleich die Großraumdebatte noch keineswegs ihren Zenit erreicht hatte. Wir können nur vermuten, daß Schmitt an dieser Debatte nicht teilnahm, weil die Rede von einem deutschen Großraum längst nicht nur imperiali­ stische, sondern auch „ortlöse“ Zuge angenommen hatte, ja, „Hitlers Kombination von rassenbiologischen Gesichtspunkten und Großraumvorstellungen ... mehr (be­ deutete) als nur eine Intensivierung dessen, was der klassische Imperialismus in dieser Hinsicht bereits hervorgebracht hatte .. .“50. Zudem war spätestens mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. 6. 1941 die bedeutsamste Geschäftsgrundlage einer Großraumordnung im Sinne Schmitts entfallen: die Abgrenzbarkeit der „bei­ derseitigen Reichsinteressen“ (vgl. vorl. Bd., S. 295). Mit dem Unternehmen Bar­ barossa war der Großraum vorerst „widerlegt“, selbst dann, wenn es sich hier um einen Präventivkrieg handelte.

48 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948, sieht den Hauptfehler der deutschen Politik sowohl 1914 als auch 1939 in dem Glauben, Deutschland könne „aus dem europäischen System in ein neues Weltsystem (emporwachsen)“, S. 202. Er sieht in den beiden Weltkriegen eine Bestimmung zur Einheit der Welt, ebd., S. 204. - Vgl. Rudolf Kjéllen, Die Großmächte der Gegenwart, 1914, 6. Aufl., Leipzig u. Berlin 1915, S. 124: „Aber im Hclbcn Maße wie die Weltgeschichte sich von einer europäischen zu einer planetarischen (Bühne) erweitert hat, muß der Gleichgewichtsgedanke die größere Bühne aufsuchen; die Halunce in Europa muß von der Balance auf den Meeren und in der ganzen politischen Welt ergänzt oder abgelöst werden. Aber in einem solchen planetarischen Gleichgewichtssystem gibt es keinen Platz für ein englisches Weltreich vom jetzigen Meere beherrschenden Typus“. 4g Emanuel Richter, Der Zerfall der Welteinheit - Vernunft und Globalisierung in der Mo­ derne, Frankfurt a. M. 1992, S. 242-252; der Autor beschwört gegen diese Tendenz eine („vernünftige“) „universale Gemeinschaftlichkeit“, ebd., S. 252 ff., was nach all den von ihm miIgedeckten Krisenerscheinungen eher rührend wirkt. 10 Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II, Göttingen 1982, S. M l

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Schmitt erkannte wohl auch die Mängel seines Konzepts und seine ab 1941 ent­ stehenden Texte zum Verhältnis von Land und Meer sind Versuche, diese Mängel, soweit dies Corollarien und Addenda vermögen, zu beheben. Zugleich drückt sich in diesen Addenda und Corollarien das Bewußtsein aus, daß der „letzte europä­ ische Krieg“ (John Lukacs) sehr rasch in einen Weltkrieg Umschlägen und sich so der diskriminierende Kriegsbegriff vollenden würde. Als Anfang Dezember 1941 der deutsche Vormarsch vor Moskau zum Erliegen kam, der Kulminationspunkt des Angriffs nicht mit dem Kulminationspunkt des Krieges ineinsfiel, war die deutsche Niederlage, betrachtete man auch nur oberflächlich die katastrophale Un­ terrüstung der Wehrmacht51, besiegelt. Wohin man auch schaute: der Universalis­ mus hatte, zunächst einmal, über den Großraum gesiegt. Kämpfte Schmitt in der juristischen und innerpolitischen Diskussion zunächst offensiv für den Staat, so kämpfte er danach auf der völkerrechtlichen und außen­ politischen Ebene - unter neuen, über-staatlichen Bedingungen - defensiv für die noch zu rettenden Elemente der Staatlichkeit. Jetzt aber sah er sich gezwungen, den Nomos der Erde sowohl zu beschwören als zu suchen, um den endgültigen Tri­ umph des nihilistischen Universalismus einen vielleicht noch möglichen Wider­ stand zu leisten. Diese Versuche reichten von der Evozierung, ja, Sakralierung ihm bedeutsamer Orte bis hin zu geschichtsphilosophischen Erwägungen und zu kon­ kreten Analysen der Weltpolitik, etwa der internationalen Lage nach der BandungKonferenz, seit dem Aufstieg Chinas oder während der Bemühungen de Gaulles. Manche solcher Hoffnungen sind heute, angesichts des Niederganges der u. s.amerikanischen Hegemonie513 oder angesichts des offenkundigen Zerfalls der ge­ rade als in Entstehung begriffenen begrüßten Welteinheit kaum von der Hand zu weisen, wenn auch alle Anzeichen dafür sprechen, daß dem Menschen die „Bändi­ gung der entfesselten Technik“ (vgl. vorl. Bd., S. 568) nicht gelingen wird, daß neue Hegungen des Krieges nicht vorstellbar sind, geschweige denn, daß der Wunsch, es mögen doch „die Friedfertigen sein ..., die das Erdreich besitzen52 er­ füllbar scheint. Dem aufmerksamen Leser Schmitts dürfte der nicht-aktivistische, resignative Ton, der sich bereits im Frühwerk anmeldet, nicht entgehen; die Posaune, die einen deutlichen Ton gibt, erschallt, denkt man an das 1910 beginnende, 1981 abge­ schlossene Gesamtwerk, eher selten. Jeder der Carl Schmitt näher kannte, wird dessen Selbstcharakterisierung zustimmen: „Mein Wesen mag undurchsichtig sein, jedenfalls ist es defensiv. Ich bin ein kontemplativer Mensch und neige wohl zu scharfen Formulierungen, aber nicht zur Offensive, auch nicht zur Gegenoffensive.

51 Vgl.: Hartmut Schustereit, Vabanque - Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941 als Versuch, durch den Sieg im Osten den Westen zu bezwingen, Herford u. Bonn 1988, bes. S. 30-68. 51a Vgl. bes.: David Calleo, Beyond American Hegemony, dt. u. d. T. Die Zukunft der westlichen Allianz, Bonn 1989. 52 Schmitt, Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 20.

Vorwort

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Mein Wesen ist langsam, geräuschlos und nachgiebig wie ein stiller Fluß, wie die Mosel, tacito rumore Mosella.“53 Die Größe Schmitts liegt nicht in seinen Antworten, die oft der Überzeugungs­ kraft entbehren, - sie liegt in seinen Fragen und Fragestellungen, hinter denen auch dann nicht zurückgegangen werden kann, wenn wir die Antwort nicht finden. Die Größe dieses vielgeschmähten Mannes liegt aber auch darin, daß er, der Stille und Kontemplative, nicht die ihm vorgezeichneten (Flucht-)Wege ging, etwa den Weg Jacob Burckhardts in die Kultur oder den Weg Franz Bleis in den Ästhetizismus. Sondern Schmitt stellte sich stattdessen den Res dura des Politischen: „Sohn dieser Weihe, du sollst nicht erbeben - horche und leide!“ Frankfurt am Main Juli 1995

Günter Maschke

53 Ex captivitate salus - Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S. 10. - Das Zitat nach Ausonius, Mosella: „Et virides Baccho colles, et amonea fluenta/Supterlabentis tacito rumo­ re Mosellae“ („... die grünlichen Hügel, dem Bacchus geweiht, und der Mosel/Lieblich rie­ selnde Fluth, die mit stillem Gemurmel dahinfließt“), nach dem Ndr. der Buchhandlung Beh­ rens, Trier 1979, der Koblenzer Ausgabe von 1802 folgend.

Zur vorliegenden Ausgabe Die Texte dieser Ausgabe beruhen auf den jeweiligen im Anhang genannten Erstdrucken. Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert, altertümliche Schreib­ weisen (etwa „ueber“ statt „über“) in der Regel den heutigen Gepflogenheiten an­ gepaßt. Die von Carl Schmitt erstellten Fußnoten wurden weitgehends überprüft; die dabei nicht seltenen Irrtümer, falschen Datierungen, fehlerhaften Zitate, usw., wurden - meist stillschweigend - verbessert. Meine eigenen Anmerkungen und Hinweise beruhen, falls nicht ausdrücklich angegeben, auf Autopsie. Mit Vorrang habe ich dabei Schriften berücksichtigt, die Schmitt vermutlich oder mit Sicherheit kannte, danach die Literatur zu seinen Leb­ zeiten und zum Schluß erst die spätere Literatur. Natürlich wurden auch die jewei­ ligen Standardwerke berücksichtigt. Es versteht sich, daß der bewußt sehr ausführ­ lich gehaltene Anmerkungsteil trotz aller Bemühungen immer noch „Lücken“ auf­ weist. Dazu nur zwei besonders prägnante Beispiele. Auf S. 425 f. weise ich auf die berühmte „Bücherschlacht“, den Streit um die Freiheit der Meere, hin und ka­ priziere mich dabei auf die Polemik zwischen Grotius, Seiden u. Freitas. Doch schon vor dieser Polemik forderten die Franzosen gegenüber den Spaniern ener­ gisch die „Meeresfreiheit“, wie u. a. Adolf Rein in seinem bedeutenden Werk „Der Kampf Westeuropas und Nordamerikas im 15. und 16. Jahrhundert“, Stuttgart-Go­ tha 1925, S. 99 ff. detailliert nach weist. Oder: Auf S. 454 erwähnt Schmitt eine „Konferenz“ v. Ribbentrops mit Intellektuellen kurz vor dem Ausbruch des II. Weltkrieges, von der ich auf S. 464, FN 4, erkläre, dazu nichts gefunden zu ha­ ben. Erst nach dem Vorliegen des Umbruches wurde ich aufmerksam gemacht auf einen mir bekannten, aber entfallenden Aufsatz Armin Möhlers, „Der Fall Giselher Wirsing“, in: Möhler, Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978, S. 146155, der von einer „Art Lagebesprechung (v. Ribbentrops - G. M.) für Schriftstel­ ler auf Schloß Leopoldskron bei Salzburg“ berichtete (S. 149), bei der u. a. Wirsing und Emst Jünger anwesend waren. Alle die mir noch bewußt gewordenen, ge­ schweige die mangels Kenntnissen noch nicht bewußten Lücken auszufüllen, hätte eine weitere, nicht mehr zu verantwortende Verzögerung des Bandes bedeutet, der mindestens seit 1993 erwartet wird. Die Hinweis- und Zitiertechnik ist, durch die jahrelange, des öfteren unterbro­ chene Arbeit, leider nicht ganz einheitlich gehalten worden. Manche Anmerkun­ gen und Kommentare wiederholen sich, wenn auch nur in der Sache und nicht im Text. Hier alles zu bereinigen und zu vereinheitlichen wäre nicht immer von Nut­ zen gewesen, sondern hätte den Band nur zu oft in ein einziges Querverweis-Werk verwandelt, in dem der Leser zum Schluß mehr hin und her blättern als lesen wür-

Zur vorliegenden Ausgabe

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de. Auf den ursprünglichen Plan, eine sehr umfangreiche, „systematische“ Einlei­ tung zu schreiben, wurde verzichtet. Bei einem nur halbwegs seriösen Vorgehen wäre daraus ein eigenes Buch geworden. Bei der Arbeit an dieser Ausgabe, die öfters unterbrochen wurde, vor allem durch zwei längere Aufenthalte in Peru in den Jahren 1990 und 1992, wurde mir von vielen Seiten Hilfe zuteil. Zunächst darf ich meine liebe Frau Sigrid nennen, die mich abschirmte und ermutigte. Herr Prof. Dr. Joseph H. Kaiser, Staufen i. Br., der Testamentsvollstrecker Carl Schmitts, erteilte mir freundlicherweise die not­ wendigen Abdruckgenehmigungen und half mit zahlreichen Hinweisen. Geradezu unermüdlich griffen mir Herr Prof. Dr. Helmut Quaritsch (Speyer), Herr Andreas Raithel (Hürth b. Köln) und Herr Prof. Dr. Piet Tommissen (Grimbergen/Belgien) unter die Arme; Herr Raithel erstellte überdies dankenswerterweise die beiden Na­ mensverzeichnisse. Schließlich darf ich noch einigen Freunden und Bekannten danken, die mich in Einzelfällen berieten, mit Material zusandten, usw. Erwähnen möchte ich hier: Alain de Benoist (Paris), Alessandro Campi (Perugia), Prof. Dr. Antonio Caracciolo (Rom), Vizeadmiral Luis Giampietri Rojas (La Punta/Peru), Dr. Manfred Lauermann (Gütersloh), Prof. Dr. Manuel Migone Pena (Chaclacayo/ Peru), Dr. Armin Möhler (München), Martin Mosebach (Frankfurt a. M.), Prof. Dr. Alvaro d’Ors (Pamplona), Henning Ritter (Frankfurt a. M.), Dr. Guillermo Gueydan de Roussel (Lago Puelo/Argent.), Prof. Dr. Roman Schnur (Rottenburg), Ro­ bert Steuckers (Brüssel), Christian Tilitzki (Berlin) u. Dr. Peter Weiß (Wien). Dr. Ingeborg Villinger und Dr. Dirk van Laak unterstützen meine Nachforschungen im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv, das den Nachlaß Carl Schmitts beherbergt. Dank gebührt auch dem Verlag Duncker & Humblot und seinem Leiter, Prof. Dr. Norbert Simon, für die beträchtliche Geduld. Die Ausgabe ist drei väterlichen Freunden gewidmet, die ich durch Carl Schmitt kennenlemte. Amicus certus in re incerta cernitur - auf diesen Wahlspruch hätten sich Günther Krauss, Eberhard Freiherr von Medern und Julien Freund sicher ger­ ne geeinigt. G. M.

Erster Teil

Verfassung und Diktatur

I .Hl■*!, GroBraum. Nomon

Diktatur und Belagerungszustand Eine staatsrechtliche Studie1 Die als Belagerungszustand, Kriegszustand oder Diktatur bezeichneten Ausnah­ mezustände enthalten in der gesetzlichen Regelung, die sie heute in den verschie­ denen europäischen Ländern gefunden haben, verschiedenartige Gesichtspunkte vermengt. Eine Erkenntnis der juristischen und politischen Natur jener Ausnahme­ zustände ist nur durch eine Auflösung der heterogenen Elemente möglich. Da die heute im deutschen Reich geltenden Gesetze über die Materie im wesentlichen un­ ter dem Einfluß der Gesetzgebung Frankreichs entstanden sind, wird das histori­ sche Material der Untersuchung hauptsächlich der französischen Geschichte ent­ nommen werden müssen. Zwar ist die Einwirkung französischer Ideen auf die Re­ form der inneren Verwaltung und auf das Heerwesen Preußens nicht so groß, wie vielfach angenommen wird.12 Aber die Verfassungen der deutschen Staaten haben jedenfalls ihre Terminologie, die sich doch nicht dauernd von den Begriffen loslö­ sen läßt, übernommen, und die Geschichte des preußischen Belagerungszustandes ist von der Geschichte der preußischen Verfassung nicht zu trennen. Die Materia­ lien aller, den Belagerungszustand wie die Verfassung betreffenden Gesetze ver­ weisen auf belgische und französische Vorbilder.3 Seit der Revolution des Jahres 1848 wurde es üblich, dem sog. politischen, d. h. zur Bekämpfung innerer Unruhen verhängten Belagerungszustand den Namen Mi­ litärdiktatur zu geben und den Belagerungszustand als Rechtsinstitution mit der Diktatur zu identifizieren. Eine solche Gleichstellung der beiden Begriffe ist histo­ risch ganz unberechtigt.4 Sie wäre 1793 nicht möglich gewesen. Damals wurden 1 Veranlaßt ist diese Arbeit durch die Ausführungen von Reichsgerichtsrat W. Rosenberg, „Die rechtlichen Schranken der Militärdiktatur“, Bd. 37, S. 808 - 825 dieser Zeitschrift. Es erschien mir notwendig, die Frage prinzipieller und unter weiteren historischen Aspekten zu behandeln und dadurch den begrifflichen Gegensatz von Belagerungszustand und Diktatur zu bestimmen. 2 Namentlich sind die Steinschen und Hardenbergschen Organisationen nicht Nachahmun­ gen französischer Muster. - Godefroy Cavaignac, La formation de la Prusse contemporaine, 1.1, Paris 1891, S. 487: ... „on peut dire que la Prusse ne se distinguait de la France et Stein de la Révolution française qu’en reculant devant la tache, que l’une et l’autre avaient ac­ complie.“ Ernst von Meier, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert, II. Band, Leipzig 1908, S. 395 (über Stein) und S. 402 (über Hardenberg). 1 R. Smend, Die preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der belgischen, Göttin­ gen 1904, S. 24 ff. Haldy, Der Belagerungszustand in Preußen, Tübingen 1906, S. 5. I*

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Erster Teil: Verfassung und Diktatur

Diktatur und loi martiale als grundverschiedene Dinge behandelt. Der National­ konvent, dessen Herrschaft auf jeden Fall den Namen Diktatur verdient, hätte es weit von sich gewiesen, die loi martiale oder den Belagerungszustand mit den Ausnahmezuständen in Zusammenhang zu bringen, die er im Interesse der Landes­ verteidigung und des öffentlichen Wohles für notwendig hielt. Vom Belagerungs­ oder Kriegszustand, der doch in dem Gesetz vom 8. - 10. Juli 1791 eine ausführli­ che Regelung gefunden hatte, war 1793 überhaupt nicht die Rede. Im Gegenteil, die loi martiale wurde als eines freien Volkes unwürdig entrüstet abgelehnt.45 Die Deputierten der Nationalversammlung von 1848 dagegen, die sich der „Diktatur“ widersetzten, verstanden darunter die loi martiale, d. h. den mit der Suspension von Verfassungsbestimmungen verbundenen Übergang der vollziehenden Gewalt auf den Militärbefehlshaber. In der revolutionären Terminologie ganz Europas wurde dann die Gleichsetzung beider Begriffe übernommen. Die Verwechslung dauert bis auf den heutigen Tag fort. Der Unterschied zwischen den Ausnahmezuständen von 1793 und 1848 ist aber augenscheinlich. Im Jahre 1793 handelte es sich für die Republik darum, der Koa­ lition fast aller europäischen Mächte standzuhalten; die feindlichen Invasionen wa­ ren in Nordfrankreich, im Elsaß, in Toulon vorgedrungen. Aus der Notwendigkeit, das Land nach außen zu verteidigen, entstand die Diktatur. Das Comité de salut public regierte. Es war nicht einem plötzlichen, überlegten Entschluß entsprungen, sondern das allmähliche Ergebnis der „nacheinander eintretenden Notlagen, bei einem Volk, das gegen ganz Europa im Kriege lag, das ganz bewaffnet war, um seine Existenz zu verteidigen, in einem Lande, das zu einem großen Kriegslager geworden war“.6 Im Gegensatz dazu wurde während der Revolution von 1848, wie auch 1830, nur ein Aufruhr im Innern bekämpft. Die Julirevolution von 1830 be­ traf, wie der ganze Kampf gegen das Königtum der Restauration, Verfassungsstrei­ tigkeiten; sie erhob sich unter dem Losungswort „Vive la Charte! “, und als Karl X. am 28. Juli 1830 Paris in Belagerungszustand erklärte, war er mit seinen Mini­ stem davon überzeugt, daß er es mit einem bloßen Tumult, einer „simple échauffouréei( zu tun habe.7*Ebenso war die Revolution von 1848 eine interne Angele4 Die psychologischen Gründe der Ungenauigkeit interessieren hier nicht; sie mögen an die Tatsache anknüpfen, daß ein Soldat von so markantem militärischem Typ wie der Gene­ ral Cavaignac die Revolution von 1848 niederschlug, wobei das Pathos seiner Gegner, Grevy und Lagrange, sich an dem Wort von der Säbeldiktatur entflammte. 5 Am 24. Juni 1793 schrieb ein Repräsentant des Nationalkonvents, Albitte, in einem Be­ richt: Der perfide Mirabeau schuf die loi martiale im Schoße eines freien Volkes; es ist jetzt an uns, das unheilvolle, schändliche Gesetz zu vernichten, das unser Recht beschmutzt, die loi martiale soll dem allgemeinen Fluch anheimfallen usw. Von der Diktatur durfte Albitte nicht so sprechen, denn sie lag in den Händen des Nationalkonvents, dessen Repräsentant er war. (Recueil des actes du Comité de salut public, publié par. F. A. Aulard, Paris MDCCCLXXXIX, t. V. S. 73, 74). 6 A. Aulard, Histoire politique de la Révolution française, 4. éd., Paris 1909, S. 357/358. 7 du Viel-Castel, Histoire de la Restauration, t. XX. Paris 1878, S. 581 ; Théodore Juste, La Révolution de juillet 1830, Brüssel 1883, S. 21.

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genheit Frankreichs, obwohl ihr Eindruck auf die andern Länder außerordentlich groß und vielleicht auch die internationale Lage nicht so glänzend war, wie sie Lamartine bei Eröffnung der Nationalversammlung in festlicher Rhetorik dar­ legte.8 Die außerordentlichen Maßnahmen, mit denen im Juli 1848 der Aufstand niedergeschlagen wurde, waren ausschließlich durch den Zweck bestimmt, eine im Inneren drohende Gefahr zu beseitigen. Dem verschiedenen Zweck entsprach die verschiedene staats- und verwaltungs­ rechtliche Form, in der die Ausnahmezustände des Jahres 1793 und die der Revo­ lutionen von 1830 und 1848 erledigt wurden. Die Entwicklung der Diktatur von 1793 bedeutet in ihrer staatsrechtlichen Gestalt nur die allmähliche Aufhebung der Teilung der Gewalten. Die Deklaration der Menschenrechte von 1789 hatte in ih­ rem Artikel 16 den Satz proklamiert, daß jede Gemeinschaft, in der die Teilung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion nicht durchgeführt sei, der Verfassung und der Freiheit entbehre.[l] Die Teilung war für ihre theoretischen Begründer, Locke und Montesquieu, ein rein praktisch-technisches Mittel gewesen, die Macht des Staates auszubalanzieren, damit sie den Einzelnen nicht erdrücke. Aus diesem, ganz in der Sphäre nüchternster Relativität liegenden Gedanken hatte die Revolu­ tion ein absolutes Axiom gemacht, an das sie mit doktrinärem Pathos glaubte und das sie, wenigstens formell, noch aufrecht zu halten suchte, während in der Sache längst die schrankenlose Diktatur des Comité de salut public eingetreten war. Als der Konvent am 6. April 1793 beschloß, ein Comité de salut public zu bilden, war in Wirklichkeit die Trennung von Legislative und Exekutive aufgegeben. Denn das neue Comité sollte die Tätigkeit der Minister „überwachen und beschleunigen“, es konnte in dringenden Fällen außerordentliche Maßnahmen zur Verteidigung des Landes nach innen und nach außen ergreifen und sie sofort vollziehen lassen. Trotzdem vermied man es, die Minister und den Conseil exécutif zu beseitigen.9 Doch war bereits mit der Bildung eines Comité de défense générale am 1. Januar 1793 die Entwicklung deutlich geworden; sie ließ sich nicht mehr aufhalten. Unter dem Druck der äußeren Ereignisse wurden schließlich alle Bedenken beseite ge­ schoben, die noch während der Beratung jenes Beschlusses vom 6. April 1793 und in dessen Bestimmungen selbst zutage getreten waren10: ein aus dem Parlament, H Die Rede (vom 7. Mai 1848) ist mitgeteilt in Lamartines Histoire de la Révolution de 1848, t. II. Paris 1849, S. 375 ff. Noch am 24. April 1793 rief Saint-Just im Konvent, man müsse die Gewalten teilen, damit die Freiheit herrsche, wie die Tyrannen das Volk teilten, um selbst zu herrschen. Moni­ teur vom 25. April 1793, S. 510. 10 Vgl. Recueil des actes du Comité de salut public, t. III, p. 112. Der Beschluß lautet: La Convention nationale décrète: Article 1er. Il sera formé, par appel nominal, un Comité de salut public composé de neuf membres de la Convention nationale. Art. 2. Ce Comité délibérera en secret. Il sera chargé de surveiller et d’accélérer l’action de l’administration confiée au Conseil exécutif provisoire, dont il pourra même suspendre les arrêtés, lorsqu’il les croira contraires à l’intérêt national, à la charge d’en informer sans délai la ( oiwcntion.

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Erster Teil: Verfassung und Diktatur

also der legislativen Körperschaft, gebildeter Ausschuß leitete den Vollzug der Ge­ setze, gab Militär- und Zivilbehörden Anweisungen, organisierte den Nachrichten­ dienst, schickte Kommissäre in die Provinzen und zu den Armen und hatte vor allem die auswärtige Politik in seiner Hand. Durch diese Vereinigung der gesetz­ gebenden Gewalt mit der vollziehenden wurde, wie Aulard meint, Frankreich ge­ rettet.11 Weder 1830 noch 1848 wurde die Trennung von Legislative und Exekutive auf­ gehoben. Der General Marmont, Herzog von Ragusa, der Militärbefehlshaber von 1830, sollte eine Aufgabe erledigen, die sich nur durch ihren Umfang von einer, sonst durch verstärktes Polizeiaufgebot zu erledigenden unterschied. Cavaignac, der Militärbefehlshaber des Jahres 1848, erhielt ebenfalls keine legislativen Befug­ nisse. Am 23. Juni 1848 hatte ihm die konstituierende Versammlung alle militäri­ schen Vollmachten gegeben; am folgenden Tage wurden ihm, unter dem Wider­ spruch der Commission du pouvoir exécutif, auch die Befugnisse der Zivilbehör­ den übertragen. Der Gesetzesvorschlag vom 24. Juni 1848 lautete: „Paris est mis en état de siège. Tous les pouvoirs sont concentrés entre les mains du général Ca­ vaignac.“ Die Versammlung erklärte den Belagerungszustand am gleichen Tage mit den Worten: Tous les pouvoirs exécutifs sont délégués au général Cavaignac.12 Art. 3. Il est autorisé à prendre, dans les circonstances urgentes, des mesures de défense géné­ rale extérieure et intérieure, et les arrêtés signés de la majorité de ses membres délibérant, qui ne pourront être au-dessous des deux-tiers, seront exécutés sans délai par le Conseil exécutif provisoire. Il ne pourra, en aucun cas, donner des mandats d’amener ou d’arrêt, si n’est con­ tre des agents d’exécution et à charge d’en rendre compte sans délai à la Convention. Art. 4. La trésorerie nationale tiendra à la disposition du Comité de salut public jusqu’à con­ currence de 100 000 livres pour dépenses secrètes qui seront délivrées par le Comité et payées sur les ordonnances, qui seront signées comme les arrêtés. Art. 5. Il fera chaque semaine un rapport général et par écrit de ses opérations et de la situa­ tion de la République. Art. 6. Il sera tenu régistre de toutes ses délibérations. Art. 7. Le Comité n’est établi que pour un mois. Art. 8. La trésorerie nationale demeurera indépendante du Comité d’exécution et soumise à la surveillance immédiate de la convention, suivant le mode fixé par les décrets. Interessant sind die Sophismen, mit denen Thuriot in der Beratung zu beweisen suchte, daß es sich nicht um eine Aufhebung der Teilung der Gewalten handle, sondern um die Übertra­ gung des Überwachungsrechts, das dem Parlament zustehe, an einige Mitglieder dieses Parla­ ments. Im Gegensatz dazu standen freilich die offenen Erklärungen Marats, man müsse den Despotismus der Freiheit gegen den Despotismus der Könige organisieren. Über den auch jetzt noch fortdauernden Respekt des Nationalkonvents vor dem Prinzip der Trennung der Gewalten vgl. Joseph Barthélemy, Le Rôle du pouvoir exécutif dans les républiques moder­ nes, Paris 1907, S. 471 ff. 11 Aulard, a. a. O., S. 318: C’est par ce cumul (sc. du pouvoir législatif et exécutif) qu’elle (la Convention) réussit à accomplir sa tache essentielle, qui était de sauver la France envahie. S. 366: Il y eut réellement, jusqu’au jour où les victoires militaires supprimèrent la raison d’être de la dictature, une compression générale des volontés et des courages. 12 Albert Maurin, Documents pour servir à l’histoire de la Révolution de 1848, journées révolutionnaires des 22, 23, 24 et 26 juin 1848, Paris 1848, S. 85. Lamartine,; a. a. O., t. II, S. 488.

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Für Cavaignac war der Belagerungszustand ausgesprochenermaßen ein Mittel, „das republikanische Prinzip zu schützen“. Er machte von seinen Befugnissen den weitesten Gebrauch und unterdrückte in seiner Abneigung gegen die Presse zahl­ reiche Blätter; er hatte sogar den Plan, nach dem Vorbild des Konvents, Kommis­ säre in die Provinzen zu schicken, die dort der Republik Sympathien gewinnen sollten.11*13 In allem aber betrachtete er sich als bloßes Exekutivorgan, das zwar nicht mehr an die Schranken der Verfassung, wohl aber an den von der konstituie­ renden Versammlung gegebenen Auftrag gebunden war, die Revolution mit allen Mitteln niederzuwerfen; wie er denn auch, als korrekter Soldat, nach Erledigung der Aufgabe sofort alle Befugnisse an den Auftraggeber zurückgab. [2] Der Unterschied dieser Vorgänge von der Diktatur des Jahres 1793 liegt nicht in der Zeitdauer, also darin, daß eine Diktatur wie die von 1793 auf einen längeren Zeitraum berechnet sein muß, während die Aufstände von 1830 und 1848 eine in wenigen Tagen zu erledigende Angelegenheit waren, die sich zudem räumlich auf einen engeren Bezirk, die Stadt Paris, nicht auf das ganze Land erstreckte. Wesent­ lich, im rechtlichen Sinne, ist vielmehr, daß der Militärbefehlshaber, in dessen Händen durch königliche Ordonnanz oder durch Gesetz die vollziehende Gewalt konzentriert wird, eine konkrete Aufgabe erledigt. Er vollzieht nicht ein bestimm­ tes Gesetz der Stelle, die ihm den Auftrag gibt, sondern er stellt sich schützend vor diese Stelle selbst. In der Position Cavaignacs zeigt sich das klar: er sollte die kon­ stituierende Versammlung und die bestehende Rechtsordnung als solche in ihrer Gesamtheit verteidigen, nicht aber von der Versammlung jeweils zu erlassende ein­ zelne Gesetze vollziehen. Um die rein tatsächliche Frage handelte es sich, wer die Macht im Staate haben sollte. Das Comité de salut public dagegen vollzog nicht nur die von ihm erlassenen provisorischen Anordnungen selbst, sondern hatte auch den Vollzug der vom Konvent erlassenen Gesetze in der Hand, d. h. in Wirklich­ keit seiner eigenen Gesetze, denn sie waren vom Comité selbst vorgeschlagen und wurden regelmäßig vom Konvent einstimmig und ohne Debatte angenommen.14 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fällen werden leicht übersehen, weil jedesmal eine dem Staat drohende Gefahr beseitigt werden soll, und zwar je­ desmal, sowohl während eines Aufruhrs im Innern wie während eines Krieges, mit militärischen Mitteln. Daß es sich um eine militärische Aktion handelt, hat zu­ nächst eine Verwechslung staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Fragen veranlaßt. Man hat die Verhältnisse eines in Belagerungszustand erklärten Gebiets mit denen im okkupierten Gebiete, staatsrechtliche Befugnisse des Militärbefehlshabers mit 11 Eugène Spuller, Histoire parlementaire de la seconde république, 2ième éd. Paris 1893, S. 195. Unterdrückt wurden namentlich die Blätter Gazette de France, Représentant du peuple (herausgegeben von Proudhon), Père Duchêne, Le Lampion. Den Plan, Kommissäre in die Provinzen zu schicken, nahm die konstituierende Versammlung nicht ernst. 14 Von besonderem Interesse sind hierfür die Gesetze, die eine Unterdrückung der Preß­ freiheit und der persönlichen Freiheit enthielten, namentlich das Gesetz vom 17. September 1793. Der Zustand dauerte bis zum thermidor an II. Das Comité de salut public subventio­ nierte und inspirierte übrigens alle Hauptzeitungen. Vgl. darüber Aulard a. a. O. s. 360ff.

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Erster Teil: Verfassung und Diktatur

völkerrechtlichen vermengt. Wenn z. B. englische Autoren vom Martial Law sa­ gen, es sei seinem Wesen nach die Vereinigung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion in der Hand des Militärbefehlshabers, so sprechen sie von den Zustän­ den im okkupierten Gebiet.15 Die Hereinziehung dieser Angelegenheit scheint im­ mer noch eine gewisse verwirrende Rolle zu spielen. Es ist also zu beachten, daß nur das inländische, in Belagerungszustand erklärte Gebiet in Frage steht. - Die größte Schwierigkeit entsteht aber dadurch, daß in allen Fällen die drohende Ge­ fahr, also eine Art Notstand, mit Rücksicht auf rein tatsächliche Besonderheiten eine besondere rechtliche Behandlung verlangt. So lag es nahe, im Zustand dro­ hender Gefahr den gemeinsamen Oberbegriff, in Krieg und Aufruhr, als den bei­ den verschiedenen Ursachen der Gefahr, die Unterarten zu erblicken, im übrigen aber den Gegensatz zur Diktatur zu ignorieren. Die drohende Gefahr ist z. B. in dem französischen Gesetz vom 3. April 1878 als die gemeinsame Voraussetzung genannt, die durch die beiden Fälle eines Krieges von außen und einer Insurrektion mit bewaffneter Hand von innen näher spezialisiert wird.16 Der Belagerungs- oder Kriegszustand im eigentlichen Sinne, der sog. „effektive“ Belagerungszustand, wird von dem durch eine Unruhe im Inneren veranlaßten „politischen“ oder „fik­ tiven“ Belagerungszustand unterschieden17, obwohl die durch einen Aufruhr wenn auch entfernt drohende Gefahr so „effektiv“ sein kann, wie die vom Feinde dro­ hende. Doch ist folgende Unterscheidung berechtigt: Der Belagerungs-(Kriegs-) zustand kann ein Mittel zur Durchführung militärischer Zwecke oder aber eine sicherheitspolizeiliche Einrichtung sein. Darin liegt eine in der Natur der Sache begründete Trennung von zwei verschiedenen Elementen der rechtlichen Instituti­ on „Belagerungszustand“. Der Unterschied macht sich in einzelnen Gesetzgebun­ gen in einem Gegensatz von Kriegs- oder Belagerungszustand und Standrecht gel­ tend.18 Gewöhnlich aber wird der militärische und der sicherheitspolizeiliche Ge15 Bei Charles M. Clode, The administration of justice under Military and Martial Law, London 1872, S. 162, ist der Ausspruch des Generals Napier zitiert: „The union of Legislati­ ve, Judicial and Executive Power in one Person ist the essence of Martial Law“, und die An­ sicht Wellingtons: „it is neither more nor less than the will of the General of the Army. He punishes, either with or without trial, for Crimes either declared to be such or not so declared by any existing Law or by his own orders“. Besonders klar Art. 3 der von der amerikanischen Regierung im April 1863 für den Krieg ausgegebenen Instruktion: Martial Law in a hostile country consists in the suspension by the occupying Military Authority of the Criminal and Civil Law and the domestic Administration and Government in the occupied place or territo­ ry, and in the substitution of Military rule and force for the same, as well as in the dictation of general laws, as far as Military necessity requires this suspension, substitution or dictation. 16 Art. 2 des Gesetzes vom 3. April 1878 (veröffentlicht im Journal officiel am 4. April 1878): L’état de siège ne peut être déclaré qu’en cas de péril imminent résultant d’une guerre étrangère ou d’une insurrection à main armée. 17 Auf dieser Unterscheidung beruhen die Ausführungen von Theodore Reinach, De l’état de siège. Paris 1885. 18 Nach dem bayerischen Kriegszustandsgesetz vom 5. November 1912 wird der Kriegs­ zustand nach Ausbruch eines Krieges oder bei unmittelbar drohender Kriegsgefahr verhängt, während für innere Unruhen die bisherigen Bestimmungen über das Standrecht gelten (im

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sichtspunkt nicht deutlich auseinander gehalten. So behandelt das preußische Ge­ setz vom 4. Juni 1851, das durch Art. 68 der Reichsverfassung zum Reichsgesetz geworden ist, die zwei Fälle, den eines Krieges nach außen, wie den eines Auf­ ruhrs im Inneren, (abgesehen von der Zuständigkeit) ohne weiteres gleich.[3] Da­ gegen weist das bayerische Kriegszustandsgesetz vom 5. November 1912[4] in dieser Hinsicht eine zu wenig beachtete Besonderheit auf. Während nämlich das preußische Gesetz, entsprechend den historischen Verhältnissen seiner Entste­ hungszeit, mehr an eine Revolution als einen Krieg denkt, ist in der Begründung zum bayerischen Gesetz als ratio legis eine rein militärische Erwägung genannt: das Gesetz soll einen glatten Verlauf der Mobilmachung gewährleisten. Die Be­ sorgnis innerer Unruhen wird ausdrücklich zurückgewiesen.19 Die notwendige Fol­ ge der rein militärischen Auffassung ist, daß nur der König, nicht eine lokale mili­ tärische oder zivile Stelle den Kriegszustand erklären kann. Da die Regelung des preußischen Gesetzes von 1851 mit ihrer Gleichsetzung militärischer und sicher­ heitspolizeilicher Zwecke infolge des Art. 68 RV den Verhältnissen im ganzen Reich gerecht werden mußte, entstanden schwierige, mit den Mitteln juristischer Interpretation nicht zu lösende Kontroversen: der Kriegszustand wird bald als si­ cherheitspolizeiliche Maßnahme und Ausfluß eines Regierungsrechts20, bald als eine dem Kaiser in seiner Eigenschaft als Bundesfeldherm zugewiesene militäri­ sche Angelegenheit21 behandelt. Die herrschende Ansicht hat sich nach den glänrechtsrheinischen Bayern Art. 441 - 456 des StGB, von 1813, im linksrheinischen zahlreiche ältere Dekrete, vgl. die Aufzählung in der amtl. Begründung, Verhandlungen der Kammer des Abgeordneten-Hauses, 1912 Beil., Bd. 2, S. 824). Das badische Gesetz, den Kriegszu­ stand betreffend, vom 29. Januar 1851 sieht die Verkündung des Kriegszustandes ganz allge­ mein für den Fall vor, daß „die Sicherheit des Staates dergestalt gefährdet ist, daß zu ihrer Aufrechterhaltung die ordentlichen Gesetze nicht mehr ausreichen“. Das daneben bestehende Gesetz, das Standrecht betreffend, vom gleichen Tage, gilt nur für einen Aufruhr, gegen wel­ chen militärische Gewalt aufgeboten wird. 19 Vgl. die amtliche Begründung zum bayerischen KZG. a. a. O. sowie die Äußerungen des Justizministers Thelemann und des Kriegsministers Freiherm v. Kreß in der Sitzung vom 28. Oktober 1912 (Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landta­ ges, XXXVI. 1912, Stenographische Berichte Nr. 153). 20 Vgl. Georg Mayer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., bearbeitet von Dochow, Leipzig 1910, S. 177; Fischer, Das Recht des deutschen Kaisers, Berlin 1895, S. 112; Brockhaus, Das deut­ sche Heer und die Kontingente der Einzelstaaten, Leipzig 1888, S. 71. Eine ausführliche Dar­ legung der von Laband und Zorn vorgetragenen Argumente vom militärischen Gesichtspunkt aus gab Haldy, Der Belagerungszustand in Preußen, Tübingen 1906, S. 21 f. Dort auch weite­ re Literatur. Gegen Haldy besonders F v. Nicolai, Der reichs- und landesgesetzliche Kriegs­ zustand, Tübingen 1913. Wenn Haldy als entscheidendes Argument anführt, es komme in dieser Frage nicht auf den Zweck, sondern die Mittel an, die militärische seien und über die nur vom obersten Militärbefehlshaber verfügt werden könne, so darf, von logischen Beden­ ken zu schweigen, nicht übersehen werden, daß ein solches Argument zu dem Resultat führt, dem obersten Militärbefehlshaber das ausschließliche Recht der Kriegserklärung zu geben, da ja auch der Krieg mit militärischen Mitteln geführt wird. 21 iMband, Staatsrecht, Bd. IV, 5. Aufl., S. 40 ff.; Zorn, Staatsrecht, 1. Bd., S. 198 ff.; Seydel in Stengels Wörterbuch 1, S. 159; Kommentar zur Reichsverfassung, 2. Aufl., S. 379 f. Vgl. die vorige Anmerkung.

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zenden Darlegungen Labands auf den Standpunkt gestellt, daß der Kaiser den Kriegszustand als Militärbefehlshaber erklärt. Darin liegt eine einseitige Beto­ nung des militärischen Moments. Aus der militärischen Natur des Instituts wurde dann der Schluß gezogen, daß nur der Kaiser als oberster Militärbefehlshaber für die Erklärung des Kriegszustandes im Reich kompetent sei, während nach der an­ deren Auffassung der landesrechtliche Belagerungszustand aufrecht erhalten ist usw. Die Kontroversen sind hier nicht auszutragen, weil es nur darauf ankommt, die beiden Unterarten, den militärischen und den sicherheitspolizeilichen Belage­ rungszustand, deutlich zu scheiden, um sie beide der Diktatur gegenüberzustellen. Die rechtliche Besonderheit des Belagerungszustandes liegt in der Behandlung des Zustandes konkreter, tatsächlicher Gefahr. In der einfachsten Gestaltung der Din­ ge, von der die Bezeichnung „Belagerungszustand“ herrührt, beim sog. effektiven Belagerungszustand, tritt das bloß Tatsächliche deutlich hervor. Wenn es sich da­ rum handelt, eine belagerte Festung zu verteidigen und der Kommandant zu die­ sem Zweck außergewöhnliche Anordnungen trifft, so stehen diese rechtlich zu­ nächst auf keiner andern Stufe wie etwa die Maßregeln, die der Kapitän eines Schiffes zur Aufrechterhaltung der Ordnung ergreift.22 Das rein Tatsächliche zeigt sich noch in der ersten französisch-rechtlichen Regelung unverkennbar: das Gesetz vom 8. / 10. Juli 1791, das übrigens nur für Festungen und befestigte Plätze galt, unterschied zwischen dem état de siège, der als Folge bestimmter tatsächlicher Verhältnisse - Umschließung durch den Feind, Absperrung aller Verbindungen einfach da war, und dem état de guerre, der durch ein Dekret des corps législatif erklärt wurde.23 In den Materialien des französischen Gesetzes von 1878 ist mit Recht betont, daß hier nicht eigentlich eine gesetzliche Regelung vorliege, sondern ,un pur fait, résultant de l’attaque de l’ennemi“.24 Auch als nach dem Gesetz vom 10. Fructidor an V (22. August 1797) der Belagerungs- und Kriegszustand auf den Kampf mit „Rebellen“ angewandt wurde, blieb der Gegensatz bestehen: der Kriegszustand wurde vom Direktorium erklärt, der Belagerungszustand trat bei einer bestimmten Sachlage ipso facto ein.25 22 Deutsche Seemannsordnung vom 2. Juni 1902, § 91. 23 Art. 11 und 12 des Gesetzes von 1791: der état de siège tritt bei Festungen usw. ein, wenn „par l’effet de leur investissement par des troupes ennemies, les communications du dehors au dedans et du dedans au dehors seront interceptées à la distance de 1800 toises des crêtes des chemins couverts“. 24 Bericht der Gesetzeskommission zur Prüfung des Entwurfs eines Gesetzes über den Be­ lagerungzustand, veröffentlicht in der Revue générale d'administration, Bd. 1, Paris 1878, S. 605. Es ist von Bedeutung, daß diese Art. 11, 12 durch das Gesetz vom 9. August 1849, Art. 5, aufrecht erhalten wurden und der Festungskommandant das Recht erhielt, in diesen Fällen den Belagerungszustand zu erklären. Dazu wird in dem Ergänzungsbericht vom 1. August 1878 bemerkt: L’état de siège, dont il est question ici est un pur fait que la loi con­ state et ne crée pas, qui résulte de l’investissement de la place par l’ennemi; et les consequen­ ces qu’il entraîne ne sont que les nécessités de la défense. (Revue d’administration a. a. O., S. 622).

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Nun äußert sich allerdings schon früh das Bedürfnis nach einer juristischen Kon­ struktion. Selbst in England, wo die Vorstellung nicht verschwunden ist, daß die ganze Angelegenheit des martial law dem Recht überhaupt nicht zugänglich ist, hat man z. B. Eingriffe in die persönliche Freiheit und das Leben von Bürgern, wie sie während der Unruhen von 1780 in London vorgenommen wurde, als Anwen­ dung des Standrechts ausgegeben. Das Standrecht war zunächst auf Militärperso­ nen beschränkt; es wurde jetzt ausgedehnt auf alle Zivilisten, die während des Auf­ standes mit den Waffen in der Hand ergriffen wurden.2526 Die Unterdrückung der Unruhen erfolgte demnach mit jurisdiktioneilen Mitteln. Soweit infolge der tat­ sächlichen Verhältnisse ein noch so summarisches Verfahren nicht möglich war, erschien das Eingreifen des Militärs als dessen Ersatz; man konnte von jedem, der während des Aufstandes getötet, verwundet oder festgenommen wurde, sagen, er sei auf Grund eines sofort ausgesprochenen und sofort vollzogenen Urteils exeku­ tiert worden. So hat man es ja auch vielfach als sofortige Erkenntnis und Vollzug der Todesstrafe konstruiert, wenn der Soldat im Felde wegen Feigheit vor dem Feind vom Vorgesetzten auf der Stelle getötet wird. Derartige unhaltbare Fiktionen brauchen hier nicht mehr erörtert zu werden.27 Sie zeigen aber, daß man die erste juristische Formulierung des Mittels, mit dem der Zustand tatsächlicher Gefahr be­ seitigt werden sollte, im Gebiet der Rechtspflege suchte: die Gefahr sollte durch einen extrem summarischen Prozeß beseitigt werden; die Militärbehörde erhielt durch das Standrecht außergewöhnliche jurisdiktionelle Befugnisse. Das neue Moment, das durch die französische Gesetzgebung in die Entwicklung der Frage eintritt, liegt darin, daß die Angelegenheit auf das Gebiet der Verwaltung übergeht: der Militärbefehlshaber bekommt den ganzen behördlichen Apparat in seine Hand; er wird der Vorgesetzte aller Behörden des im Belagerungszustand befindlichen Bezirks und vereinigt ihre Befugnisse in sich. Wenn nun (wie im vollkommnen Rechtsstaat) jede Tätigkeit einer Behörde dem Gesetz entspräche, so würde die Zusammenfassung aller behördlichen Befugnisse in der Hand des Mili­ tärbefehlshabers zwar eine Konzentration bedeuten, aber keine Aufhebung des rechtsstaatlichen Prinzips. Es träte ja nur eine Kompetenzveränderung, nicht aber eine Ausdehnung der Befugnisse ein. Solange sich jedoch die Verwaltung nicht in den Grenzen der Gesetze vollzieht, bedeutet der Übergang der vollziehenden Ge25 Art. 1. Das Gesetz vom Jahre V: Le Directoire exécutif ne pourra déclarer en état de guerre les communes de l’intérieur de la République après etc. Art. 2: Les communes de l’intérieur seront en état de siège aussitôt que par l’effet de leur investissement par des trou­ pes ennemies ou des rebelles la communication du dedans au dehors et du dehors au dedans seront interceptées etc. - Das Napoleonische Dekret vom 24. Dezember 1811 betraf die rein militärische Frage der Verteidigung von Festungen und befestigten Plätzen; vgl. darüber wei­ ter unten im Text. 26 Clode, a. a. O., S. 165, besonders S. 166: „When it is impossible, said the late Sir James Mackintosh, for Courts of Law to sit or to enforce the execution of their Judgments, then it becomes necessary to find some rude substitute for them, and to employ for that purpose the Military, which is the only remaining Force in the Community.“ 27 WilfliriK, Der administrative Waffengebrauch, Wien 1909, § 2, S. 7 ff.

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wait, d. h. aller Verwaltungsbefugnisse eine grundsätzlich unbeschränkte Machtbe­ fugnis. Das gilt besonders klar für die Zeiten des ersten Kaiserreichs und der Re­ stauration. Für den Absolutismus Napoleons I. hatte der sog. politische Belage­ rungszustand keinen besonderen praktischen Wert; für ihn waren ja selbst der Se­ nat, der Staatsrat, das sog. corps législatif nicht selbständige Repräsentanten des Volkes, sondern nur die untergeordneten Behörden des Kaisers, die sich, wie ir­ gendeine Präfektur oder ein Landgericht, in die allgemeine Hierarchie einfügten.28 Eine rechtliche oder tatsächliche Garantie der persönlichen Freiheit bestand nicht; weder die commission de liberté individuelle (begründet durch Senatsbeschluß vom Jahre XII), noch die Einführung der Strafprozeßordnung mit ihrer Regelung der Festnahme und Verhaftung Verdächtiger hinderten seine Praxis willkürlicher Festnahmen und Schutzhaften. Ebensowenig gab es eine Preßfreiheit.29 Die Regie­ rung der Restauration fand allerdings mit ihren Eingriffen in die persönliche Frei­ heit und namentlich in die Preßfreiheit ernsten Widerstand in den Kammern wie beim Volke. Aber nach dem Gesetz vom 29. Oktober 1815 hatten untergeordnete und lokale Behörden das Recht, eine Schutzhaft zu verhängen, auch die späteren Gesetze über die persönliche Freiheit und die Preßfreiheit gaben den Verwaltungs­ behörden weitgehende, diskretionäre Befugnisse.30 Diese wären sämtlich auf den 28 In einem offiziellen Artikel des Moniteur vom Jahre 1808 ist diese Auffassung so aus­ gesprochen: Dans l’ordre de nos constitutions, après l’Empereur est le Sénat, après le Sénat est le Conseil d’État, après le conseil d’État est le Corps législatif, après le Corps législatif viennent chaque tribunal et chaque fonctionnaire public dans l’ordre leurs attributions. Duvergierde Hauranne, Histoire du gouvernement parlementaire en France, 1.1. 1857, S. 568. 29 Duvergier de Hauranne, a. a. O., S. 573 ff. ; über die Praxis des Dekrets von 1810 betr. die Staatsgefängnisse; S. 575 ff. über die Preßfreiheit unter Napoleon I. 30 de Viel-Castel, Histoire de la Restauration, t. V. Paris 1862, S. 386 ff., 399. Die Zahl der in Schutzhaft Genommenen gab der Minister Decazes in einem Exposé auf 319 an, die der außerhalb ihres Heimatbezirks Überwachten auf 249, der in ihrem Bezirk Überwachten auf 235. In der Begründung des am 7. Dezember 1816 präsentierten Entwurfs einer neuen Rege­ lung wies die Regierung darauf hin, daß die Verhältnisse noch zu unsicher seien, um zur normalen Regelung zurückzukehren und daß ja auch in England, unter weit weniger gefähr­ lichen Verhältnissen die Habeas-Corpus-Akte neunmal aufgehoben worden sei. Nach dem neuen Entwurf behielt die Regierung das Recht, Personen in Haft zu nehmen, ohne sie der Justiz zu übergeben, wenn dies für die Sicherheit der Person des Königs, eines Mitgliedes der königlichen Familie oder des Staates notwendig war, nur sollte, zum Unterschied von dem Gesetz vom 29. Oktober 1815, ein vom Präsidenten des Ministerrats oder vom Polizeimini­ ster gezeichneter Befehl hierzu erforderlich sein, auch mußte der Staatsanwalt sofort benach­ richtigt, von diesem Bericht erstattet werden usw. In der Kammer, die das Gesetz vom 29. Oktober 1815 angenommen hatte, wurde gegen den neuen Vorschlag der bemerkenswerte Einwand erhoben, solche Regierungsmaßnahmen seien zwecklos, da im Notfälle ein Aufruhr nur durch das energische Eingreifen des Militärs unterdrückt werden könne. Die folgenden Kammerverhandlungen vom 9. Januar 1817 sind deshalb interessant, weil in ihnen das typi­ sche Argument auftaucht: die Verfassung verbiete nur solche Beschränkungen der persönli­ chen Freiheit, die auf einem Gesetz beruhen, hier aber handelte es sich ja gerade darum, ein Gesetz für diese Beschränkungen zu schaffen, Decazes erklärte in der gleichen Verhandlung, wenn das Gesetz nicht angenommen werde, so würde der König unter Berufung auf Art. 14 der Verfassung die in Frage stehenden Befugnisse eben ohne Gesetz ausüben; er verlangte

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Militärbefehlshaber übergegangen. Doch wird in der Praxis der Belagerungszu­ stand sich so abgespielt haben, daß der Militärbefehlshaber, ohne im einzelnen die rechtliche Grundlage seines Vorgehens zu prüfen, einfach alle Maßnahmen ergriff, die er für erforderlich hielt. Bezeichnend ist dafür die Formel, mit der im Mai 1816 der Belagerungszustand in Grenoble vom Ministerrat (durch telegraphische Anweisung an die Militärbefehlshaber) angeordnet wurde: Le département de l’Isère doit être regardé comme en état de siège. Les autorités civiles et militaires ont un pouvoir discrétionnaire.31 Erst jetzt wurde der Belagerungszustand ein in­ nerpolitisches Instrument im Kampf der Regierung gegen die Opposition. Das nur für Festungen und befestigte Plätze geltende napoleonische Dekret vom 24. De­ zember 1811 hatte den grundsätzlich militärischen Charakter noch gewahrt. Jetzt trat der Belagerungszustand in Zusammenhang mit dem Kampf um die verfas­ sungsmäßigen Befugnisse der Krone. In der Julirevolution von 1830 siegte dann die Opposition mit dem laut proklamierten Ziel, die verfassungsmäßigen Rechte vor den Übergriffen der Verwaltung sicherzustellen. Doch zeigte sich bald, am meisten 184832, daß eine Regierung im Notfälle auf den Belagerungszustand nicht also, eigentlich sich selbst widersprechend, wenigstens die Anerkennung seines Bedürfnisses nach Legitimität. Auch die Verhandlungen der Pairskammer über das Gesetz sind von Interesse für die spe­ zielle Angelegenheit, wie die allgemeine Frage der Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Lajuinais und der Herzog von Broglie machten geltend, die vom König prätendierte Ausdeh­ nung des Art. 14 und seine Wendung von der „Sicherheit des Staates“ hebe die ganze Verfas­ sung zugunsten dieses einen Artikels auf; die Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte in Eng­ land sei daraus zu erklären, daß England nicht wie Frankreich eine Strafprozeßordnung habe {de Viel-Castel, a. a. O., S. 401). Das Gesetz wurde von beiden Kammern, wenn auch gegen eine starke Minderheit, ange­ nommen. Die Beratungen über das Gesetz betreffend die Verlängerung der Zensur (um ein weiteres Jahr), wie sie nach dem Gesetz von 1814 noch bestand, waren ähnlich wie die des Gesetzes über die Suspension der persönlichen Freiheit. Besonders wichtig ist, daß Decazes in der Sit­ zung vom 7. Dezember 1816 darauf hinwies, eine Zensur sei nötig, solange die Okkupations­ armee in Frankreich stehe und Chateaubriand (in den Verhandlungen der Pairskammer vom 22. - 25. Februar 1817), trotz seiner Opposition gegen jede Beschränkung der Preßfreiheit in einem parlamentarischen Staate, doch zugab, mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der äußeren Politik müßten dem Minister des Äußern in allen Fragen, die sein Ressort beträfen, Zensurbefugnisse gegeben werden. 31 Diese Gleichstellung von Zivil- und Militärbehörden legt die Vermutung nahe, als sei ein Übergang der vollziehenden Gewalt auf die Militärbefehlshaber nicht erfolgt. Daß aber trotzdem der Militärbefehlshaber, der General Donadieu, der Vorgesetzte des ihm sonst im Range vorgehenden Präfekten de Montlivault wurde, beweist, daß die im Text erwähnte For­ mel an dem Übergang der vollziehenden Gewalt nichts ändern wollte. Vgl. die Darstellung der tragikomischen Geschichte dieses Belagerungszustandes von Grenoble durch de Viel-Castel, Histoire de la Restauration, t. V. Paris 1862, S. 91 - 125. 32 Während des am 1. und 6. Juni 1832 durch das Ministerium im Wege einer königlichen Ordonnanz verhängten Belagerungszustandes trat überhaupt keine Änderung ein, die Zivilbe­ hörden blieben in allen ihren Funktionen, sollten freilich immer zur Verfügung des Militärbe­ fehlshabers stehen. Die Kritik beschäftigte sich damals ausschließlich mit der Frage, wie weit die Anordnung von Militärgerichten zulässig sei.

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verzichten und daß ferner der Militärbefehlshaber ohne Eingriffe in verfassungs­ mäßige Freiheiten seine Aufgabe nicht erfüllen konnte. Die alte Frage der Suspen­ sion von Verfassungsbestimmmungen war also offenbar immer noch das punctum saliens der Angelegenheit. Es ergab sich die Lösung, den Respekt vor der Verfas­ sung durch eine genaue gesetzliche Umschreibung der Voraussetzungen und Wir­ kungen einer Suspension zu wahren. Zuweilen ging man noch weiter und verlang­ te außerdem, daß der Eintritt dieser gesetzlich festgelegten Voraussetzungen im konkreten Falle grundsätzlich durch Gesetz festgestellt, d. h. daß der Belagerungs­ zustand auch durch Gesetz erklärt werde.33 Läßt sich die bisherige Entwicklung unter die Stichworte Standrecht - Übergang der vollziehenden Gewalt bringen, so bedeutet sie eine Ausdehnung der Wirkun­ gen des Belagerungszustandes vom Gebiet der Jurisdiktion auf das der Exekuti­ ve.34 Während des gegenwärtigen Krieges hat nun die einmütige und konstante Praxis der deutschen Gerichte dem Militärbefehlshaber auch legislative Befugnisse zugesprochen. In § 9 b des preußischen Gesetzes von 1851 [5] und Art. 4 Ziffer 2 des bayerischen Kriegszustandsgesetzes von 1912, [6] die eine Blankettstrafdrohung für Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen des Militärbefehlshabers enthal­ ten, wurde die hierzu erforderliche Delegation gesetzgeberischer Macht er­ blickt. [7] Wie weit diese Auffassung berechtigt ist, wird hier nicht geprüft35; die Praxis selbst wird sich kaum ändern, und es ist mit ihr wie mit einem tatsächlich geltenden Rechtssatz zu rechnen. Daher liegt es nahe, die Entwicklung in einem Schlagwort unter der Reihenfolge Jurisdiktion - Verwaltung - Gesetzgebung zu­ sammenzufassen. Doch steht diesem Schema der entscheidende Einfluß entgegen, den das Prinzip der Trennung der Gewalten auf das Problem des Belagerungszu­ standes ausgeübt hat und solange ausüben wird, wie die Verfassungen der Staaten westeuropäischer Kultur in ihm die Grundlage ihres Staatslebens sehen. Mit dem französischen Gesetz vom 9. August 1849 hat die Entwicklung ihren Abschluß erreicht.[8] So verschieden die einzelnen von dem französischen Vorbild beinflußten Gesetzgebungen den Belagerungszustand regeln, so sind doch die Wir­ kungen im wesentlichen gleich: Übergang der vollziehenden Gewalt mit oder ohne Suspendierung von Verfassungsbestimmungen; Möglichkeit der Anordnung von Kriegsgerichten; Verschärfung der Strafandrohungen für gewisse Delikte, Blankettstrafbestimmungen für Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen des Militärbe­ fehlshabers. Alle diese Wirkungen schließen die Annahme legislativer Befugnisse aus, denn ihre gesetzliche Normierung wäre überflüssig gewesen, wenn der Mili­ tärbefehlshaber selbst Gesetze erlassen könnte. Jedes Belagerungszustandsgesetz 33 Art. 1 des französischen Gesetzes vom 3. April 1878: Une loi peut seule déclarer l’état de siège. 34 Es handelt sich hier nur um ein Schema für die juristische Konstruktion. Die bereits erwähnte Kontroverse, ob die Militärgerichte auch für Zivilpersonen angeordnet werden konnten, ist kein Einwand dagegen, sondern beweist nur, daß für die französische Auffassung der Schwerpunkt der Frage in der Wirkung auf die Verwaltung lag. 33 Vgl. die Schlußanmerkung.

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will einmal die Befugnisse des Militärbefehlshabers umgrenzen, dann aber auch bestimmen, daß innerhalb dieser Grenzen der Militärbefehlshaber freien Spielraum hat. In der Suspension von Verfassungsbestimmungen liegt demnach der Kern der Regelung; die Suspension enthält die Aufhebung der gesetzlichen Schranken, auf die es ankommt. Auch wenn nur die Möglichkeit der Suspension gegeben ist, oder wenn die zulässigen Eingriffe in verfassungsmäßige Freiheiten näher aufgeführt werden36, bleibt das Wesen des Belagerungszustandes in der Aufhebung gesetzli­ cher Schranken beruhen.37 Damit ist gesagt, daß die wesentliche Wirkung des Be­ lagerungszustandes im Gebiet der Verwaltung zu suchen ist; nur diese vollzieht sich in den Schranken des Gesetzes, nicht die Gesetzgebung. Das auf gesetzlicher Delegation beruhende Verordnungsrecht der Verwaltungs­ behörden geht mit dem Übergang der vollziehenden Gewalt ebenfalls auf den Mi­ litärbefehlshaber über, doch kommt es natürlich nicht als Einwand in Betracht; es besteht auch ohne den Belagerungszustand, dessen Wirkung nicht darin liegt, die­ ses Recht zu konstituieren, sondern seinen Übergang auf den Militärbefehlshaber zu bewirken.38 Wenn von der eben erwähnten Besonderheit der im gegenwärtigen Krieg entstandenen Praxis des § 9 b BZGB oder Art. 4 Nr. 2 bayer. KZG abgese­ hen wird, lautet also das Ergebnis: die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstan­ denen Belagerungs- oder Kriegszustandsgesetze beabsichtigen nicht eine Vereini­ gung von Legislative und Exekutive. Der Militärbefehlshaber bekommt intensive Exekutivbefugnisse, die vollziehende Gewalt konzentriert sich ganz in seiner Hand, gesetzliche Schranken fallen fort. Aber seine Tätigkeit und Kompetenz bleibt innerhalb der Exekutive. Die französische Auffassung hat die Natur des Mi­ litärs als eines bloß exekutiven Organs immer hervorgehoben; sie hat das Militär als das Exekutivorgan par excellence betrachtet, als einen staatlichen Machtkom­ plex, der so sehr in der Exekutive aufgeht, daß er ohne einen Anstoß von außen grundsätzlich überhaupt nicht in Funktion tritt.39 Aus dieser bereits von Montes36 So in dem gemäß dem französischen Gesetz vom 3. April 1878 noch geltenden Art. 9 des Gesetzes vom 9. August 1849 (die Militärbehörde kann 1. Haussuchungen zur Tag- und Nachtzeit vornehmen, 2. bestimmte Personen ausweisen, 3. die allgemeine Ablieferung von Waffen und Munition vorschreiben und diese Anordnung vollziehen, 4. alle Veröffentlichun­ gen und Versammlungen verbieten, die ihrer Auffassung nach geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu gefährden oder die bestehende Gefährdung zu fördern). 37 F Giese (Art. Belagerungszustand im Handwörterbuch des Militärrechts, herausgege­ ben von Diez, Rastatt 1912, S. 110 ff.) geht mit Recht davon aus, übernimmt aber die Identi­ fikation von Belagerungszustand und Diktatur. 38 Auch das sog. selbständige Notverordnungsrecht (darüber Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Ver­ ordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, Tübingen 1901, und dagegen wieder Arndt, Das selbständige Verordnungsrecht, Berlin 1902) gehört nicht zur Materie des Belagerungs­ zustandes und scheidet hier aus. 39 Luden Rochoux, De l’autorité militaire, sa nature, ses rapports avec l’autorité civile, Bordeaux 1896, S. 135: „L’armée n’a pas la faculté de prendre une décision par elle-même ... Son moteur est en dehors d’elle; elle n’agit que sur les ordres de pouvoir civile . . . L*armée est l’instrument qui permet à l’Etat de vaincre les résistances qu’il peut rencontrer

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quieu40 formulierten „Natur der Dinge“ wird dann das Prinzip abgeleitet, daß das Militär nur auf eine Requisition von Zivilbehörden hin tätig werden darf. Wenn nun, von Fällen der Notwehr und des Notstandes abgesehen, in Gesetzen über den Belagerungszustand bestimmt ist, daß der Militärbefehlshaber bei dringender Ge­ fahr selbst den Belagerungszustand erklären und selbständig Vorgehen darf, so be­ deutet diese Ausnahme eher die Anerkennung des Prinzips als seine Aufhebung. Der staatsrechtliche Charakter einer Behörde wird nicht dadurch aufgehoben, daß ihr in Ausnahmefällen besondere Befugnisse zugesprochen werden, so wenig wie das Prinzip staatlicher Strafverfolgung durch das in § 127 der Strafprozeßordnung vorgesehene Festnahmerecht: der Privatmann, der einen auf frischer Tat Ertappten festnimmt, wird dadurch nicht zum Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft, und seine Handlung ist kein behördlicher Akt. In gleicher Weise wird der Charakter militäri­ scher Organe als reiner Exekutivorgane durch die Befugnis, den Belagerungszu­ stand zu erklären, nicht berührt. Infolgedessen bleiben auch die Anordnungen, die sie vornehmen, Akte der vollziehenden Gewalt, mögen sie inhaltlich noch so sehr Rechtssätzen gleichen. Die Rechtslage ist hier die gleiche, wie bei den Befehlen, die der Militärbefehlshaber im Kriege gibt: sie sind keine Gesetze, auch wenn sie in das Leben, die persönliche Freiheit, das Eigentum eingreifen und vielleicht in der Form allgemeiner Anordnungen ergehen. Der Belagerungszustand soll keine Ausnahme von der Teilung der Gewalten be­ deuten, weil der Militärbefehlshaber zwar gesteigerte Exekutivbefugnisse, aber keine legislativen Vollmachten erhält. Er vollzieht nicht von ihm selbst erlassene Gesetze. Wenigstens formell ist das nicht eingetreten, was Locke als Begründung der Teilung vorgebracht hatte, daß es nämlich eine zu große Versuchung für die menschliche Schwäche ist, wenn dieselben Personen, die die Gesetze machen, auch deren Vollzug in Händen haben. Hier ist der maßgebende rechtliche Unter­ schied zwischen dem Belagerungs- (oder Kriegs-)Zustand und der Diktatur zu su­ chen: beim Belagerungszustand tritt unter Aufrechterhaltung der Trennung von Gesetzgebung und Vollzug eine Konzentration innerhalb der Exekutive ein; bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Voll­ zug der Gesetze in der Hand hat - sei es, daß die Exekutive auch die Legislative oder daß die Legislative auch die Exekutive übernimmt. Diese Unterscheidung ist wegen ihrer Wichtigkeit näher zu erörtern. Die Staats­ lehre Rousseaus hatte die gesamte Tätigkeit des Staates in Legislative und Exekuti­ ve, Erlaß und Vollzug von Gesetzen aufgeteilt. Die Dreiteilung der Gewalten, de­ ren praktisch-vernünftiger Relativismus dem rationalistischen System Rousseaus eigentlich immer unzugänglich war, verlor damit theoretisch ihren Boden.41 Die dans l’exécution des divers fonctions qui lui incombent... Eine Übersicht über die Anschau­ ungen französischer Autoren von der Militärgewalt gibt Rochoux S. 95 f. 40 Esprit des lois, liv. XI, cap. 6. 41 Contrat social III, cap. 1. Dazu die vortreffliche Kritik von Barthélemy, a.a.O, S. 6 ff.

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Jurisdiktion, der auch von Montesquieu kein rechter Platz angewiesen werden konnte, und die man im Grunde immer zur Exekutive rechnete, fiel eigentlich aus.42 Aber auch die Exekutive war nicht mehr gleichberechtigt. Weil alles auf den Gegensatz von einem befehlenden Gesetzgeber und einer gehorchenden Exekutive reduziert wird, erscheint diese als etwas Subalternes; die wahre Äußerung der Sou­ veränität liegt in der Legislative; sie ist das Gehirn, die Exekutive ist nur der Arm - Vergleiche, aus denen der Konvent praktische Schlüsse gezogen hat.43 Aber mit solchen Antithesen wird man der Bedeutung der Verwaltung offenbar nicht ge­ recht. Die Verwaltung ist mehr als der bloße Vollzug positiver Gesetzesbestim­ mungen, das Gesetz ist nur der Rahmen, innerhalb dessen die schöpferische Tätig­ keit der Verwaltung vor sich geht. Auch ist die historische Entwicklung nicht in der Weise vor sich gegangen, daß erst das Gesetz als der zu vollziehende Wille ausgesprochen und dann sein Vollzug vorgenommen worden wäre.44 Der Anfang aller staatlichen Tätigkeit ist Verwaltung; von ihr haben sich Gesetzgebung und Jurisdiktion erst später gesondert. Jede Angelegenheit wird zunächst konkret von Fall zu Fall erledigt, der einzelne Verwaltungsakt erscheint deshalb als eine Art jurisdiktioneller Vorgang45, da ja auch der Prozeß ohne Bezugnahme auf eine abstrakt formulierte Rechtsnorm entschieden wird und das Recht, das als Norm für alle Staatstätigkeit maßgebend ist, sich derartig von selbst versteht, daß der Richter es überhaupt nur für den konkreten Fall „findet“. Erst als die mehrere Fälle voraus­ sehende generelle Verwaltungsmaßnahme in immer weiterer Abstraktion zum Ge­ setz geworden war, konnte ein eigener Organismus als „Legislative“ auftreten. Der Urzustand, wenn es erlaubt ist, dies Wort zu gebrauchen, bleibt die Verwaltung; sie darf infolgedessen auch mit der heute in der deutschen Rechtslehre herrschenden Definition negativ bestimmt werden, als die staatliche Tätigkeit, die weder Gesetz­ gebung noch Rechtspflege ist; für sie erscheint das Gesetz als Schranke; sie spielt sich „im Rahmen“ der Gesetze ab - der freilich kein geschlossener Rahmen ist. Was schon für die richterliche Entscheidung gilt, daß nicht jeder Fall im Gesetz vorgesehen sein kann, gilt in noch viel weiterem Umfange für die Verwaltung, der nicht jeder zu erreichende Zweck durch ein Gesetz vorgeschrieben und formuliert werden kann. Für die Theorie der französischen Revolution freilich war der Ver­ waltungsbeamte nicht anders wie die Richter eine automatische Funktion des Ge­ setzes, seine Tätigkeit bestand darin, in Syllogismen unter das Gesetz zu subsummieren.46 Die Terminologie dieser mechanischen Gegenüberstellung von Gesetz 42 Duguit, La séparation des pouvoirs, Paris 1893, S. 10 ff., Λ. Saint-Girons, La séparation des pouvoirs, Paris 1881, S. 135 ff.; F v. Meier, a.a.O, S. 66, 67. Gegen diese Deutung der Lehre Montesquieus R. Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, Leipzig 1912, S. 287, 288. 43 Barthélemy, a. a. O., S. 484 f.; Saint-Girons, a.a.O, S. 139. 44 Das hat Rousseau auch gewußt; er hat weder die hier in Frage stehende noch seine an­ dern zahlreichen Konstruktionen als Geschichte aufgefaßt. Merkwürdigerweise ist eine ganze Literatur umständlicher Belehrungen darüber entstanden, daß man Rousseau in dieser Hin­ sicht nicht Unrecht tun dürfe. 4!S v. Meier, a. a. O., Bd. I, S. 64. 2 S liiiil, ( i i o M m m u , N o m o s

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und Vollzug ist dann in die europäischen Verfassungen gedrungen und wirkt in ihrer Anwendung auf ganz heterogene Verhältnisse verwirrend. Das ist besonders beim Belagerungszustand der Fall. Denn was bedeutet der im preußischen Gesetz von 1851 angeordnete „Übergang der vollziehenden Gewalt“? Den Übergang der Befugnisse der Verwaltungsbehör­ den.4647 Die nächste Frage muß sein, was der Militärbefehlshaber verwalten soll, wie auch, wenn von vollziehender Gewalt gesprochen wird, die nächste Frage die ist, was denn vollzogen werden soll. Nach der plausiblen Anschauung können nur Gesetze vollzogen werden, d. h. es kann nur eine solche Tätigkeit entfaltet werden, die auf die Erreichung gesetzlich umschriebener Zwecke gerichtet ist. Das ist of­ fenbar zu eng. Aber die Frage bleibt bestehen. Wenn eine Konzentration der Ver­ waltung oder der Exekutive vorgenommen wird, so kommt es ausschließlich auf die Erreichung eines Zweckes an. Der Zweck ist aber beim Belagerungszustand rein faktisch bestimmt: ein Aufruhr soll niedergeschlagen, ein bestimmter militäri­ scher Erfolg soll gesichert werden. Die Mittel zur Erreichung des Zweckes sind natürlich ebenso tatsächlich und die rechtliche Regelung des Belagerungszustan­ des bedeutet nur, daß dem Militärbefehlshaber bestimmte rechtliche Möglichkei­ ten gegeben werden, das heißt nicht, daß er ein subjektives Recht erhält, sondern: rechtliche Schranken, die sonst die Erreichung des Zweckes hindern könnten, fal­ len weg. Hier zeigt sich wieder, daß nicht in der Anordnung von Militärgerichten und in verschärften Strafdrohungen, sondern in der nur negativ wirkenden Suspen­ sion von Verfassungsbestimmungen das Wesen der Institution liegt. Es werden ja nicht Gesetze aufgehoben - die an die Stelle der Art. 5 und 6 der preußischen Ver­ fassung getretenen Bestimmungen der Reichsstrafprozeßordnung z. B. bleiben in Geltung, aber der Militärbefehlshaber darf sich im konkreten Fall über sie hinweg­ setzen, sie bedeuten keine Schranke mehr für seine Tätigkeit.48 Die rechtliche Be­ handlung des rein tatsächlichen Zustandes einer konkreten Gefahr erfolgt also in der Weise, daß vom Recht ein rechtsfreier Raum abgesteckt wird, innerhalb dessen der Militärbefehlshaber jedes ihm geeignet erscheinende Mittel anwenden darf. 46 Condorcet hat die Lehre von Syllogismus ausdrücklich auf die Verwaltung anwenden wollen; darüber Barthélemy, a. a. O., S. 489, Anm. 3. In der Rechtspraxis hat diese Auffas­ sung eine viel größere Rolle gespielt und ist lange als offizielle Methode gelehrt worden. Der bekannte Ausspruch Montesquieus, daß der Richter nichts sei als la bouche qui prononce les paroles de la loi, wurde dabei mit Vorliebe zitiert, obwohl niemand so sehr wie Montesquieu davor gewarnt hat, „de choquer la nature des choses“. Vgl. dazu meine Abhandlung, Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S. 22 f., und ihre Besprechung von W. Jellinek, Arch, des öffentli­ chen Rechts, Bd. XXXII, S. 296 ff., der mit Recht auf den Zusammenhang mit dem Problem der Verwaltung hinweist. 47 J. Lukas, Justizverwaltung und Belagerungszustand, in der Festgabe für Otto Mayer, Tübingen 1916, S. 225 ff. 48 Die Suspension verfassungsmäßiger Schranken ergibt sich auch da mit Notwendigkeit, wo eine gesetzliche Regelung des Belagerungszustandes nicht besteht (wie in Italien) und alles den Verordnungen der Regierungs- oder Militärbehörden überlassen ist. Vgl. darüber Hans Gmelin, Über den Umfang des königlichen Verordnungsrechts und das Recht zur Ver­ hängung des Belagerungszustandes in Italien, Karlsruhe 1907, S. 145 f.

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Der Raum wird zunächst durch die positive Regelung begrenzt, also z. B. dadurch, daß zwar die Aufhebung des Art. 7 der Preußischen Verfassung vorgesehen ist, der Umfang der Aufhebung aber durch die Regelung der Anordnung von Militärge­ richten genau umschrieben ist. Im übrigen ist der Raum nur durch den bloß tat­ sächlichen Zweck, also begrifflich überhaupt nicht abgegrenzt.49 Innerhalb des Raumes tritt sozusagen eine Rückkehr zum Urzustand ein, der Militärbefehlshaber betätigt sich darin wie der verwaltende Staat vor der Trennung der Gewalten: er trifft konkrete Maßnahmen als Mittel zu einem konkreten Zweck, ohne durch ge­ setzliche Schranken behindert zu sein. Hier liegt die Schwierigkeit für die rechtliche Betrachtung: der Militärbefehls­ haber vollzieht nicht ein Gesetz, soll aber doch Exekutivorgan bleiben und nicht etwa legislative Zuständigkeit erhalten. Die Schwierigkeit löst sich dadurch, daß Verwaltung etwas anderes ist als Vollzug bestimmter Gesetze und daß das Gesetz mit Rücksicht auf die Erreichung eines bestimmten Zweckes zurücktritt, um dem Militär die Wahl der Mittel zu überlassen. Soweit ihm in der Wahl der Mittel Frei­ heit gegeben ist, nimmt der Militärbefehlshaber eine rein tatsächliche Verwal­ tungstätigkeit vor, die von dem Gegensatz: Gesetzgebung - Vollzug überhaupt nicht berührt wird. Insoweit besteht die Teilung der Gewalten nicht mehr; inner­ halb des dem Militärbefehlshaber überlassenen Spielraums ist die Rechtslage so, als hätte es eine Teilung nie gegeben. Bei der Diktatur aber bleibt die Teilung be­ stehen, die beiden Funktionen Gesetzgebung und Verwaltung50 werden jedoch von derselben Zentralstelle ausgeübt; hier tritt kein rechtsfreier Raum ein, weil alles durch gesetzliche Anordnungen sofort ausgefüllt werden kann. Wenn hegeliani­ sche Formulierungen noch erlaubt sind, so wäre der Unterschied so zu fassen: die frühere ununterschiedene Einheitlichkeit staatlichen Funktionierens war die Posi­ tion; die Teilung der Gewalten ist deren Negation; der Belagerungszustand bedeu­ tet (für einen gewissen Raum) eine Rückkehr zur Position, während die Diktatur die Negation der Negation ist, d. h. die Teilung der Gewalten zwar aufhebt, aber doch übernimmt und voraussetzt. Der Unterschied ist trotz dieser formalistischen Antithesen so unmittelbar prak­ tisch, daß man ihn als elementar bezeichnen darf. Der Belagerungszustand ist heute entweder das Mittel, eine Unruhe im Innern niederzuhalten, also eine sicher­ heitspolizeiliche Maßnahme, oder er soll einen militärischen Zweck, wie die Si­ cherung des glatten Verlaufs der Mobilmachung, erreichen. In beiden Fällen liegt eine Konzentration nach Innen vor. Die Konzentration dagegen, die erforderlich ist, um die von Außen drohende Gefahr für die Existenz des Staates abzuwehren, muß selbstverständlich eine andere sein, als jene sicherheitspolizeiliche oder mili49 Daß eine bloße Zweckangabe keine Begrenzung enthält, hat Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, dargelegt [S. 84 fj. Preuß in Schmollers Jahrb. f. Gesetzge­ bung und Verwaltung, 1900, S. 369: jede Hineinziehung des Zweckmomentes „löst den Be­ griff in flüssiges Wachs auf ,ü Äußerstenfalls auch die Rechtsprechung, falls dann überhaupt noch von Rechtspre­ chung die Rede sein kann.

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tärische. Denn sie tritt erst ein, wenn die gesetzlich vorgesehenen Mittel, zu denen auch der Belagerungszustand gehört, nicht mehr ausreichen, sie betrifft nicht eine konkrete im Innern zu erledigende Sachlage, sondern die rechtlichen wie tatsäch­ lichen gesamten Beziehungen des Staates, also vor allem auch den völkerrechtli­ chen Verkehr mit andern Staaten; sie ist daher von der Leitung der auswärtigen Politik nicht zu trennen. Daher tritt sie mit Sicherheit jedesmal ein, sobald die in­ ternationale Lage eines Landes kritisch wird, wie die Lage Frankreichs während der Invasionen von 1793. Der Vorgang hat sich noch auffälliger 1871 wiederholt, als die Nationalversammlung, die legislative Körperschaft, die Exekutive über­ nahm und eines ihrer Mitglieder, der doch sicher nicht als Gewaltmensch auftre­ tende Thiers, Diktator wurde - eine für die Vorstellungen des französischen Staats­ rechts unerhörte Verletzung des Grundsatzes von der Trennung der Gewalten. Sie war aber notwendig, weil der auswärtige Gegner sich gegenüber den unklaren und widersprechenden Strömungen im Innern auf den Standpunkt stellte, nur mit einer Stelle zu verhandeln, von der er sicher war, daß sie die Macht wirklich in der Hand hatte; Deutschland hätte sich, wie Barthélemy51 richtig sagt, „wohl niemals darauf eingelassen, mit einer in sich zerspaltenen Versammlung zu verhandeln“. Die Ver­ einigung von Legislative und Exekutive in einer Hand ist nur die staatsrechtliche Umschreibung dieser Konzentration, die den ganzen Staat in allen seinen militäri­ schen, politischen und wirtschaftlichen Elementen ergreift und je nach dem äuße­ ren Verlauf des Krieges in ihrem Umfang und ihrer Intensität verschieden gestaltet sein kann. Sie kann sich, wie die Diktatur von Thiers, des Belagerungszustandes als eines ihrer Mittel bedienen, ihn aber auch prinzipiell ablehnen, wie die Diktatur des Jahres 1793. Sie muß jedenfalls in der Lage sein, Gesetze, nicht bloß tatsäch­ liche Maßnahmen, mit Rücksicht auf die täglich sich ändernde Lage zu erlassen und sofort zu vollziehen und jeden Widerstand im Innern, jede Gefährdung der absoluten Einheitlichkeit sofort zu beseitigen. Dabei ist es, wenn auch nicht poli­ tisch, so doch für den rechtlichen Begriff gleichgültig, ob die Exekutive die Legis­ lative oder die Legislative die Exekutive übernimmt.52 51 Le Pouvoir exécutif, Paris 1907, S. 482, 610. Über die Diktatur Thiers’ vgl. die dort zitierte Literatur: J. Simon, Le gouvernement de M. Thiers, t. II, p. 240; Sorel, Histoire diplo­ matique de la Guerre franco-allemande, t. II, p. 335. 52 Um diese ausschließlich juristischer Erkenntnis dienende Untersuchung nicht in die Mißverständnisse einer politischen Diskussion zu ziehen, ist jede Erörterung der während des gegenwärtigen Krieges eingetretenen Ausnahmezustände, Notgesetze, Ermächtigungen usw. unterblieben. Es darf nur noch erwähnt werden, daß die heutige Praxis der Gerichte, jedem einzelnen Militärbefehlshaber legislative Befugnisse zuzusprechen, das Gegenteil einer Kon­ zentration herbeiführt, namentlich, wenn die Anordnungen jedes Militärbefehlshabers selbst mit den von einer Zentralinstanz wie dem Bundesrat erlassenen gesetzlichen Anordnungen völlig gleichstehen, ihr also gegebenenfalls sogar Vorgehen sollen. (RG. Entsch. vom 8. 6. 15, mitgeteilt im Preuß. Verw. Blatt, Bd. 37, S. 133, und Bayer. Oberstes Landesgericht, Entsch. vom 20. 10. 15, mitgeteilt in der Leipz. Zeitschr. 1915, Sp. 1533. Aber wenn auch dieser letzte Schluß in seiner mechanischen Gleichstellung von „Gesetz“ und „Gesetz“ unrichtig ist, so sind doch die scharfsinnigen Argumentationen von Rosenberg (Z. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, Bd. 37, S. 808 f.) nicht geeignet, die gegenwärtige

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Anmerkungen des Herausgebers [1] „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a pas de constitution.“ (Nach Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1979, S. 35.) In der französischen Verfassung v. 4. 11. 1848 lautete der Art. 19: „La séparation des pouvoirs est la première condition d’un gouvernement libre.“ (Godechot, ebd., S. 266.) Vgl. a.: Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 39, 127 u. vorl. Bd., S. 169, 181 [5]. [2] Vgl. P. Romain, L’État de siège politique, Albi 1918, thèse, S. 124 ff. o. C. Schmitt, Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 197 ff. [3] Texte in: H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 1967, S. 258 - 262. [4] Text bei Boldt, a. a. O., S. 271 - 274. [5] Der Art. 9 b lautete: „Wer in einem in Belagerungszustand erklärten Orte oder Di­ strikte ein bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während desselben vom Militärbe­ fehlshaber im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot Übertritt, oder zu sol­ cher Übertretung auffordert oder anreizt, soll, wenn die bestehenden Gesetze keine höhere Freiheitsstrafe bestimmen, mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft werden.“ (Boldt, a. a. O., S. 259 f.) - Spez. zum Art. 9 b vgl.: E. Conrad, Zu § 9 b des Gesetzes über den Belagerungs­ zustand, DJZ, 1916, Sp. 427 ff. u. C. Schmitt, Die Erklärung des Belagerungszustandes und die Form der Anordnungen aus § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand, PrVerwBl, 11.9. 1915, S. 807 f. (anonym). [61 Der Art. 4, Ziff. 2 lautete: „Wer in einem in Kriegszustand erklärten Orte oder Bezirke eine bei der Verhängung des Kriegszustandes oder während desselben von dem zuständigen obersten Militärbefehlshaber zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit erlassene Vorschrift Übertritt oder zur Übertretung auffordert oder anreizt, wird, wenn nicht die Gesetze eine schwerere Strafe androhen, mit Gefängnis bis zu 1 Jahr bestraft.“ (Nach Boldt, a. a. O., S. 272.) [7] Vgl. dazu: H. Tingstén, Les pleins pouvoirs. L’expansion des pouvoirs gouvernemen­ taux pendant et après la grande guerre; traduit du Suédois, Paris 1934 u. C. Schmitt, Verglei­ chender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Er­ mächtigung (Legislative Delegationen), in: ZaöRV, 1936, S. 252 ff.; Ndr. in: ders., Positio­ nen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1923 - 1939, Hamburg 1940, S. 214 ff. Vgl. auch die Gesamtdarstellung des Problems bei: E. R. Huber, Deutsche Verfas­ sungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 62 ff. (§ 5. Das Kriegsermächtigungsgesetz.) [8] Text bei Boldt, a. a. O., S. 254 ff.

Praxis zu widerlegen, denn ihre historisch-philologische Methode wird dem praktischen Be­ dürfnis, das die Gerichte geleitet hat, nicht gerecht und setzt ein falsches Kriterium der juri­ stischen Richtigkeit einer Entscheidung voraus (S. 94 ff. meiner Abhandlung Gesetz und Ur­ teil, Berlin 1912). Jedenfalls aber wird die Praxis des Reichsgerichts in ihrer juristischen Be­ gründung doch von dem Einwand getroffen, daß sie, ohne Berücksichtigung der Zusammen­ hänge mit den staatsrechtlichen Grundsätzen der Teilung der Gewalten, nur an den nächsten praktischen Zwecken orientiert ist.

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Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in d. Zeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, 38. Jg., 1916, S. 138 - 162 (nicht, wie sehr häufig in d. Schmitt-Literatur angegeben, 1917). Im engen Zu­ sammenhang mit ihm stehen Schmitts Artikel „Die Erklärung des Belagerungszustandes und die Form der Anordnungen aus § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand“, Preußi­ sches Verwaltungs-Blatt, Jg. XXXVI, Nr. 50, 11. 9. 1915, S. 807 - 808, u. „Das Gesetz über den Belagerungszustand in der Rechtsprechung“, ebd., Jg. XXXVII, Nr. 20, 12. 2. 1916, S. 310 - 312 (Zwölfte Folge). Obgleich beide Artikel anonym erschienen, steht hier Schmitts Autorschaft fest. Inwieweit Schmitt an den zahlreichen Folgen zum „Gesetz über den Bela­ gerungszustand in der Rechtsprechung“, die bes. 1916 und 1917 im Preußischen Verwal­ tungs-Blatt erschienen, mitarbeitete, konnte bisher nicht geklärt werden. Unter einem ande­ ren Blickwinkel behandelte Schmitt das Thema in s. Probevorlesung vor der Juristischen Fa­ kultät in Straßburg v. 16. 2. 1916, „Die Einwirkungen des Kriegszustandes auf das ordentli­ che strafprozessuale Verfahren“, Zeitschrift f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, 38. Bd., 1916, S. 783 - 797. - Als die beiden klassischen deutschen Werke zur hier erörterten Problematik dürfen gel­ ten: K. Strupp, Deutsches Kriegszustandsrecht, 1916, u. H. Pürschel, Das Gesetz über den Belagerungszustand, 1916. Materialien finden sich bei: W. Deist, Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 - 1918, 2 Bde., 1970; auch b. Huber, Dokumente z. dt. Verfassungsge­ schichte, III, 3. Aufl., 1990, S. 138 ff. Einen Überblick gibt: E. R. Huber, Deutsche Verfas­ sungsgeschichte seit 1789, V, 1978, S. 39 - 73 (mit Literaturhinweisen). Vgl. u. a. auch: Th. Reinach, De l’État de siège, Paris 1885; F. Mandry, Der Ausnahmezustand in Frankreich, in: Das Recht des Ausnahmezustandes im Auslande, 1928, S. 9 - 47; J. Raïciu, Légalité et néces­ sité, Paris 1933; H. Ballreich, Der Staatsnotstand in Frankreich, in: Beiträge zum ausländi­ schen öffentlichen Recht und Völkerrecht, H. 31, 1955, S. 29-57; G. Ziebura, Der Staatsnot­ stand in Frankreich, in: E. Fraenkel (Hrsg.), Der Staatsnotstand, 1965, S. 165 - 189, S. 291 294. H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 1967, untersucht detailliert die deutsche und französische Entwicklung; zum Strukturwandel des Ausnahmezustandes während des I. Weltkrieges vgl. ebd., S. 195 - 209. Schmitt behandelt einige der hier erörterten Punkte auch in: Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 171 - 205. Vgl. a.: M. Messerschmidt, Die politische Ge­ schichte der preußisch-deutschen Armee, in: Militärgeschichtl. Forschungsamt (Hrsg.), Deut­ sche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648 - 1939, Sonderausgb. 1983, 2. Bd., Abschnitt IV, 1. Teil, S. 9 - 380, hier S. 337 - 346, „Der Einsatz von Militär im Innern“. Schmitt, der am 16. 2. 1915 in München seinen Wehrdienst als Freiwilliger antrat, war am 1. 3. 1916 zum Unteroffizier ernannt worden. Er habilitierte am 16. 2. 1916 in Straßburg u. erhielt am 1. 3. 1917 die Stelle eines Assessors beim Stellvertretenden Generalkommando des I. Armeekorps in München. Dort leitete er i. d. Maxburg, beim Bayerischen Kriegsmini­ sterium, das Subreferat P 6 (vgl. u. Anhang zu „Konstruktive Verfassungsprobleme“, vorl. Bd., S. 70). Schmitt, der am 1. 4. 1919 aus dem Heeresdienst entlassen wurde, muß also öfters die Erlaubnis erhalten haben, in Straßburg seinen Pflichten als Privatdozent nachzu­ kommen. Im Vorlesungsverzeichnis der Universität für das Sommersemester 1916 wird Schmitt als Privatdozent für Strafprozeßrecht aufgeführt, allerdings mit dem Vermerk „zum Kriegsdien­ ste eingezogen“ (so P. Tommissen, Schmittiana II, Brüssel 1990, S. 149 f.); im Sommerseme­ ster 1918 als zuständig für Strafrecht, mit Vorlesungen „im Prinzip: Montag bis Freitag von

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5 - 6 Uhr“ (freundl. Mitteilung von Herrn Prof. Tommissen). Zu Schmitts Biographie wäh­ rend dieser Zeit vgl.: P. Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Peri­ ode 1888 - 1933), in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 71 - 101, hier: S. 76 f.

Reichspräsident und Weimarer Verfassung

Wenn die Weimarer Verfassung bestimmt, daß der Reichspräsident vom ganzen deutschen Volk gewählt werden soll, so liegt darin eine gewisse Korrektur des Ver­ hältniswahl- und des Parteilistensystems. Das ganze deutsche Volk soll sich hier auf eine einzige Persönlichkeit, einen Mann seines Vertrauens einigen und nicht für eine Liste oder ein Partei- und Interessenprogramm stimmen.[l] Wahrschein­ lich aber wird es bei der Wahl des kommenden Reichspräsidenten nicht anders sein wie bei einer Reichstags wähl. Nun lassen sich allerdings parteimäßige Bedin­ gungen bei keiner Wahl vermeiden. Bei der jetzigen Präsidentenwahl müßte sich aber jeder Wähler wenigstens bewußt sein, daß er für sieben Jahre einen Mann be­ zeichnet, dessen rechtliche und politische Macht nach der Weimarer Verfassung ungewöhnlich groß ist und der in Zeiten der Krise und des Ausnahmezustandes entweder selbst zum Diktator werden oder einem Diktator den Weg ebnen oder ihm auch den Weg verstellen kann.[2] Es ist zu befürchten, daß in der Stimmung der Wahlvorbereitung und des parteipolitischen Wahlkampfes der Reichspräsident zu einer symbolischen Figur wird, um welche Parteien und Wähler kämpfen wie um eine Flagge, ohne sich um die sachlichen Konsequenzen zu kümmern. Die rein parteitaktische Einstellung hat sich mit größter Offenheit in einem klassischen Do­ kument geäußert, als der Vorwärts vor mehreren Tagen schrieb, „der berechtigte Stolz der Parteigenossen hätte sich dagegen aufgebäumt“, einen anderen als einen sozialdemokratischen Kandidaten anzunehmen. Eine solche Partei-Prestige-Politik ist hier um so gefährlicher als die Weimarer Verfassung noch keineswegs abgeschlossen ist, vielmehr durch den kommenden Reichspräsidenten zum wichtigsten Teil einen neuen Inhalt bekommen kann, selbst wenn sie in aller Form und Legalität weiter bestehen bleibt. Der Reichspräsident hat nach der gegenwärtigen Verfassung eine Stellung, die je nach seiner Persön­ lichkeit alles und nichts bedeutet und sich mit jedem neuen Präzedenzfall wesent­ lich ändert. *

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Die Konstruktion dieser Stellung in dem System der Verfassung ist außerordent­ lich kunstvoll, um nicht zu sagen künstlich. Deshalb sind die ungeheuren rechtli­ chen und politischen Möglichkeiten des Reichspräsidenten aus dem Wortlaut der Weimarer Verfassung nicht ohne weiteres zu erkennen. Auf der einen Seite ist der Reichspräsident mit einer großen Machtfülle ausgestattet, die ihm gegenüber dem Reichstag und der vom Vertrauen des Reichstages getragenen oder wenigstens ge­ billigten Reichsregierung eine selbständige Bedeutung gibt, so daß er ein Gegen-

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gewicht bieten kann gegen Reichstag, Parlamentarismus und Parteipolitik. Er hat nicht nur weitgehende Zuständigkeiten erhalten (völkerrechtliche Vertretung des Reiches nach außen, Oberbefehl über die Reichswehr, Ernennung der Offiziere und Reichsbeamten, Begnadigungsrecht in Reichssachen, Reichsexekutive, eine Art Diktatur nach Artikel 48, Verkündung der Reichsgesetze usw.), sondern auch Befugnisse, die ihm eine funktionelle Selbständigkeit gegenüber dem Reichstag verleihen sollen, insbesondere das Recht der Auflösung des Reichstags und das Recht, einen Volksentscheid herbeizuführen. Danach scheint er mächtiger zu sein als mancher Kaiser oder Diktator. Auf der andern Seite aber ist er in allen seinen Anordnungen und Verfügungen, auch bei der Auflösung des Reichstages und bei der Herbeiführung eines Volksentscheids, an die Gegenzeichnung des Reichskanz­ lers oder des zuständigen Ressortministers gebunden und dadurch wieder von der Reichsregierung abhängig, so daß man mehr den Eindruck hat, die Urheber der Weimarer Verfassung seien vor den Konsequenzen ihres eigenen Planes, einen mächtigen Präsidenten zu schaffen, erschrocken und hätten mit der einen Hand wieder genommen, was sie mit der anderen so freigebig gewährt hatten.[3] Doch die Abhängigkeit von der Gegenzeichnung macht den Reichpräsidenten nicht not­ wendig zur bloßen Unterschriftenmaschine. Es ist möglich, daß die Gegenzeich­ nung seine Stellung noch verstärkt, sobald er nämlich mit der Reichsregierung ei­ nig ist. Trotzdem bleibt eine merkwürdige Verquickung von Überlegenheit und Abhängigkeit, und jedesmal von neuem entsteht bei jedem Reichspräsidenten und bei jeder Reichsregierung das schwierige Problem ihres Zusammenarbeitens.[4] Stimmen beide überein - sei es auf Grund gleicher politischer Überzeugung, sei es weil die Parteizerrissenheit des Reichstags diesem die Aktionsfähigkeit nimmt und die Reichsregierung gezwungen ist, um überhaupt die Regierungsarbeit zu leisten, mit dem Reichspräsidenten zusammenzuarbeiten -, so entsteht eine politische Machtkonzentration, wie sie in einer konstitutionellen Monarchie kaum möglich ist, eine verfassungsmäßige Diktatur.[5] Man kann sagen, daß keine Verfassung der Erde einen Staatsstreich so leicht legalisiert, wie die Weimarer Verfassung. Wenn umgekehrt Reichspräsident.und.TLekiisregiemng. DkMjübereinstiinmen^-SQ liegt ein Konflikt allzu nahe und muß zu einem rechtlichen und politischen Chaos führen. Denn der Reichspräsident brauchte sich nur zu weigern, die Unterschriften zu geben, die ihm die Reichsregierung in den vielen wichtigen Angelegenheiten seiner Zuständigkeit vorlegen muß, und die Staatsmaschine geriete ins Stocken. Zwar hat die Verfassung hier ein kleines Ventil vorgesehen, indem der Reichstag eine Volksabstimmung beantragen kann, durch welche der Reichspräsident abge­ setzt werden soll.[6] Aber dieser Beschluß des Reichstags bedarf einer Zweidrittel­ mehrheit, die bei der heutigen Parteizersplitterung nicht leicht zustandekommt. Ein offener Konflikt zwischen Reichspräsident und Reichsregierung wäre für Deutschland eine Katastrophe. Nach demokratischen Prinzipien müßte man sagen, daß ein vom ganzen Volk gewählter Präsident mehr Autorität haben wird als ein von dem gleichen Volk ge­ wähltes Parlament. Bei dem vom Volk gewählten Präsidenten vereinigt sich das

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Erster Teil: Verfassung und Diktatur

Vertrauen des Volkes auf eine einzige Person, während es sich beim Parlament auf mehrere hundert Abgeordnete verteilt und infolge des Verhältniswahl- und Listen­ systems überhaupt bei den meisten Abgeordneten von einem persönlichen Vertrau­ ensverhältnis kaum noch gesprochen werden kann. Käme es wirklich dazu, daß das deutsche Volk sich mit überwältigender Mehrheit auf einen Mann einigen und ihn über alle Parteiabmachungen und Parteikandidaturen hinweg spontan zu sei­ nem Führer wählte, so wäre seine Macht gerade in einer Demokratie unwidersteh­ lich. Die Urheber der Weimarer Verfassung haben sich eines berühmten Präzedenz­ falles wohl erinnert, des Staatsstreiches von 1851, der Napoleon III., den vom fran­ zösischen Volk gewählten Präsidenten der Republik, auf den Kaiserthron führte. In der zweiten Beratung der Nationalversammlung hatte man beschlossen, Mitglieder ehemals regierender landesherrlicher Familien von der Präsidentschaft auszu­ schließen. Dieses ausdrückliche Verbot wurde in der dritten Beratung wieder besei­ tigt und steht nicht mehr in der Weimarer Verfassung.[7] Die allgemeine politische Besorgnis, die einem solchen Verbot zugrunde lag, betrifft nicht so sehr die Kandi­ datur von Prinzen und Kronprätendenten, als das allgemeine Dilemma, in welchem die Demokratie des europäischen Kontinents sich heute befindet und vor dem sie die Augen nicht verschließen dürfte. Das ist die in verschiedensten Formen und Situationen auftauchende Frage: Was wird aus einer Demokratie, wenn keine si­ cheren demokratischen Mehrheiten vorhanden sind? Was wird aus dem Parlament, wenn antiparlamentarische Parteien die Tätigkeit des Parlaments lähmen können und Mißtrauensbeschlüsse maßgebend beeinflussen? Was wird aus einer demokra­ tischen Verfassung, wenn die verfassungsmäßigen Befugnisse, die unter der Vor­ aussetzung demokratisch gesinnter Mehrheiten verliehen sind, in nichtdemokrati­ sche oder gar antidemokratische Hände gelangen? Bei keiner Staatsform ist zwi­ schen verfassungsmäßiger Form und politischer Wirklichkeit eine solche Diskre­ panz möglich wie bei einer rein demokratischen Verfassung. *

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Die Weimarer Verfassung setzt voraus, daß ein Konflikt zwischen Reichspräsi­ dent und Reichstag nicht entsteht, und doch macht ihre Konstruktion einen solchen Konflikt allzu leicht möglich. Es ist dem verstorbenen Reichspräsidenten Ebert ge­ lungen, den Konflikt zu vermeiden, um dadurch der Stellung des Reichspräsiden­ ten einen konkreten Inhalt zu geben, den sie nach dem Text der Verfassung nicht ohne weiteres zu haben braucht. So ist vorläufig ein besonderer, neuer Typus eines republikanischen Staatspräsidenten entstanden, der sowohl vom französischen wie vom amerikanischen Präsidenten verschieden ist: der Reichspräsident als Träger einer Art neutraler Gewalt zwischen den zahlreichen Organen und Faktoren, wel­ che die Weimarer Verfassung kennt: Reichsregierung, Reichstag, Reichsrat, Lan­ desregierungen. In der Staatslehre des 19. Jahrhunderts taucht gelegentlich ein we­ nig beachteter und wenig verstandener Begriff auf, als dessen Urheber Benjamin Constant bezeichnet wird, der Begriff eines pouvoir neutre, d. h. einer zwischen den verschiedenen Gesetzgebungs- und Regierungsgewalten vermittelnden, selb-

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ständigen Gewalt, die, ohne die Führung an sich zu reißen, die Gegensätze aus­ gleicht und auf diese Weise der komplizierten Maschine eines modernen Staates ein reibungsloses Funktionieren ermöglicht. [8] Die Praxis Eberts bietet hierfür sehr viele Beispiele, die sich der Natur der Sache nach wenig auffällig geäußert haben, die aber darum nicht weniger bedeutungsvoll sind. Es genügt, daran zu er­ innern, wie der Reichspräsident im Sommer 1922 während des Konfliktes zwi­ schen dem Deutschen Reich und Bayern nicht etwa seine verfassungsmäßigen Be­ fugnisse ins Feld geführt hat, sondern in einer wahrhaft neutralen Weise einen Aus­ gleich vermittelte, um den Konflikt beizulegen, statt ihn autoritär zu entschei­ den.^] Aber man darf nicht vergessen, daß diese konkrete Gestalt des Reichspräsiden­ ten keineswegs notwendig aus dem Text der Weimarer Verfassung entstanden ist. Es ist nicht selbstverständlich, daß es immer so weitergeht, wie es die letzten sechs Jahre gegangen ist. Mit einem neuen Präsidenten kann die Weimarer Verfassung ein völlig neues Gesicht erhalten, ohne daß auch nur ein Wort ihres Textes geän­ dert zu werden braucht. Dem neuen Präsidenten kommen staatsrechtlich eine Rei­ he von Präzedenzfällen zugute, die Ebert geschaffen hat, und die sich hauptsäch­ lich auf die Praxis des Ausnahmezustandes und des Art. 48 beziehen. Der neue Präsident kann sich auf diese Präzedenzfälle berufen und die politische Macht, die er dadurch erhält, einem ganz anderen politischen System zur Verfügung stellen als jener Politik der „neutralen Gewalt“, die Ebert mit großer Klugheit befolgte. Es ist gewiß notwendig, bei der Wahl des neuen Reichspräsidenten auf seine Persön­ lichkeit zu achten. Aber man darf diese Persönlichkeit nicht isolieren, sondern muß sie im Rahmen der politischen Situation und des höchst eigenartigen, vieldeu­ tigen Systems der Weimarer Verfassung sehen. Es kommt also nicht darauf an, von irgendwoher eine geniale Persönlichkeit zu holen, sondern wenn man die bisherige Reichspräsidentenpolitik, die gerade wegen ihrer unauffälligen Art von Neutralität den meisten wenig bewußt geworden ist, für gut hält, so müßte vor allem ein klu­ ger Mann Reichspräsident werden. Bei einer Wahl des Präsidenten der französi­ schen Republik hat Clemenceau einmal mit der ihm eigenen zynischen Offenheit erklärt, er wähle immer nur den Dümmsten.[10] Die deutschen Wähler müssen sich darüber klar sein, daß sie gut daran tun, den Klügsten zu wählen.

Anmerkungen des Herausgebers1

[1] Der Art. 41, Abs. 1 der WRV v. 11. 8. 1919 lautete: „Der Reichspräsident wird vom ganzen deutschen Volk gewählt.“ Dieser Passus verdankte sich vor allem Max Weber, der an den von Hiigo Preuß geführten Beratungen zur Verfassung (9. - 12. 12. 1918) teilnahm. Preuß neigte eher dazu, die Wahl des Präsidenten wie in Frankreich dem Parlament zu überlassen. Vgl. W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 57 u. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1080 ff. - Friedrich Ebert wurde noch vor Verkündung der Verfassung, am 11.2. 1919, durch die Nationalversammlung gewählt. Weber

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bekräftigte seine Forderung nach Volkswahl des Präsidenten am 25. 2. 1919 mit einem Arti­ kel in der Berliner Börsenzeitung, „Der Reichspräsident“ (Ndr. in: Gesammelte politische Schriften, 3. Aufl. 1958, S. 498 ff.). Eberts Stellung war zunächst interimistisch und beruhte auf dem ursprünglichen Text des Art. 180, Abs. 2 der WRV: „Bis zum Amtsantritt des ersten Reichspräsidenten wird sein Amt von dem auf Grund des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt gewählten Reichspräsidenten geführt.“ Deshalb wurde Eberts Legitimation des öfteren bezweifelt, und mit einigem Recht folgerte man aus dem zit. Absatz, „daß der von der Nationalversammlung gewählte Präsident nicht als ordentlicher Präsident anzusehen ist, sondern als vorläufiger oder einstweiliger.“ (A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, S. 125.) Die nachzuholende Volkswahl des Prä­ sidenten wurde, auch aus parteipolitischen Gründen, sowohl von der Nationalversammlung als auch vom Reichstag ständig hinausgeschoben, obgleich Ebert öfters energisch auf eine solche Wahl drängte. (Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 311 ff.) Durch ein verfassungsändemdes Gesetz v. 27. 10. 1922 (RGBl. I, 801) wurde Eberts Amtszeit bis zum 30. 6. 1925 festgelegt und der Art. 180, Abs. 2 lautete fortan: „Der von der Nationalversammlung gewählte Reichspräsident führt sein Amt bis zum 30. Juni 1925.“ Ebert starb jedoch bereits am 28. 2. 1925. Webers Auffassungen zum RPr wie zur WRV sowie seinen Einfluß auf Schmitt erörtert: W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 - 1920, 2. Aufl., 1974, bes. S. 362 - 72, 375 - 80, 398 - 403, 407 - 13, 438 ff., 478 ff. Vgl. auch Karl Loewensteins hysterischen Protest gg. Mommsens These einer Kontinuität Weber-Schmitt: Max Weber als „Ahnherr“ des plebiszitären Führerstaats, KZfSS, 11/1961, S. 75 - 89, Ndr. in: Loewenstein, Beiträge z. Staatssoziologie, 1961, S. 311 - 328. J. P. Mayer, Max Weber and the german politics, London 1944, Faber & Faber, S. 78, schrieb: „Weber’s glorification of the plebiscitarian principle here (and in his political sociology generally) exerted a considerable influence on other German constitutional lawyers, e.g. Koellreutter and Carl Schmitt. The latter brought the plebiscitarian principle into a system by virtue of which the president of the Reich became the ,guardian of the Constitution*. Thus the wolf was made to look after the sheep.“ Zur Beziehung Weber-Schmitt vgl. jetzt: G. L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, 1991. - Zur Stellung d. Reichspräsidenten während der Zeit Eberts vgl. u. a.: O. Meißner, Der Reichspräsident, Handbuch d. Politik, 1921, III, S. 41 ff.; ders., D. neue Staatsrecht des Reichs u. s. Länder, 1921, S. 77 - 85; W. Troitzsch, Die staatsrechtliche Stellung des Reichs­ präsidenten, Pr. Verwaltungsblatt, 47 / 1925 - 26, S. 26 f.; Nöll v. d. Nahmer, Reichspräsi­ dent, Reichskanzler und Reichsminister in ihrem gegenseitigen verfassungsrechtlichen Ver­ hältnis, ebd., 48 / 1926 - 27, S. 170 ff.; vgl. a.: G. Ams, Friedrich Ebert als Reichspräsident, HZ 1971, Beiheft, S. 1 - 30. Grundsätze zum Problem des RPr: Huber, Dt. Verfassungsge­ schichte, VI, 1981, S. 307 ff. (dort weitere Literatur). Hinweise auf die (west-)deutsche Diskussion seit 1949 bei: G. Jasper, Die verfassungsund machtpolitische Problematik des Reichspräsidentenamtes i. d. Weimarer Republik. Die Praxis der Reichspräsidenten Ebert u. Hindenburg im Vergleich, in: R. König u. a., Friedrich Ebert und seine Zeit. 1990, S. 147 - 159. [2] Dazu bes.: C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsver­ fassung, VVDStRL, 1, 1924, S. 63 ff., leicht verändert nachgedruckt in: ders., Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 213 ff. Diese an sich schon „extensive“ Auslegung der Rechte und Hand­ lungsmöglichkeiten des Reichspräsidenten wurde von Schmitt noch weitergetrieben in: Der

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Hüter der Verfassung, 1931. Zur Geschichte der Auslegung des Art. 48 vgl. die mit umfang­ reichen Hinweisen versehenen Darstellungen von G. Anschütz, Die Verfassung des Deut­ schen Reiches vom 11. August 1919, vierte Bearbeitung, 14. Aufl. 1933, S. 267 - 300; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 687 - 743; Vgl. G. Schulz, Artikel 48 in poli­ tisch-historischer Sicht, in: E. Fraenkel (Hrsg.), Der Staatsnotstand, 1965, S. 3 9 - 7 1 ; U. Scheuner, Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsident­ schaften von Ebert und Hindenburg, FS H. Brüning, 1967, S. 249 - 264; R. Haugg, Die An­ wendung d. Art. 48 WRV, Diss. Würzburg 1975; H. Boldt, Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung - Sein historischer Hintergrund und seine politische Funktion, in: M. Stür­ mer (Hrsg.), Die Weimarer Republik - Belagerte Civitas, 1980, S. 288 - 309. - Die Ge­ schichte d. Art. 48 während Eberts Amtszeit behandelt: A. Kurz, Demokratische Diktatur?, 1992; Dokumente bei: E. R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, II, 1951, S. 126 153; vgl. a. d. Überblick bei: R. Wohlfeil, Heer und Republik, in: Militärgeschichtl. For­ schungsamt (Hrsg.), Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648 - 1939, Sonderausg. 1983, 3. Bd., Abschnitt VI, Reichswehr und Republik (1918 - 1933), S. 11 - 303, hier S. 262 - 279 („Ausnahmezustand und Vollziehende Gewalt“). [3] Die Widersprüche in der Konzeption des Reichspräsidenten erörterte polemisch L. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 355 - 372. Sein vorwegnehmendes Re­ sümee: „Wir gewahren das seltsamste politische Lebewesen, das je die deutsche Erde betre­ ten hat und seinesgleichen auch im Auslande sucht, wo seine meisten Ahnherren leben, von denen er das meiste angezogen und die widersprechendsten Bekleidungsstücke - ohne Rück­ sicht darauf, ob sie sich untereinander vertragen - kunterbunt angenommen hat. Vom Präsi­ denten der amerikanischen Union hat er bekanntlich die Statur, insofeme die Wahl auf plebiszitärem Wege zu erfolgen hat (Art. 41), aus Frankreich, wie Sie längst wissen, die Funktions­ dauer (Art. 43) und die Gebundenheit an das parlamentarische Regierungssystem, das alle seine Anordnungen und Verfügungen, zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister unterwirft, aus Deutschland die juristi­ sche Verantwortlichkeit, die ihn mit einem Reichsminister in eine Linie stellt (Art. 59), ferner die Verfügung über das fein abgetönte und doch so leere Glockenspiel des Volksentscheides, der sogar ihn selbst aus dem Weg räumen kann und so manche verwirrende Einzelheit, die ihre Stelle finden wird. Wer will von einem so wunderlichen Menschenkind Stil, Farbe und Farbebekennung erwarten und Ordnung in dieses Gewirr bringen, das sich nur aus der Kreu­ zung der widerstrebendsten Absichten und Erwartungen sowie aus der daraus folgenden grenzenlosen Unsicherheit erklären kann?“ Ähnliche Argumente bei Bühler, Die Reichsverfassung, 1927, ö. - Die dem Reichspräsidenten eignende Mittelstellung zwischen dem fran­ zösischen u. dem US-amerikanischen Vorbild kritisierte auch Nawiasky, Die Grundgedanken der Reichsverfassung, 1920, S. 78, als „schlechtes Kompromiß“, vgl. ebd., S. 76 - 92. Bes. scharf die Kritik v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung i. Lehre und Wirklich­ keit, 1924, S. 122 ff., 392 u. ö.; mit einer neutralen Konstatierung der widersprüchlichen Konzeption begnügen sich Poetzsch, Handausgabe d. Reichsverfassung, 2. Aufl., 1921, S. 91 ; Bredt, Der Geist d. Reichsverfassung, 1924, S. 141; Giese, Grundriß d. Reichsstaatsrechts, 1930, S. 78; ders., Deutsches Staatsrecht, 1930, S. 137. Vgl. a. A. Brecht, Vorspiel zum Schweigen, 1948, S. 78, der der Volkswahl aufgrund der in Deutschland auseinanderstreben­ den Parteien skeptisch gegenübersteht und eher das französische Vorbild empfiehlt, da so Hindenburg kaum hätte kandidieren können. - Zum Vergleich des deutschen Reichspräsiden­ ten mit seinen Pendants im Auslande s.: Wandersieb, Der Reichspräsident in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und im deutschen Reiche, 1922, u. v. Ribbeck, Kaiser, Reichspräsident

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und U.S.A. Präsident, 1930. Auf Konflikte zwischen dem US-Präsidenten u. dem Kongreß hinweisend, erörtert H. Lufft mögliche „Souveränitätskonflikte zwischen Reichspräsident und Reichstag“ in: Hochland, März 1927, S. 682 - 94. [4] Vgl. dazu etwa: Bell, Das verfassungsrechtliche Verhältnis des Reichspräsidenten zu Reichskanzler, Reichsregierung und Reichstag, DJZ, 1. 6. 1925, u. F. J. Wuermeling, Die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung, AöR, H. 3, 1926, S. 341 ff.; Bund z. Erneuerung d. Reiches, Die Rechte d. Dt. Reichspräsidenten nach d. Reichsverfassung, 1929; zurückblickend: W. Apelt, Geschichte d. Weimarer Verfas­ sung, 1946, S. 198 ff.; vgl. a. O. Geßler, Die Träger d. Reichsgewalt, 1931, S. 61 - 79. [5] Vermutlich eine Anspielung Schmitts auf Hugo Preuß’ Artikel „Reichsverfassungs­ mäßige Diktatur“, ZfP, 1924, S. 97 ff. Preuß stimmt darin (S. 101) Schmitts Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur zu. [6] Der Art. 43 lautete: „Das Amt des Reichspräsidenten dauert sieben Jahre. Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung abge­ setzt werden. Der Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit. Durch den Be­ schluß ist der Reichspräsident an der ferneren Ausübung des Amtes verhindert. Die Ableh­ nung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die Auflösung des Reichstags zur Folge. Der Reichspräsident kann ohne Zustimmung des Reichstags nicht strafrechtlich verfolgt werden.“ Vgl. dazu: Wittmayer, a. a. O., S. 320, 369 f., 425; v. Freytagh-Loringhoven, a. a. O., S. 68, 131, 132 f., 136; Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, 2 Bde., 1922 / 23, Bd. I, S. 539 ff.; Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landes­ staatsrecht, I, 1924, S. 603, 608; Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 192, 197, 268, 346, 352; vgl. a. Giese, Grundriß d. Reichsstaatsrechts, 1930, S. 78 - 90. - Schmitts Wendung „kleines Ventil“ ist eine Anspielung auf: M. Weber, Deutschlands künftige Staatsform, Artikelreihe Nov. 1918, abgedruckt in: ders., Gesammelte politische Schriften, a. a. O., S. 448 - 483, hier S. 470: „Wenn man auch den Volkswahlpräsidenten in der Wahl seiner Minister an das Ver­ trauen des Parlaments bände, so würde er als Vertrauensmann der Volksmillionen doch oft dem Vertrauensmann der jeweiligen Parteimehrheit im Parlament überlegen sein, um so über­ legener, je länger man seine Amtsperiode machen muß. Und auf längere Zeit (sieben Jahre etwa) muß man sie bei jeder weitergehenden Sozialisierung im Interesse der Stetigkeit unbe­ dingt bemessen Durch die Zulassung eines Abberufungsreferendums auf Antrag einer quali­ fizierten Mehrheit des Reichstags könnte man ein Ventil schaffen.“ [7] Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, V, 1978, S. 1193. [8] Vgl. B. Constant, Cours de politique constitutionnelle (1815), dt. in: Werke, hrsg. v. L. Gall, IV, 1972, S. 9 - 244, bes. S. 31 ff.; dazu bes. L. Gail, Benjamin Constant, 1963, S. 166 205. - Ausführlich erörtert Schmitt Constants Konzept, bei diesem auf den König einer kon­ stitutionellen Monarchie bezogen, in: Der Hüter der Verfassung, 1932, S. 132 ff.; z. Kritik vgl. G. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, 1932, S. 67 f. - Schmitt sprach am 28. 6. 1929 in der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, im Rahmen der „Aussprachabende“ zum Thema „Probleme der Koalitions­ politik“, über „Der Mangel eines pouvoir neutre im neuen Deutschland“ ; vermutlich in An­ knüpfung an die erste Fassung von „Der Hüter der Verfassung“, AöR, März 1929, S. 161 237. (Nach: Berichte der Deutschen Hochschule für Politik, Bd. VII, Juni 1929, H. 3, S. 17.) [9] Die nach der Ermordung Außenminister Rathenaus am 24. 6. 1922 von Reichspräsi­ dent Ebert erlassenen Republikschutzverordnungen (26. u. 29. 6. 1922) sowie das Gesetz

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zum Schutze der Republik v. 21. 6. 1922 stießen bei der Regierung Bayerns unter Graf Ler­ chenfeld auf erbitterten Widerstand. Bayern sistierte das Republikschutzgesetz unter Hinweis auf Art. 48, Abs. 4, und ergriff eigene Maßnahmen. Ein Motiv war dabei die Härte der Straf­ androhungen des Gesetzes; ausschlaggebend war aber wohl die Furcht, „die Weimarer Ver­ fassung könnte so ausgelegt werden, als ermögliche sie schrittweise Beseitigung der Hoheits­ rechte, ja der Staatlichkeit der Länder“, so ein Schreiben Graf Lerchenfelds an Ebert v. 2. 8. 1922. Ebert verzichtete auf seine verfassungsmäßigen Möglichkeiten, die bis zur Reichsexekution gingen, und es gelang ihm, bei wechselseitigen Zugeständnissen, den Streit im August 1922 zu beenden. - Vgl. dazu Piloty, Der Streit zwischen Bayern und dem Reich über die Republikschutzgesetze und seine Lösung, AöR, 1922, S. 308 ff.; H. Preuß, Um d. Reichsverfassung von Weimar, 1924, S. 37 - 50; E. Forsthoff, Deutsche Geschichte seit 1918 in Dokumenten, 1935, S. 86 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 661 f., S. 667 ff. - In einem Schreiben an Graf Lerchenfeld v. 27. 7. 1922 bezeichnete sich Ebert übrigens als „Hüter der Reichsverfassung und des Reichsgedankens.“ (Forsthoff, a. a. O., S. 88.) [10] Clemenceau ermöglichte 1887, während der Boulanger-Krise, die Wahl v. Marie François Sadi Carnot (1837 - 1894, ermordet durch den ital. Anarchisten S. I. Caserio) zum Präsidenten der französ. Republik und „empfahl“ ihn mit den Worten: Choisissons le plus bête; vgl. dazu: E. R. Curtius, Maurice Barrés und die geistigen Grundlagen des französi­ schen Nationalismus, 1921, S. 106.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Kölnische Volkszeitung, 15. 3. 1925, S. 1. Unmittelbarer Anlaß war wohl das am 13. 3. 1925 verabschiedete Zweite Gesetz über die Wahl des Reichspräsi­ denten; vgl.: RGBl. I, 19; G. Kaisenberg, Die Wahl des Reichspräsidenten, 2. Aufl. 1925. Nach dem Tode Eberts am 28. 2. 1925 kam es zu den Reichspräsidentenwahlen am 29. 3. (1. Wahlgang) und am 26. 4. 1925 (2. Wahlgang). Im ersten Wahlgang erreichte der Kandidat der DNVP u. der DVP, Karl Jarres, 28,8 % der Stimmen, Otto Braun (SPD) 29 %, Wilhelm Marx (Zentrum) 14,5 %, Emst Thälmann (KPD) 7 %, Willy Hellpach (DDP) 5,8 %, Heinrich Held (BVP) 3,7 % und Erich Ludendorff (NSDAP) 1,1 % (nach: E. Kolb, Die Weimarer Republik, 3. Aufl. 1993, S. 285). Für den zweiten Wahlgang einigten sich die DNVP, die DVP, die BVP, der Bayerische Bauernbund, die Deutschhannoversche Partei und die Wirt­ schaftspartei als sog. „Reichsblock“ auf die Kandidatur Paul v. Hindenburgs. Dieser erreichte 48.3 %, Marx als Kandidat der sogen. „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und DDP 45.3 %, Thälmann 6,4 %. Schmitts Aufsatz erschien zwei Wochen vor dem 1. Wahlgang, als eine Kandidatur v. Hin­ denburgs noch nicht vorlag und auch noch nicht diskutiert wurde. Vermutlich war es Alfred v. Tirpitz, der v. Hindenburg erst zur Kandidatur überredete; dieser nahm am 7. 4. 1925 die Wahlbewerbung an. In seiner „Osterbotschaft an das deutsche Volk“ v. 11.4. 1925 erklärte v. Hindenbiirg u. a.: „Vaterländisch gesinnte Deutsche aus allen Gauen und Stämmen haben mir das höchste Amt im Reiche angetragen. Ich folge diesem Ruf nach ernster Überlegung in Treue zum Vaterland . . . Als Soldat habe ich immer die ganze Nation im Auge gehabt, nicht die Parteien. Sie sind in einem parlamentarisch regierten Staat notwendig, aber das Staats­ oberhaupt muß über ihnen stehen und unabhängig von ihnen für jeden Deutschen walten . . .

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Wie der erste Präsident auch als Hüterder Verfassung (von mir kursiviert - G. M.) seine Her­ kunft aus der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nie verleugnet hat, so wird auch mir nie­ mand zumuten können, daß ich meine politische Überzeugung aufgebe“ ; zit. nach: W. Maser, Hindenburg - Eine politische Biographie, Tb.-Ausg. 1992, S. 204. Zur Wahl v. Hindenburgs vgl.: A. Brecht, Aus nächster Nähe, Lebenserinnerungen I, 1966, S. 452 ff. Hugo Preuß, dem Schmitt den vorl. Aufsatz zusandte, bedankte sich dafür am 19. 3. 1925 mit einem Brief, in dem die Zustimmung überwog. Preuß erklärte jedoch darin, daß „es . . . doch nicht richtig (sei), daß die Urheber der Verfassung vor den Konsequenzen ihrer eigent­ lichen Absicht zurückgeschreckt seien“ ; der Brief ist abgedruckt bei: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 131.

Diktatur Diktatur ist die Ausübung einer von rechtl. Schranken befreiten staatl. Gewalt zum Zweck der Überwindung eines abnormen Zustands, insbes. Krieg u. Aufruhr. Maßgebend für den Begriff der D. ist also einmal die Vorstellung eines normalen Zustands, der durch die D. wiederhergestellt od. herbeigeführt werden soll, ferner die Vorstellung bestimmter rechtl. Schranken, die im Interesse der Beseitigung des abnormen Zustands aufgehoben (suspendiert) werden. Dieser Begriff von D. hat sich neben einem unklaren u. allg. Sprachgebrauch, der überall, wo Befehl od. Herrschaft ausgeübt wird, ungenau von D. spricht, als ein Begriff der allg. Staats­ lehre u. der Politik im Lauf der letzten Jahrhunderte entwickelt. Die Entwicklung geht aus von dem als D. bezeichneten Institut des röm. Staatsrechts.

I. Die Diktatur im römischen Recht Als erster Diktator erscheint nach Livius 2, 18 entw. M. Valerius (505 v. Chr.) od. T. Lartius (501); diesen erwähnt Cicero, De re publica 2, 56. Nach der überlie­ ferten Darstellung, insbes. des Livius, scheint die D. in erster Linie ein Mittel im innerpolit. Kampf gegen die Plebejer gewesen zu sein. Es ist aber zweifelhaft, ob die älteren Fälle der D. zur Niederschlagung eines Aufruhrs (seditionis sedandae causa) echt sind. Nach W. Soltau gab es vor der D. des Hortensius, 272 v. Chr., keinen dictator seditionis sedandae causa, u. war der Diktator der alten Republik der Bundesfeldherr, der an der Spitze des latein. Bundesheers (des nomen latinum) ins Feld rückte, wenn dieses im Notfall aufgeboten wurde. Jedenfalls ist die ältere D. im Lauf der Zeit unpraktisch geworden; von 202 bis 82 v. Chr. (Sulla) kommt kein Fall von D. mehr vor. Als Mittel im Kampf gegen den innerpolit. Gegner erscheint von 133 bis 40 v. Chr. das Senatus Consultum ultimum, welches darauf beruht, daß der Senat durch einen Beschluß mit der Formel: Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat, den Konsuln die Aufgabe überläßt, für die Si­ cherheit des Staats einzutreten (rem publicam commendare, rem publicam defen­ dere). Die Konsuln hielten sich dann für befugt, ohne Rücksicht auf rechtl. Schran­ ken gegen röm. Bürger, die als Gegner der bestehenden Ordnung betrachtet wur­ den, vorzugehen. Im J. 82 v. Chr. wurde Sulla auf Grund eines besondem Gesetzes für unbestimmte Zeit zum dictator rei publicae constituendae ernannt; im J. 46 wurde Cäsar zunächst für ein Jahr Diktator, die Amtsdauer wurde schließlich auf Lebenszeit ausgedehnt. Diese D.en begründen eine rechtlich schrankenlose Gewalt u. haben von der alten D. nur den Namen übernommen.1 1 Sinai, (irollnmm, Nomos

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II. Die Diktatur seit der Renaissance Die polit. Schriftsteller der Renaissance verwenden den Begriff der D. zunächst so, wie sie ihn bei ihren klass. Autoren finden; insbes. behandelt Macchiavelli in den Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio (1531) im Anschluß an die Ge­ schichtsdarstellung des Livius zahlreiche Fälle der D. Sie erscheint ihm, wie den meisten Schriftstellern des 16. bis 18. Jahrh., als eine der freien röm. Republik we­ sentliche Einrichtung. Die ganze polit. Literatur der Staatsräson u. der sog. Arcana (Staatsgeheimnisse) zeigt ein bes. Interesse für dieses Institut, dehnt aber den Be­ griff der D. noch nicht im modernen Sinn aus, sondern betrachtet sie als eine der aristokrat. Republik spezif. Einrichtung, d. h. als ein innerpolit. Kampfmittel der Patrizier gegen die Plebejer.

III. Die Diktatur des Ausnahmezustands Als allg. Begriff wird die D. erst durch die französ. Revolution, u. zwar mit der sog. D. der Jakobiner in die polit, u. staatsrechtl. Literatur eingeführt. Dadurch be­ kommt das Wort die Bedeutung einer ausnahmsweisen Aufhebung rechtl. Schran­ ken, wobei wiederum sowohl das Maß u. der Grad der Aufhebung wie die rechtl. Eigenart des aufzuhebenden Rechts verschieden sein können. Insbes. wird seit die­ ser Zeit die D. als eine Aufhebung der Teilung der Gewalten (Legislative, Exekuti­ ve, Justiz) bezeichnet, weil man diese „Teilung der Gewalten“ als ein jeder verfas­ sungsmäßigen Ordnung wesentl. Erfordernis betrachtete. Die neue rechtsstaatl. Entwicklung geht nun dahin, auch die für den Ausnahmefall gewährten Befugnisse genau zu umgrenzen. Dadurch entsteht im Lauf des 19. Jahrh. eine besondere Art von Gesetzen über Kriegs-, Belagerungs- od. Ausnahmezustand. Typisch für diese Entwicklung sind das französ. Gesetz vom 9. Aug. 1849 u. das preuß. Gesetz über den Belagerungszustand v. 4. Juni 1851. Die außerordentl. Mittel, mit denen man des Ausnahmezustands Herr zu werden suchte, bestehen im Übergang der vollzie­ henden Gewalt auf einen Militärbefehlshaber od. einen Zivilkommissar, ferner in der Möglichkeit, gewisse Verfassungsbestimmungen, welche dem Schutz der per­ soni. Freiheit, des Hausrechts, der Preß-, Vereinigungs- u. Verwaltungsfreiheit die­ nen, aufzuheben; sodann in einem Verordnungsrecht des Militärbefehlshabers bzw. des Kommissars; endlich in Strafverschärfungen für gewisse Delikte wie Mord, Aufruhr usw. u. in der Zulässigkeit außerordentl. Gerichte (Stand- u. Kriegsge­ richte). So bildete sich im Lauf des 19. Jahrh. eine typische Gestaltung des Aus­ nahmezustands als einer rechtlich organisierten Einrichtung. Diese wurde häufig als D. bezeichnet. Daneben wurde das Wort für die Fälle einer Ausübung staatl. Gewalt gebraucht, die sich überhaupt jeder rechtl. Regelung, selbst der den Aus­ nahmefall berücksichtigenden Institution des Kriegs- od. Belagerungszustands, entzogen.

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IV. Kommissarische und souveräne Diktatur Aus der geschichtl. Entwicklung der Regelung des Ausnahmezustands ergibt sich, daß es im wesentlichen zwei Arten von D. gibt, nämlich eine solche, die sich trotz aller Ausnahmebefugnisse doch wesentlich im Rahmen einer bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung hält u. bei welcher der Diktator in verfassungsmäßi­ ger Weise beauftragt ist (kommissarische D.), u. eine andere, bei der die gesamte Rechtsordnung aufgehoben ist u. die D. dem Zweck dient, eine völlig neue Ord­ nung herbeizuführen (souveräne D.). Diese souveräne D. wird insbes. ausgeübt von einer Nationalversammlung, die nach einer Revolution, wenn die bisherige verfassungsmäßige Ordnung beseitigt u. solange eine neue Verfassung noch nicht in Kraft getreten ist, die staatl. Gewalt ohne rechtl. Schranken ausüben kann. Das ist im modernen demokrat. Staat der häufigste Fall einer souveränen D. (Beispiele: die französ. Nationalvers. von 1848, die Weimarer Nationalvers. von 1919 bis zum Erlaß der Weimarer Verf.). Souveräne D. kann aber auch darin liegen, daß eine revolutionäre Partei unter Berufung auf den wahren Willen des Volks die staatl. Macht an sich reißt u. ausübt, u. zwar provisorisch, d. h. bis zur Herstellung des Zustands, in welchem das Volk seinen Willen frei ausüben kann, wobei sie aller­ dings selber darüber entscheidet, wann dieser Zustand eingetreten ist. Solange eine Verf. in Kraft steht, ist daher nur eine kommissar. D. denkbar, mögen auch die Be­ fugnisse des Diktators außerordentlich weitgehend sein.

V. Die Diktatur des Reichspräsidenten Die Weimarer RVerf. trifft in Art. 48, Abs. 2/5 eine Regelung des Ausnahmezu­ stands in der Weise, daß der Reichspräsident nach Art. 48, Abs. 2 befugt ist, wenn im Dtsch. Reich die öff. Sicherheit u. Ordnung erheblich gestört od. gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öff. Sicherheit u. Ordnung nötigen Maßnah­ men zu treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschrei­ ten. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 u. 153 festgelegten Grundrechte ganz od. z. T. außer Kraft setzen. Dem Reichstag ist unverzüglich von allen getroffenen Maßnahmen Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzug kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maß­ nahmen gleicher Art treffen. Diese Maßnahmen der Landesregierung sind auf Ver­ langen des Reichspräsidenten od. des Reichstags außer Kraft zu setzen. Nach Art. 48, Abs. 5 soll ein Reichsgesetz das Nähere bestimmen. Bisher (Juni 1926) ist dieses Reichsgesetz nicht ergangen; infolgedessen hat der Reichspräsident bis zum Erlaß dieses Gesetzes außerordentlich weitgehende Befugnisse, weil er nämlich zu allen nach Lage der Sache nötigen Maßnahmen berechtigt ist, ohne daß die dem oben genannten typischen System der rechtsstaat. Ausnahmezustandsgesetze ent­ sprechende Umschreibung seiner Befugnisse vorgenommen wäre. Auf Grund des

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Art. 48 konnte daher Sept. u. Okt. 1923 ein militär. Ausnahmezustand gegen Thü­ ringen u. Sachsen eintreten, in dessen Verlauf der Militärbefehlshaber in Ausübung der vollziehenden Gewalt sogar das Zusammentreten des sächs. Landtags verbot u. ein Reichskommissar die sächs. Minister ihrer Ämter enthob. Auf Grund des Art. 48, Abs. 2 übt insbes. die Reichsregierung durch den Reichspräsidenten ein Verordnungsrecht aus, das sich zeitweilig nach seiner prakt. Auswirkung als ein neben dem ordentl. Gesetzgebungsrecht des Reichtags herlaufendes außerordentl. Gesetzgebungsrecht darstellt. VI. Die Diktatur des Proletariats Diese bedeutet in der Theorie des marxist. Sozialismus nur die Eroberung u. Ausübung der staatl. Macht durch eine bestimmte Klasse, das Proletariat, im Ggstz zur Bourgeoisie. Der Ausdruck „D. des Proletariats“, der mehrfach von Marx u. Engels gebraucht wurde u. hauptsächlich auf eine Analogie mit der revolutionären D. der Jakobiner von 1793 zurückzuführen ist, wurde von den russ. Bolschewisten aufgegriffen, um die gewaltsame Eroberung der staatl. Macht, die Zertrümmerung der alten „Staatsmaschinerie“ u. die Verletzung der demokrat. u. rechtsstaatl. Prin­ zipien zu rechtfertigen. Nach marxistisch-sozialist. Auffassung ist jeder Staat in Wahrheit D., d. h. ein Machtapparat, eine „Maschine“ zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere, u. die rechtl. Formen und Schranken der Ausübung der Staatsgewalt sind nur Schein, so daß Staat u. D. identisch werden. D. des Proleta­ riats heißt also zunächst einfach proletar. Staat, ebenso wie der moderne Rechts­ staat mit seinen liberalen u. demokrat. Einrichtungen als eine D. der Bourgeoisie bezeichnet wird. Weil in der revolutionären Zeit des Übergangs vom bürgerlichkapitalist. Staat zum kommunist. Idealzustand ein proletar. Staat nötig ist, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, so ist eben auch eine D. des Proletariats notwendig. Doch bekommt auch hier das Wort D. von Fall zu Fall einen versch. Sinn, je nachdem, was als normaler Zustand vorgestellt wird, d. h. D. kann den Gegensatz zu einer demokrat., d. h. durch eine auf allg. Wahlrecht beruhende Na­ tionalversammlung begründeten Ordnung bedeuten, sie kann schließlich den Sinn von Gewaltanwendung im Ggstz zu friedl. Verständigung u. parlamentar. Diskus­ sion erhalten. Nach dieser Übersicht ergibt sich die Bedeutung des Wortes Diktatur immer erst durch einen bestimmten Gegensatz, nämlich: a) zu den verfassungsmäßigen Schranken u. Garantien staatsbürgerl. Freiheit, welche der moderne Verfassungsstaat durch die sog. Teilung der Gewalten, d. h. die Trennung von Gesetzgebung, Verwaltung u. Rechtspflege, u. durch die Aufstel­ lung von Grundrechten (persönl. Freiheit, Hausrecht, Preßfreiheit, Vereins- u. Ver­ sammlungsfreiheit) aufgestellt hat, b) zur parlamentar. Diskussion, d. h. zum friedl. Ausgleich der Gegensätze u. Meinungsverschiedenheiten im Wege gegenseitigen Verhandelns, Parlamentierens,

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c) zur bürgerl. Demokratie, d. h. zur Beteiligung aller Bürger an der Ausübung polit. Rechte ohne Unterschied der Klasse.

Schrifttum Zu 1.: Für die histor. u. philolog. Einzelheiten vgl. Fr. Bändel, Die röm. D. (Breslauer Diss., 1910). W. Soltau, Ursprung der D., in Hermes, Zeitschrift für klass. Philologie II, 352 ff., Plaumann, Klio 1913, 321 ff., Mommsen, Röm. Staatsrecht III 1242. Schiller-Vogt, Röm. Altertümer, im Handbuch der klass. Altertumswissenschaft IV, 2, S. 58 u. in PaulyWissowa, Real-Lexikon. - Zu 2.: C. Schmitt, Die D. von den Anfängen des modernen Staats­ gedankens bis zum proletar. Klassenkampf (1921). - Zu 5.: Die D. des Reichspräsidenten; Referate von C. Schmitt u. Jacobi, in Heft 1 der Veröffentlichungen der Vereinigung dtsch. Staatsrechtslehrer (1924). - Zu 6.: Von den zahlr. Schriften u. Broschüren über diesen Kampf von Demokratie u. d. innerhalb des marxist. Sozialismus bleibt auf bolschewist. Seite die kurze Abhandlung von Lenin „Staat u. Revolution“ (dtsch. 1918) die wichtigste Äußerung. Der Sozialdemokrat. Standpunkt ist von Karl Kautsky in „Terrorismus u. Kommunismus“ (1919) vertreten.

Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien im von Hermann Sacher herausgegebenen „Staatslexikon“ der Görres-Gesellschaft, Bd. I, 5. Aufl., Freiburg i. Br. 1926, Herder-Verlag, Sp. 1448 - 1453. Die Anfangspassagen des Artikels wurden übernommen aus: Schmitt-Dorotic, Die Diktatur, 1921, S. 2 - 3 (Fußnoten); alle späteren Aufl. (ab 1928) mit gl. Paginierung. Johannes Heckei, Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand mit besonderer Rücksicht auf das Budgetrecht, AöR, 3 / 1932, S. 257 - 338, beklagte, daß eine Definition der Diktatur im deutschen Staatsrecht immer noch fehle, die hier vorgestellte Definition Schmitts aber „nicht auf Art. 48 Abs. 2 RV zugeschnitten sei“ (S. 261). - Zur Diskussion z. Zt. des hier wiederabgedruckten Artikels vgl. u. a.: Fr. Wieser, Die modernen Diktaturen, ARWP, 1924/25, S. 607 - 623; Hermann Martin, Demokratie oder Diktatur?, Berlin 1926; Heinz Brauweiler, Schule der Politik. Unterrichtsbriefe, 1928, S. 202 ff. Vgl. auch die kurzen, begriffsgeschichtlichen Übersichten: E. Nolte, Diktatur, in: Ge­ schichtliche Grundbegriffe, I, 1972, S. 900 - 924; J. Irmscher, Die Diktatur - Versuch einer Begriffsgeschichte, Klio, 2 / 1976, S. 273 - 287.

Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 der Reichsverfassung (sog. Diktaturgesetz)

Der oft wiederholte Satz, daß eine außerordentliche Sachlage außerordentliche Mittel zu ihrer Beseitigung verlangt, wird sehr verschieden ausgelegt, je nachdem man gefährliche Unruhen befürchtet oder im großen und ganzen ruhige Zeiten ge­ kommen glaubt. Es entspricht aber jedenfalls den rechtsstaatlichen Gedankengän­ gen des letzten Jahrhunderts, die außerordentlichen Befugnisse so genau wie mög­ lich zu umgrenzen und unter Namen wie Kriegszustand, Belagerungszustand, Aus­ nahmezustand eine Reihe typischer Einrichtungen zu treffen, die einerseits beson­ dere Befugnisse begründen, anderseits eine schrankenlose Diktatur verhindern^ 1] Die Weimarer Verfassung konnte an der schwierigen Frage nicht Vorbeigehen; die Praxis des „Kriegszustandes“ (nach dem preußischen Belagerungszustandsgesetz von 1851 und dem bayerischen Kriegszustandsgesetz von 1912)[2] war 1919 noch in frischer Erinnerung; gleichzeitig war die Lage Deutschlands damals so gefähr­ det, daß man vernünftigerweise weitgehende Ausnahmebefugnisse erteilen mußte, um dieser Lage Herr zu werden. In dem berühmten Art. 48 wurden dem Reichs­ präsidenten diktatorische Befugnisse verliehen, im übrigen aber traf man keine endgültige abgeschlossene Regelung, sondern schuf einen eigenartigen Zwischen­ zustand, ein Provisorium, und sah im letzten Abschnitt dieses Artikels ein Reichs­ gesetz vor, durch welches „das Nähere“ bestimmt werden sollte. Sieben Jahre hat dieses Provisorium gedauert und sich namentlich in den schweren Jahren 1920 1923 als unentbehrlich erwiesen. Wenn jetzt diese „nähere“ Regelung, das sogen. Ausführungsgesetz zu Art. 48, ergehen soll, so entstehen für die Regelung des Aus­ nahmezustandes im Deutschen Reich zwei verschiedene Rechtsfragen: einmal die allgemeine Frage der rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes, außer­ dem aber die besondere Frage nach dem Verhältnis des sogenannten Ausführungs­ gesetzes zu den bereits geltenden Bestimmungen des Art. 48. Das Eigenartige der heutigen staatsrechtlichen Lage liegt nämlich darin, daß ein Teil des Ausnahmezu­ standsrechts durch die Verfassung bereits festgelegt ist. Es läßt sich aber nicht ver­ meiden, daß eine „nähere“ Regelung Einschränkungen und Änderungen mit sich bringt, sobald derartig allgemeine Befugnisse, wie sie dem Reichspräsidenten nach Art. 48 zustehen, „näher“ geregelt werden sollen. Was als geltendes Recht von der Verfassung bereits festgelegt ist, kann nicht durch ein einfaches Reichsgesetz oder ein Ausführungsgesetz geändert werden; es bedürfte vielmehr eines verfassungsändemden Gesetzes, für welches bei den heutigen Parteiverhältnissen die erforderli­ che Zweidrittelmehrheit kaum aufzubringen wäre. Die schwierige Frage ist also.

Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 der Reichsverfassung

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wie weit die durch einfaches Reichsgesetz zu bewirkende nähere Regelung geht und wo die Verfassungsänderung beginnt.

I.

Das typische Bild einer rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes er­ gibt sich daraus, daß sowohl die Voraussetzungen der außerordentlichen Befug­ nisse wie auch der Inhalt dieser Befugnisse umschrieben und umgrenzt und außer­ dem eine besondere Kontrolle eingerichtet wird. Dabei muß allerdings ein gewis­ ser Spielraum bleiben, weil sonst der Zweck der Einrichtung, ein energisches Ein­ greifen zu ermöglichen, entfiele und Staat und Verfassung in „Legalität“ zugrunde gehen könnten. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Befugnisse können in der Weise umgrenzt werden, daß nähere Tatbestände wie Krieg und Aufruhr ange­ geben werden; während nach Art. 48 schon bei jeder erheblichen Störung oder Ge­ fährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die diktatorischen Befugnisse eintreten, würde doch eine Beschränkung auf Krieg und Aufruhr oder wenigstens die Gefahr eines solchen die Voraussetzungen wesentlich einengen. Ein großer Teil der seit 1919 auf Grund des Art. 48 angeordneten Maßnahmen wäre rechtlich nicht möglich gewesen, wenn eine ähnliche Einengung bereits bisher bestanden hätte. Neben dieser Einschränkung der sachlichen Voraussetzungen kommen noch weite­ re formelle Schranken vor: z. B. ausdrückliche, an bestimmte Formen gebundene „Erklärung“ des Ausnahmezustandes (die in Art. 48 bisher nicht vorgesehen ist). In einigen Ländern ist sogar die Entscheidung über die Voraussetzungen und die Erklärung des Ausnahmezustandes dem Diktator selbst grundsätzlich entzogen und durch die Form des Gesetzes dem Parlament in die Hand gegeben. Zu der Einschränkung der Voraussetzungen kommt als weitere rechtsstaatliche Begrenzung eine genaue Angabe des Inhalts der außerordentlichen Befugnisse. Dem Diktator wird so genau wie möglich angegeben, welches die außerordentli­ chen Mittel sind, die er anwenden kann, sei es, daß ihm Verhaftungen, Haussu­ chungen, Beschlagnahme von Zeitungen usw. ausdrücklich erlaubt werden, sei es, daß er bestimmte Grundrechte wie Preß- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzen darf. Er kann ferner die Befugnis erhalten, Verordnungen zu erlassen, außer­ ordentliche Gerichte einzusetzen, die in einem abgekürzten Verfahren entscheiden; cs können an die Erklärung des Ausnahmezustandes Strafschärfungen für be­ stimmte Straftaten geknüpft werden usw. Mit allen diesen Aufzählungen ist gesagt, daß der Diktator über die aufgezählten Befugnisse hinaus keine Handlungsfreiheit hat, also keineswegs, wie heute der Reichspräsident nach Art. 48, von Fall zu Fall alle ihm nötig erscheinenden Maßnahmen treffen darf. Die dritte Art der rechtsstaatlichen Garantien liegt in der Kontrolle des Diktators und seiner Anordnungen. Es kann die Dauer des Ausnahmezustandes und der ge­ troffenen Maßnahmen an einen bestimmten Zeitraum gebunden werden, nach des-

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Erster Teil: Verfassung und Diktatur

sen Ablauf sie von selbst außer Kraft treten. Es ist ferner möglich, daß das Parla­ ment als Kontrollinstanz tätig wird, wie schon nach Art. 48 Abs. 3 dem Reichstag von allen Maßnahmen Kenntnis zu geben ist und die Maßnahmen auf sein Verlan­ gen außer Kraft gesetzt werden. Endlich kann auch gegen einzelne Anordnungen des Diktators oder der von ihm beauftragten Behörden, z. B. gegen ein einzelnes Zeitungsverbot oder gegen eine Schutzhaft ein Rechtsmittel, etwa eine Beschwer­ de bei einer verwaltungsgerichtlichen Instanz oder bei einem Staatsgerichtshof er­ öffnet werden.

II. Die Frage nach dem Verhältnis der vorgesehenen „näheren“ Regelung zu dem bereits bestehenden Recht des Art. 48 wird für das Zustandekommen des beabsich­ tigten Ausführungsgesetzes vielleicht entscheidend sein. Bei den großen Mei­ nungsverschiedenheiten, zu welchen die Auslegung des Art. 48 bisher schon ge­ führt hat, kann es sehr zweifelhaft sein, wie weit eine Verfassungsänderung erfor­ derlich ist oder ein einfaches Reichsgesetz genügt. Man wird davon ausgehen kön­ nen, daß eine verfassungsmäßige Festlegung jedenfalls insoweit vorliegt, als die in Betracht kommenden zuständigen Organe durch Art. 48 bestimmt sind. Daraus folgt, daß nur der Reichspräsident (unter Gegenzeichnung der Minister) für die au­ ßerordentlichen Befugnisse des Ausnahmezustandes in Betracht kommt. Man kann ihm ausdrücklich die Befugnis erteilen, seine Befugnis durch Beauftragte ausüben zu lassen, es wäre aber eine Verfassungsänderung, wenn irgendeine andere Instanz, etwa die Reichsregierung, unter irgendeinem Vorwand eine selbständige Befugnis erhielte, oder wenn die den Landesregierungen nach Art. 48 Abs. 4 zustehende Befugnis an eine Zustimmung des Reichsrates geknüpft würde, oder die in Abs. 3 vorgesehene Kontrolle des Reichstages und (gegenüber den Landesregierungen) des Reichspräsidenten beschränkt werden sollte. Die Organisation des Ausnahme­ zustandes, wie sie hinsichtlich der zuständigen Organe im Art. 48 vorliegt, kann nur durch ein verfassungsändemdes Gesetz, nicht durch ein einfaches Ausfüh­ rungsgesetz geändert werden. Weit schwieriger ist die Frage, wie weit Voraussetzungen und Inhalt der außer­ ordentlichen Befugnisse gegenüber der weitgehenden Ermächtigung des Art. 48 in dem Ausführungsgesetz eingeschränkt werden können. Es ist also z. B. die Frage, ob durch einfaches Gesetz an die Stelle der ganz allgemeinen „erheblichen Gefähr­ dung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ bestimmtere Tatbestände wie Kriegsgefahr oder Aufruhr gesetzt werden; ob der Reichspräsident verpflichtet werden kann, den Ausnahmezustand formell zu erklären, bevor er Maßnahmen auf Grund des Art. 48 trifft; ob die allgemeine Befugnis des Reichspräsidenten, alle zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnah­ men zu treffen, durch einen Katalog genau bestimmter Befugnisse beschränkt wer­ den kann.

Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 der Reichsverfassung

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Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man die bereits geltenden Bestimmungen des Art. 48 über den Ausnahmezustand auffaßt. Eine verbreitete Auslegung sucht aus einem mißverstandenen rechtsstaatlichen Bedürfnis den Art. 48 dahin auszulegen, daß der Reichspräsident keineswegs alle Maßnahmen treffen darf, sondern jede einzelne Verfassungsbestimmung für ihn eine unüber­ windliche Schranke ist, sofern es sich nicht um eines der sieben in Art. 48 Abs. 2 aufgezählten Grundrechte handelt, die außer Kraft gesetzt werden könnte. Der Reichspräsident dürfte also, wenn man diese Ansicht konsequent zu Ende denkt, keine Verordnung mit Gesetzeskraft erlassen, denn dadurch werden die Bestim­ mungen der Verfassung über die Gesetzgebung angetastet; er dürfte keinen Kom­ missar mit Befehlsbefugnissen in ein Land schicken, denn dadurch würde die ver­ fassungsmäßig garantierte selbständige Landesverwaltung angetastet usw. Die Un­ richtigkeit dieser Auffassung habe ich in meinem Bericht auf dem Staatsrechtsleh­ rertag in Jena (April 1924) dargelegt.[3] Das Mißverständnis beruht letzten Endes darauf, daß man den provisorischen Charakter des Art. 48 Abs. 2 verkennt und glaubt, die rechtsstaatlichen Forderungen, die zweifellos zu erheben sind, bereits an den Art. 48 selbst stellen zu müssen, während es in Wahrheit im Jahre 1919 der Nationalversammlung darauf ankam, angesichts der unerhört schwierigen Lage zu­ nächst einmal möglichst weitgehende Befugnisse zu geben und die Erfüllung der rechtsstaatlichen Forderungen der späteren „näheren“ Regelung zu überlassen. Wer mit aller Gewalt diese typisch rechtsstaatlichen Forderungen bereits in die Verfassung selber hineinbringen will, nimmt dieser näheren Regelung jeden nen­ nenswerten Inhalt und verbaut den Weg zu einer endgültigen Regelung. Richtiger Auffassung nach soll das in Abs. 5 vorgesehene Reichsgesetz das bis­ her offen gehaltene Provisorium des Art. 48 beenden und eine den rechtsstaatli­ chen Begriffen entsprechende Gestaltung des Ausnahmezustandes herbeiführen. Der Gesetzgeber ist dabei nicht an das Schema der bisherigen Belagerungszu­ standsgesetze gebunden, wohl aber hat er deren grundsätzliche Tendenz zu einer näher formulierten Umschreibung der Voraussetzungen und des Inhaltes aller dik­ tatorischen Befugnisse zu übernehmen und aus der allgemeinen Ermächtigung des Art. 48 Abs. 2 ein Ausnahmezustandsgesetz im Sinne jenes Typus von Gesetzen zu schaffen. Hierfür bedarf es keines verfassungsändemden Gesetzes, auch wenn da­ durch Voraussetzungen und Befugnisse des Reichspräsidenten erheblich einge­ schränkt und neue Kontrollen geschaffen werden. Im Sommer 1919, als Art. 48 zustande kam, war man sich darüber klar, daß Deutschland sich in einer ganz ab­ normen Lage befand und deshalb zunächst einmal Befugnisse notwendig waren, die ein entschiedenes Handeln ermöglichten[4]. Wer glaubt, die Lage Deutsch­ lands sei heute so weit normal, daß eine, wenn ich so sagen darf, normale (d. h. der typischen rechtsstaatlichen Entwicklung entsprechende) Regelung der Ausnahme­ befugnisse an der Zeit ist, darf sich also nicht mit Einzelheiten begnügen, sondern muß für das Ausführungsgesetz eine detaillierte Aufzählung der Voraussetzungen wie des Inhaltes aller diktatorischen Befugnisse verlangen. Dazu bedarf es keiner Verfassungsänderung.

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Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. bes. H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 1967. [2] Vgl. C. Schmitt, Diktatur und Belagerungszustand, vorl. Ausg., S. 3 ff. [3] C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, VVDStRL, 1924, S. 63 ff.; verändert nachgedruckt in: ders., Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 213 ff. (Anhang.) [4] Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 691; dort auch S. 694 f. über das Fehlen d. Ausführungsgesetzes.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien am 30. 10. 1926 in der Kölnischen Volkszeitung. - Die Forderung nach einer Konkretisierung des Art. 48, Abs. 5 („Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz“) wurde ab 1924 erhoben. So wurde auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer am 14. u. 15. 4. 1924 der „baldige Erlaß des durch Abs. 5 des Art. 48 verheißenen Ausführungsgeset­ zes .. . als eine dringende Notwendigkeit“ bezeichnet (VVDStRL, 1924, S. 139). Die Forde­ rung, auf eine Einschränkung der Diktaturbefugnisse des RPr zielend, wurde häufig mit der nach einem Reichs-Notverordnungsrecht verbunden. Vgl.: R. Piloty / R. Grau, Wie ist das im Art. 48 Abs. 5 RV vorgesehene Reichsgesetz über das Ausnahmerecht zu gestalten?, Ver­ handlungen des 33. Dt. Juristentages, 1924, S. 68 ff., S. 81 ff.; H. Nawiasky, Das Durchfüh­ rungsgesetz zu Art. 48 RV, Das Recht, 1924, S. 454 ff. Kritisch dazu R. Thoma, Die Rege­ lung der Diktaturgewalt, DJZ, 1924, Sp. 654 ff., der einwandte, „daß der Versuch, das Ausf.Ges. zu erlassen, sofort die Probleme einer Verfassungsrevision in Ruß bringen würde, was m. E. in der gegenwärtigen Lage trotz allem sorgfältig vermieden werden müßte“ (ebd., Sp. 660); hingegen forderte Lobe, Der Untergang des Rechtsstaates, DJZ, 1/1925, Sp. 15 ff., energisch ein solches Gesetz. So auch Hugo Preuß, Die Bedeutung des Art. 48 d. Reichsver­ fassung, Die Hilfe, 15. 5. 1925, S. 225 f.: „Das nächste Erfordernis aber ist die Ausführung des letzten Absatzes des Artikels, der die nähere Regelung des Gegenstandes durch ein Reichsgesetz vorsieht. Die Erfahrungen, die bisher mit dem Gebrauch der außerordentlichen Vollmachten durch eine höchst bedenkliche Praxis gemacht worden sind, beweisen die dring­ liche Notwendigkeit eines solchen beschränkenden Gesetzes und weisen zugleich auf die Punkte hin, wo dieses Gesetz den bisherigen Mißbräuchen einen Riegel vorschieben muß.“ Ähnlich v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre u. Wirklichkeit, 1924, S. 146: „Dieses Reichsgesetz ist bis zum heutigen Tage nicht ergangen. Infolgedessen wird dieser ganze, so überaus wichtige Gegenstand ausschließlich durch die Bestimmungen des Art. 48 geregelt. Das Ergebnis ist, daß dem Präsidenten eine Gewalt zusteht, wie sie der Kai­ ser nie besessen hat und daß die ärgsten Mißbräuche möglich sind.“ (Hier wohl aus der grundsätzl. Feindschaft d. Autors ggü. d. WRV heraus zu verstehen sowie aus der Angst, der Art. 48 könne eine linke Machtergreifung von oben erleichtern.) - Das Projekt eines Ausfüh­ rungsgesetzes kam durch den Einspruch des Reichswehrministeriums (Denkschrift v. 12. 11. 1926) und die ablehnende Haltung v. Hindenburgs (Schreiben an Reichskanzler Marx, 22. 11. 1926) zu Fall. Das Reichswehrministerium hielt ein Ausführungsgesetz für einen „Widerspruch in sich: . . . Je enger die Formen sind, in welche ein Ausführungsgesetz die

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Staatsnotwehr des Artikels 48 pressen will, je größer wird die Gefahr, daß eine schwache Exekutivgewalt - im Banne dieser Form - das Reich zerbrechen läßt, wie auf der anderen Seite die Gefahr, daß eine starke Hand gezwungen wird, zum Zwecke der Erhaltung des Staa­ tes die untaugliche gesetzliche Form zu zerbrechen.“ (Zit. nach: G. Schulz, Zwischen Demo­ kratie und Diktatur, I, 2. Aufl. 1987, S. 475 f.) v. Hindenburg beschloß seine Ablehnung mit den Worten: „Ich . . . halte es für richtig, bereits jetzt zu bemerken, daß, wenn ich mich über­ haupt zur Vollziehung eines solches Gesetzes entschließen könnte, ich verlangen müßte, daß das Gesetz mit der verfassungsändemden Mehrheit angenommen ist.“ (Ebd., S. 476; der Brief faksimiliert S. 647 - 658.) Vgl. auch: E. Falck, Voss. Ztg., 17. 11. 1926; E. Feder, Berli­ ner Tageblatt, 19. 11. 1926; C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, VVDStRL, 1924, S. 63 - 103, hier S. 89 f.; Ndr. in ders.. Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 241 f.; K. Loewenstein, Erscheinungsformen d. Verf.änderung, 1931, S. 139 ff.; Schmitt, Die staatsrechtl. Bedeutung d. Notverordnung, 1931, in: ders., Verfass.rechtl. Aufsätze, 1958, S. 235 ff. (bes. S. 237 f., 257, 262); Anschütz, D. Verf. d. Dt. Reichs, 14. Aufl. 1933, S. 282 f. - Besonders nachdrücklich forderte die Sozialdemokratie ein Ausführungsgesetz, vgl.: E. Kempf, Der Ausnahmezustand des Artikel 48 der Reichsverfassung, Die Gesellschaft, 1929, I, S. 318 - 25 u. W. Luthardt, Sozialdemokratische Verfas­ sungstheorie in der Weimarer Republik, 1986, S. 130 ff. Interessanterweise schrieb Schmitt noch am 28. 7. 1930, wenn auch auf frühere Stellungnahmen seinerseits zum Art. 48 zurück­ blickend, von der „Notwendigkeit, durch das in Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz eine endgültige Regelung des Ausnahmezustandes und darin auch ein Verordnungsrecht in kürze­ ster Zeit herbeizuführen“ (Schmitt, Verfassungsrechtliches Gutachten über die Frage, ob der Reichspräsident befugt ist, auf Grund des Art. 48 Abs. 2 RV finanzgesetzvertretende Verord­ nungen zu erlassen, maschinenschriftl., 24 S., hier S. 6). - Ein bedeutsamer Punkt in den Debatten um den Abs. 5 war dabei oft die verschiedene Auslegung des Art. 48 durch das Reich und die Länder, spez. durch Bayern, wo die Meinung vertreten wurde, daß die Länder nicht nur eine vom Reichspräsidenten abgeleitete, sondern selbständige Befugnis zur Verhän­ gung des Ausnahmezustands besäßen - gewöhnlich wurde diese These mit der Behauptung einer „Eigenstaatlichkeit“ verbunden. Vgl. dazu etwa: E. Forsthoff, Der Ausnahmezustand der Länder, Annalen des Deutschen Reichs, 1926, S. 138 - 194, bes. S. 161 ff.; E. R. Huber, Militärgewalt, Notstandsgewalt, Verfassungsschutzgewalt in den Konflikten zwischen Bay­ ern und dem Reich, in: ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 171 - 192; ders., Dt. Ver­ fassungsgeschichte, VII, 1984, S. 210 ff., 249 ff., 347 ff.; A. Kurz, Demokratische Diktatur?, 1992, S. 94 ff.

Der bürgerliche Rechtsstaat

I. Das neue Deutsche Reich ist eine konstitutionelle Demokratie. Es hat eine Ver­ fassung, wie es unter der Monarchie eine Verfassung hatte; hier im „Konstitutio­ nellen“ liegt eine wesentliche Kontinuität, die das heutige Reich mit dem alten Reich von 1871 verbindet. Das bedeutet: beide Staatsformen, in denen das Deut­ sche Reich gelebt hat, die Monarchie und die Demokratie, wurden durch den Ge­ sichtspunkt des bürgerlichen Rechtsstaates modifiziert und relativiert. Es liegt kein Bruch, keine Revolution im strengen juristischen Sinne zwischen der alten und der neuen Staatsform vor. Eine konstitutionelle Demokratie hat eine konstitutionelle Monarchie abgelöst. Das deutsche Reich ist keine Demokratie schlechthin, son­ dern eine konstitutionelle Demokratie. Die Konstitution des Deutschen Reiches, das bürgerlich-rechtsstaatliche Ele­ ment in der neuen Demokratie, ist die Weimarer Verfassung. Es hat sich gezeigt, daß die Weimarer Verfassung, anders, als es ihre Urheber erwartet haben und ihre Verteidiger in Anspruch nehmen, nicht sehr im Bewußt­ sein des deutschen Staatsbürgers lebendig ist. Wie kommt es, daß sie für die allge­ meine Auffassung etwas Leeres und Unbefriedigendes hat? Das erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Einmal gilt, daß dem Deutschen Reich überhaupt ein großer Teil seiner politi­ schen Substanz zurzeit genommen ist, und zwar deshalb, weil entscheidende politi­ sche Fragen von außen her erledigt sind. Durch den Vertrag von Versailles und seine Ausführung, durch den Dawesplan, durch mehr oder weniger freiwillig ein­ gegangene Verträge ist die auswärtige, aber auch zum Teil die innere Politik des Deutschen Reiches auf Jahrzehnte hinaus festgelegt. Das Reich ist noch nicht wie­ der im Besitz seiner vollen Souveränität, und der dadurch verursachte Mangel an politischer Substanz würde jede Verfassung in ihrer Bedeutung relativieren^ 1] Dazu kommt ein weiteres geschichtliches Moment: die Weimarer Verfassung ist in gewissem Sinne etwas Posthumes. Sie verwirklicht Forderungen, Ideale und Programme, die schon 1848 aktuell waren. Die liberal-rechtsstaatlichen Ideen die­ ser Zeit sind 1870 nur zum kleinen Teil bei der Neugründung des Reiches in die Verfassung Bismarcks eingegangen. Im übrigen wurden sie zwei Generationen zu­ rückgedrängt. Sie gelangten erst zur Verwirklichung, als im Jahre 1918 bei dem Zusammenbruch die Monarchie, der Gegner von 1848, verschwunden war, nicht, weil er innenpolitisch besiegt war, sondern weil eine außenpolitische, militärische

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Niederlage ihn von selbst beseitigte. Nach zwei Generationen siegten die Ideen von 1848 ohne Kampf. Es ist so, wie wenn ein junger Mann von 20 Jahren, der sich um ein gleichaltriges Mädchen bemüht hat, aber zugunsten eines Nebenbuh­ lers abgewiesen wurde, Jahrzehnte später die Witwe erringt. So mußte die Ver­ wirklichung des liberalen Programmes, die 1848, wenn sie erkämpft worden wäre, ein glänzender Sieg gewesen wäre, 1919, als sie den Erben des Zusammenbruches kampflos in den Schoß fiel, zu spät kommen. Das ist ein weiterer Grund für jenes Gefühl der Leere, jene Begeisterungslosigkeit, die man heute der Verfassung ge­ genüber empfindet. [ 1a] Die eigentliche Erklärung aber für jenen Eindruck trägt die Weimarer Verfas­ sung in sich selbst. Wir müssen versuchen, in zwei Sätzen auf ihre Struktur einzu­ gehen. Diese Verfassung ist typisch nach dem 1789 inaugurierten Verfassungs­ schema gestaltet. Das ideologische Bewußtsein, daß die Zeit heute völlig anders geworden ist, mag wohl in einzelnen Trägem der sogenannten Revolution von 1918 in etwa vorhanden gewesen sein, es sind aber nicht einmal Ansätze davon tatsächlich in der Verfassung zum Ausdruck gekommen. Denn was war die Entscheidung, vor die sich das Deutschland des Kriegsendes gestellt sah? Es wurde mit einem Mal deutlich, wie es zwischen Westen und Osten stand. Es zeigte sich damals, daß Rußland im Grunde nur vorübergehend in der Front des liberalen Kreuzzuges gegen Deutschland gestanden hatte. Es hatte sich in der bolschewistischen Revolution erwiesen, wie wenig Rußland je Rechtsstaat im westeuropäischen Sinne sein kann. Eine deutsche Verfassung hätte die Ent­ scheidung zwischen Osten und Westen oder aber eine aus der vollen Kraft deut­ scher Besonderheit stammende Entscheidung enthalten müssen. Aus dem Gefühl dieser Notwendigkeit erklärt sich das sozialpolitische Programm des zweiten Tei­ les der Weimarer Verfassung. Die politische Entscheidung, die Substanz der Ver­ fassung, ist für den Westen gefallen, für die bürgerlich-rechtsstaatliche Tradition von 1789. Dieser bürgerliche Rechtsstaat ist allgemein dadurch gekennzeichnet, daß er auf den Grundrechten der einzelnen und dem Prinzip der Gewaltenunterscheidung auf­ baut. Dabei wird die Freiheit des einzelnen als prinzipiell unbegrenzt, der Staat und seine Gewalt als begrenzt gesetzt. Was der Staat darf, wird ihm genau zuge­ messen. Überall werden Kontrollorgane eingefügt und juristisch gesichert. Unbe­ grenzt ist dagegen die persönliche Freiheit des einzelnen. Sie ist nicht nach Geset­ zen geregelt, und die unumgänglichen Ausnahmen von ihr bedürfen der Maßgabe vorher bestimmter Normen. Ausgangspunkt ist die Sphäre unbegrenzter Möglich­ keiten für den einzelnen; die allseitige Kontrollierbarkeit des Staates. Dieses libe­ rale Verteilungsprinzip durchzieht die gesamte Organisation des Staates. Aufs ge­ naueste werden die staatlichen Befugnisse eingeteilt und die Möglichkeiten der Herrschaft gegeneinander ausbalanciert. Hier interessiert die eigentlich politische Frage nach dem Verhältnis vom bür­ gerlichen Rechtsstaat und Staatsform. Diese Frage wird durch die „Gewaltentei-

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lung“ eskamotiert. Es ist überhaupt nicht mehr von Staatsform die Rede, sondern von der Organisation der Gesetzgebung, der Exekutive usw. Auch Demokratie ist nun nicht mehr Staatsform, sondern etwa Organisationsform der Gesetzgebung. Dadurch werden natürlich alle Konsequenzen des Demokratischen im politischen Sinne verhindert. Im Widerspiel dazu wird die Exekution monarchisch organisiert, weil man die „Gewalten nicht teilen“ kann, ohne sie nach verschiedenen, entgegengesetzen Formprinzipien zu organisieren. Der bürgerliche Rechtsstaat ist infol­ ge dessen ein status mixtus, der absichtlich entgegengesetzte Prinzipien gegenein­ ander ausbalanciert, aber nicht im Interesse der politischen Einheit, sondern der individuellen Freiheit. Eine absolute Demokratie vernichtet nicht weniger die Frei­ heit als eine absolute Monarchie. Immer ergibt sich diese Konsequenz, wenn das monarchische oder das aristokratische oder das demokratische Formelement rein durchgeführt wird. Wenn der bürgerliche Rechtsstaat alle drei Elemente gegenein­ ander ausbalanciert, ohne daß eines allein konsequent durchgeführt würde, so bleibt sein Grundprinzip, die Unkontrollierbarkeit des einzelnen, intakt, die Sub­ stanz des Politischen aber wird zerstört. Die beiden Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates, Freiheit des einzelnen und Gewaltenteilung, sind beide unpolitisch. Sie enthalten keine Formen des Staates, sondern Methoden der Organisation von Hemmungen des Staates. Hier zeigt sich der unmittelbare Einfluß liberalen Denkens, das allen Formelementen feindlich ist. „Die Freiheit konstituiert nichts.“ (Mazzini).[2] Es muß vor allem betont werden, daß der bürgerliche Rechtsstaat keine Form des Staates und für sich keine Verfas­ sung, sondern nur ein System von Kontrollen des Staates ist. Die typische Erscheinungsform des rechtsstaatlichen Liberalismus ist das parla­ mentarische System. Es enthält aristokratische und monarchische Elemente und ist in allem eine aus dem liberalen Interesse entstandene Formenmischung, um das eigentlich Politische zu hemmen, wo es sich zeigt. Es ist die Form, die sich das Bürgertum zum Schutz vor dem Staat geschaffen hat, also eine antipolitische Form, wie das liberale Bürgertum selbst etwas Unpolitisches ist. Es ist immer aufgefallen, wie widerspruchsvoll die Haltung des liberalen Bür­ gertums zu politischen Dingen stets gewesen ist. Es hat gegen die Demokratie die Monarchie ausgespielt und umgekehrt, ohne sich je für eine bestimmte Staatsform zu entscheiden. Das Schema des bürgerlichen Rechtsstaates, dessen Sinn gerade darin besteht, eine politische Form zu vermeiden, hat das Bürgertum endgültig in der heute geltenden französischen Verfassung von 1875 gefunden.[3] Es kulmi­ niert im parlamentarischen System. Das vom Volk unabhängige Parlament macht den Höhepunkt des bürgerlichen Rechtsstaates aus. Der Parlamentarismus stellt sich als ein kompliziertes System einer Mischung politischer Formen dar. An dem demokratischen Prinzip der Abhängigkeit des Parlamentes vom Volk wird festge­ halten, aber es sind doch genug Gegenmomente wirksam. Die Regierung ist gleichzeitig abhängig und unabhängig vom Parlament, am wichtigsten ist ihre ver­ klausulierte Auflösungsbefugnis. Die Stellung des Reichspräsidenten ist ganz wie

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die eines Monarchen auf Zeit konstruiert, aber auch hier trifft die politische Form der Monarchie mit der aristokratischen und demokratischen zusammen. Nirgends werden die Konsequenzen einer politischen Form gezogen. Was ist aber der Sinn der ganzen Sache? Die Aufgabe des Parlamentes besteht darin, die politische Einheit zu integrieren, d. h. die politische Einheit einer klas­ senmäßig, interessenmäßig, kulturell, konfessionell heterogenen Masse eines Vol­ kes zu einer politischen Einheit immer von neuem zu bilden. Damit das Volk im Staat zur politischen Existenz kommt, ist eine bestimmte Gleichartigkeit, eine Ho­ mogenität erforderlich. Die Einrichtungen eines Staates haben die Funktion, diese Gleichartigkeit möglich zu machen und täglich aufs neue wiederherzustellen. Im bürgerlichen Rechtsstaat mit seinem Parlamentarismus handelt es sich um eine be­ stimmte Aufgabe: das Bürgertum, d. h. eine durch die beiden Merkmale Besitz und Bildung charakterisierte Bevölkerungsgruppe, in den damals vorhandenen monarchischen Staat zu integrieren. Es ist nun notwendig, die Relativität des Ver­ suches zu erkennen, auf dem Wege über das Parlament zur politischen Einheit des Volkes zu kommen. Als der Versuch zuerst unternommen wurde, stand die neue Klasse des Bürgertums dem monarchischen Staat gegenüber. Es ging um ihre Ein­ ordnung in diesen. Inzwischen aber ist der Gegenspieler, die Monarchie, entfallen, der seine Kräfte aus einer anderen Zeit zog. Schon deshalb muß das ganze System leerlaufen. Das System hatte den Sinn der Integration des Bürgertums in den monarchi­ schen Staat. Diesen Sinn hat es erfüllt. Heute aber ist die Situation völlig anders geworden. Heute geht es darum, das Proletariat, eine nicht besitzende und nicht gebildete Masse, in eine politische Einheit zu integrieren. Für diese Aufgabe, die noch kaum ins Auge gefaßt worden ist, sind heute immer noch nur die Apparate und Maschinen zur Verfügung, die jener alten Aufgabe der Integrierung des gebil­ deten Bürgertums dienen. Die Verfassung ist ein solcher Apparat. Daher kommt uns alles so künstlich gemacht vor, daher entsteht dieses Gefühl der Leere, das man so leicht der Weimarer Verfassung gegenüber hat. Nach einem bekannten Worte Spenglers ist die Weimarer Verfassung der engli­ sche Konfektionsanzug, den das Deutsche Reich 1919 übernommen hat. [4] Man hat eben 1919 keine andere angemessenere Form finden können. Die Weimarer Verfassung ist ein Notbau[4a] und hat als solcher ihren Wert. Das Demokratische ist in dieser Verfassung doch stark genug hervorgehoben, so daß das Volk jederzeit die Möglichkeit hat, trotz aller Hemmungen und Ventile und hinter der Mauer, die von den Ideen des bürgerlichen Rechtsstaates her gebaut werden, seine politische Form zu finden. Es handelt sich für die Verfassungsent­ wicklung der nächsten Zeit darum, die Demokratie aus ihrer Verhüllung durch li­ berale Momente zu retten. Nur so, nicht durch ein liberales Desinteressement an den Fragen der Staatsform und Verfassung, kann die durch die neue Bedeutung des Proletariates geschaffene neue Situation politisch gemeistert und die politische Einheit des deutschen Staatsvolkes neu geschaffen werden.

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in den neuen Staat zu integrieren, läßt die Unzulänglichkeit der Methoden des bür­ gerlichen Rechtsstaates erkennen.[ll]

Anmerkungen des Herausgebers [1] Schmitt scheint hier d. These, daß d. Versailler Vertrag d. WRV „vorgehe“ (so An­ schütz, D. Verfassung d. Dt. Reichs, 3. / 4. Aufl. 1926, S. 433; Ausg. 1933, S. 763) näher zu stehen als in s. Verfassungslehre, 1928, S. 72, wo der Art. 178, Abs. 2 RV, Satz 3 („Die Be­ stimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles Unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt“) mit d. Kommentar bedacht wird, daß „dieser Satz der Weimarer Verfassung . . . keinen Verzicht auf d. politische Existenz u. d. Selbstbestimmungs­ recht d. dt. Volkes (bedeute), sondern . . . nur (besage), daß d. Dt. Reich sich d. völkerrecht­ lich bindenden Verpflichtungen dieses Vertrages nicht unter Berufung auf verfassungsgesetz­ liche Bestimmungen entziehen will“. Vgl. a. Pohl, Reichsverfassung u. Versailler Vertrag, 1927; H. Gerber, Die Beschränkung d. dt. Souveränität nach d. Versailler Vertrage, 1927; H. Dom, Bindungen der deutschen Souveränität nach d. Versailler Vertrag u. dem Londoner Ab­ kommen, in: B. Harms (Hrsg.), Recht und Staat im Neuen Deutschland, 1929, II, S. 334 ff.; E. R. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, V, 1978, S. 1174, schreibt: „Da alle Bestimmungen d. Friedensvertrags wie alle seinem Vollzug dienenden Maßnahmen den Vorrang vor der Reichsverfassung beanspruchten, war die Verfassungsautonomie d. deutschen Republik auf das schwerste beeinträchtigt.“ Nawiasky, Die Grundgedanken d. Reichsverfassung, 1920, S. 18, schrieb u. a.: „In der Einleitung heißt es voll Selbstbewußtsein: ,Das deutsche Volk, ... von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit zu erneuern und zu festigen ...‘ Ganz schüch­ tern bemerkt Artikel 178 III: ,Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles geschlos­ senen Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt.* In Wirklichkeit gehen sie allen Bestimmungen der Verfassung vor - dies ist die Erneuerung des Reiches in Frei­ heit!“ - V. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, spricht S. 17 von einer „Unterwerfung der Verfassung unter den Versailler Vertrag“ ; noch schärfer S. 30: „Diese grundsätzliche Anerkennung des Satzes, daß die von einer außen­ stehenden, Deutschland aufgezwungenen Vorschriften den Vorrang vor der eigenen Verfas­ sung haben, bedeutet das unumwundene Eingeständnis, daß das heutige Reich kein souverä­ ner, kein unabhängiger Staat ist.“ Anders Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, bes. S. 21: „Die Friedensbestimmungen werden nicht etwa Bestandteil der Verfassung, ge­ winnen keinen Anteil am Verfassungsschutz oder an den Verfassungsgarantien . . . ; denn die Selbstbeschränkung der Verfassung reicht nur so weit, daß die Geltung des Friedensgesetzes durch sie nicht berührt wird, ohne einer späteren Gesetzgebung vorzugreifen. Dies führt uns eben zur Annahme einer bevorzugten Rezeption, welche eine erhöhte Geltung der Friedens­ bestimmungen ausschließt und damit den fundamentalen Charakter der Reichsverfassung als Rechtsquelle wahrt.“ - Daß der Versailler Vertrag der WRV „vorgehe“, zeigte sich deutlich in der Frage des Verhältnisses zu Österreich. Der Art. 61, Abs. 2 d. WRV („Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme.“) rief sofort die Alliierten auf den Plan, die energisch auf d. Art. 80 des Versailler Vertrages hinwiesen („Deutschland anerkennt die Unabhängig­ keit Österreichs und wird sie streng in den durch den gegenwärtigen Vertrag festgesetzten Grenzen als unabänderlich betrachten, es sei denn mit Zustimmung des Rates des VÖlkerbun-

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des.“), aber auch den Art. 178, Abs. 2, 1, unterstrichen; vgl. dazu die Notenwechsel zwischen Clemenceau und der Dt. Friedensdelegation v. 2. 9., 5. 9., 11. 9. u. 18. 9. 1919 in: H. Pohl/C. Sartorius, Modernes Völkerrecht, Dok., 1922, S. 401 - 406, 435 - 440. Aufgrund des Druckes der Alliierten stellte die Reichsregierung in einem Protokoll v. 22. 9. 1919 die „Ungültigkeit“ des Art. 61, Abs. 2, fest (Text in Pohl/Sartorius, S. 440 f.; auch in Triepel, Quellensammlung zum Dt. Reichsstaatsrecht, Ausg. 1931, S. 76). Dieses Protokoll wurde nicht im RGBl, ver­ kündet, so daß ihm keine Gesetzeskraft zukam; dazu Anschütz, Die Verfassung des Deut­ schen Reichs, Ausg. 1933, S. 340 f. - Zur Neuregelung der deutschen Reparationszahlungen durch den Dawes-Plan (nach Charles G. Dawes, 1865 - 1951, zw. 1925 u. 1929 Vizepräsident der USA), bei der Schmitts Freund J. Popitz eine bedeutende Rolle spielte, vgl. u. a.: M. Sering, Deutschland unter dem Dawes-Plan, 1928; E. Salin, Die deutschen Tribute, 1930, S. 104 - 42; E. Eyck, Geschichte d. Weimarer Republik, I, 1956, S. 403 - 29; Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 459 ff., 493, 504 - 16. Den Zusammenhang des Plans mit Stresemanns Stabilisierungspolitik erörtert: A. Rosenberg, Geschichte der Deutschen Re­ publik, Karlsbad 1935, S. 181 - 84. [la] Schmitt nimmt hier ein Argument W. Rathenaus auf, vgl. Schmitt, Wesen und Wer­ den des faschistischen Staates (1929), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 112: ,Auch die Weimarer Verfassung von 1919 entspricht im wesentlichen dem alten Typus und könnte, wie Rathenau richtig gesagt hat, von 1848 sein“. Vermutlich denkt Schmitt an Rathenaus Aufsatz v. Juni 1920, „Reden wir deutsch!“, in dem es u. a. heißt: „ . . . im Westen (ist) der formaldemokratische Gedanke schwer erschüttert: durch das Entsetzen des Krieges, durch die tiefere Forschung nach der Ursache, durch die Stärkung der Proletariate, durch Not und Teuerung, durch die Atmosphäre der kontinentalen Revolutionen, durch Rußland. England wird der erste Staat sein, der ohne viel Theorie, ohne viel Gerede und ohne starke Erschütte­ rung die demokratisch-plutokratische Staatsform durch neuzeitliche Gebilde ersetzt. - In die­ sem Augenblick führen wir die formale Demokratie in ihrer herrlichsten Form ein; als letzte Neuheit in der Form von 1848. Kein Hauch eines neuen Gedankens hat sich in Weimar ge­ regt, der alte Liberalismus feierte goldne Hochzeit in Vatermördern und Krinoline. - In kei­ nem Lande ist Biedermeierdemokratie gefährlicher als bei uns, und zu keiner Zeit war sie gefährlicher als heute.“ (Zit. nach: W. Rathenau, Schriften, ausgew. v. A. Harttung u. a., 1965, S. 317); vgl. dazu: F. Murait (Ps. f. E. Hurwicz), Der ,Tat‘-Kreis der Dichter und Den­ ker, Hochland, Okt. 1932, S. 50 - 64, hier S. 53. - Ähnlich, wenn auch noch schärfer, Emst Niekisch: „Der Bürger hatte in Weimar dem Arbeiter den Absud der Frankfurter Verfassung des Jahres 1849 vorgesetzt. Daß der Bürger das nationalliberale Erbe seiner Väter aus dem Schrank hervorholte und es nicht feierlich verleugnete, ließ der Arbeiter als vollwertiges bür­ gerliches Zugeständnis gelten. Der Bürger brachte das Petrefakt seiner ehemaligen revolutio­ nären Produktivität an den Mann . . . Er machte sich ein Verdienst daraus, 1919 so weit zu gehen, wie er 1849 hatte kommen wollen.“ (Niekisch, Die Legende von der Weimarer Repu­ blik, 1968, S. 57 f.). Walter Gerhart (= W. Gurian), Um des Reiches Zukunft, 1932, S. 67, schrieb, daß der Weimarer Staat „als Fortsetzung der alten bürgerlichen Ordnung (erschien). Im besten Falle wirkte er als eine zu spät kommende Erfüllung der Ideen von 1789 und eine unzeitgemäße Aufnahme der Bestrebungen von 1848.“ Forsthoff, Der totale Staat, 1933, S. 19: „Was das Verfassungswerk von Weimar an konkreten, faßbaren und anwendbaren Vor­ schriften brachte, entstammte der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts . . . “. [2| Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 200.

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II. Die Tatsache, daß auch in der heutigen deutschen Demokratie überall vermieden wird, die Konsequenzen des Demokratischen zu ziehen, läßt sich an vielen Bei­ spielen deutlich machen. Die Demokratie ist heute Demokratie ohne Demos, ohne Volk. Das demokratische Prinzip verlangt, daß das Volk in seiner Gesamtheit ver­ antwortlich entscheidet und regiert. Die Methoden aber, mit denen die heutige De­ mokratie die Souveränität des Volkes ins Werk zu setzen sucht, sind nicht demo­ kratische, sondern liberale Methoden. Heute kommt die politische Entscheidung des Volkes durch geheime Einzelabstimmung zustande. Das bedeutet: die einzel­ nen sind in dem einzigen Momente, in dem sie öffentliche Verantwortung tragen, isoliert. Sowohl beim Volksbegehren und Volksentscheid^] wie bei den Wahlen zum Parlament wird der einzelne in ein Wahlkabinett gesperrt und gibt so seine Stimme ab. Volk aber ist nur versammeltes Volk. Öffentliche Meinung ist nicht die Summe der privaten Meinung jedes einzelnen. Wenn der einzelne zu Hause sitzt und Radio hört, so ist selbst seine wörtlich mit der Meinung aller übereinstimmen­ de Meinung noch nicht öffentliche Meinung. Das Merkwürdige ist: in unserer de­ mokratischen Verfassung erscheint nirgends das versammelte Volk, immer gibt es nur versammelte Vertreter, das aus der Masse herausgenommene Individuum. Wo steckt nach Verfassungstext und Wirklichkeit im bürgerlichen Rechtsstaat über­ haupt Volk? Wo gibt es Raum für eine Akklamation, die nur geschehen kann, wenn durch das anwesende versammelte Volk Öffentlichkeit hergestellt wird?[6] Es gibt keine Öffentlichkeit ohne Volk, und es gibt kein Volk ohne Öffentlichkeit. Wo ist also heute bei den Methoden der geheimen Abstimmung Öffentlichkeit, und wo ist Volk? Ein weiteres: Demokratie ist Mehrheitsentscheidung. Sie hat den Sinn, daß die politischen Fragen im Sinne der politisch verantwortlichen Überzeugung der Mehrheit des Volkes geregelt werden. Der Liberalismus aber geht darauf aus, ge­ rade diese politische Entscheidung zu vernichten, unmöglich zu machen. Dazu dient die geheime Einzelabstimmung. Denn das Ergebnis einer solchen Abstim­ mung wird immer das Überwiegen der politisch Uninteressierten gegenüber den Trägem bewußter politischer Verantwortung sein. Die Mehrheitsentscheidung durch geheime Einzelabstimmung tendiert notwendig zum Minimum an politischer Entscheidung. Alle napoleonischen Plebiszite brachten eine überwältigende Mehrheit für „Ja“. Das war 1799, 1804, 1814 so, aber auch 1851 und 1852; nach jedem Putsch akklamierte das Volk der dadurch geschaffenen Macht durch sein Ja. Umgekehrt hat man in der Schweiz gefunden, daß gegenüber neuen Gesetzen meistens mit Nein gestimmt wurde. Der Grund dafür ist der gleiche wie in Frankreich: niemand wollte gegen den Status quo stimmen. Am bekanntesten ist der Fall der schweizeri­ schen Sozialversicherung, die Jahrzehnte für ihre Durchsetzung gebraucht hat. Das Volk sagt immer Nein, wenn etwas Neues verlangt wird. Die Mehrheit der in ge­ heimer Wahl Abstimmenden ist immer geneigt, sich der politischen Entscheidung

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zu entziehen oder sie wenigstens auf ein Minimum einzuschränken. Im Falle der napoleonischen Volksentscheide liegt darin keine verantwortliche Übernahme ei­ ner schöpferischen Entscheidung: Das Volk sah sich vor vollendete Tatsachen ge­ stellt, die Entscheidung war längst gefallen. Das Ja besagt dann nur, daß Geschehe­ nes approbiert wird. Das Nein der schweizerischen Bürger besagt genau dasselbe: Wir wollen nicht mit der Entscheidung behelligt werden, sondern die Sache auf sich beruhen lassen. Ähnliches läßt sich bei der Art und Weise feststellen, mit der heute das deutsche Volk sich in der Flaggenfrage „entscheidet“.[7] Auffallend ist hier die Vorliebe für neutrale Farben, für die Farben des Landes, der Stadt usw. Man scheut sich, Stellung zu nehmen, man will nicht belästigt sein mit diesen poli­ tischen Fragen. Die Methode der geheimen Einzelabstimmung führt dazu, daß die politischen Fragen von all diesen politisch Uninteressierten und politisch Unver­ antwortlichen entschieden werden. Man kann sagen: Je mehr sich eine Bevölke­ rungsgruppe der politischen Entscheidung und Verantwortung zu entziehen ver­ sucht, um so größer wird bei den heutigen Methoden ihr politischer Einfluß. Es ist nicht nur ein Zufall, wenn im Parlament eine Wirtschaftspartei[8] die Rolle des Züngleins an der Waage übernimmt, und es geschieht bei den lebenswichtigsten Fragen, daß die Mehrheit derer entscheidet, die zu Hause bleiben und nicht abstim­ men. Dieser Übelstand wird durch die Weimarer Verfassung eher gefördert als ge­ hemmt. In der Frage der Fürstenenteignung z. B. wäre es möglich gewesen, eine große allgemeine Akklamation des Volkes für oder gegen die Fürsten herbeizufüh­ ren. [9] Aber Artikel 75 der Weimarer Verfassung bestimmt, daß bei einer solchen Volksabstimmung die Mehrheit der Stimmberechtigten teilnehmen muß.[10] Die Parolen, die hierbei die einzelnen Parteien ausgegeben haben, und das endliche Ergebnis der Kampagne sind noch in aller Erinnerung. Die zu Hause blieben, sich nicht entschieden, bestimmten das Resultat. Das ist heute die Wirklichkeit des Sat­ zes: Mehrheit entscheidet. Jede Demokratie setzt volle Homogenität des Volkes voraus. Nur eine solche Einheit kann Träger der politischen Verantwortung sein. Handelt es sich, wie beim heutigen Staat, um ein heterogen zusammengesetztes Volk, so wird die Integrie­ rung dieser Massen zur Einheit Aufgabe. Die echte demokratische Methode ist keine Methode zur Integrierung heterogener Massen. Das heutige Staatsvolk ist aber in vielen Beziehungen - kulturell, sozial, klassenmäßig, rassenmäßig, religiös - gespalten. Es muß also eine Lösung außerhalb dieser demokratisch-politischen Methoden gesucht werden, oder das Parlament wird die Tribüne, die die Gegensät­ ze gerade hervortreten lassen soll. Heute ist diese notwendige politische Einheit in Deutschland mehr notdürftig von außen hergestellt. Das Deutsche Reich ist in erster Linie eine Reparationsein­ heit; als solche tritt es nach außen hin in die Erscheinung. Es ist aber politisch nichts notwendiger, als die Aufgabe der Integrierung des deutschen Volkes zur po­ litischen Einheit von innen her ins Auge zu fassen. Dazu ist vor allem die theoreti­ sche Besinnung und die klare Erkenntnis der Gefahren und Widersprüche der au­ genblicklichen Situation notwendig. Gerade die zentrale Aufgabe, das Proletariat >1 Slaiil, ( Iroltnmm. Nomos

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[3] Zur Geschichte u. zu d. Mängeln dieser Verfassung vgl. auch Schmitt, Verfassungsleh­ re, 1928, S. 15. Detailliert: M. Hauriou, Précis de Droit constitutionnel, 1923, S. 365 - 380; Joseph-Barthélemy / P. Duez, Traité de Droit constitutionnel, 1933, S. 6 - 50; Joseph-Barthé­ lemy, Précis de Droit constitutionnel, 1938, S. 11 - 33; G. Burdeau, Manuel de Droit constitu­ tionnel, 1946, S. 148 - 182; M. Du verger, Manuel de Droit constitutionnel et de Science poli­ tique, 1948, S. 265 - 289. Man muß hier einrechnen, daß Schmitts Kritik am Parlamentaris­ mus viel den Feinden dieser sprichwörtlichen Bourgeoisrepublik verdankt, etwa Barrés, Bloy, Maurras, Peguy, Sorel. Zum geistigen u. psychologischen Klima dieser Republik: H. de Jouvenel, La république des camarades, Paris 1924,; A. Thibaudet, La république des profes­ seurs, Paris 1927; W. Frank, Nationalismus und Demokratie im Frankreich der dritten Repu­ blik, 1933; M. de Roux, Origine et fondation de la IIIe République, Paris 1933 (maurassi­ stisch); F. Goguel, La politique des partis sous la Troisième République, Paris 1946; J. M. Mayeur, La vie politique sous la Troisième République (1871 - 1947), Paris 1984. [4] Wohl eine paraphrasierende Zusammenfassung von: Spengler, Preußentum und Sozia­ lismus (1919), in: ders., Politische Schriften, 1932, S. 26 - 71, „Engländer und Preußen“, bes. S. 38 f., 57 f.; vgl. a. O. Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, 1924, S. 33 f. [4a] Das Wort „Notbau“ findet sich in der verfassungsrechtlichen Literatur der Weimarer Zeit nur selten; als façon de parier war es jedoch nicht ungebräuchlich; es geht wohl auf Koellreutter, wie o., [4], S. 44, zurück. Papen u. v. Gayl benutzten das Wort ebenso wie W. Gerhart (= W. Gurian), Um des Reiches Zukunft, 1932, S. 39, 57. Nawiasky, Die Grundge­ danken d. Reichsverfassung, 1920, spricht von „Notunterkunft“ (S. 20). C. Bilfinger, Verfas­ sungsumgehung, AöR, 2 / 1926, S. 169 ff., wies die These vom „Notbau“ zurück. - Vgl. hingegen Schmitts Kritik an der Tendenz, „die Befugnis zu Verfassungsrevisionen in eine absolutistische Allmacht umzudeuten“: dann wäre die Weimarer Verfassung „nicht einmal ein ,Notbau‘, sie wäre nur ein Änderungs verfahren“ (Zehn Jahre Reichs Verfassung, JW, H. 32 / 33 - 1929, S. 2313 - 15, hier 2314). Vgl. auch: Konstruktive Verfassungsprobleme, vorl. Bd., S. 55 u. S. 84. [5] Vgl. Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 36 f., zu den „Grenzen durch das heute übliche geheime Abstimmungsverfahren“. [6] Schmitts Konzeption der Akklamation verdankt viel der religionsgeschichtlichen Un­ tersuchung von E. Peterson, Heis Theos, Göttingen 1926, S. 141 - 227; vgl. auch Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 34. Zu d. Beziehungen beider Autoren jetzt: B. Nichtweiss, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, 1992, bes. S. 727 - 830. [7] Bezieht sich auf Art. 3 der WRV: „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Han­ delsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke“. Die da­ durch entstehenden Irritationen sollte die Flaggenverordnung Hindenburgs v. 5. 5. 1926 behe­ ben, nach der diplomatische und konsularische Reichsbehörden an den von deutschen Schif­ fen angelaufenen Plätzen beide Flaggen zu zeigen hätten. Der Streit um diese Verordnung war einer der Anlässe zum Sturz der Regierung Luther am 12. 5. 1926; vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, 1984, S. 281 - 285; dazu auch Anschütz, Die Verfas­ sung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, S. 48 - 60; zuvor Tatarin-Tamheyden, Die Rechtslage im Flaggenstreit, DJZ, 1.11. 1927, Sp. 1433 - 37. Vgl. a.: E. Wolf/O. Neubecker, Die Reichseinheitsflagge, 1926.

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[8] Zu dieser „die Stabilität des überlieferten deutschen Parteiensystems durch ihren wechselnden Kurs zeitweise gefährdenden politischen Gruppe“ vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 187 - 190. [9] Zu den Einzelheiten: Huber, a. a. Ο., VII, 1984, S. 577 - 580, 590 - 594. Schmitt, Unabhängigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privatver­ mögens nach der Weimarer Verfassung, 1926, lehnte die Pläne der KPD (mit dem Ziel der Enteignung) und der DDP (mit dem Ziel der Abfindung durch die Länder bei Ausschluß des Rechtsweges) als unvereinbar mit dem WRV ab; ähnlich auch die Mehrheit d. Reichstags am 28. 4. u. 8. 5. 1926. Vgl. a.: V. Bredt, Die Vermögensauseinandersetzung zw. d. Preußischen Staat u. d. Königshaus, 1925; U. Schüren, Der Volksentscheid z. Fürstenenteignung, 1926, 1978. [10] Art. 75: „Durch den Volksentscheid kann ein Beschluß des Reichstags nur dann au­ ßer Kraft gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt“. KPD und SPD beantragten am 15. 2. 1926 ein Volksbegehren auf entschädigungs­ lose Enteignung der Fürsten und erhielten dafür 12 1 /2 Millionen Eintragungen (über 30 % d. Abstimmungsberechtigten). Am Volksentscheid v. 10. 6. 1926 nahmen aber nur 39,3 % der Stimmberechtigten teil, so daß der Volksentscheid durch die Zahl der Nichtteilnehmer schei­ terte. [11] Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 314, kritisiert Naumann, Weber u. Preuß, die zwar die Einbeziehung der Arbeiterschaft in den Staat gefordert hätten, dabei jedoch die „spezifisch liberal-bürgerliche Integrationsmethode, das Parlament, auf eine neue Klasse übertragen, unter Verkennung der ideellen Struktur des Parlaments, die wesentlich von Eigen­ schaften wie Bildung und Besitz bestimmt ist.“ Vgl. auch: R. Höhn, Der bürgerliche Rechts­ staat und die neue Front, 1929, S. 87 f. u. ö. - Die Schrift, der schmitf sehen Kritik des bür­ gerlichen Rechtsstaates und des Parlamentarismus stark verpflichtet, geht auf den vorliegen­ den Aufsatz nicht ein. Das von Höhn angekündigte Buch über „die geistesgeschichtliche La­ ge des deutschen Arbeiters“ (S. 10) ist m. W. nicht erschienen.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien erstmals in der Zeitschrift „Die Schildgenossen“, dem Organ der katholischen Quickbom-Bewegung, die unter dem geistigen Einfluß von Romano Guardini stand, und zwar im Jg. 1928, S. 127 - 133. Er wurde von der Redaktion mit der Bemerkung versehen: „Die nachfolgenden Ausführungen sind eine Niederschrift Dr. Werner Beckers nach einem Vortrage von Prof. Dr. Carl Schmitt. Das Manuskript ist von Carl Schmitt durch­ gesehen und wird mit dessen Zustimmung in den ,Schildgenossen* veröffentlicht.“ Ein Nach­ druck mit äußerst geringfügigen Veränderungen (Wortumstellungen) erschien im April 1928 in der Zeitschrift „Abendland“, S. 201 - 203, dort gefolgt von Herman Hefeles Erörterung der ersten Version v. Schmitts „Begriff des Politischen“ m. d. T. „Zum Problem des Politischen“, ebd., St 203 - 205. Gekürzte Fassungen erschienen i. d. „Germania“, 12. 5. 1928, u. d. T. „Ueber die Aufgaben der Demokratie“, und in „Der Ring“, H. 22, 27. 5. 1928, S. 423 - 424. Eine franz. Übersetzung v. J. L. Pesteil in: C. Schmitt, Du Politique. „Légalité et légiti­ mité“ et autres essais, éd. A. de Benoist, Puiseaux / Frankreich, 1990, S. 31 - 38. - Schmitt behandelte die Thematik in extenso in gl. Jahre in s. „Verfassungslehre“, vgl. dort bes. S. 125 -

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138, 200 - 220. - Eine akademische Diskussion des vorl. Aufsatzes fand so gut wie nicht statt, wohl auch wg. des Publikationsortes. Vgl. aber die Hinweise b. F. Darmstaedter, Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates - Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, 1930, S. 153, S. 200 (Fußnoten). Zur Bedeutung d. Textes: H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 2. Aufl. 1991, S. 72 ff.; H. Hofmann, Legi­ timität gegen Legalität, 2. Aufl. 1992, S. XIII f. Zu den betr. Diskussionen um d. Rechtsstaat auch in d. Weimarer Republik vgl. die Materialien in: M. Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 2 Bde., 1978. Werner Becker, 1904 - 1981, promovierte 1928 bei Schmitt über „Die politische Systema­ tik der Staatslehre des Thomas Hobbes“; vgl. auch seinen Artikel über Hobbes im Staatslexi­ kon der Görres-Gesellschaft, II, 1927, Sp. 1221 - 1227. In den 20er Jahren veröffentlichte er mehrere Aufsätze in der katholischen Zeitschrift „Abendland“, u. a.: Die Politik der jungen Generation in Europa, August 1926, S. 328 ff.; Ein englischer Gegner des staatlichen Souve­ ränitätsbegriffs (Kritik an H. Laski), Februar 1927, S. 140 ff.; Gedanken zur Staatslehre Leos XIII., April 1927, S. 198 ff.; vgl. von ihm auch: Demokratie u. moderner Massenstaat, Die Schildgenossen, 5/1924 - 25, S. 459 - 478. Bes. interessant seine Verteidigung Schmitts gg. den Vorwurf, der „Begriff des Politischen“ sei ein Werk des Unglaubens, sei unethisch, usw.: Nochmals zu Carl Schmitts ,3egriff des Politischen“, in: Der Friedenskämpfer, Januar 1929, S. 1 - 6 (als Antwort auf Pater Franziskus Stratmanns Kritik an Schmitt, ebd., 5/1928, S. 1 7; 6/1928, S. 1 - 7). Becker trat um 1930 in den Oratorianer-Orden ein u. lebte und wirkte in Leipzig, wobei er zeitlebens Freundschaft mit Schmitt pflegte. Er übersetzte mehrere Schrif­ ten John Henry Newmans und gab einige Texte Romano Guardinis im Leipziger St. BennoVerlag heraus. Er publizierte u. a.: Die Wirklichkeit der Kirche und das Ärgernis, Leipzig 1957 (Aufsätze), sowie: Die Beschlüsse des Konzils, Leipzig 1965. Vgl. auch seine Einfüh­ rung in das Dekret über den Ökumenismus, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1967, Bd. XIII, S. 11 - 39. - Über Beckers Lage in der DDR berichtete: Josef Pieper, Noch nicht aller Tage Abend. Autobiographische Aufzeichnungen 1945 - 1964, 1979, S. 79 f.

Konstruktive Verfassungsprobleme Meine sehr verehrten Herren ! Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, in wenigen Minuten einen Überblick über ein großes Gebiet zu geben, wenn man es zusammenfassend in seinen wichtigen Horizonten und Dimensionen richtig sehen und zugleich der Gefahr parteipoliti­ scher Mißdeutung entgehen will. Ich sehe meine Aufgabe und mein Ziel nicht dar­ in, Ihnen technische Details vorzutragen. Wir könnten uns wahrscheinlich sehr lan­ ge über die Zweckmäßigkeit der Heraufsetzung des Wahlalters, vielleicht auch über die Möglichkeiten einer Altersgrenze für das Wahlalter unterhalten (Heiter­ keit), wir könnten uns fragen, welche Jahrgänge man vernünftigerweise überhaupt für die politische Willensbildung heranzieht, wie man die Organisation des Ober­ hauses vomimmt usw.[l] Das Erste und Wichtigste scheint mir aber zu sein, daß die ungeheuerlichen Fehlkonstruktionen - man darf das ohne jede Voreingenom­ menheit und auch ohne jeden privaten Vorwurf heute sagen - der Weimarer Ver­ fassung nicht wiederholt werden dürfen und daß sie nicht durch voreilige Institu­ tionalisierungen und voreiliges Rickwerk noch weiter getrieben werden. Man tritt niemandem zu nahe, wenn man die Fehler des Werks von Weimar beim Namen nennt. Es hat seine großen Verdienste, aber es war, wie gerade die Väter dieser Verfassung betont haben, nur ein Notbau. Hugo Preuß selber hat verlangt, fünf Jahre nach dem Zustandekommen dieser Verfassung solle eine Volksabstimmung über die Verfassung stattfinden, damit alle nötigen Änderungen offen bleiben. Das Bewußtsein des Provisorischen dieser Verfassung hat keiner der verantwortlichen Urheber dieser Verfassung jemals verloren. Die Fehlkonstruktionen zeigten sich nun in der Unzahl der Verfassungspro­ bleme, die uns heute geradezu überwältigen. Ich denke hier an das Reichspro­ blem, [2] das Wahlrechtsproblem,[3] das Regierungsproblem,[4] aber auch an das Problem der Grundrechte,[5] hinter dem sehr interessante organisatorische Fragen stecken. Alle diese Probleme haben wiederum zahlreiche Unterprobleme. Es wäre ein Irrtum, etwa zu glauben, das sogenannte Reichsproblem sei gelöst, wenn man das in sich wieder überaus schwierige Problem Reich - Preußen gelöst habe. Ne­ ben diesem Problem Reich - Preußen besteht durchaus selbständig und singulär das Problem Reich - Bayern, dessen Tiefe mir gerade im Verlauf des Leipziger Prozesses in seiner geradezu besorgniserregenden Besonderheit klar geworden ist, als der Vertreter Bayerns einen bisher unbekannten Geheimvertrag aus dem Jahre 1870 produzierte, in dem Bismarck Bayern verspricht, daß gegen Bayern keine Sequestrationen, d. h. im wesentlichen keine echte Reichsexekution stattfinden dürfe.16] Damit ist ein Reservatrecht Bayerns in Anspruch genommen, das Bayern

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eigentlich neben die bundesstaatliche Verfassung selbst des so glänzenden und nach außen hin so geschlossenen Bismarckschen Reiches setzt. Natürlich wäre es eine Frage für sich, was derartige Verträge überhaupt und vor allem, was sie heute noch bedeuten. Ich erwähne es nur, um zu zeigen, daß dieses bayerische Problem nun eine sehr wichtige organisatorische Angelegenheit für sich ist. Denn hinter Bayern nehmen nun, wie der Leipziger Prozeß zeigte, die verschiedenartigsten plu­ ralistischen parteipolitischen und anderen Kräfte Deckung und bildeten in jenem überaus aufschlußreichen, leider noch lange nicht genügend zum politischen Be­ wußtsein des deutschen Volkes gekommenen Leipziger Prozeß geradezu drama­ tisch und anschaulich wie auf der Bühne eine gemeinsame Front gegen das Reich: neben preußischen Landtagsfraktionen und amtsenthobenen Landesministem er­ schien das auf seine staatliche Dignität so stolze Bayern und nahm diese Bundes­ genossen, wie es sie fand. Also neben dem Problem Preußen besteht das Problem Bayern, und daneben weitere reichsorganisatorische Fragen wie z. B. die der Län­ der alter Ordnung und der durch Dezentralisation Preußens zu schaffenden Länder neuer Ordnung. Diese Andeutung genügt, um schnell zum Bewußtsein zu bringen, was an organisatorischen Fragen hier noch offen ist und eine wie phantastische Fehlkonstruktion das Verhältnis von Reich und Preußen heute darstellt. Durch den Preußenschlag vom 20. Juli ist eine bedeutende Korrektur eingetreten. Der Leipzi­ ger Staatsgerichtshof hat sogar in seinem Urteil diese Fehlkonstruktion an sich als eine Gefahrenquelle anerkannt und es als eine Gefährdung der öffentlichen Sicher­ heit und Ordnung im Reiche behandelt, wenn in der gefährlichen Lage Deutsch­ land zwischen der preußischen Politik und der Reichspolitik eine offene Divergenz und Gegensätzlichkeit zutage tritt. [7] Zu den handgreiflichen Fehlkonstruktionen ist aber noch folgendes hinzuge­ kommen: Alle fundamentalen Einrichtungen der Weimarer Verfassung, also der positiv geltenden Reichsverfassung, d. h. der Quelle alles dessen, was wir legal und Legalität nennen, sind heute völlig denaturiert. Eigentlich ist nur noch die Ein­ richtung des Reichspräsidenten geblieben. Der Reichstag ist kein Reichstag mehr, wie ihn die Weimarer Verfassung sich gedacht und gewollt hat. Ein Reichsrat, in dem mehr geschäftsführende als normale Landesregierungen sitzen, in dem heute sogar amtsenthobene preußische Minister statt der wirklichen Exekution des Lan­ des Preußen auftreten,[8] ist nicht mehr ein Reichsrat im Sinne der Weimarer Ver­ fassung. Das Parlamentsmitglied ist kein unabhängiger Abgeordneter im Sinne der Verfassung mehr, sondern etwas ganz anderes, nämlich ein in einer sehr festen Or­ ganisation und Disziplin marschierender, zum Teil, wie Sie wissen, sogar unifor­ mierter (Heiterkeit) -, nun, wie soll man es nennen - jedenfalls etwas anderes als der ausschließlich seinem Gewissen unterworfene, von niemandem abhängige freie Mann, der im Gegensatz zum Parteiinteresse die Interessen des ganzen Vol­ kes vertritt, wie es die Verfassung von ihm voraussetzt. Und schließlich, was mir etwas besonders Wichtiges zu sein scheint: der Volkswille selbst, der in der Volks­ vertretung zum Ausdruck kommen soll, ist ebenfalls problematisch geworden. Denn die Wahl ist keine Wahl mehr.[9] Heute wird nicht mehr gewählt. Es ist ein-

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fach eine Trägheit des Sprachgebrauchs, daß wir den Vorgang, der sich im letzten Jahre wiederholt abgespielt hat, immer noch als eine Wahl bezeichnen. (Heiter­ keit). In Wirklichkeit ist es so, daß ungeheure Massen von Wählern, d. h. stimm­ berechtigten Staatsbürgern, vor 5 bis 10 Kandidatenlisten gestellt werden und nun die Möglichkeit haben, zu optieren. Das ist etwas ganz anderes als eine Wahl. Man kann sich zwischen fünf völlig heterogenen, in ihren letzten Konsequenzen gerade­ zu phantastisch auseinanderlaufenden Möglichkeiten, zwischen total verschiede­ nen Weltanschauungen, total verschiedenen Staatsformen, total verschiedenen Wirtschaftssystemen entscheiden. Also eine in kurzen Zwischenräumen wiederhol­ te Option ungeheuersten Stiles, die in der Weise vor sich geht, daß fünf von den angeblichen Wählern völlig unabhängige, im tiefsten Geheimnis und in der unkon­ trolliertesten Weise zustande gekommene Listen (Heiterkeit) einer Masse von 40 Millionen Menschen vorgehalten werden und diese Masse nun in die mit den fünf Listen bezeichneten fünf Hürden hineingeht. Die statistische Aufnahme über die­ sen Vorgang (Heiterkeit) soll in einem gefahrvollen kritischen Moment, in einer geradezu verzweifelten Situation, das Mittel der politischen Willensbildung und Entscheidung sein. Man kann sich nicht deutlich genug zum Bewußtsein bringen, wie sehr der Vor­ dergrund unserer „legalen“ Einrichtungen und Institutionen sich vom Wesen der Sache und vom Sinn und Geist der Verfassung entfernt hat. Wenn wir heute vom konstruktiven Verfassungsproblem sprechen, so ist es das mindeste, was man von einem verantwortungsbewußten Nachdenken über diese Dinge verlangen kann, daß man wieder zu den wirklich sozialen Kräften des deutschen Volkes zurück­ kehrt und sich von der vordergründigen und irreführenden parteipolitisierenden Kostümierung, die notwendigerweise zu dem bekannten und horrenden, heute von allen Seiten mit größter Selbstverständlichkeit geübten Mißbrauch aller legalen Formen führen mußte, entschieden abwendet. Denn nicht nur der Reichstag ist nicht mehr Reichstag, wie sich ihn die Verfassung denkt, die Wahl nicht mehr eine Wahl, der Abgeordnete nicht mehr ein Abgeordneter, der heutige Reichsrat nicht mehr ein Reichsrat, sondern das Vertrauens- oder Mißtrauensvotum ist auch kein regierungsbildendes Votum im Sinne eines parlamentarischen Systems mehr, weil zu einem solchen Mißtrauensvotum die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Über­ nahme der Regierung gehört. Infolgedessen ist nicht nur der Völkswille an der Quelle, wo er entspringen soll, bei der Wahl, sofort in fünf Kanäle abgeleitet, die auseinanderfließen und niemals zu einer Einheit kommen, sondern es ist auch die parlamentarische Abstimmung über die Regierungsbildung in der gleichen Weise sofort in vier bis fünf verschiedene Richtungen auseinandergerissen, die niemals zu einer positiven Einheit kommen können. Man kann aus irgendwelchen Gründen mit irgendwelchen taktischen Manövern vielleicht noch eine 51 %ige Mehrheit ad hoc zusammenbringen, um zu beweisen, daß eben doch noch eine 51 %ige Mehr­ heit zusammenkommt. Aber ein positives Programm auf lange Sicht, ein planvol­ les Handeln, wie es in der Lage des Deutschen Reiches heute notwendig wird, kann sich bei diesen Methoden der Willensbildung unmöglich ergeben.

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Das ist die Situation, von der wir ausgehen müssen. Jetzt erhebt sich die Frage: Wo liegt die Ursache der Fehlkonstruktionen und was ist die Quelle aller dieser Entstellungen und Denaturierungen der verfassungsmäßigen Einrichtungen und Begriffe? Ich darf hier, um eine Antwort auf diese Frage zu geben, an ein bekanntes und oft mißverstandenes, auch mir oft fälschlich angehängtes Schlagwort anknüpfen, an diese berühmte Redewendung vom „totalen Staat“.[10] Diesen totalen Staat gibt es. Die Wendung zum totalen Staat ist heute überall zu erkennen, ebenso aber auch der Versuch, nun aus dem totalen Staat herauszukommen und wieder staats­ freie Sphären zu finden. Die Redewendung vom totalen Staat bezeichnet etwas ganz Offensichtliches und Unbestreitbares, nämlich, daß in einem Übergangssta­ dium wie der Gegenwart früher bestehende Unterscheidungen von Staat und Nichtstaat, staatlich und politisch, Staat und Wirtschaft, Staat und Kultur, Staat und andere staatsfreie Sphären, solche Unterscheidungen, die für unseren Ge­ schmack und unsere politische Überzeugung die Voraussetzung jeder vernünftigen Ordnung und Freiheit sind, im weitesten Maße entfallen und zunächst eine allge­ meine Vermischung eintritt. Es stellte sich namentlich heraus, daß die großen wirt­ schaftlichen Fragen nicht als „rein wirtschaftlich“ behandelt werden konnten, son­ dern daß sie gleichzeitig politische Fragen sind. Versuche, den Staat so zu organi­ sieren, daß man ein rein politisches Parlament auf die eine Seite und eine zweite Kammer, ein reines Wirtschaftsparlament,[ll] auf die andere Seite setzte, mußten mißlingen, und zwar in einer besonders rühmlosen Weise, weil sich sofort heraus­ stellte, daß es überhaupt kein interessantes wirtschaftliches Problem gibt, das nicht ganz von selbst ein politisches Problem im weitesten Sinne des Wortes und damit auch ein staatliches Problem ist. Das war der eine Grund dafür, daß all die alten schönen Unterscheidungen von Staat und Wirtschaft, Staat und staatsfreier Gesellschaft entfielen. Sie mußten in­ folge der neuen demokratischen Organisation entfallen. Die alte Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Wirtschaft war nach 1919 in Deutschland schon deshalb nicht mehr aufrechtzuerhalten, weil die staatliche Willensbildung in den Händen von politischen Parteien lag, deren Interessen und Motive wesentliche wirtschaftliche Not waren. Dazu kommt noch der Eindruck, den man überall von den wachsenden technischen Machtmitteln jedes modernen Staates bekommen muß. Heute ist auch der schwächste Staat, jede irgendwie in der Geschäftsführung sich noch behauptende Regierung eines ganz kleinen deutschen Landes infolge der Waffen, die ihr die moderne Technik liefert, so stark, daß sie die Barrikadentech­ nik der früheren Revolutionen und Straßenkämpfe kaum noch zu fürchten braucht. Selbst in dem entwaffneten Deutschland ist eine Regierung im Vergleich zu den Machtmitteln eines früheren noch so absoluten Fürsten ungeheuer stark und mäch­ tig. Die moderne Technik der Bewaffnung macht jeden Gedanken an Widerstand unmöglich und führt zu ganz neuen Mitteln der staatlichen Herrschaft sowohl wie des Widerstandes. Die moderne Technik der Massenbeeinflussung, Instrumente wie der Rundfunk oder der moderne Film mit allen ihren Möglichkeiten der Mas-

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sensuggestion, muß notwendig, wenn nicht in die Hand, so doch sicher unter die Kontrolle des Staates kommen; und es gibt heute auf der ganzen Welt keinen noch so liberalen Staat, der nicht in der Sache sehr intensive Kontrolle über das früher so freie Gebiet der „Meinungsbildung“ ausübt. Die Pressefreiheit wird aus traditio­ nellen Gründen noch in spezieller Weise respektiert. (Heiterkeit). Aber in keinem Staate der Welt, er mag sich, wie gesagt, noch so liberal gebärden, dürfte jemand im Rundfunk sich so äußern, wie man es sich in der Presse immerhin noch erlau­ ben darf, und niemand dürfte im Film Dinge sichtbar machen, die man in der Presse, ganz gleich, ob sie rechts- oder linksradikal ist, doch noch darstellen darf. [12] Der Eindruck dieser neuen technischen Machtmittel des modernen Staa­ tes dürfte ein weiterer Grund dafür sein, daß die Wendung vom „totalen Staat“ geläufig geworden ist. An dieser Stelle nun vermischen sich zwei Dinge in einer höchst irreführenden Weise. Weil es sich hier, wie ich gleich zu zeigen hoffe, um den Kern aller heuti­ gen Verfassungskonstruktionen handelt, darf ich hier schnell eine These aufstellen: Der heutige deutsche Staat beruht auf einer sonderbaren Verbindung von totalem Staat und schwachem Staat. Wie haben eine Totalisierung in dem Sinne, daß alle Lebensgebiete politisiert worden sind. Aber wir haben nicht einen totalen Staat in einem bolschewistischen Sinne, der unserer Staatsvorstellung auch wohl kaum ent­ spräche. Wir haben einen totalen Staat nicht einmal im faschistischen Sinne, der wieder eine andere Form dieses totalen Staates darstellt. Sondern wir haben eine durch eine Mehrheit von Parteien, wenn ich so sagen darf, mediatisierte und par­ zellierte totale Gesellschaft. Wir haben keinen totalen Staat, aber wir haben totale Parteien, d. h. politische Parteiorganisationen, die in sich total sind, die nicht nur ihre Mitglieder total von der Wiege bis zur Bahre erfassen und ihnen die nötige Weltanschauung (Heiterkeit), die nötige richtige Auffassung von Kultur, Wirt­ schaft, Innenpolitik und Außenpolitik beibringen, sie also total okkupieren, wenn ich einmal so sagen darf, und keine außerparteiliche Sphäre ihres Daseins, weder ihres öffentlichen noch ihres privaten Daseins, freilassen. Wir sind auch schon so weit, daß diese Totalisierung und damit Politisierung des gesamten menschlichen Daseins alle anderen sozialen Verbände, insbesondere die der Selbstverwaltung, auf die wir in Deutschland früher mit Recht stolz sein konnten, entstellt und dena­ turiert hat.[13] Die kommunale Selbstverwaltung namentlich hat infolge der Parla­ mentarisierung, wie man weiß, in weitestem Maße nicht mehr die Stadt, die Ge­ meinde als solche mit ihren lokalen Interessen, mit ihrer lokalen Eigenart, zum Inhalt, sondern sie ist ebensosehr ein Stützpunkt bestimmter politischer Parteien geworden, die das, was an Autonomie hier vorhanden ist, im Interesse einer oft sehr zentralisierten, das Gegenteil von lokaler Selbstverwaltung darstellenden Par­ tei benutzen. Auch mit unserem „Föderalismus“ verhält es sich ähnlich.[14] Von dem Sonder­ problem Bayern abgesehen, ist die bundesstaatliche Selbständigkeit der einzelnen Länder in weitem Maße nur noch ein Stützpunkt gewisser politischer Parteien, die nicht auf das Land als solches angewiesen sind, die aber die staatlichen Machtmit-

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tel, die die Verfassung einem Lande gibt, im Sinne ihrer oft sehr zentralisierten Partei benutzen. Es wäre also z. B. denkbar, daß eine Landesregierung, die, sagen wir in Dessau, der Hauptstadt von Anhalt, regiert und die staatliche Selbständig­ keit Anhalts, die Autonomie und Eigenwüchsigkeit der deutschen Länder mit al­ lem föderalistischen Pathos geltend macht, sofort bei Bayern Sukkurs findet - da die ganze Angelegenheit natürlich sofort ein prinzipiell föderalistisches Problem wird -, und daß diese eigenwüchsige Anhalter Regierung ihre Direktionen in Wirklichkeit vielleicht aus Moskau, vielleicht aus München (Heiterkeit), vielleicht aus Berlin bekommt. Im Interesse einer ganz anders gearteten parteipolitischen Organisation, die sich der staatlichen Selbständigkeit eines Landes nur als Partei­ stützpunkt bedient, kann sich heute die Autonomie des Landes gegenüber dem Reich geltend machen und, wenn das Reich eine parteipolitisch anders geartete Re­ gierung hat, den „Föderalismus“ gegen das Reich mobilisieren. Diese Verwirrung des ganzen organisatorischen Systems beruht darauf, daß das Deutsche Reich zu einem Parteien-Bundesstaat[15] geworden ist - ein Novum in der Verfassungsge­ schichte. Das ist die Wirklichkeit unseres Verfassungslebens: und von der Wirklichkeit muß man ausgehen, wenn man ernsthaft an solche Fragen wie die der Verfassung und der Verfassungsreform herangehen will. Die fest organisierten politischen Par­ teien haben diesen Zustand herbeigeführt. Jede Partei, die sich nicht entschließen kann, total zu werden, kommt in diesem System unter die Räder. Sie muß als poli­ tische Partei total werden, um sich behaupten zu können, ob sie will oder nicht will. Der einzelne Staatsbürger, der angeblich in unmittelbarer, direkter Wahl sei­ nen Abgeordneten wählt, ist längst mediatisiert. Entweder ist er organisiertes Par­ teimitglied - dann ist er von der totalen Partei erfaßt - oder er ist das berühmte Treibholz, das ziemlich direktionslos und besinnungslos hin und her fluktuiert und dadurch nun den Ausschlag gibt, das ist ohne jede Übertreibung und ohne jede Karikatur das wahre Bild unserer verfassungsmäßigen Zustände. Die Wirklichkeit ist die totale Partei, die alles mediatisiert hat.[16] Alles, was an Selbstverwaltung, Bundesstaatlichkeit, sozialen Selbstorganisationen vorhanden ist, ist ebenfalls auf diese politischen Parteien angewiesen, solange es keinen selbständigen, starken Staat gibt. Was bleibt als Ausweg? Ich sehe keinen anderen Ausweg als den Versuch, ge­ genüber diesen totalen Parteien, die statt des totalen Staates in Deutschland herr­ schen, den Gedanken zur Geltung zu bringen, den der Herr Reichsfinanzminister soeben in einer, wie mir scheint, überaus schlagenden und glücklichen Formulie­ rung von seinem Sachgebiete her entwickelt und dahin zusammengefaßt hat, daß er sagt: Ein starker Staat in einer freien Wirtschaft.[17] Es handelt sich nämlich darum, daß der Staat wieder Staat wird und das, was nicht Staat ist, nicht mehr gezwungen wird, politisch zu sein, um nicht totgetreten zu werden. Es handelt sich darum, daß ein von den alles mediatisierenden totalen Parteien unabhängiger Staat, eine unabhängige Regierung, ein unabhängiges Be-

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amtentum wieder imstande ist, die Geschäfte so zu führen, wie es im Interesse des Ganzen notwendig wird, und daß nun gegenüber diesem unabhängigen Staat das wiederum wachsen und sich entfalten kann, was im 19. Jahrhundert in einer groß­ artigen Weise als deutsche Selbstverwaltung gewachsen ist.[18] In einer Produktivität, die beispiellos ist, hat das deutsche Volk nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf kulturellem und anderem Gebiet eine große Zahl von Selbstorganisationen geschaffen, die von der Selbständigkeit, von der Autonomie des Sachgebietes ausgehen, auf dem sie gewachsen sind, und die heute, wie gesagt, alle durch das System einer Mehrzahl totaler Parteien mediatisiert und entstellt werden. Diese Selbstorganisation wieder zu sich selbst zu brin­ gen, sie von der falschen politischen Kostümierung zu befreien, um sie dann wie­ der Auge in Auge mit einem starken und unabhängigen Staate zu stellen, das scheint mir der Kern des Verfassungsproblems zu sein, vor dem wir heute stehen. Demgegenüber ist die Frage der formellen Verfassungsänderung eine zweite Fra­ ge. Das Ziel klar im Auge zu behalten, ist wichtiger, als mit schnellen und voreili­ gen Institutionen, Flickwerk und Reformomamenten den Weg zu verbauen. Es scheint mir also notwendig zu sein, zunächst einmal diesen unabhängigen, parteipolitisch unabhängigen Staat und diese unabhängige freie Selbstverwaltung, die sich auf ihrem Gebiete nach den ihr bekannten Gesetzen des Gebiets, auf dem sie sich bewegt, entwickelt und entfaltet, herbeizuführen. Das Erste ist klare und strenge Unterscheidung. Auch hier berühre ich mich, und zwar von ganz anderen Ausgangspunkten her, mit den Ausführungen des Reichsfinanzministers. Vor allem muß ein Begriff in Deutschland wieder geläufig werden, der bisher gerade im Zeit­ alter des totalen Parteienstaates völlig in Vergessenheit geraten ist, und zwar nicht nur in der Wirtschaft, sondern namentlich leider auch im Beamtentum, ein Begriff, für den es vorläufig nur ein schwerfälliges fremdsprachliches Wort gibt: Inkompa­ tibilitäten oder Unvereinbarkeiten. [19] Es gibt gewisse Dinge, gewisse Tätigkei­ ten, gewisse Funktionen, aber auch gewisse Bezugsquellen und Einkommensmög­ lichkeiten, die inkompatibel sind, die ein und derselbe Mensch nicht in seiner Per­ son vereinigen kann. Bisher hat man das oft genug mißachtet. Man konnte gleich­ zeitig nicht nur Reichstagsabgeordneter, Reichsratsmitglied, Landtagsabgeordne­ ter, hoher Beamter, Aufsichtsratsvorsitzender in zahllosen verschiedenen Gremien sein und hunderte von Funktionen heterogenster Art auf seine Person vereinigen, man mußte es sogar tun, um in diesem System seinen politischen Einfluß und sei­ ne Position halten zu können. Deutschland war, ohne Übertreibung gesagt, das Land der grenzenlosen Kompatibilitäten geworden. (Heiterkeit.) Der einzige Orga­ nismus, der sich aus diesem System der unbegrenzten Inkompatibilitäten heraus rein gehalten hat, war die Reichswehr; sie war die Insel in diesem Meer unbe­ grenzter Kompatibilitäten, in welchem alles mit allem vereinbar schien. Jetzt zeigt sich der Ansatz zu einer neuen Entwicklung und hebt sich die kon­ struktive Linie einer neuen Verfassung deutlich heraus. Es handelt sich einfach darum, sie im Auge zu behalten und sie sofort zu verwirklichen, sie weder durch

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falsche Reformen zu gefährden noch in irgendeine Zukunft zurückzuschieben. Die Methode der Verwirklichung ist natürlich ein Problem für sich. Ich glaube aber nicht, daß man mit der Frage nach der Methode der Verwirklichung, wie es ja ei­ gentlich, und in normalen Zeiten mit Recht, einem Praktiker naheliegt, anfangen müßte. Man sagt allerdings mit Recht: Was nützen mir richtige Ziele, wenn ich sie nicht erreichen kann, was nützen mir wunderbare Verfassungen, wenn sie niemals Wirklichkeit werden können? Als Empfehlung irrealer Dinge sind meine Ausfüh­ rungen natürlich nicht gemeint. Ich will nicht von utopischen Dingen sprechen, sondern von dem, was ich als Wirklichkeit sehe und auch realisierbar vor Augen sehe, was aber natürlich noch zahlreichen Störungen und Residuen aus anderen Zeiten, falschen Kostümierungen, falschen Ideologien usw. unterliegt. Aber die Methode der Realisierbarkeit kann nicht der Anfang sein. Man tut gut daran, sich erst klarzumachen, was - selbstverständlich nur im Rahmen des Möglichen - nun das Richtige ist, und dann erst die Frage der Methode zu stellen, denn wenn wir mit taktischen Fragen beginnen, so wird auch von den vernünftigsten Zielen nicht mehr sehr viel übrigbleiben. Sonst müßten wir in die Rechenkunst hineinsteigen, die sich damit beschäftigt, was in dem zu erwartenden Parlament als Koalitions­ möglichkeit gegeben ist. (Heiterkeit.) Kein praktischer Politiker kann sich dieser Art Wissenschaft heute ganz entziehen. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß es richtig ist, das Verfassungsproblem und den Inhalt der wünschens- und erstrebens­ werten Reform von diesen Methoden abhängig zu machen. Was insbesondere den Gedanken eines Oberhauses [20] angeht - ich halte dieses Wort für sehr unglücklich, für ein Residuum aus anderen Zeiten, die leider nicht mehr vorhanden sind (Heiterkeit) -, also sagen wir genauer: der Gedanke einer zweiten Kammer hat seinen Sinn darin, daß diese zweite Kammer ein Schauplatz eben der vom Staate unabhängigen, dem Staate entgegentretenden, auch einer ech­ ten Opposition fähigen Selbstverwaltung sein soll. Die Unterscheidung von Staat und Wirtschaft soll keine Trennung und Isolierung, sondern intensivste Zusam­ menarbeit und intensivste gegenseitige Beeinflussung sein. Wenn es gelänge, eine solche zweite Kammer als den Schauplatz dieser echten, aus der Sache selbst her­ aus gewachsenen Selbstverwaltung zu bilden, dann wäre es gut. Ich habe aber ein Bedenken, das ich hier nicht verschweigen will. Derartige Institutionen legen ei­ nen bestimmten Zeitpunkt fest und verbauen damit leicht eine Entwicklung. Es ist heute so, daß die meiner Ansicht nach erstrebenswerte Zusammenarbeit zwischen einem starken Staate und einer freien, sei es wirtschaftlich, sei es kulturell, Selbst­ verwaltung faktisch ohne irgendeine Verfassungsänderung versucht werden kann. Ohne eine einzige neue Normierung ist hier ein großer Spielraum gegeben ! Dessen sollte man sich erst einmal bedienen, ehe man mit vorschnellen neuen Verfassun­ gen, Teilreformen oder neuen Institutionen kommt. Man darf bei Verfassungen mit Normierungen nicht beginnen. In diesem Sinne gehöre ich zur ältesten deutschen Schule in der Rechtswissenschaft: ich glaube nicht, daß unsere Zeit, insbesondere das deutsche Volk im heutigen Moment, den Beruf zur Verfassungsgesetzgebung hat; diesen Beruf spreche ich ihm nach den Erfahrungen von Weimar und auf

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Grund einer gewissen Sachkenntnis heute einfach ab. (Heiterkeit.) Ich weiß aber, daß es gar nicht darauf ankommt, schöne Verfassungen im französischen oder im Sowjetstil zu machen. Ich glaube, es ist richtiger und keineswegs ein Zeichen nied­ rigeren geistigen Niveaus, wenn wir diese konstruktive Gesamtlinie erkennen: der starke Staat gegenüber seiner freien Selbstverwaltung, beide voneinander unter­ schieden, aber in intensivster Zusammenarbeit. Dann müssen wir, was möglich ist, unter Ausnutzung legaler Möglichkeiten und in einer Zeit des Mißbrauchs aller legalen Formen natürlich auch unter einer gewissen Ausnutzung von Interpretati­ onsmöglichkeiten (Heiterkeit) diese Zusammenarbeit herbeiführen. Es hat sich herausgestellt, daß die Methode der Interpretationsmöglichkeiten ihr Gutes hat. Wer sich darauf versteift hätte, etwa im Jahre 1924 oder 1926 oder 1928 ein Aus­ führungsgesetz zu Artikel 54[21] oder nähere Bestimmungen über die Stellung des Reichspräsidenten oder ein Ausführungsgesetz zu Artikel 48 zu machen, [22] hätte die schönsten und richtigsten Normierungen aufstellen können, er hätte es be­ stimmt falsch gemacht, denn alle Möglichkeiten der Anpassung der politischen Entwicklung an das Notwendige hätte er damit abgeschnitten. Es ist also, wie mir scheint, durchaus loyal, und nicht etwa der Trick raffinierter Juristen, denen es sozusagen durch einen Dreh gelungen wäre, aus dem Artikel 48 das zu machen, was aus ihm geworden ist.[23] Im Gegenteil, die heutige Praxis des Artikels 48 enthält eine durchaus vernünftige Anpassung und, von der Seite des Staates her gesehen, reine Notwehr gegenüber dem Mißbrauch aller verfas­ sungsmäßigen Einrichtungen, insbesondere gegenüber dem Mißbrauch der Befug­ nisse, die die Verfassung dem Parlament gibt, und gegenüber einem Parlament mit negativen Mehrheiten, das zu keinem einzigen positiven Beschluß fähig ist, das aber gegen jedes denkbare Programm und gegen jeden denkbaren Plan automa­ tisch eine - eigentlich müßte sie hundertprozentig sein - negative Mehrheit hat. Es ist ja sozusagen das Existenzprinzip der Partei, daß sie als Partei gegen den Staat ist. (Heiterkeit.) Gegenüber diesem Mißbrauch sämtlicher verfassungsmäßiger Be­ fugnisse und der allgemeinen Denaturierung der verfassungsmäßigen Einrichtun­ gen ist der vielgescholtene Mißbrauch des berüchtigten Artikels 48 nur eine loyale Gegenwehr und eine ganz unentbehrliche Anpassung an das, was von seiten des Staates unbedingt geschehen mußte. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten und einen großen Spielraum, ohne neue Insti­ tutionen durch bloße Regierungs- und Verwaltungspraxis so viel zu erreichen, daß, wenn es gutgeht, ein Erfolg möglich wäre, und daß die Autorität, die der Erfolg schafft, nun als Basis dafür dient, diese Methode, wenn es später notwendig ist, auch formell in irgendwelche legalen Institutionen und geschriebenen Ordnungen hineinzugießen. Aber das Erste ist und bleibt die strenge Unterscheidung des Staa­ tes von dem, was nicht Staat ist, ein starker Staat gegenüber einer freien, d. h. staatsfreien Sphäre und die intensivste Zusammenarbeit. Aus der staatsfreien Sphä­ re heraus hat, wie ich eben schon sagte, das deutsche Volk so viel an Selbstorgani­ sation entwickelt, an intelligentester, arbeitsfähigster Selbstorganisation, daß das parteipolitische Kostüm, in welchem diese Selbstorganisationen in den Pariamen-

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ten aufzutreten gezwungen sind, geradezu wie ein Sacklaufen der wirklichen Kräfte erscheint (Heiterkeit), die unter dem Zwang der Parteipolitisierung gar nicht mehr sehen können, was ihre aus ihrem Sachgebiet sich ergebende Richtung und was ihr Ziel ist. Die Kraft und die Fähigkeit des deutschen Volkes aber, sich in der Sphäre einer freien Selbstverwaltung zu bewegen, sich dort seine Formen, Ver­ bände, Einrichtungen zu schaffen und mit ihnen in voller Freiheit einem Staate gegenüberzutreten, in einer echten Spannung, einer echten Opposition, aber auch in einer echten Zusammenarbeit, nicht mediatisiert durch totale Parteien, das scheint mir etwas durchaus Mögliches und, sobald es erkannt ist, wahrscheinlich auch der Zustimmung des größten Teiles des deutschen Volkes sicher. Die unmittelbare Kraft des deutschen Volkes, das in lebendiger Produktivität fortwährend solche Formen der Selbstverwaltung und Selbstgestaltung findet, ist erstaunlich groß. Sie hat es nicht nötig, sich hinter veralteten Ideologien und veral­ teten Organisationen zu verstecken. Diese gewaltige Arbeitskraft und Organisati­ onsfähigkeit des deutschen Volkes wird, das hoffe ich sicher, durch alle Vielstaaterei und föderalistische Zersplitterung, aber auch durch alle parteipolitischen Zer­ spaltungen hindurch, seinen starken Staat und seine Einheit finden. (Lebhafter all­ seitiger Beifall.)

Anmerkungen des Herausgebers1 [1] Bez. s. auf Reden von v. Papen und seines Innenministers v. Gayl im Herbst 1932. Am 12. 9. 1932, nach der Reichstagsauflösung, forderte v. Papen im Rundfunk die Herauf­ setzung d. Wahlalters, die Schaffung einer ersten, ständisch geprägten Kammer und eine „organische Verbindung der Preußischen Regierung mit der des Reiches.“ Die Forderung nach einer ersten Kammer mit bes. Zuständigkeiten stand auch im Mittelpunkt der „Reichsreform“-Rede v. Papens in München am 28. 10. vor dem Bayerischen Industriellen-Verband. Die Reform sollte u. a. dazu dienen, die Notverordnungsgewalt des RPr entbehrlich zu ma­ chen. Die Abhängigkeit vom Art. 48, bes. auf wirtschaftlichem Gebiet, wurde auch von v. Gayl in seiner Rede zur Verfassungsfeier am 11. 8. bedauert: die Präsidialdiktatur könne keine Lösung sein. (Dies wohl deshalb nicht, weil die Möglichkeit des Parlaments, Notver­ ordnungen aufzuheben, zu Reichstagsauflösungen zwang.) v. Gayl forderte u. a. in seiner Rede die Heraufsetzung des Wahlalters, die Persönlichkeitswahl, Zusatzstimmen für Familienemährer, Mütter und Kriegsteilnehmer sowie eine Sicherung gg. den „überspitzten Parla­ mentarismus“, die „im Ausbau der Rechte des Reichsrats oder im Einbau einer berufsständi­ schen Kammer in die Konstruktion der Volksvertretung oder (aus) einer Mischung von bei­ den“ bestehen sollte; vgl. auch v. Gayls Rede ü. die Reichs- u. Verfassungsreform v. 28. 10. 1932 vor dem Verein Berliner Presse, die sich stärker auf das Problem Reich - Länder u. auf Verwaltungsfragen bezog; Text in: Akten d. Reichskanzlei, K. H. Minuth (Bearbeiter), Das Kabinett von Papen, Bd. 2, 1989, S. 820 - 828; vgl. die Schriften des Chefideologen der Papen-Regierung, W. Schotte, Das Kabinett Papen, Schleicher, Gayl, 1932, u. ders., Der Neue Staat, 1932 (Interviews). Zur Kritik vgl.: O. Kirchheimer, Verfassungsreaktion 1932, Die Gesellschaft, 1932, S. 415 ff.; E. Fraenkel, Verfassungsreform und Sozialdemokratie, ebd., S. 486 ff.; H. A. Winkler, Der Weg in die Katastrophe, 1987, S. 734 ff. Vgl. auch: Herr-

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fahrdt, Der Aufbau des Neuen Staates, 1932; O. Kühnemann, Arbeiterkammem gegen Ober­ haus, Dt. Republik, 7 / 1932, S. 233 ff.; E. Schiffer, Sturm ü. Deutschland, 1932, S. 285 ff.; ders., Oberhaus, Der Ring, Beilage, 7 / 1932, S. 75 f.; C. Düssei, Berufsständische Verfas­ sungspolitik, 1932. Zur Orientierung: E. R. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1005- 1012, 1058 ff., 1973 ff. [2] Zur Diskussion um eine Reichsreform, gewöhnlich in Verbindung mit einer Verfassungs- und Verwaltungsreform u. d. Forderung nach einer Überwindung des „Dualismus“ Preußen - Reich vgl. u. a.: Bund z. Erneuerung d. Reiches (Hrsg.), Reich u. Länder, 1928; ders., Die Reichsreform, I, 1933; O. Koellreutter, Integrationslehre u. Reichsreform, 1930; A. Medicus, Reichsreform und Länderkonferenz, 1930; C. Schmitt, Reichs- u. Verfassungsre­ form, DJZ, 1931, Sp. 5 ff.; zusammenfassend: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 667 ff.; A. Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen, Bd. II, 1967, S. 59 99; ausführlich G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, 2. Aufl. 1987, S. 563 - 612; vgl. a.: L. Biewer, Reichsreformbestrebungen i. d. Weimarer Republik, 1980. Die territoriale Reichsreform scheiterte auf der „Länderkonferenz“ am 5. / 6. 7. 1929 durch das bayerische Veto. Besondere Bedeutung kommt hier dem vom ehemaligen Reichskanzler Hans Luther (1879 - 1962) im Januar 1928 gegründeten „Bund zur Erneuerung des Reiches“ (sogen. „Luther-Bund“) zu, der mit zahlreichen Memoranden und seinen Zeitschriften „Reichsre­ form“ und „Reich und Länder“ in die Debatte eingriff, sich jedoch durch seine Forderung, Preußen zu einem vom Reiche regierten „Reichsland“ zu machen und so als Bundesstaat zu beseitigen, unpopulär machte; vgl. Brecht, a. a. O., S. 72 f. - Interessant das Buch eines eng mit Schmitt bekannten Zeitzeugen: Gerhard Günther (1889 - 1976), Das werdende Reich. Reichsgeschichte und Reichsreform, 1932. - S. a. die Dokumente bei: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, IV, 1991, S. 462 - 472. - Zu der Reichsreform Papens vgl. Fn. [1]. [3] Schmitts eigene Pläne zu einer Wahlrechtsreform schildert: P. Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode 1888 - 1933), in: H. Quaritsch (Hrsg.), Com­ plexio Oppositorum - Über Carl Schmitt, 1988, S. 71 ff., hier: S. 88 ff. Ansonsten: H. Nawiasky, Betrachtungen zur Reform des dt. Reichstagswahlrechts, ZfP, 1927, S. 544 ff.; J. Schauff (Hrsg.), Neues Wahlrecht, 1931; F. A. Hermens, Demokratie und Wahlrecht, 1933 (wohl der bekannteste Autor auf diesem Gebiet, der die Krise Weimars z. T. im Verhältnis­ wahlrecht begründet sah). - Zur Kritik d. Verhältniswahl vgl. u. a.: M. Weber, Politik als Be­ ruf (1919), in: Gesammelte polit. Abhandlungen, 3. Aufl., 1958, S. 543 f.; R. Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919), in: Staatsrecht­ liche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 60 - 67; G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, S. 114 ff. Hermens griff das Thema noch des öfteren auf, vgl. seine Beiträge aus den Jahren 1931 u. 1932 in: Zwischen Politik u. Vernunft, 1969, S. 77 - 105 u.: Demokratie oder Anarchie?, 1951. - Die verschiedenen Anläufe z. einer Wahlreform erörtert: F. Schäfer, Zur Frage d. Wahlrechts i. d. Weimarer Republik, FS Brüning, 1967, S. 119 ff.; Huber, Dt. Ver­ fassungsgeschichte, VI, 1981, S. 349 ff. (mit Lit.). Zur Wahlrechtsreform unter berufsständi­ schen Gesichtspunkten: Fr. Schmidt, Vom Wesen und Wert der parlamentarischen u. d. be­ rufsständischen Idee, 1929, S. 89 ff., 97 f. u. ö. [4] Unter „Regierungsproblem“ versteht Schmitt hier wohl die Frage, ob der RPr in Kri­ senzeiten die Kabinettsbildung bestimmen darf und e. Regierung auch gg. eine Mehrheit des RT im Amt halten darf; dazu u. a.: H. Henfahrdt, Die Kabinettsbildung nach d. Weimarer Verfassung unter d. Einfluß der politischen Praxis, 1927 (bejahend), u. E. Wolgast, Die ^ Sinai, (iroUruum, Nomos

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Kampfregierung, 1929 (ablehnend). Vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 48 ff. Vgl. a. vorl. Bd., Antwort an Kempner, FN [12], S. 469. [5] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 158 ff.; ders., Inhalt u. Bedeutung d. zweiten Hauptteils d. RV, in: Anschütz / Thoma, Handbuch d. Dt. Staatsrechts, II, 1932, S. 572 ff. (Ndr. in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 181 ff.); R. Smend, Verfassung und Ver­ fassungsrecht, 1928, S. 94 ff.; Huber, Bedeutungswandel der Grundrechte, AöR, 1933, S. 1 ff.; ders., Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 94 ff. (mit Lit.). Vgl. auch Anschütz, Die Ver­ fassung des deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 505 ff. [6] Einer d. Vertreter Bayerns beim Leipziger Prozeß, Staatsrat v. Jan, wies auf zwischen dem 22. u. 26. 9. 1870 stattfindende Verhandlungen über den Eintritt d. süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund hin, bei denen Bayern angeblich die Sequestration mit Erfolg abgelehnt hätte; v. Jan unterstellte die fortdauernde Wirkung dieses Vertrages, was Bilfinger, über „die Rosine aus dem bayerischen Archiv“ spottend, zurückwies; vgl.: Preussen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsge­ richtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, 1933, S. 199 ff. u. 224 f. In Wirklichkeit handelte es sich dabei aber nur um ein Protokoll der Münchener Konferenzen v. Sept. 1870, das einige bayerische Vorschläge zur kommenden Reichsverfassung enthielt, je­ doch keine Vereinbarung o. Geheimvereinbarung; das betr. Protokoll war bereits 1925 veröf­ fentlicht worden (M. Doeberl, Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, 1925, S. 90 ff.); vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, 2. Aufl. 1978, S. 737 f., „Die Le­ gende vom bayerischen Geheimvertrag“. - Zu d. Konflikten Bayern - Reich während der Weimarer Republik vgl. u. a.: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 210 ff., S. 257 f., S. 347 ff. Allgemein zum Verhältnis Reich - Länder vgl. die gleichnamige Zeit­ schrift u. Huber, Bd. VI, S. 67 - 81; auch G. Schulz, Zwischen Demokratie u. Diktatur, I, 2. Aufl., 1987, S. 215-449. [7] Vgl.: Preussen contra Reich, a. a. O., S. 514 f. Zu den Konflikten Reich - Preußen vgl. u. a.: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1005 ff., S. 1014 ff. Zu den spezif. Problemen Preußen u. z. s. Übergewicht im Reich („Dualismus“) vgl. u. a. Schulz, FN [6], S. 249 ff.; Huber, VII, 744 - 779. [8] Soll wohl heißen: „Statt der wirklichen Exekutive“ o. ä. [9] Vgl. ab hier die starken textlichen Überschneidungen mit: Schmitt, Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, Europäische Revue, Februar 1933, S. 65 ff.; Ndr. in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 185 ff. u. ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 359 ff. [10] Den Begriff „totaler Staat“ benutzte Schmitt wohl zum ersten Mal in einem Vortrag vor dem Reichswirtschaftsrat am 5. 12. 1930, vgl. den Bericht „Carl Schmitt über den totalen Staat“, Der Ring, 21. 12. 1930, S. 912. Von da ab wurde der Begriff als Schlagwort populär, vgl. etwa: Dr. C. Ungewitter, Aktivierung der Wirtschaftspolitik - Der totale Staat - Genera­ tionen und Parteigruppierung - Durch „Sachintegration“ zum Staatsvolk, Vortrag auf d. Hauptversammlung d. Vereins z. Wahrung der Interessen d. ehern. Industrie Deutschland, Baden-Baden, 9. 5. 1931, Manuskriptdruck, S. 12: „Damit wird (durch Kelsen in dessen Werk „Allgemeine Staatslehre“, 1925, S. 39 ff. - G. M.) die Macht zum Selbstzweck erklärt und dehnt sich uferlos über d. ganze Leben aus, so daß heute schon Rechtslehrer wie Carl Schmitt vom »totalen Staat4 sprechen, d. h. einem Staat, der alles gesellschaftliche Leben, einschließlich d. Wirtschaft, in sich einsaugt. Damit wird der Staat tatsächlich zum Levia-

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than, zum Allesverschlinger, wie schon d. englische Philosoph Hobbes den Staat nannte“ ein schönes Beispiel, wie der Begriff schon früh oszillierte. Schmitt setzte d. Begriff wohl erst mit s. Buch „Der Hüter der Verfassung“, 1931, S. 73 - 91, durch - zunächst bezogen auf den schwachen, „quantitativen“ totalen Staat Weimars, dann auf den starken, „qualitativ“ totalen Staat, in: Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, Europ. Revue, Febru­ ar 1933, S. 65 - 70 (vor d. Machtergreifung entstanden und als Hoffnung auf Schleicher zu verstehen, vgl. Anhang zu „Starker Staat und gesunde Wirtschaft“, vorl. Bd., S. 85 - 91). Die Entstehungsgeschichte d. Begriffs schildert Schmitt in einem Brief an J. P. Faye v. 5. 9. 1960, abgedr. in: P. Tommissen, Antitotalitair Denken in Frankrijk, Brüssel 1984, S. 52 - 54; vgl. auch Faye, Theorie der Erzählung, 1977, S. 63 ff., 72, u. ö.; ders., Totalitäre Sprachen, II, 1977, S. 867 ff. Zur allgem. Geschichte d. Begriffs in Deutschland, der Anregungen d. ital. Faschismus („stato totalitario“) u. Emst Jüngers („Totale Mobilmachung“) aufnahm: M. Jänicke, Totalitäre Herrschaft, 1971, S. 36 ff. - Vgl. auch: H. O. Ziegler, Autoritärer oder tota­ ler Staat, 1932, u. E. Forsthoff, Der totale Staat, 1933 (zwei unterschiedliche Aufl.). Zur Po­ lemik gg. den Begriff i. Dritten Reich: G. Maschke, Nachwort zu Schmitt, Der Leviathan i. d. Staatslehre d. Thomas Hobbes, 1983, 2. Aufl., bes. S. 227 ff. [11] Z. Diskussion um eine berufsständische („erste“ o. „zweite“ Kammer, z. T. auch als „Oberhaus“ konzipiert u. als Ausbau d. Reichswirtschaftsrates gedacht) vgl. u. a. : H. Herrfahrdt. Das Problem d. berufsständischen Vertretung von d. franz. Revolution bis z. Gegen­ wart, 1921; Der berufsständische Gedanke. Sonderheft d. „Tat“, Okt. 1925; E. Tartarin-Tamheyden, Die Berufsstände, ihre Stellung i. Staatsrecht u. d. Deutsche Wirtschafts Verfassung, 1922; ders., Berufsverbände u. Wirtschaftsdemokratie, ein Kommentar z. Art. 165 d. RV, 1930; E. List, Der Berufsständegedanke i. d. dt. Verfassungsdiskussion seit 1919, Diss. Lpzg. 1930; ders., Gedanken z. Einführung e. ersten Kammer, Schm. Jb., 56, I, 1932, S. 77 ff.; H. Bußhoff, Berufsständisches Gedankengut z. Beginn d. 30er Jahre i. Österreich u. Deutsch­ land, ZfP, 1966, S. 451 ff. - Grundsätzlich: J. H. Kaiser, D. Repräsentation organisierter Inter­ essen, 1956, bes. S. 54 ff., S. 349 ff. - Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 390 ff., leistet einen Überblick ü. die miteinander unvereinbaren konservativen („Orga­ nismus“), liberal-pragmatischen („Selbstverwaltung d. Wirtschaft“), sozialistischen („Räte“) u. gewerkschaftlichen („Wirtschaftsdemokratie“) Deutungen d. Art. 165 u. d. Scheitern d. Wirtschaftsrates, dem es nie gelang, die „Antinomie v. Interessenvertretung u. interessen­ fremden Sachurteil“ zu überwinden. Die zahllosen Varianten des Ständegedankens in Deutschland, bis hin zum am ital. Faschismus sich orientierenden Korporativismus, zum Uni­ versalismus Spanns und zum katholischen Solidarismus untersucht so kritisch wie gründlich: Justus Beyer, Die Ständeideologien der Systemzeit u. ihre Überwindung, Darmstadt 1941. Zur Geschichte des Reichswirtschaftsrates, der nie definitive Form gewann, da man sich we­ der über s. Befugnisse noch s. Zusammensetzung einigen konnte und der am 5. 4. 1933 auf­ gelöst wurde (als „Umwandlung“ firmiert), vgl. u. a.: G. Bernhard, Wirtschaftsparlamente, 1924; Fr. Glum, Selbstverwaltung der Wirtschaft, 1924, bes. S. 130 ff., 159 ff.; ders., Der deutsche und der französ. Reichswirtschaftsrat, 1929; F. J. Dotzenrat, Wirtschaftsräte und die Versuche zu ihrer Verwirklichung in Preußen - Deutschland, 1933; vgl. a. L. Wittmayer, Die Weimarer Reichs Verfassung, 1922, S. 405 - 25; Nawiasky, Die Grundgedanken d. Reichs Ver­ fassung, 1920, S. 156 f.; Poetzsch, Handausgabe d. Reichs Verfassung, 1921, S. 210 if.; Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 378 - 383, der nach sehr krit. Bemer­ kungen zu dem Schluß kommt: „Und dennoch ist der Grundgedanke richtig. Unser Wirt­ schaftsleben ... kann nur dann gesunden, wenn die Sachkunde die Herrschaft gewinnt über die bloße Parteipolitik!“; Finger, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1923, S. 334ff. v

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(begnügt sich mit Dokumenten); v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre u. Wirklichkeit, 1924, S. 191 ff., kritisiert die Unklarheit und Vieldeutigkeit d. Art. 165; vgl. auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 742 ff.; Dokumente bei Huber, Dokumente zur dt. Verfassungsgeschichte, IV, 3. Aufl., 1991, S. 188 ff. - Ob d. Art. 165 eine selbständige öffentl. Wirtschaftsverfassung beinhalte, wurde von den meisten Verfassungsjuristen eher bezweifelt, vgl. u. a.: Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 96 ff.; Huber, Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, 1931; ders., Wirtschaftsver­ waltungsrecht, 1932, S. 32 ff.; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 742 ff.; bejahend hingegen: F. Neumann, Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung, Die Arbeit, 1930, S. 569 ff.; Fr. Giese, Grundriß des Reichs­ staatsrechts, 5. Aufl. 1930, S. 107, spricht immerhin davon, daß „in die politische Verfassung des Reiches . .. eine selbständige Wirtschaftsverfassung eingebaut“ sei. - Zur Theorie von d. Wirtschaftsverfassung vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 1025 ff. Der Be­ griff geht wohl auf Hugo Sinzheimer zurück, der damit eine selbständige, neben der Staats­ verfassung aufgerichtete, „besondere Gesellschaftsverfassung“ meinte; vgl. s. Ausführungen in: Verhandlungen d. Nationalversammlung, 21. 7. 1919, Bd. 328, S. 1748 ff.; Sinzheimer wies dabei aber eine Rätediktatur zurück. Vgl. auch: G. Brüggemeier (Hrsg.), Entwicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus, I, 1977, S. 314 - 19, 324 - 27, 379 - 88 (verschie­ dene Materialien u. Dokumente). Vgl. auch FN [20], S. 69. [12] Zum Problem der Presse und damit der gesellschaftlichen Macht sowie zur Notwen­ digkeit staatlicher Kontrolle über Funk und Film vgl. Schmitts Diskussionsbeitrag auf dem Dt. Soziologentag, Berlin 1930, in: Schriften der dt. Gesellschaft f. Soziologie, 1930, S. 56 ff. - Am ursprünglich privatrechtlich organisierten Rundfunk d. Weimarer Republik war ab 1926 mit der Gründung der Reichsrundfunkgesellschaft die Reichspost mit 51,2 % beteiligt. Die Regierung v. Papen leitete im Juli 1932 eine Reform ein, überführte die privaten Anteile in die öffentl. Hand u. erhöhte den Einfluß des Reichsinnenministers zu Lasten der Reichs­ post; vgl. dazu G. Holthausen (= E. Forsthoff), Die Rundfunkreform, Dt. Volkstum, 2. Sep­ temberheft 1932, S. 766 f.; allgemein: ders., Presse, Rundfunk und Staat, ebd., 1. Maiheft 1932, S. 347 ff. u. St. (= W. Stapel), Rundfunkpolitik, ebd., 1. Januarheft 1933, S. 7 if. - H. Bausch, Der Rundfunk im politischen Kräftespiel der Weimarer Republik, 1956, bewertet S. 85 ff. die Reform als günstig für die spätere NS-Gleichschaltung. [13] Zur Politisierung der Gemeinden und zu ihrer Auslieferung an die Parteien: E. Forst­ hoff, Die Krisis der Gemeindeverwaltung, 1931, bes. S. 58 ff.; vgl. auch A. Köttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung, 1931. - Diese „in der Nachkriegszeit eintretende Politisierung im Sinne eines bestimmenden Einflusses des Parteibetriebes auf die öffentliche Willensbildung . . . (hat) wesentlich zu den Zuständen geführt, die eine sparsame, rationelle und sachliche Verwaltung erschweren und die Finanznot steigerten“, so J. Popitz, Der künfti­ ge Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932, S. 8. [14] Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 94 ff. u. ders., Die Weimarer Ver­ fassung, in: Staatsbürgerkunde und höhere Schule, Breslau 1931, S. 34 ff. Rückblickend u. auch d. Problem d. Reichsreform u. d. „Preußenschlages“ erörternd: Huber, Verfassung, .1937, S. 179- 183. [15] Der Ausdruck stammt von E. R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 18 ff., der angesichts des Leipziger Prozesses zum ,Preussenschlag‘ die „Front des Partei­ enbundesstaates“ untersuchte. Der Parteienbundesstaat ist „ein Staatsgemenge, das auf einer

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Mischung und Überschneidung der staatlichen Organisationen der Länder und der parteipoli­ tischen Organisationen der Interessen- und Weltanschauungsgruppen beruht.“ (Ebd., S. 18.) [16] Vgl. dazu Schmitts rückblickender, auch die NS-Zeit einbeziehender Kommentar in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 366. [17] Wann v. Schwerin-Krosigk diese Formel zum ersten Mal benutzte, konnte nicht er­ mittelt werden. Vgl. aber s. Ausführungen vor d. Hauptausschuß d. RDI a. 14. 12. 1932, en­ dend mit „ehrbare Wirtschaft in einem sauberen Staat, freie Wirtschaft in einem starken Staat“; Schulthess’ Europ. Geschichtskalender, 1932, S. 222. [18] Vgl. d. klass. Darstellung: H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung i. 19. Jhdt., 1950. - Zur gemeindlichen Selbstverwaltung i. d. Weimarer Republik, die sich auf Art. 127 d. WRV gründete („Gemeinde u. Gemeindeverbände haben d. Recht d. Selbstverwaltung in­ nerhalb d. Schranken d. Gesetze“) vgl. u. a.: Forsthoff, D. öffentl. Körperschaft i. Bundes­ staat, 1931, bes. S. 100 ff.; H. Peters, Grenzen d. kommunalen Selbstverwaltung, 1926, bes. S. 225 ff. Durch die Krise d. gemeindlichen Finanzwirtschaft kam es i. d. letzten Jahren der Weimarer Republik immer mehr z. Einsetzung von Staatskommissaren i. d. Gemeinden; vgl. dazu die „Dietramszeller Verordnung“, 24. 8. 1931, RGBl. I, 453, Nr. 410, in der die Landes­ regierungen ermächtigt wurden, die erforderlichen Maßnahmen auch in Abweichung von be­ stehenden Landesgesetzen zu treffen. [19] Vgl. die bei Schmitt angefertigten Dissertationen von W. Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten (Inkompatibilitäten), AöR, 1930, S. 161 - 254, u. R. Büttner, Wirtschaft­ liche Inkompatibilitäten, Bochum 1933. S. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 183, 186, 189, 255, 272, 317 u. ders., Die Stellvertretung des Reichspräsidenten (1933), in: Ver­ fassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 351 - 358. [20] Außerhalb des Kreises um v. Papen wurde die Idee eines Oberhauses vor allem von E. Tatarin-Tamheyden propagiert; danach sollte die berufsständische Vertretung, sich bildend aus einem Kulturrat, einem Rechtsparlament für „öffentliche Berufe“ und einem Wirtschafts­ parlament, „eine oberste Volksvertretung aus sich . . . projizieren.“ Vgl. Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, 1930, bes. S. 233 ff.; Kopfzahldemokratie, organische Demokratie und Oberhausproblem, ZfP, 1926, S. 98 ff.; Verfassungsreform und Oberhausproblem, Deut­ sche Allgemeine Zeitung, 22. 11. / 7. 12. / 16. 12. 1932. Als verfassungspolitisch kaum trag­ bar für das Weimarer System sah u. a. H. Nawiasky ein Oberhaus an: vgl. ders.. Die Schaf­ fung eines Oberhauses, Reichsverwaltungsblatt und Preuß. Verwaltungsblatt, 19. 11. 1932, S. 930 ff. - Erstaunlicherweise plädierte auch Schmitts Schüler E. R. Huber für ein Ober­ haus, in dem Berufsverbände und Gewerkschaften „Präsentationsrechte“ besitzen sollten; vgl. Huber, Die Berufsverbände und der Staat, Dt. Volkstum, 1. Dezemberheft 1932, S. 953 ff. Der Reichsjustizminister a. D., E. Schiffer, Sturm über Deutschland, 1932, S. 285 ff., forderte ein Oberhaus im klassisch-liberalen Sinne als eine „die formale Demokratie ergänzende Ari­ stokratie.“ Vgl. auch FN [11], S. 68. [21] Art. 54 WRV lautete: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“ Die in der Spätphase Weimars immer bedeutsamere Rolle des RPr und Interpretationen der Verfassung wie Herrfahrdts „Kabinettsbildung“ (s. FN [4]) waren implicit gegen diesen Art. gerichtet. Vgl. E. Wolgast, Zum deutschen Parlamentarismus. Der Kampf um Artikel 54 der Deutschen Reichs­ verfassung, 1929.

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[22] Vgl. vorl. Bd., S. 38 - 43. [23] Trotz seiner extensiven Auslegung des Art. 48 (vgl. Die Diktatur des Reichspräsiden­ ten nach Art. 48 der Reichsverfassung, VVDStRl, 1924, S. 63 ff.; veränderter Ndr. in: Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 213 ff.) lehnte Schmitt lange Zeit die Zulässigkeit gesetzvertreten­ der Notverordnungen ab und plädierte statt dessen für eine Ausweitung besonderer Notbefug­ nisse. Ab 1931 bejahte auch Schmitt die Zulässigkeit solcher Notverordnungen, erklärte die Notverordnungsmacht jedoch nicht als in der alten Diktaturkompetenz enthaltenes, sondern als durch die Entwicklung zum wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustand hinzugetretenes Moment. Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 118 f. ; ders., Legalität und Legiti­ mität, 1932, S. 79; E. R. Huber, Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Weimarer Staats­ theorie, FS W. Weber, 1974, S. 31 ff.; Ndr. in ders., Bewahrung und Wandlung, 1974, S. 193 ff.

Anhang des Herausgebers Carl Schmitt hielt diesen Vortrag am 4. 11. 1932 auf der Hauptversammlung des „Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie, e. V.“. Der Tagungsort, vielleicht Ba­ den-Baden o. Berlin, konnte nicht ermittelt werden. Der Vortrag wurde als 15seitiges Manu­ skript gedruckt. - Man darf vermuten, daß Georg v. Schnitzler (1884 - 1962), Leiter d. Hoechst-Werke u. führendes Mitglied d. Vereins, die Einladung Schmitts initiierte o. förderte. Schmitt lernte v. Schnitzler während des I. Weltkrieges kennen, als beide beim Stellvertr. Generalkommando d. Bayerischen I. Armeekorps dienten - Schmitt als Leiter des Subrefera­ tes P 6, u. a. zuständig f. Überwachung d. Friedensbewegung u. der USPD, v. Schnitzler als Leiter des Subreferates P 5 (Presseprobleme u. Devisenhandel). Aus dieser Zusammenarbeit erwuchs eine lebenslange Freundschaft, die auch v. Schnitzlers Ehefrau Lilly, geb. v. Mallin­ krodt (1889 - 1981) einbezog; vgl. P. Tommissen, Schmittiana II, 1990, S. 115 f.; Schmittiana III, 1991, S. 156 ff. Schmitts Vortrag fand 12 Tage nach dem Leipziger Urteil zum Prozeß „Preussen contra Reich“ statt, durch den die mit Papens Reichsreform verbundenen Pläne zur Überwindung des Dualismus Preußen - Reich scheiterten; 2 Tage vor den Reichstagswahlen, bei der die NSDAP von bis dahin 230 auf 196 Mandate zuriickfiel. Da aber die KPD statt bisher 89 Mandaten 100 gewann, blieb die negative Reichstagsmehrheit erhalten. Der Berli­ ner Verkehrsstreik (3.- 7. 11. 1932) zeitigte eine taktische Zusammenarbeit von NDSDP u. KPD. Papen nahm zwar im Wahlkampf scharf gg. Hitler Stellung, sah sich aber, aufgrund d. Verweigerungshaltung d. eigenen Partei, d. Zentrums, gezwungen, mit Hitler in einen Brief­ wechsel zur Kanzlerfrage einzutreten. Da Hitler auf s. Kanzlerschaft beharrte u. die bloße Mitarbeit ausschlug, vollendete sich die „Herbstkrise“ d. Kabinetts Papen, das am 17. 11. zu­ rücktrat. Vgl. u. a. E. Eyck, Geschichte d. Weimarer Republik, II, 1956, S. 331 - 349; Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1128 - 1147. Eine Diskussion v. Schmitts Vortrag fand, zumindest unter Staats- und Verfassungsrechtlem, nicht statt; der die hier erörterten Motive weiter ausführende „Langnam-Vortrag“ v. 23. 11. 1932 fand weit stärkere Beachtung. - Allgem. zu d. damaligen Überlegungen: Chr. Gusy, Selbstmord o. Tod? - Die Verfassungs­ reformdiskussionen d. Jahre 1930 - 1932, ZfP, 4/1993, S. 397 - 417.

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den und können trennen. Das läßt sich nun einmal nicht ändern. Wer Interessen als solche organisiert, organisiert gleichzeitig immer auch Interessengegensätze und steigert durch die Organisierung vielleicht auch die Intensität der Gegensätze. Und wenn die so organisierten Interessengegensätze sich um einen Tisch zusammenfinden, so wird, wenn es einmal zu ernsthaften Interessenkonflikten kommt - und der Konfliktsfall ist doch gerade der Fall, der hier interessiert, denn daß wir uns über Nebensachen verständigen, ist selbstverständlich -, die Versammlung sich schnell in ihre Bestandteile auflösen. Die Gefahr der Sezession oder des Exodus einer Gruppe besteht fortwährend. Ich erinnere Sie an die Erfahrungen, die wir mit dem „Wirtschaftsbeirat“ vom Oktober 1931 gemacht haben. Er fiel, man möchte sa­ gen, prompt auseinander. [19] Ich erinnere ferner an die berühmte Erfahrung, die mehr oder weniger mit jeder Zusammenfassung verschiedenartiger berufsständisch organisierter Gruppen gemacht worden ist: soll ein Einheitsbeschluß Zustandekom­ men, so muß die unbedingte Parität aufgehoben und die Möglichkeit einer Über­ stimmung oder Niederstimmung geschaffen werden. Wenn jeder Berufszweig eine feste Quote hat und sein Stimmgewicht ein für allemal feststeht, läßt sich das Er­ gebnis im voraus berechnen; Mehrheitsbeschlüsse sind in solchen Fällen eigentlich sinnlos. Das gäbe nämlich Mehrheitsbeschlüsse, bei denen aber eine Koalition der Schuster und Bäcker den Stand der Binnenschiffer überstimmt; oder, was es auch schon einmal gegeben hat, bei denen in einem Interessengegensatz zwischen Koh­ le und Eisen die Berufsmusiker den Ausschlag gaben. Nicht, um gegen sehr interessante berufsständische Gedanken zu politisieren, sondern um Illusionen zu vermeiden, darf ich darauf hinweisen, daß die große und vielleicht auch etwas idealisierte mittelalterliche Geschichte der Berufsstände und ihrer Organisationen uns vor allem folgendes lehrt: Erstens haben diese mittelalter­ lichen Stände nicht etwa aus sich heraus den einheitlichen Staatswillen gebildet, sondern einem König oder einem Fürsten gegenübergestanden, und nur so war et­ was wie eine politische Gesamtwillensbildung möglich. Zweitens haben die Stän­ de niemals als Ganzes aller Berufsstände Beschlüsse gefaßt und nach Ständen ge­ trennt gestimmt; es gab keine Überstimmung eines Standes durch Mehrheitsbe­ schluß anderer Stände; Überstimmung des einen Standes durch einen anderen dürfte es in einem berufsständischen System überhaupt nicht geben und wäre ganz sinnwidrig. Drittens haben mittelalterliche Stände überhaupt nicht in unserem Sinne abgestimmt; auch innerhalb des Standes gab es nicht unser heutiges Problem der 51prozentigen Mehrheit; vielmehr stellte sich auf eine für uns korrumpierte Menschen unerklärliche Weise ohne Geschäftsordnungsmanöver von selber immer irgendeine Einmütigkeit heraus. Jedenfalls findet man in der Geschichte keine An­ haltspunkte dafür, wie dieses ganze System, mit unseren Methoden gehandhabt, hätte funktionieren können. Unsere arithmetischen Vorstellungen von der 51prozentigen Mehrheit, die die übrigen 49 Prozent Stimmen an die Wand drückt, hat es bestimmt nicht gegeben. Darauf läuft aber jeder moderne Abstimmungsmodus hin­ aus. Die Problematik dieser Dinge sollte man bei dem Ruf nach einer zweiten Kammer nicht übersehen.

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Es handelt sich bei einer solchen zweiten Kammer heute meistens darum, mit ihrer Hilfe den nicht sehr starken, autoritätsbedürftigen Staat zu stärken und ihm die Autorität, die er nicht hat, irgendwoher, aus Autoritätsresiduen früherer Zeit oder gar auf Vorschuß, zu verschaffen. Meiner Meinung nach wäre die Reihenfolge umgekehrt richtig. Erst ein starker Staat kann einer zweiten Kammer soviel Anse­ hen und Autorität verleihen, daß die Männer, die in diese Kammer hineinkommen, aus ihren ständischen Bindungen befreit werden und es wagen können, in einer auch nach außen hin die Respektabilität und die Vornehmheit wahrenden Weise sich einem einheitlichen Gesamtbeschluß zu unterwerfen, ohne sofort von ihren unzufriedenen Auftraggebern davongejagt zu werden. Man wird kein Oberhaus und keine zweite Kammer schaffen ohne einen starken Staat. Der starke Staat ist auch hier die erste Voraussetzung. Von ihm geht die ordnende Wirkung aus, die das Durch- und Gegeneinander der verschiedenen Interessen überwindet, wie ein Magnet die Eisenspäne ordnet. Sonst werden sie bestenfalls nur eine traurige Doublette des heutigen Reichstages organisieren. In der Geschichte moderner Verfas­ sungen hat die zweite Kammer, d. h. die nicht aus allgemeinen Wahlen hervorge­ gangene Kammer bisher normalerweise die Funktion gehabt, zu hemmen und zu retardieren. Sie soll gegenüber der unruhigen, revolutionär gesinnten, aus allge­ meinen Wahlen der im wesentlichen besitzlosen Massen hervorgegangenen ersten Kammer die Dauer, Kontinuität und Stabilität retten. Bei uns ist die erste, d. h. die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Kammer zu jeder Aktion unfähig. Soll eine neue zweite Kammer als Hemmung und Gegengewicht einer aktionsunfähi­ gen ersten Kammer gedacht sein, so ist sie eine in sich unklare Einrichtung; etwas in sich Aktionsunfähiges kann und braucht nicht mehr gehemmt werden. Soll aber die zweite Kammer die mangelnde Aktionsfähigkeit der ersten Kammer ergänzen oder sogar ersetzen, dann wird die erste Kammer wahrscheinlich einen neuen Im­ puls erhalten und sich wieder als Volksvertretung aufspielen können; die zweite Kammer wird dann das Schicksal des Reichswirtschaftsrates teilen, so daß sich die Frage erhebt, ob es wirklich gut und nützlich war, einer solchen ersten Kammer auf diese Weise wieder zu neuem Leben zu verhelfen. Solange der Gesichtspunkt des demokratischen Wahlbetriebes für Legalität und Legitimität entscheidend bleibt, wird eine gewählte Kammer unweigerlich die zweite Kammer entweder be­ seitigen oder zu ihrem bloßen Schatten und Abbild machen. Diese Bedenken sol­ len, wie gesagt, nicht den Gedanken einer zweiten Kammer widerlegen, sondern nur eine vorsichtige Hemmung gegen übereilte Institutionen einschalten. Ich weiß, wie nützlich eine zweite Kammer sein kann, und möchte sie auch als Endziel nicht ablehnen oder verwerfen. Ich darf aber, angesichts der schwer berechenbaren Zu­ stände im heutigen Deutschland, mein Augenmerk auf die unmittelbare Gegen­ wart, auf die nächste Zeit, soweit sie übersehbar ist, richten. Wir brauchen zuerst einmal einen starken handlungsfähigen, seinen großen Aufgaben gewachsenen Staat. Haben wir ihn, so können wir neue Einrichtungen, neue Institutionen, neue Verfassungen schaffen.

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Ich bin der Meinung, es ist sehr hohe Zeit und wir haben nicht mehr viele Mög­ lichkeiten, auch nicht mehr viel Spielraum für große Verfassungsexperimente. Ich gehe sogar noch weiter, wenn Sie mir erlauben, das als meine ganz persönliche Privatmeinung zu sagen: Das deutsche Volk hat keinen Beruf zur Verfassungsge­ setzgebung in dem gegenwärtigen Sinn von Verfassungsgesetzgebung. Ich halte das nicht für einen Fehler und nicht für eine Minderwertigkeit des deutschen Vol­ kes. Verfassungen im französischen Stile oder Sowjetverfassungen bringen wir höchstens als Imitation zustande. Und wenn wir nach einem Organisationsschema noch so kluger und tiefgründiger Art neue Institutionen entwerfen und verfas­ sungsrechtlich festlegen, so verbauen wir uns wahrscheinlich einen Weg, der frei bleiben muß. Wir haben ja das Beispiel der Improvisation von Weimar vor Augen. Eine Verfassung ist schnell gemacht, sie liegt, wenn es sein muß, in wenigen Minu­ ten fertig auf dem Tisch. Aber wenn sie einmal da ist, so wird man sie nicht leicht wieder los; sie ist dann nämlich eine Quelle der Legalität. Vielleicht ist das deut­ sche Volk heute nicht mehr in demselben Maße legalitätsbedürfig wie früher, und auch nicht mehr so legalitätsgläubig. [20] Vergessen Sie aber nicht, daß ein moder­ ner Staat und seine Bürokratie nach diesen Gesichtspunkten der Legalität funktio­ niert. Die Behörden gehorchen nur den legalen Vorgesetzten. Die Legalität ist zum Unterschied vom Recht in einem pathetischen Sinne - ein Funktionsmodus moderner Bürokratien und modernen Beamtentums. Ich spreche hier ganz nüch­ tern von der politischen Bedeutung der Legalität, und in dieser Hinsicht hat der Begriff noch einen ganz besonderen Wert, und zwar gerade auch für den starken Staat. Wenn wir jetzt eine neue Legalität improvisieren und neben die bisherigen Einrichtungen der Weimarer Verfassung, die von ihren Urhebern für nicht mehr als einen Notbau gehalten wurde, neue Einrichtungen setzen, so schaffen wir neue Legalitäten, und damit neue Schutzwälle für verschiedenartige Interessen, die so­ fort hinter den neuen legalen Wällen Deckung nehmen werden. Ich glaube daher, daß es richtiger ist, zunächst nicht durch neue Institutionen, sozusagen auf Vorschuß, Autorität zu schaffen. Wir sind in einer durchaus ähnli­ chen, nur noch akuteren Lage wie vor zwei Jahren. Die Regierung soll sich aller verfassungsmäßigen Mittel aber auch aller verfassungsmäßigen Mittel bedienen, die ihr zur Verfügung stehen und die sich in dem chaotischen Zustand als notwen­ dig erweisen. Sie soll einen unmittelbaren Kontakt mit den wirklichen sozialen Kräften des Volkes suchen. Die Arbeitsaufgaben sind groß genug. In den einleiten­ den Worten des Herrn Vorsitzenden ist eben bereits eine Reihe wichtiger derartiger Angelegenheiten genannt. Arbeitsdienstpflicht, Siedlungswesen, Wehrsport und Wehrhaftmachung der Jugend und vieles andere sind so große, gewaltige Aufga­ ben, daß eine Regierung, die mit allen Mitteln daran arbeitet und der es gelingt, mit den Kräften der sozialen Selbstorganisation des deutschen Volks wirklich zu­ sammenzukommen, Erfolge haben kann, die jeder anständige Deutsche aner­ kennt. [21] Aus der unmittelbaren Arbeit, aus der Lösung einer echten Arbeitsauf­ gabe ergibt sich ein Erfolg. Das ist möglich und nicht utopisch. Erst aus dem Er­ folg und der Leistung ergibt sich Autorität. Nicht umgekehrt. Man darf nicht mit

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einer Proklamation der Autorität anfangen. Darüber läßt sich heute niemand mehr betrügen. Ich muß arbeiten, zeigen, was ich kann, und diese Möglichkeit der Ar­ beit besteht. Wenn dann neben anderen formal verfassungsmäßigen Institutionen, die vielleicht stören wollen, aber deren Störungen zu beseitigen sind, neue Metho­ den, Gremien oder auch einzelne Personen sich bewähren, dann entsteht eine Au­ torität, der gegenüber, glaube ich, die Bereitwilligkeit des deutschen Volks zu fol­ gen und einen ehrlichen Erfolg ehrlich anzuerkennen sehr groß ist. Dann wird das Problem der verfassungsrechtlichen Legalisierung neuer Institutionen keine un­ überwindliche Schwierigkeit mehr bereiten. So also denke ich mir den Weg. Er setzt voraus, daß unmittelbar an die Arbeit gegangen wird. Er setzt ferner voraus, daß die große und starke Produktivität des deutschen Volkes, die in Jahrhunderten deutscher Geschichte immer wieder in der erstaunlichsten Weise hervorgetreten ist, fruchtbar gemacht wird. Aus unserem ei­ genen Erlebnis der letzten Jahrzehnte ist uns noch in Erinnerung, wie sich die Fä­ higkeit zur Selbstorganisation immer wieder bewährt hat: im Kriege, in der Nach­ kriegszeit, in Mobilmachung und Demobilmachung, in guten und in bösen Zeiten. Diese Fähigkeit zur Arbeit und zur Selbstorganisation bedarf nicht der parteipoliti­ schen Kostümierung, in der sie heute verunstaltet aufzutreten gezwungen wird. Gelingt es einer entschlußfähigen, zur Tat bereiten Regierung, diesen Zusammen­ hang zu finden und diese Kräfte unmittelbar zu erfassen, dann ist das, was nötig ist, auch möglich. Weitergehende organisatorische Verfassungsreformpläne braucht man nicht aufzugeben. Aber heute müssen sie zurückgestellt werden. Die Kräfte sind da. Sie warten nur auf den Anruf Werden sie erfaßt, dann sind auch wieder vernünftige Unterscheidungen möglich, insbesondere die von staatlicher Verwaltung, echter wirtschaftlicher Selbstverwaltung und individueller Freiheits­ sphäre. Dann wird auf der Grundlage solcher Unterscheidungen das deutsche Volk über alle Parteizerrissenheit, über alle Vielstaaterei hinweg seine politische Einheit und seinen starken Staat finden.

Anmerkungen des Herausgebers1 [1] Fritz Springorum (1886 - 1941), seit 1925 Generaldirektor der Hoesch AG u. seit 1930 Vorsitzender des Langnam-Vereins und der mit ihm eng verbundenen NMG (Nordwestdeutsche Gruppe d. Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller) hatte die Tagung mit einer Ansprache eröffnet, in der er „Einfachheit und Zweckmäßigkeit der staatlichen Ver­ waltung und Sparsamkeit der öffentlichen Hand“ forderte, sich für Persönlichkeitswahlrecht und Zweikammersystem aussprach, auf die Notwendigkeit einer Harmonisierung von Agrarund Industrieinteressen hinwies, sowie auf Probleme der kommunalen Arbeitsbeschaffungs­ politik und Popitz’ Pläne zur Gemeinde- und Finanzreform einging. Springorum, ähnliche Ideen wie Papen verfechtend, wurde zu einem scharfen Kritiker der wirtschafts- und sozial­ politischen Vorstellungen Schleichers; vgl. Papens Zusammenkunft mit ihm u. anderen Ruhrindustriellen am 4. 1. 1933, in: Papen, Vom Scheitern einer Demokratie, 1968, S. 343 f.

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[2] Vgl. J. Popitz, Der zukünftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemein­ den, 1932; ders.; Gemeindefinanzen und Wirtschaft, v. Industrieclub Düsseldorf als Manu­ skript gedruckt, Rede v. 11.5. 1932. - Zur Freundschaft und engen geistigen Zusammenar­ beit zw. Popitz u. Schmitt vgl. L. A. Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirt­ schaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, 1972. Lt. Bentin kam Schmitts Vor­ trag auf Popitz’ Initiative zustande und war mit Schmitt vorher abgesprochen, ebd., S. 113. [3] Auf der Tagung des Langnam-Vereins 1930, deren Thema „Die deutsche Wirtschafts­ krise, ihre Ursachen und die Möglichkeiten zu ihrer Behebung“ war, erklärte Schmitt als Dis­ kussionsredner, daß die Forderung nach einer Verfassungs- und Reichsreform „zu summa­ risch“ sei und die großen Schwierigkeiten verkenne. Der zu überwindende, schädliche status quo werde ermöglicht von den Kräften des Pluralismus, der Polykratie und des Föderalismus, denen ggü. die Reichsregierung „von ihren verfassungsmäßigen Mitteln“ energischeren Ge­ brauch machen müsse. Schmitt verteidigte das Berufsbeamtentum und die Reichsbürokratie gegen die Bürokratie der pluralistischen Mächte. Vgl. Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnam-Verein), Jg. 1930, Nr. 4, NF, 19. Heft, S. 458 - 64. Schmitts Beitrag wurde nachgedruckt u. d. T. „Eine Warnung vor falschen politischen Fragestellungen“ in: Der Ring, 30. 11. 1930, S. 844 - 45; erweitert u. umformuliert u. d. T. „Zur politischen Situation Deutschlands“ in: Der Kunst­ wart, Okt. 1930 - Sept. 1931, S. 253 - 256. [4] Vermutlich bezieht s. Schmitt hier auf Kritiken an s. Interpretation der Rolle des RPr und des „Preußenschlages“, vgl. etwa: H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz, VI (1930 / 31), H. 11 /12, S. 576 - 628; C. Herz, Der Kampf um Artikel 48, ebd., VII (1932), H. 12, S. 523 - 545; H. Mayer, Verfassungsbruch oder Verfassungsschutz? Staats­ rechtliche Bemerkungen zum Konflikt Reich - Preußen, ebd., S. 545 - 565. [5] Vgl. E. R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 18 ff. [6] Vgl. Preussen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Ver­ handlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, 1933, S. 143, 173 f., 458, 466. Gemeint ist hier Hans Nawiasky, daneben noch Staatsrat v. Jan, die Vertreter Bayerns beim Leipziger Prozeß. [7] Schmitts Argumentation ist hier fast identisch mit der von Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 69 ff. - Das Reichskammergericht, 1495 im Rahmen der später scheiternden Reichsreform durch Umwandlung des königl. Kammergerichtes gegründet, sollte den „Ewigen Landfrieden“ durchsetzen. Angesichts der Krise d. Reiches und der Aus­ einandersetzungen zwischen Kaiser und Ständen innerhalb des Gerichts, blieb es relativ machtlos und konnte u. a. die Fehde nicht abschaffen. 1526 siedelte das Gericht nach Speyer um, 1693 - 1806 führte es in Wetzlar mehr o. minder ein Schattendasein; vgl.: R. Smend, Das Reichskammergericht. Erster Teil. Geschichte und Verfassung, 1911, Ndr. 1965; H. Spangen­ berg, Die Entstehung des Reichskammergerichtes, ZRG, Germ. Abt., 46 / 1926, S. 231 ff.; H. Conrad, Dt. Rechtsgeschichte, II, 1966, bes. S. 161 ff.; Schröder, Das Reichskammergericht, Jurist. Schulung, 1978, S. 368 ff.; B. Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Hl. Römischen Reiches deutscher Nation, 1985; ders., Hrsg., Die politische Funktion des Reichskammergerichts, 1933. Vgl. a.: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I, 1988, S. 134 ff. (mit vielen Literaturhinweisen). - Den Reichshofrat, 1498 gegründet, 1527 reorganisiert, wollte der Kaiser „zu einem Ersatz für das ihm von den Reichsständen entwundene königliche Kammergericht“ ausbauen (Mitteis / Lieberich, Dt. Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992, S. 356). Die Macht der Stände war hier zurückgedrängt,

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der Kaiser war oberster Gerichtsherr; vgl.: 0. v. Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942, Ndr. 1970; H. Conrad, a. a. O., bes. S. 82 ff., 165 ff. Trotz des Übergewichts des Reichshofrates kam es zu ,,eine(r) unerfreuliche(n) Zweigleisigkeit der obersten Reichsjustiz, die durch konfessionelle Gegensätze noch verschärft wurde“ (Koschaker, Europa u. das Rö­ mische Recht, 1946, S. 228). [8] Symptomatisch f. Schmitt hier wohl das Denken des liberal-pazifistischen Sozialisten Fr. Oppenheimer, bei dem die Weltgeschichte als „Kampf zwischen dem ökonomischen und dem politischen Mittel“ definiert und das erstere als moralisch höherwertig und sich im Fort­ schritt der sozialen Evolution durchsetzend betrachtet wird. Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 73 ff. Als pro-kapitalistische, der Neuen Sachlichkeit ver­ pflichtete Variante z. Zt. v. Schmitts Vortrag: M. Ottopal, Antipolitik - Die Welt ohne Gren­ zen, 1931. [9] S. vorl. Bd., S. 66 f., FN [9], [10]. [10] S. vorl. Bd, S. 66 f , FN [10]; Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 109 ff. Zur Geschichte d. Begriffs im ital. Faschismus: M. Jänicke, Totalitäre Herrschaft, 1971, S. 20 ff. [11] Vgl. dazu die Dissertationen zweier Schmitt-Schüler: W. Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten (Inkompatibilitäten), AöR, 1930, S. 161 - 254, u. R. Büttner, Wirtschaft­ liche Inkompatibilitäten, Bochum 1933. [12] Aus der umfangreichen Lit. z. Art. 48 bes. für die letzten Jahre Weimars aufschluß­ reich: H. Muth, Das Ausnahmerecht. Versuch einer rechtsvergleichenden Darstellung, Diss. Köln 1932, Emsdetten 1932; K. Schultes, Die Jurisprudenz zur Diktatur des Reichspräsiden­ ten, Bonn 1934. [13] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 254. [14] Vgl. Schmitt, Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik, 1925; ders., Völker­ rechtliche Probleme im Rheingebiet, in: Probleme des deutschen Westens, 1929, S. 76 ff.; ders., Die politische Lage der entmilitarisierten Rheinlande, in: Abendland, 1929, S. 307 ff. [15] Dazu E. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, u. E. R. Hu­ ber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932, S. 5 ff. [16] Mit dem Oberbegriff „Wirtschaftsdemokratie“ lassen sich alle mit dem Art. 165 WRV verknüpften Hoffnungen auf eine „Wirtschaftsverfassung“ bezeichnen; sowohl eine Räteverfassung als auch eine sozialistische oder eine berufsständische Ordnung (vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 1035). Schmitt bezieht s. hier aber wohl auf die For­ derungen d. ADGB auf s. 13. Kongreß in Hamburg, 1928, wo es in einer Entschließung hieß: „Die Demokratisierung der Wirtschaft bedeutet die schrittweise Beseitigung der Herrschaft, die sich auf dem Kapitalbesitz aufbaut, und die Umwandlung der leitenden Organe der Wirt­ schaft aus Organen der kapitalistischen Interessen in solche der Allgemeinheit“ (zit. η. H. H. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 - 1933. Die öffentliche Bindung unterneh­ merischer Funktionen in der Weimarer Republik, 1967, S. 355). Dieses reformistische Kon­ zept beruhte vornehmlich auf Hilferdings Theorie vom sich verändernden, „organisierten Ka­ pitalismus“; vgl. Hilferding, Die Aufgaben d. Sozialdemokratie in der Republik, Ref. v. 26. 5. 1927, jetzt in: C. Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen - Schriften Rudolf Hilfe­ rdings 1904 bis 1940, Bonn 1982, S. 214 - 36; zum Thema auch: H. A. Winkler (Hrsg.),

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Organisierter Kapitalismus, 1974 u. G. Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideologie d. sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in d. Weima­ rer Republik (1914 - 1932), 1987. Nach Hilferdings Theorie war sowohl eine Machtergrei­ fung des Sozialismus auf parlamentarisch-gesetzgeberische Weise möglich, als auch eine steigende Konzessionsbereitschaft der neuen Industrien (bes. Elektro- u. Chemieindustrie) im Ggs. zur Schwerindustrie - ggü. den Gewerkschaften feststellbar. Vgl. auch: Theodor Leipart, Auf dem Weg zur Wirtschaftsdemokratie ?, 1928; F. Naphtali (Hrsg.), Wirtschafts­ demokratie, 2. Aufl. 1928 (dazu die Rez. von Huber, AöR, 1930, S. 262 ff.); B. Rauecker, Wirtschaftsdemokratie als nationale Aufgabe, 1929; H. Heinrichsbauer, Zur Kritik an der „Wirtschaftsdemokratie“, Der Arbeitgeber, 1930, S. 397 ff. Zur Reaktion d. Unternehmer auf die „Wirtschaftsdemokratie“ zusammenfassend: M. Schneider, Unternehmer und Demokratie - Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, 1975, S. 149 ff. [17] Vgl. die Klärungsversuche v. E. R. Huber: Rechtsformen der wirtschaftlichen Selbst­ verwaltung, Verwaltungsarchiv, 1932, S. 301 - 67; Selbstverwaltung der Wirtschaft, Dt. Volkstum, 1932, S. 883 - 89; Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 1057 (mit Literaturhin­ weisen). [18] Vgl. vorl. Bd., S. 67 f., FN [11]. [19] Zur Beratung eines neuen Wirtschaftsprogramms berief Brüning im Oktober 1931 den „Wirtschaftsbeirat“, der u. a. den wirkungslosen Reichswirtschaftsrat ersetzen sollte und aus 25 Vertretern der Industrie, des Handels, der Landwirtschaftskammem, der Gewerkschaf­ ten usw. bestand. Die Anregung dazu ging wohl von dem früheren Reichskanzler Wilhelm Cuno aus, der 1931 Generaldirektor der Hapag war. Brüning betrachtete diesen Beraterkreis eher rein taktisch und wollte die Vertreter wirtschaftlicher Interessen domestizieren. Aus Pro­ test gegen die Osthilfe-Politik des zuständigen Reichskommissars Schlange-Schöningen ver­ ließen bereits am 19. 11. 1931 die Vertreter der Landwirtschaft den Beirat, nach Verkündi­ gung arbeitnehmerfeindlicher wirtschaftspolitischer Leitsätze am 23. 11. auch die Vertreter der Gewerkschaften. „Die Erwartung, daß im Gegensatz zu dem durch ideologischen Streit funktionsunfähig gewordenen Parteien-Parlament ein auf die Gesamtheit der Wirtschaftsbe­ teiligten gegründetes berufsständisches Repräsentativorgan der Regierung eine sie zur Ent­ scheidung befähigende Veitrauensbasis bieten könne, erwies sich im Wirtschaftsbeirat von vornherein als Illusion.“ (E. R. Huber). - Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 885 ff.; H. Brüning, Memoiren, 1970, S. 456 ff.; K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Ausg. 1978, S. 387 ff. [20] Vgl. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 48, 446. [21] Springorum hatte lediglich vom „freiwilligen Arbeitsdienst“ (FAD) gesprochen. Die­ ser wurde am 5. 6. 1931, während der Regierung Brüning, eingerichtet. Die Regierung Papen baute den FAD durch eine Verordnung am 16. 7. 1932 weiter aus; im November 1932 er­ reichte der FAD seinen Höhepunkt und beschäftigte ca. 285 000 Dienstwillige. Die Arbeits­ dienstpflicht wurde erst am 26. 6. 1935 realisiert. Vgl. zu den politischen Aspekten und öko­ nomischen Hoffnungen bezüglich des FAD: H. Köhler, Arbeitsdienst in Deutschland, 1967; zu den pädagogischen Motiven: P. Dudek, Erziehung durch Arbeit - Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920 - 1935, 1988. - Die Regierung Brüning versuchte die Ost­ siedlung zu fördern, indem sie nicht-entschuldigungsfähige Güter durch Zwangsversteige­ rung in die öffentl. Hand überführte, was den Protest der großen Landwirtschaftsorganisatio­ nen und der Gläubiger hervorrief und zu einem Velo Hindcnburgs führte, dus den Sturz Brü-

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nings mitverursachte (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 966 - 970; dort weite­ re Lit.). Der Emährungsminister Papens, v. Braun, kündigte am 7. 10. 1932 neue Anstrengun­ gen in der Siedlungspolitik an, wies aber auf das Problem hin, genügend wirklich geeignete Siedler zu finden und neue Märkte zu erschließen. Schleicher versprach am 15. 12. 1932 eine weitere Intensivierung der Siedlung, wobei dem am gleichen Tage ernannten Reichskommis­ sar für Arbeitsbeschaffung, G. Gereke, eine Schlüsselrolle zufallen sollte, vgl. F. M. Fieder­ lein, Der deutsche Osten und die Regierungen Brüning, Papen, Schleicher, Diss. Würzburg 1966, S. 422 ff.; J. R. Nowak, Kurt v. Schleicher - Ein Soldat zwischen den Fronten, 1969, S. 1203 ff.; H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher, 1974, S. 237 ff. Allgemein zum Siedlungsproblem: W. F. Bruck, Die deutsche Siedlung, 1932; J. Schauff, Industriearbeit und landwirtschaftliche Siedlung, 1932; L. Grünbaum, Ar­ beitsbeschaffung und Siedlung, 1934; L. Preller, Sozialpolitik in d. Weimarer Republik, 1949, bes. S. 493 ff.; F. W. Boyen, Die Geschichte der ländlichen Siedlung, 1959 / 60, 2 Bde. - Das „Reichskuratorium für Jugendertüchtigung“ wurde am 13. 9. 1932 gegründet und sollte sowohl die Milizpläne Schleichers fördern als auch die Jugendlichen an den Staat her­ anführen, dementsprechend wurde es von der NSDAP bekämpft („Konkurrenzgründung ge­ gen die SA“). Vgl. Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, 1962, S. 161 ff., 231 ff., 286 ff. u. H. Köhler, a. a. O., S. 215 - 228. Im Zusammenhang mit dem FAD und dem Reichs­ kuratorium muß das „Notwerk der deutschen Jugend“, gegründet am 24. 12. 1932, gesehen werden, das sich mit der Ausgabe von Mahlzeiten, beruflicher Schulung und „sinnvoller gei­ stiger und körperlicher Betätigung“ um arbeitslose, aus dem FAD ausgeschiedene Jugendli­ che kümmern sollte; bei der Planung dieser Institution war Schmitts enger Freund, Oberst­ leutnant Eugen Ott, führend beteiligt, vgl. Köhler, a. a. O., S. 211.

Anhang des Herausgebers Carl Schmitt hielt diesen Vortrag am 23. 11. 1932 auf der Mitgliederversammlung des „Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und West­ falen“ - nach einem Bonmot Bismarcks allgemein „Langnamverein“ genannt - in Düssel­ dorf. (Zur Geschichte dieser sehr einflußreichen, trotz des Namens eher schwerindustrielle Interessen vertretenden Organisation vgl. J. Winschuh, Der Verein mit dem langen Namen Geschichte eines Wirtschaftsverbandes, 1932; die Expansionsstrategie und Machtfülle des Vereins schildert B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik - Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, 1978, bes. S. 132 - 214.) Schmitts Vortrag wurde abge­ druckt in: Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interes­ sen in Rheinland u. Westfalen, Jg. 1932, Nr. 1, NF, 21. Heft, S. 13 - 32. Da die Mitgliederversammung unter dem Motto „Gesunde Wirtschaft im starken Staat!“ stand, wird Schmitts Text gerne dieser Titel zugewiesen, Schmitts einleitende Worte sind aber eindeutig. Der Vortrag wurde, bei inzwischen völlig geänderter politischer Lage, unter dem korrekten Titel „Starker Staat und gesunde Wirtschaft“ nachgedruckt in: Volk und Reich - Politische Monatshefte, Februar 1933, S. 81 - 94. Eine gekürzte Version findet sich in: G. Brüggemeier (Hrsg.), Ent­ wicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus - Materialien zum Wirtschaftsrecht, Band 2: Vom Faschismus bis zur Gegenwart, 1979, S. 92 - 105. Hier wird Schmitts Text fälschlich unter „Nationalsozialistische Vorstellungen von Wirtschaftsverfassung und Wirt­ schaftspolitik vor 1933“ eingeordnet; jetzt auch vollst. Ndr. in: P. Wende, Hrsg., Deutsche Reden, III, 1994, S. 539-62.

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Erster Teil: Verfassung und Diktatur

Schmitts Text berührt sich mit dem in u. Bd. zuvor abgedruckten Vortrag „Konstruktive Verfassungsprobleme“ v. 4. 11. 1932, aber auch mit dem Aufsatz „Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland“, Europäische Revue, Februar 1933, S. 65 - 70; Nachdrucke in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1940, S. 185 - 190, u. in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 359 - 366 (mit Erläuterungen). Trotz der starken Überschneidungen ist es jedoch falsch, den 1933 veröffentlichten Aufsatz mit dem LangnamVortrag mehr oder minder ineinszusetzen, wie dies J. P. Faye, Totalitäre Sprachen, II, 1977, S. 880 - 889, tut, der von der „Version 32“ und der „Version 33“ spricht. Der 1933 in der Europ. Revue publizierte Aufsatz sollte als „Vorbereitung zu einer nochmaligen Auflösung des Reichstags, die als letzte Kraftprobe der Regierung Schleicher gedacht war“ (so Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufs., op. cit., S. 365) dienen, um so Hitler den Weg zu versperren. Mit dem Scheitern Schleichers aber war „der Zweck des Aufsatzes entfallen“ (Schmitt, ebd.). Der Langnamvortrag bezog sich jedoch auf eine andere Lage. Schmitt weist hier recht deutlich die unter der Regierung Papen kursierenden Pläne zu einer Verfassungs- und Reichsreform zurück, wie sie auch vom Vorsitzenden des LangnamVereins, Fritz Springorum, in s. einleitenden Worten gefordert wurde (vgl. Mitteilungen . . ., a. a. O., S. 5 - 12). Hatte Schmitt sich in s. Schrift „Legalität und Legitimität“ („abgeschlos­ sen am 10. Juli 1932“) noch implicit zugunsten einer Reform geäußert, so daß die These, damals sei er „ein Mann Papens“ gewesen (vgl. H. Muth, Carl Schmitt in der deutschen In­ nenpolitik des Sommers 1932, HZ, Beiheft 1, 1971, S. 75 - 147) eine gewisse, gern über­ schätzte Plausibilität für sich beanspruchen kann, so bevorzugte er jetzt, 5 Monate später, die Ausschöpfung des Art. 48. Schmitt ging also, um es schlagwortartig zu sagen, von der „Le­ gitimität“ zur „Legalität“ zurück, vgl. dazu den Meinungsaustausch zw. E. R. Huber u. mir in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum - Über Carl Schmitt, 1988, S. 66 f. Man darf vermuten, daß sich Schmitt in der Zwischenzeit über die Aussichtslosigkeit und auch den illusorischen Charakter der Reformpläne Papens, Gayls, Schottes (vgl. dazu die Fußno­ ten d. vorhergehenden Aufsatzes „Konstruktive Verfassungsprobleme“) klar geworden war. Dieser Schluß läßt sich auch aus Schmitts Äußerungen ggü. E. R. Huber v. 26. / 27. 8. 1932 ziehen (op. cit., S. 59). Die Mitgliederversammlung des Langnam-Vereins fand knapp 3 Wochen nach den Reichs­ tagswahlen v. 6. 11. 1932 statt, bei der die NSDAP 34 Mandate verlor, so daß die von Schlei­ cher konzipierte Strategie aussichtsreich schien. Zur gleichen Zeit befand sich Papen bereits in der Krise, u. a. aufgrund der scheiternden Verhandlungen zur Regierungsumbildung (vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1146 ff.). Letzteres wurde den anwesenden Mitgliedern auch deutlich durch ein Telegramm Papens, der persönliches Mitglied des Langnam-Vereins war; Papen entschuldigte darin sein Fehlen mit dem Hinweis auf „die unge­ klärte innerpolitische Lage“ (Mitteilungen .. ., a. a. O., S. 69 f.). Man darf, etwas zugespitzt, behaupten, daß Schmitts Vortrag der Vortrag eines „Mannes von Schleicher“ war, dessen Konzepte hier recht deutlich vertreten wurden - während die führenden Mitglieder des Lang­ nam-Vereins damals durchaus noch zu Papen neigten bzw. schon bald sich einem Arrange­ ment mit Hitler näherten (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1214). In der Aussprache zu Schmitts Vortrag tat sich bes. Hans Luther (1879 - 1962) hervor, damals, 1930 - 33, Reichsbankpräsident, von 1925 - 26 Reichskanzler; vgl. die o. a. „Mittei­ lungen“, S. 56 - 67; dazu zustimmend und mit scharfer Kritik an Schmitt: Der deutsche Volkswirt, 25. 11. 1932, S. 20. - Luther kritisierte Schmitts Zurückweisung d. Reichsreform u. propagierte die Idee des von ihm geleiteten „Bundes zur Erneuerung des Reiches“ (auch „Lutherbund“ - vgl. dessen Vorschläge in d. Bänden: Reich und Länder, 1928, u. Die Reichs-

Starker Staat und gesunde Wirtschaft

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reform, 1933. Allgemein zu den verschiedenen Reformprojekten auch von anderer Seite: E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 667 - 679, u. G. Schulz, Zwischen Diktatur und Demokratie, I, 1987, S. 453 - 612). Luther bezweifelte, daß man „durch bloße Diktatur von oben auf die Dauer regieren“ könne und schrieb Schmitt eine „etwas locker geschürzte Auffassung des Rechtes“ zu, an der gerade die von einer hohen Rechtssicherheit abhängige Privatwirtschaft nicht interessiert sein dürfe, vgl. a. Luther, Vor dem Abgrund 1930 - 1933. Reichsbankpräsident in Krisenzeiten, 1964, S. 271 f. Luthers Polemik gegen Schmitt fand i. d. Presse - ebenso wie die Mitgliederversammlung überhaupt - starke Resonanz, vgl. u. a.: Vorwärts, 24. 11. 1932; Berliner Tageblatt, gl. Dat.; Dortmunder Generalanzeiger, gl. Dat.; Deutsche Bergwerkszeitung, gl. Dat.; ausführlicher u. sehr kritisch: Die Justiz, 27. 11. 1932, die Schmitts Vorschläge mit denen J. Heckeis (vgl. dessen Abhandlung Diktatur, Notverord­ nungsrecht, Verfassungsnotstand, AöR, 1932, S. 257 - 338) verglich und Heckeis „sittlichen Emst“ lobte, der bei Schmitt vermißt wurde. D. Grimm, Verfassungserfüllung - Verfassungs­ bewahrung - Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, in: H. A. Winkler, Hrsg., Die deutsche Staatskrise 1930 - 1933, 1992, S. 183 - 199, scheint schon Schmitts „Legalität und Legitimität“, 1932, für einen Versuch, „eine andere autoritäre Ordnung“ zu fördern, zu halten u. grenzt die Schrift von Heckeis Auf­ satz, dem es stattdessen um „die Rettung der Weimarer Verfassung“ gegangen sei, ab (ebd., S. 195 f.); sich dabei auch auf E. R. Huber beziehend. Seltsamerweise geht Grimm auf den Langnam-Vortrag nicht ein. Ausführlich berichtend und zustimmend d. Geschäftsführer d. Langnam-Vereins, M. Schlenker, Gesunde Wirtschaft im starken Staat, Stahl und Eisen, 24. 11. 1932, S. 1168 - 71. Zu der auf der Langnam-Tagung erörterten Problematik vgl. a.: L. A. Bentin, Zur wirtschaftl. Theorie d. totalen Staates in Deutschland, ZfP, 2/1972, S. 118 29. Eine grundsätzliche Kritik leistete Hermann Heller, Autoritärer Liberalismus?, Die Neue Rundschau, 1933, S. 289 - 298, Ndr. in ders., Gesammelte Schriften, II, 1971, S. 643 - 653. Heller konfundierte Schmitts „qualitativen totalen Staat“ mit Papens und Schottes auf einer ständischen Neuordnung gründenden „Neuen Staat“ (vgl. W. Schotte, Der neue Staat, 1932; dazu u. a. H. A. Winkler, Der Weg in die Katastrophe - Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, 1987, S. 734 - 741) und behauptete, daß hier „dem Konservativismus . . . alle antikapitalistischen Hemmungen genommen und der letzte Trop­ fen sozialen Öles entzogen“ werde und dieser sich aus Produktion und Distribution zurück­ ziehende Staat sicher keine Abstinenz von der Subventionspolitik bedeute, „sondern autoritä­ ren Abbau der Sozialpolitik“. Schmitts Vortrag umreißt aber nicht nur die Abwendung Schleichers von den Papen’sehen Verfassungs- und Reichsreformplänen, sondern unterstützt auch relativ deutlich Schleichers neue Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Widerstand Pa­ pens hervorrief (zu diesem Konflikt u. zum Unterschied beider Konzepte vgl. u. a.: H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher, 1974, passim, u. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1214). Begriff Papen - abgesehen von seinen weit geringeren Bemühungen, soziale Härten zu vermeiden - auch die Politik in der Krise noch stets als Chance, seinem „Neuen Staat“ näher zu kommen, so konzentrierte sich Schlei­ cher auf das konkrete, situationsbezogene Handeln (vgl. Huber, a. a. O., S. 1182). Interessant ist auch ein Vergleich von Schmitts Vortrag mit Schleichers Programmrede v. 15. 12. 1932, in dem viele der von Schmitt angesprochenen Themen konkretisiert wurden; vgl. Schulthess, Europäischer Geschichtskalender, 1932, S. 223 ff. - Vgl. auch (eher kommunistische Propa­ ganda, denn Argumentation): J. Petzold, Wegbereiter des dt. Faschismus. Die Jungkonserva­ tiven in d. Weimarer Republik, 1978, S. 250 ff.

Zweiter Teil

Politik und Idee

Absolutismus I. Der Absolutismus im Staat Das Wort Absolutismus wird meistens als Bezeichnung einer bestimmten Form des modernen Staats, der sog. absoluten Monarchie, gebraucht, weil es im Ggstz steht entweder zu der feudal, od. ständisch gebundenen Monarchie des Mittelalters od. der konstitutionellen u. der parlamentar. Monarchie des 19. u. 20. Jahrh. Der Name hat also gewöhnlich nur einen relativen histor. Sinn u. betrifft ein Entwick­ lungsstadium des modernen europ. Staats. Das Zeitalter des A. beginnt im 16. Jahrh. mit der Bildung souveräner Staaten in Spanien, Frankreich, England u. nach dem 30jähr. Krieg in dtsch. Territorien. Die französ. Monarchie unter Ludwig XIV. kann als die klassische Form dieses A. gelten. In ihr entsteht auch die berühmte Gleichstellung von Staat u. König: „L’État c’est moi“. Staatsrechtlich bedeutet die absolute Monarchie einen Staat, in welchem alle staatl. Macht unbeschränkt dem König zusteht, alle Ausübung staatl. Autorität auf seinen Willen zurückgeführt wird u. in seinem Auftrag u. Namen geschieht; „ein Staat, in welchem nur der Monarch unmittelbares Staatsorgan ist“ (Jellinek, Allg. Staatslehre, 677),[1] wäh­ rend alle übrigen staatl. Befugnisse durch den Monarchen verliehen werden. Der Monarch vereinigt die „Fülle der Staatsgewalt“, die plenitudo potestatis, in seiner Person u. überträgt ihre Ausübung widerruflich seinen Beamten; er kann an jedem beliebigen Punkt der Gesetzgebung, der Verwaltung od. der Rechtspflege eingreifen; sein Wille ist höchste Norm, mag sich dieser Wille nun in allg. Anordnungen od. in Einzelbefehlen äußern. Die „Allmacht“ des absoluten Fürsten ist geschicht­ lich der Ausdruck eines neuen Staatsgedankens, des modernen zentralisierten Ein­ heitsstaats, der sich in Europa infolge der Auflösung der kirchl. Einheit u. des dtsch. Kaisertums bildete, indem einzelne energische u. rücksichtlose Herren mit Hilfe militär. Macht u. eines vielfach landfremden Beamtentums (der fürstl. Kom­ missare) die ständischen u. feudalen Beschränkungen ihrer Macht auf ihrem Terri­ torium beseitigten u. so eine neue Ordnung schufen. Stehendes Heer u. Beamten­ tum sind die beiden Werkzeuge dieser Entwicklung. Die Untertanen werden vor den Bedrückungen der zahlreichen kleinen Feudalherren geschützt; privaten Feh­ den u. der Selbsthilfe des Einzelnen od. der Stände wird im Interesse der staatl. Ordnung ein Ende gemacht; Handel u. Gewerbe unter staatl. Aufsicht nach den Methoden des Merkantilismus gefördert. So tritt an die Stelle der bunten Menge feudaler u. ständischer Beziehungen, wie sie aus dem Mittelalter überliefert waren, der zentralisierte Einheitsstaat. Sein Ideal ist ein aufgeklärtes Beamtentum, das un­ ter der Leitung eines aufgeklärten Monarchen in verständiger Weise das Wohl der Untertanen fördert. Der Staat als Ganzes erscheint als ein großer, kunstvoll kon-

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Zweiter Teil: Politik und Idee

struierter, zweckdienlicher Mechanismus, eine unter der Leitung des absoluten Fürsten gut funktionierende Maschine. [2] Dieser A. berief sich zu seiner Rechtfertigung auf die Staatsräson, die ratio sta­ tus, um die rechtl. u. moral. Widerstände zu beseitigen, welche seiner Durchfüh­ rung im Weg standen. Rechtlich stand der Machtkonzentration des absoluten Für­ sten vor allem die große Menge wohlerworbener Rechte der Stände im Weg, mora­ lisch die Rücksicht auf überlieferte Verhältnisse. In der Renaissance erwacht das bloß techn. Interesse für die Eroberung, Behauptung u. Erweiterung polit. Macht u. verdrängt die bisherige mittelalterl. Art moral, u. rechtl. Bewertung. Machiavellis Buch vom Fürsten (1532, d. h. 5 Jahre nach dem Tod Machiavellis erschienen) ist das weltberühmte klassische Dokument dieser Auffassung u. ihres Ideals von polit. Virtuosität. Die Praxis des A. wird daher seit dem 16. Jahrh. vielfach als Machia­ vellismus bezeichnet, womit gesagt werden soll, daß sie Rechtsverletzungen u. Im­ moralitäten durch den polit. Zweck zu rechtfertigen sucht. Die an Machiavelli an­ knüpfende Lehre von der Staatsräson ist in einer großen ital., dtsch. u. französ. Literatur des 16. u. 17. Jahrh. erhalten. Staatsrechtlich wird der A. begründet durch die Lehre von der Souveränität als der höchsten, nicht abgeleiteten, keiner andern irdischen Gewalt unterworfenen staatl. Macht, die auch an die Gesetze nicht ge­ bunden, also in einem prägnanten Sinn legibus solutus ist. Der Begründer dieser Lehre ist der französ. Jurist Joh. Bodinus (s. d.), dessen grundlegendes Werk (Sechs Bücher über den Staat) 1576 erschien. Staatsräson u. Souveränität sind die beiden typischen Begriffe des A. vom 16. bis zum 18. Jahrh. Zum Verständnis dieses A. ist es wesentlich, die spezifischen Gegner zu beach­ ten, die er im Lauf der letzten Jahrhunderte gefunden hat. Zunächst traten ihm die Stände entgegen, deren wohlerworbene Rechte durch den absoluten Fürsten ge­ fährdet waren. Gegenüber der polit. Rücksichtslosigkeit der Staatsräson beriefen sie sich auf Recht u. Moral u. kämpften gegen den „Tyrannen“. Nach der Pariser Bartholomäusnacht (24. Aug. 1572) setzt eine große Literatur gegen den fürstl. A. ein, deren Autoren in der Geschichte der staatswissenschaftl. Literatur unter dem Namen Monarchomachen bekannt sind. Als Hauptvertreter sind zu nennen: Hoto­ manus, Buchanan u. Junius Brutus (Duplessis-Momay), von Katholiken der wegen seiner Lehre vom Tyrannenmord vielgenannte Jesuit Mariana. Der Name Monar­ chomachen verbreitete sich durch eine Gegenschrift des Wilh. Barclay „De regno et regali potestate adversus Monarchomachos“ (Paris 1600). Ein großer Teil ihrer Argumente ist in die Diskussion zw. dem absoluten Fürsten u. der modernen Volksvertretung des 19. Jahrh. sowie in die Lehre vom Rechtsstaat übergegangen, wobei allerdings zu beachten ist, daß der Begriff Rechtsstaat relativ ist u. auch der Staat des fürstl. A. keineswegs einen Zustand absoluter Rechtslosigkeit darstellt, der etwa mit asiat. Despotismus od. irgendeiner Willkürherrschaft gleichzusetzen wäre. Vielmehr ergaben sich schon aus den techn. Notwendigkeiten einer geordne­ ten Bureaukratie, ferner aus der weitgehenden Selbständigkeit der Justiz eine rechtl. Garantie u. eine gewisse Gleichheit vor dem Gesetz, d. h. vor dem Willen des Fürsten.

Absolutismus

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Ein ganz anderer Gegensatz zur modernen absoluten Monarchie tritt seit der engl. Revolution v. 1640 auf, u. zwar in der Lehre von der sog. Teilung od. Balan­ cierung der Gewalten. Sie beruht auf der Vorstellung, daß die Staatsgewalt nicht an einem einzigen Punkt, weder beim Fürsten noch beim Parlament, konzentriert sein dürfe, vielmehr im Interesse der Bürger durch mehrere verhältnismäßige selb­ ständige u. voneinander unabhängige Faktoren unter Trennung der versch. staatl. Funktionen (Gesetzgebung, Exekutive, Rechtspflege) ausgeübt werden müsse. Als theoretische Begründer dieser Lehre von der Teilung der Gewalten gelten Locke (Two Treatises of Government, 1689) u. Montesquieu (Esprit des lois, 1745). Man versteht ihre gegen die Machtkonzentration des absoluten Fürsten gerichtete Lehre am besten aus einer Vorstellung, die seit dem 16. Jahrh. auf den verschiedensten Gebieten das europ. Denken beherrscht, nämlich der „balance“, d. h. eines Aus­ gleichs widerstrebender Kräfte, die in ein Gleichgewicht u. dadurch in eine richti­ ge Ordnung gebracht werden. So bedeutet die „Teilung der Gewalten“ einen Ver­ such, verschiedenartige Kräfte u. Tendenzen innerhalb des Staats gegeneinander auszubalancieren u. den Fürsten als den Chef der Exekutive von andern Gewalten, bes. von Gesetzgebung u. Rechtspflege, zu trennen. Die Lehre von der Teilung der Gewalten hat in maßgebender Weise fast alle europ. u. amerik. Verfassungen bis auf den heutigen Tag beeinflußt. Teilung der Gewalten bedeutet hier einen spezifi­ schen Gegensatz zu der zentralist. Einheit jedes A., sei es des Fürsten, des Parla­ ments od. des Volks; sie gilt als ein Kriterium der Freiheit, ja einer wahren Verfas­ sung überhaupt. Endlich entstand der absoluten Monarchie ein dritter Gegner, der sowohl die gut funktionierende Einheit des modernen, durch den fürstl. A. geschaffenen Staats wie auch die Teilung u. Balancierung der Gewalten für einen leblosen Mechanis­ mus erklärte u. der Vorstellung vom Staat als einer kunstvoll gemachten Maschine das Bild vom Staat als einem in der Geschichte natürlich wachsenden lebensvollen Organismus entgegenhielt. Diese Auffassung tritt seit dem Ende des 18. Jahrh. auf u. setzt sich nam. in Deutschland während des 19. Jahrh. durch.[3] Ein dilettant. Sprachgebrauch bezeichnet sie häufig als romantisch. In Wahrheit beruht sie teils auf alten, naturphil. Analogien, teils auf traditionalist. Vorstellungen, teils endlich auf der geschichtl. Tatsache, daß durch das aktive Auftreten der Nation seit den französ. Revolutions- u. den dt. Freiheitskriegen der Staat einen neuen Inhalt be­ kommen hatte.

II. Der Absolutismus des Staats Während das Wort A. in dem unter 1. erörterten Sinn einen A. im Staat bedeutet, nämlich den A. des Fürsten gegenüber den Ständen od. im 19. Jahrh. gegenüber der Volksvertretung, kann das Wort A. auch auf den A. des Staats übertragen wer­ den u. bedeutet dann die Allmacht des Staats entweder gegenüber den eigenen Staatsbürgern, od. gegenüber jeder rechtl. od. moral. Norm, od. endlich auch ge7 Sinai, (iroUruum. Nomos

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Zweiter Teil: Politik und Idee

genüber andern sozialen u. geistigen Mächten, bes. gegenüber der Kirche. Die ab­ solute Monarchie war in Wirklichkeit niemals, wenn man so sagen darf, ein abso­ luter A. gewesen. Sie nahm nicht nur weitgehende Rücksicht auf das geschichtl. Herkommen, auf den Adel u. die Erfordernisse des Beamtentums, es blieben nicht nur in allen absoluten Monarchien Europas zahlreiche überlieferte rechtl. u. so­ ziale Gestaltungen unberührt, sondern es galt auch als selbstverständlich, daß die Macht des Königs an göttlichem u. an natürlichem Recht, bes. auch am Privatei­ gentum, eine Schranke finde. Bodinus hat das bes. hervorgehoben. Von einem A. des Staats kann man erst sprechen, wenn derartige naturrechtl. u. religiöse Hem­ mungen entfallen u. der Staat als solcher die absolute Instanz, der letzte Richter über Gut u. Böse wird. Theoretisch tritt das zum ersten Mal hervor in der Staats­ theorie des Hobbes (De cive, 1642; Leviathan, 1651). Die klassische Ausführung findet sich im Contrat social Rousseaus (1762), nach welchem der Staat zwar durch den übereinstimmenden Willen der Staatsbürger begründet wird, nachdem er aber einmal so entstanden ist, restlos alle Gebiete des menschl. Lebens umfaßt. [4] Das erste prakt. Beispiel dieses modernen Staats-A. war die Jakobinische Diktatur von 1793. Hier wird der von der absoluten Monarchie zwar vorbereitete, aber von ihr wohl zu unterscheidende moderne Staats-A. zum ersten Mal Wirklichkeit. Der Staats-A. verbindet sich häufig mit scheinbar entgegengesetzten, liberalen Ideen u. Tendenzen, wie es überhaupt in steigendem Maß für das 19. Jahrh. charak­ teristisch wird, daß Zwang u. Ausbeutung im Namen der Freiheit vor sich gehen. Die liberale Bewegung bes. bekämpfte zwar die absolute Monarchie, aber gleich­ zeitig unterwarf sie dem Staat Lebensgebiete, die ihm bisher fremd waren, um sie der Kirche zu entreißen: Erziehung u. Schule, Ehe u. Familie. Während man das Religiöse zur Privatsache machte u. als etwas allzu Hohes, einer äußerlichen Rege­ lung ganz Unzugängliches hinstellte, konnte sich in der prakt. Wirklichkeit der Staat aller sichtbaren Kundgebungen des Religiösen bemächtigen. So wurde im Endergebnis, infolge der Privatisierung aller geistigen u. moral. Werte, für die sichtbare äußere Wirklichkeit des sozialen Lebens der Staat zur höchsten Instanz. Obwohl der Liberalismus sonst den Staat in einen bewaffneten Diener der Gesell­ schaft verwandelt, der das freie Spiel der wirtsch. u. sozialen Kräfe, d. h. in Wirk­ lichkeit die unkontrollierte Macht des Stärkeren, schützen soll, erscheinen im Kampf gegen die Kirche Liberale plötzlich als Verteidiger der Macht des Staats über Schule, Erziehung, Ehe u. Familie u. führen mit einem höchst inkonsequenten Pathos einen sog. Kulturkampf des Staats gegen die Kirche.[5] Konsequent dagegen ist der Staats-A. in andern Strömungen des 19. Jahrh., nämlich in der modernen Massendemokratie u. im kommunist. Sozialismus, weil in ihnen nicht die Freiheit des Einzelnen als der höchste Wert behandelt wird. Eine bedeutende Synthese der verschiedenartigen, zum A. des Staats führenden Tendenzen enthält Hegels Rechts- u. Staatsphilosophie. In ihr ist der Staat die über den auseinanderstrebenden egoist. Interessen der Gesellschaft stehende, einigende, sittliche Macht, die höchste sittliche Autorität, ja die objektive Wirklichkeit der

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sittlichen Idee selbst, die sich im Prozeß der Weltgeschichte in der Form von mächtigen Staaten entfaltet u. welcher sich der Einzelne einfügt, um dadurch seine wahre Freiheit zu gewinnen. Soziologisch spiegelt sich in diesem System der preuß. Beamtenstaat des 19. Jahrh., in welchem sowohl eine Monarchie in geschichtl. Größe, ein aufgeklärtes liberales Beamtentum, ein überlieferter alter Adel, ein wirtschaftlich aufstrebendes Bürgertum u. schließlich auch staatssozialist. Tendenzen eine Stätte gefunden hatten. Für die radikal Sozialist. Lehre versteht sich der A. des Staats von selbst. Die bolschewist. Theorie insbes. erklärt den Staat, auch den proletar. Staat, für eine Diktatur der herrschenden Klasse. Die grenzenlose Macht u. Zwangsbefugnis der bolschewist. Diktatur wird damit gerechtfertigt, daß dieser proletar. Staat mit Ge­ walt die Hindernisse beseitigen müsse, welche dem Übergang vom bürgerlich-kapitalist. Gesellschaftszustand zum kommunist. Idealzustand noch im Weg stehen. Im ganzen bestätigt die Erfahrung des letzten Jahrh., daß sowohl liberale, wie demokrat., wie Sozialist. Ideen zum modernen Staats-A. führen können.

III. Staats-Absolutismus u. katholische Kirche Nach kath. Lehre ist der Staat zwar göttlichen Ursprungs, insofern er eine aus der sozialen Natur des Menschen notwendig folgende, daher gottgewollte Einrich­ tung ist. Alle bestehende staatl. Gewalt ist von Gott (Röm. 13,1), auch in einer Demokratie. Die staatl. Autorität ist wirkliche Autorität, sie hat obrigkeitl. Charak­ ter u. ist nicht etwa, wie nach der modem-demokrat. Lehre Rousseaus, bloßer Agent des Volks. Aber neben dem Staat, u. zwar unabhängig von ihm, steht die Kirche als eine freie u. selbständige societas perfecta, die auf ihren Gebieten, näm­ lich in den ihr anvertrauten göttlichen Dingen, keine Einmischung des Staats dul­ det, wie sie sich umgekehrt in die weltl. Angelegenheiten des Staats nicht einmischen soll. Die beiden Gewalten, Kirche u. Staat, sind jede in ihrer Art u. auf ihren Gebieten höchste Gewalten u. in diesem Sinn beide souverän. So deutet die kath. Kirche das Wort Christi: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, u. Gott, was Got­ tes ist“ (Matth. 22,21). Daraus folgt, daß nach kath. Lehre ein Staats-A. im Sinn einer grenzenlosen, über ihre eigene Zuständigkeit frei entscheidenden allmächti­ gen Staatsgewalt ebenso unzulässig ist wie der heidnisch-antike Staat, der den Menschen ganz erfaßt u. ein Privatleben eigentlich nicht kennt. Der Syllabus von 1864, Prop. 39, hat die Lehre von der Staatsomnipotenz ausdrücklich als unchrist­ lich verurteilt.[6] „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Der Staat findet seine Grenze am göttlichen u. am natürlichen Recht. Doch kann nicht jeder beliebig über diese Grenzen entscheiden, vielmehr ist eine Grenzüberschreitung nur dann anzunehmen, u. das Recht, den Gehorsam zu verweigern, erst da gege­ ben, wo zweifellos u. offenbar (aperte) das göttliche u. natürliche Recht verletzt wird (Rundschreiben Leos XIII., Diuturnum illud, v. 29. Juni 1881).[7] 7*

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Anmerkungen des Herausgebers [1] Bei Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 677, ist nur sinngemäß die Re­ de „von dem Monarchen als Inhaber der gesamten Staatsgewalt“; diese „Formel“ entspräche „am reinsten den Verhältnissen des absoluten Staates.“ Vgl. auch in Jellineks Werk die S. 544 f., 556, 591,691. [2] Dazu, mit vielen Hinweisen zu Schmitt: B. Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, 1986. [3] Dazu Stollberg-Rilinger, a. a. O., bes. S. 202 if. - Der Organismusbegriff spielt schon eine Rolle in Kants Staatsauffassung, also lange vor der Romantik, vgl. Kant, Kritik der Ur­ teilskraft, in: Werke, X, Ausg. Weischedel, 1968, §§ 63, 64. Dazu: E. Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: Werke, III, 1960, S. 46 ff. (zuerst 1908). [4] Rousseau begründet einen „Absolutismus des Volkes“ (so. u. a. Fr. Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus 1648 - 1788, München 1948, S. 298), der dann ins Staatliche „transformiert“ wird. [5] Die deutschen Liberalen in der „Liberalen Ära“ (1866 - 77) der Bismarck-Zeit hegten während des Kulturkampfes die Überzeugung, „daß der Kampf gegen den Staat immer dann aufgeschoben bzw. hinter ein Bündnis mit dem Staat zurücktreten müsse, wenn es gegen die Feinde der Liberalen in der Gesellschaft zu kämpfen galt.“ (J. J. Sheehan, Der deutsche Libe­ ralismus, 1983, S. 163.) Vgl. dazu: G. Stoltenberg, Der deutsche Reichstag 1871 - 1873, Düs­ seldorf 1955, bes. S. 94 ff. Allgem. z. „Syllabus“: H. Jedin, Handbuch d. Kirchengeschichte, VI/1, 1971, S. 750-56. [6] Der unter Nr. 39 aufgeführte Irrtum im „Syllabus“ Pius’ IX. lautete: „Der Staat besitzt als der Ursprung und die Quelle aller Rechte ein schrankenloses Recht.“ (Nach: Papst Pius IX., Apostolisches Rundschreiben Quanta Cura und Syllabus (1864), Wien o. J., hrsg. v. K. u. I. Haselböck, S. 16.) [7] Papst Leo XIII., Apostolisches Rundschreiben Diuturnum illud - Über die höchste Würde im Bereich des Staatswesens (1881), Wien o. J., hrsg. v. K. u. I. Haselböck, S. 9: „Nur einen Grund gibt es für die Menschen, nicht zu gehorchen: wenn nämlich etwas von ihnen gefordert werden sollte, was mit dem natürlichen oder dem göttlichen Recht offenkundig in Widerspruch steht. Denn alles, wodurch das Gesetz der Weltordnung oder der Wille Gottes verletzt wird: das zu gebieten oder zu tun ist Gottlosigkeit und Frevel. Sollte daher jemand in eine Lage kommen, daß er sich gezwungen sieht, eines von beiden zu wählen: nämlich ent­ weder die Gebote Gottes oder die der Herrscher zu verletzen - dann hat er Jesus Christus zu gehorchen, welcher gebietet, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist, und nach dem Beispiel der Apostel unerschrocken zu antworten: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Auch ist kein Grund gegeben, diejenigen, welche so handeln, wegen Verweigerung des Gehorsams anzuklagen: denn wenn der Wille der Herrscher im Streite liegt mit Gottes Willen und Gesetzen, dann überschreiten diese ihre Machtbefugnis und vernichten die Gerechtigkeit. Und dann kann eben ihre Autorität keine Gültigkeit haben: denn wo keine Gerechtigkeit ist, da ist auch keinerlei Autorität.“ Vgl. auch: O. Schilling, Die Staats- und Soziallehre Leos XIII., München 1925; P. Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., M.- Gladbach 1925.

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Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 1926, I, Sp. 29 - 34. Vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 48 f., 202 f. Das von Schmitt S. 96 erwähnte Stichwort zu Bodin findet sich im o. a. Bd., Sp. 973 - 76 (von V. Gramich, revidiert v. H. Sacher). - Die Literatur ü. Staatsräson u. Machiavellismus ist inzwischen kaum noch übersehbar; als „klassisch“ dürfen wohl immer noch gelten: Guiseppe Ferrari, Histoire de la raison d’Etat, Paris 1860, Ndr. ebd., 1992, u. Friedrich Meinekke, Die Idee der Staatsräson in d. neueren Geschichte, 1924 u. ö.; zu diesem Buch vgl. die Kritik Schmitts, ASWSP 1926, S. 226 - 34, Ndr. in ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 45 - 52. Über die neuere Literatur informiert: M. Stolleis, Staat u. Staatsräson in d. frühen Neuzeit, 1990; einen kurzen geschichtlichen Überblick leistet M. Senellart, Machiavélisme et raison d’État, XIIe - XVIIIe siècles, Paris 1989; sehr gute Bibliographie in: Archivio della Ragion di Stato, 1/1993, Neapel. Die span. Sonderentwicklung untersucht: J. A. FernandezSantamaria, Razôn de Estado y politica en el pensamiento espanol del Barroco (1595 - 1640), Madrid 1986. - Die Vorstellungen zur politischen „Balance“ erörtert Otto Mayr, Uhrwerk und Waage - Autorität, Freiheit u. techn. Systeme in d. frühen Neuzeit, 1987, der die Uhr als typisch für autoritäre, die Waage als typisch für liberale Systeme ansieht.

Macchiavelli Zum 22. Juni 1927 Worauf gründet sich der Ruhm dieses Namens? Denn es wäre Torheit, ihn nur berüchtigt zu nennen und ihm den wahren Ruhm abzusprechen. Die vier Jahrhun­ derte seit dem Tode Macchiavellis sind mit heftigen, immer wieder sich erneuern­ den Diskussionen über den „Macchiaveilismus“ erfüllt. Wenn über Staatsraison, Staatsethik oder über das Verhältnis von Recht und Macht gesprochen wird, hört man seinen Namen. Eine umfangreiche Literatur schildert unter dem Stichwort „Anti-Macchiavelli“ ein unmoralisches Scheusal; eine ebenso umfangreiche Lite­ ratur verteidigt ihn und begeistert sich an ihm. Jedesmal, wenn eine neue politi­ sche Idee dem staatlichen Leben neue Kräfte gab und die unzerstörbare Kraft des Politischen sich von neuem zeigte, erschien auch das Bild dieses Florentiners. Das 17. Jahrhundert hindurch begleitet er den Sieg der absoluten Fürsten. Als im 18. Jahrhundert, nach einer moralisierenden Aufklärung und Freigeisterei, die sich sehr anti-macchiavellistisch gebärdete, in Deutschland zum ersten Male politischer Sinn und nationales Bewußtsein zusammentrafen, wurde Macchiavelli von Hegel und Fichte neu entdeckt. In der folgenden Generation, deren politisches Ziel die nationale Einigung Deutschlands und Italiens war, haben ihn deutsche und italieni­ sche Historiker als den Held nationaler Einigung und starker nationaler Machtpoli­ tik gefeiert. Auch heute noch hat dieser Name die Kraft eines Signals. Die Welt­ propaganda des Weltkrieges organisierte eine moralische Empörung gegen den „Macchiaveilismus“ der deutschen Politik. [ 1] Mussolini, der bewußteste Feind ei­ nes staatsauflösenden Liberalismus, ist 1924, aus Anlaß seiner Promotion in Bolo­ gna, mit einer Dissertation für Macchiavelli eingetreten. [2] Bei uns in Deutschland hat jetzt, 1927, Herman Hefele in der Einleitung einer vortrefflichen Auswahl aus Macchiavellis Schriften das Politische gegenüber dem Oekonomischen wieder in seine menschlichen Rechte eingesetzt. [3] Von den vielen politischen Schriftstellern und Staatstheoretikem hat keiner ei­ nen ähnlichen Erfolg gehabt wie Macchiavelli. Dabei war er weder ein großer Staatsmann noch ein großer Theoretiker. Seine politische Tätigkeit im florentinischen Dienst blieb ohne besondere Wirkung. Bei den Geschäften, die er für seine Vaterstadt erledigte als Vorstand der Staatskanzlei oder als Mitglied einiger Ge­ sandtschaften in Frankreich und Deutschland, stand er niemals an entscheidender oder maßgebender Stelle. Er hat viele interessante und gute Berichte geschrieben, aber nichts daran ändern können, daß die florentinische Außenpolitik damals et­ was ziemlich Schwaches und Erbärmliches war. In seiner innenpolitischen Stcl-

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lungnahme hatte er nur Unglück. Als die Demokraten, zu denen er gehörte, 1513 unterlagen, war auch sein persönliches Schicksal entschieden. Die siegreiche Par­ tei der Medici setzte ihn gefangen, ließ ihn foltern und gab ihn schließlich frei, wahrscheinlich, weil er nicht politisch wichtig genug war. Die letzten vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte er in der Verbannung auf dem Lande, in einem kleinen Haus an der Straße von Florenz nach Rom, mit den Beschäftigungen eines kleinbäuerlichen Rentners und im ganzen als ein armer Teufel, der sich vergebens bemühte, wieder in die politische Karriere zu kommen. Das ist die Situation, in der die beiden politischen Schriften entstanden, die ihn weltberühmt gemacht haben, die Diskurse über die erste Dekade des Titus Livius, und das Buch vom Fürsten, der Principe, die beide erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Nichts an die­ sem Leben war glänzend oder in irgendeinem großartigen Sinne heroisch. Daß man seine geschichtlichen, militärwissenschaftlichen und literarischen Werke heute noch kennt, liegt in der Hauptsache wohl daran, daß man den Autor des Principe kennt. Diese kleine Schrift aber, die eigentliche Ursache seiner Be­ rühmtheit, hat wenig Augenfälliges. Sie hat kaum etwas von dem, was andere poli­ tische Denker berühmt gemacht hat: weder die Tiefe und den Adel platonischer Dialoge noch die systematische Gelehrsamkeit der Bücher des Aristoteles. Sie ist kein großes Dokument religiöser Umformung politischen Geistes, wie die Civitas Dei des hl. Augustinus. Sie hat auch nichts Sensationelles, nichts Enormes oder Genialisches; auch nichts Gelehrt-Gründliches, keine neue Staatslehre und keine neue Geschichtsphilosophie. Sie ist als besonders unmoralisch verschrien wegen einiger Stellen über die politische Notwendigkeit, Verträge zu brechen und eine fromme Gesinnung zu heucheln. Aber auch diese „Immoralität“ spielt sich nicht auf und macht sich nicht moralisch wichtig, sie bleibt bescheiden und sachlich und hat nichts Enthusiastisches oder Prophetisches, wie der Immoralismus Nietzsches. Der Inhalt der beiden politischen Schriften, der Discorsi und des Principe, be­ steht aus politischen Ratschlägen und Rezepten, die an der Hand geschichtlicher Beispiele gewonnen und illustriert werden. Nach humanistischer Art ist es haupt­ sächlich die Antike und hier wieder am meisten die römische Geschichte, welche diese Beispiele liefert, doch wird auch die italienische Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts herangezogen. Das Interesse ist rein praktisch-politisch und ganz auf die Gegenwart gerichtet. Diese Methode der Geschichtsbehandlung ist uns heute fremd geworden, obwohl es vielleicht lehrreicher wäre, einige wenige Beispiele und Fälle stets von neuem gründlich von allen Seiten zu überdenken, als unabseh­ bare Quantitäten historischen Stoffes anzuhäufen, über denen dann einige soziolo­ gische Allgemeinheiten wie Wolken dahinziehen. Für Macchiavelli ist die Ge­ schichte eine Fundgrube für politische Nutzanwendungen. Er fragt nur nach der konkreten politischen Sachlage und ihrer politisch richtigen Behandlung. Daraus erklären sich die vielbeschrienen „Immoralitäten“, besonders in der Schrift über den Fürsten. Denn Macchiavelli spricht hier vor allem von dem neuen Fürsten, d. h. einem Herrscher, der seine Macht nicht im Wege friedlicher Rechtsnachfolge er­ worben, sondern durch eigene Kraft erobert hat und sich deshalb nur mit andern

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und härteren Mitteln halten kann als eine in sicherem Besitz stehende alte und an­ gesehene Dynastie. Das ist selbstverständlich, wie es auch selbstverständlich ist, daß eine im Wege einer Restauration auf den Thron zurückgekehrte Dynastie nicht mit den Mitteln auskommt, mit denen sie früher regieren konnte; es bedarf größe­ rer Gewandtheit, größerer Anpassungsfähigkeit, größerer Vorsicht und wahrschein­ lich auch größerer Härte, um die neue Position zu verteidigen. Solche einfachen politischen Wahrheiten brauchen einen politischen Betrachter nicht zu empören. Man kann niemand einen Vorwurf machen, weil er feststellt, daß Napoleon ge­ zwungen war, mit andern Methoden zu regieren wie die legitimen Fürsten seiner Zeit, und es hat wenig Sinn und Zweck, von Mussolini zu verlangen, daß er sich den Prinzregenten Luitpold zum Vorbild nehme. Ich weiß nicht, wie der Principe auf gebildete Japaner oder Chinesen wirkt. Ken­ ner der indischen Literatur versichern einem, daß indische Bücher über Politik und Staatskunst an Immoralität den Macchiavelli weit übertreffen, worauf es nicht im geringsten ankommt. [4] Ein russischer Bolschewist wird die als unmoralisch ver­ schrienen Stellen wahrscheinlich für harmlose Banalitäten halten und die morali­ sche Empörung als bourgeoisen Schwindel erklären. Aber auf einen Westeuropäer wirkt diese Schrift unfehlbar in einer spezifischen Weise, und zwar wegen ihrer humanen Natürlichkeit. Nicht bloß wegen der Sprache, die von klassischer Klar­ heit und Bescheidenheit ist und die Merkmale humanistischer Bildung trägt - ob­ wohl der Sprachstil auch hier zum Geheimnis des Erfolges gehört. Die sprachliche Natürlichkeit ist nur der Ausdruck unbeirrten Interesses an der Sache, mit dem dieser Mann politische Dinge politisch sieht, ohne moralistisches, aber auch ohne immoralistisches Pathos, in ehrlicher Vaterlandsliebe, mit offener Freude an der Virtù, d. h. an staatsbürgerlicher Kraft und politischer Energie, und im übrigen ohne einen anderen Affekt als den der Verachtung für politische Stümpereien und Halbheiten. Bei ihm ist die Humanität noch nicht zur Sentimentalität geworden. Ihm ist es selbstverständlich, daß jemand, der sich auf das Gebiet des Politischen begibt, wissen muß, was er tut, und daß lobenswerte Eigenschaften des Privatle­ bens, wie Gutmütigkeit und Treuherzigkeit, bei einem Politiker nicht nur zu Lä­ cherlichkeiten werden können, sondern auch zu fluchwürdigen Verbrechen an dem Staat, der die Folgen solcher Treuherzigkeit zu tragen hat. Wenn Macchiavelli nun hinzufügt, daß es jedoch auf alle Fälle politisch vorteilhaft ist, gut und fromm zu scheinen, so sagt er offenbar nichts Falsches. Es wäre nur klüger, und mehr „macchiavellistisch“ gewesen, hierüber zu schweigen oder noch besser, in das allge­ meine Lob der Biederkeit einzustimmen. Aber darin liegt eben das menschlich Ehrliche Macchiavellis, daß er nicht daran denkt, politische Erörterungen mit idea­ len Forderungen zu verwirren, um dann aus der Verwirrung politischen Nutzen zu ziehen. Heute weiß jeder, mit welcher Routine und Sicherheit ein großer „psychotechnischer“ Apparat die Massen propagandistisch zu bearbeiten versteht, und wie leicht es ist, ein moralisches Pathos seinen politischen Absichten dienstbar zu ma­ chen. Wir alle erinnern uns der Weltpropaganda gegen den Macchiaveilismus der Deutschen. Wer nach solchen Erfahrungen heute den Principe liest, hat den Ein-

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druck, einen ruhigen und verständigen Menschen zu hören, und fühlt, daß sich das Politische, das nun einmal ein unausrottbarer Teil der menschlichen Natur ist, bei Macchiavelli von selbst versteht und noch nicht zum Diener anonymer und un­ sichtbarer Mächte geworden ist. Und auf wen, der nicht gerade propagandistisch interessiert wäre, wirkt es nicht unmittelbar und sogar rührend, wie alles unver­ fälscht Menschliche, wenn dieser Popanz der Immoralität, dieser angebliche Böse­ wicht nach einigen Sätzen über die grausamen Notwendigkeiten politischer Selbst­ erhaltung einfach erklärt: Meine Ansichten wären schlecht, wenn die Menschen gut wären; aber die Menschen sind nicht gut.

Anmerkungen des Herausgebers

[1] Vgl. H. Thimme, Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen Deutschland, Stuttgart 1932; auch Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 129. Der Vorwurf, die deutsche Politik sei „machiavellistisch“, wurde in noch schärferer Form vor dem Ausbruch des II. Weltkrieges erhoben, vgl. u. a.: H. Berr, Ma­ chiavel et l’Allemagne, Paris 1939, S. 25 ü. Hitler: „Duplicité dans les paroles, volte-face dans les relations; violence dans les actes ... aucun Allemand n’a machiavélisé avec une pa­ reille impudeur, on pourrait presque dire avec une pareille naïveté“. Berr verschont aber auch Bismarck, Treitschke, Hegel, Fichte, Friedrich II. etc. nicht; Machiavelli erscheint als „le mauvais génie de l’Allemagne par l’intermédiaire de la Prusse“. [2] Irrtum Schmitts: Mussolini trug sich eine Zeitlang mit dem Gedanken, eine Disserta­ tion über den Begriff des Staatsmannes bei Machiavelli zu schreiben, ließ diesen Plan aber fallen. Die Universität Bologna bot ihm 1923 die Ehrendoktorwürde an, die Mussolini jedoch ausschlug, da er nichts geschenkt haben wollte; vgl. R. Michels, Italien von heute, 1930, S. 290. Schmitt meint hier wohl den Artikel Mussolinis: Preludio al Machiavelli, Gerarchia, 3 / 1924, S. 205 - 09. Vgl. auch: G. Maschke, Der Zauberlehrling Machiavellis: Mussolini, Erste Etappe, Bonn 1988, S. 63-71. [3] Politik. Eine Auswahl aus Machiavelli. Übersetzt und eingeleitet von Herman Hefele, Stuttgart 1927, Fr. Frommanns Verlag, XXIV / 109 S. - In s. Einführung polemisiert Hefele gegen die These, die Politik habe zugunsten der Wirtschaft abgedankt, ebd., S. Ill - VI. S. auch die kleine Biographie von Hefele, Machiavelli, Lübeck 1933, Coleman. [4] Max Weber, Politik als Beruf (Oktober 1919), in: ders., Gesammelte Politische Schrif­ ten, 3. Aufl. 1958, S. 505 - 560, schreibt: „Der wirkliche radikale ,Macchiaveilismus4 im populären Sinn dieses Wortes ist in der indischen Literatur im Arthashastra des Kautilya (lange vorchristlich, angeblich aus Chandraguptas Zeit) klassisch vertreten; dagegen ist Macchiavellis ,Principe* harmlos“ (S. 555). - Kautilya (verschiedene Schreibweisen), 4. Jhdt. v. Chr., ist vermutlich der Verfasser eines „Arthashastra“ („Lehrbuch zum Gewinn weltlicher Güter“), eines groß angelegten Werkes, das man als eine Mischung aus Fürstenspiegel, Poli­ ti ktheorie, Verwaltungslehre und Theorie der Bündnisse bezeichnen kann. Die deutsche Aus­ gabe erschien 1926 in Leipzig: Das Altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthacästra des Kautilya. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitung u. Anmerkungen verse­ hen von Johann Jakob Meyer, inzw. Ndr. Graz 1977, LXXXVIII / 983 S. Es ist wahrschein-

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lieh, daß Schmitt dieses Werk kannte, da dessen Autor sich unentwegt mit den verschiedenen Typen von Freund und Feind befaßt und Schmitt, wenn auch erst für 1939 nachgewiesen, Kontakt mit einem der besten deutschen Kenner K’s., B. Breloer, hatte; vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 105. Von Breloer stammen die „Kautaliya-Studien“, 3 Bde., 1927 - 34, jetzt Ndr. Osnabrück 1974. In Bonn, wo Schmitt damals lehrte, erschien 1926, hrsg. von W. Kirfel, die „Festgabe Hermann Jacobi“ ; auch Jacobi war ein Kenner von K’s Werk und die Festgabe enthält mehrere Studien zu K. Bereits 1923 erschien in der be­ rühmten Sammlung Othmar Spanns, „Die Herdflamme“ A. Hillebrandts Buch ü. „Altindi­ sche Politik“. Bedenkt man Schmitts Sensorium in diesen Dingen, so muß von einer Kennt­ nisnahme seinerseits ausgegangen werden. Auf die „Beziehung“ Kautilya - Schmitt weist ö. hin: D. Conrad, Der Begriff des Politischen, die Gewalt u. Gandhis gewaltlose politische Ak­ tion, in: J. Assmann/D. Harth (Hrsg.), Kultur und Konflikt, 1990, S. 72 - 112. Zum „Machiavellismus“ K’s: B. Sarkar, Hindu Politics in Italian, in: Indian Historical Quarterly, I / 1925, S. 545 - 60, 743 - 49; II / 1926, 146 - 57, 353 - 72; R. P. Kangle, The Kautilïya Arthasästra, III, Kommentar, Deli 1986, Motilal Banarsidass, S. 269 - 73 (die bei­ den ersten Bände dieser ggw. besten Edition bieten den Text in Sanskrit u. Englisch). Zur völkerrechtlichen Bedeutung K’s.: C. H. Alexandrowicz, Kautilyan Principles and the Law of Nations, BYIL, 1965 / 66, S. 301 - 320. Vgl. auch: H. Hoffmann, Die Begriffe „König“ und „Herrschaft“ im indischen Kulturkreis, Saeculum, 1953, S. 334 - 39; F. Wilhelm, Politische Polemiken im Staatslehrbuch des Kautalya, 1960; H. Scharfe, Untersuchungen zur Staats­ rechtslehre des Kautalya, 1968; J. Schüßlbumer, Der ewige Machtkampf. Geopolitik und die Lehren des Kautilya, Criticon, 133 / 1992, S. 225 - 31 (mit Hinweisen auf Schmitt). Vgl. ferner: V. R. R. Dikshitar, Kautalya and Machiavelli, Indian Historical Review Quarterly, III/ 1927, S. 176 - 80; H. H. Gowen, The Indian Machiavelli or Political Theory in India two thousand years ago, Political Science Quarterly, Juni 1929, S. 173 - 92; F. Berber, Das Staats­ ideal im Wandel d. Weltgeschichte, 1973, S. 59 f.; H. Schwalm, Die Rolle d. Kriegswesens vor u. während d. Herrschaft Chandraguptas u. seines Ministers Kautalya, 1986.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien am 21. 6. 1927 i. d. Kölnischen Volkszeitung. Anlaß war der 400. Todestag Machiavellis. Er entstand etwa gleichzeitig und im bisher wenig gesehenen Zusam­ menhang mit d. ersten Fassung d. „Begriffs d. Politischen“, ASWSP, August 1927, S. 1 - 33. Die damals nicht unübliche Schreibung des Namens - mit zwei „c“ - wurde beibehalten. Im Düsseldorfer Nachlaß Schmitts findet sich e. Brief Hefeles v. Juli 1927 (unleserl. Datum), in dem Hefele Schmitt für die Übersendung d. Aufsatzes dankt u. resümiert: „Wie klar, kühl und sicher stellen Sie das Wesentliche heraus! Wie verkrampft nimmt sich dagegen meine Formulierung an! Verzeihen Sie diese Anwandlung meines Neides.“ - Herman Hefele (1885 Stuttgart - 1936 Frauenburg), Großneffe d. berühmten Rottenbur­ ger Bischofs Karl Josef v. Hefele (1809 - 1893), studierte zunächst Katholische Theologie in Tübingen. Er schied 1908 aus d. Priesterseminar aus, weil er sich weigerte, d. Antimodemisteneid zu leisten. Danach Historiker. Ab 1929 lehrte er Allgem. Dt. Geschichte an der Philosoph.-Theolog. Akademie zu Braunsberg / Ermland (Ostpreußen), an der auch drei z. T. enge Freunde Schmitts tätig waren: der Kanoniker Hans Barion (1899 - 1973), der systematische Theologe Carl Eschweiler (1886 - 1936) u. der Kirchenhistoriker u. Luther-Forscher Joseph

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Lortz (1887 - 1975); allgem. zu dieser katholischen Enklave in Ostpreußen: G. Reifferscheid, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich, 1975. - H. trat vor allem als Übersetzer u. Essayist hervor. Er übersetzte u. a. die „Bekenntnisse“ d. hl. Augustinus (1918), Schriften Albert v. Aachens u. Petrarcas, die Memoiren Cardanos u. Stefano Infessura’s „Römisches Tagebuch“. Seine wichtigeren Schriften: Zur Psychologie der Etappe, 1918; Dante, 1921; Das Gesetz der Form - Briefe an Tote, 1921 (darin, S. 91 101, Ausg. 1928, „An Machiavelli - Über das Politische“); Geschichte und Gestalt, hrsg. v. CI. Bauer, 1940 (Aufsätze). Im engen Zusammenhang mit Schmitts Werk vgl. von ihm: De­ mokratie und Parlamentarismus, Hochland, Okt. 1924, S. 34 - 43; Zum Problem des Politi­ schen, Abendland, April 1928, S. 203 - 205, dem Abdruck v. Schmitts „Der bürgerliche Rechtsstaat“ unmittelbar folgend. - Zu Hefele vgl. u. a.: L. Hänsel, Herman Hefele, Hoch­ land, 1929, S. 358 - 374; S. 516 - 533, S. 631 - 645; Ph. Funk, Nekrolog, Hist. Jb. d. GoerresGesellschaft 1936, S. 208 - 13; J. Bemhart, Leben und Werk in Selbstzeugnissen, hrsg. v. L. Wachinger, 1981, S. 107 - 12; G. Lautenschläger, Joseph Lortz (1887 - 1975) - Weg, Umwelt und Werk eines katholischen Kirchenhistorikers, 1987, S. 255 - 66. - Zum Thema Machiavellismus/Staatsräson vgl. u. Hinweise S. 101. - Daß Schmitt sich, wenn auch eher auf spielerische Weise, mit Machiavelli identifizierte, zeigt sich daran, daß er sein Haus in Plettenberg-Pasel „San Casciano’’ nannte, - nach dem Landhaus Machiavellis in dessen Verbannungsort San Andrea di Percussina bei San Casciano; vgl. a.: J. Gross, San Casciano im Sauerland, Deutsche Zeitung, 11.7. 1963. - Schmitt bezog sich mit „San Cas­ ciano“ jedoch auch auf den hl. Cassian v. Imola, der unter Diokletian gemartert und von sei­ nen Schülern mit Schreibgriffeln zerfleischt wurde (t 401), und auf den spanischen Mönch San Casiano (f 1504), der 1499 in seiner Schrift „Vocabulario de Santaelle“ über die Bitter­ nis (acidia) und den Überdruß (tedio) im Alter nachdachte.

Der Rechtsstaat

Einleitung Wort und Begriff des Rechtsstaates sind lebhaft umstritten. Es ist dem Denken und Empfinden aller gesunden Völker zu allen Zeiten selbstverständlich gewesen, daß Recht und Gerechtigkeit geübt werden und der Staat im Dienste des Rechts stehen muß. Das Problem des Rechtsstaats dagegen ist neu und entsteht erst durch die Unterscheidung von Gerechtigkeit und positiver staatlicher Legalität. Als sprachliche Bildung ist das Wort Rechtsstaat deshalb neu; in der deutschen Spra­ che wird es erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Gewöhnlich wird Ro­ bert Mohl als derjenige bezeichnet, der es durch sein Buch „Die Polizei-Wissen­ schaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats“, Tübingen 1832, in die Rechtswis­ senschaft eingeführt habe1. Doch finden sich auch schon vor diesem Jahre Bei­ spiele für den Gebrauch des Wortes; so spricht der romantische Staatsphilosoph Adam Müller (in seinen „Deutschen Staats-Anzeigen“ Band 2, S. 33, Leipzig 1817), von den Schwierigkeiten, mit denen ein „Geld-, Kriegs- und BeamtenStaat“ zu kämpfen habe, „um sich wieder zu der Würde eines Rechts-Staates zu erheben“.[l] In früheren Jahrhunderten, die den Gegensatz von Gerechtigkeit und positivem, staatlich gesetzten Recht nicht mit der Schärfe empfanden, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist die Wortbildung Rechtsstaat nicht be­ kannt. Die ausländische Literatur des 19. Jahrhunderts hat das Wort hauptsächlich unter dem Einfluß von Georg Jellinek seit dem Ende des 19. Jahrhunderts über­ nommen als „État de droit“ oder „État juridique “ im Französischen (z. B. Hau­ riou und Duguit), als Stato di diritto, Stato giuridico und Stato legale im Italieni­ schen (z. B. Orlando, Santi Romano, Del Vecchio), als Estado de derecho im Spa­ nischen (z. B. del Valle Pascual).[2] Auch in der russischen Rechtsgeschichte hat sich der Gegensatz von liberalen „Westlern“ und völkischen Slavophilen in dem Gegensatz von Rechtsstaat (Prawowoje Gosudarstwo) und Gerechtigkeitsstaat (Gosudarstwo Prawdy) geäußert12. Die Klagen über die Vieldeutigkeit und den Mißbrauch des Wortes Rechtsstaat sind allgemein. Eindringlich und erschütternd hat der große Volksdichter J. Gott­ helf d\Q Idee des Rechtsstaats als die „Quelle alles Übels“ und die „legale Sanktion 1 Vgl. auch R. Thoma, Jahrbuch d. öffl. Rechts IV (1910), S. 197, Anm. 2. [Rechtsstaats­ idee u. Verwaltungsrechtswissenschaft]. 2 Den Hinweis auf diese wichtige Parallele in der russischen Rechtsentwicklung verdanke ich Herrn Professor Lcontowitsch, Berlin.

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der Selbstsucht“ gekennzeichnet^] (DJZ v. 15. Oktober 1934 Sp. 1259). Ein gro­ ßer Staatsmann wie Otto von Bismarck bezeichnet das Wort Rechtsstaat als einen „von Robert von Mohl erfundenen Kunstausdruck, von dem noch keine einen poli­ tischen Kopf befriedigende Definition und keine Übersetzung in andere Sprachen gegeben sei“3. Die Schwierigkeit einer eindeutigen Übersetzung ergibt sich schon daraus, daß z. B. im Italienischen Stato di diritto, Stato giuridico und govemo le­ gale unterschieden werden, um den Begriff deutlich zu machen. Für den französi­ schen Sprachgebrauch gilt Ähnliches, wie Haurious Ausführungen in seinen Principes de Droit public (2. Aufl. 1916, S. 12 ff.) zeigen. Im Grunde hat Bismarck also auch hier Recht behalten. In der fachwissenschaftlichen Literatur aller Länder haben die Klagen über die Verwirrung dieses Wortes nicht aufgehört4. Trotzdem hat sich das Wort sowohl in der juristischen Fachsprache wie auch im populären Sprachgebrauch durchgesetzt.

Rechtsstaat als polemisch-politischer Begriff Seine Beliebtheit und Verbreitung verdankt das Wort vor allem dem Umstand, daß es sich als eine wirksame Bezeichnung für verschiedenartige und ganz entge­ gengesetzte Auffassungen von Recht und Staat gebrauchen läßt. Selbstverständlich gibt es keinen Staat, der sich offen als Unrechtsstaat bekennt, und insofern will jeder Staat ein Rechtsstaat sein. In dem Bereich der politischen Auseinanderset­ zung erhält das Wort daher seine Klarheit und Bestimmtheit erst durch einen be­ stimmten Gegenbegriff. Für gewöhnlich ist das, namentlich in der liberalen Pole­ mik, der Machtstaat. In dieser Bedeutung hat es der Liberalismus ein Jahrhundert lang verstanden, jeden nicht-liberalen Staat, mag es sich um eine absolute Monar­ chie, einen faschistischen, nationalsozialistischen oder bolschewistischen Staat handeln, unterschiedslos als Nicht-Rechtsstaat und damit als Unrechtsstaat hinzu­ stellen5. Als andere Gegenbegriffe gegen den Rechtsstaat kommen vor: Beamten­ staat, Geldstaat, Wohlfahrtsstaat (vgl. das obige Zitat von Adam Müller) und vor allem Polizeistaat. Der Gegensatz von Rechtsstaat und Polizeistaat ist seit dem Lehrbuch des Verwaltungsrechts von Otto Mayer (1. Aufl. 1890) als ein Dogma in 3 Brief an den Kultusminister von Goßler vom 25. November 1881, mitgeteilt von Joh. Heckei, Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Kanonistische Abt., XIX 1930, S. 268 ff.; vgl. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, Hamburg 1934, S. 21. 4 Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 1868, S. 69 ff.; H. Schultze, Deutsches Staatsrecht, 1867, S. 145; Krieken, Über die sog. organische Staatstheorie, 1873; vgl. auch O. Mayers Bemerkung zu Gierkes Begriff des Rechtstaates: „Viel mehr als eine bloße Um­ schreibung des Namens wird uns auf diese Weise nicht gegeben.“ Raggi spricht vom Rechts­ staat als einem „concetto perturbatore e superfluo per la scienza“. 5 Das Buch von Darmstaedter, Rechtsstaat oder Machtstaat?, Berlin 1932, ist ein besonde­ res Beispiel für die Überheblichkeit, mit der ein volksfremder Liberalismus seine Begriffe von Staat und Recht als „Rechtsstaat“ und alle andern Vorstellungen als „Machtstaat“ hin­ stellt.

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die deutsche Verwaltungsrechtslehre übergegangen und wird in allen liberalen Lehrbüchern des Verwaltungsrechts (Fleiner, W. Jellinek, Hatschek) kritiklos wie­ derholt, obwohl bereits R. Mohl selbst (Encyklopädie, 1872, S. 88) gegen das Ge­ rede über den Gegensatz von Rechts- und Polizeistaat protestiert hat und R. Gneist (Die nationale Rechtsidee von den Ständen, Berlin 1894, S. 95) gerade den deut­ schen Staat des 18. Jahrhunderts, also den angeblichen „Polizeistaat“, als vorbildli­ chen Rechtsstaat hinstellte, worüber sich dann wieder Otto Mayer (Verwaltungs­ recht L, S. 45, Anm. 15) lustig macht.[4] Ein ausgezeichneter Kenner des deut­ schen Verwaltungsrechts, W. Hofacker, hat die pseudowissenschaftliche Manier dieser vermeintlich unpolitischen Antithesen von Polizeistaat des 18. Jahrhunderts und liberalem Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts vortrefflich widerlegt6. Eine andere Antithese machte aus dem Rechtsstaat den Gegensatz zum Feudalstaat (so der Rechtshistoriker Felix Dahn und der Staatsrechtslehrer Bluntschli); diese polemi­ sche Verwendung des Wortes ist aus dem Kampf des politischen Bürgertums gegen die „feudale“ preußische Militär- und Beamtenmonarchie, also aus der Lage des 19. Jahrhunderts, zu verstehen. Im übrigen wird gerade der feudale mittelalterliche Staat von den Historikern als ein reiner Rechtsstaat im Sinne eines bloßen „Rechtsbewahrstaats“ (Fritz Kern) hingestellt. [5] Er ist auch an dieser Eigenschaft zugrunde gegangen. Durch Beiworte wie „christlicher“, „bürgerlicher“, „nationaler“ oder „sozialer“ Rechtsstaat läßt sich sowohl ein Gegentypus gegen den bisher herrschenden libera­ len Rechtsstaat wie auch eine bloße Modifikation dieses liberalen Rechtsstaats be­ zeichnen. So konnte unter dem Weimarer System der Weimarer Staat von der Zen­ trumspartei als christlicher, von der deutschen Volkspartei als nationaler, von So­ zialdemokraten als sozialer Rechtsstaat gedeutet werden. Für die letzte Möglich­ keit enthält die Schrift des sozialdemokratischen Professors Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur?, Tübingen 1930, ein aufschlußreiches Beispiel7.

Rechtsstaat als rechtsphilosophischer Begriff Unter einem Rechtsstaat kann ein in seiner gesamten Anlage als Ganzes gekenn­ zeichneter Staat verstanden werden. Dann ist ein bestimmter, materieller, sachin6 Die Staatsverwaltung und die Strafrechtsreform, 1919, S. 47. 7 Vom „nationalen Rechtsstaat“ im Sinne eines Gegentypus sprechen: O. Koellreutter, Der nationale Rechtsstaat, Tübingen 1932 (S. 26: Die für den Rechtsstaatsbegriff als solchen ge­ fährliche Einseitigkeit Freislers liegt darin, daß er in der Gewaltenteilung nur ein die Volks­ kraft atomisierendes Moment erblickt. . . In der Unterscheidung und der richtigen Ausbalanzierung von Verwaltung und Rechtspflege liegt das Wesen des modernen Rechtsstaates.), ders.. Vom Sinn und Wesen der nationalen Revolution, 1933, ders., Grundriß der Allgemei­ nen Staatslehre, 1933, S. 108 f., H. Gerber, Staatsrechtliche Grundlinien des Neuen Reiches, 1933, B. Dennewitz, Das nationale Deutschland ein Rechtsstaat, 1933 (staatsbetonter Rechts­ staat); kritisch zu dem Wort „nationaler Rechtsstaat“: Eberhard Menzel, Grundlagen des neuen Staatsgedankens, Eisenach 1934, S. 70 f.

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haltlicher Begriff von Recht und Staat und eine bestimmte Vorstellung über das Verhältnis beider (Über- oder Unterordnung) vorausgesetzt. Der Begriff führt dann unmittelbar auf die weltanschaulichen Auffassungen von Recht und Staat zurück. In dem eingangs genannten Werk von R. von Mohl aus dem Jahre 1832 wird das sehr betont, wo es (S. 5) heißt: „Der religiösen Lebensrichtung des Volkes ent­ spricht nämlich die Theokratie; der bloß sinnlichen die Despotie; der einfachen Familienansicht der patriarchalische Staat; dem sinnlich vernünftigen Lebens­ zwecke aber der sogenannte Rechtsstaat. . . Die Freiheit des Bürgers ist bei dieser Lebensansicht oberster Grundsatz.“ Im 19. Jahrhundert hat sich die liberalindivi­ dualistische Staats- und Gesellschaftsauffassung des Wortes Rechtsstaat bemäch­ tigt. Kants Rechtsphilosophie, die den Staat zu einer „Rechtsanstalt“ und einem „Verein von Bürgern unter Rechtsgesetzen“ machte, wurde die philosophische Rechtfertigung eines wesentlich individualistischen Rechtsstaats. Trendelenburg (Naturrecht, 1860, S. 291) sagt darüber treffend, der Rechtsstaat werde, besonders nach Kant, zu einer „öffentlichen Anstalt zur Sicherung der persönlichen Freiheit und der Sicherheit des einzelnen, seines Eigentums und seiner Verträge“. Alle diese Theorien „ziehen den Staat unter dem Namen des Rechts nach dem Einzel­ wesen, damit er lediglich ihrer Freiheit, ihrer Ausbildung, ihrer Glückseligkeit diene“ ; ein solcher Staat könne aber auch niemals Krieg führen, weil der Krieg beides, Leben und Eigentum, gefährden und mißachten muß. Bei Lorenz von Stein ist allerdings der Versuch gemacht, diesen Individualismus durch Hegels Auffas­ sung vom Staat als einem Reich der Sittlichkeit (also einem ethischen Staat, nicht einem bloßen Rechtsstaat) zu überwinden; Stein hebt hervor, daß der Rechtsstaat ein spezifisch deutscher Begriff ist,[6] durch den gegenüber dem Regierungsrecht des Staates durch Gesetze, Selbstverwaltung und Recht des einzelnen eine Grenze gesetzt sei, um die Selbständigkeit dieser drei Faktoren auch gegen die Regie­ rungsgewalt zu wahren. Ihm schließt Gneist sich im Grundsatz an (Der Rechts­ staat, 1872, S. 183, 184, Anm. 2). Aber die rein individualistische liberale Auffas­ sung hat sich, wenigstens nach 1871, durchgesetzt und von ihrer weltanschauli­ chen und rechtsphilosophischen Grundlage aus nicht nur das Verfassungsrecht, sondern auch das Verwaltungs-, Straf-, Prozeß- und bürgerliche Recht, kurz alle Gebiete des Rechts, im Sinne ihrer Weltanschauung und ihres Rechtsstaatsbegrif­ fes gestaltet.

Rechtsstaat als juristisch-technischer Begriff des 19. Jahrhunderts Unter einem Rechtsstaat kann aber auch eine bestimmte juristisch-technische Durchführungsweise der verschiedenen weltanschaulichen, politischen oder philo­ sophischen Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit verstanden werden. Der Begriff wird dadurch formalisiert und neutralisiert (sog. formale Rechtsstaatsidee). In der Form und Weise eines solchen Rechtsstaats können sich dann widerspre­ chende Welt-, Rechts- und Staatsauffassungen verwirklichen. Der Rechtsstaat als

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ein nicht inhaltlich, sondern nur formell, nicht substantiell, sondern nur funktionell bestimmter Modus bietet sich den verschiedenartigsten Gerechtigkeitsvorstellun­ gen als ein Instrument ihrer Durchführung und Verwirklichung an. Dieser Auffas­ sung hat Fr. Jul. Stahl (Jolson) in Deutschland zum Siege verholfen. Rechtsstaat, so lautet sein berühmter, vielzitierter Satz, „bedeutet überhaupt nicht Ziel und In­ halt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen“.[7] Inhalt und Verwirklichungsweise, materieller und formeller Begriff, werden aus­ einandergerissen, Recht und Staat im Endergebnis auswechselbare Formen für die durch Weltanschauung, Sittlichkeit und Gerechtigkeit bezeichneten Inhalte. Diese Auffassung vom Rechtsstaat führt folgerichtig zu einem ebenfalls neutralen, aus­ wechselbaren Gesetzespositivismus und verwandelt den Rechtsstaat in sein Gegen­ teil, nämlich in einen indifferenten Gesetzesstaat8. Liberale, nationalsozialistische und kommunistische Gemeinwesen können dann Rechtsstaaten sein, sofern sie nur ihre Gerechtigkeitsideale „in einer bestimmten Weise“ verwirklichen. Diese be­ stimmte Weise aber soll darin bestehen, daß alle Ausübung der staatlichen Macht unverbrüchlich in einer berechenbaren Weise vor sich geht. Das kann nur durch vorher aufgestellte, inhaltlich genau bestimmte Normen und Regeln bewirkt wer­ den, welche das Maß und den Umfang aller staatlichen „Eingriffe“ genau festlegen und an welche der Staat und alle Behörden gebunden sind. Hier kommt es also nicht mehr auf Gerechtigkeit, sondern nur noch auf Sicherheit und Berechenbar­ keit an. Der Rechtsstaat wird ein Gegenbegriff zum Gerechtigkeitsstaat. Er dient nicht der Gerechtigkeit im materiellen Sinne, sondern einer positivistischen Vor­ aussehbarkeit. Als Nutznießer dieser Rechtssicherheit wird im 19. Jahrhundert selbstverständlich das „freie“ Individuum gedacht, für welches das Gesetz zum positiven Gesetz und das positive Gesetz zu einem Fahrplan wird, an Hand dessen jeder Interessent sich des staatlichen Justiz- und Verwaltungsapparates bedienen und mit dessen „Normen“ er das gesamte öffentliche Leben berechnen und kon­ trollieren kann. Otto Mayer hat mit der ihm eigenen witzigen Formulierungsgabe den Rechtsstaat als einen Staat bezeichnet, in welchem jeder „weiß, wessen er sich vom Staat zu versehen hat“. Dadurch wird trotz scheinbarer Neutralität und Instrumentalität, diese Art Rechtsstaat doch wieder zu einem für den liberalen Individua­ lismus typischen Mittel. Darüber dürfen auch die konservativ-christlichen Wen­ dungen Stahls nicht hinwegtäuschen. Wenn bedeutende italienische Rechtsgelehrte sagen, Stahl habe durch „Zweideutigkeit“ und „theoretische Heuchelei“ den Be­ griff des Rechtsstaats abgebogen und sogar gefälscht (Vequivoco e Vipocrisia teoricadi Stahl, che falsifica il concetto), [8] so trifft das zu. Die „Fälschung“ liegt darin, daß der Begriff des Rechts in „Rechtsstaat“ in einen positivistischen Norma­ tivismus umgedeutet wird, dessen folgerichtiger Schluß nur dem rücksichts- und bedenkenlosen Individualismus der liberalen Epoche zugute kommt. 8 Heinrich Lange, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, Tübingen 1934 (Recht und Staat, Heft 114). Über den Gegensatz von Führerstaat und Gesetzesstaat G. A. Walz, Deutsche Juri­ stenzeitung 1933, S. 1338 f. und die Rede von Carl Schmitt auf der Kölner Gautagung des NS.-Juristenbundes, Jur. Wochenschr. 1934, S. 713 f.

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Bestimmte Einrichtungen oder Normierungen als Kennzeichen des Rechtsstaats In grundsätzlichen oder in rechtspolitischen Erörterungen stößt, je nach der wechselnden Lage, das Interesse der miteinander kämpfenden Richtungen an be­ stimmten Streitpunkten aufeinander. Diese werden dadurch zu den umstrittenen Positionen der Auseinandersetzungen und von der einen oder der andern Streitseite zu Kennzeichen des Rechtsstaats erhoben. So sind z. B. im Laufe der liberalen Revolution des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeit der Richter, die Sicherungen der Beamtenstellung, die Vereidigung auf die Verfassung statt auf die Person des Königs, die Einführung eines Staatsgerichtshofs für Ministeranklagen, das Erfor­ dernis der ministeriellen Gegenzeichnung, Pressefreiheit, Geschworenengerichte, freie Advokatur und zahllose andere Einzelheiten zu Kriterien des Rechtsstaats ge­ macht worden Es gibt überhaupt keine Einrichtung und keine politische Forde­ rung, für die nicht in solcher Weise der Name des Rechtsstaats beschworen werden könnte. Auch ist es ganz selbstverständlich, daß sich dieser Vorgang, solange an dem Wort Rechtsstaat festgehalten wird, in immer neuer Weise wiederholen wird, wie sich das im Jahre 1934 in den Auseinandersetzungen zwischen nationalsoziali­ stischem Staat und evangelischer Kirche gezeigt hat. Bestimmte Forderungen wer­ den dann mit Recht, Gerechtigkeit und Rechtsstaat gleichgesetzt und ein Kampf um eine vielleicht gute und gerechte Sache wird dadurch mit der hundertjährigen Problematik des Begriffes „Rechtsstaat“ belastet.[9] In den Lehrbüchern des Verfassungs-, Verwaltungs- und Strafrechts sowie ande­ rer Rechtsdisziplinen hat sich allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts ein gewis­ ser fester Katalog der besonderen Einrichtungen und Normen entwickelt, die in typischer Weise als „rechtsstaatlich“ gelten, in der juristischen Tagesliteratur als sichere Kennzeichen des Rechtsstaats behandelt und jede für sich mit dem Rechts­ staat gleichgestellt werden. Die landläufigen Nummern dieses Katalogs sollen gleich behandelt werden; vorher bedarf es aber noch eines kurzen Hinweises dar­ auf, daß jedes Staatswesen ein zusammenhängendes Ganzes ist. Aus wissenschaft­ lichen und praktischen Gründen kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß insbesondere der Begriff des Gesetzes in seinen sämtlichen Ausstrahlungen Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Gleichheit vor dem Gesetz, Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltungen - immer nur im staats- und verfassungsrechtli­ chen Gesamtzusammenhang aufgefaßt werden kann und daß „Gesetz“ etwas theo­ retisch und praktisch völlig Verschiedenartiges bedeutet, je nachdem es sich um das Gesetz einer konstitutionellen Monarchie, eines parlamentarischen Gesetzge­ bungsstaats oder eines modernen Führerstaats handelt. Völlig isolierte und aus je­ dem staatlichen Gesamtzusammenhang losgelöste Einrichtungen und Normen gibt es nicht, oder sie wären bloße Ausnahmen und als solche je nach der grundsätzli­ chen Auffassung entweder bedeutungslos, oder aber Ausgangspunkte für weitere Forderungen, um das grundsätzliche und „totale“ Rechtsstaatsproblem von der ent­ gegengesetzten Seite grundsätzlich aufzurollen (siehe oben § 3). Man ist sich z. B. H Nimii. ( irol.lrmim, Nomos

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darüber einig, daß die Unabhängigkeit der Richter eine rechtsstaatliche Forderung ist. Unabhängigkeit der Richter bedeutet aber in einem Führerstaat etwas anderes als in einer konstitutionellen Monarchie. Infolgedessen würde die Anerkennung der richterlichen Unabhängigkeit für ein von der konstitutionellen Monarchie her bestimmtes rechtsstaatliches Denken notwendigerweise dahin führen müssen, daß damit auch die ganze konstitutionelle Verfassungsgrundlage der richterlichen Un­ abhängigkeit, Gewaltenteilung und konstitutioneller Gesetzesbegriff anerkannt sind, während die Einfügung der richterlichen Unabhängigkeit in den Rahmen ei­ nes völlig anders gearteten Staats, z. B. eines Führerstaats, nicht als „wahre“ rich­ terliche Unabhängigkeit anerkannt werden könnte. Bei der folgenden Aufzählung einzelner „rechtsstaatlicher“ Einrichtungen und Regelungen darf demnach die Unabtrennbarkeit aller dieser Einrichtungen und Regelungen niemals außer acht ge­ lassen werden. 1. Im verfassungsrechtlichen Sinne sind als rechtsstaatliche Forderungen über­ liefert und besonders hervorgetreten: Erfordernis einer geschriebenen Verfassung (Verfassungsurkunde), bestimmter Inhalt dieser Verfassungsurkunde, nämlich Auf­ bau des Staats nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung, d. h. organisatorische Trennung von Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtspflege; ein be­ stimmter Katalog von Freiheitsrechten (persönliche Freiheit, Privateigentum, Frei­ heit der Meinungsäußerung, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Koalitionsfrei­ heit, Religionsfreiheit usw.); Unterwerfung der Regierung unter die gesetzgebende Körperschaft (Verantwortlichkeit der Regierung durch Gegenzeichnungspflicht der Minister, Ministeranklage vor dem Staatsgerichtshof, Rücktrittspflicht bei Miß­ trauensbeschlüssen der Volksvertretung). In dieser Vörstellungswelt wird der Rechtsstaat mit dem liberalen Verfassungsstaat gleichgestellt; dazu gehört untrenn­ bar ein bestimmter Gesetzesbegriff: Gesetz im formellen Sinn ist nur eine unter Mitwirkung der freigewählten Volksvertretung in einem bestimmten Verfahren nach öffentlicher Diskussion zustandegekommener Beschluß, weil nach liberaler Ansicht nur die Mitwirkung der Volksvertretung und nur dieses Verfahren die für ein Gesetz notwendige Vernunft und Gerechtigkeit gewährleisten können, die dem Gesetz seinen „Vorrang“ vor allen andern staatlichen Willensäußerungen gibt. Nur dadurch wird das Gesetz zu einer für alle geltenden Rechtsnorm und kann es die Grundlage der „Gesetzmäßigkeit des ganzen staatlichen Lebens“ sein. [10] 2. Die verwaltungsrechtlichen Ausprägungen dieser Verfassungsvorstellungen sind hauptsächlich folgende: a) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. „Das Wesen des Rechtsstaats liegt in der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ (vgl. den interessanten Beleg aus der Praxis bei Zinser, Verw.A. Band 39, S. 45). Die Be­ weislast trifft immer die verfügende Behörde; es gilt der „Grundsatz des gering­ sten Eingriffs“. „Im Rechtsstaat ist der Grundsatz wirksam, daß Eingriffe der Poli­ zei in die Rechte der Untertanen auf das engste zu beschränken sind“ (Zinser a.a.O, S. 48).

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b) Ausbildung und Erweiterung der subjektiven öffentlichen Rechte als eines Anspruchs des einzelnen, der „vom Staat etwas verlangen kann“, und dadurch „Macht über den Staat“ erhält (vgl. die Nachweise bei R. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 609 und Friedrichs, Subjektives Recht, Hand­ wörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 5, S. 823 ff. sowie die treffende Kritik bei Th. Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, Hamburg 1934). Die syste­ matische Ausbildung dieses liberalen Anspruchsdenkens im Staats- und Verwal­ tungsrecht beginnt mit dem zuerst 1892 erschienenen „System der subjektiven öf­ fentlichen Rechte“ von Georg Jellinek. c) Ausbildung und Erweiterung eines justizförmigen Rechtsschutzes zur Siche­ rung dieser subjektiven öffentlichen Rechte. Hierbei ist es relativ nebensächlich, ob die ordentlichen Gerichte der bürgerlichen Rechtspflege diesen Rechtsschutz übernehmen sollen (sogenannter „Justizstaat“ nach Otto Bähr, Der Rechtsstaat, Kassel, 1864) oder ob besondere Verwaltungsgerichte den Rechtsschutz wahmehmen. Solange diese Verwaltungsgerichte nur „Nachbildungen“ der ordentlichen bürgerlichen Gerichtsbarkeit sind (so W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 299) sind sie nur Sondergerichte und ist die Unterscheidung von Rechtsstaat und Justizstaat in der Sache ohne Bedeutung. Die Tendenz zur Justizförmigkeit des gesamten öf­ fentlichen Lebens und insbesondere der Verwaltung wird von Otto Mayer (Ver­ waltungsrecht I, S. 58, 62) als das entscheidende Kennzeichen des Rechtsstaats hingestellt. Eine Anwendung dieser Tendenz ist die Forderung einer allgemeinen Generalklausel für die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte in allen Streitigkei­ ten des öffentlichen Rechts nach Art der allgemeinen Zuständigkeit der bürgerli­ chen Gerichte für bürgerliche Streitigkeiten (W. Jellinek, a. a. O., S. 314: „Den Forderungen des Rechtsstaats wird allein die Generalklausel gerecht“). d) Ausbildung und Erweiterung des Grundsatzes allgemeiner Schadenshaftung des Staates oder der Körperschaften des öffentlichen Rechts sowohl für Amts­ pflichtsverletzungen ihrer Beamten (Art. 131 Weim. Verf.), wie auch bei rechtmä­ ßigen Einzeleingriffen (Auflösung des Enteignungsbegriffes in Art. 153 Abs. 2 Weim. Verf. durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts)9 unter Zulässigkeit des Rechtsweges vor den ordentlichen Gerichten. Was insbesondere die Schadenshaf­ tung für Amtspflichtsverletzungen angeht, so betont R. Thoma (bei Nipperdey, Grundrechte I, S. 28): dieses Prinzip (des Art. 131) ist „eine der tragenden Säulen des Gebäudes des deutschen Rechtsstaats“. 3. Im Strafrecht führt der Gedanke des liberalen Rechtsstaats dazu, die strafgesetzliche Normierung hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit indi­ vidueller Freiheit und der Berechenbarkeit staatlicher Eingriffe zu sehen. Das Strafgesetzbuch wird dadurch nach der berühmten Formulierung von F. v. Liszt zur ,Magna Charta des Verbrechers“.[11] An die Stelle des gerechten Grundsatzes „nullum crimen sine poena“[\2] tritt der positivistisch-gesetzesstaatliche Satz y Vgl. Hofacker, DJZ 1934, Sp. 889: „Die Konstruktion von subjektiven Rechten und Ent­ schädigungsansprüchen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung“.

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„nulla poena sine lege“, der erst in dem individualistischen, aufklärerischen Den­ ken des 18. Jahrhunderts entstanden ist101. Das Verbrechen wird als eine mit Strafe bedrohte Handlung definiert, d. h. die Strafe erscheint nicht mehr als Folge des Verbrechens, sondern das Verbrechen wird zu einem Denkprodukt der Strafandro­ hung. Die Durchführung der gerechten Strafe wird im Strafvollstreckungsanspruche des Staates aufgelöst und dadurch relativiert11. Dadurch, daß die Liszt’sehe soziologische Strafrechtschule ein „Täter-Strafrecht“ verlangte und den Gedanken der Spezialprävention betonte, erschien diese sozialliberale Richtung der Denkund Redeweise der Zeit als „polizeistaatlich“, während die konservative oder na­ tionalliberale Richtung des „Tat-Strafrechts“ sich als rechtsstaatlich bezeichnen konnte (vgl. Mezger, Lehrbuch des Strafrechts, S. 33, 37, 39). Diesen Gegensatz von soziologischer und klassischer Strafrechtsschule erkennen wir heute als eine intern liberale Gruppierung; er ist - wie die Arbeiten von Dahm, Henkel und Schaffstein klargestellt haben[13] - für die heutige nationalsozialistische Problem­ stellung überholt.

Schluß Durch die Erklärungen hervorragender nationalsozialistischer Rechtswahrer ist klargestellt, daß selbstverständlich auch im nationalsozialistischen Staat Rechtssi­ cherheit herrscht, daß die Gesetze dieses Staates unverbrüchlich gelten, die Richter unabhängig sind und ein ausgedehnter Rechtsschutz besteht. Man kann daher, wie es häufig von autoritärer Seite - Reichsminister Dr. Frick, Reichsjuristenführer Staatsminister Dr. Frank, Staatssekretär der Reichskanzlei Dr. Lammers, Staatsse­ kretär im Reichs- und Preußischen Justizministerium Dr. Freister, Ministerialdirek­ tor Dr. Nicolai - geschehen ist, den nationalsozialistischen Staat als einen Rechts­ staat bezeichnen. Dabei besteht allerdings kein Zweifel darüber, daß diese rechts­ staatlichen Einrichtungen jetzt auf dem Boden des nationalsozialistischen Staats stehen und sowohl die Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, wie die von Staat und Gemeinschaft nach Inhalt und Form nationalsozialistisch sind. Insbeson­ dere hat die große Rede des Reichsjuristenführers Dr. Frank über Nationalsozialis­ mus und Geistesleben vom 4. Oktober 1934 (Die Nationale Wirtschaft, 5. Nov. 1934, S. 373) dargelegt, daß sowohl die Unabhängigkeit des Richters wie auch die Freiheit der Wissenschaft auf diesem Boden des nationalsozialistischen Staates ge­ sichert ist. Es ist zu beachten, was auch schon für den faschistischen Staat geltend gemacht worden ist12, daß ein starker Staat mit unbestrittener politischer Führung eher und wirksamer imstande ist, die Sicherheit und Zuverlässigkeit des öffentli10 Vgl. H. Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, Hamburg 1934. 11 Darüber den überaus inhaltsreichen Aufsatz von Schaffstein, DJZ 1934, S. 1174. 12 So für den Faschismus: C. Costamagna, Elementi di Diritto pubblico fascista, Turin 1934, S. 33 ff.

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chen Lebens wie der privaten Sphäre zu gewährleisten als ein liberalistisch unterwühltes Gemeinwesen. Für den liberalen Rechtsstaat gilt jedenfalls das, was H. Nicolai, einer der Vorkämpfer für den nationalsozialistischen Rechtsstaat, gesagt hat (RVB1. 1934, S. 862), daß nämlich dieser Staat im Grunde kein Recht und kein Staat und infolgedessen kein Rechtsstaat war. „Der hohle Gesetzesstaat, der im letzten einen rechtlosen Staat mit einem staatenlosen Gesetz bedeutet, ist durch den nationalsozialistischen Rechtsstaat überwunden13.“ Soll also das problemati­ sche Wort Rechtsstaat auch für den nationalsozialistischen Staat übernommen und durch ihn überwunden werden, so scheint mir die beste und am wenigsten mißver­ ständliche Umprägung in der Formel zu liegen, die Dr. Hans Frank in seinem Vor­ trag vom 20. März 1934 (Deutsches Recht 1934, S. 120) geschaffen hat:[14] der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers.

Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. auch die wohl ersten Verwendungen des Wortes bei A. Müller, Die Elemente der Staatskunst, zuerst 1808 / 09, Ausg. 1936 (Hendel): „Sollen nun Finanzlehre und Rechtsleh­ re, wie ich gezeigt habe, beide einander durchdringen; soll die Rechtslehre, ob sie wirklich mit einer Idee oder nur mit Begriffen verkehre, dadurch zeigen, daß sie alle Finanzverhält­ nisse des Lebens als rechtliche und demnach die Totalität des Rechtsstaates aufzufassen im­ stande sei: so darf die alte Grenze zwischen Personen und Sachen, welche die Sprengel der Finanz- und Gerichtsbehörde absonderte, als tote Mauer nicht weiterbestehen. Der Justizmi­ nister - so nenne ich den Repräsentanten des Rechtsstaates - muß die Persönlichkeit, d. h. die Rechtsfähigkeit aller Sachen im Staate ebensowohl als die Rechtsfähigkeit der wirkli­ chen, lebendigen Personen zu erkennen wissen, wenn er nicht für den bloßen Wortführer ei­ nes Begriffs, einer Zunft gehalten sein will.“ (S. 103.) - »Jeder wahre organische Rechtsstaat muß, wie ich gezeigt habe, und wie auch die Natur durch die beschriebene Einrichtung der Erdoberfläche deutlich zu verstehen gibt, beschränkt sein im Raume, damit er ein wirkliches, lebendiges und abgeschlossenes Individuum sein könne.“ (S. 123.) Hier meint Müller, daß die „Rechtsidee“ sich nur in geographisch reich gegliederten, doch überschaubaren Staaten durchsetzt, die sich durch eine gewisse „Gegenläufigkeit aller politischen Verhältnisse“ aus­ zeichnen und durch einen „wahren Streit der Parteien“. Er weist auf Frankreich, England, Italien, Spanien u. Deutschland hin: „ . . . jeder (Staat) für sich ein politisches Ganze, eine abgesonderte Versammlung aller der streitenden Extreme oder Freiheiten . .. , welche dazuge­ hören, daß die Rechtsidee auf eine nationale Weise ausgebildet werden könne“ (S. 120); „organisch“ sind danach Staaten, die sowohl klimatisch und territorial als auch in ihrer wirt­ schaftlichen Struktur nicht „einseitig“ sind, vgl. ebd., S. 119 ff. - „Rechtsstaat“ ist hier ein Staat mit durch historische Kämpfe ausdifferenziertem Recht, der dadurch seine innere Plura­ lität organisiert; Müllers „Rechtsstaat“ hat also mit dem der v. Mohl, Bähr, Welcker, usw. kaum mehr als den Namen gemein; vgl. auch R. Asanger, Beiträge zur Lehre v. Rechtsstaat im 19. Jahrhundert, Diss. Münster 1938, bes. S. 1 ff. [2] Vgl. v. Hauriou, Précis de Droit constitutionnel, 1923, S. 257 - 66, wo H. „L’état de droit par la soumission au juge; l’ancien régime coutumier et judiciaire“, vom „L’état de 13 H. Lanxe, a. a. O., S. 40.

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droit par soumission à la loi écrite; le nouveau régime legal et administratif4 unterscheidet; Duguit umreißt den „état de droit“ in: Traité de Droit constitutionnel, 2. Aufl., III, 1923, auf den S. 547 - 56. Die italienische Entwicklung untersucht: C. Caristia, Ventura e avventura di una formola: „Rechtsstaat“, in: Ri vista di Diritto pubblico e della pubblica amministrazione in Italia, 1934, S. 388 - 408, der, im Ggs. zu den o. a. französischen Autoren, die Schwierig­ keiten mit der Übersetzung des Begriffs erörtert und auf die deutschen Anreger hinweist. G. del Vecchio, Lezioni di filosofia del diritto, 2. Aufl., Città di Castello 1932, behandelt den „Stato di diritto“ S. 294 - 299; bei Romano, Corso di Diritto costituzionale, 2. Aufl., Padua 1928, sucht man selbst das Wort vergeblich. V. E. Orlando, Primo trattato completo di diritto amministrativa, Mailand 1900,1, Introduz., c. III, bevorzugt „Stato giuridico“. Von Luis del Valle Pascual lag uns nur s. später erschienenes Werk „Manual de Derecho Politico“, Sara­ gossa 1941, vor, wo der „Estado de Derecho“ nur kurz, u. a. auf den S. 252 f., 257 f., 277 f. betrachtet wird. Die nur beiläufige Erwähnung des Begriffs scheint typisch für das romani­ sche Schrifttum der 20er - 40er Jahre zu sein; man findet das Wort nicht einmal in Handbü­ chern wie: Joseph-Barthélemy / P. Duez, Traité de Droit constitutionnel, Ausg. Paris 1933; G. Burdeau, Manuel de Droit constitutionnel, 5. Aufl., Paris 1947; Laferrière, Manuel de Droit constitutionnel, 2. Aufl., Paris 1947; M. Duverger, Manuel de Droit constitutionnel et de Science politique, 5. Aufl., Paris 1948. - Bei anti-liberalen Autoren wird hingegen öfters auf den „Rechtsstaat“ Bezug genommen, wohl aus Gründen der Abgrenzung, vgl. u. a. C. Ruiz del Castillo y Catalan de Ocôn, Manual de Derecho Politico, Madrid 1939, S. 131 - 134, der den „Estado de Derecho“ mit dem überwundenen bzw. in der Krise befindlichen liberalen Staat identifiziert. Für Costamagna, Elementi di Diritto pubblico fascista, Turin 1934, § 30, S. 36 ff., ist der „Stato Fascista“ ein „Stato di diritto nel senso obbiettivo della parola . . . per il rafforzamento che esso viene a dare all’ordine giuridico“ (S. 37); vgl. jedoch ders., Dottrina del fascismo, 2. Aufl. 1940, S. 153, wo die Bezeichnung „Stato di diritto nel senso in cui si volle indicare lo Stato modemo“ für den faschistischen Staat abgelehnt wird. [3] Gemeint ist der Artikel von Dr. Oswald, Jeremias Gotthelf über Staat, Recht und Ge­ sellschaft - Ein Wort über seine Bedeutung für die deutsche Gegenwart, DJZ, 1934, Sp. 1258 63. O. weist bes. auf Gotthelfs Roman „Der Schuldenbauer“ hin, der ursprünglich „Hans Joggli und der Rechtsstaat“ heißen sollte. [4] Scharf getrennt werden Justiz- (bzw. Patrimonial-), Polizei- und Rechtsstaat bei O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, I, S. 25 ff.; Jellinek, Verwaltungsrecht, Ndr. 1966, S. 80 ff.; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, Ndr. d. 8. Aufl. V. 1928, 1963, S. 28 ff. Zur Kritik: E. Kaufmann, Verwaltung, Verwaltungsrecht (zuerst 1914), in: ders., Gesammelte Schriften, I, 1960, S. 75 - 142, bes. S. 138 ff.; H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), 1966, S. 27 ff.; auch G. Rohatyn, Rechtsstaat und Polizeistaat als historische Typen, ZöR, 3 / 1931, S. 429 - 35. Vgl. a. vorl. Bd., Das „Allgemeine Deutsche Staatsrecht“ . .. , S. 182, FN [18].567* [5] Vgl. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, HZ, 120. Bd., 1919, S. 1 - 79. Grundsätzl. z. mittelalterlichen „Rechtsbewahrstaat“: H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 66 f. [6] Vgl. Stein, Verwaltungslehre, I, 2. Aufl. 1869, Ndr. 1975, S. 296. [7] Stahl, Die Philosophie des Rechts, II, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 3. Aufl. 1856, S. 138; ähnlich schon in: Der christliche Staat u. sein Verhältnis zu Deismus und Judentum, 1847, S. 61 f.

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[8] Vermutlich stammt diese Wendung aus dem Aufsatz v. L. Raggi, La parabola di un concetto, Annuario dell’Université di Camerino, 1907 / 08, der uns leider nicht vorlag (vgl. Caristia, wie FN [2], S. 404); Schmitt bezieht s. wohl auf diesen Aufsatz in s. FN 4. [9] Bezieht sich auf den juristischen Kampf gg. die staatskirchlichen Ambitionen des Reichsbischofs Ludwig Müller (1883 - 1945) und des mit Schmitt befreundeten deutsch­ christlichen Bischofs Heinrich Oberheid (1895 - 1977), Chef d. Stabes beim Reichsbischof; zu letzterem u. seiner Beziehung zu Schmitt vgl.: H. Faulenbach, Ein Weg durch die Kirche Heinrich Josef Oberheid, 1992. Besondere Bedeutung kam hier, auf Seiten d. Bekennenden Kirche, dem Leipziger Reichsgerichtsrat Wilhelm Flor (1882 - 1938) zu; vgl. von ihm: Der Kirchenstreit vom Rechtsstandpunkt aus beurteilt, Junge Kirche 1 / 1933, S. 226 - 239; Sind die von der „Nationalsynode“ am 9. August 1934 beschlossenen Gesetze rechtsgültig?, ebd., 2 / 1934, S. 687 - 91. Dazu auch: R Haller, Der Rechtskampf der Bekennenden Kirche und ihre Juristen, Diss. jur., Freiburg i. Br. 1963; K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, II, Ausg. 1988, bes. S. 42 ff. [10] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 138 - 157, „Der rechtsstaatliche Gesetzesbe­ griff4. [11] Die „Magna Charta des Verbrechers“ ist lt. v. Liszt der Satz nullum crimen, nulla poena sine lege, vgl. ders., Aufsätze und Vorträge, II, 1905, S. 60, 80. [12] Die Ersetzung von nulla poena sine lege durch nullum crimen sine poena lief auf eine Abschaffung des Analogieverbotes hinaus. Reichsjustizminister Franz Gürtner sah im Grundsatz nullum crimen sine poena den Anspruch der „Verwirklichung wahrer Gerechtig­ keit“, die sich durch den Begriff des „materiellen Unrechts“ und in der Befugnis des Richters „Recht zu schöpfen“, konkretisierte: Gürtner, Der Gedanke der Gerechtigkeit in der deut­ schen Strafrechtsemeuerung, in: ders. / R. Freisler (Hrsg.), Das neue Strafrecht, 1936, S. 22, 23, 25. K. Schäfer, Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht. Allgem. Teil, 1934, S. 128 ff., erklärte: „Ist die Tat nicht aus­ drücklich für strafbar erklärt, aber eine ähnliche Tat in einem Gesetz mit Strafe bedroht, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn der ihm zugrundeliegende Rechtsgedanke und die ge­ sunde Volksanschauung Bestrafung fordern.“ (S. 132.) Vgl. auch die Gesetzesnovelle v. 28. 6. 1935, RGBl. I, 839. Zum Kampf gegen das Analogieverbot im III. Reich: Kl. Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, bes. S. 192 ff.; W. Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbotes 1935, in: M. Stolleis/D. Simon (Hrsg.), NS- Recht in historischer Perspektive, 1981, S. 71 ff.; M. Bock, Naturrecht u. Positivismus im Strafrecht zur Zeit des Nationalsozialismus, Zeitschrift f. Neuere Rechts-Geschichte, Nr. 3 - 4 / 1984, S. 132 ff., bes. S. 141 ff.; H. Rüping, Nullum crimen sine poena - Zur Diskussion um das Analogieverbot im Nationalsozialismus, FS D. Oehler, 1985, S. 27 ff.; H. L. Schreiber, Die Strafgesetzgebung im „Dritten Reich“, in: R. Dreier / W. Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 151 ff., bes. S. 161 ff. - Vgl. auch Schmitts Kritik am Prinzip „nulla poena sine lege“ in: Nationalsozialistisches Rechtsdenken, Deutsches Recht, 25. 5. 1934, Sp. 228; Der Weg des deutschen Juristen, DJZ, 1. 6. 1934, Sp. 692 f., sowie die Göttin­ ger Diss. v. H. Hennings, Die Entstehungsgeschichte d. Satzes nulla poena sine lege, 1933.13 [13] Gemeint sind vor allem: Dahm / Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht ?, 1933, u. Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, 1934. Ausführl. Literaturhinweise bei Marxen, wie FN [12].

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[14] Vgl. auch W. Glungler, Theorie der Politik, 1939, S. 301, zu einem Vortrag Franks am 26. 1. 1938.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien zuerst in: Dr. Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, München 1935, Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf., S. 3 - 10; ein unveränderter Nachdruck in der 2. Aufl., ebd., 1936, gleiche Paginierung. Eini­ ge Motive wurden vorweggenommen in: Nationalsozialismus und Rechtsstaat, Juristische Wochenschrift, H. 12 / 13, 1934, S. 713 - 17. - Wegen der starken Überschneidungen mit dem hier folgend abgedruckten Aufsatz „Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat4?“ sind die jeweiligen Fußnoten Schmitts und des Herausgebers evtl, auch für den jeweils anderen Aufsatz von Interesse. - Zu Schmitts Rechtsstaatskritik bzw. Kritik am Begriff „Rechtsstaat“ vgl. u. a.: D. Schindler, Über den Rechtsstaat, Festgabe f. Max Huber, 1934, S. 182 ff.; G. Dietze, Rechtsstaat und Staatsrecht, FS für G. Leibholz, II, 1966, S. 17 ff.; ders., Staatsrecht und Rechtsstaat, FS f. C. J. Friedrich, 1971, S. 526 ff.; V. Hartmann, Repräsentation i. der polit. Theorie u. Staatslehre in Deutschland, 1979, S. 224 ff.; C. H. Ule, Carl Schmitt, der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Verwaltungs- Archiv, 1 / 1990, S. 1 ff.; E. Sarcevic, Missbrauch eines Begriffs - Rechtsstaat und Nationalsozialismus, Rechtstheorie, H. 1 / 2, 1993, S. 205 ff., O. Beaud, La critique de l’État de droit chez Carl Schmitt, Cahiers du Centre de philosophie politique et juridique de Caen, 1994, S. 111 ff. - „Der Streit um den Rechtsstaat“, der z. T. schon vor 1933 einsetzte (und sich dabei auch auf Schmitts „Verfas­ sungslehre“ (1928) und „Legalität und Legitimität“ (1932) bezog) wird übersichtlich darge­ stellt bei K. Groß-Fengels, Der Streit um den Rechtsstaat, Diss. Marburg 1936 (bei Herrfahrdt u. Zimmerl), sowie bei U. Schellenberg, Die Rechtsstaatskritik. Vom liberalen zum nationalen und nationalsozialistischen Rechtsstaat, in: E. W. Böckenförde (Hrsg.), Staats­ recht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985, S. 71 - 88. - Unter Schmitts Leitung wurde das Thema weiter erörtert, vgl.: Disputation über den Rechtsstaat, von Günther Krauß u. Otto von Schweinichen, mit einer Einleitung und einem Nachwort von Carl Schmitt, 1935. Dazu: J. v. Kempski, Disputation über den Rechtsstaat, Berliner Börsen- Zeitung, 29. 9. 1935; G. (= A. E. Günther), Eine Disputation über den Rechtsstaat, Deutsches Volkstum, Dez. 1935, S. 915 - 18. Diese Disputation, die anläßlich der Promotion Krauß’, am 1.2. 1935 in der Berliner Universität stattfand, schildert Krauß in: Erinnerungen an Carl Schmitt: Nachträ­ ge, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 48 ff. Maurizio Fioravanti, Kelsen, Schmitt e la tradizione dell’Ottocento, in: Crisi istituzionale e teoria dello Stato in Germania dopo la Prima guerra mondiale, Bologna 1987, S. 51 - 103, hier S. 85 - 95, geht näher auf die Beziehung Otto Mayer-Schmitt ein. Allgemein zum Thema: F. Schneider, Die polit. Komponente d. Rechtsstaatsidee in Deutschland, PVS, 3/1968, S. 330 ff.; E. W. Bökkenförde, Entstehung u. Wandel d. Rechtsstaatsbegriffes, FS A. Arndt, 1969, S. 53 - 76 (mehrere Nachdrucke); U. Scheuner, Der Rechtsstaat u. die soziale Verantwortung d. Staates. Das wissenschaftliche Lebenswerk von R. v. Mohl, Der Staat, 1/1979, S. 1 - 30. Materialien in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, u. M. Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 2 Bde., 1978. - Eine frühe, „klassische“ und doch gerne vergessene Kritik: L. Gumplowicz, Rechtsstaat und Socialismus, 1881, Ndr. 1964.

Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat44? I. Die rechts- und staatswissenschaftliche Streitfrage des „Rechtsstaates“ hat sich im faschistischen italienischen Staat wie im nationalsozialistischen Deutschen Reich bald nach der legalen Machtergreifung erhoben. In wissenschaftlicher Ge­ rechtigkeit müssen wir anerkennen, daß die italienische Staats- und Rechtsphiloso­ phie des Jahres 1922 auf diesen Streit besser vorbereitet war als die an deutschen Universitäten herrschende Philosophie des Jahres 1932. So ist z. B. das Buch Lo Stato di diritto des damaligen Bologneser Privatdozenten Sergio Panunzio, dessen erster Teil 1921 erschien, ohne Zweifel tiefer und bedeutender als das 1932 er­ schienene Buch Rechtsstaat oder Machtstaat? des damaligen Heidelberger Privat­ dozenten Friedrich Darmstaedter.[\] So erklärt es sich wohl auch, daß sich ein großer Teil der 1933 und 1934 veröffentlichten deutschen Broschüren und Aufsät­ ze über den Rechtsstaat^] in leeren Tautologien bewegt und aus dem Banne eines elementaren Denkfehlers nicht heraustritt: Man stellt den Rechtsstaat als den Ge­ genbegriff zu einem Nicht-Rechtsstaat im Sinne von Unrechtsstaat (Machtstaat, Gewaltstaat, Willkürstaat, Polizeistaat) hin und hat es dann natürlich leicht, den Rechtsstaat über einen solchen Widersacher triumphieren zu lassen. Aber so billig geht es in dem großen geistigen Kampf der Volker und Zeiten nicht zu. Hier ringt nicht der Sinn mit dem Unsinn, sondern Sinn mit Gegen-Sinn und Leben mit dem Leben. Nur ein solcher Kampf ist wirklich der „Vater und König von Allem“, auch von einer fruchtbaren rechts- und staatswissenschaftlichen Erkenntnis. In der Auffassung des Rechtsstaates als des bloßen Gegensatzes gegen den Un­ rechts- oder Machtstaat bekundet sich nichts anderes als der Sieg der bürgerlich­ individualistischen Gesellschaft über Recht und Staat. Abgesehen von dieser symptomatischen Bedeutung hat diese Auffassung heute keinerlei wissenschaftli­ chen Belang oder Rang. In Wirklichkeit ist gerade Rechtsstaat der Gegenbegriff gegen einen unmittelbar gerechten Staat; es ist ein Staat, der „feste Normierun­ gen“ zwischen sich und die unmittelbare Gerechtigkeit des Einzelfalles einfügt. Die allein sinnvollen Gegenbegriffe gegen einen Rechtsstaat sind Staatsarten, die eine andere als diese bloß mittelbare „normative“ Beziehung zur Gerechtigkeit ha­ ben, also der Religions- oder der Weltanschauungs- oder der Sittlichkeitsstaat. Es ist nicht zufällig-geschichtlich, sondern geistig notwendig gewesen, daß Wort und Begriff des Rechtsstaates erst um das Jahr 1830 und gerade in Deutschland zuerst durchdrangen. In folgenden, 1832 veröffentlichten Sätzen hat Robert Mohlt der als der Vater eines rechts- und staatswissenschaftlichen Begriffes vom Rechtsstaat

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gilt1, eine weltanschauliche Grundlage zu geben versucht, ohne mehr zu erreichen als die Forderung einer Unterwerfung des Staates unter die individualistisch-bür­ gerliche Gesellschaft: „Der religiösen Lebensrichtung des Volkes entspricht nämlich die Theokratie; der bloß sinnlichen die Despotie; der einfachen Familienansicht der patriarchalische Staat; dem sinnlich-vernünftigen Lebenszwecke aber der sogenannte Rechtsstaat. . . . Ein Rechts­ staat kann also keinen andern Zweck haben als den: das Zusammenleben des Volkes so zu ordnen, daß jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Übung und Benützung seiner sämtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde. . . . Die Frei­ heit des Bürgers ist bei dieser Lebensansicht oberster Grundsatz . . ., die Unterstützung des Staates kann daher nur negativer Art sein und bloß in der Wegräumung solcher Hin­ dernisse bestehen, deren Beseitigung den Kräften des einzelnen zu schwer wäre.. . . Der ganze Staat ist nur dazu bestimmt, diese Freiheit (des Bürgers) zu schützen und möglich zu machen“12.

In der geschichtlichen Lage des deutschen 19. Jahrhunderts ist „Rechtsstaat“ der Gegenbegriff gegen zwei Arten von Staat: gegen den christlichen, also einen von der Religion her bestimmten, und gegen den als ein Reich der Sittlichkeit auf­ gefaßten Staat, nämlich den preußischen Beamtenstaat der Staatsphilosophie He­ gels. [3] Im Kampf gegen diese beiden Gegner tritt der Rechtsstaat ins Leben. Das ist seine Herkunft, sein principium, wenn ich so sagen darf: seine Rasse. Große Denker und Gelehrte wie Lorenz von Stein3 und Rudolf Gneist4 versuchten unter 1 Lorenz von Stein und Gneist erkennen Mohls Vaterschaft an; Bismarck spricht von dem „von Robert von Mohl erfundenen Kunstausdruck Rechtsstaat“ ; vgl. Carl Schmitt, Staatsge­ füge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, 1934, S. 21. Doch hat Mohl das Wort Rechts­ staat vorgefunden; eine genauere Wortgeschichte fehlt noch, vgl. die Bemerkung von Ri­ chard Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, Jahrb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 4, 1910, S. 197. Ein interessantes früheres Beispiel findet sich in Adam Müllers Elementen der Staatskunst, 1809 (wahrer organischer Rechtsstaat), und in sei­ nen Deutschen Staats-Anzeigen, Bd. 2, 1817, S. 33, wo von den Verwickelungen des „bloßen Geld-, Kriegs- und Beamten-Staates “ die Rede ist, der mit Schwierigkeiten zu kämpfen habe, „um sich wieder zu der Würde eines Rechts-Staates zu erheben.“ 2 R. Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 1832, Bd. I, S. 5, 7, 14 usw. 3 L von Stein, Die Verwaltungslehre 1(1. Aufl. 1865, 2. Aufl. 1869), S. 297. 4 R. Gneist, Der Rechtsstaat, 1. Aufl., 1872, S. 1 f., 180 f.; vgl. besonders S. 181 f.: „Der Rechtsstaat ist kein Juristenstaat, welcher durch Arbeitsteilung sein öffentliches Recht einem einzelnen Stande auftragen könnte, während die übrige Gesellschaft ihrem Erwerb und Ge­ nuß nachgibt und in Presse und Vereinsrecht ihre Interessen organisiert. . . . Wenn die extre­ men Elemente der Gesellschaft dem Staat sein Recht und seine Existenz bestreiten, wenn die wesentlichsten Rechte der Staatsgewalt kurz und absprechend als Polizei, Bureaukratie und Willkür bezeichnet werden, so, denke ich, wäre es der Beruf des Juristen, daran zu erinnern, daß der deutsche Staat von Hause aus ein Rechtsstaat ist, daß nicht die ,Bureaukratie‘, son­ dern das Mißverständnis unserer Gesellschaft den Rechtsstaat zerstört hat, daß unser Staat die Ordnung des Rechts und der Finanzen nicht erst von der Volksvertretung erlernt hat, son­ dern daß wir die vorhandenen tüchtigsten Staatseinrichtungen der europäischen Welt unter geordneter Mitwirkung der Gesellschaft nur fortsetzen und vervollkommnen wollen.“ Nicht einmal diese ergreifende Mahnung eines der besten Sachkenner und eines parteipolitisch un-

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ungeheuren Anstrengungen, mit Hilfe eines „deutschen“, auf die Harmonie von Staat und Gesellschaft hinzielenden Rechtsstaatsbegriffes die Unterordnung des Staates unter die bürgerliche Gesellschaft aufzuhalten. Aber auch sie vermochten das Gesetz einer solchen Herkunft nicht zu überwinden. Alles Folgende ist nur die folgerichtige Entwicklung dieses Anfangs: die Abtrennung des Rechts von Religi­ on und Sittlichkeit; der „rein juristische“ Begriff des Rechts, den Rudolf Sohm be­ zeichnenderweise den „Rechtsbegriff des Rechts“ nennt* 5; die Verwandlung von Recht und Gerechtigkeit in ein positivistisches „ziviles Zwangsnormengeflecht“6, dessen ganze Gerechtigkeit in der Rechtssicherheit, d. h. in seiner Berechenbarkeit besteht; das Ideal der Justizförmigkeit aller Staatsakte und der Grundsatz der „Gesetzmäßigkeit“ der Verwaltung, ja, der normativistischen Bindung des gesam­ ten staatlichen Lebens, die Recht und Gesetz zum bloßen Fahrplan der bürokrati­ schen Maschine macht. Ein christlicher Staat konnte seine Totalität und Ganzheit aus dem religiösen Glauben eines damals noch durchaus christlichen Volkes gewinnen; der Staat als Reich der Sittlichkeit und der objektiven Vernunft war ebenfalls noch einer Totali­ tät fähig und jedenfalls der bürgerlichen Gesellschaft übergeordnet; der Rechts­ staat des 19. Jahrhunderts dagegen ist nichts als der zum Mittel und Werkzeug der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft gewordene neutrale Staat.

II. Der Sieg dieses bürgerlichen Rechtsstaats über den christlichen wie über den Hegelschen Sittlichkeitsstaat war entschieden, als es einem als „konservativ“ aner­ kannten Autor, Friedrich Julius Stahl (Joison), gelungen war, Hegels Staatsphilo­ sophie bei den deutschen Konservativen als „undeutsch“ zu diskreditieren und den christlichen Staat durch die Kombination „christlicher Rechtsstaat“ in das Be­ griffsnetz des Rechtsstaates hineinzuführen. Die im Streit zwischen christlichem Staat und Rechtsstaat verblüffend einfache Begriffskombinatorik eines „christli­ chen Rechtsstaates“ arbeitete mit dem Kunstgriff eines inhaltlosen, „rein forma­ len“ Begriffes. „Der Rechtsstaat bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt eines verdächtigen Mannes hat es verhindern können, daß das rohe politische Schlagwort Rechts­ staat gegen Polizeistaat als »juristische“ und streng „wissenschaftliche“ Unterscheidung eine ganze Generation hindurch deutschen Studenten der Rechtswissenschaft und heranwachsenden deutschen Beamten in zahlreichen Lehrbüchern und von den meisten deutschen Kathe­ dern herab als „herrschende“ Lehre eingehämmert worden ist. 5 Darüber die Berliner Dissertation von Günther Krauss, Das rechtswissenschaftliche Denken Rudolf Sohms, 1935. [Als Buch u. d. T. „Der Rechtsbegriff des Rechts“, Hamburg 1936.-G . M.]. 6 Diese treffende Bezeichnung übernehme ich von Paul Ritterbusch, vgl. seinen Aufsatz „Recht, Rechtsetzung und Theorie der Rechtsetzung im mittelalterlichen England“ in der Festgabe für Richard Schmidt, 1932, S. 212 f., bes. S. 233 f.

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Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen.“^ ] Dieser be­ rühmte Satz stellt Ziel und Inhalt gegen Art und Charakter und benutzt die bekann­ te und beliebte Trennung von Zweck und Mittel in einer besonderen Weise. Er mußte zu dem Ergebnis führen, daß nicht, wie sonst, der Zweck das Mittel, son­ dern umgekehrt, das Mittel, eben der zum bloßen Mittel gewordene Rechtsstaat, den Zweck heiligen konnte. So ist es begreiflich, daß alle Liberalen mit dem Rechtsstaatsbegriff und dem eben zitierten Satz eines derartigen „Konservativen“ einverstanden waren. Otto Bähr stellt ihn an die Spitze seines Buches „Der Rechts­ staat“ (1864). Rudolf Gneist sagte: „Was Stahl als Rechtsstaat bezeichnet, konnte jeder seiner Gegner wörtlich unterschreiben“7, und noch Richard Thoma bewun­ dert „die Tiefe und Klarheit, mit der dieser seltsam inkonsequente Denker“ die immer im Fluß befindlichen Staatszwecke von den rechtlich gesicherten Formen ihrer Verwirklichung unterschieden habe8. Die Verwandlung des Rechtsstaatsbegriffes in einen formalen Begriff bedeutete eine Neutralisierung und Technisierung, vor allem aber eine doppelte Indienststel­ lung. Erstens stellte der Begriff des Rechtsstaates den Staat von Anfang an in den Dienst des Rechts - aus dieser Unterwerfung des Staates unter das Recht zog der Liberalismus die ideologische Rechtfertigung seines Kampfes gegen den Staat, und das Pathos dieser Unterwerfung des Staates unter das Recht ist von Stahl (Joi­ son) über Lasker und Jacoby9 bis zu dem eingangs erwähnten Darmstaedter und ähnlichen „Idealisten des Rechtsstaates“ immer dasselbe. Zweitens aber war durch den Kunstgriff Stahls nunmehr auch das Recht formalisiert und zum Instrument der Verwirklichung irgendeines beliebigen Inhaltes oder Zweckes geworden. Jetzt kann es einen christlichen und einen antichristlichen, einen liberalen, einen natio­ nalen und einen antinationalen Rechtsstaat geben und ist Rechtsstaat nicht mehr der Gegenbegriff gegen einen Religions-, Weltanschauungs- oder Sittlichkeitsstaat, sondern ein bloßes „Mittel“ und eine Methode. Wenn H. Oncken den NationalLiberalen Lasker als den „Idealisten des Rechtsstaates“ dem ebenfalls NationalLiberalen Bennigsen als dem „Idealisten des Nationalstaates“ gegenüberstellt101, so zeigt sich darin ein Rest von inhaltlicher Weltanschauung, der es verhindert, einen „nationalen Rechtsstaat“ zu kombinieren. In dem Kampf, den Constantin Frantz gegen den Nationalliberalismus führt11, ist Rechtsstaat noch ein typisch liberaler 7 R. Gneist, Der Rechtsstaat, 1872, S. 16. 8 R. Thoma, a. a. O., S. 198. 9 In der Rede Jacobys im Preußischen Abgeordnetenhaus vom 23. August 1866 (Sten. Ber. Bd. I, S. 73) tritt der Gegensatz des Rechtsstaates gegen den nationalen Staat besonders scharf zutage. Es ist dies die Rede zur Indemnitätsfrage, in der Jacoby, unter Berufung dar­ auf, daß er für den „Rechts- und Verfassungsstaat“ kämpfe, Bismarcks Entlassung verlangt und von den Siegen des preußischen Heeres sagt, sie gereichten „dem preußischen Volk we­ der zur Ehre, noch dem gesamten deutschen Vaterland zum Heile“. 10 Vgl. R. Thoma, a. a. O., S. 200, Anm. 1. 11 Constantin Frantz, Die Religion des Nationalliberalismus, 1872, S. 258: „Wie in nichts verschwindet [gegen die christliche Vorstellung eines Bundes, den Gott mit dem Menschen geschlossen hat] der gepriesene Rechtsstaat, der für sich allein schon das Band sein will.

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Gegenbegriff gegen einen von der „christlichen Weltansicht“ getragenen Staat. Aber das wird von der „Neutralität“ und Positivität des formalen Rechtsstaatsbe­ griffs wenigstens scheinbar bald überholt. Dieser „formale“ Begriff hat eben kei­ nen Inhalt mehr, läßt aber jeden Inhalt zu. Allerdings kann er das nur unter der Bedingung, daß dieser Inhalt sich dem Normativismus der formalen Rechtsstaat­ lichkeit unterwirft. Das bedeutet aber, näher betrachtet, nicht weniger, als daß dieser Inhalt auf sei­ ne Inhaltlichkeit verzichtet und sich als Inhalt (als Religion, Weltanschauung, Sitt­ lichkeit) aufgibt, um »juristisch“ zu werden. Im Staats- und Verwaltungsrecht des Rechtsstaats hat sich längst herausgestellt, daß die Rechtslehre des normalen Rechtsstaates immer nur Normensetzung und Normenanwendung („Normenkon­ kretisierung“) unterscheiden kann. Ihr Normativismus ist infolgedessen eines sach­ lichen Begriffs nicht mehr fähig. Was die bis heute herrschende Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre als Gesetzgebung oder Verwaltung oder Justiz „im mate­ riellen Sinne“ ausgibt12, läuft immer nur auf die Unterscheidung von Normenauf­ stellung und Normenanwendung hinaus und ist in keinem Sinne des Wortes etwas „Materielles“ oder sachinhaltlich Bestimmtes. Normen aufstellen oder Normen an­ wenden ist doch keine Materie oder ein Sachgebiet. Von der Norm her oder dem Gesetz her ist überhaupt kein materieller Begriff zu gewinnen. Deshalb verwandelt sich alles, was dieser gesetzesstaatliche Normativismus in die Hände nimmt, in Gesetzgebung oder Gesetzesanwendung, und dadurch entfallt nicht nur die Mög­ lichkeit einer Unterscheidung von Justiz und Verwaltung, sondern jede Möglich­ keit irgendeiner vernünftigen und sachlichen Unterscheidung überhaupt. Schließ­ lich läßt sich alles, was die Menschen tun, auf irgendwie geltende „Normen“ bezie­ hen; auch der Schuster soll und will die Schuhe richtig, also normgemäß besohlen, und der Fußballspieler soll und will richtig Fußball spielen: ihr Tun kann nicht weniger als Normenkonkretisierung gedeutet werden wie Prozeßentscheidungen oder Verwaltungsakte. Für die Rechtsnormen bleibt dann nur noch das Kennzeichen des Zwanges und der Erzwingbarkeit übrig, wodurch alle Rechtsnormen, wie Georges Renaud rich­ tig gesehen hat13, zu leges mere poenales werden.Außerdem müssen gerade die dem öffentlichen Leben wesentlichen Rechtsvorgänge bei dieser Art normativistischer Rechtsstaatlichkeit entweder beiseite gelassen oder in ihrem rechtlichen We­ sen verfälscht werden. Die Vermutung der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns; die unmittelbare Vollstreckbarkeit von Verwaltungsakten; die Möglichkeit unmit­ telbaren Zwanges auch ohne Verwaltungsakt; das, was Otto Mayer das „große Recht des Staates auf Gehorsam“ nannte14, was Maurice Hauriou in einer großartiwelches den Menschen mit dem Menschen verbindet, und dazu des Bandes, welches den Menschen mit Gott verbindet, gamicht zu bedürfen vorgibt.“ 12 Vgl. E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932, S. 150 f., und das dort angegebe­ ne Schrifttum. 11 Mélanges Maurice Hauriou, 1929, S. 623, 629.

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gen Auseinandersetzung mit dem Anarchismus der gesetzesstaatlichen Theorie Duguits als Recht auf den „vorgängigen Gehorsam“, die „obéissance préalable“ darlegte14 15, und was ich als die „politischen Prämien auf den legalen Machtbesitz“ anschaulich zu machen versucht habe16 - alles das geht in der leeren Allgemein­ heit und der allgemeinen Leere dieses Normen- und Gesetzesdenkens unter. Jede kraftvolle Durchsetzung der konkreten Ordnung, selbst die Verhinderung eines Verbrechens durch die Polizei kann dann nur noch als „Notrecht“ des Staates be­ griffen werden, wobei dann womöglich noch die Frage aufgeworfen wird, ob der Staat sich nicht auch dieses Notrechts begeben könne17. Damit war die Beseitigung jeder sachinhaltlichen Gerechtigkeit vollendet und der Rechtsstaat zum reinen Gesetzesstaat geworden. Während der frühe liberale Rechtsstaat noch eine Weltanschauung hatte und eines politischen Kampfes fähig war, ist die einzige Weltanschauung, der ein solcher positivistischer Gesetzesstaat spezifisch zugehört, ein hilfloser Relativismus, Agnostizismus oder Nihilismus, dem das Recht ein „ethisches Minimum“ ist, der an die „normative Kraft des Fakti­ schen“ glaubt und dem die unmittelbare Gerechtigkeit des Satzes nullum crimen sine poena[5] einen panischen Schrecken einjagt.

III. Diesen Gesetzesstaat eroberte die nationalsozialistische Revolution. Daß sie nicht in ihn einmünden oder gar in ihm untergehen kann, versteht sich von selbst. Sie gab dem Deutschen eine mit den Begriffen jenes blut- und bodenfremden Ge­ setzesstaates unvereinbare, neue Grundordnung. Aber infolge der legalitären Durchführung dieser Revolution haben sich neue, den Rechtsstaat betreffende Fra­ gen erhoben. Bei ihrer Beantwortung sind verschiedene Blickpunkte und Haltun­ gen möglich, wobei unwichtige Anpassungsversuche (z. B. der hilflose, den gan­ zen rechtsstaatlichen Dualismus von Recht und Staat enthüllende Vorschlag, heute 14 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1924, Bd. I, S. 104 f. 15 Maurice Hauriou, Principes de droit public, 2. Aufl., 1916, S. 799 f., bes. S. 804: „II s’agit de savoir de quel côté est le préalable, si c’est du côté de l’autorité qui commande ou si c’est du côté du sujet qui obéit; si le sujet, avant d’obéir, peut soulever la question préalable de la légalité de l’ordre ou bien si, au contraire, il est obligé d’obéir avant de soulever la question de légalité. Faire passer le préalable du côté de la légalité, c’est détruire l’obéissance préalable aux ordres du gouvernement, c’est détruire le droit propre du gouver­ nement: ,L’autorité souveraine, disait Jurieu, est celle qui n’a pas besoin d’avoir raison pour justifier ses actes.* Entendenz, celle qui n’a pas besoin de justifier qu’elle a raison pour exi­ ger l’obéissance préalable. Exiger cette justification, c’est détruire la force propre de la sou­ veraineté et c’est de 1’anarchie.“ Das Gleiche gilt, meiner Ansicht nach, für die Entstellung dieses normalen Rechts auf unmittelbaren und „vorgängigen“ Gehorsam zu einem bloßen „Notrecht“. 16 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 35 f. 17 W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1931, S. 342.

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von einem „staatsbetonten Rechtsstaat“ zu sprechen) außer Betracht bleiben kön­ nen. 1. Bei der Formalisierung und Technisierung eines nach dem Grundsatz der Ge­ setzmäßigkeit funktionierenden Verwaltungsapparates scheint es für den jeweili­ gen Inhaber der staatlichen Macht das einfachste zu sein, sich dieses ausgezeich­ neten, der „normativen Kraft des Faktischen“ sich sofort unterwerfenden und je­ dem Ziel und Inhalt zur Verfügung stehenden Mittels zu bedienen. Was könnte be­ quemer sein, als einen Gesetzesstaat zu beherrschen und sich an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Justiz und Verwaltung zu halten, wenn man selber die Gesetz­ gebungsmaschine handhabt und sogar, wie heute die Reichsregierung, durch blo­ ßen Regierungsbeschluß Gesetze im formellen Sinne des Wortes, sogar verfassungsändemde Gesetze machen kann? Wer den Fahrplan macht, hat doch ein Inter­ esse daran, daß es fahrplanmäßig zugeht. Und wenn es einen christlichen, einen nationalliberalen, einen faschistischen und einen kommunistischen Rechtsstaat gibt - das wäre ja nur eine Frage der Durchführung und nicht des Inhaltes oder der Ziele -, so stände nichts im Wege, auch einen nationalsozialistischen Rechtsstaat einzurichten. Dieser Gedankengang könnte den Sinn haben, den nationalsozialistischen Inhalt den erprobten Methoden der Relativierung und Entleerung duch einen formalen Rechtsstaatsbegriff zu unterwerfen und in das Begriffsnetz der normativistischen Rechtsstaatlichkeit hineinzuleiten. Vom Standpunkt des nationalsozialistischen Denkens aus genügt es, sich dieser Möglichkeit bewußt zu werden, um sie zu er­ ledigen. Es könnte aber auch sein, daß mit dieser Antwort nur der praktisch-techni­ sche Vorschlag einer Gleichschaltung gemeint ist. Da das komplizierte Behörden­ system des heutigen Staates nun einmal seit einem ganzen liberalen Jahrhundert nach liberal-rechtsstaatlichen Grundsätzen und Maßstäben eingerichtet ist und sich die in den Gedankengängen und Begriffen dieser Art Rechtsstaatlichkeit geschul­ ten Beamten an sie als an einen Funktionsmodus gewöhnt haben, kann es durchaus zweckmäßig sein, die Methoden und Formen des Rechtsstaates solange beizube­ halten und sich ihrer - ohne ihnen geistig und innerlich anheimzufallen - solange zu bedienen, als nicht neue Methoden, neue Begriffe und eine neue Beamtenschu­ lung eingeführt und erprobt sind. Dann wäre das ganze Problem des Rechtsstaates heute nur noch eine praktisch-technische Übergangsfrage. 2. Die Übernahme und Weiterführung des Wortes Rechtsstaat könnte aber auch einen tieferen Sinn haben. Es ist ein typischer Vorgang der Geistesgeschichte, daß wirksame Formeln und eindrucksvolle Worte im geistigen Kampf erobert und um­ gedeutet werden. Alle großen Religionen haben ihren Gegnern mancherlei Götter und Heilige entrissen und ihrem eigenen Pantheon eingefügt; mancher geistige Sieg bekundet sich in der Übernahme von Riten, Hymnen und Formeln des Geg­ ners, und im politischen Kampf, der immer total und daher im höchsten Grade auch geistig ist, hat man oft sogar den Liedern und Märschen des Gegners andere Texte unterlegt, um sie sich anzueignen18. Es war ein Zeichen seiner geistigen De-

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fensivhaltung und sogar Wehrlosigkeit, daß der deutsche Soldatenstaat des 19. Jahrhunderts die juristische Bestimmung aller wesentlichen Begriffe, wie Recht, Verfassung, Gesetz, Freiheit und Gleichheit, besonders aber den Begriff des Rechtsstaates seinem liberalen Gegner überlassen hat. [6] Dagegen hat die national­ sozialistische Bewegung schon manches starke und gute Wort seinem unrechtsmä­ ßigen Besitzer aus der Hand genommen, und es fragt sich, ob nicht das gleiche auch für den Rechtsstaat gelten soll. Die Frage wird mit besonderer Entschiedenheit von denjenigen nationalsoziali­ stischen Juristen bejaht, die den Gegensatz eines bloßen Gesetzesstaates gegen ei­ nen auf Recht und Gerechtigkeit gerichteten, Recht und Sittlichkeit nicht mehr trennenden Weltanschauungsstaat erkannt haben, nämlich von Helmut Nicolai1819 und von Heinrich Lange20. Nicolai hat seine Auffassung am straffsten in dem Sat­ ze zusammengefaßt, daß der liberale Rechtsstaat in Wahrheit weder Recht noch Staat war und erst der nationalsozialistische Staat den Namen eines Rechtsstaates verdiene21. H. Lange betont mit großer Klarheit den Zusammenhang des Gesetzes­ staates mit dem Rechtsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft und überwindet deren Teilung von Recht, Sitte und Sittlichkeit. Indem der bürgerliche Rechtsstaat sich als bloßer Gesetzesstaat erweist, wird das Wort „Rechtsstaat“ zu einer prägnanten Bezeichnung gerade des nationalsozialistischen Staates. Dadurch wird gleichzeitig der Verwechslung vorgebeugt, als handle es sich hier um den alten, auch dem libe­ ralen Rechtsdenken bekannten Unterschied von Recht und Gesetz, der in der Nach­ kriegszeit dem Weimarer Gesetzgeber, soweit dieser nicht liberal war, häufig ent­ gegengehalten worden ist22. Der Nationalsozialismus bleibt bei seiner weltan­ schaulich begründeten Einheit von Recht, Sitte und Sittlichkeit, auch wenn er die Gesetzgebungsmacht in der Hand hat, während der liberale Rechtsbegriff immer nur auf die individualistisch-staatsbürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Eigentum zurückgreift und notwendig zur Trennung von Recht, Sitte und Sitt­ lichkeit und infolgedessen auch mangels eines inhaltlichen Rechtsbegriffs zum Ge­ setzstaat führt. 18 Im Weimarer Staat war der Reichswehr durch Befehle vom 2. August 1922 und 15. Mai 1924 das Singen parteipolitisch umgedichteter Marschlieder und weiterhin das Spielen von Militärmärschen, auf deren Melodie von nichtmilitärischer Seite parteipolitische Texte ge­ sungen wurden, verboten worden, vgl. Alfons Maier, Die verfassungsrechtliche und staatspo­ litische Stellung der deutschen Wehrmacht, Verw.Arch., Bd. 39 (1934), S. 291, Anm. 53. 19 In Nicolais Schrift „Die rassengesetzliche Rechtslehre“, Nationalsozialistische Biblio­ thek, H. 39, 1932, findet sich S. 50 folgender Satz, der für die schwer lösbare Verbindung des Rechtsstaatsbegriffes mit den Forderungen und Idealen der bürgerlichen Gesellschaft kenn­ zeichnend ist: „Wenn man gut schlafen wolle, müsse man preußische Konsols kaufen, sagte der alte Rothschild, und bescheinigte damit letzten Endes nichts anderes, als daß Preußen ein Rechtsstaat sei und man sich auf die Ehrenhaftigkeit dieses Staates fest verlassen könne.“ 20 H. Lange, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, 1934 (Recht und Staat, Heft 114). 21 Reichsverwaltungsblatt, 1934, S. 862. 22 So z. B. die Rede des Freiherrn Marschall von Bieberstein, Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, 1927, besonders interessant S. 45, Anm. 146; S. 160, Literaturangaben zum Rechtsstaat, wobei besonders auf Welcker verwiesen wird.

Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“ ?

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Die geistige Eroberung des Wortes und Begriffes Rechtsstaat ist ein großes Ver­ dienst. Die liberalen Gedankengänge wirken heute längst nicht mehr offen und di­ rekt; sie sind auf die Nach- und Weiterwirkung von weit- oder landläufig gewor­ denen, scheinbar neutralen Begriffen angewiesen. Aber eben deshalb ist die „At­ mosphäre“ vieler Gebiete des geistigen Lebens, besonders der Rechts- und Staats­ wissenschaften, noch ganz von den Ausstrahlungen derartiger Stimmungs- und Ideenträger beherrscht. Das Wort „Rechtsstaat“ war stets eines der wirksamsten Vehikel liberaler Suggestionen. Solange die starken Residuen des bürgerlichen Zeitalters anhalten, bedeutet die Entliberalisierung und Umdeutung des Rechts­ staatsbegriffs einen wichtigen Sieg der neuen Bewegung und eine glücklichere Weiterführung der obenerwähnten Bemühungen von Lorenz von Stein und Rudolf Gneist, den deutschen Begriff des Rechtsstaats zu gewinnen. Durch deutliche Bei­ worte, wie „nationalsozialistischer Rechtsstaat“ oder „nationalsozialistischer deut­ scher Rechtsstaat“23, am klarsten durch die Formel des Reichsjuristenführers Hans Frank, „Der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers“24, wird der tiefe Bedeutungswan­ del außer Zweifel gestellt. In meinem Aufsatz „Der Rechtsstaat“, der in dem von Hans Frank herausgegebenen, soeben veröffentlichten „Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung“ (München 1935) erschienen ist, bin ich dieser Umprägung ebenfalls gefolgt. 3. Außer jener auf eine technische Gleichschaltung des Staatsapparats gerichte­ ten, vorübergehenden technischen Bedeutung der Beibehaltung des Wortes und Begriffes „Rechtsstaat“, und über eine geistige Wiederherstellung und Umdeutung hinaus könnte sich dann noch eine weitere, auf die kommenden Jahrhunderte blikkende Frage nach dem endgültigen geistesgeschichtlichen Schicksal dieses umstrit­ tenen Wortes erheben. Das ist freilich eine sehr theoretische Frage und betrifft eine schwierige, auf „exakte“ Weise kaum zu stellende Prognose für eine weite Zu­ kunft. Ich möchte mich aber, um nichts zu verschweigen, der Stellungnahme auch zu dieser Bedeutung des Streits um den „Rechtsstaat“ nicht entziehen. Offensichtlich hat das Wort „Rechtsstaat“ heute für viele einen absoluten, über­ zeitlichen Sinn und geradezu „Ewigkeitswert“. Ausgezeichnete Rechtshistoriker wie Walter Merk sprechen von einem uralten germanischen „Rechtsstaat“ und be­ legen auf solche Weise mit einem für das bürgerliche 19. Jahrhundert spezifischen Wort ganz anders geartete Zeiten und Zustände25. In dem oben (Anm. 1, S. 122) zitierten Satze Adam Müllers klingt eine solche überzeitliche Bedeutung des Wor­ tes sehr stark mit. Lorenz von Stein und Rudolf Gneist hielten Wort und Begriff für spezifisch deutsch26. Es könnte also doch vielleicht möglich gewesen sein, daß das 23 Vgl. meine Kölner Rede vom 12. Februar 1934: Nationalsozialismus und Rechtstaat, abgedruckt in der Jur. Wochenschrift, 1934, H. 12/13, S. 713 f. 24 Deutsches Recht, 1934, S. 120. 25 W. Merk, Deutsche Rechtsemeuerung, H. 5 des 31. Jahrganges der Süddeutschen Mo­ natshefte, Februar 1934, S. 263. 26 Vgl. oben Anm. 2 und 3. Im übrigen ist hinsichtlich der Wortbedeutung zu beachten, daß Lorenz von Stein das Wort „Recht“ in „Rechtsstaat“ nur auf das Regierungsrecht, nicht V Staat, (IroUraum, Nomos

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bürgerliche 19. Jahrhundert ein ewiges Wort erfunden hätte, und auch der schlimmste Mißbrauch würde dieses Wort dann nicht mehr zerstören und un­ brauchbar machen. Worte wie Recht und Freiheit z. B. sind tausendmal miß­ braucht und geschändet worden und bleiben dennoch rein und jungfräulich, wenn nur ein tapferes Volk sich ernsthaft auf sie besinnt. Gehört das Wort „Rechtsstaat“ nicht auch zu solchen unzerstörbaren Worten der deutschen Rechts- und Völksgeschichte? Ich glaube es nicht. Nicht nur, weil einer der größten und echtesten Volksdichter aller Zeiten, Jeremias Gotthelf, dem „Rechtsstaat“ ein furchtloses Todesurteil ge­ sprochen hat27, sondern auch deshalb, weil es kein einfaches Wort, sondern sprach­ lich und begrifflich ein Kunstprodukt ist. Das hat ein so großer deutscher Staats­ mann und Sprachschöpfer wie Bismarck mit sicherem Blick erkannt, als er von dem „Kunstausdruck des Herrn von Mohl“ sprach28. Die Verbindung der beiden Worte „Recht“ und „Staat“ zu einem Doppelwort „Rechtsstaat“ ist so zeitgebun­ den und bleibt so stark in dem höchst problematischen Dualismus dieser beiden Wörter verhaftet, daß hier jeder Gedanke an ein ewiges oder absolutes Wort ent­ fällt. Reinhard Hohns Untersuchungen über den Staatsbegriff, insbesondere über die Konstruktion der juristischen Staatsperson29 haben dem Begriffsgerüst des 19. Jahrhunderts einen Stoß versetzt, von dem auch Wort und Begriff des Rechtsstaa­ tes betroffen werden. In einer dreigliedrig aufgebauten, in Staat, Bewegung, Volk lebendigen politischen Einheit dürfte das Wort „Rechtsstaat“ in demselben Maße überflüssig werden, in dem der Ausbau einer von Grund auf neuen Ordnung sich verwirklicht. Man kann von einem „Rechtsstaat“, aber nicht in gleicher Weise von einem „Rechtsvolk“ oder einer „Rechtsbewegung“ und noch weniger von einem „Rechtsreich“ sprechen. Besonders in dieser letzten Unmöglichkeit tritt zutage, daß die Kombination „Rechtsstaat“ sowohl an den Rechts- wie an den Staatsbe­ griff einer bestimmten, dualistisch in Staat und Gesellschaft denkenden Zeit ge­ bunden bleibt. Wenn ein anderer, z. B. der Weltanschauungsstaat vollendet ist und die letzten Nachwirkungen des bisherigen Rechtsstaates aufgehört haben, entfällt sowohl das Interesse, das die Gegner der nationalsozialistischen Bewegung heute auf das Recht überhaupt bezieht (Verwaltungslehre I, S. 298) und Gneist (Rechtsstaat, S. 183, Anm. 2) ihm darin zustimmt. An die ganze spätere, abstrakt normativistische Sophistik von Rechtsstaat = Staatsrecht ist hier noch nicht gedacht. 27 Für Gotthelf ist die Idee des Rechtsstaates nur die „legale Sanktion der Selbstsucht“ und die Quelle allen Unheils; vgl. den Aufsatz von Oswald, Jeremias Gotthelf über Staat, Recht und Gesellschaft, Deutsche Juristen-Zeitung vom 15. Okt. 1934, S. 1259. Für den Zusam­ menhang des Rechtsstaatsbegriffs mit einem volkszerstörenden, das deutsche Bauerntum ver­ nichtenden Kapitalismus ist der Titel eines großen Romanentwurfs von Gotthelf sehr auf­ schlußreich: „Joggli, der Schuldenbauer oder der Rechtsstaat.“ Der alte Rothschild freilich wird, im Gegensatz zu diesen armen, deutschen „Schuldenbauem“, wohl ein „Idealist des Rechtsstaats“ gewesen sein. 28 Siehe oben Anm. 1, S. 122. 29 Reinhard Höhn, Der Wandel im staatsrechtlichen Denken, 1934; Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson, 1935.

Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“ ?

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noch an diesem Worte haben, als auch der auf absehbare Zeit noch sehr bedeuten­ de Wert einer Umdeutung des Rechtsstaates zu einer polemischen Überwindung des liberalistischen Gesetzesstaates. Dann wird man das Wort hoffentlich nur noch als Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges über den bürgerlichen Individua­ lismus und seine Entstellungen des Rechtsbegriffs betrachten. Anmerkungen des Herausgebers [1] Sergio Panunzio, 1886 - 1944, vom juridischen Sozialismus Georges Sorels geprägt, schloß sich im Ersten Weltkrieg Mussolini an und beeinflußte dessen Übergang zum Inter­ ventionismus; er wurde später dem „Centro sinistra“ des Faschismus zugeordnet. In seinem Buch „Lo Stato di diritto“, Bologna 1921, II Solco, konfrontierte er den Rechtsstaat mit He­ gels sittlichem Staat und wies daraufhin, daß mit dem Konzept des Rechtsstaates nicht die „momenti eccezionali“ erfaßt werden könnten, in denen die juridische Verteidigung des Indi­ viduums dem „sacrificio dell’individuo al tutto“ weichen müsse (bes. S. 163 ff.). Gleichwohl betonte P. stets die Bedeutung der sozialen Institutionen, bes. der Syndikate, die für ihn, ne­ ben dem Volk, dem Territorium und der Staatsmacht „la quarta funzione dello Stato“ darstell­ ten (vgl. s. Buch „II sentimento dello Stato“, Rom 1929, Littorio, bes. S. 99 ff.), so daß Ver­ fechter der etatistischen Linie im Faschismus, u. a. Carlo Costamagna, gerne gg. ihn polemi­ sierten. Schmitt meint mit dem von ihm implizite erwähnten zweiten „Teil“ des Buches Panunzios wohl: Stato e diritto. L’unità dello Stato e la pluralité degli ordinamenti giuridici, Modena 1931, Tipografia Modenese, in der P. die Beziehung zwischen der „pluralité giuridica“ d. sozialen Pluralismus und der „unité statutale“ untersucht. Zu Leben u. Werk Panunzios u. a.: J. A. Gregor, Sergio Panunzio. Il sindacalismo e il fondamento razionale del fascismo, Rom 1978; L. Omaghi, Stato e corporazione. Storia di una dottrina della crisi del sistema politico contemporaneo, Mailand 1984, bes. S. 217 ff.; F. Perfetti, Einleitung zu: S. Panunzio, Il fondamento giuridico del fascismo, Rom 1987, S. 7 - 133 (mit vielen Literaturhinweisen); mit diesem Buch fast identisch die vermutlich einzige deutsche Publikation P’s: Allgemeine Theorie des faschistischen Staates, 1934. Friedrich Darmstaedter (1883 - 1957) wurde 1935 die Lehrbefugnis entzogen, er emigrier­ te nach England (vgl. H. Göppinger, Der Nationalsozialismus und die jüdischen Juristen, 1963, S. 98, 101). In s. Buch: Rechtsstaat oder Machtstaat? Eine Frage nach der Geltung der Weimarer Verfassung, Berlin-Grunewald 1932, Verlag Dr. W. Rothschild, konstatierte er ei­ nen Widerspruch in der WRV zwischen dem Rechtsstaat und den in den Art. 48, 153 (Ent­ eignung) und 156 (Sozialisierung) sich ausdrückendem Machtstaat; vgl. von D. auch: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates. Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidelberg 1930, C. Winter, wo die »Aufnahme des Wohlfahrts­ prinzips in den Rechtsstaatsbegriff4(S. 53 f.) kritisiert wird; sowie: Rechtsstaatsgedanke und Weimarer Verfassung, ZgStW, 2 / 1932, S. 385 - 402. Friedrich Grüter (d. i.: Emst Forsthoff), Der Rechtsstaat in der Krise, Deutsches Volkstum, 1. Aprilheft 1932, S. 260 - 65, kritisierte ausführlich Darmstaedters Buch v. 1930, wies auf den Zerfall des liberalen Rechtsstaates in einen „pluralistischen Koalitionsparteienstaat“ hin und betonte, daß der liberale Rechtsstaat an der Legalität seiner Gegner sterbe: „Wir befinden uns zur Zeit in diesem Prozeß der Selbstaufhebung des liberal-freiheitlichen Rechtsstaates.“ (S. 263.) [21 Vgl. d. Literaturhinweise bei: K. Groß-Fengels, Der Streit um den Rechtsstaat, Diss. jur. Marburg (bei Herrfahrdt u. L. Zimmerl), Druck Düsseldorf 1936, S. VI - VIII.

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bürgerliche 19. Jahrhundert ein ewiges Wort erfunden hätte, und auch der schlimmste Mißbrauch würde dieses Wort dann nicht mehr zerstören und un­ brauchbar machen. Worte wie Recht und Freiheit z. B. sind tausendmal miß­ braucht und geschändet worden und bleiben dennoch rein und jungfräulich, wenn nur ein tapferes Volk sich ernsthaft auf sie besinnt. Gehört das Wort „Rechtsstaat“ nicht auch zu solchen unzerstörbaren Worten der deutschen Rechts- und Volksge­ schichte? Ich glaube es nicht. Nicht nur, weil einer der größten und echtesten Volksdichter aller Zeiten, Jeremias Gotthelf, dem „Rechtsstaat“ ein furchtloses Todesurteil ge­ sprochen hat*27, sondern auch deshalb, weil es kein einfaches Wort, sondern sprach­ lich und begrifflich ein Kunstprodukt ist. Das hat ein so großer deutscher Staats­ mann und Sprachschöpfer wie Bismarck mit sicherem Blick erkannt, als er von dem „Kunstausdruck des Herrn von Mohl“ sprach28. Die Verbindung der beiden Worte „Recht“ und „Staat“ zu einem Doppelwort „Rechtsstaat“ ist so zeitgebun­ den und bleibt so stark in dem höchst problematischen Dualismus dieser beiden Wörter verhaftet, daß hier jeder Gedanke an ein ewiges oder absolutes Wort ent­ fällt. Reinhard Hohns Untersuchungen über den Staatsbegriff, insbesondere über die Konstruktion der juristischen Staatsperson29 haben dem Begriffsgerüst des 19. Jahrhunderts einen Stoß versetzt, von dem auch Wort und Begriff des Rechtsstaa­ tes betroffen werden. In einer dreigliedrig aufgebauten, in Staat, Bewegung, Volk lebendigen politischen Einheit dürfte das Wort „Rechtsstaat“ in demselben Maße überflüssig werden, in dem der Ausbau einer von Grund auf neuen Ordnung sich verwirklicht. Man kann von einem „Rechtsstaat“, aber nicht in gleicher Weise von einem „Rechtsvolk“ oder einer „Rechtsbewegung“ und noch weniger von einem „Rechtsreich“ sprechen. Besonders in dieser letzten Unmöglichkeit tritt zutage, daß die Kombination „Rechtsstaat“ sowohl an den Rechts- wie an den Staatsbe­ griff einer bestimmten, dualistisch in Staat und Gesellschaft denkenden Zeit ge­ bunden bleibt. Wenn ein anderer, z. B. der Weltanschauungsstaat vollendet ist und die letzten Nachwirkungen des bisherigen Rechtsstaates aufgehört haben, entfällt sowohl das Interesse, das die Gegner der nationalsozialistischen Bewegung heute auf das Recht überhaupt bezieht (Verwaltungslehre I, S. 298) und Gneist (Rechtsstaat, S. 183, Anm. 2) ihm darin zustimmt. An die ganze spätere, abstrakt normativistische Sophistik von Rechtsstaat = Staatsrecht ist hier noch nicht gedacht. 27 Für Gotthelf ist die Idee des Rechtsstaates nur die „legale Sanktion der Selbstsucht“ und die Quelle allen Unheils; vgl. den Aufsatz von Oswald, Jeremias Gotthelf über Staat, Recht und Gesellschaft, Deutsche Juristen-Zeitung vom 15. Okt. 1934, S. 1259. Für den Zusam­ menhang des Rechtsstaatsbegriffs mit einem volkszerstörenden, das deutsche Bauerntum ver­ nichtenden Kapitalismus ist der Titel eines großen Romanentwurfs von Gotthelf sehr auf­ schlußreich: „Joggli, der Schuldenbauer oder der Rechtsstaat.“ Der alte Rothschild freilich wird, im Gegensatz zu diesen armen, deutschen „Schuldenbauem“, wohl ein „Idealist des Rechtsstaats“ gewesen sein. 28 Siehe oben Anm. 1, S. 122. 29 Reinhard Höhn, Der Wandel im staatsrechtlichen Denken, 1934; Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson, 1935.

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noch an diesem Worte haben, als auch der auf absehbare Zeit noch sehr bedeuten­ de Wert einer Umdeutung des Rechtsstaates zu einer polemischen Überwindung des liberalistischen Gesetzesstaates. Dann wird man das Wort hoffentlich nur noch als Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges über den bürgerlichen Individua­ lismus und seine Entstellungen des Rechtsbegriffs betrachten. Anmerkungen des Herausgebers [1] Sergio Panunzio, 1886 - 1944, vom juridischen Sozialismus Georges Sorels geprägt, schloß sich im Ersten Weltkrieg Mussolini an und beeinflußte dessen Übergang zum Inter­ ventionismus; er wurde später dem „Centro sinistra“ des Faschismus zugeordnet. In seinem Buch „Lo Stato di diritto“, Bologna 1921, II Solco, konfrontierte er den Rechtsstaat mit He­ gels sittlichem Staat und wies daraufhin, daß mit dem Konzept des Rechtsstaates nicht die „momenti eccezionali“ erfaßt werden könnten, in denen die juridische Verteidigung des Indi­ viduums dem „sacrificio dell’individuo al tutto“ weichen müsse (bes. S. 163 ff.). Gleichwohl betonte P. stets die Bedeutung der sozialen Institutionen, bes. der Syndikate, die für ihn, ne­ ben dem Volk, dem Territorium und der Staatsmacht „la quarta funzione dello Stato“ darstell­ ten (vgl. s. Buch „II sentimento dello Stato“, Rom 1929, Littorio, bes. S. 99 ff.), so daß Ver­ fechter der etatistischen Linie im Faschismus, u. a. Carlo Costamagna, gerne gg. ihn polemi­ sierten. Schmitt meint mit dem von ihm implizite erwähnten zweiten „Teil“ des Buches Panunzios wohl: Stato e diritto. L’unità dello Stato e la pluralità degli ordinamenti giuridici, Modena 1931, Tipografia Modenese, in der P. die Beziehung zwischen der „pluralité giuridica“ d. sozialen Pluralismus und der „unitä statutale“ untersucht. Zu Leben u. Werk Panunzios u. a.: J. A. Gregor, Sergio Panunzio. Il sindacalismo e il fondamento razionale del fascismo, Rom 1978; L. Omaghi, Stato e corporazione. Storia di una dottrina della crisi del sistema politico contemporaneo, Mailand 1984, bes. S. 217 ff.; F. Perfetti, Einleitung zu: S. Panunzio, Il fondamento giuridico del fascismo, Rom 1987, S. 7 - 133 (mit vielen Literaturhinweisen); mit diesem Buch fast identisch die vermutlich einzige deutsche Publikation P’s: Allgemeine Theorie des faschistischen Staates, 1934. Friedrich Darmstaedter (1883 - 1957) wurde 1935 die Lehrbefugnis entzogen, er emigrier­ te nach England (vgl. H. Göppinger, Der Nationalsozialismus und die jüdischen Juristen, 1963, S. 98, 101). In s. Buch: Rechtsstaat oder Machtstaat? Eine Frage nach der Geltung der Weimarer Verfassung, Berlin-Grunewald 1932, Verlag Dr. W. Rothschild, konstatierte er ei­ nen Widerspruch in der WRV zwischen dem Rechtsstaat und den in den Art. 48, 153 (Ent­ eignung) und 156 (Sozialisierung) sich ausdrückendem Machtstaat; vgl. von D. auch: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates. Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidelberg 1930, C. Winter, wo die „Aufnahme des Wohlfahrts­ prinzips in den Rechtsstaatsbegriff* (S. 53 f.) kritisiert wird; sowie: Rechtsstaatsgedanke und Weimarer Verfassung, ZgStW, 2 / 1932, S. 385 - 402. Friedrich Griiter (d. i.: Emst Forsthoff), Der Rechtsstaat in der Krise, Deutsches Volkstum, 1. Aprilheft 1932, S. 260 - 65, kritisierte ausführlich Darmstaedters Buch v. 1930, wies auf den Zerfall des liberalen Rechtsstaates in einen „pluralistischen Koalitionsparteienstaat“ hin und betonte, daß der liberale Rechtsstaat an der Legalität seiner Gegner sterbe: „Wir befinden uns zur Zeit in diesem Prozeß der Selbstaufhebung des liberal-freiheitlichen Rechtsstaates.“ (S. 263.) [2] Vgl. d. Literaturhinweise bei: K. Groß-Fengels, Der Streit um den Rechtsstaat, Diss. jur. Marburg (bei Herrfahrdt u. L. Zimmerl), Druck Düsseldorf 1936, S. VI - VIII.

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[3] R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, I, 1855, S. 245, zählt Hegel zu den „Ausbildnem des Rechtsstaates“; obgleich Hegel „nicht in dem subjectiven Willen, sondern in der objectiven Vernünftigkeit den Grund des Rechtes und des Staates“ finde und so „die Thätigkeit des Einzelnen“ wegfalle, bleibe „das andere entscheidendere Moment, die menschliche Vemunftmäßigkeit des Staates“, bestehen. [4] Stahl, Die Philosophie des Rechts, II, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 3. Aufl. 1856, S. 137 f.: „Der Staat soll Rechtsstaat seyn, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwickelungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staats­ wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäunung. Dieß ist der Begriff des Rechtsstaates, nicht etwa daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder voll­ ends bloß die Rechte der Einzelnen schütze, er bedeutet überhaupt nicht Ziel oder Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter dieselben zu verwirklichen. Der Rechtsstaat steht da­ her im Gegensatz vor Allem zum patriarchalischen, zum patrimonialen, zum bloßen Policey-Staate, in welchen die Obrigkeit darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die Nützlich­ keitszwecke in ihrem ganzen Umfang und nach einer moralischen, daher arbiträren Würdi­ gung eines jeden Falles zu realisiren, er steht nicht minder aber auch im Gegensätze zum Volksstaate (Rousseau, Robespierre), wie ich ihn nennen möchte, in welchem das Volk die vollständige und positive politische Tugend von Staatswegen jedem Bürger zumuthet und seiner eigenen jeweiligen sittlichen Würdigung gegenüber keine rechtliche Schranke aner­ kannt - Zustände, von denen der erste ein naturgemäßer Anfang, welcher nur nachher über­ wunden werden muß, der letzte aber eine absolute Verirrung ist“. - Stahl setzt aber interes­ santerweise hinzu: „Der Staat soll aber nichts desto weniger sittliches Gemeinwesen seyn. Die Rechtsordnung soll für alle Lebensverhältnisse und öffentliche Bestrebungen ihre sittli­ che Idee zum Princip haben, z. B. für Familie, Kirche, Schule, und sie soll durch die sittliche Gemeingesinnung getragen seyn, und diese auch noch über die Gränze der Rechtsordnung hinaus das Leben in geistiger Weise beherrschen“. Zur - negativ bewerteten - Bedeutung Stahls für die Rechtsstaatsproblematik in Deutschland vgl. auch: Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 106 - 110 und den Schmitt stark beeindrucken­ den Aufsatz von Johannes Heckei, Der Einbruch des jüdischen Geistes in das deutsche Staats- und Kirchenrecht durch Friedrich Julius Stahl, Forschungen zur Judenfrage, I, 1937, S. 110-135. [5] Vgl. Schmitt, Der Rechtsstaat, vorl. Bd., S. 119, FN [12]. [6] Vgl. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934, bes. S. 9 - 14. Zur Kritik: Fr. Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, HZ, Bd. 151, 1935, S. 528 - 544; Ndr. in ders., Staats­ bildende Kräfte der Neuzeit, 1961, S. 376 ff.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 95. Bd., H. 2, 1935, S. 189 - 201. Vgl. dazu auch die Hinweise im vorhergehenden Aufsatz.

Politik

I. In einem allgemeinen Sinne wird der Begriff „Politik“ bisher üblicherweise da­ durch bestimmt, daß er auf den Staat und die staatliche Macht bezogen wird. In dieser Bedeutung des Wortes ist alles politisch, was vom Staat ausgeht oder auf ihn einwirkt. Alle Betätigung des Staats als solchen (Außenpolitik, Innenpolitik, Finanz-, Kultur-, Sozial-, Kommunal- usw. -Politik) ist danach politisch; politische Parteien und Bestrebungen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie auf die staatliche Willensbildung Einfluß hatten oder sich solchen zu verschaffen suchen; Politik als Wissenschaft ist Staatswissenschaft oder Staatslehre; Politik als Kunst ist Staats­ kunst oder „angewandte Staatslehre“. Diese Auffassung geht davon aus, daß der Staat die einzige oder doch die allein wesentliche und normale Erscheinungsform der politischen Welt war. Das trifft in dieser Einfachheit heute nicht mehr zu. Heute ist das Volk der Normalbegriff der politischen Einheit. Deshalb bestimmen sich heute alle maßgebenden politischen Begriffe vom Volke her. Politisch ist al­ les, was die Lebensfragen eines Volkes als eines einheitlichen Ganzen betrifft.

II. Das Wort „Politik“ stammt von dem griechischen Wort „Polis“ und bezeichnet zunächst alles, was auf diese Polis, d. h. auf den antiken griechischen Stadtstaat, und zwar haupsächlich auf seine innere Ordnung, Bezug hat. Durch die Verbrei­ tung der Lehren der griechischen Philosophen, insbesondere die beiden großen staatsphilosophischen Werke, die „Politeia“ des Platon und die „Politik“ des Ari­ stoteles, ist das Wort in den Sprachgebrauch aller europäischen Völker übergegan­ gen. Aus der gemeinsamen sprachlichen Wurzel „Polis“ spalten sich aber seit der Ausbildung des modernen Staates die beiden Worte Polizei und Politik ab. Polizei bedeutete in der absoluten Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts eine innerstaat­ liche, auf die Wohlfahrt der Untertanen und die Aufrechterhaltung der guten Ord­ nung gerichtete Tätigkeit der inneren Verwaltung; bei dem Wort „Politik“ dachte man mehr an Kabinettspolitik, „hohe Politik“, also an Außenpolitik. Während in dieser Weise für das 18. Jahrhundert Politik (zum Unterschied von Polizei) vor allem Außenpolitik war, trat mit dem Beginn der liberaldemokratischen Verfas­ sungskämpfe des 19. Jahrhunderts die Innenpolitik in den Vordergrund des Be-

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wußtseins. Berühmte wissenschaftliche Lehrbücher der Politik (so die 1835 er­ schienene „Politik“ von F. C. Dahlmann, die „Grundzüge der Politik“ von G. Waitz, 1862, und die 1892 erschienene „Politik“ von W. Roscher) behandeln hauptsächlich innenpolitische Verfassungsfragen, besonders die überlieferte Lehre von den „Staatsformen“ (Monarchie, Aristokratie und Demokratie). Nur in Hein­ rich von Treitschkes „Politik“ (Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin; herausgegeben 1898) zeigt sich ein starker Sinn dafür, daß der Staat auch nach außen hin, nötigenfalls durch das Mittel des Krieges, seine Macht und Existenz behaupten muß. In dem Maße also, in dem der Staat von Parteikämpfen zerrissen wird, erscheint nach dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens die Innenpolitik als der eigentli­ che Kern und Inhalt des Politischen überhaupt (Primat der Innenpolitik). Der deut­ sche Staat des 19. Jahrhunderts war ein Militär- und Beamtenstaat, in dem eine starke, von den politischen Parteien unabhängige Regierung einer Volksvertretung (Parlament) gegenüberstand; dieser Staat war nach Fürst und Volk dualistisch auf­ gebaut; daher hielt man damals das Verhältnis von fürstlicher Regierung und parla­ mentarischer Volksvertretung für die eigentlich politische Angelegenheit. In einem von einer Mehrzahl festorganisierter Parteien beherrschten Staat (im sog. plurali­ stischen Partéienstaat) ist der einheitliche Gesamtwille das Produkt (oft sogar nur das Abfallprodukt) der wechselnden Koalitionen und Kompromisse dieser Partei­ en. In dieser Lage wird der auf eine Koalition oder einen Kompromiß gerichtete Parteibetrieb zum Inhalt der Innenpolitik, ja der Politik überhaupt. Der Staat des Weimarer Systems 1919 - 1933 war in typischer Weise ein solcher pluralistischer Parteienstaat. Infolgedessen wurde hier politisch und parteipolitisch im täglichen Sprachgebrauch nicht unterschieden. Politik ist dann wesentlich „Ausgleich“, d. h. die auf die Herbeiführung eines erträglichen Kompromisses gerichtete Tätig­ keit. [ 1] Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf4 setzt schon mit seinem Titel dieser Denkweise einen andern Begriff des Politischen entgegen.

III. Der Inhalt des Wortes „Politik“, „politisch“ und „unpolitisch“ ist demnach of­ fensichtlich von der wechselnden Lage abhängig. Deshalb ist es auch kein Wider­ spruch, daß Bismarck zu seiner Zeit die Politik als die „Kunst des Möglichen“ bezeichnete, während unter dem Eindruck der Erfolge der Politik Adolf Hitlers die Politik als die „Kunst, das unmöglich Scheinende möglich zu machen“ (J. Goeb­ bels) bestimmt werden konnte. Es hat aber nicht an Versuchen gefehlt, ein be­ stimmtes Sachgebiet oder eine bestimmte „Materie“ zu finden, die als solche poli­ tisch ist und von anderen Sachgebieten (z. B. von Wirtschaft, Technik, Recht, Kriegführung, Moral, Religion) ohne weiteres sachinhaltlich abgegrenzt ist. Im Völkerrecht hat man sich lange darum bemüht, den Bereich einer unpolitischen Schiedsgerichtsbarkeit zu umschreiben und gewisse, aufgezählte Angelegenheiten

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als „politische“ Fragen von unpolitischen „Rechtsfragen“ zu unterscheiden. Alle Versuche einer derartigen Aufzählung der Angelegenheiten, die auf jeden Fall un­ politisch sein sollten, sind erfolglos geblieben. Auf den beiden Haager Friedens­ konferenzen von 1899 und 1907 wurde z. B. der Vorschlag gemacht, eine Liste der „von Natur“ und auf jeden Fall unpolitischen Angelegenheiten aufzustellen; diese Liste wußte schließlich nur ganz unbedeutende, fast belanglose Angelegenheiten aufzuzählen (z. B. Hilfeleistung an unbemittelte Kranke), und selbst diese standen noch unter „Vorbehalten“, wie der nationalen Ehre oder der lebenswichtigen Inter­ essen, d. h. eben unter dem unausrottbaren Vorbehalt des Politischen. [2] Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß in den Auseinandersetzungen der Völker und Parteien oft kleine und nebensächliche Angelegenheiten zu Streitpunkten des Kampfes und damit zu hochpolitischen Fragen werden. Eine sonst vielleicht be­ deutungslose Geste oder Redensart, ein harmloses Lied oder ein Abzeichen, wird politisch, sobald es in die Kampfzone der streitenden Gegensätze hineingerät. So erklärt es sich, daß z. B. durch die Befehle vom 2. August 1922 und 15. August 1924 der Reichswehr nicht nur das Tragen politischer Abzeichen im und außer Dienst, sondern auch das Spielen von Militärmärschen, auf deren Melodien von nicht-militärischer Seite parteipolitische Texte gesungen wurden, als politische Be­ tätigung verboten wurden. In angelsächsischen Ländern, wo den Beamten des so­ genannten Civil Service jede politische Betätigung verboten ist, finden sich zahl­ reiche ähnliche Beispiele dafür, daß auch „an sich“ harmlose Handlungen des Be­ amten und sogar seiner Frau in einer bestimmten Lage politischen Charakter an­ nehmen können. Auch die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche zeigen, daß die Abgrenzung dessen, was politisch und (wegen seines religiösen Charakters) unpolitisch ist, nicht einfach durch Aufzählung ge­ wisser Sachgebiete oder Angelegenheiten im voraus bestimmt werden kann, weil auch „rein religiöse“ Handlungen in einer bestimmten Lage einen politischen Sinn und eine politische Tragweite erhalten. Die Gegensätze von politisch und religiös, politisch und juristisch, politisch und moralisch, politisch und militärisch usw. enthalten deshalb keine absolut sicheren, unterschiedslos für jede Sachlage geltenden Abgrenzungen. Sie bieten allerdings, bei ruhiger und gefestigter Lage, im allgemeinen brauchbare Anhaltspunkte, um das Politische vom Unpolitischen zu unterscheiden. Es ist aber zu beachten, daß der Möglichkeit nach Alles politisch werden kann. Infolgedessen ist die Entschei­ dung darüber, ob etwas unpolitisch ist, im Streitfälle ebenfalls eine politische Ent­ scheidung. Das beweist, wie sehr heute eine einheitliche, entscheidungsfähige poli­ tische Führung für jedes Volk notwendig geworden ist, um den Vorrang der politi­ schen Entscheidung (Primat der Politik) gegenüber der Aufspaltung in die ver­ schiedenen Sachgebiete (Wirtschaft, Technik, Kultur, Religion) zu gewährleisten.

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IV. Wenn in dem Staat des Weimarer Systems die Reichswehr und das Beamtentum „politisch neutral“ waren, so bedeutete das nur eine parteipolitische Neutralität in dem oben (II.) dargelegten Sinne. „Unpolitisch“ war damals dasselbe wie parteipo­ litisch neutral. Die Forderung der politischen Neutralität bedeutete in einer solchen Lage zweierlei: einerseits die bloß instrumentale Neutralität eines willenlosen Werkzeuges, d. h. die Vorstellung, daß Heer und Beamtentum eine wert- und wahr­ heitsblinde Vollstreckungsapparatur der wechselnden Koalitionsmehrheiten und der jeweiligen Parteiregierung sein sollten, gleichgültig, ob diese national oder in­ ternational, wehrhaft oder wehrfeindlich war. Das meinte der viel zitierte Aus­ spruch eines Reichsgerichtsrats im sog. Scheringer-Prozeß 1930: „Die Reichswehr ist das Instrument der Reichsregierung“.[3] Unpolitisch sein hieß danach, auf je­ den politischen Willen und jede politische Substanz verzichten. Auf der anderen Seite aber konnte man damals unter einer neutralen und unpolitischen Haltung auch eine überparteiliche Haltung verstehen, die gegenüber der parteipolitischen Zerrissenheit des deutschen Volkes den Gedanken der staatlichen Einheit wahrte und der Vielheit der parteipolitischen Willen einen einheitlichen staatspolitischen Willen entgegenstellte. Das war die Auffassung der Reichswehr selbst, insbesonde­ re auch ihres Oberbefehlshabers, des Reichspräsidenten von Hindenburg.[4] Im nationalsozialistischen Führerstaat ist der pluralistische Parteienstaat über­ wunden und die unbedingte Einheit des politischen Willens hergestellt. Die in der NSDAP organisierte Bewegung ist alleiniger Träger der politischen Führung. Da­ durch entfallen die Gegensätze und Auseinanderreißungen, die sowohl den Begriff des „Politischen“ wie auch den des „Unpolitischen“ verwirrt haben. Gegenüber der einheitlichen und klaren politischen Entscheidung gibt es infolgedessen auch keine unpolitische oder überpolitische Neutralität. Wohl aber kann man von einer Entpolitisierung in dem Sinne sprechen, daß dieser Vorrang der politischen Füh­ rung und das der Bewegung zustehende „Monopol des Politischen“ unbedingt an­ erkannt werden und damit jeder Streit über den politischen oder unpolitischen Cha­ rakter einer Angelegenheit aufhört.

V. Jede Politik rechnet mit der Möglichkeit von Widerständen, die sie überwinden muß. Sie kann nicht auf den Kampf verzichten und sich auf die Taktik des bloßen Ausgleichens und Ausweichens beschränken. Eine echte „Entpolitisierung“ und einen absolut unpolitischen Zustand hätte nur der erreicht, der grundsätzlich Freund und Feind nicht mehr unterscheiden wollte. Unter Politik wird aber auch die Gestaltung und Herbeiführung der Ordnung und Harmonie eines umfassenden völkischen Ganzen verstanden, innerhalb dessen es keine Feindschaft gibt und das

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als Ganzes von sich aus Freund und Feind zu bestimmen vermag. Der tiefste Ge­ gensatz in den Auffassungen vom Wesen des Politischen betrifft nun nicht die Fra­ ge, ob die Politik auf jeden Kampf verzichten kann oder nicht (das könnte sie über­ haupt nicht, ohne aufzuhören, Politik zu sein), sondern die andere Frage, worin Krieg und Kampf ihren Sinn finden. Hat der Krieg seinen Sinn in sich selbst oder in dem durch den Krieg zu erringenden Frieden? Nach der Auffassung eines reinen Nichts-als-Kriegertums hat der Krieg seinen Sinn, sein Recht und seinen Heroismus in sich selbst; der Mensch ist, wie Emst Jünger sagt, „nicht auf den Frieden angelegt“.[5] Das gleiche besagt der berühmte Satz des Heraklit: „Der Krieg ist der Vater und König von Allem; die einen er­ weist er als Götter, die andern als Menschen; die einen macht er zu Freien, die andern zu Sklaven“. Eine solche Auffassung steht als rein kriegerisch in einem Gegensatz zu der politischen Ansicht. Diese geht vielmehr davon aus, daß Kriege sinnvollerweise des Friedens wegen geführt werden und ein Mittel der Politik sind. Der Krieg ist, wie Clausewitz in seiner Schrift „Vom Kriege“ sagt, ein „bloßes Instrument der Politik“ und „nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“. Das ist auch die Auffassung vom Wesen der Po­ litik, die der - gleichzeitig auf Wehrhaftigkeit und Ehre wie auf den Frieden ge­ richteten - Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitlers zugrunde liegt.

Anmerkungen des Herausgebers [ 1] Bezieht s. auf Max Schelers Rede „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs“, gehal­ ten in der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin im Oktober 1927; Erstdruck in: Aus­ gleich als Aufgabe und Schicksal, H. 8. der Schriftenreihe „Politische Wissenschaft“ der Deutschen Hochschule für Politik und des Instituts für Auswärtige Politik in Hamburg, Berlin-Grunewald, 1929, S. 31 - 63; Ndr. in: M. Scheler, Gesammelte Werke, IX, Späte Schrif­ ten, Bern 1976, S. 145 - 170. Der Bd. enthielt auch die Vorträge v. H. Lichtenberger, Was ist Weltbürgertum?, u. von J. Shotwell, Stehen wir an einem Wendepunkt der Weltgeschichte?, bes. dieser Vortrag, vom Initiator des Kellog-Paktes, war für Schmitt von Bedeutung. Schmitt trug an gleicher Stelle im Sommersemester 1927 seine Thesen „Der Begriff des Poli­ tischen“ vor, Erstdruck in: ASWSP, August 1928, S. 1 - 33, Ndr. im Heft 5 der o. a. Reihe, „Probleme der Demokratie“, gl. Ort, 1928, S. 1 - 34. Er mußte Schelers Ausführungen als den seinen entgegengesetzt betrachten, vgl. Schmitt, Die europäische Kultur in Zwischensta­ dien der Neutralisierung, Europäische Revue, Nov. 1929, S. 517 - 530, hier S. 526; auch in: Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 90. [2] Vgl. Ph. Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, Stuttgart 1915, u. J. Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Berlin 1981. Vgl. auch: E. Gottschalk, Deutschlands Hal­ tung auf den Haager Friedenskonferenzen, Berliner Monatshefte, 1930, S. 447 - 456. 13] Im sogen. „Ulmer Reichswehrprozeß“ o. „Scheringer- Prozeß“ (23. 9. - 4. 10. 1930) gegen die in Ulm stationierten Offiziere Oberleutnant Wendt, Leutnant Scheringer und Leutnunt Ludin ging es um deren Zusammenarbeit mit der NSDAP und ihren Widerstand gegen

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die kommunistischen Infiltrationsversuche innerhalb der Reichswehr. Die Angeklagten wur­ den wegen gemeinschaftlicher Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt. Hans Friedrich Wendt (* 1903) wurde Anhänger Otto Straßers und ging nach 1933 in der Tschechoslowakei verschollen; Hanns Ludin (1905 - 1947) war 1940 - 45 Gesandter in Preßburg, wurde an die Alliierten ausgeliefert und hingerichtet; Richard Scheringer (1904 - 1986) wurde während der Haft Kommunist, vgl. s. Autobiogra­ phie: Das große Los unter Bauern, Soldaten und Rebellen, Hbg. 1959. - Vgl. Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, 1962, S. 65 ff. u. P. Bücher, Der Reichswehrprozeß. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere 1929 / 30, 1967. Dokumente z. Prozeß bei: E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente z. dt. Verfassungsgeschichte, IV, 3. Aufl., 1991, S. 479 - 86, dort S. 482 f., aus der Urteilsbegründung, ein Bericht ü. Hitlers während dieses Prozesses geleiste­ ten „Legalitätseid“: er werde seine Ziele „nur noch auf streng legalem Wege“ verfolgen, „die Gewalt falle ihm mit der Zeit auf legalem Wege von selbst zu“, u.s.w. Die beeidete Aussage des Zeugen Hitler trug diesem den Spitznamen „Adolphe Légalité“ ein. [4] Die Haltung d. Reichswehr kam in der Parole vom „Dienst am Staat in seiner perma­ nenten Identität“ (v. Hammerstein- Equord, Chef d. Heeresleitung) zum Ausdruck. Alle An­ sätze zu einem „Parteibuch-Offizierskorps“ wurden zurückgewiesen; ebenso aber auch Inten­ tionen, die Regierungsgewalt offen oder indirekt selbst auszuüben. Vgl.: H. Meier-Welcker, Zur polit. Haltung d. Reichswehr-Offizierskorps, Wehrwiss. Rundschau, 12 / 1962, S. 407 ff.; A. Hillgruber, Die Reichswehr u. d. Scheitern d. Weimarer Republik, in: K. D. Erdmann / H. Schulze, Weimar - Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 177 ff.; E. R. Huber, Deut­ sche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 607 f., S. 626 ff. [5] So Jünger in einem Streitgespräch mit Paul Adams im Deutschlandsender am 1. 2. 1933 (lt. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1933, S. 10, Fn. 1); das Gespräch ist u. W. bis heute nirgendwo abgedruckt worden. „Hier vertrat Emst Jünger das agonale Prinzip („der Mensch ist nicht auf den Frieden angelegt“), während Paul Adams den Sinn des Krieges in der Herbeiführung von Herrschaft, Ordnung und Frieden sah.“ - Paul Adams (1894 - 1961), Redakteur der Bonner „Germania“ (Zentrum), seit 1934 Redakteur beim Rundfunk in München; freundete sich mit Schmitt während dessen Bonner Zeit an. Vgl. zwei seiner Briefe an Schmitt in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 117 125; aufschlußreich auch Adams’ öfters von Schmitt handelnde Briefe an Erik Peterson aus d. Jahren 1925 - 1947, mitgeteilt von Barbara Nichtweiß, in: B. Wacker (Hrsg.), Die eigent­ liche katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, 1994, S. 65 - 87.

Anhang des Herausgebers Der Text erschien als Stichwort im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften“, herausgegeben im Aufträge der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissen­ schaften v. Hermann Franke, Generalmajor a. D., Erster Band, Wehrpolitik und Kriegfüh­ rung, Berlin u. Leipzig 1936, de Gruyter, S. 547 - 549. Eine italienische Fassung, übersetzt von Antonio Caracciolo, erschien in: Behemoth, Rom, 1988, H. 4, S. 7 - 9.

Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes Mit einer humanitas, die noch im antiken Sinne philosophisch ist, hat Descartes alle bestehenden Ordnungen in Religion und Tradition, in Kirche und Staat aner­ kannt und auf sich beruhen lassen. Bei ihm findet man nichts von den mythischen und dämonischen Bildern, an denen Hobbes so reich ist. Der Engländer kannte den „Naturzustand“ seiner Staatskonstruktion, nämlich den Bürgerkrieg, aus eigener Erfahrung; das Frankreich des Descartes dagegen war bereits ein „Staat“. Für den Staat als die politische Einheit verwendet Descartes das Bild eines von einem Ar­ chitekten errichteten Gebäudes. Das entspricht dem Kunstwerk der Renaissance und ist noch nicht die technisch-mechanisierte Vorstellung der rationalistisch-revo­ lutionären Staatstheorie, für die der Staat ein Uhrwerk, eine Maschine, ein Auto­ mat oder Apparat ist, ein horologium, eine machina, ein automaton, wie Hobbes sagt1. Der tolerante Konservatismus des Descartes darf aber nicht darüber hinweg­ täuschen, daß gerade durch diesen Philosophen alle menschlichen Dinge im Kern bereits revolutionär verändert waren, weil er den menschlichen Körper als Mecha­ nismus begriffen hatte. Das war der Anfang der kommenden technisch-industriel­ len Revolution. Im Vergleich zur Mechanisierung des menschlichen Körpers ist die Mechanisierung des Staates sekundär und weniger mittelbar. An sich ist es mög­ lich, den Staat als künstlichen Mechanismus aufzufassen, ohne den menschlichen Körper in analoger Weise zu mechanisieren. Doch kann die Mechanisierung des Staates auch ein vergrößerndes Spiegelbild der mechanistischen Auffassung des menschlichen Körpers sein, und dann wirkt sie um so deutlicher und schreckhafter, wie das bei Hobbes der Fall ist. Ausgangspunkt der Staatskonstruktion des Hobbes ist die Angst des Naturzu­ standes, Ziel und Endpunkt die Sicherheit des zivilen, staatlichen Zustandes. Im Naturzustand kann Jeder Jeden töten; Jeder weiß, daß Jeder Jeden töten kann; Je­ der ist jedes Andern Feind und Konkurrent - das bekannte bellum omnium contra omnes. Im zivilen staatlichen Zustand sind alle Staatsbürger ihres physischen Da­ seins sicher; hier herrscht Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Das ist bekanntlich eine Definition der Polizei. Moderner Staat und moderne Polizei sind zusammen ent­ standen, und die wesentlichste Institution dieses Sicherheitsstaates ist die Polizei. Erstaunlicherweise übernimmt Hobbes für die Kennzeichnung dieses durch die Po1 Hobbes war ein Bewunderer Harveys (vgl. F Tonnies, Einführung zu Julius Lips, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution, Leipzig 1927, S. 4 / 5), dessen Lehre vom Blutkreislauf die mechanistisch-physikalischen Vorstellungen vom menschlichen Körper bestimmte (das Herz als Pumpe, der Blutkreislauf als hydraulisches Problem usw.).

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lizei bewirkten Friedenszustandes die Formel des Baco von Verulam und spricht davon, daß jetzt der Mensch für den Menschen zum Gott, homo homini deus wer­ de, nachdem im Naturzustand homo homini lupus[ 1] war. Der Schrecken des Na­ turzustandes treibt die angsterfüllten Individuen zusammen, ihre Angst steigert sich aufs äußerste, ein Lichtfunke der ratio blitzt auf - und plötzlich steht vor uns der neue Gott. Wer ist dieser Gott, der den angstgequälten Menschen Frieden und Sicherheit bringt, die Wölfe in Staatsbürger verwandelt und sich durch dieses Wunder als Gott erweist, allerdings nur als „sterblicher Gott“, als deus mortalis, wie Hobbes ihn nennt? Wenn irgendwo, so gilt hier der Ausspruch des Newton: deus est vox relationis.[2] Das Wort vom „sterblichen Gott“ hat zu großen Mißverständnissen und Mißdeutungen geführt. Vor kurzem hat J. Vialatoux, der durch zahlreiche wirtschafts- und gesellschafts­ philosophische Schriften bekannte Professor an der Institution des Chartreux in Lyon, eine Abhandlung über Hobbes veröffentlicht, in der er ihn als den Philoso­ phen des heutigen Totalismus hinstellt und schließlich unterschiedslos zum Kir­ chenvater des Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus und der Deut­ schen Christen erhebt2. Vieles macht dem französischen Katholiken seine Sache leicht; von der Seite des Hobbes her das berühmte Bild des alles verschlingenden Leviathan, Wendungen wie deus mortalis und homo homini deus, dazu die berüch­ tigte staatsabsolutistische These, daß jede Religion außer der jeweils vom Staat vorgeschriebenen oder erlaubten Aberglaube sei. Von der anderen Seite kommt die summarische Vieldeutigkeit des Schlagwortes „total“ hinzu, das unendlich viel Verschiedenes bedeuten kann: mancherlei Arten einer weitgehenden Inanspruch­ nahme oder einer weitgehenden Vernichtung der individuellen Freiheit, aber auch manche, im Grunde nur relativen Änderungen der überkommenen Abgrenzungen des Spielraumes bürgerlicher Freiheit, Zentralisierungen, Wandlungen des überlie­ ferten verfassungsrechtlichen Begriffes der „Gewaltenteilung“, Aufhebungen frü­ herer Trennungen und Unterscheidungen, Totalität als Ziel und Totalität als Mittel usw. Gegenüber Vialatoux hat der ausgezeichnete französische Staatsrechtslehrer R. Capitant in seinem Aufsatz „Hobbes et l’État totalitaire“3 auf den individualisti­ schen Charakter der Staatskonstruktion des Hobbes hingewiesen und die starken freiheitlichen Vorbehalte herausgearbeitet, die bei einem von Individuen geschlos­ senen Vertrag unausrottbar sind und die auch F. Tönnies4 nachdrücklich betont hat. Von der individuellen Freiheit gilt eben auch: tamen usque recurret.[3] R. Capitant ist als liberal-demokratischer Franzose selbstverständlich ein Gegner der „idéolo­ gie totalitaire qui fleurit de nos jours“. Doch betont er mit Recht, daß die von Ho­ bes geforderte staatliche Kontrolle aller wissenschaftlichen Ansichten nur als ein 2 La Cité de Hobbes; théorie de l’état totalitaire, essai sur la conception naturaliste de la civilisation, Paris / Lyon 1935. 3 Archives de Philosophie de droit et de Sociologie juridique, VI, 1936, S. 46 - 75. 4 Thomas Hohhes, Leben und Lehre, 3. Aufl., Stuttgart 1925, S. 257.

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Teil der polizeilichen Sicherheit und Ordnung, nicht aber als wirkliche „Staatsre­ ligion“ gedacht ist. Hobbes ist in der Tat „profondément individualiste et rationa­ liste“. Er gehört, wie Descartes, zu den einsamen Individuen, die im 17. Jahrhun­ dert, im „Heldenzeitalter des occidentalen Rationalismus“, sich auf nichts anderes als auf sich selbst zurückzogen und dabei die Art von Wissen fanden, die eine zu verändernde Welt ihnen nicht hätte geben können. Aber auch R. Capitant gibt zu, daß die Verwendung des berühmten Bildes von dem monströsen Fabelwesen „Le­ viathan“ Hobbes als einen „mystischen Totalisten“ erscheinen lassen kann. [4] Die Verwirrung ist deshalb so groß, weil Hobbes in Wirklichkeit drei verschie­ dene, miteinander nicht in Einklang zu bringende Vorstellungen seines „Gottes“ verwendet. Im Vordergrund steht auffällig das berüchtigte mythische Bild vom Le­ viathan. Daneben dient eine juristische Vertragskonstruktion dazu, eine durch Re­ präsentation zustande kommende souveräne Person zu erklären. Außerdem über­ trägt Hobbes - und das scheint mir der Kern seiner Staatsphilosophie zu sein - die cartesianische Vorstellung vom Menschen als einem Mechanismus mit einer Seele auf den „großen Menschen“, den Staat, den er zu einer von der souverän-repräsen­ tativen Person beseelten Maschine macht. Das Bild des Leviathan überwältigt und überschattet durch seine suggestive Kraft alle anderen, noch so präzisen Konstruktionen und Argumentationen. Zahl­ reiche Prägungen des Hobbes sind geflügelte Worte geworden, wie das „bellum omnium contra omnes“ oder das „homo homini lupus“. Manches, wie den Gedan­ ken des „nulla poena sine lege“, hat er begrifflich-systematisch so gut durchdacht und vorbereitet, daß es einige Zeit später als einleuchtende Formel wie eine reife Frucht vom Baum fiel. Anderes wiederum wirkt durch die politische Kraft, die den konkreten Feind anschaulich macht. Das gilt insbesondere von vielen eindrucks­ vollen Schijderungen des Buches „Leviathan“, das, wie F. Tönnies richtig hervor­ gehoben hat, zum Unterschied von den naturrechtlichen Werken ein überwiegend politischer Traktat ist5. Zu diesen politischen Bildern gehört die Schilderung der römischen Kirche als des Reiches der Finsternis, die Ausmalung der Kleriker als Lemuren, des römischen Papstes als eines mit einer Tiara gekrönten, riesigen Ge­ spenstes, das auf dem Grabe des Imperium Romanum sitzt (Kap. 47 der lateini­ schen Ausgabe des Leviathan). Hier ist Hobbes, dessen Schriften bereits 1653 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt wurden, ein aktiver Mitstreiter des welt­ geschichtlichen Kampfes, den die englische Nation damals gegen die spanische Weltmacht und ihre Verbündeten, gegen Papstkirche und Jesuitenorden führte. Das Bild vom Leviathan aber bedeutet bei Hobbes etwas ganz anderes. Es malt - zum Unterschied von dem späteren „Behemoth“6 - nicht einen Feind, denn es stellt den 5 Tönnies, a. a. O., S. 248, 255; daraus erklärt sich auch die in der lateinischen Ausgabe des Leviathan von 1668 vorgenommene Anpassung an die veränderte politische Lage (näm­ lich die inzwischen eingetretene Restauration der Monarchie) gegenüber der englischen Aus­ gabe von 1651, die mit Cromwells Sieg rechnet. 6 Der „Behemoth“ (ebenfalls aus dem Buch Hiob) ist nur eine historisch-politische Schil­ derung der englischen Revolution 1640 - 1660; das Bild vom Behemoth ist als Bild der

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frieden- und sicherheitbringenden Gott dar. Es ist auch kein politischer FreundMythus, dafür ist es wohl zu schauerlich und abschreckend. Es ist, näher betrach­ tet, in der staatstheoretischen Gesamtkonstruktion des Hobbes nicht mehr als ein aus gutem englischem Humor geborener, halbironischer, literarischer Einfall.[5] Nur die ungeheuerliche Schlagkraft dieses mythischen Bildes hat zu dem Irrtum geführt, in ihm die Zentralvorstellung des neuen staatstheoretischen Systems zu erblicken. Die Sätze und Worte, mit denen Hobbes den Leviathan einführt, lassen aber keinen Zweifel daran, daß er selbst dieses Bild weder begrifflich noch irgend­ wie mythisch oder dämonisch ernst genommen hat. Hobbes wußte etwas von Dämonen und Dämonologie. Das zeigt schon das Kap. 45 und die Bemerkung p. 242 der englischen Ausgabe des Leviathan von 1651. Der Leviathan des Buches Hiob Kap. 40 war als mythisches Bild der Litera­ tur dieser Zeit bekannt. Es fehlt leider noch an einer näheren geschichtlichen Un­ tersuchung seiner Verwendung, aber wir wissen doch, daß z. B. Bodinus, ein Ken­ ner des kabbalistischen Schrifttums7, in seiner Daemonomania (lateinische Ausga­ be von 1581, Buch II, Kap. 6 und III Kap. 1) vom Leviathan als einem Dämon spricht, dessen Macht niemand widerstehen kann und über den gemeldet wird, daß er sich nicht mit dem Leib begnügt, sondern auch den Seelen nachstellt, was sich, wie Bodinus hinzufügt, alle diejenigen merken sollen, die glauben, einen Vertrag mit ihm schließen und ihn sich dienstbar machen zu können. Solche Ansichten machen es erklärlich, daß die bloße Nennung des Namens „Leviathan“ die Erinne­ rung an furchtbare asiatische Mythen, an einen alles in Anspruch nehmenden Mo­ loch oder einen alles zertretenden Golem wachrufen konnte. Nach kabbalistischen Meinungen soll der Leviathan ein riesiges Tier sein, mit dem der jüdische Gott täglich einige Stunden spielt; bei Beginn des tausendjährigen Reiches aber wird er geschlachtet und die seligen Bewohner dieses Reiches verteilen und verzehren sein Fleisch. Das alles ist sehr interessant und könnte das mythische Urbild mancher kommunistischen Lehren vom Staat und von dem nach der Abschaffung des Staa­ tes eintretenden Zustand einer Staat- und klassenlosen Gesellschaft sein. Bei Hob­ bes aber ist von solchen Dingen nicht die Rede. Er bedient sich des Bildes ohne Schauder und ohne Respekt. In der englischen Ausgabe von 1651 (p. 87) heißt es an der entscheidenden Stelle: „this is the generation of that great Leviathan or rather - to speake more reverently - of that mortal god.“ In der lateinischen Aus­ gabe von 1668 lautet dieselbe Stelle: „Atque haec est generatio magni illius LeviaGreuel einer Revolution gemeint. Trotzdem verweigerte die Zensur der königlichen Regie­ rung die Druckerlaubnis und konnte das 1668 geschriebene Buch erst nach dem Tode Hob­ bes’ erscheinen. 7 Bezold, Jean Bodin als Okkultist und seine Démonomania, Historische Zeitschrift 105 (1910, S. 1 ff., der Aufsatz ist auch in den gesammelten Schriften Bezolds abgedruckt); fer­ ner die Schrift des Rabbiners J. Guttmann, Jean Bodin in seinen Beziehungen zum Judentum, Breslau 1906, S. 16 und zur Korrektur der Angabe Guttmanns über die Abstammung des Bodinus: Émile Pasquier, Revue d’histoire de l’Eglise de France XIX 1933, p. 457 - 62, sowie die Besprechung des Buches von F. J. Conde, El Pensamiento Politico de Bodino, Deutsche Juristen-Zeitung 1936, S. 181 / 82.

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than, vel, ut dignius loquar, mortalis Dei; cui pacem et protectionem sub Deo im­ mortali debemus omnem“. Diesem Ton entspricht auch die sachliche Bedeutung des Bildes. Es wäre doch eine sonderbare Staatsphilosophie, wenn ihr ganzer Ge­ dankengang nur darauf hinausliefe, daß die armen menschlichen Individuen sich aus der totalen Angst des Naturzustandes in die ebenso totale Angst einer Moloch­ oder Golemherrschaft flüchteten. Locke hat diesen Ein wand gegen Hobbes erho­ ben8; aber er trifft nicht zu. Für Hobbes kommt es darauf an, durch den Staat die Anarchie des feudalen, ständischen oder kirchlichen Widerstandsrechts zu über­ winden und dem mittelalterlichen Pluralismus die rationale Einheit eines berechen­ bar funktionierenden, zentralistischen Staates entgegenzusetzen.Wenn man hier von Totalität sprechen will, so ist zu beachten, daß der Totalität dieser Art staatli­ cher Macht immer auch die totale Verantwortlichkeit für Schutz und Sicherheit der Staatsbürger entspricht, und daß der Gehorsam sowie der Verzicht auf jedes Wider­ standsrecht, den dieser Gott verlangen kann, nur das Korrelat des wirklichen Schutzes ist, für den er garantiert. Hört der Schutz auf, so hört auch jede Gehor­ samspflicht auf und gewinnt das Individuum seine natürliche Freiheit wieder9. Die „Relation von Schutz und Gehorsam“ ist der Angelpunkt der Staatskonstruktion des Hobbes. Mit ihr sind alle einseitigen TotalitätsVorstellungen unvereinbar. Die Einführung des „Leviathan“ hat bei Hobbes nicht einmal die hintersinnige Bedeutung, eine Nebentür zu dem Traumland ausschweifender Fortschrittshoff­ nungen zu eröffnen, das bei manchen Rationalisten die andere Seite ihres Rationa­ lismus ausmacht. Das berühmteste Beispiel dieser Art ist das von Condorcet in seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1794) ent­ worfene Gemälde eines durch Vernunft und Erziehung herbeigeführten Paradieses der Menschheit. [6] Hier findet sich manche Ähnlichkeit mit den Grundvorstellungen des Hobbes: das Leben interessiert nur als das diesseitige, physische Dasein des einzelnen, jeweils lebenden Individuums; Sicherheit und möglichste Verlänge­ rung dieser Art physischen Daseins ist das wichtigste und höchste Ziel. Condorcet, der große Mathematiker, hält das Problem der Unsterblichkeit für ein mathemati­ sches Infinitesimal-Problem und glaubt, daß man in unendlichen Zeiträumen, durch eine immer weitere allmähliche Hinausschiebung des Todes an Altersschwä­ che, schließlich zu einer Art diesseitiger Unsterblichkeit und Ewigkeit des indivi­ duellen irdischen Daseins gelangen könne. Aber bei Condorcet zeigt sich, daß der Staat bereits über ein Jahrhundert lang sein geschichtliches Werk getan und für öffentliche Sicherheit und Ordnung gesorgt hatte. Daher sieht Condorcet den Men8 Civil government II, § 93: die Menschen würden es aus Angst vor Katzen und Füchsen für Sicherheit halten, von einem Löwen gefressen zu werden. Diese Bemerkung Lockes rich­ tet sich unmittelbar gegen Hobbes, obwohl dessen Name nicht genannt ist. 9 Es war daher für Hobbes nicht leicht, sich während der Restaurationszeit, nach 1660, gegen die Vorwürfe der Reaktionäre zu verteidigen, die ihn als gesinnungslosen Opportuni­ sten hinstellten, der die Unterwerfung unter Cromwell gerechtfertigt habe; vgl. darüber die von Hobbes selbst verfaßte Schrift von 1662: Considerations upon the Reputation, Loyalty, Manners and Religion of Thomas Hobbes of Malmesbury.

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sehen nicht mehr als radikal böse und wolfsartig, sondern als gut und erziehbar an. In diesem Stadium der rationalistischen Doktrin wird das Zwangs- und Erzie­ hungswerk des Staates als eine zeitlich bedingte Angelegenheit betrachtet und kann damit gerechnet werden, daß der Staat sich selber eines Tages überflüssig macht. Mit andern Worten: man sieht bereits den Tag dämmern, an dem der große Leviathan geschlachtet werden kann. Hobbes ist von solchen Vorstellungen weit entfernt. Trotz aller Einwirkungsmöglichkeiten durch Zwang und Erziehung, die auch zu seiner Theorie gehören, macht er sich über die menschliche Natur keine großen Illusionen. Gerade diese pessimistische Haltung bestimmt seinen Rationa­ lismus und beeinflußt aufs stärkste die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, nament­ lich auch das staatstheoretische Denken Friedrichs des Großen, das mehr von Hob­ bes als von Locke bestimmt ist101. Aber auch die Vertragskonstruktion, mit deren Hilfe Hobbes eine souverän-re­ präsentative Person juristisch erklärt, führt nicht zu einer Totalität des Staates. Seit langem ist die Unentschiedenheit bemerkt worden, die sich in dem sonst so siche­ ren Gedankengang des Hobbes am juristisch entscheidenden Punkt, nämlich bei der rechtlichen Erklärung des Staates aus einem von Individuen geschlossenen Vertrage, einstellt11. Der Vertrag wird ganz individualistisch aufgefaßt; alle Bin­ dungen und Gemeinschaften sind aufgelöst; atomisierte Einzelne finden sich in ihrer Angst zusammen, bis das Licht des Verstandes aufleuchtet und ein Konsens zustandekommt. Sieht man diese Konstruktion von ihrem Ergebnis, vom Staate her, so zeigt sich, daß dieses Ergebnis mehr und etwas anderes ist, als ein indivi­ dualistischer Vertrag bewirken könnte. Es kommt zwar zu einem Konsens Aller mit Allen; das ist aber kein eigentlicher Staats-, sondern nur ein Gesellschaftsver­ trag. Was weiter entsteht, die souverän-repräsentative Person, kommt nicht durch, sondern nur anläßlich dieses Konsenses zustande. Die souverän-repräsentative Per­ son ist unverhältnismäßig mehr als die summierte Kraft aller beteiligten Einzelwil­ len bewirken könnte. Die angehäufte Angst der um ihr Leben zitternden Indivi­ duen ruft allerdings eine neue Macht auf den Plan, aber sie beschwört diesen neuen Gott mehr, als daß sie ihn schafft. Insofern ist der neue Gott gegenüber allen einzelnen Vertragspartnern und auch gegenüber ihrer Summe transzendent, aber nur in einem juristischen, nicht in einem metaphysischen Sinne. Die souverän-re­ präsentative Person kann daher auch die völlige Mechanisierung der Staatsvorstel­ lung nicht aufhalten. Sie ist nur ein zeitgeschichtlich gebundener Ausdruck der barocken Repräsentationsidee des 17. Jahrhunderts, des Absolutismus, nicht eines „Totalismus“. Da der Staat bei Hobbes nicht als Ganzes Person, sondern die souve10 Gisbert Beyerhaus, Friedrich der Große und das 18. Jahrhundert, Bonn 1931, S. 11. Über die Einwirkung des Hobbes auf die mathematisch-naturwissenschaftliche Philosophie des 18. Jahrhunderts und den Positivismus von d’Alembert bis Comte vgl. die bei Tönnies a. a. O. 294 zitierte Äußerung Diltheys; ferner Joseph Vialatoux, Philosophie économique, 1933, p. 32. 11 Fréd. Atger, Essai sur l’histoire des doctrines du contrat social, Nîmes 1906 (Thèse de Montpellier), p. 176.

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rän-repräsentative Person nur die Seele des „großen Menschen“ Staat ist, wird der Mechanisierungsprozeß durch diesen Personalismus nicht nur nicht aufgehalten, sondern sogar erst vollendet. Denn auch dieses personalistische Element wird in den Mechanisierungsprozeß hineingezogen und geht darin unter. Der Staat ist ja als Ganzes, mit Leib und Seele, ein homo artificialis und als solcher Maschine. Er ist ein von Menschen verfertigtes Werk, bei dem Stoff und Künstler, materia und artifex, Maschine und Maschinenbauer dasselbe sind, nämlich Menschen. Auch die Seele wird dadurch zum bloßen Bestandteil einer künstlich von Menschen ge­ machten Maschine. Das Endergebnis ist infolgedessen nicht ein „großer Mensch“, sondern eine „große Maschine“, ein riesenhafter Mechanismus zur Sicherung des diesseitigen physischen Daseins der von ihm beherrschten und beschützten Men­ schen. Weder die vordergründige Drapierung mit dem phantastischen Bild des Levia­ than, noch die zeitgeschichtlich gebundene Beseelung durch eine souverän-reprä­ sentative Person vermögen etwas daran zu ändern, daß der Staat durch Hobbes zur großen Maschine geworden ist. Darin liegt die im Sinne der technisch-industriel­ len Revolution bahnbrechende Wirkung seiner Staatsphilosophie, deren eigentlich revolutionären Charakter Auguste Comte mit seiner großen geschichtlichen Intui­ tion zuerst und am klarsten erkannt hat.[7] Der Staat, der im 17. Jahrhundert ent­ stand und sich auf dem europäischen Kontinent durchsetzte, ist in der Tat ein Men­ schenwerk und von allen früheren Arten der politischen Einheit unterschieden. Man kann ihn als das erste Produkt des technischen Zeitalters ansehen, als den ersten modernen Mechanismus großen Stils oder, nach der treffenden Formulie­ rung von Hugo Fischer, als die „machina machinarum“.[7a] Mit ihm ist nicht nur eine wesentliche geistesgeschichtliche oder soziologische Voraussetzung für das folgende technisch-industrielle Zeitalter geschaffen; er ist bereits selbst ein typi­ sches, sogar prototypisches Werk dieser neuen Zeit. Durch ihn ändern sich daher Recht und Gesetz und alle Begriffe des öffentlichen Lebens. „Das Positive wird zum letzten Geltungsgrund für uns12.“ Recht wird positives Gesetz, Gesetzlichkeit wird Legalität, Legalität der positivistische Funktionsmodus der staatlichen Ma­ schinerie. Für diese Art Legalität sind alle mittelalterlichen Rechtsbegriffe und Einrichtungen, insbesondere das feudale oder das ständische Widerstandsrecht, nur Störungen, die beseitigt werden müssen. [8] Aber diese Vergesetzlichung führt auch, wie jede Technisierung, zugleich neue Berechenbarkeiten ein, infolgedessen auch neue Möglichkeiten der Beherrschung dieser Maschine, der Sicherheit und Freiheit, so daß sich schließlich ein neuer spezifischer Begriff des „Rechtsstaates“ im Sinne des durch Gesetze berechenbar gemachten staatlichen Funktionierens durchsetzt. Das alles ist bei Hobbes schon erkennbar vorhanden. Mit der Vorstellung des Staates als eines solchen Mechanismus ist der entschei­ dende metaphysische Schritt getan. Alles weitere, z. B. die Entwicklung vom Uhr­ werk zur Dampfmaschine, zum Elektromotor, zum chemischen oder biologischen 12 C A. Emge, Ein Rechtsphilosoph wandert durch die alte Philosophie, Berlin 1936, S. 72. 10 S in n t. (ir o lW n u m . N o m o s

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Zweiter Teil: Politik und Idee

Prozeß, ergibt sich mit der weiteren Entwicklung der Technik und des naturwis­ senschaftlichen Denkens von selbst und bedarf keines neuen metaphysischen Entschlusses. Durch die Mechanisierung des „großen Menschen“, des μάκρος άνθρωπος, hat Hobbes aber auch für die anthropologische Deutung des Men­ schen über Descartes hinaus einen folgenreichen weiteren Schritt getan. Die erste metaphysische Entscheidung fiel allerdings bei Descartes in dem Augenblick, in dem der menschliche Körper als Maschine und der aus Leib und Seele bestehende Mensch im Ganzen als ein Intellekt auf einer Maschine gedacht wurde. Die Über­ tragung dieser Vorstellung auf den „großen Menschen“ Staat lag nahe. Sie wurde durch Hobbes vollzogen; aber sie führte, wie gezeigt, dazu, daß sich nun auch die Seele des großen Menschen in einen Maschinenteil verwandelte. Nachdem auf sol­ che Weise der große Mensch mit Leib und Seele zur Maschine geworden war, wur­ de eine Rückübertragung möglich und konnte auch der kleine Mensch zum homme-machine werden. Erst die Mechanisierung der Staats Vorstellung hat die Mechanisierung des anthropologischen Bildes vom Menschen vollendet. Ein Mechanismus ist keiner Totalität fähig. Ebensowenig kann die reine Diesseitigkeit des individuellen physischen Daseins zu einer sinnvollen Totalität gelan­ gen. Wenn Wort und Begriff der Totalität prägnant bleiben und nicht zu einem irreführenden Schlagwort herabsinken sollen, muß der Totalität eine spezifische philosophische Beziehung zugrunde liegen. Man kann sie, mit C. A. Emge, in der „endlichen Unendlichkeit“ der Philosophie Hegels erblicken. Das scheint mir rich­ tiger als der Versuch von E. Voegelin, alle Totalitätsvorstellungen auf eine averroistische Substanzidentität von Glied und Ganzem zurückzuführen13. Welche ande­ ren philosophischen Systeme den Begriff von Totalität ermöglichen, kann hier of­ fen bleiben; daher lasse ich auch eine von E. Peterson geäußerte Ansicht beiseite, nach der die „totalen“ Begriffe der Neuzeit überhaupt nicht als Begriffe, sondern als Mythen gemeint sind, [9] Totalisierung also Mythisierung bedeutet, wodurch die Philosophie von Schelling oder Georges Sorel die solchen Totalitätsvorstellun­ gen spezifisch zugeordnete philosophische Gedankenwelt würde. Jedenfalls ist die „irdische Göttlichkeit“, die Hegel dem weltgeschichtlich führenden Volke zu­ schreibt, einer Totalität in dem spezifischen Sinne der „endlichen Unendlichkeit“ und einer typischen Verbindung von Immanenz und Transzendenz besonders fä­ hig14. Daher ist der „irdische Gott“ der Philosophie Hegels auch präsenter Gott, 13 E. Voegelin, Der autoritäre Staat, Wien 1936, S. 23. 14 H. Welzel, Über die Grundlagen der Staatsphilosophie Hegels (in der Sammlung Volk und Hochschule im Umbruch, Oldenburg 1937, S. 100), zitiert den Satz Hegels aus der Philo­ sophie der Weltgeschichte (S. 119 der Jubiläumsausgabe), wonach die Prinzipien der Volks­ geister in einer notwendigen Stufenfolge selbst nur Momente des Einen allgemeinen Geistes sind, „der durch sie in der Geschichte sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt“. Welzel hebt den universalistisch-geistigen, von dem „chtonischen Mächten abge­ spaltenen“ Charakter des Hegelschen Volksbegriffes hervor. Ich will dem nicht widerspre­ chen, glaube aber doch nicht, daß Hegel dadurch zu einem Averroisten wird, ebensowenig wie Aristoteles durch die Vorstellung eines „göttlichen Rund in sich selbst“. - Nach der Drucklegung meines Aufsatzes sind mir noch zwei weitere, neuere Äußerungen zu dem

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numen praesens, und nicht Repräsentation. Er hat mit dem „sterblichen Gott“ der Staatsphilosophie des Hobbes keinerlei geistige Verwandtschaft. Dessen „deus mortalis“ ist vielmehr eine Maschine, deren „Sterblichkeit“ darin besteht, daß sie eines Tages durch Bürgerkrieg oder Rebellion zerbrochen wird.

Anmerkungen des Herausgebers [1] Hobbes, De Cive, Wolesworth-Edition, Opera latina, II, S. 135: „Profecto utrumque vere dictum est, homo homini deus, et homo homini lupus. Illud, si concives inter se; hoc, si civitates comparemus.“ Zum Ursprung d. Formel: F. Tricaud, „Homo homini Deus“, „Homo homini lupus“: Recherche des Sources des deux Formules de Hobbes, in: R. Koselleck / R. Schnur (Hrsg.), Hobbes-Forschungen, 1969, S. 61 - 70. Die Formel scheint zu Hobbes’ Zei­ ten europ. Allgemeingut gewesen zu sein. Baltasar Gracian konstatiert in s. Roman „El Criticon“, der 1651, also im gl. Jahr wie Hobbes’ „Leviathan“ erschien: „... cada uno es un lobo para ei otro“ (El Criticon, Ausg. M. Romera Navarro, Philadelphia 1938/39,1, S. 148). [2] Vgl. Sir Isaac Newton’s Mathematical Priciples of Natural Philosophy and his System of the World. Translated into English by Andrew Motte in 1729, the translation revised by Florian Cajori. 2 vols., Berkeley / Los Angeles 1934, Bd. II, S. 544: „This Being governs all things, not as the soul of the world, but as Lord over all; and on account of his dominion is wont to be called Lord God . . ., or Universal Ruler; for God ist a relative word, and has respect to servants . . . Zur Theologie Newtons vgl. bes.: Frank E. Manuel, The Religion of Isaac Newton, Oxford 1974, Clarendon, u. J. E. Force / R. H. Popkin (Hrsg.), Essay on the Context, Nature, and Influence of Isaac Newton’s Theology, Dordrecht 1990. [3] Nach Horaz, Satiren, I, 10, 24: Naturam expellas furca; tamen usque recurret: Treibst Du die Natur mit der Forke aus, so kehrt sie doch stets zurück. [4] Aufschlußreich ist auch der weit unbekanntere Artikel Capitants, „Thomas Hobbes et le Troisième Reich“, in: L’Allemagne contemporaine, 6. 4. 1936, S. 55 - 57, in dem er sich politisch deutlicher äußert. Capitant (1901 - 1970) rezensierte Schmitts „Der Hüter der Ver­ fassung“ in: Politique, mars 1932, S. 216 - 29 („Le rôle politique du president du Reich“) und bemühte sich ab 1934 darum, „das parlamentarische System Frankreichs durch ver­ nünftige Reformen zu retten“ (Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 227 f.); vgl. den das Grundsätzliche herausarbeitenden Aufsatz v. Capitant, La crise de la réforme du PariaProblem der „Totalität“ bekannt geworden: Norbert Giirke nimmt in der Zeitschrift „Völker­ bund und Völkerrecht“, Juli 1937, zu dem Begriff des totalen Krieges Stellung, wobei er von einem Begriff des Politischen ausgeht, der vor dem politischen Ernstfall, dem Krieg, die Au­ gen verschließt, daher auch keinen Feind sehen will und eben dadurch zu einer Totalität ge­ langen möchte. William Gueydan de Roussel, der den deutschen Lesern durch seinen Aufsatz „Der demaskierte Staat“, Europäische Revue, September 1936, bekannt geworden ist, hält in einem noch nicht veröffentlichten, mir freundlicherweise zugänglich gemachten Aufsatz ge­ rade die Vorstellung des „Mechanismus“ bei Hobbes für mythisch-romantisch, wie er auch die ganze Wissenschaftsvorstellung des 17.-19. Jahrhunderts für einen Mythos und den heu­ tigen Prozeß der Totalisierung nur als ein dialektisch notwendiges Stadium des großen Neu­ tralisierungsprozesses erklärt, durch den „Totalität“ der Gegenbegriff gegen „Universalität“ wird. ! Sinai, (iroMinum. Nomos

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

hundert. Dieses Jahrhundert ist daher auch der Zeitabschnitt, in dem zwischen den politischen und wirtschaftlichen Interessen des britischen Weltreiches und den an­ erkannten Regeln des Völkerrechts eine geradezu wunderbare Harmonie obwaltet. „Freiheit“ bedeutet hier im politisch entscheidenden Fall stets eine Umschreibung des begreiflichen, spezifisch britischen Weltreichinteresses an den großen Ver­ kehrswegen der Welt. So bedeutet die „Freiheit der Meere“ nach einer Formulie­ rung von Wheaton-Dana, die durch die Zitierung im Miramichi-Fall (englische Pri­ sengerichtsentscheidung vom 23. November 1914) berühmt geworden ist: „the sea is res omnium, the common field of war as well as of commerce.“[27] Solange England die Herrschaft zur See hat, erhält die Freiheit der Meere ihre Grenze, ja sogar ihren Inhalt durch die Interessen der englischen Seekriegführung, nämlich durch das Recht und die Freiheit der kriegführenden Macht, den Handel der Neu­ tralen zu kontrollieren. „Freiheit der Dardanellen“ bedeutet ungehinderte Benut­ zung dieser Meerengen durch englische Kriegsschiffe, um Rußland im Schwarzen Meer angreifen zu können usw.[27a] Immer ist hinter der freiheitlich-humanitär­ allgemeinen Fassung der eigentümliche Zusammenhang erkennbar, der die beson­ ders gearteten Interessen eines geographisch nicht zusammenhängenden Welt­ reichs zu universalistisch verallgemeinernden Rechtsbegriffen treibt. Das ist nicht einfach als „Cant“ und Betrug oder mit ähnlichen Schlagworten zu erklären. Es ist ein Beispiel der unvermeidlichen Zuordnung völkerrechtlicher Denkweisen zu ei­ ner bestimmten Art politischer Existenz5253. Im übrigen ist die Frage nur, wie lange jene wunderbare Harmonie von britischem Interesse und Völkerrecht ihre Evidenz noch in das 20. Jahrhundert hinein zu bewahren vermag. Auch die Monroedoktrin hat durch Th. Roosevelt und W. Wilson eine Umdeu­ tung zu einer universalistisch-imperialistischen Weltdoktrin erfahren. Trotzdem sind die beiden Grundsätze - amerikanische Monroedoktrin und Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches - im Kern immer verschieden geblieben. Der Universalismus des Grundsatzes der Sicherheit der Verkehrswege hat heute nicht einmal mehr eine naturrechtlich-freiheitliche Umhüllung; er ist der offene Ausdruck des Status-quo-Interesses eines Weltreiches, das als solches bereits genü­ gend Legitimierung in sich zu enthalten glaubt. Die Universalisierung der Monroe­ doktrin durch Roosevelt und Wilson dagegen war die Verfälschung eines echten Großraumprinzips der Nichtintervention zu einem grenzenlosen Interventionis­ mus. Der Moment, in dem diese Universalisierung in aller Form amtlich verkündet 52 Über den Zusammenhang der Freiheitslehren mit der kolonialen Expansion (Freiheit der Meere und des Handels als holländische und englische Lehre gegenüber dem spanischportugiesischen Kolonialmonopol des 16. und 17. Jahrhunderts) der hervorragende Aufsatz von Ulrich Scheuner, Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völkerrecht, Zeitschrift für Völ­ kerrecht, Bd. XXII (1938), S. 442 ff., 463. 53 „Es ist ein Ausdruck echter politischer Macht, wenn ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkweise anderer Volker, das Vokabularium, die Terminologie und die Begriffe von sich aus bestimmt.“ So Carl Schmitt, Die Vereinigten Staaten von Amerika und die völ­ kerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus, Königsberger Vortrag vom 20. Februar 1932, veröffentlicht in Positionen und Begriffe, Hamburg 1940, S. 162 f.

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wurde, die obenerwähnte Botschaft des Präsidenten Wilson vom 22. Januar 1917, bezeichnet auch von dieser Seite her die Stelle, an der sich die Politik der Verei­ nigten Staaten von ihrem Heimatboden abwendet und mit dem Welt- und Mensch­ heitsimperialismus des britischen Empire ein Bündnis eingeht.

IV. Minderheiten- und Volksgruppenrecht im mittel- und osteuropäischen Großraum Unsere Erörterung der Monroedoktrin und ihres Gegenbeispiels, des Grundsat­ zes der Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches, sollte die Ver­ schiedenheit eines in konkreten Großräumen gedachten Völkerrechts gegenüber einem universalistisch-humanitären Weltrecht zum wissenschaftlichen Bewußtsein bringen. Nicht nur die ursprüngliche echte Monroelehre, sondern fast alle wichti­ gen grundsätzlichen Fragen des modernen Völkerrechts sind durch die Vorherr­ schaft dieses Universalismus in ihrem eigentlichen Sinn bedroht. An diesem sel­ ben Universalismus mußte der Genfer Völkerbund scheitern. Er hat auch die völ­ kerrechtliche Regelung des sogenannten Minderheitenschutzes, die 1919 versucht wurde, zu einem haltlosen und in sich selbst widerspruchsvollen Scheingebilde ge­ macht. [28] Der Minderheitenschutz des Versailles-Genfer-Systems läßt sich in sei­ ner konkreten Eigenart am besten unter den Gesichtspunkten unserer Problemstel­ lung erkennen. Freilich ist dieses System mit seinem Minderheitenschutz heute geschichtlich überholt. Aber die völkerrechtliche Denkweise, die sich in ihm dokumentiert, und eine Welt dazugehöriger völkerrechtlicher Prinzipien und Begriffsbildungen wir­ ken immer noch weiter und sind keineswegs verschwunden. Sie werden von den Mächten der westlichen Demokratie weitergetragen und sind ein Teil der geistigen und moralischen Rüstung zu einem neuen, totalen Weltkrieg, zu einem „gerechten Kriege“ großen Stils54. Darum ist auch die kritische Arbeit, die die deutsche Völ­ kerrechtswissenschaft sowohl gegenüber dem Universalismus des Genfer Völker­ bundes wie seiner versuchten Identifizierung von Völkerrecht und Genferbundsrecht55, wie insonderheit gegenüber dem liberalen Minderheitenschutzsystem ge­ leistet hat, keineswegs bedeutungslos geworden. In der 20jährigen Geschichte des Versailles-Genfer Minderheitenschutzes hat die deutsche Lehre vom Volk und Volksgruppenrecht den Gegensatz herausgear­ beitet, der ein vom Volk und der Volksgruppe ausgehendes Volksgruppenrecht von einem individualistisch-liberal konstruierten Minderheitenschutz trennt. Die mühe­ volle Arbeit der deutschen Rechts wahrer auf diesem Gebiet - ich nenne nur einige M Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Schriften der Akade­ mie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 5, München 1938. w Carl Bilflnger, Völkerbundsrecht gegen Völkerrecht, Schriften der Akademie für Deut­ sches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 6, München 1938. !»>♦

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

führende Namen: M. H. Böhm, W. Hasselblatt, Hans Gerber, C. von Loesch, K. G. Hugelmann, G. A. Walz, N. Gürke, H. Kier, H. Raschhofer, Krö.Tlabl - hat sich als fruchtbar erwiesen. [29] Ihr voller Sieg ist auch als ein rechtswissenschaftliches Ergebnis heute nicht mehr zweifelhaft. Die juristische und logische Widersinnig­ keit, die schon in einem Allgemeinbegriff wie „Minderheit“ .liegt, ist heute allen zum Bewußtsein^ gëkcSmmên. In der politischen und sozialen Wirklichkeit verber­ gen sich hinter dem inhaltlosen Wort „Minderheit“ derartig offensichtlich verschie­ dene und widersprechende Sachverhalte - Grenzbereinigungsfragen, Fragen der kulturellen und völkischen Autonomie, das durchaus besonders geartete und mit keiner dieser anderen Fragen vergleichbare Judenproblem -, daß ich in diesem Zu­ sammenhang nur daran zu erinnern brauche. Das Ergebnis hat Georg H. J. Erler neulich gut zusammengefaßt: „In der Lebenswirklichkeit gibt es dieses Wesen »Minderheit4 nicht. Es gibt in ihr lebendige Gemeinschaften verschiedenster Art, und selbst die völkischen Minderheiten sind untereinander wiederum sehr ver­ schieden56.“ Die Frage der sogenannten Minderheiten bedarf aber noch einer Klärung unter dem Gesichtspunkt völkerrechtlicher Großraumprinzipien, der das eigentliche The­ ma unserer Untersuchung ist. Im Minderheitenrecht des Versailler Vertrags kreu­ zen sich mehrere gegensätzliche, einander aufhebende Tendenzen. Im Vordergrund steht der allgemeine liberal-individualistische Gedanke, daß dem einzelnen Indivi­ duum, das zufällig einer „Minderheit“ angehört, Gleichheit und Gleichbehandlung gewährleistet wird. Liberaler Individualismus und übervölkischer Universalismus erweisen sich auch hier als die beiden Pole derselben Weltanschauung. Die staats­ bürgerliche Gleichheit und die Freiheitsrechte des liberalen Konstitutionalismus sind hier innerstaatlich als die eigentliche Grundnorm der europäischen Zivilisati­ on vorausgesetzt; sie stellen den innerstaatlichen „Standard“ der Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft dar, auf dem die Homogenität der Mitglieder der Völ­ kerrechtsgemeinschaft beruhen soll. Damit ist, wie sich schon auf dem Berliner Kongreß 1878 zeigte,[30] die weitere, stillschweigend als selbstverständlich vor­ ausgesetzte Vorstellung verbunden, daß die westlichen demokratischen Groß­ mächte, in erster Linie natürlich England, in dieser Hinsicht führend und vorbild­ lich sind57. Weil sie als die wahren freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaaten gelten, kann ihnen gegenüber ein völkerrechtlicher Minderheitenschutz niemals zur Diskussion stehen; bei ihnen kann es schon begrifflich überhaupt keine schutz­ bedürftigen Minderheiten geben. Neben dieser strukturellen Verbindung von inner56 Georg H. J. Erler, Mißverstehen, Mißtrauen und Mißerfolg im Genfer Minderheiten­ schutzsystem, Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. XXII (1938), S. 5. 57 Hermann Raschhofer, Die Krise des Minderheitenschutzes, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. VI (1936), S. 239 / 240; G. A. Walz, Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, Beiheft zu Bd. XXIII der Zeitschrift für Völkerrecht, 1939, S. 70 / 71; derselbe, Artgleichheit gegen Gleichartigkeit, Die beiden Grundprobleme des Rechts, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Rechtsgrundlagen und Rechts­ philosophie, Nr. 8, Hamburg 1938. |Vgl. bes. S. 31 f. - G. M.|.

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staatlichem Liberalismus und völkerrechtlicher Hegemonie der westlichen Demo­ kratien58 enthält der Mmderiieitenschtrtz deVWrsäiller Systems ein weiteres, rein machtpolitisches Element, das sich in dem berühmten Brief Clemenceaus an Pad­ erewski vom 24. Juni 1919 mit zynischer Offenheit ausspricht: die Siegergroß­ mächte des Jahres 1919 nehmen gegenüber den durch ihren Sieg neu entstandenen oder vergrößerten Staaten des europäischen Ostens ein Kontroll- und Interven­ tionsrecht für sich in Anspruch.[31] Außerdem - und dieses in offenem Mißver­ hältnis zu dem Kontroll- und Interventionsanspruch der fremdräumigen West­ mächte - ist dann noch eine dritte, nämlich eine Raumvorstellung wirksam: das geographische Verbreitungsgebiet des Genf-Versailler völkerrechtlichen Minder­ heitenschutzes ist begrenzt und zieht sich von der Ostsee zum Mittelländischen Meer über einen in einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung entstandenen Landgürtel einer Völkergemengelage. Schon in den Verhandlungen der Pariser Konferenzen 1919 wurde der Wider­ spruch sichtbar, der zwischen dem universalistischen Gedanken eines allgemeinen, individualistisch konstruierten Minderheitenschutzes und dieser Begrenzung auf einen geschichtlich-politisch bestimmten Raum besteht. Der Vertreter der Südafri­ kanischenUnion,. General Smuts, der nächst dem amerikanischen Präsidenten Wil­ son den Gedanken eines universalistischen Völkerbundes am eifrigsten vertrat, wollte dem Völkerbund ein großes Programm humanitärer Aufgaben und Grund­ sätze mitgeben und dieses in die Satzung aufnehmen. Die jetzigen Satzungsartikel 22 (Mandat) und 23 (humanitäre und ähnliche Aufgaben des Völkerbundes) waren nur als ein Teil dieses umfassenden Programms gedacht. Vor allem sollten Religi­ onsfreiheit und der Schutz nationaler, religiöser und sprachlicher Minderheiten in der Völkerbundssatzung verankert werden. Die Judenfrage wurde als Religionsfra­ ge angesehen. Der japanische Vertreter verlangte, daß der Grundsatz der RassengleîchhèuTn der Völkerbundssatzung ausgesprochen werde. Die Rassengleichheit wurde aber besonders von Australien abgelehnt, worauf der japanische Delegierte erklärte, daß Japan sich der Aufnahme der Religionsfreiheit widersetze, wenn die Rassengleichheit nicht aufgenommetu werde. So fielen schließlich beide Pro­ grammpunkte, Religionsfreiheit wie Rassengleichheit, weg.[32] Der Widerstand, den besonders Polen und Rumänien einem nicht allgemeinen, sondern nur ihren Raum treffenden Minderheitenschutzsystem entgegensetzten, blieb ohne Erfolg. Die zugrunde liegende liberal-individualistische und daher universalistische59 Konstruktion des Minderheitenschutzes war die Grundlage einer auf dem Weg über den universalistischen Genfer Völkerbund ausgeübten Kontrolle und Interven58 Darüber Carl Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen, Verfassungs- und völkerrecht­ liche Bemerkungen zu dem Buch von Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Deutsche Rechtswissenschaft, Bd. IV (1939), Heft 2; auch in „Positio­ nen und Begriffe“, a. a. O., S. 271 f.; ferner Zeitschr. für Völkerrecht XXIV (1940), S. 164 f. ™ Über den systematischen Zusammenhang von liberalem Individualismus und Universa­ lismus im Völkerrecht: Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, u. a. O., S. 15.

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

tion der fremdräumigen Westmächte in den europäischen Ostraum. Diese Kon­ struktion wurde in einer offensichtlich widerspruchsvollen Weise mit einer Be­ schränkung dieses selben, seiner Idee nach universalistischen Minderheitenschut­ zes auf den europäischen Ostraum verbunden. Die polnische Regierung hatte da­ her durchaus recht, als sie am 13. September 1934 ihre weitere Mitarbeit mit den internationalen Organen und der Kontrolle des Versailler Minderheitenschutzsy­ stems „bis zur Inkraftsetzung eines allgemeinen gleichmäßigen Systems des inter­ nationalen Schutzes der Minderheiten“ verweigerte.[33] Denn die Beschränkung eines solchen liberal-individualistischen, seinem Wesen nach universalistischen Minderheitenschutzsystems auf bestimmte Staaten ist eine beleidigende Diskrimi­ nierung dieser Staaten. Ebenso wie dieser polnische Standpunkt berechtigt war, hatte umgekehrt der brasilianische Delegierte Mello Franco nicht das Recht, für den Genfer Minderheitenschutz eine geographische Beschränkung auf den europä­ ischen Ostraum geltend zu machen und sich mit seinen unvölkischen Assimilierungs- und Schmelztiegel-Ideen in europäische Angelegenheiten einzumischen. Mello Franco gab auf der 37. Tagung des Genfer Völkerbundsrates am 9. Dezem­ ber 1925 die vielerörterte Definition, daß es Minderheiten im Sinne des Genfer Minderheitenschutzes in Amerika nicht geben könne, weil zum Begriff der Min­ derheit im Sinne des Versailler Systems eine ganz bestimmte geschichtliche Ent­ wicklung gehöre. [34] Das ist zwar insofern richtig, als der im Versailler Minder­ heitenschutzsystem sich abzeichnende geographische Bereich zu einem bestimmt gearteten Großraum gehört, in dem besondere völkerrechtliche Gesichtspunkte sinnvoll und der Schutz der volkhaften Eigenart jeder Volksgruppe gerade vor westlichen Assimilierungsideen notwendig ist. Aber die Aufstellung und Durch­ führung dieser für einen solchen Großraum geltenden Grundsätze ist nicht die Sa­ che raumfremder Mächte, die sich von außen in diesen Raum einmischen; sie ist daher weder Sache der westeuropäischen Demokratien noch einer amerikanischen Regierung, sondern der diesen Raum tragenden volkhaften und staatlichen Mäch­ te, insonderheit des Deutschen Reiches. Seit der Erklärung, die der Reichskanzler Adolf Hitler am 20. Februar 1938 im Deutschen Reichstag gegeben hat, besteht auf der Grundlage unseres nationalso­ zialistischen Volksgedankens ein deutsches Schutzrecht für die deutschen Volks­ gruppen fremder Staatsangehörigkeit. [35] Damit ist ein echter völkerrechtlicher Grundsatz aufgestellt. Er gehört zu dem Grundsatz gegenseitiger Achtung jeden Volkstums, der auch in den deutsch-polnischen Erklärungen vom 5. November 1937 feierlich anerkannt ist und die Ablehnung aller Assimilierungs-, Absorbierungs- und Schmelztiegel-Ideale bedeutet. Das ist die politische Idee, die für den mittel- und osteuropäischen Raum, in dem viele, aber - von den Juden abgesehen - einander nicht artfremde Völker und Volksgruppen leben, die hier entwickelte, spezifische Bedeutung eines völkerrechtlichen Großraumprinzips hat. Es ist keine „deutsche Monroedoktrin“, wohl aber eine der heutigen politischen und geschicht­ lichen Lage des Deutschen Reiches wie des osteuropäischen Raumes entsprechen­ de Anwendung des völkerrechtlichen Raumordnungsgedankens, auf dem auch der

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berechtigte Erfolg der 1823 verkündeten amerikanischen Monroelehre beruhte, so lange diese sich vor universalistisch-imperialistischer Verfälschung bewahrt hat und ein echtes, Interventionen raumfremder Mächte abwehrendes, völkerrechtli­ ches Großraumprinzip geblieben ist. Daß neben diesem in der Erklärung vom 20. Februar 1938 enthaltenen Großraumprinzip die übrigen allgemeinen völkerrechtli­ chen Schutzrechte des Reiches für Staatsangehörige und Volksgenossen bestehen bleiben, versteht sich von selbst und ist ein Problem für sich, das den spezifischen Gedanken des völkerrechtlichen Großraumprinzips nicht aufhebt oder beeinträch­ tigt. Der deutsch-russische Grenz- und Freundschafts vertrag vom 28. September 1939 (abgedruckt Zeitschrift für Völkerrecht, Band XXIV, S. 99) verwendet bereits im amtlichen Text den Begriff des Reiches. Er setzt die Grenze der „beiderseitigen Reichsinteressen“ im Gebiet des bisherigen polnischen Staates fest. Ausdrücklich wird in Art. 2 des Vertrages jegliche Einmischung dritter Mächte in diese Abma­ chung abgelehnt und in der Einleitung als Zweck des Vertrages betont, daß den dort lebenden Völkerschaften ein ihrer völkischen Eigenart entsprechendes friedli­ ches Dasein gesichert werden soll. Damit war das Versailler System des sogenann­ ten Minderheitenschutzes für diesen Teil des europäischen Raumes erledigt. Aus den baltischen Ländern ist im Gesamtzusammenhang der politischen Neuordnung im Osten die deutsche Bevölkerung auf das Gebiet des Deutschen Reiches umge­ siedelt worden (deutsch-estnisches Protokoll über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppen vom 15. Oktober 1939 und deutsch-litauischer Vertrag vom 30. Ok­ tober 1939).[36] Dazu kommt die Rückwanderung der Deutschen aus Wolhynien und Bessarabien. Für den Donauraum hat der Wiener Schiedsspruch des deutschen und des italienischen Außenministers vom 30. August 1940 die neue Gebietsgren­ ze zwischen Ungarn und Rumänien unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Volksordnung gezogen. [37] Gleichzeitig sind zwischen der Reichsregierung und der ungarischen und der rumänischen Regierung Abmachungen zum Schutze der deutschen Volksgruppen in beiden Ländern getroffen worden, so daß auch hier das liberaldemokratische, individualistische Versailler Minderheitensystem überwun­ den und durch den Gedanken einer Volksgruppenordnung ersetzt ist. Für die Dobrudscha sieht der rumänisch-bulgarische Vertrag vom 7. September 1940 eine Pflichtumsiedlung der beiderseitigen Volksgruppen aus der Nord- und der Süddobrudscha vor.[38] In allen diesen Fällen hat sich der Grundsatz der Nichteinmi­ schung raumfremder Mächte als geltendes Prinzip des heutigen Völkerrechts auch hinsichtlich des Volksgruppenrechtes durchgesetzt.

V. Der Reichsbegriff im Völkerrecht Eine Großraumordnung gehört zum Begriff des Reiches, der hier als eine spezi­ fisch völkerrechtliche Größe in die Völkerrechts wissenschaftliche Erörterung ein­ geführt werden soll. Reiche in diesem Sinne sind die führenden und tragenden

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich aus­ schließen. Der Großraum ist natürlich nicht identisch mit dem Reich in dem Sinne, daß das Reich der von ihm vor Interventionen bewahrte Großraum selber wäre; und nicht jeder Staat oder jedes Volk innerhalb des Großraumes ist selber ein Stück Reich, so wenig jemand bei der Anerkennung der Monroedoktrin daran denkt, Brasilien oder Argentinien zu einem Bestandteil der Vereinigten Staaten von Amerika zu erklären. Wohl aber hat jedes Reich einen Großraum, in den seine politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf. Der Zusammenhang von Reich, Großraum und Nichtinterventionsprinzip ist grundlegend. Erst durch ihn erhalten die Begriffe Intervention und Nichtinterven­ tion, die für jedes auf dem Zusammenleben der verschiedenen Völker beruhende Völkerrecht ganz unentbehrlich, heute aber heillos verwirrt sind, ihre theoretische und praktische Brauchbarkeit. Im bisherigen, staatlich konstruierten Völkerrecht war das berühmte Witzwort Talleyrands, Nichtintervention bedeute ungefähr das­ selbe wie Intervention, nicht etwa ein überspitztes Paradox, sondern eine alltägli­ che Erfahrungstatsache. [39] Sobald aber völkerrechtliche Großräume mit Interven­ tionsverbot für raumfremde Mächte anerkannt sind und die Sonne des Reichsbe­ griffes aufgeht, wird ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteil­ ten Erde denkbar und kann der Grundsatz der Nichtintervention seine ordnende Wirkung in einem neuen Völkerrecht entfalten60. Wir wissen, daß die Bezeichnung „Deutsches Reich“ in ihrer konkreten Eigenart und Hoheit nicht übersetzbar ist. Es gehört zu der Geschichtsmächtigkeit jeder echten politischen Größe, daß sie ihre eigene, nicht beliebig subsumierbare Be­ zeichnung mitbringt und ihren eigentümlichen Namen durchsetzt. Reich, Imperi­ um, Empire sind nicht dasselbe und von innen gesehen untereinander nicht ver­ gleichbar. Während „Imperium“ oft die Bedeutung eines universalistischen, Welt und Menschheit umfassenden, also übervölkischen Gebildes hat (wenn auch nicht haben muß, da es mehrere und verschiedenartige Imperien nebeneinander geben 60 Die neueste monographische Behandlung des völkerrechtlichen Interventionsproblems von Gerhard Ostermeyer, Die Intervention in der Völkerrechtstheorie und -praxis unter be­ sonderer Berücksichtigung der Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts (Abhandlungen der Hansi­ schen Universität, herausgegeben von L. Raape und R. Laun, Heft 36, 1940) enthält gute Ansätze konkreten Ordnungsdenkens, übersieht aber das weltpolitische Raumproblem und geht an der eigentlichen Frage vorbei, die mit dem allgemeinen Begriff „Notstandsinterven­ tion“ nicht zu lösen ist. Statt dessen hätte die Struktur der konkreten Ordnung „europäisches Völkerrecht“ und die völkerrechtliche Bedeutung des „Konzerts der Großmächte“ und seiner Methoden herausgearbeitet werden sollen. Wer im Völkerrecht von „Notstand“ und von Inter­ vention spricht, sollte doch das Quis judicabit? nicht immer vergessen. Mit pseudojuristi­ schen Allgemeinbegriffen bleibt man in einem entscheidungslosen Hin und Her zwischen der grenzenlosen Zulassung völlig unabsehbarer „humanitärer“ Interventionen und der ebenso grenzenlosen Ablehnung auch der kleinsten „Einmischung“, die dann gleich als ein „völker­ rechtliches Delikt“ erscheinen muß.

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kann), ist unser Deutsches Reich wesentlich volkhaft bestimmt und eine wesent­ lich nichtuniversalistische, rechtliche Ordnung auf der Grundlage der Achtung je­ des Volkstums. Während „Imperialismus“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer oft als bloßes Schlagwort mißbrauchten Bezeichnung ökonomisch-kapitali­ stischer Kolonisierungs- und Expansionsmethoden geworden ist61, blieb das Wort „Reich“ von diesem Makel frei. Auch bringen sowohl die Erinnerungen an die Volkermischungen des untergehenden römischen Imperiums wie die Assimilierungs- und Schmelztiegel-Ideale der Imperien westlicher Demokratie den Begriff des Imperiums in den schärfsten Gegensatz zu einem volkhaft aufgefaßten, alles volkliche Leben achtenden Reichsbegriff. Das wirkt um so stärker, als das Deut­ sche Reich, in der Mitte Europas, zwischen dem Universalismus der Mächte des liberaldemokratischen, völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären Ostens lag und nach beiden Fronten die Heiligkeit einer nichtuniversalistischen, volkhaften, völkerachtenden Lebensord­ nung zu verteidigen hatte. Eine völkerrechtliche Betrachtung muß aber nicht nur die innere Einzigartigkeit, sondern auch das Zusammenleben und Nebeneinander der politischen Größen se­ hen, die Träger und Gestalter der völkerrechtlichen Ordnung sind. Aus praktischen wie theoretischen Gründen ist es notwendig, dieses Neben-, Mit- und Gegeneinan­ der wirklicher Größen im Auge zu behalten. Jede andere Betrachtungsweise leug­ net entweder das Völkerrecht, indem sie jedes einzelne Volk isoliert, oder sie ver­ fälscht, wie es das Genfer Völkerbundsrecht getan hat, das Recht der Völker in ein universalistisches Weltrecht. Möglichkeit und Zukunft des Völkerrechts hängen al­ so davon ab, daß die wirklich tragenden und gestaltenden Größen des Zusammen­ lebens der Völker richtig erkannt und zum Ausgangspunkt der Erörterung und Be­ griffsbildung gemacht werden. Diese tragenden und gestaltenden Größen sind heute nicht mehr, wie im 18. und 19. Jahrhundert, Staaten, sondern Reiche. Die richtige Benennung ist dabei von großer Bedeutung. Wort und Name sind nirgends nebensächlich, am wenigsten bei politisch-geschichtlichen Größen, die das Völkerrecht zu tragen bestimmt sind. Der Streit um Worte wie „Staat“, „Sou­ veränität“, „Unabhängigkeit“ war das Zeichen tiefer liegender, politischer Ausein­ andersetzungen, und der Sieger schrieb nicht nur die Geschichte, sondern be­ stimmte auch das Vokabularium und die Terminologie. Die Bezeichnung „Rei­ che“, die hier vorgeschlagen wird, kennzeichnet am besten den völkerrechtlichen Sachverhalt der Verbindung von Großraum, Volk und politischer Idee, der unseren Ausgangspunkt darstellt.[40] Die Bezeichnung „Reiche“ hebt die eigentümliche 61 Eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff des Imperialismus und seiner umfangrei­ chen Literatur würde den Rahmen unserer Darlegung sprengen und muß einer anderen Unter­ suchung Vorbehalten bleiben. Ich möchte aber wenigstens auf die überaus klare Darlegung von Werner Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus (Der moderne Kapitalismus, Bd. Ill, 1), München und Leipzig 1927, S. 66 ff., und auf den oben (S. 284/37) genannten Aufsatz von Carl Brinkmann und Heinrich Triepel, a. a. O., S. 185 ff. (Imperialis­ mus und Hegemonie) hinweisen.

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Besonderheit jedes einzelnen dieser Reiche in keiner Weise auf. Sie vermeidet die das Völkerrecht gefährdende leere Allgemeinheit, wie sie in Worten wie „Groß­ machtsphäre“, „Block“, „Raum- und Machtkomplex“, „Gemeinwesen“, „Com­ monwealth“ usw., oder gar in der inhaltslosen Raumangabe „Bereich“ liegen wür­ de; sie ist also konkret und prägnant im Hinblick auf die Wirklichkeit der gegen­ wärtigen Weltlage. Sie gibt andererseits aber auch eine gemeinsame Benennung der mehreren, maßgebenden Größen, ohne welche gemeinsame Benennung jede völkerrechtliche Erörterung und Verständigung sofort aufhören müßte; vermeidet also den andern, ebenfalls das Völkerrecht gefährdenden Irrtum, der aus der Kon­ kretisierung eine vereinsamende, jeden Zusammenhang aufhebende Isolierung der einzelnen politischen Größe macht. Sie entspricht endlich dem deutschen Sprach­ gebrauch, der das Wort „Reich“ in den mannigfaltigsten Verbindungen - Reich des Guten und des Bösen, Reich des Lichtes und Reich der Finsternis, sogar in „Pflanzen- und Tierreich“ - als Ausdruck, sei es eines Kosmos im Sinne einer kon­ kreten Ordnung, sei es einer krieg- und kampffähigen, Gegenreichen gewachsenen geschichtlichen Macht, verwendet, der aber auch zu allen Zeiten gerade die gro­ ßen, geschichtsmächtigen Gebilde - das Reich der Babylonier62, der Perser, der Makedonier und der Römer, die Reiche der germanischen Völker wie die ihrer Gegner - in einem spezifischen Sinne immer „Reiche“ genannt hat. Darüber hin­ aus würde es uns von dem rein völkerrechtlichen Sinn und Ziel unserer Arbeit ab­ lenken und die Gefahr endloser Zerredungen heraufbeschwören, wollten wir uns hier auf alle denkbaren geschichtsphilosophischen, theologischen und ähnlichen Deutungsmöglichkeiten einlassen, zu denen das Wort „Reich“ Veranlassung geben kann. Hier kommt es nur darauf an, dem bisherigen Zentralbegriff des Völker­ rechts, dem Staat, einen einfachen völkerrechtlich brauchbaren, aber durch seine Gegenwartsnähe überlegenen, höheren Begriff entgegenzusetzen. Das bisherige im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte und in unser 20. Jahrhun­ dert hinein weitergeführte Völkerrecht ist allerdings ein reines Staatenrecht. Trotz einzelner Besonderheiten und Auflockerungen erkennt es grundsätzlich nur Staa­ ten als Völkerrechtssubjekte an. Von Reichen ist nicht die Rede, obwohl noch jeder aufmerksame Betrachter sich darüber gewundert hat, wie sehr die politischen und wirtschaftlichen Lebensinteressen des englischen Weltreiches mit den Sätzen die­ ses Völkerrechts harmonieren. Auch das englische Weltreich können sich die Lehr­ bücher des Völkerrechts nur als eine „StaatenVerbindung“ vorstellen.[40a] Dabei ist der Reichsbegriff des englischen Empire durchaus besonderer Art und als „Staatengemeinschaft“ nicht zu begreifen63. Er ist, wie das oben (unter III) gezeigt 62 „In Babylon erhob sich zuerst das Reich“ (To babilonie irhuf sik irst dat rike), Sachsen­ spiegel III, 44, § 1; zum mittelalterlichen Reichsbegriff vgl. auch Otto Brunner, Land und Herrschaft, 1939, S. 217, 234 f. 63 So z. B. Friedrich Apelt, Das britische Reich als Völkerrechts verbundene Staatenge­ meinschaft (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 90, Leipzig 1934). Vom Staat her läßt sich die Alternative von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Beziehungen nicht überwinden. Das liegt in der dczisionistischcn Struktur des Staatsbegriffes, der alle Fragen

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wurde, schon durch seine geographisch zusammenhanglose Lage universalistisch bestimmt. Der diese Art von Weltreichsgedanken zum Ausdruck bringende Kaiser­ titel des Königs von England ist an weit entfernte, überseeische, femasiatische Ko­ lonialbesitzungen, an Indien angeknüpft. Der Titel eines „Kaisers von Indien“, eine Erfindung Benjamin Disraelis, ist nicht nur ein persönliches Dokument des „Orientalismus“ seines Erfinders, sondern entspricht auch der Tatsache, die Disrae­ li selbst in dem Ausspruch formuliert hat: „England is really more an Asiatic Power than an European.“[41] Zu einem solchen Weltreich gehört kein Völkerrecht, sondern ein allgemeines Welt- und Menschheitsrecht. Die systematische und begriffliche Arbeit der Völker­ rechtswissenschaft kannte aber, wie eben gesagt, bisher überhaupt keine Reiche, sondern nur Staaten. In der politisch-geschichtlichen Wirklichkeit gab es selbstver­ ständlich immer führende Großmächte; es gab ein „Konzert der europäischen Mächte“ und im Versailler System die „alliierten Hauptmächte“. Die rechtliche Begriffsbildung hielt an einem Allgemeinbegriff „Staat“ und an der rechtlichen Gleichheit aller unabhängigen und souveränen Staaten fest64. Eine echte Rangordkonkreter völkerrechtlicher Ordnung in eine hoffnungslose Sackgasse führt. Demgegenüber ist es ein beachtenswerter Fortschritt, daß Santi Romano (Corso di Diritto Intemazionale, 4. Aufl., Padua 1939, S. 79) aus seinem „institutioneilen“ Denken heraus erkennt, daß ge­ wisse geschlossene und mit eigenen Institutionalisierungen ausgestattete „Staaten“-Verbin­ dungen weder innerstaatliche noch zwischenstaatliche Verbindungen sind. Er rechnet dahin die Konföderationen, die Realunionen und die Kolonialprotektorate. Paolo Biscaretti di Ruffla hat diese Frage in der Festschrift für Santi Romano, Padua 1939, in einem Aufsatz über „die nicht-völkerrechtlichen zwischenstaatlichen Verbindungen, die keine Bundesstaaten sind“ (Süll’ esistenza di Unioni non intemazionali fra Stati, diverse dagli Stati di Stati), wei­ ter ausgeführt. Insbesondere behandelt er hier den britischen „Commonwealth of Nations“ als Beispiel einer solchen weder zwischenstaatlichen noch rein innerstaatlichen Staatenver­ bindung. Leider gelingt es ihm nicht, die schwierigen Fragen solcher Gebilde überzeugend zu lösen, weil er im dezisionistischen Staatsbegriff steckenbleibt und daher das Dilemma von innerstaatlich und zwischenstaatlich nicht überwinden kann. Was heißt denn „Unioni non intemazionali fra Stati“? Solange das „Internationale“ Recht wesentlich ein „zwischenstaat­ liches“ Recht ist, nichts anderes als eine offensichtliche Verwirrung, nämlich „Unioni non inter.statali fra Stati“ ! Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns folgerichtig daran ge­ wöhnten, wenigstens sprachlich zwischen „internationalen“ und „interstatalen“, „zwischen­ staatlichen“ Beziehungen stets genau zu unterscheiden und die verwischenden Bezeichnun­ gen von „internationaler“ Gemeinschaft und „Völkerrechtsgemeinschaft“ als Benennungen des zwischenstaatlichen Rechts zu vermeiden. Die staatsbezogene Begrifflichkeit, in der Bis­ caretti di Ruffia verharrt, macht es ihm unmöglich, mit der Alternative von innerstaatlich und zwischenstaatlich zu brechen. Dem staatsbezogenen Denken müssen völkerrechtliche Bezie­ hungen, die weder zwischenstaatliche noch innerstaatliche und Staatenverbindungen, die keine zwischenstaatlichen Verbindungen sind, unkonstruierbar, ja völlig widersinnig erschei­ nen. Nur von einer höheren als der staatlichen Kategorie aus, z. B. vom Bund (der als Begriff der Begriffsaltemative Staatenbund oder Bundesstaat vorhergeht) oder vom Reich und vom Großraum, lassen sich jene von Santi Romano genannten Gebilde rechtswissenschaftlich ver­ stehen, ohne daß ihre mit der Alternative von innerstaatlich und zwischenstaatlich nicht zu lussende rechtliche Eigenart zerstört wird. 64 Carl Bilfinger, Zum Problem der Staatengleichheit im Völkerrecht. Zeitschrift für aus­ ländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. IV (1934), S. 481 ff., und Les bases

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nung der Volkerrechtssubjekte wurde von der Völkerrechtswissenschaft grundsätz­ lich ignoriert. Die sachliche und qualitative Verschiedenheit hat trotz mancher na­ heliegenden Erörterungen auch in der Genfer Völkerbundsjurisprudenz keine of­ fene und folgerichtige Anerkennung gefunden, obwohl die Fiktion der völkerrecht­ lichen Gleichheit angesichts der offenkundigen Hegemonie Englands und Frank­ reichs gerade im Genfer Völkerbund aller Wahrheit und Wirklichkeit fortwährend ins Gesicht schlug. Daß dieser überkommene Staatsbegriff als Zentralbegriff des Völkerrechts der Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr entspricht, ist seit langem zum Bewußtsein gekommen. Ein großer Teil der Völkerrechtswissenschaft der westlichen Demokra­ tien, insbesondere auch der Genfer Völkerbundsjurisprudenz, hat die Entthronung des Staatsbegriffes auf dem Wege eines Vorstoßes gegen den Souveränitätsbegriff in Angriff genommen. [42] Das geschah mit der Tendenz, der zweifellos fälligen Überwindung des Staatsbegriffs im Völkerrecht die Wendung ins Pazifistisch-Hu­ manitäre, also in ein universalistisches Weltrecht zu geben, dessen Stunde mit der Niederlage Deutschlands und mit der Gründung des Genfer Völkerbundes gekom­ men zu sein schien. Auch jetzt noch blieb jene obenerwähnte prästabilierte Harmo­ nie von Völkerrecht und politischem Interesse des englischen Weltreiches gewahrt, ja, sie war eigentlich auf ihrem Höhepunkt angelangt. Deutschland stand, solange es wehrlos und schwach war, gegenüber diesen Tendenzen ganz in der Defensive und konnte, völkerrechtlich gesehen, zufrieden sein, wenn es ihm gelang, seine staatliche Unabhängigkeit zu verteidigen und seine Staatsqualität zu wahren. Mit dem Sieg der nationalsozialistischen Bewegung ist aber auch in Deutschland freilich von ganz anderen Ausgangspunkten aus und mit ganz anderen Zielen als jene pazifistisch-universalistische Staatsentthronung - ein Vorstoß zur Überwin­ dung des Staatsbegriffs im Völkerrecht erfolgreich geworden. Angesichts der mächtigen Dynamik unserer außenpolitischen Entwicklung soll die nunmehr gege­ bene Lage des Völkerrechts im folgenden kurz erörtert und durch die Einführung unseres Reichsbegriffs völkerrechtlich geklärt werden, nachdem die staats- und verfassungsrechtliche Bedeutung des Reichsbegriffs durch Darlegungen von Reichsminister Lammers und Staatssekretär Stuckart*65 bereits klargestellt worden ist. Das überkommene zwischenstaatliche Völkerrecht findet seine Ordnung darin, daß es eine bestimmte konkrete Ordnung mit gewissen Eigenschaften, eben einen fondamentales de la Communauté des États in Recueil des Cours de l’Académie de droit international 1939, S. 95 f. (Égalité et Communauté des États). 65 H. H. Lammers, Staatsführung im Dritten Reich, in der Vortragsreihe der Österreichi­ schen Verwaltungsakademie, Berlin 1938, S. 16: „Staatsidee und Volksidee in sich vereinend, scheint mir das Wort vom Dritten Reich der Deutschen aber auch von tiefer staatsrechtlicher Bedeutung und zum ersten Male die richtige Bezeichnung für den deutschen Staat zu sein.“ Ebenso im Völkischen Beobachter vom 2., 3. und 4. September 1938. Wilhelm Stuckart, zu­ erst in dem Vortrag Partei und Staat, Deutscher Juristentag 1936, S. 271 - 273, über das Reich als völkische Lebensform und Lebensordnung.

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„Staat“, bei allen Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft in gleicher Wei­ se voraussetzt. Wenn die Herrschaft des Staatsbegriffs im Völkerrecht in den letz­ ten Jahren in Deutschland vom Volksbegriff aus erschüttert worden ist, so liegt es mir fern, das Verdienst dieser völkerrechtswissenschaftlichen Leistung herabzuset­ zen. Nur darf nicht übersehen werden, daß im bisherigen Staatsbegriff ein Mindest­ maß von innerer, berechenbarer Organisation und innerer Disziplin enthalten ist und daß dieses organisatorische Minimum die eigentliche Grundlage alles dessen bildet, was man als die konkrete Ordnung „Völkerrechtsgemeinschaft“ ansehen konnte. Insbesondere hat der Krieg, als eine anerkannte Einrichtung dieser zwi­ schenstaatlichen Ordnung, sein Recht und seine Ordnung wesentlich darin, daß er ein Staatenkrieg ist, d. h. daß Staaten als konkrete Ordnungen ihn gegen Staaten als konkrete Ordnungen gleicher Ebene führen. Ähnlich wie ein Duell, wenn es einmal rechtlich anerkannt ist, seine innere Ordnung und Gerechtigkeit darin fin­ det, daß auf beiden Seiten satisfaktionsfähige Ehrenmänner (wenn auch vielleicht von sehr verschiedener körperlicher Kraft und Waffenübung) einander gegenüber­ stehen. Der Krieg ist in diesem völkerrechtlichen System eine Beziehung von Ord­ nung zu Ordnung und nicht etwa von Ordnung zu Unordnung. Diese letzte Bezie­ hung, von Ordnung zu Unordnung, ist „Bürgerkrieg“. Die unparteiischen Zeugen, die zu einem solchen Staatenkriegsduell gehören, können in einem zwischenstaatlichen Völkerrecht nur die Neutralen sein. [43] Das bisherige zwischenstaatliche Völkerrecht fand seine wirkliche Garantie nicht in ir­ gendeinem inhaltlichen Gerechtigkeitsgedanken oder einem sachlichen Vertei­ lungsprinzip, auch nicht in einem internationalen Rechtsbewußtsein, das sich wäh­ rend des Weltkrieges und in Versailles als nicht vorhanden erwiesen hat, sondern wiederum in voller Harmonie mit dem außenpolitischen Interesse des britischen Reiches66 - in einem Gleichgewicht der Staaten. Die maßgebende Vorstellung ist, daß die Machtverhältnisse der zahlreichen großen und kleinen Staaten sich fort­ während ausbalancieren und daß gegen den jeweils übermächtigen und daher dem Völkerrecht gefährlichen Stärkeren automatisch eine Koalition der Schwächeren zustande kommt. Dieses schwankende, von Fall zu Fall sich bildende, fortwährend sich verlagernde, daher äußerst labile Gleichgewicht kann nach Lage der Sache gelegentlich wirklich eine Garantie des Völkerrechts bedeuten, nämlich dann, wenn genügend starke neutrale Mächte vorhanden sind. Die Neutralen werden auf diese Weise nicht nur die unparteiischen Zeugen des Kriegsduells, sondern auch die eigentlichen Garanten und Hüter des Völkerrechts. Es gibt in einem solchen völkerrechtlichen System so viel wirkliches Völkerrecht, wie es wirkliche Neutrali­ tät gibt. Der Genfer Völkerbund hat nicht zufällig seinen Sitz in Genf, und der Internationale Ständige Gerichtshof residiert aus gutem Grund im Haag67. Aber 66 Fritz Berber Prinzipien der britischen Außenpolitik, Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung, Berlin 1939, S. 20 f. 67 Christoph Steeling, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1939; dazu Carl Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen, in „Positionen und Begriffe“, Humburg 1940, S. 271 f.

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weder die Schweiz noch die Niederlande sind starke Neutrale, die das Völkerrecht im Ernstfall allein und aus eigener Kraft verteidigen könnten. Gibt es, wie wäh­ rend des letzten Weltkrieges 1917/18, keine starken Neutralen mehr, so gibt es, wie wir erfahren haben, auch kein Völkerrecht mehr. Das bisherige Völkerrecht beruhte ferner auf der unausgesprochenen, aber im wesentlichen und jahrhundertelang auch wirklichen Voraussetzung, daß jenes, das Völkerrecht garantierende Gleichgewicht sich um eine schwache Mitte Europas bewegte. Es konnte eigentlich nur funktionieren, wenn hier viele mittlere und klei­ nere Staaten gegeneinander ausgespielt werden konnten. Die zahlreichen deut­ schen und italienischen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts wurden, wie Clause­ witz anschaulich sagt, als die kleinen und mittleren Gewichtssteine zur Ausbalan­ cierung zwischen den Großmächten bald auf dieser, bald auf jener Seite in die Waagschale geworfen.[44] Eine starke politische Macht in der Mitte Europas mußte ein derartig konstruiertes Völkerrecht zerstören. Die Juristen eines solchen Völkerrechts konnten daher behaupten und auch in vielen Fällen wirklich glauben, daß der gegen ein starkes Deutschland gerichtete Weltkrieg 1914 bis 1918 ein Krieg des Völkerrechts selbst und die scheinbare Vernichtung der politischen Macht Deutschlands im Jahre 1918 „der Sieg des Völkerrechts über die brutale Ge­ walt“ war. Nicht nur für eine geschichtlich-politische, sondern auch für eine rechts­ wissenschaftliche Betrachtung und Forschung ist es notwendig und keineswegs un­ juristisch, sich auf diesen Sachverhalt zu besinnen, um den gegenwärtigen Wende­ punkt der völkerrechtlichen Entwicklung richtig zu erfassen. Denn heute, ange­ sichts eines neuen und starken Deutschen Reiches, wird jene gegen ein starkes Deutsches Reich gerichtete völkerrechtliche Begriffswelt in den westlichen Demo­ kratien und in allen von ihnen beeinflußten Ländern mit großer Wucht aufs neue mobilisiert. Angeblich streng wissenschaftliche Zeitschriften des Völkerrechts stel­ len sich in den Dienst dieser Politik und arbeiten an der moralischen und juristi­ schen Vorbereitung eines „gerechten Krieges“ gegen das Deutsche Reich. Der im Januar-Heft 1939 des American Journal of International Law erschienene Aufsatz von J. W. Gamer, „The Nazi proscription of German professors of international law“, ist in dieser Hinsicht ein geradezu erstaunliches Dokument. [45] Die deutsche Völkerrechtswissenschaft hat, wie gesagt, in den letzten Jahren ei­ nen sehr bedeutenden Vorstoß unternommen, um das Völkerrecht aus einer bloß zwischenstaatlichen Ordnung zu einem wirklichen Recht der Völker zu machen. Unter den Veröffentlichungen dieser Richtung verdient der erste systematische Entwurf eines neuen, auf dem Volksbegriff aufgebauten Völkerrechts von Norbert Gürke, Volk und Völkerrecht (Tübingen 1935), als positive wissenschaftliche Lei­ stung in erster Linie genannt zu werden.[46] Aber es ist selbstverständlich nicht möglich und liegt auch nicht im Sinne Gürkes, nun einfach aus der bisherigen zwi­ schenstaatlichen eine zwischenvolkliche Ordnung zu machen. Dann würde näm­ lich nur der alten zwischenstaatlichen Ordnung durch den Begriff des Volkes neue Substanz und neues Leben zugeführt. An die Stelle eines innerlich neutralen, ab­ strakten Staatsbegriffes wäre ein substanzhafter Volksbegriff getreten, im übrigen

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aber die systematische Struktur der überkommenen Völkerrechtsordnung beibehal­ ten. Das wäre dann schließlich nur eine Bluttransfusion in die alten Adern, nur eine Aufwertung oder Auffüllung des alten Staatenrechts zu einem Völkerrecht. So richtig und verdienstvoll dieser Vorstoß ist, zwei Gesichtspunkte dürfen, glaube ich, dabei nicht außer acht bleiben: Der erste betrifft die völkerrechtlichen Ordnungselemente, die im bisherigen Staatsbegriff als einer organisatorisch bestimmten Größe liegen. „Staat“ im Sinne der Völkerrechtsordnung setzt jedenfalls ein Mindestmaß von Organisation, bere­ chenbarem Funktionieren und Disziplin voraus. Ich will hier nicht auf die Kontro­ verse eingehen, die auf der einen Seite von Reinhard Höhn geführt wird, der den Staat entschieden und folgerichtig als „Apparat“ bestimmt,[47] während auf der anderen Seite verschiedenartige Vorstellungen, wie Staat als Form oder als Gestalt, verwendet werden. Begnügen wir uns hier mit der Formulierung Gottfried Neeßes, daß der Staat wesentlich Organisation und das Volk wesentlich Organismus ist. [48] Apparat und Organisation sind aber, wie auch Höhn selbstverständlich weiß, durchaus keine „ungeistigen“ Dinge. Das moderne Zusammenleben der verschie­ denen Völker und besonders der großen oder gar der bedrohten Völker erfordert eben eine straffe Organisation im eigentlichen Sinne des Wortes; er verlangt ein Mindestmaß von innerer Konsistenz und sicherer Berechenbarkeit. Dazu gehören hohe geistige und sittliche Qualitäten, und bei weitem nicht jedes Volk ist schon als solches diesem Mindestmaß an Organisation und Disziplin gewachsen. Der völ­ kerrechtswissenschaftliche Kampf gegen den Staatsbegriff müßte sein Ziel verfeh­ len, wenn er der echten Ordnungsleistung nicht gerecht würde, die - in der Wirk­ lichkeit oft sehr problematisch, aber im Grundsatz doch immer verlangt - dem bisherigen Staatsbegriff wesentlich war. Ein zum Staat auch in diesem nur organi­ satorischen Sinne unfähiges Volk kann gar nicht Völkerrechtssubjekt sein. Im Früh­ jahr 1936 zum Beispiel hat sich gezeigt, daß Abessinien kein Staat war. Nicht alle Völker sind imstande, die Leistungsprobe zu bestehen, die in der Schaffung eines guten modernen Staatsapparates liegt, und sehr wenige sind einem modernen Ma­ terialkrieg aus eigener organisatorischer, industrieller und technischer Leistungs­ kraft gewachsen. Zu einer neuen Ordnung der Erde und damit zu der Fähigkeit, heute Völkerrechtssubjekt ersten Ranges zu sein, gehört ein gewaltiges Maß nicht nur „natürlicher“, im Sinne naturhaft ohne weiteres gegebener Eigenschaften, dazu gehört auch bewußte Disziplin, gesteigerte Organisation und die Fähigkeit, den nur mit einem großen Aufgebot menschlicher Verstandeskraft zu bewältigenden Appa­ rat eines modernen Gemeinwesens aus eigener Kraft zu schaffen und ihn sicher in der Hand zu haben. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die völkerrechtlichen Ordnungselemente des bisherigen Staatsbegriffs, die im Staat als einer Raumordnung liegen. Jede völker­ rechtlich brauchbare Vorstellung eines Trägers oder Subjekts der Völkerrechtsord­ nung muß außer einer personalen Bestimmung (der Staats- und Volkszugehörig­ keit) auch eine territoriale Abgrenzungsmöglichkeit in sich enthalten. Diese Seite des Staatsbegriffes wird sogar von den extremsten englischen Pluralisten aner-

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kannt. G. D. H. Cole, dessen Ansichten in dieser Hinsicht vielleicht authentischer sind als die des sonst für den englischen Pluralismus meistens zitierten Juden Laski, sagt zum Beispiel, der Staat als „political body“ sei „an essentially geographi­ cal grouping“68. Statt weiterer Ausführungen möchte ich hier auf ein Symptom von größter Bedeutung aufmerksam machen: die moderne technische Überwin­ dung des Raumes durch Flugzeug und Radio hat nicht etwa, wie man zuerst ver­ mutet hatte, und wie man nach manchen sonstigen, zum Teil sehr wichtigen Analo­ gien erwarten sollte, völkerrechtlich dazu geführt, daß der Luftraum im Völker­ recht nach der Analogie des freien Meeres behandelt wurde, vielmehr ist, im Ge­ genteil, der Gedanke der territorialen Souveränität des Staates im atmosphärischen Raum in besonders betonter Weise die Grundlage aller bisherigen vertraglichen und sonstigen Regelungen des internationalen Flug- und Funkwesens gewor­ den. [49] Vom technischen Standpunkt aus ist das sonderbar und geradezu grotesk, besonders bei territorial kleinen Staaten, wenn man bedenkt, wie vielen „Souverä­ nitäten“ ein modernes Flugzeug unterstehen soll, wenn es in wenigen Stunden über viele kleine Staaten hinwegfliegt, oder gar was aus den vielen Staatshoheiten über alle die elektrischen Wellen wird, die ununterbrochen mit Sekundenschnelle durch den atmosphärischen Raum über den Erdball kreisen.[50] Die völkerrechtswissenschaftliche Überwindung des alten, zentralen Staatsbegriffs ist hier situationsmä­ ßig zweifellos fällig. Es gibt auch schon wichtige Ansätze dazu. Man hat in Deutschland nicht genügend darauf geachtet, in welchem Maße eine in England vertretene Theorie gerade diese moderne technische Entwicklung benutzt, um durch die Überwindung des Staates unmittelbar in ein universalistisches, sei es vom Genfer Völkerbund, sei es von anderen Organisationen getragenes Weltrecht vorzustoßen und dadurch die Staatsüberwindung im universalistischen Sinne plau­ sibel zu machen. Insbesondere hat J. M. Spaight in mehreren Schriften69 solche Erwägungen zu dem Gedanken benutzt, daß die moderne technische Entwicklung, insbesondere der Luftwaffe, den Staatenkrieg überholen werde, daß die Luftwaffe genüge, um die Erde in Ruhe und Ordnung zu halten, so daß die Staatenkriege von selbst aufhören und schließlich nur noch Bürgerkriege oder Sanktionskriege übrig­ bleiben. [51] Solche Konstruktionen, die oft großen Eindruck machen, zeigen, daß das Problem einer neuen Raumordnung völkerrechtswissenschaftlich nicht länger außer acht bleiben kann. Im Völksbegriff an sich ist aber ein völlig neues, den blo­ ßen Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts überwindendes Raumordnungs­ element noch nicht so deutlich, daß damit allein die bisherige zwischenstaatliche Ordnung in einer überzeugenden Weise rechtswissenschaftlich aus den Angeln ge­ hoben wäre. 68 Conflicting Social Obligations, in Proceedings of the Aristotelian Society, Neue Reihe XV (1915), S. 151. Coles Gesellschaftslehre geht wohl auf die Theorie von Lewis Morgan: Ancient Society (1877) zurück. 69 Air power und Cities, London 1930 (die Fortführung von Air power and War Rights, 1924). Bemerkenswert und kennzeichnend ist besonders folgender Satz Spaight’s: „Air power will clear the way of the acceptance of the new order of ideas“ (An International Air Force, London 1932).

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Die Maße und Maßstäbe unserer Raumvorstellungen haben sich in der Tat we­ sentlich geändert. Das ist auch für die völkerrechtliche Entwicklung von entschei­ dender Bedeutung. Das europäische Völkerrecht des 19. Jahrhunderts, mit seiner schwachen Mitte Europas und den westlichen Weltmächten im Hintergründe, er­ scheint uns heute als eine von Riesen überschattete Klein weit. Dieser Horizont ist für ein modern gedachtes Völkerrecht nicht mehr möglich. Wir denken heute pla­ netarisch und in Großräumen. Wir erkennen die Unabwendbarkeit kommender Raumplanungen, von denen Ministerialdirektor H. Wohlthat wie auch Reichsleiter General Ritter von Epp bereits gesprochen haben70. In dieser Lage besteht die Auf­ gabe der deutschen Völkerrechtswissenschaft darin, zwischen einer nur konservati­ ven Beibehaltung des bisherigen zwischenstaatlichen Denkens und einem von den westlichen Demokratien her betriebenen, unstaatlichen und unvölkischen Über­ greifen in ein universalistisches Weltrecht, den Begriff einer konkreten Großraum­ ordnung zu finden, der beidem entgeht und sowohl den räumlichen Maßen unseres heutigen Erdbildes wie unseren neuen Begriffen von Staat und Volk gerecht wird. Das kann für uns nur der völkerrechtliche Begriff des Reiches sein als einer von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschten Großraumord­ nung, die Interventionen raumfremder Mächte ausschließt und deren Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt. Mit der Einführung der Begriffe Reich und Großraum ist freilich sofort auch die naheliegende Frage aufgeworfen, ob - wenn die Entwicklung wirklich zum Reich und zum Großraum geht -, das „Völkerrecht“ dann nur die Beziehungen zwischen diesen Reichen und Großräumen betrifft oder ob Völkerrecht nur das Recht der innerhalb eines gemeinsamen Großraumes lebenden freien Völker ist. Offensicht­ lich ergeben sich nunmehr vier verschiedene Arten denkbarer Rechtsbeziehungen: Erstens solche zwischen den Großräumen im ganzen, weil diese Großräume selbst­ verständlich nicht hermetisch abgeschlossene Blöcke sein sollen, sondern auch zwischen ihnen ein ökonomischer und sonstiger Austausch und in diesem Sinne ein „Welthandel“ stattfindet; zweitens zwischenreichische Beziehungen zwischen den führenden Reichen dieser Großräume; drittens zwischen-völkische Beziehun­ gen innerhalb eines Großraumes und endlich - unter dem Vorbehalt der Nichtein­ mischung raumfremder Mächte - zwischen-völkische Beziehungen zwischen Völ­ kern verschiedener Großräume. Die Bezeichnung „völkerrechtlich“ ist wegen ihrer Vieldeutigkeit und Elastizität auf alle diese Beziehungen anwendbar. Im übrigen ist es bei weiterer Entwicklung und Klärung der Großraumbildung selbstverständ­ lich, daß sich auch die Ausdrucksweise klärt und handlichere Formeln gefunden werden. Die für absehbare Zeit schlimmste Fehlerquelle wird darin liegen, daß die bisherigen staatsbezogenen Begriffe des rein zwischen-staatlichen Völkerrechts einfach auf die neuen Beziehungen zwischen den Großräumen und innerhalb ihrer

70 H. Wohlthat, Großraum und Meistbegünstigung, im Deutschen Volkswirt vom 23. De­ zember 1938; Ritter von Epp, Rede vom 24. Februar 1939, vgl. Hakenkreuzbanner, Nr. 56, S. 2. 20 Stiml. (iroMnmm, Nomos

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übertragen werden. Auf diese Gefahr, die einer fruchtbaren Erörterung sehr nach­ teilig werden kann, möchte ich hier besonders nachdrücklich hinweisen. Soviel wissenschaftliche Arbeit auch noch erforderlich sein wird, um unseren Begriff des Reiches im einzelnen sicherzustellen, seine grundlegende Stellung für ein neues Völkerrecht ist ebensowenig bestreitbar wie seine spezifische, zwischen der alten Staatenordnung des 19. Jahrhunderts und dem universalistischen Ziel ei­ nes Weltreiches stehende Eigenart erkennbar und unterscheidbar ist. Als ich im Herbst 1937 meinen Bericht über „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbe­ griff*71 der Abteilung für Rechtsforschung der Akademie für Deutsches Recht zu deren 4. Jahrestagung vorlegte, war die politische Gesamtlage von der heutigen noch wesentlich verschieden. Damals hätte der Reichsbegriff nicht, wie das jetzt hier geschieht, zum Angelpunkt des neuen Völkerrechts erhoben werden können. Im Anschluß an jenen Bericht wurde die Frage gestellt, was ich denn eigentlich Neues an die Stelle der alten Staatenordnung zu setzen hätte, da ich weder einfach beim alten bleiben noch mich den Begriffen der westlichen Demokratien unterwer­ fen wollte. Heute kann ich die Antwort geben. Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht. In ihm haben wir den Kern ei­ ner neuen völkerrechtlichen Denkweise, die vom Volksbegriff ausgeht und die im Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen läßt, die aber zu­ gleich den heutigen Raumvorstellungen und den wirklichen politischen Lebens­ kräften gerecht zu werden vermag; die „planetarisch“, d. h. erdraumhaft sein kann, ohne die Völker und die Staaten zu vernichten und ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen Demokratien, aus der unvermeidlichen Überwindung des alten Staatsbegriffs in ein universalistisch-imperialistisches Weltrecht zu steu­ ern. Der Gedanke eines zu den Trägem und Gestaltern eines neuen Völkerrechts ge­ hörenden Deutschen Reiches wäre früher ein utopischer Traum und das auf ihm aufgebaute Völkerrecht nur ein leeres Wunschrecht gewesen. Heute aber ist ein machtvolles Deutsches Reich entstanden. Aus einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte Europas geworden, die imstande ist, ihrer großen politischen Idee, der Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ur­ sprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit, eine Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein zu verschaffen und Einmischungen raumfremder und unvölkischer Mächte zurückzu weisen. Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen.

71 Inzwischen als Heft 5 der Gruppe Völkerrecht der Schriften der Akademie für Deut­ sches Recht, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans Frank, in München bei Duncker & Humblot, 1938, erschienen.

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VI. Reich und Raum Der Gedanke des Großraumes, der sich zuerst in dem Zusammenhang wirt­ schaftlich-industriell-organisatorischer Entwicklung Bahn brach72, hat sich in kur­ zer Zeit auch im völkerrechtlichen Denken unwiderstehlich durchgesetzt. Die Ver­ änderungen der Raumdimensionen und -maßstäbe sind zu auffällig und vor allem auch zu effektiv, als daß Vorkriegsvorstellungen hier noch haltbar wären. Wer möchte heute im Ernst für die gegenwärtige Beherrschung der Nordsee durch die deutsche Flotte und Luftwaffe noch die hilflosen Argumentationen über völker­ rechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit wiederholen, mit denen man während des Weltkrieges 1914 - 18 das Problem der „Seesperre“ zu lösen suchte?[52] Wer will die neuen Zonen und Raumausgrenzungen, die sowohl von Kriegführenden (als Gefahrenzonen aller Art) wie auch von Nichtkriegführenden (als Sicherheits­ zonen) in Anspruch genommen werden, mit den Maßen und Raumvorstellungen der Vorkriegszeit messen73? Jeder kennt die ausschlaggebende, alles beherrschen­ de Stellung, die dem Begriff der Effektivität im Völkerrecht zukommt: bei der Ok­ kupation herrenlosen Gebietes, der militärischen Besetzung, der Küstenblockade, der Seesperre, der Anerkennung als kriegführende Partei, als Regierung und Staat. Sollte gerade ein typisch situations- und technik-gebundener Begriff wie „Effekti­ vität“ an eine vergangene, oft um das Hundertfache überholte Technik gebunden bleiben? So krampfhaft sich der bisherige völkerrechtliche Positivismus im Dienst des damaligen status quo bemüht hat, er ist durch die im gegenwärtigen Kriege zutage tretende Entwicklung der effektiven Raumbeherrschung ganz von selbst ad absurdum geführt worden. Dabei ist die raumrevolutionäre Wirkung der Luftwaffe besonders stark. An einem dem bisherigen Völkerrecht unbekannten praktischen Problem wie dem der Verdunkelung von neutralen, dem Luftoperationsbereich be­ nachbarten Gebieten wird man eher ein zeitgemäßes Neutralitätsrecht entwickeln können als durch Interpretationskünste an Vorkriegsverträgen. Ja, ich möchte hier eine noch weitergehende Behauptung wagen: während man bisher vom Recht des Meeres und der See zahlreiche friedens- und kriegsrechtliche Analogien für das Recht des Luftraumes zu gewinnen sucht74, scheint mir die künftige Entwicklung eher dahin zu gehen, daß umgekehrt das Recht des Meeres entscheidende Normen und Begriffe vom Recht des Luftraumes her erhalten wird. Denn das Meer ist heute nicht, wie das die Völkerrechtsautoren des 18. und 19. Jahrhunderts noch 72 Vgl. oben S. 270 ff.; ferner Zeitschr. für Völkerrecht XXIV (1940), S. 146 f. [Hier S. 235 ff.]. 73 Man vergleiche nur - zum Unterschied von den englischen und französischen Protesten vom 15. und 22. 1. 1940 - die deutsche Erklärung vom 14. 2. 1940 zu der amerikanischen Sicherheitszone (14. Resolution der Panamerikanischen Konferenz vom 3. 10. 1939). Dazu Z. f. V. XXIV (1940), S. 180 f. Ulrich Scheunen Die Sicherheitszone des amerikanischen Kontinents, sowie im gleichen Heft Carl Schmitt, Raum und Großraum im Völkerrecht, S. 172. [Im vorl. Bd. S. 256]. 74 Roberto Sandiford, Brevi note sull’analogia fra Diritto Marittimo e Aeronautico, Studi di Diritto Aeronautico, VI (1933). :()♦

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

annehmen, ein der menschlichen Herrschaft unzugängliches „Element“ ; es ist im Gegenteil im weitesten Maße ein „Raum“ menschlicher Herrschaft und effektiver Machtentfaltung geworden. Wenn Reiche zusammenbrechen und um neue Ordnungen gekämpft wird, er­ scheint die Struktur der den alten Reichen zugeordneten Volkerrechtssysteme in greifbarer Deutlichkeit. Dann fallen die von der Kernfrage - die immer auch eine Raumfrage ist - ablenkenden Übermalungen eines subalternen Positivismus weg. Die alles beherrschenden und alles tragenden Grundbegriffe jedes Völkerrechts, Krieg und Frieden, werden in ihrer zeitgebundenen Konkretheit sichtbar, und die spezifische, für jedes Völkerrechtssystem kennzeichnende Vorstellung vom Erd­ raum und von einer Raumverteilung der Erde tritt dann offen zutage. Die jahrhun­ dertelange Kleinräumigkeit deutschen Staatsdenkens, das fast immer auch Klein­ oder Mittelstaatsdenken war, hat uns bisher den völkerrechtlichen Horizont ver­ sperrt. Sie wird heute mit derselben Schnelligkeit überwunden, mit der die großen militärischen und politischen Ereignisse ihren Lauf nehmen und der Erkenntnis zum Siege verhelfen, daß nicht Staaten, sondern Reiche die wahren „Kreatoren“ des Völkerrechts sind. Die Staatsbezogenheit des früheren kontinental-kleinräumlichen Völkerrechts­ denkens äußerte sich vor allem darin, daß das Raumbild dieses Völkerrechts an dem Begriff „Staatsgebiet“ ausgerichtet war. Staatsgebiet ist das Stück der Erd­ oberfläche (mit darüber liegendem Luftraum und darunter befindlichem unterirdi­ schem Raum bis zum Erdmittelpunkt), das ausschließlich und geschlossen der „Staatsgewalt“ unterworfen ist. Wir brauchen hier die verschiedenen Theorien und Konstruktionen der Lehre vom Staatsgebiet nicht zu behandeln75. Jedenfalls sieht ihr Raumbild so aus: Der Erdraum ist entweder festes Land (und dann wiederum entweder bereits wirkliches Staatsgebiet oder herrenloses, dem Erwerb durch Ok­ kupation seitens einer Staatsgewalt zugängliches, also potentielles Staatsgebiet) oder aber freies Meer, wobei die Freiheit des Meeres wesentlich darin besteht, daß das Meer, die hohe See, weder wirkliches noch mögliches Staatsgebiet ist. Die großen Raumprobleme der weltpolitischen Wirklichkeit, Interessensphären, Inter­ ventionsansprüche, Interventionsverbote für raumfremde Mächte, Zonen aller Art, Raumausgrenzungen auf hoher See (Verwaltungszonen, Gefahrenzonen, Blockade, Seesperren, Geleitzüge), Probleme der Kolonie (die doch in einem ganz anderen Sinne und mit einer ganz anderen Verfassung „Staatsgebiet“ ist wie das Mutter­ land), völkerrechtliche Protektorate, abhängige Länder - alles das fiel dem unter­ schiedslosen Entweder-Oder von Staatsgebiet oder Nichtstaatsgebiet zum Opfer. Die Grenze wird eine bloße Liniengrenze. Die Möglichkeit von wirklichen (nicht nur innerstaatlichen) Grenz- und Zwischenzonen ist diesem staatsbezogenen Ge­ bietsdenken verschlossen76. Selbst neutrale Pufferstaaten, deren Sinn eine Grenz75 Vgl. das Schlußkapitel über den „Raumbegriff in der Rechtswissenschaft“ unten S. 314 ff. 76 Es ist ein beachtenswertes Symptom für die raumrevolutionäre Wirkung der Beherr­ schung der Luft, daß gerade im Luftrecht der Gedanke einer Grenzzone (statt bloßer Flächen-

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und Zwischenzone ist und die ihre Existenz der Vereinbarung von Reichen verdan­ ken, werden als souveräne Staaten auf einer Ebene mit denselben Reichen behan­ delt. Daß es zwischen dem geschlossenen Staatsgebiet und dem - wenn ich so sagen darf - nichtstaatlichen völkerrechtlichen Nichts in Wirklichkeit viele eigen­ tümlichen, weder rein innerstaatlichen noch rein außenstaatlichen Bildungen gibt, daß nicht nur staatliche Gebietshoheit, sondern Raumhoheiten mancher Art zur Wirklichkeit des Völkerrechts gehören, wurde in dem einfachen Entweder-Oder von zwischenstaatlich und innerstaatlich in ähnlicher Weise verkannt, wie der Dua­ lismus von zwischenstaatlichem und innerstaatlichem Recht keinerlei übergreifen­ de Zusammenhänge zu konstruieren vermochte77. Sobald dagegen nicht Staaten, sondern Reiche als Träger der völkerrechtlichen Entwicklung und Rechtsbildung erkannt sind, hört auch das Staatsgebiet auf, die einzige Raumvorstellung des Völ­ kerrechts zu sein. Das Staatsgebiet erscheint dann als das, was es in Wirklichkeit ist, als nur ein Fall völkerrechtlich möglicher Raumvorstellungen, und zwar der dem damals verabsolutierten, inzwischen durch den Reichsbegriff relativierten Staatsbegriff zugeordnete Fall. Andere, heute unentbehrliche Raumbegriffe sind in erster Linie Boden, der in spezifischer Weise dem Volk zuzuordnen wäre, und dann der dem Reich zugeordnete, über Volksboden und Staatsgebiet hinausgreifen­ de Großraum kultureller und wirtschaftlich-industriell-organisatorischer Ausstrah­ lung. Um es gegenüber neueren Mißverständnissen einer früheren Darlegung78 zu wiederholen: Das Reich ist nicht einfach ein vergrößerter Staat, so wenig wie der Großraum ein vergrößerter Kleinraum ist. Das Reich ist auch nicht identisch mit dem Großraum, aber jedes Reich hat einen Großraum und erhebt sich dadurch so­ wohl über den durch die Ausschließlichkeit seines Staatsgebietes räumlich gekenn­ zeichneten Staat wie über den Volksboden eines einzelnen Volkes. Ein Machtgebil­ de ohne diesen, Staatsgebiet und Volksboden überwölbenden Großraum wäre kein Reich. Auch in der bisherigen Geschichte des Völkerrechts, die in Wirklichkeit eine Geschichte von Reichen ist, hat es kein solches Reich ohne Großraum gege­ ben, wenn auch Inhalt, Struktur und Konsistenz des Großraumes zu verschiedenen Zeiten verschieden sind. Das Völkerrecht des letzten Jahrhunderts war ein Zwischen- und Übergangsge­ bilde zwischen dem alten, im 16. Jahrhundert entstandenen christlich-europäischen Völkerrecht und einer erst heute allmählich sich abhebenden neuen Raum- und und Liniengrenze) vertreten worden ist: Kroell, Traité de droit international public aérien, 1934, I, S. 71 (frontière volume statt frontière surface), dazu (ablehnend) Friedrich Giese, Das Luftgebiet in Kriegszeiten, Arch. d. öff. Rechts, N. F. 31 (1939), S. 161. 77 Carl Schmitt, Über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZAkDR 1940, S. 4; ferner die Besprechung des Buches von H. Triepel, Die Hegemonie (1938), in Schmollers Jahrbuch, Band 63 (1939), S. 516, [vorl. Bd., S. 227 f.J und schließlich Festgabe für Georgios Streit (Athen) 1940, Positionen und Begriffe, Hamburg 1940, S. 263 f. 78 Vgl. die Besprechung der 1. und 2. Auflage vorliegender Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (auch in der Sammlung „Politische Wissenschaft“, herausg. von Paul Ritterbusch, Berlin 1940, S. 27 - 69) von Böh­ men in „Zeitschrift für Völkerrecht“ XXIV (1940), S. 134 bis 140.

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Völkerordnung. Der Wiener Kongreß 1814/15 dachte noch ganz europa-zen­ trisch79. Seit 1856 (Zulassung der Türkei zur Familie der Nationen) hat das Völker­ recht auch formal aufgehört, ein europäisch-christliches Völkerrecht zu sein. Seit 1890 löst sich das europa-zentrische Erdbild in ein unterschiedsloses „Internatio­ nal Law“ auf80. Den ersten Stoß hatte es durch die Monroe-Botschaft des Jahres 1823 erhalten. Die Pariser Vorortdiktate von 1919 bedeuteten seinen endgültigen Zusammenbruch. In unseren Tagen, 1940, beginnt eine neue Raum- und Völker­ ordnung sich abzuheben. Wahrend der Zwischenzeit haben die führenden Reiche des bisherigen europäischen Völkerrechts, England und Frankreich, das alte euro­ pa-zentrische System weiterzuführen versucht, ohne der Aufgabe einer europä­ ischen Ordnung gewachsen zu sein. Das alte europa-zentrische Völkerrechtssystem beruhte auf der völkerrechtlichen Unterscheidung eines europäischen Staatenrau­ mes vollgültiger, staatlicher Ordnung und Befriedung, von einem nichteuropäi­ schen Raum freier, europäischer Expansion. Der nichteuropäische Raum war her­ renlos, unzivilisiert oder halbzivilisiert, Kolonisationsgebiet, Objekt der Besitzer­ greifung durch europäische Mächte, die eben dadurch Reiche wurden, daß sie sol­ che überseeischen Kolonien besaßen. Die Kolonie ist die raumhafte Grundtatsache des bisherigen europäischen Völkerrechts. Alle Reiche dieses völkerrechtlichen Systems hatten einen großen Expansionsraum zur Verfügung: Portugal, Spanien, England, Frankreich und Holland in ihren überseeischen Kolonien81, die habsbur­ gische Monarchie auf dem Balkan gegenüber den Besitzungen des nicht zur Völ­ kerrechtsgemeinschaft gehörenden Ottomanischen Reiches, das Russische Reich sowohl gegenüber ottomanischen Besitzungen wie auch in Sibirien, Ost- und Mit­ telasien. Preußen war die einzige Großmacht, die nur Staat war und, wenn sie sich räumlich vergrößerte, dieses nur auf Kosten von Nachbarn tun konnte, die der eu­ ropäischen Völkerrechtsgemeinschaft bereits angehörten. Dadurch war es leicht, Preußen in den Ruf des Friedensstörers und brutalen Machtstaates zu bringen, ob­ wohl sein Raum im Vergleich zu dem der anderen Reiche klein und bescheiden war. Führend waren in diesem System des europäischen Völkerrechts die West­ mächte England und Frankreich. Der Reichsbegriff hing, soweit er nicht Fortfüh­ rung und translatio des Römischen oder Deutschen Reiches war,[52a] an der über­ seeischen Besitzung. Es war nicht etwa Disraeli, der zuerst einen vom übersee­ ischen Reichtum her bestimmten Reichsbegriff entdeckte, als er 1876 die Krone 79 Um so naiver wirken heute die Versuche, diesen Kongreß als maßgebliches Vorbild hin­ zustellen (Guglielmo Ferrero, Reconstruction, 1940) oder einige Figuren dieses Kongresses, Metternich, Talleyrand oder Alexander I., im Lichte einer glorifizierenden Aktualität erschei­ nen zu lassen. 80 Carl Schmitt, Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law“, Deut­ sche Rechtswissenschaft (Vierteljahrsschrift der Akademie für Deutsches Recht), Bd. V (Ok­ tober 1940), S. 267 ff. [vorl. Bd., S. 372 ff. - G. M.]. 81 Die belgische Kongo-Kolonie war eine späte, für die Gesamtlage des damaligen Völ­ kerrechts charakteristische Schiebung und vermochte natürlich kein Reich, auch keinen eige­ nen Großraum zu bilden.

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des Königs von England mit dem Titel des Kaisers von Indien verband - worauf das faschistische Italien 1936 eine Antwort gab, indem es nicht den Titel des Kai­ sers von Rom, sondern den des Kaisers von Äthiopien mit der italienischen Kö­ nigskrone verband82 -, sondern gleich zu Beginn der neuen Erdverteilung, im frü­ hen 16. Jahrhundert, hat der spanische Konquistador Heman Cortés dem deutschen Kaiser Karl V. nach der Eroberung Mexikos vorgeschlagen, sich Kaiser seiner neuen indischen Besitzungen zu nennen, weil dieser Titel besser gerechtfertigt sei als der eines Kaisers von Deutschland83. Der an den überseeischen Kolonialbesitz geknüpfte Kaisertitel ist zwar nur ein Symptom, aber ein wichtiges und beweis­ kräftiges Symptom sowohl für das Raumbild wie für den Reichsbegriff des bisheri­ gen, von England und Frankreich geführten europäischen Völkerrechts. Die entscheidende völkerrechtliche Bedeutung der überseeischen Kolonie liegt darin, daß die konkrete Wirklichkeit der Begriffe Krieg und Frieden im bisherigen Völkerrecht nur von diesem Raumbild her zu verstehen ist. Immer wieder muß dar­ an erinnert werden, daß das Völkerrecht ein Recht des Krieges und des Friedens ist, jus belli ac pacis. Die in den verschiedenen Geschichtsepochen verschiedene, zeit- und raumgebundene, konkrete und spezifische Wirklichkeit von Krieg und Frieden und das ebenso konkrete und spezifische gegenseitige Verhältnis dieser beiden Zustände bilden den Kern jeder völkerrechtlichen Ordnung und allen Zu­ sammenlebens organisierter Völker in irgendwie verteilten Räumen. Was war der Friede des angeblich von souveränen Staaten getragenen europäischen Völker­ rechts von 1648 bis 1914? Wie ist ein Friede und damit ein Völkerrecht möglich zwischen souveränen Staaten, deren jeder ein freies, seiner souveränen Entschei­ dung überlassenes Recht zum Kriege für sich in Anspruch nimmt? Es ist selbstver­ ständlich, daß das Zusammenleben solcher souveränen Machtgebilde nicht von ei­ nem substanzhaft gegebenen wirklichen Frieden, sondern von der fortwährenden Zulässigkeit des Krieges ausgeht. Das bedeutet, daß der Friede hier nur der NichtKrieg ist84. Ein solcher Friede aber ist nur so lange möglich und ein solcher auf bloßem Nicht-Krieg aufgebauter Gesamtzustand nur so lange erträglich, als der Krieg nicht total ist. Der in dem früheren europäischen Völkerrechtssystem voraus­ gesetzte Krieg zwischen europäischen Staaten war in der Tat immer nur ein partiel­ ler Krieg, sei es als Kabinettskrieg des 18. Jahrhunderts, sei es als Kombattanten­ krieg, an dem auch die folgende Zeit bis 1914 festhielt. Das ist der Kern dieses Völkerrechts. Zum partiellen, nicht totalen Krieg gehörte auch die wichtige, in den letzten Jahren öfters hervorgehobene Besonderheit, daß der Kriegsbegriff dieses bisherigen Völkerrechts die Frage der Gerechtigkeit des Krieges beiseitelassen mußte, daß er ein „nichtdiskriminierender“ Kriegsbegriff war. 82 Dazu Giorgio Cansacchi in den Scritti giuridici in onore di Santi Romano, 1940, S. 393 f., und Carlo Costamagna, in Lo Stato VII (1936), S. 321 ff. 83 Karl Brandi, Der Weltreichsgedanke Karls V. in „Europäische Revue“ XVI (Mai 1940), S. 277. 84 Carl Schmitt, Inter bellum et pacem nihil medium, ZAkDR 1939, S. 594; La Vita Italiana XXVII (Dezember 1939), S. 637 f., Positionen und Begriffe, S. 246 f.

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Die Bedeutung der Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff und zum to­ talen Krieg ist inzwischen erkannt worden85. Dagegen ist bei weitem noch nicht hinreichend zum Bewußtsein gekommen, wie sehr die frühere Parzellierung und Relativierung des Krieges mit raumhaften Mitteln völkerrechtlich erreicht wurde. Dahin gehört in erster Linie die Methode einer Politik des Gleichgewichts, die zwar ebenfalls oft erörtert und behandelt worden ist86, deren Zusammenhang mit dem partiellen Kriegsbegriff jedoch bisher nicht wahrgenommen wurde, weil das raumhafte Denken der Völkerrechtswissenschaft verlorengegangen war. Im Zu­ sammenhang mit der Tatsache, daß die Kolonie die Grundlage des bisherigen euro­ päischen Völkerrechts war, ist außerdem noch eine Reihe besonderer Völkerrechts­ bildungen zu beachten, die bei der staatsbezogenen Kleinräumigkeit der meisten kontinentalen Völkerrechtsdenker jedenfalls ganz außer acht geblieben sind. Dazu gehört eine interessante, nicht nur geschichtlich, sondern allgemein wichtige Tat­ sache: die ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung von „Freundschaftslinien“. Solche Linien grenzen z. B. im 16. Jahrhundert einen unbefriedeten Raum für rücksichtslose Machtkämpfe in der Weise aus, daß die innerhalb des ausge­ grenzten Raumes (jenseits der Linie, beyond the line) sich abspielenden gegensei­ tigen Rechtsverletzungen und Schadenszufügungen für die europäischen Bezie­ hungen der Kolonialmächte keinen Grund zum Kriege bedeuten, Vertrag und Frie­ den nicht stören sollten87. Freundschaftslinien, „amity lines“, liegen in verschiede­ nen Ausprägungen räumlich und in übertragener Weise jedem völkerrechtlichen System zugrunde. Im 18. Jahrhundert finden sich bereits zahlreiche umgekehrte Beispiele dafür, daß europäische Kriege sich nicht in den Kolonien auswirken sol­ len, die Kolonie also als der befriedete Raum, Europa als der Kampfplatz er­ scheint. Die bekannte und in den letzten Jahren oft zitierte Bestimmung des Art. 11 der Berliner Kongo-Akte vom 26. 2. 1885, wonach die in der Kongo-Akte genann­ ten Gebiete im Falle eines Krieges als neutral und einem nichtkriegführenden Staat 85 Julius Evola, La guerra totale, in La Vita Italiana XXV (1937), S. 567; Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (Schriften der Ak. f. D. R., Gruppe Völ­ kerrecht Nr. 5), 1938; G. A. Walz, Nationalboykott und Völkerrecht (Schriften usw. Nr. 7), 1939; Theodor Maunz, Geltung und Neubildung modernen Kriegsvölkerrechts, Freiburg 1939; H. Pleßner, De huidige Verhouding tussen Oorlog en Vrede, Groningen 1939; Franz v. Wesendonk, Der Kriegsbegriff im Völkerrecht, Bonner Dissertation 1939. 86 Fritz Berber, Prinzipien der britischen Außenpolitik (Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung), Berlin 1939. 87 Erstes Beispiel wohl die (nur mündlich vereinbarte) Abmachung des spanisch-französi­ schen Vertrages von Cateau-Cambrésis, 3. 4. 1559, bei F. G. Davenport, European Treaties bearing on the History of the United States and its Dependencies to 1648 (Publications of the Carnegie Institution 154,1), Washington 1917, S. 208, 219 ff. Dazu die völkerrechtswissenschaftlich bei weitem noch nicht ausgewertete hervorragende Darstellung von Adolf Rein, Der Kampf Westeuropas um Nordamerika im 15. und 16. Jahrhundert, Stuttgart-Gotha 1925 (Allg. Staatengeschichte 2, 3), S. 207 f.; über den Satz: „Jenseits vom Äquator gibt es keine Sünde“, S. 292. Vgl. auch Ulrich Scheuner, Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völker­ recht, Z. f. Völkerrecht XXII (1938), S. 466; Wolfgang Windelband, Motive europäischer Ko­ lonialpolitik, Deutsches Adelsblatt, 14. II. 1939.

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gehörig betrachtet werden sollen, ist ein letztes Beispiel dieser Entwicklung und Verlagerung von „Freundschaftslinien“.[53] Auch zahlreiche Neutralisierungen (Schweiz, Belgien, Luxemburg) und „Unabhängigkeits“-Erklärungen des 19. und 20. Jahrhunderts hatten den Sinn raumhafter Ausgrenzungen und Ausklammerun­ gen, meistens im Dienst einer den Interessen des britischen Weltreiches entspre­ chenden europäischen Gleichgewichtspolitik, deren tragende Grundlage eine be­ stimmte Verteilung des kolonialen Weltbesitzes war. Das zweimal total besiegte Frankreich konnte - nach mehr als zwanzigjährigen Koalitionskriegen der Jahre 1792 bis 1815 und nach der furchtbaren Niederlage 1870 / 71 - in einem solchen System als europäische Großmacht bestehen bleiben. Selbst blutige Kriege dieser Zeit waren nicht total im Sinne eines Kampfes um die letzte Existenz, weil die Träger dieses Völkerrechts in den Kolonien einen ausrei­ chenden freien Raum zur Verfügung hatten, um ihren gegenseitigen Auseinander­ setzungen in Europa die eigentliche, letzte, existenzielle Härte zu nehmen. Bis­ marck hat noch, mit europäischem Verantwortungsgefühl, dem besiegten Frank­ reich nach 1871 die Möglichkeit zur kolonialen Expansion in Afrika und Ostasien offengelassen. [54] Aber während des 19. Jahrhunderts schließt sich dieser freie Raum allmählich. Die Bedeutung der Monroe-Botschaft von 1823 beruht allge­ mein auf der Schaffung eines Großraums mit Interventionsverbot, im besonderen aber auch darauf, daß sie die erste Schließung eines weiten Bereiches europäischer Kolonisation ist. Damit erscheint das erste nicht-europäische Reich. Die von Eng­ land betriebene Zulassung der Türkei zur europäischen Völkergemeinschaft enthält eine weitere Einengung, mit der die englische Politik der Unterstützung „kranker Männer“ erst außerhalb, nach 1919 auch innerhalb Europas ihren Anfang nimmt. 1905 tritt mit Japan das zweite nicht-europäische Reich auf.[55] Gleichzeitig wur­ den die neuen europäischen Großmächte, das Deutsche Reich und Italien, von der Verteilung des außereuropäischen Kolonialbesitzes femgehalten oder mit Resten abgespeist, während England und Frankreich sich (1882 - 1912) Nordafrika in al­ ter Weise als herrenloses Land teilten, wobei Ägypten an England, Marokko an Frankreich fiel. Damit haben sich die Mächte des alten europäischen Völkerrechts zum letztenmal im Stil vergangener Zeiten auf Kosten Dritter und auf der Grund­ lage einer Teilung überseeischen Besitzes geeinigt. Die weitere Entwicklung, wie sie durch die Pariser Vorortdiktate von 1919 und ihre Legitimierung im Genfer Völkerbund bestimmt wurde, ist bekannt. Die besiegte europäische Macht, Deutschland, wurde der Kolonien beraubt. Auch hier zeigte sich, daß die Kolonie die Grundtatsache des bisherigen europäischen Völkerrechts war. Die Ausschlie­ ßung Deutschlands vom außereuropäischen Kolonialbesitz war die eigentliche Dif­ famierung und Disqualifizierung Deutschlands als europäischer Macht. Während der Völkerbundsanktionen gegen Italien (1935 / 36) und während des spanischen Bürgerkrieges (1936 -39) hat sich dann in Genf und im Londoner Nicht-Interven­ tionsausschuß die ganze Hilflosigkeit Englands und Frankreichs enthüllt. Sinn­ volle und wirksame „Freundschaftslinien“ und Ausgrenzungen der Feindschaft hat man nicht mehr gefunden. Heute bezahlen die Westmächte England und Frank-

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

reich ihre Unfähigkeit, neue, wachsende Völker Europas in das von ihnen geführte Völkerrechtssystem einzufügen und ein gerechtes „peaceful change“ mit echten Freundschaftslinien zu verwirklichen.[56] Sie büßen ihre Schuld nicht nur mit dem Zusammenbruch ihrer bisherigen Weltmacht, sondern auch mit dem Zusammen­ bruch eines völkerrechtlichen Systems, das auf ihnen als den führenden Reichen und auf einer von ihnen geschaffenen Raumverteilung der Erde beruhte und das sie 1919 sieg- und besitzgeblendet selber zerstört haben.

VII. Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft Vor zehn Jahren veröffentlichte der vielseitige Wirtschaftshistoriker und Profes­ sor der Sorbonne Henri Hauser Vorträge, die er in England gehalten hatte, unter dem Titel: „Modernité du XVIe siècle.“88 Die „Modernität“ des 16. Jahrhunderts, das er sogar als „préfiguration“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet, erblickt er darin, daß damals eine politische, moralische, intellektuelle und ökonomische Revolution die Demokratie des 19. und 20. Jahrhunderts bereits eingeleitet habe, während die Gegenreformation des 17. Jahrhunderts demgegenüber einen Rückschritt bedeute. So wurde diese Abhandlung Hausers zu einer Apologie des politischen Systems der liberaldemokratischen Westmächte und des status quo von Versailles. Der ge­ lehrte Verfasser hatte im Jahre 1930 nicht bemerkt, daß die Modernität des 16. Jahrhunderts ganz anderer Art ist, als er sie auffaßte und als sie im Sinne des politi­ schen Systems der westlichen Demokratien lag. Die eigentliche Modernität jenes Zeitalters liegt nämlich darin, daß die raumrevolutionäre Veränderung des mittel­ alterlichen Weltbildes, wie sie im 16. Jahrhundert eingetreten und im 17. Jahrhun­ dert wissenschaftlich vollendet ist, uns eine Vergleichsmöglichkeit bietet, um die heutige Veränderung des Raumbildes und der Raumvorstellungen besser und tiefer zu erfassen. Die Wandlung des Raumbegriffs ist heute in mächtiger Tiefe und Brei­ te auf allen Gebieten menschlichen Denkens und Handelns im Gange. Auch das große weltpolitische Geschehen der Gegenwart enthält in seinem bewegenden Kern eine derartige Wandlung der bisherigen Raumvorstellungen und Raumvor­ aussetzungen, daß wir dafür nur in jenem Wandel des planetarischen Raumbildes, der vor 400 Jahren einsetzte, einen brauchbaren geschichtlichen Vergleichsfall ha­ ben. Das Wort „ Großraum “ soll uns dazu dienen, diesen Wandel zum wissenschaftli­ chen Bewußtsein zu bringen. Dieses Wort steht, trotz seiner gegenwärtigen Be­ liebtheit, über jeder bloß tagespolitisch-joumalistischen Konjunktur und über dem Wechsel bloßer Modebeliebtheit, der sonst das Schicksal von Schlagworten be­ stimmt. Allerdings bedarf es einer genauen wissenschaftlichen Klärung, um Miß­ verständnisse und Mißbräuche zu verhindern und um einer fruchtbaren und folge­ richtigen Verwendung in Theorie und Praxis den Weg frei zu machen. 88 Hauser, La Modernité du XVIe siècle, Paris 1930.

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Man darf der Wortbildung „Großraum“ nicht entgegenhalten, daß sie die nur räumliche Vorstellung „Groß“ mit dem Begriff „Raum“ verbinde und daher nur eine räumliche Kennzeichnung eines ausgedehnteren, weiteren Raumes mit Hilfe einer nur äußerlich vergleichenden Maßbestimmung enthalte. „Groß“ enthält hier eine andere als bloß quantitative, mathematisch-physikalische Bestimmung. Das ist sprachlich durchaus zulässig und auch üblich. In vielen Zusammensetzungen mit Groß— zum Beispiel Großmacht, Großkönig, die „große“ Revolution, die „große“ Armee usw. - bedeutet das Wort eine qualitative Steigerung und nicht eine nur als Ausdehnung gemeinte Vergrößerung. Die Wort- und Begriffsbildung „Großraum“ trägt allerdings insofern Übergangscharakter, als sie vom „Raum“ ausgeht und dessen bisherige Wesenheit durch die Beifügung von „Groß“ zu ver­ ändern und zu überwinden sucht. Eine allgemeine und unbestimmte, jede ausfül­ lende Bestimmung offenlassende Vorstellung vom Raum wird beibehalten und doch zugleich begrifflich auf eine andere Ebene überführt. Es läßt sich dabei nicht vermeiden, daß „Großraum“ vielfach als eine bloße Verneinung von „Kleinraum“ aufgefaßt wird. Dann wird die Bezeichnung zu einer bloß negativen und bloß komparativischen Bestimmung. Sie bleibt dann in einer gedanklichen und sachlichen Abhängigkeit von eben dem Raumbegriff, den sie zu verneinen und zu überwinden sucht. Solche Mißverständnisse sind unvermeidliche Begleiterscheinungen jeder Übergangszeit. Ich erwähne sie nur, um der Gefahr von Zerredungen vorzubeugen, die hier besonders groß ist. Sobald einmal die Erde ihre sichere und gerechte Groß­ raumeinteilung gefunden hat und die verschiedenen Großräume in ihrer inneren und äußeren Ordnung als feste Größen und Gestalten vor uns stehen, werden sich wohl andere und schönere Bezeichnungen für die neue Sache finden und durchset­ zen. Bis dahin aber bleiben Wort und Begriff des Großraumes eine unentbehrliche Brücke von den überkommenen zu den künftigen Raumvorstellungen, vom alten zum neuen Raumbegriff. Großraum ist also nicht ein verhältnismäßig größerer gegenüber einem verhält­ nismäßig kleineren Raum, nicht ein erweiterter Kleinraum. Gerade die bloß mathe­ matisch-physikalisch-naturwissenschaftliche Neutralität des bisherigen Raumbe­ griffes soll überwunden werden. „Es liegt“, wie Ratzel sagt, „schon in dem weiten Raum etwas Größeres, ich möchte sagen, Schöpferisches“89. Die Beifügung des Wortes „Groß“ soll und kann das Begriffsfeld verändern. Für die Rechtswissen­ schaft, insbesondere für die staats- und völkerrechtliche Begriffsbildung, ist das von ausschlaggebender Bedeutung, weil alle sprachlichen und daher auch alle juri­ stischen Begriffe durch das Begriffsfeld bestimmt werden und mit ihren begriffli­ chen Nachbarn Zusammenleben und -wachsen. Jeder juristische Begriff unterliegt dem, was Ihering „die Vorforderung der begrifflichen Nachbarn“ genannt hat. In der Sprachwissenschaft ist schon seit längerer Zeit zum Bewußtsein gekommen, in welchem Maße ein Wort in seinem Gehalt durch ein solches Bedeutungsfeld be­ stimmt wird90. In der Rechtswissenschaft ist die gegenseitige Bestimmung durch Hy Friedrich Ratzel, Der Lebensraum, Festgaben f. Albert Schäffle, Tübingen 1901, S. 169.

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den systematischen Begriffszusammenhang ohne weiteres einleuchtend. Worte wie: Raum, Boden, Land, Feld, Räche, Gelände, Gebiet, Bezirk sind nicht etwa beliebig vertauschbare und nur „terminologische“ Nuancen. Von seinem Standort her ist jeder Begriff am sichersten zu verstehen und nötigenfalls zu widerlegen9091, und die „Topik“ ist ein leider arg vernachlässigter Zweig der Rechtswissen­ schaft. [57] Der Wandel des Bedeutungsfeldes, den das Wort „Großraum“ gegen­ über dem Wort „Raum“ bewirkt, liegt vor allem darin, daß das bisher mit dem Be­ griff „Raum“ gegebene mathematisch-naturwissenschaftlich-neutrale Bedeutungs­ feld verlassen wird. Statt einer leeren Flächen- oder Tiefendimension, in der sich körperliche Gegenstände bewegen, erscheint der zusammenhängende Leistungs­ raum, wie er zu einem geschichtserfüllten und geschichtsmäßigen Reich gehört, das seinen eigenen Raum, seine inneren Maße und Grenzen mit sich bringt und in sich trägt. Der Auffassung des Raumes als einer leeren Flächen- und Tiefendimension ent­ sprach die in der Rechtswissenschaft bisher herrschende sogenannte „Raumtheo­ rie“. Sie faßt Land, Boden, Territorium, Staatsgebiet unterschiedslos als einen „Raum“ staatlicher Betätigung im Sinne des leeren Raumes mit Lineargrenzen auf. Sie verwandelt Haus und Hof aus einer konkreten Ordnung in eine bloße Kataster­ fläche und macht aus dem Staatsgebiet einen bloßen Herrschafts- oder Verwaltungsbezirk, einen Zuständigkeitsbereich, einen Amtssprengel, eine Kompetenz­ sphäre oder wie die verschiedenen Umschreibungen lauten. „Der Staat ist nichts anderes als das auf einer bestimmten Fläche für das Recht organisierte Volk“, lau­ tet die Definition, die Flicker, der Begründer dieser Raumtheorie, aufgestellt hat und die dann durch Rosin, Laband, Jellinek, Otto Meyer, Anschütz herrschend ge­ worden ist92. Bei dieser bisher herrschenden Raumtheorie sind vier Entstehungsfaktoren zu beachten. Erstens ihre politisch-polemische Richtung: sie wollte bestimmte frühe-

90 Der Ausdruck „Bedeutungsfeld“ hat Günther Ipsen in der Festschrift für Wilhelm Streit­ berg, Heidelberg 1924, S. 225, wohl als erster gebraucht. Aus der sprachwissenschaftlichen Forschung gehören hierhin die Arbeiten von Ferdinand de Saussure, Leo Weißgerber, Jost Trier. Die Ausdrucksweise ist übrigens noch stark raumhaft im Sinne der bloßen Fläche be­ stimmt. 91 Schmitt, „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff4, 1938, S. 7 f.; Kindt-Kie­ fer, „Über die Fundamentalstruktur des Staates. Theorie der sozialen Ganzheit“, Bern 1940, Einleitung. 92 Die Bezeichnung „Raumtheorie“ (über deren wichtigste Vertreter vgl. oben S. 273 Anm. 8) ist ein Beispiel der „ungeheuren Anpassungsfähigkeit der mathematischen Aus­ drucksweise“ (G. Joos). Eine rechtswissenschaftliche Raumtheorie, die diesen Namen ver­ dient, müßte sich gerade von den Verschiedenheiten und Besonderheiten des Raum- und Bo­ denstatus bewähren, die jene allgemeine Raumtheorie in Nichts auflöst, also z. B. an der Be­ sonderheit des Bodenstatus von Protektorat, Kolonie, Staatsgebiet, Volksboden; vgl. dazu den sehr beachtenswerten Ansatz von Friedrich Klein, über den Unterschied von Gebietsho­ heit und Raumhoheit im Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 32, 1941, S. 258 f., und die Versuche italienischer Rechtslehrer, territorio statale und spazio imperiale zu unterscheiden.

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re Auffassungen des Bodens ablehnen, nämlich alle patrimonialen und feudalen Objektsvorstellungen, die aus dem Boden eine Art Privateigentum, sei es des Für­ sten, sei es des als juristische Person gedachten Staates machten. Insofern ist diese Raumtheorie ein Ausdruck der politischen Entwicklung zum konstitutionellen Ver­ fassungsstaat, auf der Grundlage der Trennung von öffentlichem und privatem Recht, von Imperium und Dominium. Im Privatrecht wird die konkrete Raumvorstellung dadurch beseitigt, daß alles Grundeigentum zum Eigentum an einem „Grundstück“ wird. Im öffentlichen Recht wird das Staatsgebiet zu einem bloßen „Schauplatz des Imperiums“. Diese berühmte Formulierung Ziteimanns hat Ende des 19. Jahrhunderts den größten Erfolg gehabt. Heute ist leicht zu erkennen, daß sie noch ganz unter der Nachwirkung barocker und repräsentativer Vorstellungen steht, die sich den Boden eines Volkes als eine Art Theaterbühne denken, auf der das Schauspiel der öffentlichen, staatlichen Machtausübung aufgeführt wird. Ne­ ben jener innenpolitisch-polemischen und dieser barock-bühnenhaften Vorstellung wirkt aber als dritter Faktor die positivistisch-naturwissenschaftliche Vorstellung des leeren Raumes als einer ganz allgemeinen, d. h. nicht spezifisch juristischen Kategorie. Alles gegenständlich Wahrnehmbare und daher auch jeder rechtlich be­ deutungsvolle Sachverhalt sind bloße „Erscheinungen“ in den kategorialen For­ men von Raum und Zeit. Der sachliche Kern solcher Raumtheorien und ihrer Be­ weisführung ist immer der gleiche: das Recht ist gesetzlicher Befehl; Befehle kön­ nen sich nur an Menschen wenden; Herrschaft wird nicht über Sachen, sondern nur über Menschen ausgeübt; daher kann staatliche Herrschaft nur personal be­ stimmt sein, und alle raumhaften Bestimmungen sind rechtlich nur deshalb von Bedeutung, weil die von der Norm geregelten Tatbestände, wie alles wahrnehmba­ re Geschehen, räumlich und zeitlich bestimmt sind. Das spezifisch Rechtliche, die konkrete Ordnung, wird dadurch zu einer inhaltlosen Allgemeinform des Erkennens. Zu diesen drei, die Entwicklung juristischer Raumtheorien bestimmenden, teils verfassungsrechtlich, teils naturwissenschaftlich bedingten Faktoren tritt dann ge­ rade hier der jüdische Einfluß als eigenes viertes Moment deutlich hinzu. Jedem, der sich in das Studium des letzten Entwicklungsabschnittes dieser Lehren vom Staatsgebiet vertieft, fällt auf, in welchem Maße jüdische Autoren, deren Meinun­ gen sich sonst auf die entgegengesetztesten Theorien und Richtungen zu verteilen pflegen, hier plötzlich einmütig die Entwicklung zur leeren Raumvorstellung vor­ wärtstreiben. Ich nenne unter den Juristen nur die Namen Rosin, Laband, Jellinek, Nawiasky, Kelsen und seine Schüler, unter den Philosophen und Soziologen Georg Simmel, der jede andere als eine von den beherrschten Menschen her bestimmte Herrschafts- und Gebietsvorstellung für „Nonsens“ erklärte.[58] Das eigentümli­ che Mißverhältnis des jüdischen Volkes zu allem, was Boden, Land und Gebiet angeht, ist in seiner Art politischer Existenz begründet. Die Beziehung eines Vol­ kes zu einem durch eigene Siedlungs- und Kulturarbeit gestalteten Boden und zu den daraus sich ergebenden konkreten Machtformen ist dem Geist des Juden un­ verständlich. Er will sie übrigens auch gar nicht verstehen, sondern nur sich ihrer

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begrifflich bemächtigen, um seine Begriffe an ihre Stelle zu setzen. „Comprendre c’est détruire“, wie ein französischer Jude verraten hat. Diese jüdischen Autoren haben natürlich die bisherige Raumtheorie so wenig geschaffen, wie sie irgend et­ was anderes geschaffen haben. Aber sie waren doch auch hier ein wichtiges Fer­ ment der Auflösung konkreter, raumhaft bestimmter Ordnungen. Im deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum finden sich beachtliche An­ läufe zu einer Überwindung dieses leeren Raumes93. Auch der Begründer einer neuen Wissenschaft vom Raum, Fr. Ratzel, hatte bereits erkannt, daß „Raumfowältigung das Merkmal allen Lebens“ ist94. Aber die umfassende Wirkung und die eigentliche Tiefe neuer Raumvorstellungen kommt doch noch überzeugender zum Bewußtsein, wenn wir auf die Überwindung der bisherigen naturwissenschaftli­ chen, sogenannten klassischen Raumvorstellungen in anderen, insbesondere auch naturwissenschaftlichen Arbeitsgebieten achten. Dann erst tritt die Zeitgebunden­ heit der scheinbar ewigen „klassischen“ Kategorien ins rechte Licht. Die leere, neutrale, mathematisch-naturwissenschaftliche Raumvorstellung hat sich zu Be­ ginn der gegenwärtigen politisch-geschichtlichen wie staats- und völkerrechtlichen Epoche, d. h. im 16. und 17. Jahrhundert durchgesetzt. In verschiedener Weise ha­ ben alle geistigen Strömungen dieser Zeit dazu beigetragen: Renaissance, Refor­ mation, Humanismus und Barock ebenso wie die Veränderung des planetarischen Erd- und Weltbildes durch die Entdeckung Amerikas und durch die Umseglung der Erde, die Veränderungen im astronomischen Weltbild wie die großen mathe­ matischen, mechanistischen und physikalischen Entdeckungen, mit einem Wort al­ les, was Max Weber als „occidentalen Rationalismus“ bezeichnet und dessen Hel­ denzeitalter das 17. Jahrhundert war.[59] Hier setzt sich - in demselben Maße, in dem der Staatsbegriff der allesbeherrschende Ordnungsbegriff des europäischen Kontinents wird - die Vorstellung des leeren Raumes durch, der durch körperliche Gegenstände, durch die Objekte der sinnlichen Wahrnehmung, ausgefüllt wird. In diesen leeren Raum trägt das wahmehmende Subjekt die Objekte seiner Wahrneh­ mung ein, um sie zu „lokalisieren“. In ihm geht durch eine Standpunktänderung die „Bewegung“ vor sich. Ihren philosophischen Höhepunkt erreicht diese Raum­ vorstellung im Apriorismus der Kantischen Philosophie, wo der Raum eine apriori­ sche Form des Erkennens ist. Demgegenüber verdienen die wissenschaftlichen Wandlungen dieser Raumvor­ stellung unsere besondere Beachtung. Die Quantenphysik von Max Planck hebt den Raum auf, indem sie jeden Bewegungsvorgang in die einzelnen, periodischen Materien wellen zerlegt und dadurch zur Wellenmechanik hinführt; nach dieser neuen Mechanik ist jeder einzelne materielle Punkt des Systems zu jeder Zeit in gewissem Sinne an sämtlichen Stellen des ganzen, dem System zur Verfügung ste­ henden Raumes zugleich95. Für unseren neuen, konkreten Raumbegriff noch be93 Das Verdienst des ersten Vorstoßes gebührt hier der Arbeit von Walter Hamei, Das We­ sen des Staatsgebietes, Berlin 1933. 94 Der Lebensraum, a. a. O., S. 114.

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deutungsvoller sind die biologischen Untersuchungen, in denen sich, über die raumaufhebende Problematisierung des Raumbegriffes hinaus, ein anderer Raum­ begriff durchsetzt. Danach geht „Bewegung“ für eine biologische Erkenntnis nicht im bisherigen naturwissenschaftlichen Raum vor sich, sondern es geht umgekehrt die raumzeitliche Gestaltung aus der Bewegung hervor. Für diese biologische Be­ trachtung ist also die Welt nicht im Raum, sondern der Raum in und an der Welt. Das Räumliche wird nur an und in den Gegenständen erzeugt, und die raumzeitli­ chen Ordnungen sind nicht mehr bloße Eintragungen in den vorgegebenen leeren Raum, sondern sie entsprechen vielmehr einer aktuellen Situation, einem Ereignis. Jetzt erst sind die Vorstellungen einer leeren Tiefendimension und einer bloß for­ malen Raumkategorie endgültig überwunden. Der Raum wird zum Leistungsraum. Diese Formulierungen, die ich dem bedeutenden Werk des Heidelberger Biolo­ gen Viktor von Weizsäcker verdanke9596, können auch für unser rechtswissenschaft­ liches Raumproblem fruchtbar werden. Eine allgemeine Bezeichnung „Raum“ bleibt aus Gründen der praktischen Verständigung als gemeinsamer Rahmenbegriff für die verschiedenen Raumvorstellungen verschiedener Zeiten und Völker. Alle heutigen Bemühungen um die Überwindung des „klassischen“, d. h. leeren und neutralen Raumbegriffes aber führen uns auf einen rechtswissenschaftlich wesent­ lichen Zusammenhang, der in großen Zeiten deutscher Rechtsgeschichte lebendig war und den die Auflösung des Rechts in einen staatsbezogenen Gesetzesnormati­ vismus mit aufgelöst hat: auf den Zusammenhang von konkreter Ordnung und Ortung.[60] Der Raum als solcher ist selbstverständlich keine konkrete Ordnung. Wohl aber hat jede konkrete Ordnung und Gemeinschaft spezifische Ort- und Rau­ minhalte. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß jede Rechtseinrichtung, jede Institu­ tion ihren Raumgedanken in sich hat und daher auch ihr inneres Maß und ihre innere Grenze mit sich bringt. So gehören zur Sippe und Familie Haus und Hof. Das Wort „Bauer“ kommt rechtsgeschichtlich nicht von der Tätigkeit des Acker­ baues, sondern von Bau, Gebäude, wie dominus von domus kommt. Stadt heißt Stätte. Mark ist keine Lineargrenze, sondern eine raum-inhaltlich bestimmte Grenzzone. Das „Gut“ ist Träger einer Gutsherrschaft, wie der „Hof ‘ Träger des Hofrechts. Land ist (zum Unterschied z. B. von Wald oder Stadt oder See) der Rechtsverband der landbebauenden und landbeherrschenden Leute in ihrer auch räumlich konkreten Friedensordnung97. Otto von Gierke hat in seiner Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffes98 gezeigt, in welchem Maße die rechtlichen 95 Planck, „Das Weltbild der neuen Physik“, 1929, S. 25 ff. Vgl. dazu den interessanten Aufsatz von Hermann Wein, „Die zwei Formen der Erkenntniskritik“, Blätter für deutsche Philosophie, Band 14, 1940, S. 50. 96 von Weizsäcker, „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahmehmen und Bewe­ gen“, Leipzig 1940; für unseren Zusammenhang besonders wichtig S. 102. [5. A., 1986]. 97 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsge­ schichte Südostdeutschlands im Mittelalter (Veröffentlichungen des Österreichischen Insti­ tuts für Geschichtsforschung), 1939, S. 219. 98 von Gierke, „Das deutsche Genossenschaftsrecht“, II, 1873, S. 575 f.

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Vorstellungen des deutschen Mittelalters primär Raumbegriffe, wie er sich aus­ drückt, »juristisch-qualifizierte, räumlich-dingliche Einheiten“ waren. Das gilt vor allem auch von der „Stadt“. Während im römischen Recht „Civitas“ die aus „Cives“ zusammengesetzte Personenzusammenfassung, also die Bürger, bedeutet, geht das mittelalterliche Wort „civitas“ als Übersetzung von Stadt, Burg oder Wiek von der örtlichen Bedeutung aus, und das lateinische Wort für Bürger heißt dem­ entsprechend manchmal sogar civitatensis statt civis. Ein Wort wie „Frieden“, das seit dem 19. Jahrhundert zu einer teils gefühlsmäßig verschwommenen, teils ge­ danklich abstrakten Bezeichnung geworden ist, lebt im Ordnungsdenken des deut­ schen Mittelalters ebenfalls immer örtlich und dadurch konkret: als Hausfrieden, als Marktfrieden, Burgfrieden, Dingfrieden, Kirchenfrieden, Landfrieden. [61] Im­ mer ist mit der konkreten Ordnung auch eine konkrete Ortung rechtsbegrifflich verbunden. Mit diesen Erwägungen soll hier nun selbstverständlich nicht etwa eine Rück­ kehr zu mittelalterlichen Zuständen empfohlen werden. Wohl aber bedarf es der Überwindung und Beseitigung der raumscheuen Denk- und Vorstellungsweise, die im 19. Jahrhundert zur Herrschaft kam, die heute noch allgemein die juristische Begriffsbildung bestimmt und die, weltpolitisch gesehen, dem landfremden, raumaufhebenden und daher grenzenlosen Universalismus der angelsächsischen Meeresherrschaft zugeordnet ist. Das Meer ist frei im Sinne von staatsfrei, d. h. frei von der einzigen RaumordnungsVorstellung des staatsbezogenen Rechtsdenkens99. Zu Lande aber hat die ausschließliche Staatsbezogenheit des positivistischen Ge­ setzesdenkens eine wunderbare Fülle lebendiger Raumgestaltungen zu einer wah­ ren tabula rasa juristisch applaniert. Was sich im letzten Jahrhundert eine „Raum­ theorie“ nannte, ist das völlige Gegenteil dessen, was wir heute unter Raumdenken verstehen. Der Gedanke des Großraumes dient uns insbesondere dazu, die Mono­ polstellung eines leeren Staatsgebietsbegriffs zu überwinden und verfassungs- wie völkerrechtlich das Reich zum maßgebenden Begriff unseres Rechtsdenkens zu er­ leben. Damit ist eine Erneuerung des Rechtsdenkens überhaupt verbunden, die für alle wichtigen Institutionen den alten und ewigen Zusammenhang von Ordnung und Ortung wieder zu erfassen, dem Worte „Frieden“ wieder einen Inhalt und dem Worte „Heimat“ wieder den Charakter eines artbestimmenden Wesensmerkmals zu geben vermag.

99 Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit vgl. die oben in der Vorbemerkung genannte Abhandlung „Staatliche Souveränität und Freies Meer“ in „Das Reich und Europa“, Leipzig (Koehler und Amelang) 1941, S. 79 f. fvorl. Bd., S. 401 f. - G. M.].

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Anmerkungen des Herausgebers [1] Eine ausführliche Betrachtung u. Bewertung dieser Literatur bei E. Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930 - 1939 - Außenwirtschaftspolitische Konzep­ tionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, 1984; vgl. auch: R. Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 - 1945 (Dokumente), 1977. [2] Der Ausdruck „Verbundwirtschaft“ wird in der deutschen Gesetzessprache wohl zum erstenmal im Vorspruch zum „Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft“ (Energiewirt­ schaftsgesetz) V. 13. 12. 1935 benutzt: „Um . . . einen zweckmäßigen Ausgleich durch Ver­ bundwirtschaft zu fördern . . . “. (RGBl, 1935,1, 16. 12. 1935, S. 1451.) [3] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 75, FN 1 (Entdeckung verleiht nur einen „Inchoate Title“), dabei auch auf den Las Palmas-Streit und das Grönlandurteil v. 1933 hin­ weisend; D. Schenk, Kontiguität als Erwerbstitel im Völkerrecht, 1958, S. 158, meint hinge­ gen, daß die Besetzung von Küstengebieten auch die Okkupation des im Inneren liegenden sogen. Hinterlandes einschließen soll; vgl. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 262. Zur all­ mählichen Erschließung u. Erwerbung des Hinterlandes: F. Schack, Das deutsche Kolonial­ recht in seiner Entwicklung bis zum Weltkriege, 1923, S. 61 ff., 69 ff. Häufig kam es zu Absprachen der Kolonialmächte über Abgrenzungen in noch zu erschließenden Gebieten und zu Nichteinmischungszusagen; vgl. etwa den dt.-engl. Vertrag über ost- u. westafrikanische Gebiete (in dem zugleich Helgoland an das Deutsche Reich abgetreten wurde) v. 1.7. 1890, in: Martens / Stoerk, Nouveau Recueil général de Traités. Deuxième série, tome XVI, 1891, S. 894 - 905. Vgl. auch: Fr. Giese, Zur Rechtslage in staatlosem Landgebiet - Ein Beitrag zur völkerrechtlichen Gebietslehre, AöR, 1938, S. 310 - 360, bes. S. 351 ff. - Die Theorie von der Kontiguität (diese definierbar als „Anspruch der Staaten auf Einverleibung jener Gebiete . . ., die mit den von ihnen bereits besetzten Gebieten in einem natürlichen Zusammenhang stehen“, so Grewe) ist völkerrechtlich stark umstritten; Kelsen, Contiguity as a title to territo­ rial sovereignty, FS Wehberg, 1956, 200 ff., schreibt: „ . . . contiguity by its very nature is incompatible with any limitation.“ (203.) Vgl. dazu die Entscheidung des Schweizer Völker­ rechtlers Max Huber im berühmten Fall der Insel Palmas (bzw. Miangas) 1928. Huber sprach die Insel (zwischen den Philippinen u. Indonesien) den Niederlanden zu und verwarf die An­ sprüche der USA. Die Insel hätte lange Zeit unter niederländischer Suzeränität gestanden; das wöge schwerer als die Entdeckung durch Spanien (der keine effektive Okkupation folgte), die Anerkennung der span. Ansprüche durch die Niederlande 1648 u. 1714, die Ab­ tretung der Philippinen durch die Spanier 1898 und die Kontiguität (von den Philippinen aus gesehen); zu diesem berühmten Fall vgl. u. a.: de Visscher, L’arbitrage de file de Palmas (Miangas), RDILC, 1929, 735 ff.; Fuglsang, Der amerikanisch-holländische Streit um die Insel Palmas vor dem Ständigen Schiedshof im Haag, 1931; Fisch, Die europäische Expansi­ on u. das Völkerrecht, 1984, 436 ff. - Die Ablehnung der Kontiguitätstheorie wird heute wie­ der fraglich, vgl. Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, 736 ff. Die mit der Konti­ guität zusammenhängenden Fragen der „Anschlußzonen“ o. „angrenzenden Gebiete“ sind, trotz o. wegen der wirtschaftl. Bedeutung des Festlandssockels und der Auseinandersetzun­ gen um den Umfang der Fischerei-, Zoll-, Wirtschaftszonengrenzen usw. bisher kaum genü­ gend geklärt; vgl. etwa: Gidel, Le Droit international public de la mer, II, 1960, 63 ff.; Rü­ ster, Die Rechtsordnung des Festlandssockels, 1977; Lowe, The development of the concept of the contigous zone, BYIL, 1981, 109 ff. - Das Sektorenprinzip ist völkerrechtlich nicht haltbar, vgl. Strupp-Schlochauer, a. a. Ο., III, 248 ff.; v. Münch, VÖlkerrechtsfragen d. Ant­ arktis, AVR, 1958/59, 225 ff. !\

S in ai, (iin llr n m n . N o m u s

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

[4] Die Idee der natürl. Grenzen, bereits v. Bodin erörtert, wurde im Frankreich d. 18. Jahrhunderts sowohl zur Begründung einer Politik der Mäßigung als auch - weit häufiger zur Rechtfertigung des eigenen Expansionsstrebens benutzt (wobei das linke Rheinufer als „natürliche“ Grenze Frankreichs angesehen wurde, so u. a. von Danton u. Brissot). Die fran­ zösische Rheinpolitik fand hier bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Motiv. Vgl. dazu: L. Rhenius. Die Idee der natürl. Grenzen u. d. französ. Revolution 1793 - 1815, Diss. Jena 1918; A. Schulte, Frankreich u. das linke Rheinufer, 1918; H. Oncken, Die historische Rheinpolitik der Franzosen, 1922; H. Stegemann, Der Kampf um den Rhein, 1924, bes. S. 461 ff.; Fr. Grimm, Frankreich am Rhein. Rheinlandbesetzung u. Separatismus im Lichte der histori­ schen französischen Rheinpolitik, 1931; Zeller, Histoire d’une idée fausse, Revue de Syn­ thèse historique, 1936, 115 ff. ; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 374 ff.; M. Foucher, L’invention des frontières, Paris 1986, Etudes de Défense Nationale, S. 129 136; H. D. Schultz, Pax Geographica - Räumliche Konzepte für Krieg und Frieden in der geographischen Tradition, Geograph. Zeitschrift, 1987, H. 1, S. 1 - 22. - Fichte, Der geschloßne Handelsstaat (1800), Ausg. 1979, S. 94 ff., behauptete, daß „gewisse Teile“ der Er­ de „sichtbar von der Natur bestimmt“ seien, „politische Ganze“ zu bilden. Befänden sich mehrere Staaten auf dem Boden eines solchen durch „Flüsse, Meere“ und „unzugängliche Gebirge von der übrigen Erde abgesonderten Gebietes“, so stünden sie „in natürlichem Krie­ ge“ miteinander. Wolle man diesen aufheben, so gehöre „der Grund der Kriege“ beseitigt; jeder Staat solle „erhalten, was er durch Kriege zu erhalten“ beabsichtige, freilich vernünfti­ gerweise allein beabsichtigen könne: „seine natürlichen Grenzen“; zur Kritik: Gentz, Über den ewigen Frieden (1800), in: v. Raumer, Ewiger Friede, 1953, 461 ff. Ähnlich wie Fichte argumentierte z. T. Heinrich Dietrich v. Bülow, Geist des neuem Kriegssystems, 3. Aufl., Hamburg 1837, S. 201 f., wonach natürliche Grenzen dauernden Frieden verbürgen, Staaten ohne natürliche Grenzen dauerndem Kriege ausgesetzt seien. - Die Unklarheiten des Begriffs erörtert: Ratzel, Politische Geographie, 3. Aufl. 1923, 404 ff. (der die Vogesen für die natürl. Grenzen Frankreichs hält und dessen frühe Staatswerdung damit erklärt, daß hier „die Natur der grenzziehenden Thätigkeit“ entgegenkam; dazu auch ders., Anthropogeographie, 2. Aufl., I, 1899, 263). Ratzel weist aber auch auf die Nützlichkeit des Begriffs bei Grenzziehungen hin; vgl. auch: Menzel / Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, 152 f. Vgl. auch: Th. Arldt, Natür­ liche Grenzen u. staatliche Brückenköpfe, ZfP, 1916. S. 545 - 555 u. J. Solch, Die Auffassung der „natürlichen Grenzen“ in der wissenschaftlichen Geographie, Innsbruck 1924. [5] Die Idee, durch gerechte Umverteilung von Lebensräumen Kriege und wirtschaftli­ chen Unfrieden zu verhindern, ist in der Geopolitik der 20er bis 40er Jahre präsent; nicht zuletzt bei ihrem Hauptvertreter Karl Haushofer. H. dachte u. a. an ein „Grundbuch des Pla­ neten“, das alle „Grundlagen Leben erhaltender Fähigkeit“ (Bodenfruchtbarkeit, -schätze, Ernte- und Tierhaltungsmöglichkeiten, Bewohnbarkeit usw.) erfassen sollte, um die optimale Volksmenge für bestimmte Räume zu ermitteln. Die „Inhaber des Raumüberschusses“, so H’s recht a-politische Hoffnung, würden dann einsehen, daß sie Konzessionen weit „billiger“ kämen als „neuer Krieg und neuer Wirtschaftsdruck“ ; zit. nach: H. A. Jacobsen (Hrsg.), Karl Haushofer - Leben und Werk, I, 1979, S. 489 f., vgl. auch: O. Aust, Die vernunftwidrige Verteilung des Erdballs und Weltreichtums, Volksrecht, 22. 5. - 11. 6. 1929. Das Konzept, sozusagen die friedliche Alternative zum sonst notwendigen Krieg um Lebensraum, wurde von H. noch einmal unterstrichen in s. „Apologie der deutschen Geopolitik“, Nov. 1945, abgedr. in: E. A. Walsh, Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland, 1946, S. 7 ff.; auch im o. a. Band Jacobsens, S. 639 ff. H. kam hier zu dem Schluß, „daß eine international im lebendigsten Gedankenverkehr. . . aufgebaute Geopolitik eines der besten Mittel zur Vermei­ dung künftiger Weltkatastrophen sein würde.“ Vgl. auch: F. Ebeling, Die deutsche Geopolitik

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in den Jahren 1924 - 1945, Ms. 1991, S. 80 ff. - Von Kontakten zwischen Schmitt und Haus­ hofer ist nichts bekannt; der wohl einzige Versuch, ihre Thesen in einen Zusammenhang zu bringen, stammt von Lode Claes, Levensruimte en ruimteordening bij Karl Haushofer en Carl Schmitt, Rechtskundig Weekblad (Antwerpen), 29. 10. 1939, Sp. 225 - 232; später E. Konau, Raum u. soz. Handeln, 1977, S. 89 - 97. Haushofer weist in s. Werk wohl nur einmal auf d. „Großraumordnung“ Schmitts hin: ZfG, 3/1940, S. 151. [6] Stresemann wollte mit dem Vertragswerk v. Locarno, auch „Westpakt“, „Sicherheits­ pakt“ o. „Rheinpakt“ genannt, die Räumung d. Rheinlande, die Revision d. Versailler Dikta­ tes u. die Beendigung d. Reparationen befördern. Das Vertragswerk vom 16. 10. 1925 (Text in: Bruns / v. Gretschaninow, Polit. Verträge, I, 1936, S. 158 ff.; Materialien in: La Société des Nations, Jahrgänge 1925 / 26; K. Strupp, Das Werk von Locarno, 1926, S. 123 ff.; F. Berber, Locarno. Eine Dokumentensammlung, 1936; vgl. auch: Der Locarnopakt. Gesetz über die Verträge von Locarno und den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund vom 28. November 1925, eingeleitet v. Viktor Bruns, 1936) enthielt u. a. eine Garantie der in Versail­ les gezogenen Grenzen u. beinhaltete einen Nichtangriffspakt. Die vertragschließenden Par­ teien (Belgien, Deutschland, Frankreich und die Garantiemächte Großbritannien und Italien) unterwarfen sich darin bei Streitfällen einer internat. Gerichtsbarkeit. Der bedeutendste Man­ gel d. Vertrages, der angeblich „volle Parität“ für Deutschland brachte, lag in d. einseitigen Aufrechterhaltung d. entmilitarisierten Zone (vgl. u. a.: Schmitt, Völkerrechtl. Probleme i. Rheingebiet, Rhein. Beobachter, VII / 1928, S. 340 ff.; v. Mandelsloh, Polit. Pakte und völ­ kerrechtliche Ordnung, 1937, bes. S. 27 ff.). Pikanterweise erklärte Briand am 8. 11. 1929 vor der französischen Kammer u. am 21. 12. 1929 vor dem Senat, „daß die von ihm Deutsch­ land ggü. eingeleitete Taktik d. Verständigung sicherer zum Ziele führe als die von seinen Vorgängern angewandte Methode der Drohung u. Vergewaltigung. Man könne . . . ein großes Volk für die Dauer nicht unter Zwang halten. Man müsse es vielmehr dazu bewegen, daß es sich mit seiner neuen Lage abfinde u. aus freiem Willen den ihm auferlegten Beschränkun­ gen zustimme. Gerade das sei jetzt gelungen. Der Versailler Vertrag sei nicht erschüttert. Er sei durch Locarno und Genf neu gefestigt, und die Lücken, die er ursprünglich enthielt, seien mit Deutschlands Zustimmung ausgefüllt.“ (A. Frhr. v. Freytagh- Loringhoven, Deutschlands Außenpolitik 1933 - 1941, 10. Aufl. 1942, S. 323 f.) - Durch Frankreichs Desinteresse an der im Art. 8 der VB-Satzung geforderten allgem. Abrüstung u. durch das auf der Zweiten Haa­ ger Konferenz zur Verabschiedung des Young-Plans (3. - 20. 1. 1930) mit Einschränkungen bestätigte Interventionsrecht bei Nichterfüllung der deutschen Verbindlichkeiten (dazu: Hu­ ber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 708 ff.) war die Substanz des Vertrages rasch beschädigt; entscheidend war schließlich der französisch-sowjetische Beistandspakt v. 2. 5. 1935 als ein gegen Deutschland gerichtetes Militärbündnis (Text in: Berber, Locarno, a. a. O., S. 112 - 120, mit versch. Materialien). Deutschland kündigte daraufhin den Locamovertrag u. ließ am gl. Tage Truppen in das Rheinland einmarschieren. Vgl. u. a.: v. Westarp, Locarno, 1925; Wehberg, Der Sicherheitspakt, 1926; Grigg, The merits and defects of the Locarno Treaty, Internat. Affairs, 1935, S. 176 ff.; G. Scelle, Rechtmäßigkeit des franzö­ sisch-russischen Pakts, Völkerbund u. Völkerrecht, Juli 1935, S. 222 - 227, mit der anschlie­ ßenden Replik v. Freytagh-Loringhoven, S. 227 - 232; Berber, Das Ende v. Locarno, Hamb. Monatshefte f. Ausw. Politik, 1936, S. 103 ff.; v. Freytagh-Loringhoven, Die Regionalverträge, 1937, S. 59 ff.; Barandon, D. System d. polit. Staatsverträge seit 1918, 1937, S. 145 ff.; W. Wache, System der Pakte. Die polit. Verträge d. Nachkriegszeit, 1937, S. 73 - 83, 148 155; Eyck, Geschichte d. Weimarer Republik, II, 1959, S. 11 ff.; Huber, op. cit., S. 372 ff.; Rößler / Hölzle (Hrsg.), Locarno u. die Weltpolitik 1924 - 1932, 1969. Zur „Sprengung der

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Locarno-Gemeinschaft durch Einschaltung der Sowjets“ vgl. d. Aufsatz v. Schmitt, DJZ, 15. 3. 1936, S. 337 ff.; ausführl. Literaturangaben bei: v. Mandelsloh, op. cit., S. 23, 47. [7] Der vollständige Text der überwiegend vom damaligen US- Außenminister u. späteren Präsidenten John Quincy Adams (1767 - 1848) redigierten Doktrin in: I. Elliot, James Mon­ roe 1758 - 1831. Chronology-Documents-Bibliographical Aids, New York 1969, S. 58 - 70; vgl. auch die Auszüge bei: Schmitt, Das polit. Problem d. Friedenssicherung, 3. Aufl. 1993, S. 4 ff. - Die Literatur über die Doktrin u. ihre Wandlungen ist kaum noch überschaubar, zusätzl. zu den von Schmitt in seinen Fußnoten genannten Werken scheinen erwähnenswert: M. D. de Beaumarchais, La doctrine de Monroe, deuxième édition, Paris 1898; H. Pétin, Les États-Unis et la doctrine de Monroë, Paris 1900; A. B. Hart, The Monroe Doctrine. An Inter­ pretation, Boston 1916; E. Quesada, La doctrina de Monroe - su evoluciôn historica, Buenos Aires 1920; S. Plânas-Suârez, La doctrina de Monroe y la doctrina de Bolivar, La Habana 1924, bes. S. 37 - 69; ders., L’extension de la doctrine de Monroe en Amérique du Sud, RdC, 1924 / IV, S. 271 - 365; C. Barda Trelles, La doctrine de Monroe dans son développement historique, particulièrement en ce qui concerne les relations interaméricaines, RdC, 1930 / II, S. 397 - 605 (kritisiert d. Wandel d. Doktrin von einer anti-interventionist. Schutzerklärung zu einer Doktrin der interamerikanischen Intervention); ders., Doctrina de Monroe y coopera­ tion intemacional, Madrid 1931 (die Doktrin behindere die internationale Zusammenarbeit ebenso wie die inter- amerikanische Solidarität); J. A. Kasson, History of the Monroe-Doctrin, New York 1932; E. H. Tatum, The United States and Europe 1815 - 1823; a study in the background of the Monroe doctrine, Berkeley, Cal., 1936; F. Faâ di Bruno, La dottrina di Monroe e la politica degli Stati Uniti, Alessandria 1936; H. van Buuren, The Monroe Doc­ trine and Manifest Destiny, The Hague 1958 (die Doktrin war von Anfang an „unilateral“ gedacht, um die Neue Welt der US-Expansion zu reservieren); ähnlich kritisch: F. Merk, La doctrina de Monroë y el expansionismo norteamericano, 1843 - 1849, Buenos Aires 1968. Auch F. Berber, Der Mythos der Monroe- Doktrin, 1943, sieht die Anfänge skeptischer als Schmitt. Zur lateinamerik. Kritik an d. Doktrin sei hier auf die zahllosen Belege bei Barda Trelles, La doctrine de Monroë ..., o. a., hingewiesen; mit der schönen Bemerkung d. Außen­ ministers v. El Salvador v. 14. 12. 1919: „... la doctrine de Monroë est une espèce d’encyclique nord-américaine que seule le Pontife de Washington peut interpréter“ (S. 535). Vgl. a. W. S. Robertson, Hispanic-american Appreciation of the Monroe Doctrine, in: Hispa­ nic American Historical Review, 3/1920, S. 1 - 16; vgl. a.: K. Weege, Panamerikanismus u. Monroedoktrin, Diss. Kiel 1939. Zu den verschiedenen Konjunkturen der Doktrin - inter­ amerikanische Solidarität, US-Hegemonie, „Kontinentalisierung“ u. „Multilateralisierung“, vgl.: J. Quijano-Caballero, Grenzen der panamerikanischen Solidarität, Monatshefte f. Ausw. Politik, 3 / 1941, S. 194 - 204; zur Doktrin als „Instrument der Mission“ vgl. K. Krakau, Missionsbewußtsein u. Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1967, S. 274 ff. - D. Perkins, A history of the Monroe Doctrine, London 1960, unterscheidet drei Phasen: eine defensiv-isolationistische, eine imperialistische und eine der „Good Neighbour Policy“ (ab 1930); H. Lufft, Von Washington zu Roosevelt. Geschichte der amerikanischen Aussenpolitik, 1944, S. 195 - 222, unterscheidet sogar acht verschiedene „Etappen“ der Dok­ trin: 1) Zurückhaltung (bis 1848), 2) als Waffe gg. England (1846 - 60), 3) zur Abwehr europ. Übergreifens (1865 - 1900), 4) „Polizeiknüppel“-Auslegung durch Th. Roosevelt (1901 09), 5) als Argument zu wirtschaftl. Zwangsvollstreckungsmethoden (1909 - 13), 6) als „Moral“ (Wilson, 1913 - 1921), 7) als „Gutnachbarschaftsmotiv“ (seit 1921), 8) als Wunsch, gemeinsam mit anderen amerik. Nationen, aber bei klarer Hegemonie der USA, zu handeln. Die zuletzt genannte Etappe beginnt um 1930 mit dem vom u.s.- amerikanischen Unterstaats-

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Sekretär J. Reuben Clarke im Aufträge Kelloggs verfaßten „Memorandum on the Monroe Doctrine“, Washington 1930, Dept, of State, Publ. Nr. 37. Hier wird auf die Beibehaltung d. Doktrin verzichtet; an deren Stelle tritt ein unbegrenztes Selbstverteidigungs- u. Selbsterhal­ tungsrecht, dessen Interpretation sich die USA reservieren. Damit entfallen einerseits alle Probleme einer evtl. Inkompatibilität zw. der Doktrin mit dem Völkerbund und dem Kelloggpakt, andererseits waren alle defensiven Momente der Doktrin endgültig getilgt; vgl. a. H. Roemer, Das Clarksche Memorandum über die Monroe-Doktrin. Sinn und Auswirkung, ZfP, 1931, S. 590 - 606. Die weiteren Mutationen der Doktrin vor dem Beginn des II. Weltkrieges erörtert u. a. H. Rogge, Monroe-Doktrin und Weltordnung, Geist der Zeit, Mai 1939, S. 381 ff. u. ders., Wandlungen der Monroe- Doktrin, ebd., Juni 1939, S. 452 ff.; D. Perkins, Bringing the Monroe Doctrine up to date, Foreign Affairs, Jan. 1942, S. 253 - 265, behauptete, daß „the Monroe Doctrine has not been, is not, and ought not to be, a cover for a policy of isola­ tion, or a justification of that myopic sense of national interest which assumes that the Ame­ ricas lie not merely in another hemisphere from Europe or Asia, but in another world, and that they remain unaffected by the tragic and, in some mesure, inscrutable events unfolding on the other side of the two great oceans.“ (S. 265.) Zur Doktrin nach 1945: K. Krakau, Die kubanische Revolution u. die Monroe-Doktrin, 1968; Gaddis Smith, The last years of the Monroe Doctrine (1945-1993), New York 1994. Vgl. auch FN [14]. [8] In einem Interview v. 18. 5. 1898 erklärte Bismarck: „You in the United States are like the English in that respect: You have profited for ages from dissensions and ambitions on the continent of Europe. That insolent dogma, which no single European power has ever sanctio­ ned, had flourished on them .. . . The Monroe Doctrine is a spectre that would vanish in plain daylight. Besided, the American interpretation of this presumtuos idea has itself varied con­ stantly.“ (Nach W. v. Schierbrand, Germany - the Welding of a World Power, 1903, S. 352 f.) Vgl. auch Bismarcks Aufsatz „Amerikanische Selbstüberschätzung“ (zuerst in den Hambur­ ger Nachrichten v. 9. 2. 1896), in: Bismarck-Jahrbuch, III, 1896, S. 569 f. - Ausführlich A. Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, London 1935, Bd. II, S. 1636-1814, „Deutschland und die Monroedoktrin“. [9] In neueren Handbüchern, etwa Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, u. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, sucht man das Stichwort „Monroe-Doktrin“ im Register vergebens! - Was den „rechtlichen“ Charakter d. Doktrin angeht, so kommt H. Kraus, Die Monroedoktrin in ihren Beziehungen zur amerikanischen Diplomatie und zum Völkerrecht, 1913, zu dem Schluß: „Die Monroedoktrin ist insoweit völkerrechtswidrig, als sie die gewaltsame Verhinderung eines berechtigten Zuwachses der politischen Macht nichtamerikanischer Staaten in Amerika durch die Vereinigten Staaten auch in solchen Fällen an­ droht, wo deren Eingreifen nicht zur Abwehr einer ihrem unverletzten Bestände drohenden unmittelbaren Gefahr erforderlich erscheint.“ (S. 400.) [10] Der Art. 21 lautete: „Internationale Abreden wie Schiedsgerichtsverträge und Ver­ einbarungen über bestimmte Gebiete wie die Monroedoktrin, die die Erhaltung des Friedens sichern, gelten nicht als unvereinbar mit einer der Bestimmungen der gegenwärtigen Sat­ zung“. - Die Formulierung ist irreführend, da es sich bei d. Monroedoktrin nicht um eine „Vereinbarung“, sondern um eine einseitige Erklärung handelte. Zur Entstehung d. Art. 21 u. d. Monroevorbehaltes, der durch den Druck d. Senates auf Wilson zustandekam, vgl. u. a.: E. Roig de Leuchsenring, La Doctrina de Monroe y el Pacto de la Liga de las Naciones, La Habana 1921; Schücking / Wehberg, Die Satzung des VB, 2. Aufl. 1924, S. 669 - 87; v. Freytagh-Loringhoven, Die Satzung d. VB, 1926, S. 221 - 25; D. H. Miller, The Drafting of

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the Covenant, 2 Bde., New York 1928 (Bd. I, S. 443 - 50; Bd. II, S. 369 ff.); J- Spencer, The Monroe Doctrine and the League Covenant, AJIL, 1936, S. 400 - 413; O. Göppert, Der VB Organisation u. Tätigkeit des VB, 1938, S. 56 ff.; K. R. Spillmann, Völkerbund vs. MonroeDoktrin - Ideologische Hintergründe der amerikanischen Ablehnung des Völkerbundes, GWU, 8 / 1972, S. 450 - 61. - L. Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin“, 1962, S. 56 ff., behauptet, daß die „ur­ sprüngliche“ Monroe-Doktrin, von der auch Wilson ausgegangen sei (? - G. M.), mit der VB-Satzung vereinbar wäre. Tatsächlich hatte Wilson am 10. 4. 1919 die Frage d. brasiliani­ schen VB-Vertreters Reis, ob die Monroe-Doktrin eine Aktion d. VB gg. einen amerikani­ schen Staat ausschließen würde, verneint u. erklärt, daß, weil die VB-Satzung die politische u. territoriale Integrität ihrer Mitglieder fordere, sie im Grunde den höchsten Tribut darstelle, der an die Monroe-Doktrin gezahlt werden könne. „Er nähme die Monroedoktrin als eine Weltdoktrin an. Seine Kollegen in Amerika hätten ihn gefragt, ob der Völkerbund die Mon­ roedoktrin vernichten würde. Er hätte ihnen geantwortet, daß der VB lediglich eine Bekräfti­ gung u. Erweiterung d. Monroedoktrin bedeute.“ (W. Schücking / H. Wehberg, a. a. O., S. 671.) Doch auch Gruchmann konzediert, daß die „durch verschiedene corollaries“ im Sinne einer Vorherrschaft d. USA mit Interventionsanspruch i. Lateinamerika ergänzte impe­ rialistisch verfälschte Monroe Doctrine . . . mit der Völkerbundsatzung unvereinbar (sei)“ (a. a. O., S. 57). In der VB-Kommission wurden die Forderungen nach einer Definition d. Doktrin von d. USA strikt abgelehnt, vgl. Schücking / Wehberg, a. a. O.; Spencer, a. a. Ο., S. 407 ff. [11] Unter dem Begriff „Caribbean Doctrine“ werden gelegentlich die bes. Interessen der USA in der Karibik zusammengefaßt. US-Außenminister Robert Lansing (1864 - 1928) führte 1915 in einem für Präsident Wilson bestimmten Memorandum aus, daß es sich bei der Monroe-Doktrin um „a definite Caribbean policy“ der USA handele und daß „es insbesonde­ re seit der Konstruktion des Panamakanals für die USA von vitalem Interesse sei, daß keiner der Staaten des karibischen Raumes unter die Kontrolle einer europäischen Macht gerate“ und die USA „auch eine indirekte Kontrolle der Staaten infolge finanzieller Abhängigkeit nicht dulden könnten“, so: D. Ahrens, Der Karibische Raum als Interessensphäre der Verei­ nigten Staaten, 1965, S. 65; dort auch ausführl. Literaturhinweise. Vgl. u. a. auch: Ch. L. Jones, Caribbean interests of the United States, New York 1931; E. R. Me Lean, The Carib­ bean: An American Lake, US Naval Institute 1941 ; W. Hardy Callcott, The Caribbean Policy of the United States 189 - 1920, Baltimore 1942; Dexter Perkins, The United States and the Caribbean, Cambridge, Mass. 1947; D. G. Munro, Intervention and dollar diplomacy in the Caribbean 1900 - 1921, Princeton, New Jersey 1964; R. R. Doerris, Amerikanische Außen­ politik im karibischen Raum vor d. Ersten Weltkrieg, Amerikastudien 1973, S. 62 - 82; E. Mayntz Valenilla, El Caribe: un mar entre dos mundos, Caracas 1978. Die Situation z. Zt. von Schmitts „Großraumordnung“ untersucht: U. Scheuner, Die Machtstellung d. Vereinigten Staaten in Zentralamerika, ZAkDR, 1940, S. 309 - 311. - Allgem. z. polit. Geographie und zum Völkerrechtsproblem: R. Glusa, Zur polit. Geographie Westindiens, Diss. Münster 1962; J. P. L. Fonteyne, The Caribbean Sea: Value and Options in the Light of changing Internatio­ nal Law, in: V. A. Lewis (ed.), Size, Self-Determination and International Relations: The Caribbean, Kingston 1976, S. 264 - 284; Sandner, Politisch-geographische Raumstrukturen und Geopolitik im karibischen Raum, Geograph. Zeitschrift, 1/1981, S. 34 - 56. [12] „As the policy embodied in the Monroe-Doctrine is distinctively the policy of the United States, the Government of the United States reserves to itself its definition, interpreta­ tion, and application“, so Ch. E. Hughes, Observations on the Monroe Doctrine, AJIL, 1923,

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S. 611 - 28, hier S. 616. Vgl. von ihm auch: The Centenary of the Monroe Doctrine, Interna­ tional Conciliation, 1924, S. 3 - 22. [13] Zu dem „russischen Aspekt“ der Doktrin: D. Perkins, The Monroe Doctrine 1823 1826, Cambridge, Mass. 1927, S. 3 - 39, 70 - 74, 78 ff., 126 - 135, 172 - 178, 228 - 260; H. Mueller, Rußland, Amerika und die Monroe-Doktrin, Zeitschrift f. Geopolitik, 8 / 1952, S. 453 - 57; E. Hölzle, Rußland und Amerika - Aufbruch und Begegnung zweier Welt­ mächte, 1953, S. 81 ff., 116 - 123; ders., Geschichte der zweigeteilten Welt - Amerika und Rußland, 1961, S. 37 ff., 42 f. [14] Schon 1896 deutete Th. Roosevelt die Monroe-Doktrin um in eine die US-Suprematie in Lateinamerika fordernde Lehre, vgl. Roosevelt, The Monroe Doctrine (zuerst 1896), in: ders., The Works, XIII, New York 1926, S. 168-81. Am 6. 12. 1904 erklärte er anläßlich der deutsch-engl.-ital. Intervention in Venezuela, daß „die Anhängerschaft der Vereinigten Staa­ ten an die Monroe-Doktrin . . . sie in der westl. Hemisphäre . . . dazu zwingen mag, in fla­ granten Fällen . . . eine internationale Polizeigewalt auszuüben.“ (zit. nach Kraus, Die Mon­ roedoktrin, 1912, S. 225 f.; vgl. dazu H. Lufft, Von Washington zu Roosevelt. Geschichte d. amerikanischen Aussenpolitik, 1944, S. 203 ff.; E. Angermann, Ein Wendepunkt in d. Ge­ schichte d. Monroe-Doktrin u. d. deutsch-amerikanischen Beziehungen. Die VenezuelaKrise im Spiegel der amerikanischen Presse, Jb. f. Amerikastudien, 1958, S. 22 - 58). Bei zahlreichen Gelegenheiten (u. a. Cuba 1902, Besetzung d. dominikanischen Zollhäuser durch US-Beamte zwecks Schuldenregulierung 1904 / 07) konnte R. seine Umdeutung d. Doktrin bekräftigen; mit seiner Philippinen-Politik ging er über sie hinaus. Vgl. auch: D. Perkins, The Monroe Doctrine, III, Baltimore 1938, passim; S. Richard, Théodore Roosevelt, Princi­ pes et pratique d’une politique étrangère, Aix en Provence 1991, S. 64 - 70, 211 - 30, 313 22. Ähnlich wie Roosevelt argumentierte Mahan in s. Plaidoyer zugunsten ständiger Inter­ ventionen in Lateinamerika, um dort politisch u. finanziell „ordentliche“ Verhältnisse zu ga­ rantieren u. so europäische Eingriffe zu verhindern: Mahan, The Monroe Doctrine (zuerst 1902), in: ders., Naval administration and warfare, London 1908, S. 347 - 410. - Die beiden wichtigsten vorhergehenden Neufassungen d. Doktrin sind die Botschaft des Präsidenten Ja­ mes Polk vom 2. 12. 1845 und d. „corollary“ des Außenministers Olney v. 20. 6. 1895. Polk hatte anläßlich d. „Oregon-Streites“ mit England erklärt, daß keine Kolonien von einem europ. Staat auf einen anderen übergehen dürfte, daß also Canada (und damit England) keine von den Spaniern im damaligen Oregon (= damals das Land zwischen Kalifornien u. Alaska) besessenen Gebiete übernehmen dürfe. Zum bisherigen Verbot der Neukolonisation trat so das Verbot der Weitergabe alter Kolonien. Polk wollte derart eine englisch-mexikanische Kombination verhindern, durch die die USA vom Pazifik abgedrängt worden wären; dazu u. a. H. Lufft, Von Washington zu Roosevelt. Geschichte der amerik. Außenpolitik, 1944, S. 92 - 98. Der drohende Krieg mit England wurde durch einen Kompromiß vermieden, so daß die USA freie Hand ggü. Mexiko erhielten. - Olney schließlich verlangte in einer Note an den brit. Botschafter Bayard anläßlich d. brit.-venezolanischen Grenzstreites die Etablie­ rung eines Schiedsgerichts, um festzustellen, ob Großbritannien sich unter Verletzung der jetzt als rechtliche Norm verstandenen Doktrin amerikanische Territorien aneignen wolle; er gelangte zu der Behauptung eines unbedingten kontinentalen Interventionsrechts der USA und verstieg sich zu der Erklärung: „To-day the United States is practically sovereign on this continent, and its fiat is law upon the subjects to which it confines its interposition.“ Vgl. Link / Leary, Jr., eds., The Diplomacy of World Power, Edinburgh 1970, S. 51 ff. und die betr. Dokumente bei Kraus, op. cit., S. 424 ff. und bei Berber, wie FN [7], S. 51 ff.; zu den verschiedenen „corollarys“ Kraus, S. 80 ff., 142 ff., 171 ff., 217 ff., 252 ff. Von bes. Reiz sind

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hier die detaillierten Untersuchungen zweier Zeitzeugen. M. D. de Beaumarchais, La Doc­ trine de Monroe: L’évolution de la politique des États-unis au XIXe siècle, Paris 1898, Deu­ xième édition, revue et augmentée, S. 111 - 140, arbeitet die Absicht der USA, „un gigantes­ que protectorat“ über Lateinamerika zu errichten, klar heraus (S. 119 ff.); H. Pétin, Les Étatsunis et la doctrine de Monroe, Paris 1900, S. 211 - 237, betont scharf die Inkompatibilität der Vorstellungen Olneys mit der „Ur“-Doktrin v. 1823 und weist auf u.s.-amerikanische Kritiker Olneys hin, die dessen Konzeption als eine „slaveholder Monroe Doctrine“ (S. 236) brand­ markten. De Beaumarchais faßt seine Darstellung der zahlreichen Neuinterpretationen d. Doktrin ab 1850 u. d. T. „La Doctrine Monroë: „seconde manière“, S. 96 ff., zusammen, Pétin spricht von „Extensibilité“, S. 73 ff. - Vgl. a.: G. B. Young, Intervention and the Mon­ roe Doctrine: The Olney Corollary, Political Science Quarterly, 1942, S. 247 - 280. - Die erstaunlichste „Umdeutung“ erfolgte im Zweiten Weltkrieg, als die USA am 9. 4. 1941 einen „Vertrag“ über die „Verteidigung Grönlands“ mit dem dazu nicht autorisierten dänischen Ge­ sandten de Kauffmann abgeschlossen und Grönland dabei als Teil der westlichen Hemisphä­ re, der der Monroe-Doktrin unterliege, definierten. Dazu u. a.: Grewe, Der Grönland-“Vertrag“ von Washington, Monatshefte f. Ausw. Politik, 5 / 1941,S. 428 ff.; ebd., S. 449 ff. (Do­ kumente); Smedal, Grönland und die Monroe-Doktrin, ebd., 7 / 1941, S. 521 ff.; H. W. Briggs, AJIL, Juli 1941, S. 506 ff. [15] Das Schlagwort „Dollar Diplomacy“ war bes. während der Regierung W. H. Taft (1909 - 13) beliebt, wurde danach aber allgemein für die Politik der Herstellung finanz. u. wirtschaftl. Abhängigkeit verwandt. Vgl. auch das berühmte Buch von S. Nearing / J. Free­ man, Dollar Diplomacy, 1926; dt. mit einer Einführung von Karl Haushofer 1927. [161 Zu diesem nicht nur von Admiral Mahan propagierten Zusammengehen u. a.: Ch. S. Campbell, Anglo-American Understanding, 1898 - 1903, Baltimore 1903; L. M. Gelber, The Rise of Anglo-American Friendship - A Study in World Politics, 1898 - 1906, London 1938; B. Perkins, The Great Rapprochement - England and the United States, 1895 - 1914, New York 1968; St. Anderson, Race and Rapprochement - Anglo-Saxonism and Anglo-American Relations, 1895 - 1904, Rutherford, N. J. 1981, H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II, 1982, S. 110 ff. [17] Der Vicomte Kentaro Kaneko, Finanzberater d. japan. Regierung, war Kommilitone Roosevelts in Harvard u. blieb mit ihm freundschaftlich verbunden, vgl. Roosevelts Briefe an ihn in: Th. Roosevelt, The Letters, 8 Bde., Cambridge, Mass., 1951 - 54; z. B. v. 22. 8. 1905 (IV, S. 1308 f.), 26. 10. 1906 (V, S. 473); 3. 5. 1907 (V, S. 671 f.). - Die Beziehungen zw. den USA u. Japan waren nach dem Ende der russ.-japan. Krieges ambivalent, nicht zuletzt wg. der unterschiedlichen Interpretationen d. „open-door-policy“ betreffs China. (Obgleich d. Er­ gebnis d. Krieges zunächst von den USA begrüßt wurde u. Th. Roosevelt an s. Sohn schrieb: »Japan is playing our game“, so H. F. Pringle, Theodore Roosevelt, New York 1931, S. 375, aus einem Brief v. 10. 2. 1904 zitierend.) Zwar akzeptierten die USA im Taft-Katsura-Ab­ kommen (29. 7. 1905) die Kontrolle Koreas durch Japan u. bekräftigten dies im von Th. Roo­ sevelt vermittelten russ.-japan. Frieden von Portsmouth (5. 9. 1905); doch die diskriminieren­ de Einwanderungspolitik wie die Befreiung Rußlands von der Zahlung einer Kriegsentschä­ digung lösten in Japan eine Boykottbewegung gegen Waren aus d. USA aus. Hinzu kamen Spannungen wg. der US-Politik ggü. d. Philippinen bzw. der japan. Politik i. d. Mandschurei. Das Abkommen zwischen dem US-Außenminister Root u. dem japan. Botschafter Takahira (30. 11. 1908) bekräftigte zwar den status quo, die Politik der Offenen Tür in China und dessen territoriale Integrität, wurde aber nicht von den USA ratifiziert. Vgl. u. a. zur Ge-

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schichte der Beziehungen u. Konflikte zw. USA u. Japan: F. R. Dulles, America in the Paci­ fic; a century of expansion, New York 1932 (zu den Konflikten ab 1853); K. Haushofer, Geo­ politik des Pazifischen Ozeans, 3. Aufl. 1938, bes. S. 92 - 95, 108 ff., 157 - 160, 212 ff., 255 258 u. ö.; ders., Ostasien im Bereich d. nordamerikanischen Außenpolitik, in: F. Schönemann u. a., USA und Weltpolitik, 1940, S. 85-97; P. Pisano, Stati Uniti e Giappone. Politica estera americana, Rom 1941; O. Schäfer, Geopolit. Wandlungen am Großen Ozean u. in Ostasien, Geograph. Anzeiger, 1942, S. 272 - 277; B. Sievers, Japans Kampf gegen den USA-Imperialismus. Ein Abriß der japanisch-amerikanischen Beziehungen 1854 - 1942, 1943; O. J. Cli­ nard, Japan’s influence on American naval power, Berkeley, Cal. 1947; W. L. Neumann, America encounters Japan. From Perry to Mac Arthur, Baltimore 1963; R. A. Esthus, Theo­ dore Roosevelt and Japan, Seattle 1966; Ch. E. Neu, An Uncertain Friendship - Theodore Roosevelt and Japan, 1906 - 1908, Cambridge, Mass. 1967; Akira Iriye, Pacific Estrange­ ment - Japanese and American Expansion, 1879 - 1911, Cambridge, Mass. 1972. Während der Debatten um die VB-Satzung wies d. chines. Delegierte Wellington Koo auf die Gefahr hin, daß Japan unter Hinweis auf Art. 21 (vgl. FN [10]) eine eigene Monroedoktrin für Asien aufstellen könne; dazu: Wilson, Memoiren u. Dokumente über den Vertrag zu Versailles, hrsg. V. R. St. Baker, I, 1923, S. 272; Schücking / Wehberg, Die Satzung d. Völkerbundes, 2. Aufl. 1924, S. 665, 672, 674. Um 1930 kam es zu mehreren Versuchen, eine solche Dok­ trin zu formulieren, vgl. C. W. Young, Japan’s special position in Manchuria, Baltimore 1931, S. 327 ff.; J. Long, La Manchourie et la doctrine de la porte ouverte, Paris 1933, S. 176 ff. Als „Geburtsdatum“ gilt jedoch der 17. 4. 1934, als Japans Außenminister Hirota erklären ließ, daß Japan das Monopol polit, u. militärischer Beeinflussung Chinas für sich beanspruche, alle anderen Mächte nach Gutdünken ausschließe und sich bei allen Verhand­ lungen Chinas mit Dritten ein Einspruchsrecht zuschreibe; vgl.: VBuVR, Mai 1934, S. 106 ff., ebd., Juni 1934, S. 191 ff.; ZaöRV, 1934, S. 597 ff. (wo die Parallele mit d. ursprüngl. Mon­ roedoktrin zurückgewiesen wird); schließlich H. Klinghammer, Die Hirota-Doktrin, Diss. Greifswald 1935, der die Parallele betont. Regierungschef Fürst Fumimaro proklamierte am 3. 11. 1938 die asiat. „co-prosperity-sphere“, der Japan, China, Mandschuko und einige Süd­ seegebiete angehören sollten; z. T. war sogar an eine Kontrolle Indiens und Australiens ge­ dacht. Der spätere Außenminister Arita forderte am 29. 6. 1940, daß „geographisch, rassisch, kulturell und wirtschaftlich nahe verwandte Volker zuerst eine Sphäre ihrer eigenen Ko-Existenz und Ko-Prosperität bilden, innerhalb dieser Sphäre Frieden und Ordnung schaffen u. zugleich ein Verhältnis gemeinsamer Existenz u. Prosperität mit anderen Sphären herstellen“ (Japan Weekly Chronicle, 4. 7. 1940). Im Dreimächtepakt v. 27. 9. 1940 wurde Japans Führungs- u. Raumordnungsanspruch v. Deutschland u. Italien anerkannt. Die Doktrin kollidierte sowohl mit dem Neun-Mächte-Vertrag v. 6. 2. 1922, der betr. China das Open-door-Prinzip bekräftigte (Text in: Bruns / v. Gretschaninow, Polit. Verträge, I, 1936, S. 96 ff.) als auch mit d. Stimson-Doktrin. Vgl.: C. C. Wang, The pan-asiatic doctrine of Japan, Foreign Affairs, 1 / 1934, S. 59 ff.; P. Ostwald, Japan als Vorkämpfer d. asiat. Monroedoktrin, Wehr u. Waffen, März 1936, S. 209 ff.; G. Fochler-Hauke, Der Feme Osten. Macht- und Wirtschaftskampf in Ostasien, 1936, bes. S. 45 - 56; v. Freytagh-Loringhoven, Völkerrecht im Fernen Osten, ZAkDR, 1. 3. 1938, S. 145 ff.; Schmitt, Großraum gg. Universalismus (1939), in: Positionen u. Begriffe, 1940, S. 295 ff.; A. Sottile, L’impérialisme japonais - Contribution à l’étude des origines de l’impérialisme nippon, Revue de Droit International, 1940, S. 73 - 80; K. Rosenfelder. Der Krieg um ein neues Asien, National-Sozialistische Monatshefte, Nov. 1940, S. 643 - 657; v. Kühlmann, Die Monroe-Doktrinen i. ggw. Kriege, Berliner Monatshefte, Sept. 1940, S. 545 ff.; K. Haushofer, Japan baut sein Reich, 1941; Grewe, Japans Hegemonie i. Ostasien u. die japan. Völkerrechtspolitik, Monatshefte f. Ausw. Politik, Jan. 1941, S. 27 ff.;

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W. C. Johnstone, The United States and Japan’s New Order, London 1941; E. H. Bockhoff, Die kontinentale Wohlstandssphäre als Rechtsbegriff. Vom horizontalen Weltrecht zum verti­ kalen Völkerrecht, National-Sozialistische Monatshefte, 1942, S. 773 ff.; R A. Riebe, Welt­ krieg i. Pazifik. USA gegen Japan, 1942, 2. Aufl., S. 61 ff.; R. Walter, Hakko-Ichiu, die „CoProsperitätsphase“ in Ostasien, Ausw. Politik, 7 / 1942, S. 565 ff.; ders.. Die amerikanische Politik d. Offenen Tür in Ostasien, 1943, S. 85 ff., 104 ff., 111 ff.; H. Oestereich, Japanisches Reich u. ostasiatischer Großraum, Reich-Volksordnung-Lebensraum, V / 1943, S. 337 ff.; E. Graf, Der gross-ostasiatische Raum, Amsterdam 1944 (Feldpostausgabe); F. C. Jones, Ja­ pan’s New Order in East Asia, its rise and fall, 1937 - 1945, London / New York 1954; auch die Beiträge von B. Martin in: O. Hauser, Weltpolitik 1939 - 45, 1975. Vgl. auch d. Beiträge d. Zeitschrift „Berlin-Rom-Tokio“ (1939 - 44) sowie jetzt: Krebs/Martin (Hrsg.), Formierung und Fall der Achse Berlin- Tokyo, 1994 (mit vielen Belegen zur Brüchigkeit u. geringen Aus­ füllung d. Bündnisses). - Das japan. Großraum- u. Großmachtdenken resümiert: H. Gollwitzer, Geschichte d. weltpolit. Denkens, II, 1982, S. 580 - 85; zu einzelnen Aspekten vgl. auch: K. K. Kawakami, Japan spricht! Der chinesisch-japanische Konflikt, 1933; Seizo Kimase, Mitsuru Toyama kämpft für Grossasien, 1941 (ü. den 1855 geb. Vorkämpfer der großasiati­ schen Idee u. Schöpfer des Slogans „Asien den Asiaten“); vgl. auch die Memoiren des japan. Außenministers Shigenori Togo: Japan im Zweiten Weltkrieg, 1958, S. 214 ff. (ü. das „Mi­ nisterium f. Großostasien“). [18] Das Prinzip der „offenen Tür“ (Nichtdiskriminierung d. Ausländer in den wirtschaftl. Beziehungen u. Ausdehnung d. Meistbegünstigung auf alle Nationen) wurde v. Außenmini­ ster d. USA, John Hay, ab 1898 besonders bemüht, um die territoriale Einheit Chinas zu wah­ ren, die durch spez. Vereinbarungen von Interessensphären f. Deutschland, Japan, England, Frankreich u. Rußland bedroht war. Vgl. u. a.: S. Tomimas, The Open Door Policy and the territorial integrity of China, 1919; R. Walter, Die amerikanische Politik d. Offenen Tür in Ostasien, 1943; Ch. S. Campbell, Jr., Special business interests and the Open Door Policy, 1951; Th. J. McCormick, China’s market: America’s quest for informal empire, 1893 - 1901, 1967; H. U. Wehler, Der Aufstieg des amerik. Imperialismus, 1974, S. 259 ff.; vgl. auch d. illusionslose Darstellung d. Regimes d. „Offenen Tür“ (das „in der Stufenfolge imperialisti­ scher Durchdringungsformen d. extensivste Rechtsform dar(stellt) . . . u. überall dort auf(taucht), wo die Expansionskraft einer einzelnen Macht nicht zur Ausschließung aller an­ deren ausreicht“), b. Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 559 ff.; auch ders., Rechtsformen des ökonomischen Imperialismus im neunzehnten Jahrhundert, ZfP, April 1941, S. 231 -42, bes. S. 235 f. [19] Vgl. FN [10]. Zahlreiche Hinweise zum Verhältnis Wilsons zum VB u. zur MonroeDoktrin in: Th. J. Knock, To end all Wars - Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, New York / Oxford 1992. Vgl. FN [10]. [20] Der Art. 10 der Völkerbundsatzung lautete: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundes­ mitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Im Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht.“ - Man darf den Artikel 10, der „auf eine Petrifizierung der durch die Pariser Verträge geschaffenen Lage“ (Fr. Bleiber, Der Völkerbund Die Entstehung der Völkerbundssatzung, 1939, S. 100) hinauslief, als Quintessenz d. Völker­ bundssatzung betrachten. Der Locarno-Vertrag (vgl. FN [6]) bedeutete eine Verstärkung des Art. 10. Zwar richtete sich der Artikel nur gegen gewaltsame Veränderungen des Gebietsstan-

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des, blockierte aber ganz allgemein die notwendigen u. durch die Satzung durchaus erlaubten friedlichen Veränderungen (Art. 19). - Zum Art. 10 vgl. u. a.: T. Komamicki, La question de l’intégrité territoriale dans le Pacte de la Société des Nations, Paris 1923; H. Rolin, L’article lo du Pacte de la Société des Nations, in: Th. Munch, Les origines et l’oeuvre de la Société des Nations, 2 Bde., Kopenhagen 1923 / 24, Bd. II, S. 453 ff.; B. W. v. Bülow, Der Versailler Völkerbund - Eine vorläufige Bilanz, 1923, S. 167 ff.; Schücking / Wehberg, Die Satzung d. Völkerbundes, 2. Aufl. 1924, S. 449 ff.; J. C. Baak, Der Inhalt d. modernen Völkerrechts und der Ursprung d. Artikels 10 d. Völkerbundssatzung, 1925; Schmitt, Die Kernfrage d. Völker­ bundes, 1926; F. Korenitch, L’article lo du Pacte de la Société des Nations, Paris 1931; O. Göppert, Der Völkerbund - Organisation u. Tätigkeit d. VB, 1938, S. 447 ff., S. 462 ff. [21] Dazu die Hinweise bei: A. Hettner, Englands Weltherrschaft, 1928, S. 104 ff.; J. Stoye, Das Britische Weltreich. Sein Gefüge u. seine Probleme, 2. Aufl. 1937, S. 325 ff.; H. Oncken, Die Sicherheit Indiens, 1937; W. Schneefuss, Gefahrenzonen d. Britischen Welt­ reichs, 1938, S. 35 ff. („Die Lebenslinien“). Constantin Frantz wies bereits 1882, was Eng­ land betraf, auf den Zusammenhang von Streubesitz, Bedeutung der Sicherheit der Verkehrs­ wege und Gefährdung hin: „Nur England allein,..., ist allerdings zu einer Weltmacht gewor­ den, nämlich infolge seines Colonialbesitzes, der sich über vier Erdtheile verbreitet ... trotz alledem ist England doch nur eine künstliche Weltmacht, weil die territoriale Basis dieser Macht eben nur ein europäisches Land ist, von wo aus das ungeheure Colonialreich zwar beherrscht wird, ohne aber jemals mit demselben zusammen wachsen zu können. Die Colonien hängen mit England nur durch die Fäden der Flotte zusammen, und diese Fäden können alle reißen oder zerschnitten werden. - Wie sollte England auf die Dauer dem allgemeinen Schicksal entgehen, wonach groß gewordene Colonien hinterher abfallen? Sein ostindisches Reich ... ist überhaupt keine eigentliche Colonie, sondern ein bloßes Herrschaftsgebiet, was vielleicht einmal viel schneller verloren gehen könnte, als es gewonnen wurde. Sonach hat die englische Weltmacht nur eine prekäre Existenz, weil sie nicht auf der Basis der Natur ruht, wie die Macht der Ver. Staaten oder Rußlands, welche beide sich dagegen als natürliche Weltmächte darstellen. Liegt nun die künstliche englische Weltmacht zwischen jenen beiden natürlichen Weltmächten gewissermaßen in der Mitte, dadurch ist ihr Fortbestand um so mehr gefährdet.“ (Frantz, Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Chemnitz 1882/83, Erste Abtheilung, 1882, S. 106 f.). [22] Dazu ausführl.: P. Schmidt (Hrsg.), Revolution im Mittelmeer. Der Kampf um den ital. Lebensraum, 1942, mit drei Beiträgen v. Schmitts Schüler Herbert Schwörbel, S. 125 ff., 148 ff., 161 ff.; vgl. auch: E. Schopen, Weltentscheidung im Mittelmeer, 1937; U. Scheuner, Die heutige Lage i. Mittelmeer u. das engl.-ital. Mittelmeerabkommen, ZfP, 1937, S. 60 - 71 ; vgl. dazu den Notenwechsel u. die engl.-ital. Erklärung v. 31. 12. 1936/2. 1. 1937, in: Bruns/ v. Gretschaninow, Polit. Verträge, III/1, 1940, S. 581 - 99; vgl. a. die Abkommen zw. Eng­ land, Italien u. Ägypten v. 16. 4. 1938, in: ebd., III/2, 1942, S. 899 - 936. [23] Zum völkerrechtlichen Status Ägyptens u. dessen Geschichte: A. V. O’Rourke, The juristic status of Egypt and the Sudan, 1935; A. H. Oehme, Die Wandlung der rechtl. Stellung Ägyptens i. Britischen Reich, 1936; v. Tabouillet, Die Abschaffung der Kapitulatio­ nen in Ägypten, ZaöRV, 1937, S. 511 ff.; Fr. Bleiber, Quo vadis Aegyptus?, Monatshefte f. Ausw. Politik, 8/ 1940, S. 569 ff. Vgl. a.: v. Albertini, Dekolonisation, 1966, S. 56 - 63. |24| Zum Suezkanal vgl. D. Rauschning, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch d. Völker­ rechts, III, 1962, S. 417 ff.; eine geopolit. Skizze mit Völkerrecht!. Hinweisen (S. 55 ff.): G. Hermann, Der Suez-Kanal, 1936. Wohl das Standardwerk: H. J. Schonfield, The Suez

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Canal in peace and war 1869 - 1969, Coral Gables / Florida, 1969; vgl. a.: British Digest of International Law, 2 b, Phase one, Part III, Territory, London 1967, S. 193 - 281; vgl. a. Schmitt (anon.), Völkerrecht (Repetitorium) Salzgitter 1948/50, S. 88 f. [25] Text d. Vertrages v. 29. 10. 1888 in: M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 221 ff. [26] Die sehr verwickelten Auseinandersetzungen zw. Großbritannien u. den USA um d. Panama-Kanal u. seine völkerrechtliche Stellung schildern: L. Oppenheim, The Panama Ca­ nal Conflict between Great Britain and the USA, 1913; J. F. Fraser, Panama and what it means, 1913; J. C. Freehof, America and the Canal Title, 1916. Im Hay-Pauncefoot-Vertrag v. 18. 11. 1901 (Text bei: M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 321 f.) akzeptierte Großbritannien den Bau „under the auspices of the Government of the United States“, wenn auch „without impairing the »general principle4 of neutralization“. Der Widerstand Kolum­ biens gg. die in der Kanalzone von den USA beanspruchten Hoheitsrechte erledigte sich durch die von Roosevelt unterstützte panamesische „Revolution“ v. 1903, deren Ergebnis die Losreißung der Provinz Panama von Kolumbien war. Vgl.: D. C. Miner, The Fight for the Panama Route, 1940, 2. Aufl. 1966; Cl. Pierce, The Roosevelt Panama Libel Case - A fac­ tual study of a controversial episode in the career of Teddy Roosevelt, Father of the Panama Canal, 1959; G. Mack, The Land divided - A History of the Panama Canal and other Isth­ mian Canal Projects, 1944, 21. Aufl. 1974. Allgem.: British Digest, wie FN [24], S. 281 338. [27] Der britische Frachter Miramichi nahm im Juli 1914 in Galvestone / Texas eine für Deutschland bestimmte Weizenladung auf; während des Seetransports wurde das Schiff von der brit. Marine gestoppt und die Ladung infolge des Kriegsausbruchs beschlagnahmt; vgl. dazu L. Kotzsch, Miramichi-Fall, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. II, 1961, S. 542. [27a] Vgl. G. Stadtmüller, Die Dardanellenfrage in Geschichte und Gegenwart, ZgStW, 101 / 1941, S. 448 ff; E. Zechlin, Die türkischen Meerengen - ein Brennpunkt der Weltge­ schichte, in: ders., Überseegeschichte, 1986, S. 179 ff. (zuerst 1964). [28] Vgl. E. Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheiten­ schutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, 1960. Allgem.: O. Junghann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem VB, 1934; O. Göppert, Der VB - Organisation und Tätigkeit, 1938, S. 573 ff.; H. G. Mußmann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem VB, seine Mängel und sein Zusammenbruch, 1939; ein Resumé versucht Chr. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des VB, 1979. [29] Von den erwähnten Autoren vgl. u. a.: Boehm, Europa irredenta, 1923, ders., Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaf­ ten, 1932; Hasselblatt, Das Nationalitätenproblem, der Genfer Kongreß und wir, Dorpat 1927 (Estländisch-Deutscher Kalender); ders., Die sudetendeutschen Gesetzesanträge über Volks­ tumsrechte, ZAkDR, 1937, S. 353 ff.; ders., Die politischen Elemente eines werdenden Volksgruppenrechts, Jb. d. Akademie d. Deutschen Rechts, 1938, S. 13 ff.; Gerber, Das Min­ derheitsproblem, 1927; v. Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern, 1926; ders., Staat u. Volkstum, 1926; Hugelmann, Volk und Staat im Wandel deutschen Schicksals, 1940; Walz, Neue Grundlagen des Volksgruppenrechtes, 1940; Gürke, Der Nationalsozialismus, das Grenz- und Auslandsdeutschtum und d. Nationalitätenrecht, in: Nation und Staat, Okt. 1932; Kier, Über die Gestaltung eines Volksgruppenrechtes, ZaöRV, 1937, S. 497 ff.; Raschhofer, Hauptpro-

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bleme des Nationalitätenrechts, 1931; Rabl, Grundlagen und -fragen eines mitteleuropäi­ schen Volksgruppenrechts, 1938. - Vgl. auch die bd. Standardwerke: H. Winthens, Der völ­ kerrechtliche Schutz d. nationalen, sprachlichen u. religiösen Minderheiten. Unter bes. Be­ rücksichtigung d. deutschen Minderheit i. Polen, 1930 (Handbuch d. Völkerrechts, II - 8); G. J. Erler, Das Recht der nationalen Minderheiten i. Europa, 1931. Von bes. Interesse ist die Zeitschrift „Nation und Staat“ (ab 1927), das Organ der deutschen Volksgruppen in Europa. Vgl. auch die allgem. Stellungnahmen zur Zt. des Völkerbundes: v. Balogh, Der internatio­ nale Schutz der Minderheiten, 1928; Scelle, Précis de droit des gens, II, Paris 1934, S. 187 252; Redslob, Les principes de droit des gens moderne, Paris 1937, S. 210 - 215. - F. Neu­ mann, Behemoth. The structure and practice of National Socialism, London 1943 (zuerst 1942), S. 134-39, „The Folk Group versus Minority“, kritisiert: „Recognition of the minori­ ty as a public corporation, as the Germans understand it and have applied it in Czechoslova­ kia, Hungary and Rumania, thus creates a state within a state and excempts the German group from the sovereignty of the state“ (S. 137). Das ist zwar übertrieben, trifft aber die staatsauflösende Intention des deutschen Volksgruppenrechts von damals. Doch Neumann findet am Minderheitenrecht des Völkerbundes nichts auszusetzen und erwähnt nur die polni­ sche Strafaktion in Ostgalizien gegen die Ukrainer, verschweigt aber die überaus leidvollen Erfahrungen der Deutschen mit diesem Minderheitenrecht. Die heutige Tendenz resümieren: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 1252: „Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der völkerrechtliche Minderheitenschutz gegenüber dem Ausbau der individuel­ len Menschenrechte zurückgetreten. Dieser Schutz, insbesondere das in den Menschenrechts­ pakten enthaltene allgemeine Diskriminierungsverbot, kommt den Minderheitsangehörigen zwar auch zugute, kann sie jedoch nicht vor der Assimilierung mit dem Mehrheitsvolk be­ wahren.“ [30] Der Regelung der orientalischen Frage gewidmet war der unter Bismarcks Vorsitz v. 13. 6. - 13. 7. 1878 tagende Berliner Kongreß, - „gleichsam die glanzvolle Abschiedsvorstel­ lung des Europäischen Konzerts“ (Grewe). Vgl. F. Bamberg, Geschichte der oriental. Angele­ genheit i. Zeiträume des Pariser u. des Berliner Friedens, 1892, bes. S. 605 ff.; Dokumente in: Strupp, Ausgewählte Aktenstücke zur oriental. Frage, 1916. Zur Interpretation: A. Novot­ ny, Der Berliner Kongress und d. Problem einer europäischen Politik, HZ, 2/1958, S. 285 307; Kl. Hildebrand, Europäisches Zentrum, überseeische Peripherie und Neue Welt. Über den Wandel d. Staatensystems zwischen dem Berliner Kongress (1878) und dem Pariser Frie­ den (1919/20), ebd., August 1989, S. 53 - 94. Bes. aufschlußreich die Arbeit des Schülers u. Freundes Schmitts, Serge Maiwald, Der Berliner Kongreß 1878 und das Völkerrecht - Die Lösung des Balkanproblems im 19. Jahrhundert, 1948. Maiwald sieht England als den eigent­ lichen „Sieger“ auf dem Kongreß, „da fast alle dort getroffenen Regelungen direkt oder mit­ telbar im Einklang mit der Ordnung der Pax Britannica im 19. Jahrhundert standen“ (S. 116). Zur Bedeutung u. zu den Folgen des Kongresses für Deutschland: O. Westphal, Weltge­ schichte der Neuzeit, 1953, S. 115 ff. - Allgem. z. Berliner Kongress vgl.: R. Rie, in: Strupp/ Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, I, 1960, S. 185 f.; Frhr. v. Aretin (Hrsg.), Bis­ marcks Außenpolitik u. d. Berliner Kongreß, 1978; I. Geiss (Hrsg.), Der Berliner Kongreß 1878, 1979. [31] Die Note Clemenceaus v. 26. 6. 1919 an den polnischen Ministerpräsidenten Pader­ ewski bezog sich auf den am 28. 6. 1919 abgeschlossenen Minderheitenschutzvertrag zw. d. USA, Großbritannien, Frankreich, Italien u. Japan einerseits, Polen andererseits. Clemenceau wies darauf hin, daß Polen seine Unabhängigkeit und seinen neuen Gebietsstand den Sieger­ mächten verdanke, die sich deshalb verpflichtet fühlten, „in der dauerndsten und feierlichsten

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Form gewisse wesentliche Rechte zuzusichem, die unabhängig von jeglicher Änderung i. in­ nerstaatlichen polnischen Verfasssungsrecht der Bevölkerung den nötigen Schutz“ gewährten (Text d. Note in: O. Junghann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem VB, 1934, S. 64 ff.). Um dieser Verpflichtung willen sei auch der Art. 93 in den Versailler Vertrag mit Deutsch­ land aufgenommen worden. (Der Abs. 1 dieses Artikels lautete: „Polen stimmt der Auf­ nahme von Bestimungen in einen Vertrag mit den verbündeten und assoziierten Hauptmäch­ ten zu, welche diese Mächte als notwendig erachten werden, um in Polen die Interessen der Einwohner zu schützen, welche anderer Rasse, Sprache oder Religion als die Mehrheit der Bevölkerung sind“; vgl. „Die Friedensbedingungen“, Berlin 1919, Hobbingausg., S. 63. Im Artikel 12 des Minderheitenschutzvertrages stimmte Polen einer Völkerbundsgarantie für den Minderheitenschutz zu; Text b. H. Kraus, Das Recht der Minderheiten, 1927, S. 58 ff. - Die Kritik Schmitts an Clemenceau wirkt hier recht deplaciert, da der französische Regierungs­ chef, wenn auch in äußerst restriktiver Interpretation, auf Einhaltung d. Minderheitenschut­ zes drängte u. so zugunsten der deutschen Minderheit sprach. Vgl. H. Raschhofer, Hauptpro­ bleme d. Nationalitätenrechts, 1931, S. 86: „Die Note muß als eine authentische Begründung der Verpflichtung zum Schutz der Minderheiten gewertet werden.“ Vgl. auch: G. Erler, Das Recht d. nationalen Minderheiten, 1931, S. 130 ff., 397 f.; C. G. Bruns, Gesammelte Schrif­ ten zur Minderheitenfrage, 1933, S. 69 ff.; s. u. FN [33]. [32] Dazu u. a.: Schücking / Wehberg, Die Satzung des VB, 2. Aufl. 1924, S. 126 ff. [33] Der polnische Delegierte beim VB, Graf Raczynski, richtete am 10. 4. 1934 ein Schreiben an den Generalsekretär des VB mit der Bitte, auf die Tagesordnung der nächsten VB-Versammlung einen Resolutionsentwurf zu setzen, der die „Verallgemeinerung“ d. Min­ derheitenschutzes zum Ziele hätte; es ginge nicht an, daß es im Bereich des VB geschützte und ungeschützte Minderheiten gäbe (Text in: VBuVR, H. 2, 1934, S. 130 f.). Oberst Beck, der polnische Außenminister, erklärte am 13. 9. 1934 in d. Vollversammlung des VB, daß Polen im Falle d. Nichtannahme s. Antrages auf Verallgemeinerung jede Zusammenarbeit mit den betr. internationalen Kontrollbehörden verweigern werde. Zwar zog Graf Raczynski am 21. 9. den polnischen Antrag zurück, betonte jedoch, daß nunmehr Becks Erklärung inkraft trete. Polen annullierte seine Absage hinsichtlich d. Völkerbundskontrolle schließlich doch nicht u. schloß am 5. 11. 1937 eine Vereinbarung mit dem Reich zur Minderheitenfrage, vgl. VBuVR, Dez. 1937, S. 551 f.; dazu: E. Tartarin-Tamheyden, Praktisches Volkstums-Völ­ kerrecht, ebd., Jan. 1938, S. 571 ff. - Polens ggü. dem VB geäußerte Behauptung, die Kon­ trolle des Minderheitenschutzes beeinträchtige seine Souveränität, war irreführend, da die Anerkennung dieser Souveränität seitens der Siegermächte ja von Polens Anerkennung d. Minderheitenschutzes abhängig war, so daß A. v. Freytagh-Loringhoven zu der Konklusion kam, daß „rechtlich . . . gegen den polnischen Schritt . . . nichts einzuwenden (sei), wenn (Polen) zugleich mit der Aufkündigung seiner Verpflichtungen das für die Übernahme dersel­ ben empfangene Äquivalent, nämlich die fremdstämmigen Gebiete zurückgeben wollte“ (VBuVR, 6 /7 , 1934, S. 349). - Auch hier mutet Schmitts Stellungnahme irritierend an. Vgl. zum Thema: W. Hasselblatt, Der Genfer Minderheitenschutz nach d. polnischen Vorstoß, Zeitschrift f. osteurop. Recht, Nov. 1934, S. 217 ff.; detailliert: J. Michalski, Polens Rück­ trittsversuch vom Minderheitenschutzvertrage, Diss. Breslau 1937 (bei Walz u. v. FreytagLoringhoven); s. auch FN [31]. [34] Der Vertreter Brasiliens i. Völkerbundsrat, Afranio de Mello Franco, wandte sich am 9. 12. 1925 gegen eine Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes. Eine zu starke Ausbil­ dung d. Prinzips der Autonomie der Minderheiten würde zur Auflösung der Staaten u. zur

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nationalen Desorganisation führen; im übrigen könne es zur künstlichen Entstehung von Minderheitsgruppen kommen. Die Minderheitenfrage tauche „nur (auf) in bestimmten ge­ schichtlichen Augenblicken, wie bei der Einverleibung des Gebietes eines Staates in den an­ deren oder bei territorialer Neuregelung auf Grund eines Krieges oder besonders bei der Gründung neuer Staaten oder endlich gelegentlich von Kämpfen bestimmter Staaten gegen die Unterdrückung seitens anderer Staaten . . . Lediglich das Zusammenwohnen menschli­ cher Gruppen, die ethnisch verschiedene Kollektivwesen bilden, auf einem Gebiet und unter der Zwangsgewalt eines Staates genügt nicht dazu, daß man notwendigerweise in dem Staate neben der Mehrheit der Bevölkerung das Vorhandensein einer Minderheit anerkennen müßte, die eines der Sorge des Völkerbundes anvertrauten Schutzes bedürfte. Eine Minderheit im Sinne der bestehenden Verträge muß das Ergebnis von auf Jahrhunderte zurückliegenden oder auch weniger alten Kämpfen zwischen verschiedenen Nationalitäten und von dem Über­ gang bestimmter Gebiete aus einer Souveränität in die andere durch aufeinanderfolgende ge­ schichtliche Zeitläufte hin sein.“ Mello Francos Ausführungen (Journal Officiel, Febr. 1926, S. 138 ff.) wurden als Plaidoyer für die möglichst rasche Auflösung der Minderheiten in den Herrscherstaaten betrachtet („Mello Francos Assimilationstheorie“); konnten aber auch ver­ standen werden als Aufforderung, eine Situation zu schaffen, in der Minderheiten aktiv mit ihrem Staate Zusammenarbeiten könnten; vgl. u. a.: Fr. Wertheimer, Deutschland, Die Min­ derheiten und der VB, 1926, S. 65 ff.; Erler, Das Recht d. nationalen Minderheiten, 1931, bes. S. 452 ff.; Chr. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des VB, 1979, S. 80 ff., S. 146 f. [35] In s. Rede vor d. Reichstag am 20. 2. 1938 (Text in: Verhandlungen d. Reichstags, Bd. 459, S. 21 - 43) in der Hitler u. a. Mandschukuo anerkannte, führte er aus: „Allein so wie England seine Interessen über einen ganzen Erdkreis hin vertritt, so wird auch das heutige Deutschland seine, wenn auch um so viel begrenzteren Interessen zu vertreten und zu wahren wissen. Und zu diesen Interessen des Deutschen Reiches gehört auch der Schutz jener deut­ schen Volksgenossen, die aus eigenem nicht in der Lage sind, sich an unseren Grenzen das Recht zu einer allgemeinen menschlichen, politischen und weltanschaulichen Freiheit zu si­ chern.“ Vgl. auch Hitlers Reden vor dem Parteitag vom 12. 9. 1938 u. im Sportpalast v. 26. 9. 1938. Dazu: v. Freytagh-Loringhoven, VBuVR, März 1938, S. 710 ff.; ders., Deutsch­ lands Außenpolitik 1933 - 1941, 1942, S. 152 f.; H. Raschhofer, Völkerbund u. Münchner Abkommen, 1976, bes. S. 125 ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 702. K. G. Hugelmann, Volk und Staat im Wandel deutschen Schicksals, 1940, S. 189, definierte Hitlers Erklärung als Äußerung des Rechts auf „konnationale Intervention“ ; vgl. die Münsteraner Diss. v. H. Krasberg, Die konnationale Intervention, 1941, u. H. Körte, Lebensrecht und völkerrechtliche Ordnung, 1942, bes. S. 75 f. [36] Das deutsch-estnische Protokoll v. 15. 10. 1939 ist abgedruckt in: ZaöRV, 1939 / 40, S. 926 - 30; auch in: Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, H. 1, S. 24 - 27, u. in: ZVR, 1941, S. 348 - 52. Ein deutsch-litauischer Vertrag v. 30. 10. 1939 existiert nicht; Schmitt meint entweder den deutsch-litauischen Vertrag v. 22. 3. 1939 über die Wiedervereinigung des Me­ melgebietes mit dem Dt. Reich (in: Bruns/v. Gretschaninow, Polit. Verträge, III/2, 1942, S. 1039 - 42) oder den dt.-lett. Vertrag v. 15. 10. 1939 über die Umsiedlung lettischer Bürger deutscher Volkszugehörigkeit in das Deutsche Reich; Text in: ZaöRV, a. a. O., S. 932 - 37; Monatshefte, a. a. O., S. 28 - 32; ZVR, a. a. O., S. 353 - 63. Diese Verträge stehen in engem Zusammenhang mit dem sogen. Hitler-Stalin-Pakt v. 28. 9. 1939 und der durch ihn erreichten Abgrenzung deutscher und Sowjet. Interessensphären. Vgl. auch: Diktierte Option. Die Um­ siedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 1939 - 1941. Dokumentation von D.

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A. Loeber, 1972; ders., Deutsche Politik ggü. Estland und Lettland. Die Umsiedlung der deutsch-baltischen Volksgruppe im Zeichen der Geheimabsprache mit der Sowjetunion von 1939, in: M. Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte, Ausg. 1978, S. 675 - 83; vgl. auch die Studie v. F. Golczewski, Deutschland und Litauen, ebd., S. 577 - 83. [37] Der Text des Schiedspruches, durch den Nordsiebenbürgen an Ungarn abgetreten wurde, in: Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, H. 9, S. 702 - 708 (mit Materialien), sowie in: ZVR, 1941, S. 450 - 55; auch in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, III/2, 1942, S. 1250/55. Dazu: W. G. Grewe, Das Volksgruppenrecht der Wiener Protokolle, in: Monats­ hefte f. Ausw. Politik, 1940, H. 10, S. 768 - 72. [38] Text d. Vertrages in: ZVR, 1941, S. 459 - 62, mit anschl. „Accord concernant l’échange de population bulgare et roumaine“, S. 462 - 66; auch in: Bruns/v. Gretschaninow, wie FN [37], S. 1257 - 67, mit zusätzl. Dokumenten S. 1268 - 76. Vorsitzender des bulgar.rumänischen Schiedsgerichtes war Viktor Bruns (1884 - 1943), der Gründer des Kaiser- Wil­ helm-Instituts f. ausl. öffentl. Recht u. Völkerrecht, vgl. d. Nachruf v. Fr. Berber, Ausw. Poli­ tik, 1 - 2 / 1944, S. 45. Siehe a. vorl. Bd.; Antwort an Kempner, FN [5], S. 464 f. [39] „Non-intervention est un mot diplomatique et énigmatique, qui signifie à peu près la même chose qu’intervention“, zit. n. F. H. Geffcken, Das Recht der Intervention, Holtzendorffs Handbuch d. Völkerrechts, Bd. IV, 1889, S. 135. [40] Zur deutschen Idee d. Reiches, bei Schmitt meist mit Überlegungen zu dessen Rolle als kat-echon verbunden (vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 28 - 32) u. a.: P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio - Studien z. Geschichte d. römischen Emeuerungsgedankens v. Ende d. Karolingischen Reiches bis z. Investiturstreit, 1929; O. Torsten, Riche Eine geschichtliche Studie ü. d. Entwicklung d. Reichsidee, 1943; P. R. Rohden, Die Idee d. Reiches i. d. europäischen Geschichte, 1943; E. Müller- Mertens, Regnum Teutonicum Aufkommen u. Verbreitung d. deutschen Reichs- u. Königsauffassung i. frühen Mittelalter, 1970; G. Koch, Auf dem Weg z. Sacrum Imperium - Studien zur ideologischen Herrschafts­ begründung d. deutschen Zentralgewalt im 11. u. 12. Jahrhundert, 1972; zur christl. Ge­ schichtstheologie des Mittelalters: A. Dempf, Sacrum Imperium, 1929. - Zur Diskussion um das Reich im modernen, völkerrechtlichen Sinne: H. K. E. L. Keller, Das Recht der Völker, Bd. II, Das Reich der Völker, 1941, mit ausführlichen krit. Erörterungen zu Schmitt; auch u. a.: E. R. Huber, Bau und Gefüge des Reiches, 1941; Scheuner, Der Bau des Reiches u. seine politischen Lebenskräfte, Deutsches Recht, 34/35-1942, S. 1169 - 71. - Großes Inter­ esse hegte Schmitt auch hier an der Etymologie, vgl.: J. Trier, Vorgeschichte des Wortes Reich, in: Nachrichten von d. Akademie d. Wissenschaften i. Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 14/ 1943, S. 539-82. [40a] Wohl Anspielung auf J. L. Kunz, Die Staatenverbindungen, 1929, S. 713 - 818 ü. d. „British Empire“; erschienen als Bd. II / 4 des „Handbuch d. Völkerrechts“, hrsg. v. F. StierSomlo. [41] Zu diesem Schmitt besonders interessierenden Aspekt Disraelis (vgl. vorl. Bd., S. 397) vgl. u. a. auch C. Brinkmann, England seit 1815, 2. Aufl. 1938, S. 189 ff. [42] Vgl. die Werke v. G. Scelle, Précis de Droit des Gens, 2 Bde., Paris 1932 / 34 u. H. Lauterpacht, The function of Law in the International Community, London 1933 (die Schmitt in: Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 8 - 26, kritisch erörterte); auch die Schriften des Völkerbundsjuristen N. Politis, Le problème de la limitation de la sou-

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veraineté et la théorie de l’abus des droits dans les rapports internationaux, RdC, 6 / 1925, S. 5 - 116; ders., Les nouvelles tendances du droit international, 1927; Lauterpacht, The Co­ venant as the „Higher Law“, BYIL, 17 / 1936, S. 54 ff. [43] Die Folgen der Intention des VB und der Angelsachsen, die Neutralität zu beseitigen, prognostizierte Schmitt 1938 in: Das neue Vae Neutris!, nachgedr. in: Positionen und Begrif­ fe, 1940, S. 251 ff.; auch ders., Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938. Vgl. auch zur Infragestellung bzw. Aufhebung d. Neutralität bereits durch die VB-Satzung u. den Kellogg-Pakt: Haase, Wandlung d. Neutralitätsbegriffes, 1932; Krakau, Missionsbewußt­ sein u. Völkerrechtsdoktrin der Vereinigten Staaten von Amerika, 1967, S. 374 - 427. Die vielleicht radikalste Stellungnahme bei N. Politis, La neutralité et la paix, Paris 1935: gg. den „Angreifer“ müssen sich alle ohne Ausnahme zusammenschließen; dabei wird auch die Hu­ manisierung des Kriegsrechtes abgelehnt, da diese auch dem „Angreifer“ zugutekäme; eben­ so ders.. Die Zukunft des Kriegsrechts, in: Wie würde ein neuer Krieg aussehen?, 1932, S. 371 ff. - Schmitt hat hier wohl auch die seit 1935 erfolgenden Veränderungen der US-Neutralitätsgesetzgebung im Auge und die stets waghalsigeren Interpretationen der USA über ihre „Neutralität“, mittels deren Hilfe Roosevelt sein Land in den Krieg führte; dazu bilanzie­ rend: F. Schönemann, Der Weg d. Neutralität d. Ver. St. von Amerika, Jb. d. Hochschule f. Politik, 1940, S. 154 - 180; U. Scheuner, Die Neutralitätspolitik d. Ver. St. seit Beginn d. Krieges, Monatshefte f. Ausw. Politik, Febr. 1941, S. 83 - 93; Fr. Berber, Wandlungen d. amerik. Neutralität, Reich-Volksordnung-Lebensraum, 1943, S. 9 - 44; ders.. Die amerik. Neutralität im Kriege, 1939 - 1941, 1943 (Dokumente u. Kommentar). Die Roosevelt’sehe Provokationspolitik gg. Deutschland im Atlantik belegen: W. Langer / S. E. Gleason, The undeclared war 1939 - 1941, New York 1953; Th. R. Fehrenbach, FDR’s undeclared war 1939 - 1941, New York 1967; D. Bavendamm, Roosevelts Krieg 1937 - 45 und das Rätsel von Pearl Harbour, 1993, bes. S. 399 - 426 („Neutralität und casus-belli-Optionen“). L. Gruchmann, Völkerrecht und Moral. Ein Beitrag zur amerikanischen Neutralitätsproblematik, VZG, 1960, S. 384 - 418, leistet zwar einen detaillierten Überblick ü. die amerik. Neutrali­ tätsverletzungen u. konzediert auch deren Völkerrechtswidrigkeit, beruhigt sich jedoch damit, daß sie „sowohl vom nationalen amerikanischen Standpunkt aus wie im Hinblick auf die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Lebensordnung in der Welt politisch wohlbe­ gründet“ waren (S. 384). Vgl. auch vorl. Bd., Beschleuniger wider Willen, FN [9], S. 438. [44] „In Italien mußte sich die Idee des politischen Gleichgewichts zuerst entwickeln, hier ging sie, gleichsam zur Probe, zuerst in eine konkrete Gestalt über. Denn hier waren eine Menge kleiner Staaten, so ziemlich von gleicher Macht, in einem sehr engen Raum zusam­ mengedrängt, der noch dazu das Kriegstheater der beiden präponderierenden Mächte, Spa­ nien und Frankreich, war. Auch hatte die Kultur daselbst schon eine viel reichere und man­ nigfaltigere Verbindung der Staaten untereinander erzeugt, als z. B. in Deutschland . . . Was Deutschland später wurde, nämlich das Gefäß, worin sich die kleinen Gewichte zur Erhal­ tung des politischen Gleichgewichts befanden, das war Italien früher.“ Clausewitz, Aufzeich­ nungen aus den Jahren 1803 bis 1809, in: H. Rothfels, Carl von Clausewitz. Politik und Krieg, 1920, Anhang, S. 197 - 229, hier S. 199; vgl. a. C. Frantz, Untersuchungen über das Europäische Gleichgewicht, Berlin 1859, S. 9 - 11. [45] In: AJIL, S. 112 - 119. Der Aufsatz schilderte die Gleichschaltung der völkerrechtli­ chen Institute während des Dritten Reiches. [46] Gürke stützte sich dabei (S. 36 f.) auf Pasquale Stanislao Mancini, Deila Nazionalità come fondamento del Diritto delle Genti, Turin 1851, Ndr. in ders., Diritto intemazionale 22 Stunt, (iroUrnum, Nomos

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Prelezioni con un Saggio sul Machiavelli, Neapel 1873, S. 1 - 64. Ein weitaus entschiedene­ rer Verfechter eines völkischen statt eines zwischenstaatlichen Völkerrechts als Gürke war jedoch Hans K. E. L. Keller (1908 - 1970). K. gründete 1931 die „Deutsche Europa- Union“, 1932 die Zeitschrift „Deutscheuropa“, rief 1934 die „Internationale Arbeitsgemeinschaft der Nationalisten“ und 1936 die „Akademie für die Rechte der Völker“ ins Leben; zu s. Aktivitäten vgl. H. W. Neulen, Europa und das 3. Reich, 1987, S. 23 f. K. forderte die Reform des VB mittels eines Zweikammersystems („Völkerkammer“ neben „Staatenkam­ mer“); dazu u. a. s. Artikel: Ueber den Beruf unserer Zeit zur Gründung einer Akademie für die Rechte der Völker - Zugleich ein Bericht über den Dritten Internationalen Kongreß der Nationalisten in Oslo, ZVR, 1936, S. 485 - 496. Er kritisierte scharf die deutschen Völker­ rechtler s. Zeit, die - auch Schmitt und Gürke - immer noch mehr vom Staate als vom Volke ausgingen und so der etatistischen Ideologie d. „Gegenreichs Frankreich“ unterworfen blie­ ben. Vgl. V. Keller u. a.: Droit naturel et droit positif en droit international public, Paris 1931 ; Das dritte Europa, 1934; Das rechtliche Weltbild - Gegenreich Frankreich, 1935; Das Recht der Völker, Bd. I: Abschied vom „Völkerrecht“, 1938, u. Bd. II: Das Reich der Volker, 1941 Zur „völkischen“ Auffassung des Völkerrechts allgemein vgl.: F. Giese/E. Menzel, Vom deut­ schen VÖlkerrechtsdenken der Gegenwart, 1938, S. 52-75 u. G. Hahn, Grundfragen Europä­ ischer Ordnung, 1939, S. 58 - 83. [47] Über den Staat als Apparat, der „in der Hand des Führers der Volksgemeinschaft in verschiedener Weise“ dient: Höhn, Die Wandlung im staatsrechtlichen Denken d. Gegenwart, 1934, S. 35 f.; ders., Volk, Staat u. Recht, in: Höhn / Maunz / Swoboda, Grundfragen d. Rechtsauffassung, 1938, S. 1 - 27, hier S. 21 f.; zum Staat als Apparat in der Hand des Für­ sten: Höhn, Der individualistische Staatsbegriff u. die jurist. Staatsperson, 1935, S. 37 ff. Hohns Auffassung wird detailliert kritisiert in: W. Merk, Der Staatsgedanke i. Dritten Reich, 1935. [48] So G. Neeße, Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei - Versuch einer Rechtsdeutung, 1935, S. 43 ff.; ders., Partei u. Staat, 1936, S. 13 ff. [49] Vgl. Schmitt, Raum und Großraum im Völkerrecht, vorl. Bd., S. 263, FN [4]. [50] Verdroß / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 1051: „Anders als der Luftraum gehört der Ätherraum nicht zum Staatsgebiet, da er nicht als beherrschbar gilt.“ Zum „grenz­ überschreitenden Informationsfluß“ im „Ätherraum“ ebd., §§ 1052, 1053. - Vgl. auch das rätselhafte Aperçu Schmitts kurz vor seinem Tode: „Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt“ (das sich freilich auch auf das SDI-Programm bezogen haben mag), zit. nach: E. Hüsmert, Die letzten Jahre von Carl Schmitt, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana I, 2. Aufl. 1988, S. 40 - 54, hier S. 43. [51 ] Diese Überlegungen zu einem „police bombing“ gg. Friedensstörer innerhalb der als polit. Einheit gedachten Welt gehen u. a. auf französische Vorschläge zurück, eine ständige Organisation des VB zur milit. Exekution einzurichten; vgl. dazu: Schücking / Wehberg, Die Satzung des VB, 2. Aufl. 1924, S. 606 ff., zu den Forderungen des franz. VB-Delegierten L. Bourgeois am 14. u. 28. 4. 1919. Meist wurde diese „internationale Polizei“ als Luftflotte konzipiert; vgl. Brigadegeneral P. R. C. Groves, Air power and disarment, Times, 18. 9. 1922; Air power (Paris), Jan. 1930. Die Wirkung d. Luftwaffe wurde, dem Propagandisten des Luft­ krieges, dem ital. General Giulio Douhet (1869 - 1930) folgend, eher überschätzt; D. hielt die Luftwaffe für das beste Instrument zur schnellen Befriedung („wenige Tonnen auf die feind­ liche Hauptstadt genügen“); vgl. von ihm: II dominio dell’aria, Rom 1921 ; dt. Ausgabe, Luft-

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herrschaft, Berlin o. J. (1935); über seine Theorie: J. L. Wallach, Kriegstheorien, 1972, S. 328 ff. Douhet übte zwar großen Einfluß aus auf die Verfechter von gg. das gesamte Feind­ gebiet zu führenden Bombardements aus, bei denen - wie im Zweiten Weltkrieg - die Wohn­ gebiete nicht geschont wurden; er konnte aber zu s. Lebzeiten noch glauben, daß seine Me­ thode geeignet sei, Kriege abzukürzen. - D. Davies, Das Problem des XX. Jahrhunderts, 1932 (zuerst engl. 1930), S. 287, warnte vor zu großen Hoffnungen auf die Luftwaffe; im übrigen ist sein Buch das Standardwerk über „internationale Polizei“. H. Wehberg, La police internationale, RdC, 1934 / II, S. 7 - 131, schildert ausführlich die Vorgeschichte (Forderung nach internat. Blockadeflotten, usw.). - Der Art. 45 d. UN-Satzung fordert, damit „den Ver­ einten Nationen die Durchführung dringender milit. Maßnahmen“ möglich sei, daß die „Mitglieder . . . nationale Kontingente von Luftstreitkräften zur jederzeitigen Verfügung für gemeinsame internat. Zwangsmaßnahmen bereithalten“ ; zur Folgenlosigkeit dieses Art. vgl. B. Simma, Charta der UN, 1991, S. 597 f. - Spaight rechtfertigte später die Angriffe der Royal Air Force auf die deutsche Zivilbevölkerung in: Bombing vindicated, London 1944; vgl.: C. Oehlrich, Vom Police Bombing zum Luftterror, Ausw. Politik, 1943, S. 578 ff.; J. P. Veale, Der Barbarei entgegen, aus dem Engl., 1954, S. 34, 142, 145 f., 151, 213. Ausführlich zu Spaight: E. Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit - Die völkerrechtliche Stellung der Zivilpersonen im Luftkrieg, 1956, S. 99 ff., 183 ff., 254 ff., 288 ff. u. ö.; dort auch zu Douhet u. verwandten Theorien, bes. S. 195 ff. [52] Vgl. dazu die zahlr. Hinweise bei E. Schmitz, Sperrgebiete im Seekrieg, ZaöRV, 1938, S. 641 - 671. Die Entwicklung in beiden Weltkriegen untersucht die Hamburger Disser­ tation von Jürgen Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, 1966. [52a] Vgl. etwa: W. Goez, Translatio Imperii - Ein Beitrag zur Geschichte d. Geschichts­ denkens u. d. politischen Theorie i. Mittelalter u. in d. Frühen Neuzeit, 1958. [53] Der Art. 11 d. Kongoakte d. Berliner Kongokonferenz lautete: „Falls eine Macht, welche Souveränitäts- oder Protektoratsrechte in den im Artikel 1 erwähnten und dem Frei­ handelssystem unterstellten Ländern ausübt, in einen Krieg verwickelt werden sollte, ver­ pflichten sich die Hohen Teile, welche die gegenwärtige Akte unterzeichnen, sowie diejeni­ gen, welche ihr in der Folge beitreten, ihre guten Dienste zu leihen, damit die dieser Macht gehörigen und in der konventionellen Freihandelszone einbegriffenen Gebiete, im gemeinsa­ men Einverständnis dieser Macht und des anderen oder der anderen der kriegführenden Teile, für die Dauer des Krieges den Gesetzen der Neutralität unterstellt und so betrachtet werden, als ob sie einem nichtkriegführenden Staat angehörten. Die kriegführenden Teile würden von dem Zeitpunkte an darauf Verzicht zu leisten haben, ihre Feindseligkeiten auf die also neu­ tralisierten Gebiete zu erstrecken oder dieselben als Basis für kriegerische Operationen zu benutzen.“ (M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 200, die ges. Akte ebd., S. 195 208). [54] Beispiele für die Frankreichs Expansion unterstützende, z. T. antienglisch akzen­ tuierte Politik Bismarcks: W. Windelband, Bismarck und die europ. Großmächte 1879 1885, 1940, S. 551 - 56; H. U. Wehler, Bismarck und d. Imperialismus, 3. Aufl. 1972, S. 383 87. Besonders deutlich war die Zurückhaltung Bismarcks bei d. Verfolgung deutscher Wirt­ schaftsinteressen in Marokko. [55] Auf dem Pariser Kongreß v. 1856, der am 30. 3. den Krimkrieg beendete, am 15. 4. die Unabhängigkeit u. Integrität des Osman. Reiches garantierte, am 16. 4. die Seerechtsde­ klaration verabschiedete (u. a. Abschaffung d. Kaperei) und durch den Rußlands Einfluß auf ~n*

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die Dardanellen und die Donaumündung gemindert wurde, wurde die Türkei in das Europä­ ische Konzert aufgenommen. Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland u. Sardinien erklärten „die hohe Pforte teilhaftig der Vorteile des öffentlichen Europäischen Rechts und des Europäischen Konzerts“ (Art. 7 d. Vertrags v. 30. 3. 1856, zit. η. M. Fleisch­ mann, Völkerrechtsquellen 1905, S. 52). U. a. aufgrund des weiterbestehenden Systems d. Konsulargerichtsbarkeit war die Gleichberechtigung der Türkei nicht vollständig. Fr. v. Liszt, Das Völkerrecht, 1898, S. 3, hielt die Aufnahme der Türkei für „verfrüht“ und kam in der 2. Aufl., 1902, S. 4, zu dem Schluß, daß die „Aufnahme der Türkei . . . toter Buchstabe ge­ blieben (sei); die damals erwartete Verjüngung des Osmanischen Reiches ist nicht eingetre­ ten, und die langsame Auflösung der europ. Türkei schreitet trotz der Eifersucht der Groß­ mächte unaufhaltsam weiter“, v. Liszt zählte aber 1898 Japan aufgrund seiner Kulturhöhe zur Völkerrechtsgemeinschaft (S. 3) und hielt Japans Eintritt in diese - aufgrund des Wegfalls der Konsulargerichtsbarkeit - für „vollzogen“ (2. Aufl., S. 5). Zur Ersetzung des religiösen u. räumlichen Kriteriums („christlich-europäische Staaten“) durch die Zurechnung zur „Zivili­ sation“: Abeken, Der Eintritt der Türkei in die Europäische Politik, 1856; Heffter, Das Europ. Völkerrecht d. Gegenwart, Ausg. 1861, S. 14 ff.; Rivier, Lehrbuch d. Völkerrechts, 1899, S. 3 ff.; Siebold, Der Eintritt Japans in das europ. Völkerrecht, 1900; Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 200 ff. u. ö.; Truyol y Serra, La sociedad intemacional, Madrid 1981, S. 57 ff., 74 ff.; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 520 ff. - Vgl. Kunz, Zum Begriff der „nation civilisée“ im modernen Völkerrecht, ZöR, 1927, FS Strisower, S. 86 - 99. [56] Schmitt bezieht sich hier v. a. auf d. Unfähigkeit d. VB-Systems zur friedlichen Revi­ sion. Lt. Art. 19 d. VB-Satzung („Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bun­ desmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher in­ ternationalen Verhältnisse auffordem, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte“) hätte der nicht zuletzt vom Versailler Vertrag bestimmte, gefährliche Status quo in Europa geändert werden können; bes. dringlich wäre die Entkoppelung d. Völkerbundsatzung von den Versailler Verträgen gewesen. Doch blieb Art. 19 ganz i. Schatten des Art. 10 (vgl. FN [20]) u. spielte nur dreimal in d. Geschichte des VB eine wenig bedeutende Rolle: beim bolivianisch-peruanischen Streitfall 1921 u. bei zwei chinesischen Anträgen betr. ungleicher Handels- u. Niederlassungsverträge und betr. der Notwendigkeit einer häufigeren Anwen­ dung d. Art. 19; vgl. Böhmert, Der Art. 19 d. Völkerbundsatzung, 1934, S. 232 ff.; Walz, Revisionsmöglichkeiten im Rahmen d. Völkerbundsatzung, DJZ, 1931, Sp. 596 ff.; Schönbom, Der Art. 19 der VBS, Berliner Monatshefte 1933, S. 945 ff.; Toynbee, Peaceful change. Intern. Affairs, 15 / 1936, S. 36 ff.; Scelle, Théorie juridique de la révision des traités, Paris 1936; John Foster Dulles, Peaceful change within the Society of Nations, Washington 1936; Rogge, Das Revisionsproblem, 1937; v. Renvers, Die Pariser Konferenz über Peaceful chan­ ge. Eine Bilanz, Monatshefte f. Ausw. Politik, August 1937, S. 465 ff.; de Visscher, Théories et réalités en droit international public, Paris 1953, S. 370 - 89. - Die geringen Ergebnisse kommentiert: Göppert, Der Völkerbund, 1938, S. 427 ff. (mit ausführl. Literaturhinweisen). [57] Vgl. die bereits „k lassisch “ zu nennende Schrift von Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1974. Vgl. auch Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 20f. (FN). [58] Die Raumauffassungen u. Gebietstheorien d. von Schmitt gen. Autoren sind nachzu­ lesen: H. Rosin, Das Recht d. Öffentl. Genossenschaften, 1886, S. 42 ff.; Laband, Das Staats­ recht d. Dt. Reiches, 5. Aufl., I, 1911, S. 190 ff.; Jellinek, Allgem. Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 394 ff.; Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920, S. 10 ff., S. 132 ff., S. 176 ff.; Kelsen, Das Problem d. Souveränität u. d. Theorie d. Völkerrechts, 2. Aufl. 1928, S. 70 ff. -

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Für Kelsens Schüler W. Henrich, Theorie d. Staatsgebietes - entwickelt aus d. Lehre v. d. lokalen Kompetenzen d. Staatsperson, 1922, S. VI, ist „das Staatsgebiet für die Staatsrechts­ lehre weder ein Stück Erde im Sinne d. politischen Geographie noch ein Objekt im Sinne d. privatrechtlichen Eigentums . . ., sondern einzig und allein als lokale Kompetenz der Staats­ person verständlich“ ; vgl. auch E. Radnitzky, Die rechtl. Natur d. Staatsgebietes, AöR, 1905, S. 313 ff., der eine Skizze der „Kompetenztheorie“ liefert. Zur Kritik: W. Hamei, Das Wesen d. Staatsgebietes, 1933, S. 129 ff. - Simmels Raumtheorie in: Soziologie, zuerst 1908, Ausg. 1992, S. 687 - 790. Dort S. 776: „Wir erblicken die Gebietshoheit als Folge und Ausdruck der Hoheit über Personen . . . die Staatsfunktion kann immer nur Beherrschung von Personen sein, und die Herrschaft über das Gebiet in demselben Sinne wäre ein Nonsens.“ - Die von Schmitt aufgewiesene Tendenz, den politischen Raum „als Produkt d. Herrschaft über Perso­ nen dar(zu)stellen, und ihn von jeder Naturbeziehung (zu) lösen“ (W. Köster, Stichwort „Raum, politischer“, Hist. Wörterbuch d. Philosophie, VIII, 1992, Sp. 122 ff., hier 127) findet sich tatsächlich bei all diesen Autoren. Die These von einem generellen jüdischen Unvermö­ gen ggü. diesem Problem ist jedoch fraglich: vgl. etwa die Schriften von lange mit Schmitt Kontakt pflegenden Autoren wie A. Grabowsky, Staat und Raum, 1928; Raum als Schicksal, 1933; Raum, Staat und Geschichte, 1960 (geopolitisch) o. von E. Rosenstock-Huessy, Die Europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, 1931, S. 121 - 31, „Das er­ regende Moment / Zeit oder Raum?“ (dieses Buch las Schmitt in den Fahnen); ders., Die Übermacht der Räume, 1956. Franz Rosenzweig schließlich hat 1917 in einem erst 1984 ver­ öffentlichten Text bedeutsame Motive Schmitts (Geschichte als Geschichte des Kampfes zw. Land- und Seemächten, Raumrevolution) „vorweggenommen“: Globus. Studien zur weltge­ schichtlichen Raumlehre, in: Gesammelte Schriften, III, Dordrecht 1984, S. 313 - 68. [59] Vgl. Schmitt, Land und Meer, 1942, S. 44 - 49, 73 - 76 (Ausg. 1981, S. 64 - 70, 103 107). [60] Vgl. a. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 13 - 20. H. J. Arndt, Verfassungsstan­ dard und Gebietsstatus, Studium Generale, 22 / 1969, S. 783 - 813, weist S. 791 darauf hin, daß „die Territorialstaatsidee genau das Gegenteil einer ,Verortung‘, nämlich das Irrelevant­ werden des konkreten Ortes für die politische Beziehung“ impliziere u. bezieht sich auf H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 104 ff. [61] Dazu die zahlreichen Hinweise b. O. Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl. 1965 (zuerst 1939).

Anhang des Herausgebers Bibliographisch-editorische Hinweise Unser Abdruck folgt, mit wenigen stillschweigenden Korrekturen, den textlich identischen 4. und 5. Auflagen der Schrift. Die 4. Auflage: Berlin/Leipzig/Wien 1941, Deutscher RechtsVerlag, 67 S.; die 5.: Berlin 1991, Duncker & Humblot, 82 S. Die 1. Auflage, Berlin-Wien 1939, Deutscher Rechts-Verlag, 88 S., endete - wie Schmitts Kieler Vortrag - mit dem Kap. V, „Der Reichsbegriff im Völkerrecht“ (gekürzt in: Deutsches Recht, 11/1939, S. 341 - 344; vollständig in: Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 303 312). Auch die 2. Auflage, Berlin/Leipzig/Wien 1940, Deutscher Rechts-Verlag, 43 S., schloß mit diesem Kapitel ab. Der Text dieser 2. Auflage erschien auch in: Paul Ritterbusch

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(Hrsg.), Politische Wissenschaft. Sechs Abhandlungen, die auf der Arbeitstagung des Kieler Instituts für Politik und Internationales Recht vom 29. März bis 1. April 1939 vorgetra­ gen wurden, gl. Verlag, gl. Jahr, S. 29 - 69. Dieser Sammelband, damals in einer limitierten Auflage von 1 000 Exemplaren erschienen, enthält sämtliche Vorträge der Tagung (vgl. u., S. 343 ff.) und umfaßt 191 Seiten. Der 3. Auflage, Berlin/Leipzig/Wien 1941, Deutscher Rechts-Verlag, 58 S., wurde das Ka­ pitel VI, „Reich und Raum“, hinzugefügt (zuerst mit Abweichungen in: ZAkDR, 13/1940, 1. 7. 1940, S. 201 - 203). Die 4. u. 5. Auflagen wurden ergänzt durch das Kapitel VII, „Der neue Raumbegriff in der Rechtswissenschaft“ (zuerst in: Raumforschung und Raumordnung, 11 - 12/1940, S. 440 - 442). Zwar schreibt Schmitt in seiner Vorbemerkung (hier S. 269): „Eine französische, spani­ sche und bulgarische Übersetzung sind erschienen oder in Vorbereitung“; erschienen ist aber wohl nur eine japanische Auswahlübersetzung von Masao Hidaka in Mandschuko, 1941 (vgl. Masanori Shiyake, Zur Lage der Carl Schmitt-Forschung in Japan, in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 491 - 502,497). Diese Ausgabe konnte bisher nicht eingesehen werden. Eine italienische Ausgabe erschien 1941 im „Istituto Nazionale di Cultura Fascista“, Rom, u. d. T. „II concetto d’Impero nel diritto intemazionale. Ordinamento dei grandi spazi con esclusione delle potenze estranee“, 143 S. Diese Ausgabe enthält nur die Kapitel I - V, beruht also auf der 1. o. 2. deutschen Ausgabe. Eingeleitet wurde sie durch eine „Prefazione“ von Luigi Vannutelli Rey, der Schmitts Gedankengang knapp skizzierte, das Konzept „Pan-Europa“ und die „visione promissa della unificazione dell’umanità in un dominio comune“ zu­ rückwies und den Anschluß Albaniens an Italien als Schritt zur italienischen Reichsbildung begrüßte (S. 1-12). Eine umfangreiche „Appendice“ m. d. T. „La politica e il diritto nel pensiero di Carl Schmitt“ (S. 95 - 143) steuerte Franco Pierandrei bei. Pierandreis Aufsatz ist eine wohlwol­ lend kritische Darstellung des Gesamtwerkes Schmitts; bezüglich der Großraumordnung fragt er nach deren rationaler Begründung u. Begründbarkeit sowie nach deren tragenden moralischen Grundsätzen und nach der Überwindung des Dezisionismus in der „konkreten Ordnung“ des Reiches (bes. S. 129 ff., 134 f.). Von Pierandrei stammt auch das Buch „I diritti subiettivi pubblici nell’evoluzione della dottrina germanica“, Turin 1940, in dem öfters auf Schmitt eingegangen wird, u. a. S. 211 f., 218 ff., 228 f. - P. studierte 1937 zwei Semester in Berlin, It. F. Lanchester, Momenti e figure nel diritto costituzionale in Italia e Germania, Mai­ land 1994, S. 401. Die Übersetzung stammt von Schmitts damaligem Schüler Luciano Conti. In einem Schreiben Schmitts an Mussolini v. 26. 11. 1939 heißt es u. a.: „Nachdem Euere Exzellenz im vorigen Jahre die Überreichung meiner Schrift „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff* freundlich entgegengenommen haben, bitte ich heute um die Erlaubnis, eine andere in diesem Jahr erschienene Abhandlung „Völkerrechtliche Großraumordnung mit In­ terventionsverbot für raumfremde Mächte“ als Zeichen derselben ehrerbietigen Gesinnung vorlegen zu dürfen. - Bei diesem Anlaß darf ich vielleicht auch den Namen eines jungen Ita­ lieners Luciano Conti aus Livorno nennen. Er hat eine ausgezeichnete italienische Überset­ zung dieser Abhandlung angefertigt. Während seines völkerrechtlichen Studiums in Berlin hat er hier einen vorzüglichen Eindruck und seinem Vaterland Ehre gemacht.“ (SchmittNachlaß, Hauptstaatsarchiv NRW, Düsseldorf.) Vgl. auch den stark an Schmitt gemahnenden

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Aufsatz von Conti: Die Stellung der Großmächte in der internationalen Ordnung, Monats­ hefte für Auswärtige Politik (MAP), 6/1939, S. 307 - 317. Stark mit „Reich und Raum“ überschneidet sich: II concetto imperiale di spazio, Lo Stato, XI/1940, S. 309 - 321; Ndr. in: Schmitt, Scritti politico-giuridici (1933 - 1942). Antologia da „Lo Stato“, a cura di Alessandro Campi, Perugia 1983, Bacco & Arianna, S. 93 - 105; sowie in der ebenfalls v. Campi herausgegebenen Schmitt-Auswahl „L’Unità del mondo e altri saggi“, Rom 1994, Antonio Pellicani Editore, S. 203 - 215. Trotz Schmitts großem Einfluß in Spanien kam es dort nur zur Übersetzung des Kap. V, „Der Reichsbegriff im Völkerrecht“ u. d. T. „El concepto de Imperio en el derecho intemacional“, Revista de Estudios Politicos, 1941, S. 83 - 101. Diese, einige kleinere, doch unbedeu­ tende Veränderungen aufweisende Übersetzung stammt von Francisco Javier Conde y Graupera (1908 - 1974), der 1933/34 in Berlin bei Schmitt studierte, mehrere Schriften Schmitts übersetzte (u. a. „Politische Theologie“, „Der Begriff des Politischen“ und „Der Leviathan“) u. in seinen letzten Lebensjahren spanischer Botschafter in Bonn war; vgl. zu ihm meine Hin­ weise in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 17 f. In niederländischer Sprache erschien das Kap. VII, „Der neue Raumbegriff in der Rechts­ wissenschaft“, u. d. T. „Het ruimtebegrip in de rechtswetenschap“, Het Juristenblad, 27. 3. 1943, Sp. 801-810.

Zur unmittelbaren Diskussion und Rezeption der „ Großraumordnung “ Schmitt hielt den Vortrag „Völkerrechtliche Großraumprinzipien“ im Rahmen der mit der 25-Jahr-Feier des Kieler Instituts für Politik und Internationales Recht verbundenen Tagung der Reichsfachgruppe Hochschullehrer im Nationalsozialistischen Rechtswahrer-Bund am 1. 4. 1939 in Kiel. Die Tagung, unter dem Motto „Völker und Völkerrecht“ stehend, fand am 31.1. - 3. 4. 1939 statt. Außer Schmitt sprachen: Emst Rudolf Huber, Der Volksgedanke in der Revolution von 1848; Gustav Adolf Walz, Neue Grundlagen des Volksgruppenrechts; Cezary Berezowski (Warschau), Die Minderheiten als Rechtsproblem; Mircea Djuvara (Bu­ karest), Die neue rumänische Verfassung; Fritz Reu, Fragen des internationalen Handels- und Wirtschaftsrechts. Die Beiträge erschienen in dem o. a. Sammelband, hrsg. von Paul Ritter­ busch (1900 - 1945), dem damaligen Leiter des Instituts; bis auf den Text Berezowskis auch als Einzelbroschüren. - Auch René Capitant sollte bei dieser Tagung referieren, sagte aber in letzter Minute ab (vgl. den Bericht von M. Djuvara, S. 345, dort S. 98). Das deutsche Presse-Echo auf die Tagung hielt sich in Grenzen; vgl. etwa die knappen Berichte „Das Reich im Völkerrecht. Ein Vortrag Carl Schmitts in Kiel“, Frankfurter Zeitung, 3. 4. 1939, oder „Grossräumiges Denken. Professor Carl Schmitt sprach in Kiel“, Deutsche Allgemeine Zeitung, 3. 4. 1939. Ergiebiger war der Aufsatz von „Dr. v. T.“ (vermutlich W. v. Tabouillet, vgl. von ihm u. a.: Der Kampf um die amerikanische Neutralitätsgesetzgebung, Deutsches Adelsblatt, 12. 8. 1939, S. 1079 ff., ebd., 19. 8. 1939, S. 1113 f.; Die totale Blokkade gegen England, Deutsches Recht, 5/1941, S. 229 - 232, sowie einige Beiträge in der ZaöRV) in der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) v. 7. 4. 1939 u. d. T.: „Volk, Nation, Staat, Reich. Die Vorträge auf der Kieler Jubiläumstagung“. Ggü. Schmitts Ausführung wandte v. T. ein: „1. Auch das unversalistische englische Imperium stellt ein, ja vielleicht

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sogar typisches Beispiel eines völkerrechtlichen Großraumprinzips, wenngleich anderer Art dar. Wenn bei diesem Großraum allerdings der unmittelbare geopolitisch räumliche Zusam­ menhalt, wie etwa bei dem amerikanischen Kontinent oder bei dem mitteleuropäischen großdeutschen Raum fehlt, so ersetzt jedoch gerade das britische Straßen- und Wegedenken in Verbindung mit der bisher von England ausgeübten Seeherrschaft auf allen Weltmeeren die­ sen räumlichen Zusammenhang. Die englische Flotte und die jetzt im Aufbau begriffene eng­ lische Luftwaffe sind die zur Überbrückung der räumlichen Entfernungen dienenden Fakto­ ren, die auch das britische Weltreich trotz seiner Zerstreutheit als einheitlichen Großraum anzusehen berechtigen. 2. Der von Carl Schmitt eingeführte neue Reichsbegriff ist - wie sich auch in der Diskussion ergab und wie er selbst einräumen mußte - zum mindesten vieldeutig. Es bleibt daher die Notwendigkeit offen, eine zweckentsprechende Terminologie für den deutschen Großraum aufzufinden.“ Karl Heinz Bremer, Völkerordnung und Völkerrecht - Arbeitstagung des Instituts für Poli­ tik und internationales Recht in Kiel, Münchner Neueste Nachrichen (MNN), 26. 4. 1939, wies darauf hin, daß sich die „hitzigsten Erörterungen ... über Carl Schmitts Referat“ entwikkelten. U. a. führte Bremer aus: „Der Begriff des Reiches, sagte Carl Schmitt, ermöglicht es, den neuen Raumvorstellungen gerecht zu werden. Das Reich ist der deutsche Großraum und entspricht einer deutschen Monroedoktrin. Die Großraumidee Carl Schmitts enthält eine durchaus konstruktive Tendenz, ist indessen in ihrem Rohzustand mehr politische Ideologie als schon ein völkerrechtlicher Begriff von allgemeiner Gültigkeit; sie kann es werden. Aber, wie auch die Debatte klarlegte, steckte doch noch manche Unklarheit in der Schmittschen These, vor allem durch die Gleichsetzung von Reich und „Großraum“. Das „Reich“ bedeutet uns Deutschen allerdings etwas anderes als der „Großraum“, es ist gleichzeitig Idee und völ­ kische Wirklichkeit, kann jedoch der Gravitationspunkt eines Großraums werden. Nament­ lich Professor Ritterbusch konnte manche berichtigende Ergänzung zu Carl Schmitts Grund­ idee beisteuern: auch der Großraum muß durch die Völker organisch ausgefüllt werden; das untrpnnbar zusammengehörige Mittel- und Osteuropa ist Gemeinbesitz all der Völker und muß es bleiben, um zu leben; aber es muß sie eine gleiche Leitidee des Rechtes und der Ord­ nung verbinden: die Idee der völkischen Ordnung und des Zusammenschlusses um den gei­ stig und politisch ordnenden Kern.“ - Bremers Bericht läßt vermuten, daß Schmitt in der „Urfassung“ seiner Großraumtheorie noch nicht zwischen „Reich“ und „Großraum“ unter­ schied und sie vielmehr ineinssetzte; die Bestimmtheit, mit der er im Kapitel V, „Der Reichs­ begriff im Völkerrecht“, diese Unterscheidung betonte (in der 1. Aufl. d. „Großraumord­ nung“, 1939, S. 69; im vorl. Band bei gl. Text, S. 295 f.) könnte also eine Reaktion auf die Kritik Bremer oder anderer Teilnehmer der Tagung darstellen. Deutlich wird, daß der später kurrente Vorwurf, Schmitts Konzept leide an einem völkischen Defizit, schon auf der Kieler Tagung eine Rolle spielte. - Zu Bremer vgl. vorl. Bd., Die Formung des französischen Gei­ stes durch den Legisten, S. 216; zur Kritik an der Ineinssetzung von „Reich“ und „Großraum“ vgl. vorl. Bd., Antwort Schmitts an Kempner, FN [12], S. 469. Hans-Helmut Dietze, Politische Völkerrechtswissenschaft, Deutsches Recht, 16/1939, S. 703 f., die verschiedenen Vorträge d. Tagung kommentierend, wandte gg. Schmitt ein: „Es ist zweifellos richtig, daß neben den zwischenvölkischen Beziehungen auch konkrete Raum­ ordnungen im Völkerrecht wirksam sind ... Ebenso notwendig ist es auch, derartige Groß­ räume, die von bestimmten Gesetzen und Anschauungen beherrscht werden, begrifflich ir­ gendwie zu erfassen, wenn auch terminologische Erwägungen niemals schlechthin entschei­ dend sein sollten. Allein, der Vorschlag, den vom deutschen Volkstum getragenen mitteleuro­ päischen Raum als „Reich“ zu bezeichnen und somit den Reichsbegriff in das Völkerrecht

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einzuführen, muß doch auf verschiedene Gegengründe stoßen. Nicht nur, daß das „Reich“ für uns Deutsche seit jeher das Sinnbild der völkischen Totalität, nicht aber irgendeiner übervöl­ kischen Raumordnung bedeutet hat - entscheidend ist vielmehr gerade die Tatsache, daß wichtiger als die Räume die Völker sind, die diese Räume besiedeln. Wenn der Reichsbegriff allgemein als die Bezeichnung für wesentlich territorial bestimmte Mächte im „VolkerRecht herrschend werden sollte, so stände der Folgerung an sich nichts im Wege, gerade jene Mächte wiederum als Subjekte des „VÖlker“-Rechts zuzulassen, die infolge ihres überstaatli­ chen imperialistischen Wesens in einem echten, d. h. völkischen Völkerrecht auf die Dauer kein Recht auf Anerkennung besitzen: die Sowjet-Union sowie die katholische Kirche. Ge­ rade diese beiden Mächte bilden zweifellos typische „Groß-Raumordnungen“ und beanspru­ chen für sich - vor allem, was die Kirche angeht - den Begriff „Reich“. Die Folge wäre also, daß alle inzwischen unternommenen berechtigten Versuche, diese Kräfte als Feinde eines auf Völkern beruhenden Völkerrechts zu erkennen und zu behandeln, in dem Augenblick vergeb­ lich sein müßten, in dem das entscheidende Gewicht nicht mehr auf Volker, sondern auf Räume gelegt würde. In dieser, wenn auch ungewollten, so doch unausweichbaren Konse­ quenz beruhen die Gefahren eines derartigen Reichsbegriffes im Völkerrecht besonders.“ Ähnlich Dietze in: 25-Jahrfeier des Instituts für Politik und Internationales Recht an der Uni­ versität in Kiel, Kieler Blätter, 1939, S. 228 - 231. Wilhelm W. Grewe, Der Reichsbegriff im Völkerrecht, MAP, August 1939, S. 798 - 802, sah den „tiefere(n) Sinn des Reichsbegriffes“ in der Versöhnung von Großraumbildung und völkischem Prinzip: „Das „Reich“ ist der Gegenbegriff zu den beiden Grundformen national­ staatlicher Gestaltung, die das 19. Jahrhundert beherrschten: zum reinen Nationalstaat, der auf der vollkommenen Identität von Volk und Staat beruht, und zum Nationalitätenstaat, der durch Entnationalisierung und Assimilation nach derselben Einheit und Geschlossenheit strebt ... Der Reichsbegriff zielt ... vielmehr auf eine übervölkische Ordnung, die den Not­ wendigkeiten wirtschaftlicher, technischer, verkehrsmäßiger und politischer Großraumbil­ dung in konkreten Gestaltungen auf den entsprechenden Lebensgebieten Rechnung trägt, ohne an den Bestand des Volkstums und an seine freien Entfaltungsmöglichkeiten zu rüh­ ren.“ - Zum Schluß gab Grewe zu bedenken: „Völkerrechtliche Prinzipien, die nicht zum Allgemeingut der Nationen werden, sind gegenstandslos. Nicht nur begrifflich-systematische Denkarbeit ist zu leisten, sondern auch die communis opinio muß hergestellt werden. Nie­ mand wird bezweifeln, daß hier für jede völkerrechtliche Neuschöpfung gegenwärtig die größten Schwierigkeiten liegen.“

Politische Reaktionen, politischer Zusammenhang Die Grundlinien der Auseinandersetzung um die „Großraumordnung“ Schmitts zeichneten sich also schon früh ab. Dies demonstriert auch der kenntnisreiche Versuch einer Darstellung des neuen deutschen Rechtsdenkens aus der Feder Mircea Djuvaras, eines Referenten der Kieler Tagung, m. d. T. „Le nouvel essai de philosophie politique et juridique en Allema­ gne“, in: Revista de Drept Public (Bukarest), 1 - 2/1939, S. 97 - 156; der Aufsatz soll auch als Broschüre (62 S.) erschienen sein. Djuvara unterstreicht bes. den durchgängigen AntiNormativismus des neuen Rechtsdenkens in Deutschland und sieht ihn u. a. als Reaktion auf das Versailler Diktat an. Er erörtert in gedrängter Form die Hauptthesen zahlreicher deut­ scher Juristen, u. a. von K. Larenz, Walz, Gürke, Wolgast, aber auch von Autoren wie Hans Freyer, und untersucht Schmitts ,Dezisionismus” (S. 117 ff.).

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Schmitts „Großraumordnung“ auf den S. 137 - 142 referierend, bemerkt er warnend: „Uexistence de ces espaces ne signifie cependant aucun droit à une tutelle ou à une domina­ tion internationale ... Il n’y a pas de „rang“ entre Etats, il n’y a que d’“autres“ Etats.“ (S. 141.) D. schließt sein Referat mit der Hoffnung: „Nous sommes certains que l’éminent auteur, qui reconnaît l’autodétérmination comme base de l’ordre international, ne peut pas être, en définitive, très loin de notre pensée et qu’il n’a pas voulu justifier à tout prix un impérialisme dont lui-même semble se defendre et qui rendrait intolérable la vie en com­ mun.“ (S. 141 f.) D., der in seiner Studie immer wieder mit großem Nachdruck die „compré­ hension, sincère et profonde, des peuples entre eux“ fordert, schließt mit: „La théorie de la non-homogéneité des membres de la communauté internationale, celle des „grands espaces“, celle d’un „Reich“ dépassant ses frontières territoriales, ainsi que les événements politiques qui se sont produits dernièrement, peuvent provoquer des inquiétudes. C’est à l’Allemagne de les calmer, dans une large et bienvaillante compréhension objective et réciproque, qui est en ce moment plus que jamais, non seulement son devoir à elle, mais aussi le devoir de tou­ tes les puissances européennes Ulrich Scheuner, Politische Wissenschaft in der Auseinandersetzung um Volk und Raum, Deutsches Recht, 21/1940, S. 850 - 852, benutzt den o. erwähnten Sammelband Ritterbuschs, um insgesamt zur Kieler Tagung Stellung zu nehmen. Zu Schmitts „Großraumordnung“ schreibt er u. a.: „... eben um die Anerkennung des von Deutschland erstrebten und 1939 schon nahezu im Aufbau vollendeten Großraums geht es heute; ihr widersetzt sich England, das seine universalistisch eingekleideten Herrschaftstendenzen nicht aufgeben will. So hat der Vortrag, in dem Carl Schmitt mit gewohnter Sicherheit eine entscheidende Fragestellung unserer Zeit aufgerollt hat, überall große Beachtung hervorgerufen ... Wenn Carl Schmitt am heutigen Völkerrecht das Festhalten an dem alten Staatsbegriff ohne Berücksichtigung der Machtunterschiede und an dem Grundsatz der Staatengleichheit kritisiert, so hat er recht, daß diese Betrachtungsweise der politischen Wirklichkeit nicht gerecht wird ... Die heutige Welt, ... wird von einer geringen Anzahl führender Mächte bestimmt, von denen jede in einem bestimmten Bereich eine räumliche Vorzugsstellung zu behaupten beansprucht. Wie sich die Berücksichtigung dieses Rangunterschiedes im Völkerrecht auswirken wird, wird man frei­ lich angesichts der Gegenwehr der alten Auffassung abwarten müssen. Es würde aber nicht genügen, nur die Mängel des bisherigen Systems aufzuzeigen ... Hier zieht nun Carl Schmitt die Raumvorstellung heran, um von ihr aus die besondere Rechtsstellung der großen Mächte im Völkerrecht zu umschreiben. In der Tat geht die politische Entwicklung heute sicherlich dahin, daß die großen Machtbildungen ihren Lebensraum in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu sichern und zu weiten suchen, daß sie ferner aus diesem Raum Einwirkungen anderer Mächte femzuhalten entschlossen sind. Wieweit diese Entwicklung heute schon völ­ kerrechtliche Anerkennung besitzt, muß zweifelhaft sein ... Ganz einig bin ich mit Carl Schmitt darin, wenn er, bei der Würdigung der Versuche, den Volksgedanken im Völkerrecht zur Geltung zu bringen, doch nachdrücklich betont, daß nur das staatlich geformte Volk, nur die organisierte Einheit sich im Völkerleben zu behaupten vermag. - Die Grundlinie ... ruft nach verschiedenen Seiten zu ergänzendem Nachdenken. So wird man fragen, ob neben den Großräumen sich nicht doch ... kleinere Staaten als „Neutrale“ oder Zwischenglieder in selb­ ständiger Stellung behaupten und damit dem herkömmlichen Recht ein Feld eröffnen. Und wie steht es mit den rechtlichen Beziehungen der Großräume untereinander? Hier gilt doch wiederum die Gleichheit, zwischen ihnen muß besonders der Interventionsbegriff geklärt werden, zumal heute, wo wirtschaftliche Expansion und politischer Einfluß sich kaum tren­ nen lassen. Endlich erweckt besonderes Interesse die innere Struktur eines solchen Groß­ raums. Nicht immer wird es ein führungsmäßiger, hegemonialer Aufbau sein ..

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Wirkliche (welt-)politische Resonanz erhielten Schmitts Thesen jedoch erst durch zwei britische Tageszeitungen; durch die „Times“ v. 5. 4. 1939 und den „Daily Mail“ vom gl. Tage. Unter der Überschrift „German Press Attacks - British Policy denounced - „Evil Inter­ vention” brachte die „Times“ einen Bericht ihres Berliner Korrespondenten v. 4. 4., in dem es unter der Zwischenüberschrift „Germany’s Goal“ u. a. hieß: „Hitherto no German statesman has given a precise definition of his aims in Eastern Europe, but perhaps a recent statement by Professor Carl Schmitt, a Nazi expert on constitutional law, may be taken as a trustworthy guide.“ Der kurzen Inhaltsangabe der „Großraumordnung“ folgte als Konklusion: „In the light of these principles we can envisage Eastern Europe an area under German domination, with what Herr Funk, the Minister of Economics, recently described as a „compound econo­ my from the North Sea to the Black Sea.“ “ Der kürzere Bericht der „Daily Mail“ vom gl. Tage, betitelt mit „Germany to Proclaim a „Monroe Doctrine”, bezeichnete Schmitt als „HenHitler’s „k ey “ man in this policy“ und schilderte ihn als „middle-aged and handsome“. Das Blatt führte u. a. aus: „Professor Schmitt outlined the Führer’s scheme to a meeting of politi­ cal historians and professors at Kiel during the week-end. He pointed out that the declaration of President Monroe in 1823 ... was the parallel which Germany would follow. Just as Presi­ dent Monroe insisted on „America for the Americans“, Hen Hitler insists on „Central Europe for the Central Europeans“. Germany considers herself the leading nation in this sphere, just as the United States claims to be the leading nation in the Americas. Hen Hitler, it is belie­ ved, will soon give it the world as his justification for Germany’s relentless expansion.“ Die „Continental Edition“ der Zeitung vom gl. Tage titelte mit „Germany to establish a Monroe Plan. Policy against Interference in Central Europe“. Vgl. dazu auch den profunden Aufsatz v. J. H. Kaiser, Europäisches Großraumdenken. Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem, in: Epirrhosis. Festgabe f. Carl Schmitt, 1968, II, S. 529 - 548, hier S. 538 f. u. vorl. Bd., Antwort Schmitts an Kempner, FN [15], S. 471 f. Von entscheidender Bedeutung war Hitlers große Rede vom 28. 4. 1939, mit der er auf Roosevelts Note vom 14. 4. 1939 antwortete (Texte bd. Dokumente sowohl in: ZVR, 1939, S. 189 - 233, als auch in: Der Führer antwortet Roosevelt. Reichstagsrede vom 28. April 1939, München 1939, Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf.; photomechanischer Ndr. in: H. Gordon, Es spricht: Der Führer, Leoni 1989, im Anhang, ohne Paginierung). Roo­ sevelt hatte in s. Note erklärt, er sei überzeugt, „daß der Sache des Weltfriedens sehr viel gedient wäre, wenn die Nationen der Welt eine freimütige Erklärung bezüglich der gegenwär­ tigen und künftigen Politik der Regierungen bekämen.“ Er bot sich als Vermittler an u. for­ derte Hitler auf, „die Zusage abzugeben, daß Ihre Streitkräfte das Gebiet oder die Besitzun­ gen folgender unabhängiger Nationen nicht angreifen bzw. nicht in diese Gebiete oder Besit­ zungen einfallen werden: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Schweden, Norwegen, Däne­ mark, die Niederlande, Belgien, Großbritannien und Irland, Frankreich, Portugal, Spanien, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Polen, Ungam, Rumänien, Jugoslawien, Rußland, Bul­ garien, Griechenland, Türkei, Irak, Arabien, Syrien, Palästina, Ägypten und Irak.“ Diesem höchst erstaunlichen Ansinnen ließ R. folgen: „Eine Zusage darf natürlich nicht nur für die Gegenwart gelten, sondern auch für eine ausreichend lange Dauer in der Zukunft, um jede Gelegenheit zu bieten, mit friedlichen Mitteln auf einen dauerhaften Frieden hinzuarbeiten. Ich schlage daher vor, daß Sie das Wort „Zukunft“ für eine zugesicherte Nichtangriffszeit von mindestens zehn Jahren bis zu einem Vierteljahrhundert - wenn wir soweit vorauszublikken haben - gelten lassen.“ In seiner Antwort, die angeblich Fritz Berber mit vorbereitet haben soll (It. M. Boveri, Verzweigungen. Autobiographie, 2. Aufl., 1978, S. 209; vgl. auch den anonymen, mit Sicherheit aber v. Berber verfaßten Artikel „Roosevelt und die MonroeDoktrin“, Monatshefte f. Ausw. Politik, Mai 1939, S. 434 f.), führte Hitler u. a. aus: „Wenn

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nun aber der amerikanische Präsident... sich berufen glaubt,... an Deutschland oder Italien eine solche Anforderung richten zu dürfen deshalb, weil Amerika so weit von Europa ent­ fernt sei, dann würde, da die Entfernung Europas von Amerika die gleiche ist, mit demselben Recht auch von unserer Seite an den Herrn Präsidenten der amerikanischen Republik die Fra­ ge gerichtet werden können, welche Ziele denn die amerikanische Außenpolitik ihrerseits verfolge, und welche Absichten denn dieser Politik zugrunde liegen, sagen wir zum Beispiel den mittel- oder südamerikanischen Staaten gegenüber. Herr Roosevelt wird sich in diesem Falle sicherlich auf die Monroe-Doktrin berufen und eine solche Forderung als eine Einmi­ schung in die inneren Angelegenheiten des amerikanischen Kontinents ablehnen. Genau die gleiche Doktrin vertreten wir Deutsche nun für Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des Großdeutschen Reiches. Im übrigen werde ich mir selbstverständlich nie erlauben, an den Herrn Präsidenten der Vereinigten Staaten Nordamerikas eine solche Auf­ forderung zu richten, da ich annehme, daß er eine solche Zumutung mit Recht wahrscheinlich als taktlos empfinden würde. “ Ob Hitler von Schmitts Vortrag in Kiel Kenntnis besaß, darf bezweifelt werden. Zumin­ dest fühlte er sich als Schöpfer einer „deutschen Monroe-Doktrin“ und Schmitt wurde „von dem Inhaber eines hohen Regierungsamtes gewarnt: der Führer schätze die Originalität sei­ ner eigenen Gedanken und Ausführungen“ (lt. Kaiser, a. a. O., S. 543; It. J. W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983, S. 259, handelte es sich dabei um Hans Frank). Die Formel von der „deutschen Monroe-Doktrin“ wurde jedenfalls dem breiteren Pu­ blikum erst durch Hitlers Rede bekannt, während der zeitlich enge Abstand zwischen dem Kieler Vortrag u. der Rede Hitlers eine Verbindung Schmitt - Hitler nahelegen konnte. Wäh­ rend der damals in engem Kontakt mit Schmitt stehende Giselher Wirsing sich auf Hitlers Rede kaprizierte (in: Wir fordern eine Monroe-Doktrin füf EuföpäTTTTäs XX. Jahrhundert, Mai 1939, S. 129 - 131), zeigte ein anonymer flämischer Autor die Parallelen zwischen Hit­ lers und Schmitts Konzepten auf (in: Monroeleer in Europa, De Dietsche Vorpoost, 5. 5. 1939, Ndr. in: P. Tommissen, Een politicologische initiatie in de grootruimtetheorie van Carl Schmitt, Tijdschrift voor sociale wetenschappen, 2/1988, S. 133 - 150, hier S. 143 ff.). Auf­ schlußreicherweise wies dieser Anonymus auf den erst 10 Tage später erscheinenden Aufsatz Schmitts „Großraum gegen Universalismus. Der völkerrechtliche Kampf um die Monroedok­ trin“ hin (in: ZAkDR, 15. 5. 1939, S. 333 - 337, Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 295 - 302), in dem sich Schmitt bereits positiv auf Hitlers Rede v. 28. 4. 1939 bezog. Bei dem Autor muß es sich um einen der sehr zahlreichen Flamen handeln, die damals in Berlin bei Schmitt hörten und z. T. sehr enge Kontakte mit ihm unterhielten (freundl. Mitteilung von Herrn Prof. Tommissen, 22. 6. 1994). Hitler selbst nahm den Topos von der „deutschen Monroedoktrin“ 1940 wieder auf. In einem dem US-Korrespondenten Karl von Wiegand gewährten Interview (9. 6. 1940) bekräf­ tigte er, daß die Monroedoktrin nicht als „eine einseitige Inanspruchnahme der Nichteinmi­ schung aufgefaßt“ werden könne, sondern auch Amerikas Nichteinmischung in Europa be­ inhalte; vgl. die Berichte in: Völkischer Beobachter, 16. 6. 1940; FZ, 17. 6. 1940 sowie die Übersetzung von v. Wiegands Bericht „Der Führer an USA“, Monatshefte f. Ausw. Politik, Juli 1940, S. 533 -536.

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Weitere Reaktionen des Auslandes Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier noch auf einige weitere Reaktionen aus Staa­ ten hingewiesen, die in einem je unterschiedlichem Verhältnis zum Dritten Reich standen. Josef L. Kunz, AJIL, 1940, S. 173 - 176, erörtert Schmitts Thesen innerhalb einer Sammel­ besprechung und weist dabei auf das Desinteresse Schmitts an der Rassenfrage hin: „Very different is the small book by Carl Schmitt. Whereas the others still cling to the ,»racial com­ munity“, he thinks in terms of the „German people’s living space“. Although paying homage to the „people“, he recognizes the necessity of the territorial element in international law.“ Kunz kommt zu dem Schluß: „Carl Schmitt, professor of law, has, of course, never been a jurist, but a politician; and, from his point of view, this is by no means a reproach but a compliment. This book ist, therefore not a study in international law, but a political thing. The author has great knowledge and has done vast reading; he is full of wit, abundant in new ways of looking at well-known topics. Regardless of whether you agree with his ideas or not, you will find the reading of this book a pleasure, for the author has talent and brains.“ Vgl. vorl. Bd., S. 254. - Eher sachlich referierend verhielt sich demgegenüber Charles Kruszewski, der in seiner tour d’horizon durch das deutsche Völkerrecht und die deutsche Geopolitik („Germany’s Lebensraumt(, American Political Science Review, October, 1940, S. 964 - 975) zu dem Schluß gelangte, bei dem Deutschen Reich handele es sich um „an unsatiated state, discontented, ambitious, restless, and bent upon modifying the status quo to her advantage, in order to acquire the coveted Lebensraum. “ Weitaus kritischer äußerte sich Franz Neumann (1900 - 1956) in seinem Hauptwerk: Behginoth» The structure and practice of National Socialism, London 1943 (zuerst 1942), der auf den S. 110 - 153 „THE GROSSDEUTSCHE REICH (Living Space and the Germanic Monroe Doctrine)“ erörterte u. bes. auf den S. 131 - 134 die deutschen Ansprüche auf eine eigene Monroe-Doktrin behandelte. Zwar seien die Postulate der dt. Monroe-Doktrin auf den ersten Blick überzeugend. Von einer wirklichen Parallele zur US-Doktrin könne aber nicht gesprochen werden, weil die Monroe-Doktrin nur die Basis des US-Imperialismus war. Neu­ mann zitiert ohne jede Kritik die Erklärung des US- Außenministers Hull an Deutschland, in der es u. a. heißt: „It (= the Monroe Doctrine) contains within it not the slighest vestige of any implication, much less assumptions, of hegemony on the part of the United States. It never has resembled and it does not today resemble policies which appear to be similar to the Monroe Doctrine, but which, instead of resting on the ... respect for existing sovereignties, seem to be only a pretext for the carrying out of conquest by the sword ... and a complete economic and political domination by certain powers.“ (S. 134; die Note Hulls ist 1940 in der Ztschr. „Key“, II, S. 118, erschienen.) Zwar kommt der Marxist Neumann nicht umhin, die USA zu tadeln, weil sie, statt mit den „large masses of workers, peasants, and middle classes“ zu kooperieren, lieber „dealings with Latin-American ruling groups“ machen, kommt aber dann zu dem Schluß: „And even in its present rudimentary form, Pan-America­ nism is utterly different from the Germanic concept of a Monroe Doctrine. The American basis is democratic consent by sovereign states; Germany knows nothing but conquest and domination.“ (S. 134.) Die Essays von John H. Herz, The National Socialist Doctrine of International Law and the Problems of International Organization, Political Science Quarterly, December 1939, S. 536 - 554, u. von Joseph Florin (= Ossip Flechtheim) u. John H. Herz, Bolshevist and National Socialist Doctrines of International Law, Social Research, February 1940, S. 1 - 31, erwähnen die „Großraumordnung“ nur en passant; beide Arbeiten wurden wohl früh im Jahre

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

1939 abgeschlossen. Während des Krieges scheint es im angelsächsischen Raum keine Stel­ lungnahme mehr zu Schmitts „Großraumordnung“ gegeben zu haben. Robert Redslob, Revue de Droit International, 1939, S. 193 - 195, schildert kurz Schmitts Thesen vom deutschen Anspruch auf eine Monroe-Doktrin u. kommentiert nur knapp: ,,L’auteur ne va pas plus avant. Il s’abstient de préciser, de développer, de justifier cette for­ mule ... Voilà la théorie, je dirai plutôt le programme développé par M. Carl Schmitt, juris­ consulte officiel du gouvernement allemand et par conséquent porte-parole authentique du Troisième Reich et de ses aspirations. Cette théorie parle par elle-même, avec éloquence. Il y a lieu de la méditer.“ Die große Darstellung von Jacques Fournier, La conception nationalesocialiste de Droit des gens, Paris 1939, Pedone, erörtert die Großraumordnung noch nicht und klassifiziert Schmitt auch nicht als Völkerrechtler („Le Pr Carl Schmitt ... n’est pas un spécialiste du droit des gens, mais du droit public interne.“ (S. 204.)) Auch auf die geopolitische Diskussion in Deutschland geht das Buch nicht ein. Tatsächlich ist die Bezugsetzung Geopolitik/VÖlkerrecht eher ein Ergebnis späterer Interpretationen nach 1945 ... Im niederländischen Sprachraum interpretierte Lode Claes, Levensruimte en ruimteordening bij Karl Haushofer en Carl Schmitt, Rechtskundig Weekblad (Antwerpen), 29. 10. 1939, Sp. 225 - 232, den Großraum Schmitts als Präzisierung des vagen Lebensraums Haushofers. Die eindringlichste Studie erschien hier in einer Tageszeitung, in der Sonntagsbeilage der Leidener „Het Vaderland“ v. 20. 7. 1941, u. d. T. „Het hegemoniebegrip en de politiek der groote ruimte“. Der anonyme Verfasser (lt. freundl. Mitteilung v. Herrn Tommissen Prof. Dr. H. Krekel aus Leiden) untersucht mit großer Akribie die Beziehungen zwischen Triepels „Hegemonie“ und Schmitts „Großraumordnung“, geht auf die Monroe-Doktrin und auf Kriti­ ker Schmitts wie Werner Best ein und schließt mit dem Vorwurf, daß das neue Denken kei­ neswegs so konkret sei, wie seine Anhänger es behaupten: „Carl Schmitt en vele andere Duitsche juristen van thans zijn, goede leeraars in dat concrete denken. Voor het speciale geval van de Grossraum-theorie zijn wij echter geneigd te zeggen: het moeg nog concreter!“ Die Zeitung „Het Vaderland“ war damals Sprachrohr der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande, in der Krekel, Professor der Geschichte an der Universität Leiden, eine bedeu­ tendere Rolle spielte; vgl. von ihm auch: Von Geist und Seele Hollands, Europäische Revue, Dez. 1941, Sondernr. „Die Niederlande und das Reich“, S. 748 - 54. - Der Aufsatz v. J. Mullenmeister u. Jac. Koolschijn, Carl Schmitt. Een der mannen van het nieuwe staatsrecht, Haags Maandblad, 1/1942, S. 3 - 16, versucht Schmitts Gesamtwerk zu umreißen und geht S. 14 f., rein referierend, auf die „Großraumordnung“ ein. Von besonderem Interesse sind die frühen Reaktionen in der Schweiz. „W.“ (= Hans Weh­ berg), Die Friedens-Warte, 1 - 2/1940, S. 134 f., erklärt: „... es soll das alte Völkerrecht zer­ stört und stattdessen zum Vorteil einzelner Grossmächte eine imperialistische Grossraumord­ nung geschaffen werden. Es ist bemerkenswert, wie wenig Gewissensbedenken Schmitt hat, die Mittel- und Kleinstaaten, die eine so hohe Kulturmission zu erfüllen haben, den Gross­ mächten als willkommene Beute darzubieten. Das alles hat mit Völkerrecht und Völker­ rechtspolitik nichts mehr zu tun, sondern ist der Versuch, eine Politik des Imperialismus mit einem Scheine Rechtens auszustatten.“ - J. M., „Großraumordnung mit Interventionsverbot“, Neue Zürcher Zeitung, 25. 1. 1940, argumentiert ähnlich. Der Autor meint, daß „das Operie­ ren Schmitts mit der Monroedoktrin ... eine Verirrung“ sei. Die Monroedoktrin sei kein Rechtsgrundsatz, sondern nur eine politische Maxime; Schmitt stelle sie jedoch „als kom­ mendes Völkerrecht“ dar. Der “Drang nach Lebensraum “ sei „nur eine neue Form des Impe­ rialismus, und der Versuch, den Lebensraum völkerrechtlich zu verankern, ist einer jener in

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der Geschichte des Staats- und Völkerrechts wohlbekannten Versuche, Macht als Recht er­ scheinen zu lassen. Der Unterschied zu früheren Fällen besteht nur darin, daß einem diesmal die Entlarvung besonders leicht gemacht wurde.“ Der Artikel schließt mit der These, daß der Beitrag der neutralen Staaten nach einem Frieden, gleichgültig wie dieser ausfallen mag, „ein anderer sein wird, als dieser Beitrag aus Deutschland zu einem völkerrechtlichen Neuauf­ bau.“ - K. W. (Kurt Wilk? - G. M.), „Strahlendes“ Völkerrecht, Vaterland (Luzern), 26. 4. 1940, verlegt sich mehr aufs Spotten: „Wir wissen heute, daß sich das neu-deutsche völker­ rechtliche „Schutzrecht“ nicht bloß auf Volksdeutsche Gebiete und deutsche Volksgruppen bezieht, sondern daß die „Ausstrahlungen“ dieses „Rechtes“ viel weiter reichen. Polen mußte sich „bestrahlen“ lassen, Dänemark und Norwegen stehen auch in der Gloriole dieser Aus­ strahlungspolitik und dieses Ausstrahlungsrechtes. Was von Schmitt theoretisch als Recht konstruiert und von der deutschen Regierung als Politik betätigt wird, ist die vollkommene Auflösung jeden Rechtes, ist einfachster und brutalster Imperialismus.“ Puck (wohl Pseudonym? - G. M.) schrieb u. d. T. „Rayonnement“ im „Journal de Genè­ ve“ V. 30. 4. 1940 u. a.: „Frédéric le Grand menait des campagnes militaires et lorsqu’il les avait achevées, il chargeait ses juristes de les justifier. Le juriste le plus en vue de l’Allemagne hitlérienne est M. Carl Schmitt; il n’a pas attendu la fin de la guerre pour expli­ quer la conduite du Reich: dans un gros volume (! - G. M.), il essaie de créer un nouveau droit des gens en interprétant juridiquement la politique naziste ... Le Reich, nous dit M. Schmitt, rayonne, irradie sur les contrées qui l’entourent, l’image est charmante; si on la creuse, on voit que les éclairs des baïonnettes et les flammes des bombes sont les rayons lumineux de ce nouvel astre qui projette ses clartés sur toute l’Europe centrale. Les Polonais ont éprouvé les premiers les bienfaits de cette irradiation: les Danois ont été „illuminés“ à leur tour, puis le rayonnement s’est étendu à la Norvège.“ Der sachlichste, aber auch theoretisch solideste Artikel, der Schmitts Thesen weder mit der Theorie vom „Lebensraum“ noch mit der Politik Hitlers ineinssetzt und der auch Schmitts Beziehung zu wirtschaftlichen Theorien sieht, stammt von A. S., Carl Schmitt. Der Theoretiker des Grossraums, Die Weltwoche, 6. 12. 1940. Darin heißt es u. a.: „Wer kennt zum Beispiel den Namen Carl Schmitt? Dieser entscheidende Theoretiker des Dritten Rei­ ches spielt für die von Deutschland ausgehende Revolution eine Rolle wie Rousseau für die französische Revolution ... Es wird dem, der genügend Einbildungskraft und Gedanken­ schärfe besitzt, aufgehen, daß hier ein geistiger Feldherr am Werke ist, dessen Direktiven, wenn sie mit Erfolg in die Praxis umgesetzt werden, das Leben dieser und der folgenden Generationen entscheidend umformen werden.“ Der Autor schildert relativ detailliert Schmitts Erörterung der Monroe-Doktrin und geht auf die technisch-wirtschaftliche Tendenz zu Groß(-wirtschafts)räumen näher ein, hält letztlich aber dafür, daß die Großraumpolitik nur dann bleibende Werte schaffen kann, wenn die Großmächte „nicht nur an ihre eigenen Inter­ essen denken, sondern auch an die Interessen der kleinen Staaten und Völker, deren Gedeihen letzten Endes für eine gesunde Entwicklung des gesamten Grossraumes kaum minder wichtig ist, als das Gedeihen der diesen Raum ordnenden Grossmächte selber.“

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Die Großraum-Debatte in Italien während des II. Weltkrieges Eine gewisse Eigenständigkeit gewann die Großraum-Diskussion während des II. Welt­ krieges in Italien; einer der Anlässe war sicher der deutsch-ital. „Stahl“-Pakt v. 22. 5. 1939 (Text mit Materialien in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, III/2, 1942, S. 1058 1067). Vor allem ist der römische Staats- u. Völkerrechtler Carlo Costamagna (1881 - 1965) zu nennen, der 1930 - 1943 die Zeitschrift „Lo Stato - Rivista di scienze politiche, giuridiche e economiche“ leitete und als Verfechter einer etatistischen, dem Korporativismus ggü. kriti­ schen Linie im ital. Faschismus einzustufen ist (vgl. a. über den Kurs der Zeitschrift: Monica Toraldo di Francia, Per un corporativismo senza ,corporazione” : „Lo Stato“ di Carlo Costa­ magna, Quademi fiorentini, 1989, S. 267 - 327). Costamagnas wichtigste Bücher: Elementi di diritto pubblico fascista, Turin 1934; Storia e dottrina del fascismo, Turin 1938 (dt.: Fa­ schismus. Entwicklung und Lehre, Berlin-Wien 1939); Elementi di diritto pubblico generale, Turin 1943 (darin ö?überSchmitt, zur Großraumtfieorie u. a. S. 166 ff., 272 ff.). Vgl. auch die von Gennaro Malgieri veranstaltete Auswahl: Carlo Costagmagna. Dalla caduta dell’“ideale modemo“ alla „nuova scienza“, Vibo Valentia 1981. Von den Aufsätzen Costa­ magnas, die sich mit der Großraumfrage (auch) befassen, sind zu nennen: L’idea dei impero, Lo Stato, IV/1937, S. 193 - 206; Gli aggregati imperiali, ebd., X/1939, S. 497 - 506 (auch bei Malgieri, S. 102 ff.); Autarchia e etnarchia nel diritto dell’ordine nuovo, ebd., 1/1941, S. 1 20 (gekürzte dt. Version: Autarkie und Ethnarkie in der Völker- und Staatsrechtslehre der Neuordnung, ZAkDR, 13/1941, S. 201 - 203); L’idea dell’Europa e la guerra, III/1943, S. 65 - 78 (bei Malgieri S. 123 ff.). - Schmitt publizierte des öfteren in „Lo Stato“ ; die Mehrzahl dieser Aufsätze ist in den o., S. 343, erwähnten Sammelbänden Alessandro Campis nachge­ druckt. Um 1936 faßten Costamagna und Schmitt den Plan, ein gemeinsames völkerrechtliches Institut zu gründen. In der SD-Akte Schmitts (Institut f. Zeitgeschichte, Fa 503 ( 1)) heißt es in einem Bericht v. 8. 12. 1936, S. 100 f., u. a.: „(Schmitt) ist ... nicht untätig und glaubt bereits neue Betätigungsmöglichkeiten erkannt zu haben. Nachdem schon vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass er sich in Zukunft besonders mit völkerrechtlichen Fragen befassen will (in der klaren Erkenntnis, dass derartige Fragen im Hinblick auf Abessinien, Spanien, So­ wjet-Russland, Völkerbund, Locarno usw. besonders akut sind), wird dies neuerdings bestä­ tigt durch eine Meldung aus seiner nächsten Umgebung. Er plant neuerdings ein Völker­ rechtsinstitut zusammen mit dem berühmten italienischen Völkerrechtsprofessor Costa Ma­ gna (sic ! - G. M.) in Rom, der die besondere Gunst Mussolinis geniesst. Schmitt hat ihn bei seiner vor einiger Zeit durchgeführten Reise nach Rom kennengelemt, und zwar über den Zweigstellenleiter des Deutsch-Akademischen Austauschdienstes in Rom, Blahut. Dieser Blahut ist zwar Träger des goldenen Parteiabzeichens, ist aber Katholik und wird als ein Ver­ treter der katholischen Kirche bezeichnet. Dieser Blahut war vorgestern abend zusammen mit dem Zweigstellenleiter des Deutsch-Akademischen Austauschdienstes in Madrid, Adams, bei Carl Schmitt zu Gast. Schmitt kennt Adams von einer früheren Reise nach Madrid. Schmitt will seinen Plan auf dem Wege verwirklichen, dass er erneut eine Reise nach Rom macht, wo Blahut ihn über Costa Magna einen erneuten Besuch beim Duce vermitteln soll. Auf diese Weise ... soll dann das geplante Institut Wirklichkeit werden. Dieses Institut soll die Völker­ rechtsfragen im italienisch-deutschen Sinne gegen Genf, Locarno, Versailles, die Auffassung der Westmächte in der Abessinienfrage usw. behandeln. - Es handelt sich hier wieder um einen ganz raffinierten Plan Carl Schmitts. Nachdem er sieht, dass er innerpolitisch aus der Gestaltung des nationalsozialistischen Rechtslebens in jeder Weise ausgeschaltet ist, sucht er

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sich jetzt ein neues Betätigungsfeld, durch das er seine völlige Kaltstellung vermeiden möchte und eventuell wieder neuen Auftrieb zu bekommen hofft. Er handelt hier in der kla­ ren Erkenntnis, dass die Vereinbarungen zwischen Deutschland und Italien die Zeit reif ge­ macht habe für die von ihm geplante Zusammenarbeit. Er weiss andererseits auch, dass im Hinblick auf die gegenwärtige aussenpolitische Lage eine einmal abgeschlossene Zusammen­ arbeit mit italienisch-faschistischen Wissenschaftlern nicht so leicht zerschlagen werden kann, denn er kann dann mit dem zugkräftigen Argument kommen, dass das gegenwärtige Verhältnis zu Italien es unmöglich macht, eine einmal geschlossene Vereinbarung wieder auf­ zukündigen. Er kann dann darauf hinweisen, dass das im Hinblick auf die guten Beziehungen Costa Magna’s zu Mussolini von Italien als eine Distanzierung aufgefasst werden könne. Hier zeigt sich wieder einmal die ganze Raffinesse Carl Schmitts. - Es ist deshalb unbedingt erforderlich, dass Schmitt weder seine Reise nach Rom antritt noch das von ihm geplante Institut zustande bringt.“ - Die hieraus resultierenden Maßnahmen und der weitere Verlauf konnten leider bisher nicht eruiert werden. Für Costamagnas Auffassung vom Großraum, die in seinem o. a. deutschen Aufsatz zu­ sammengefaßt wurde, ist wichtig, daß Autarkie und Ethnarkie an die Stelle der Begriffe Sou­ veränität und Völkerrechtsgemeinschaft treten; Autarkie deckt sich dabei mit dem Lebens­ raum, Ethnarkie mit dem Großraum. Im Grunde kommt Autarkie nur den großen, leitenden Völkern bzw. Staaten zu: „Die nationalen und völkischen Revolutionen, die für die Notwen­ digkeit eintreten, die Beziehungen zwischen den Völkern entsprechend den tatsächlichen Un­ terschieden zwischen den einzelnen nationalen Existenzen zu gestalten, kehren heute zu dem Begriff der Autarkie zurück. Die Idee der „Volksgemeinschaft“, d. h. des „völkischen Staa­ tes“, stellt den Staat in den Dienst des Volkes, das sich in ihm erkennt. Von dieser Staatsauf­ fassung erwarten die völkischen Revolutionen die Neuentwicklung des Begriffes der Autar­ kie als einer unmißverständlischen spezifischen Eigenschaft des Staates, der nicht als Regie­ rungsapparat, sondern als politische Einheit betrachtet wird. Indem diese Lehre von der Un­ tersuchung der wirtschaftlichen Bedingungen der Autarkie ausgeht und für ihre Verwirklichung einen angemessenen Lebensraum fordert, gelangt sie zu der Anerkennung des absoluten Wertes der Autarkie, d. h. der Notwendigkeit, durch die sich ein Volk als Le­ bensgemeinschaft, als Staat im geistigen Sinn des Wortes behauptet. Mit dem Begriff der Autarkie entdeckt das Verfassungsrecht die Grundlage der Autorität in dem Gefühl, von dem das Individuum durchdrungen ist und das ihm die unbedingte Abhängigkeit von dem sozia­ len Organismus der Nation offenbart.“ (S. 202.) Wie diese nationale Autarkie mit der supra­ nationalen Ordnung zu vereinen sei, blieb aber ziemlich ungeklärt. C. sprach hier von „im­ perialer Ethnarkie“: „Es handelt sich nicht mehr um eine einfache Zusammenarbeit im Dienst allgemeiner Ziele einer angeblich universalen Zivilisation, sondern um eine besondere Lebensauffassung im Rahmen einer konkreten Volkervereinigung, geschaffen durch das Han­ deln einiger berufener Nationen unter Berücksichtigung der nationalen und autarken Bedürf­ nisse der vereinigten Volker... Die Lehre vom Großraum bringt die Idee einer neuen Art von Vereinigung zwischen den zivilisierten Staaten zum Ausdruck, die einerseits im Innem die höchste Lebensfülle in strenger nationaler Zusammenfassung verwirklichen, andererseits be­ wußt Elemente eines weiteren Kräftesystems sein wollen, das eine zahlreiche Menschengrup­ pe in einem großen geographischen Raum zur Grundlage hat. - Die ideologischen Grundsät­ ze fordern die Achtung der nationalen Autarkie innerhalb einer positiven, übernationalen, richtig gegliederten und anderen übernationalen Organisationen gegenüberstehenden Ord­ nung. Wenn ein Ausdruck dazu beitragen kann, die neue Form zu bestimmen, so ist es der Ausdruck "imperiale E th n a r k ie der zur Bezeichnung eines Staaten-Staates dienen kann und entsprechend dem Totalwert, den die nationale Lehre dem Staat zuschreibt, den römi2 .1 S i n a i , ( i r n L l r n u m , N o m o s

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

sehen Begriff des „aequam foedus“ als einer politischen und dynamischen Vereinigung von Staaten zur Verteidigung und Entwicklung einer besonderen gemeinsamen Zivilisation in der Welt erneuert. Es versteht sich, daß die Systematisierung der entsprechenden Begriffe für die Juristen eine harte Aufgabe ist, da sie in der Regel nur das Material benutzen wollen, das bei der Betrachtung des Einheitsstaates, so wie dieser in den partikulären Territorialstaaten des 19. Jh. seine Verwirklichung gefunden hatte, gewonnen werden kann. In größerem Umfang und auf verfassungsrechtlicher Grundlage könnten die Institute der Symmachie und der Hege­ monie ... wieder rechtliche Bedeutung gewinnen ... Sie scheinen besser als der rationalisti­ sche Begriff der Souveränität dazu geeignet zu sein, dem Gefüge als Grundlage zu dienen, dem in der Zukunft eher der Erfolg sicher sein wird, als in der Form des Bundesstaates.“ (S. 203.) - C. wies öfters (bes. in: Gli aggregati imperiali, o. a.) darauf hin, daß sich schon seit längerem größere imperiale Aggregate gebildet hätten, denen aber keine moralische Idee zueigen gewesen sei; im Visier hatte C. hier vor allem England als eine Macht, die stets vor der Notwendigkeit stünde, alle Raumgrenzen zu überschreiten. Bei C. sollte nur den führen­ den Völkern innerhalb eines Großraums gleiche Rechte zugebilligt werden, während den „populi terzi“ die „Solidarität“ der Führungsvölker galt; eine Art wohlwollend-patemalistische Verwaltung, deren Umrisse und deren juristische Ausgestaltung jedoch höchst unklar blieb (vgl. bes.: L’idea dell’Europa e la guerra, o. a.). Als eine Art Vorskizze seiner nie wirk­ lich zu einem Abschluß kommenden Gedanken zur Großraumfrage darf man einige Passagen betrachten aus: Faschismus, o. a., S. 208 - 216 (ü. imperiale Ethnarkie), S. 372 - 381 (ü. Autarkie); damit sich nur überschneidend: Dottrina del fascismo (2. Aufl. v. „Storia e dottrina del fascismo“, o. a.), 1940 (Ndr. o. J.), S. 226 - 241, 488 - 506. - 1954 kam es noch zu einem kurzen, freundschaftlichen Briefwechsel zw. Schmitt und Costamagna, HSTAD-RW 265-203, Nm. 41, 44, 48. Auch ein großer intellektueller Einzelgänger wie der Kulturphilosoph Baron Julius Evola (1898 - 1974), der öfters zu Werken Schmitts Stellung nahm (vgl. u. a. die Hinweise bei,I. Staff^Staatsdenken im Italien des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Carl Schmitt-Rezeption, 1991, bes. S. 3 7 ^45^'ünd‘Tioch nach dem II. Weltkrieg mit Schmitt gelegentlich korrespon­ dierte, erörterte die Großraumfrage. E. warf dem Nationalsozialismus eine Unterbewertung des Staatlichen vor, forderte die Überwindung des formalistisch-juristischen und rein verwal­ tungsmäßigen Denkens und einen hierarchischen Aufbau des neuen Europa durch Italien und Deutschland. Er lehnte den Begriff „Großraum“ bzw. „spazio grande“ ab, da dieser kein Herrscherrecht impliciere und sprach statt dessen vom „spazio imperiale“. E. distanzierte sich von einer biologisch verstandenen Rasse und hob auf die Überlegenheit der Kultur ab. Mit einigem Nachdruck unterstrich er, daß es in Europa zwei Reiche, ~zwei Großräume, zwei unterschiedliche politische Ideologien gab; dabei war seine Distanz ggü. dem Nationalsozia­ lismus um vieles deutlicher als die nicht zu bestreitende ggü. dem Faschismus. Beide Bewe­ gungen begriff der geistesaristokratische, anti-moderne Traditionalist und Hierarchist eher als „linke“ Bewegungen, vgl. dazu s. Spätwerk von 1968: II fascismo visto dalla destra/Note sul Terzo Reich, Ndr. Rom 1989 (Settimo Sigillo); vgl. a. die Dokumentation v. N. Cospito/H. W. Neulen, Julius Evola nei documenti segreti del Terzo Reich, Rom 1986. - In s. Artikel „England und die Frage der imperialen Großräume“, Geist der Zeit, Jan. 1941, S. 15 - 22, betonte E., daß es sich im Kampf gegen das plutokratische England nicht um eine pure Wachablösung drehe. Anstelle der „Werte der Masse“ bzw. handelsökonomischer Vorteile müßten heldische und wirklich geistige Werte treten; es komme auf die Gestaltung kriegeri­ scher, aristokratischer Eliten an. Vom „Stadium der imperialen Zusammensetzungen“ sei zu dem der „wahren und wirklichen Organismen “ überzugehen.

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Der Staatsrechtslehrer Giuseppe LoVerde, der u. a. 1932 in Königsberg ü. Ital. Öffentli­ ches Recht las und im Herbst 1941, als Prof, an der Universität Camerino, einem deutschital. „Comitato giuridico“ Vorstand (lt. Fulco Lanchester, a. a. O., S. 400), wies in seinem Aufsatz „Souveränität, Großraum und faschistische Revolutionen“, in: Geist der Zeit, 7/ 1941, S. 437 - 449, auf die „wachsende Autarkie der 4 Großraum wirtschaften“ Rußland, USA, französ. u. engl. Imperium, hin und auf die Gefahr, daß die rohstoffärmeren Länder „der Abwürgung durch Seeherrschaft“ ausgesetzt seien und sich deshalb gezwungen sähen, „um ihre Souveränität zu wahren, zum mindesten Wirtschaftsräume zu schaffen, die dem Zu­ griff der Flottenhegemonie“ entzogen werden können. Mussolini hätte 1931/32 durch eine besondere Handelspolitik damit einen Anfang gemacht, um „einen von Italien geführten Wirtschaftsgroßraum zu schaffen. Ungam, einige Staaten Südosteuropas und des östlichen Mittelmeerbeckens, Lybien und schließlich Italienisch-Ostafrika gehören diesem Wirtschafts­ großraum an.“ Ähnliche Versuche sah LoVerde in Fernost (Japan-China) und durch Deutsch­ land in Mitteleuropa. LoVerde sah die Großraumordnung als System tatsächlicher Abhängig­ keiten, so daß er mit dem Begriff der Souveränität keine Schwierigkeiten hatte, darüber hin­ aus ging es ihm primär um Blockadefestigkeit; diese war ihm letztlich „identisch“ mit Souve­ ränität. Er betonte den Verzicht auf „Großraumstaatsideologie“ und war davon überzeugt, daß auch nach stattgehabter Herausbildung der Großräume die internationale Gesellschaft „vorwiegend aus Nationalstaaten, ... jedenfalls nicht aus Großraumstaaten“ bestehen würde. - In seinem Buch „Das faschistische Imperium, sein Staatsangehörigkeitsrecht und seine Rassenpolitik“, Darmstadt 1942, erschienen in der von Reinhard Höhn herausgegebenen Rei­ he „Forschungen zum Staats- und Verwaltungsrecht“, bezog sich LoVerde des öfteren, nicht selten auch stillschweigend auf Schmitt o. ging näher auf dessen Thesen ein, so u. a. S. 11, 13 f., 16, 31, 40 f., 44, 46, 57 f. Von Interesse sind hier die S. 40 - 52, wo LoVerde eine weit über Schmitt hinausgehende Detaillierung der verschiedenen möglichen juristischen (Konflikt-)Lagen innerhalb eines Großraumes oder zwischen Großräumen gelingt. Ansonsten be­ faßt sich sein Werk mit dem ital. Kolonialrecht. Giacomo Perticone, II problema dello „spazio vitale“ e dei „grande spazio“, Lo Stato, XII/ 1940, S. 522 - 531, geht relativ ausführlich u. kritisch auf Schmitt ein. Er kritisiert Schmitts Freund/Feind-Kriterium, weil es inhaltlich leer sei (als wenn nicht gerade darin dessen Vor­ zug bestünde!) und weist auf die wechselseitige Durchdringung von Staat und Gesellschaft hin, ggü. der ihm Schmitts Politikkonzept obsolet dünkt (als ob diese Durchdringung nicht ein Dauerthema Schmitts wäre). P. sieht Schmitt in der deutschen Machtstaatstradition und vergleicht ihn gar mit Treitschke. Dennoch ist P. realistisch genug, den größeren Staaten auch größere Einflußsphären zuzubilligen, sieht aber durch Schmitt die Anerkennung der territo­ rialen Souveränität als eines völkerrechtlichen Grundprinzips bedroht. Bei Schmitt trete an die Stelle des Rechts und der auch für die Imperiumsbildung wichtigen Vereinbarung die reine Faktizität; die i. e. S. nationalsozialistische Kritik an Schmitt, etwa durch Werner Best und Reinhard Höhn (vgl. vorl. Bd., Antwort an Kempner, FN [25 - 28], S. 474 ff.) scheint P. unbekannt zu sein. Riccardo Monaco, Gerarchia e parità fra gli Stati nell’ordinamento intemazionale, Ri vista di studi politici intemazionale, 1/1942, S. 58 - 75, der u. a. auch auf Triepel eingeht u. auch E. R. Hubers Kritik an Schmitt, vgl. u., S. 360 f., benützt, argumentiert ähnlich. „Fin tanto che esistono storicamente più Stati“, lassen sich die juridischen Beziehungen nicht aufheben. Schmitts Ansatz zu einer neuen internationalen Ordnung sei kaum eine Skizze und offeriere nicht die notwendigen Bausteine, um die alte Ordnung zu ersetzen. M. weist den „ordinamento a piramide“ Schmitts zurück und hält seine Thesen für politisch, nicht juristisch. In

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s. Aufsatz „Carl Schmitt e il diritto intemazionale“, Quademi costituzionale, 3/1986, Sondemr. „Carl Schmitt Giurista“, S. 511 - 523, hat M. seine frühere Stellungnahme bekräftigt, nicht ohne Schmitt eine „totale adesione aH’hitlerismo“ vorzuwerfen. Lorenzo LaVia, Lo „spazio vitale“ nella domina e nel sistema del nostro diritto pubblico, Rivista di diritto pubblico, Agosto-Sett. 1941, S. 357 - 377, u. Giancarlo Ballarati, Verso una nuova sintesi europea, Domina fascista, Agosto 1941, S. 27 - 52, urteilen weit positiver. LaVia fordert für Europa eine Verwirklichung von Zielen, die sich an der „natürlichen Hierar­ chie der Werte“ ausrichten. Zwar finde die „autarchia“ im „campo intemazionale limite ed equilibrio nell’eguale diritto degli altri Stati“ (S. 365), doch sei ein neues Gleichgewicht er­ strebenswert. Dieses, sozusagen hegemonische Gleichgewicht, soll „secondo una gerarchia rispondente al reale valore intemazionale di ciascun Stato“ ausgerichtet werden, was aber mit einer „solidarietà fra grandi e piccole unità“ (S. 373) vereinbar sein soll. - Ballarati fordert einen europäischen Großraum, der als Machtkomplex sowohl Rußland als auch Amerika ge­ wachsen sein muß, „barbarischen“ Ländern ohne Tradition und ohne Geschichte. Ein „PanEuropa“ oder ähnliche Zusammenschlüsse seien dazu ungeeignet; nur ein faschistisches Eu­ ropa als „comunità imperiale“ könne den Weg in die Dekadenz und Abhängigkeit aufhalten. B. bleibt sich dabei bewußt, daß alle Versuche einer dauernden Hegemonie in Europa bisher scheiterten. Die Zerstörung der „fondamentali nazionalismi“ würde nicht Europa schaffen, sondern nur ein unvorstellbares Chaos hervorrufen: „... ogni tentativo egemonico sarebbe destinato a cozzare contro Γ insuperabile ostacolo della individualità delle grandi nazioni europee, ehe hanno una fisonomia storica e culturale insopprimibile“ (S. 41). Eine Lösung der Frage „Gleichgewicht oder Hegemonie“ bzw. wie die Beziehung Gleichgewicht/Hegemonie beschaffen sein soll, schlägt freilich auch B. nicht vor. Die ausführlichste, durchweg sehr kritische Erörterung der Probleme von Großraum u. Lebensraum stammt von dem Pater A. Messineo SJ, der sich in den Jahrgängen 1941/42 der „Civiltà Cattolica“ zu Worte meldete (in: 11/1941, S. 166 - 178; 252 - 268; III/1941, 32 - 43; 182 - 192; 202 - 209; 267 - 277; 329 - 339; IV/1941, 153 - 163; 335 - 344; 1/1942, 112 121; 271 - 281; 11/1942, 73 - 81; 202 - 210; III/1942, 75 - 81). Z. T. überarbeitet, erschienen diese Aufsätze in M.s Buch „Spazio vitale e grande spazio“, Rom 1942, La Civiltà Cattolica, 262 S. (mit einem Anhang ü. Repressalienrecht, S. 189 ff.). M., der trotz seiner großen Kennt­ nisse erstaunlicherweise behauptete, die Bibliographie zu Groß- und Lebensraum sei sehr knapp („molto scarsa“), fügte mit einer gewissen Berechtigung hinzu, es handele sich um „pubblicazioni sporadiche e occasionali, dove l’argomento viene appena sfiorati senza suffi­ ciente elaborazione scientifica.“ Man darf aber sagen, daß M.s Kritik die Großraumtheorie erst zu einem „System“ machte und sein Werk außerordentlich zahlreiche und detaillierte, nicht nur juristisch ergiebige Einwände und Anregungen enthält, die hier nicht referiert wer­ den können. Den Großraum deutlich von Interessensphären und Föderationen absetzend, er­ klärte er: „Nel grande spazio la sovranità piena senza limitazione alcuna apparterrebbe soltanto ad un solo Stato, al piü potente, col quale le relazioni dei nuclei minori si annoderanno secondo il principio gerarchico in forma di vera e propria sudditanza, con 1’esclusione dei vecchio principio egualitario. Egemonia politica incondizionata e totale . .. “ (Civiltà Cattoli­ ca, IV/1941, S. 156; i. Buch S. 29). Die „Stati minori“ befanden sich ggü. den „populi poten­ ti“ in einem „rapporto di subordinazione“ (i. Buch S. 149), was aber nach den bisherigen europäischen Erfahrungen nicht von Dauer sein könne (ebd., S. 148). Das gesamte Konzept leide an einem „unbefriedigenden begrifflichen Schwanken“ („sconcertante ondeggiamento concettuale“) und die Spannungen und Widersprüche zwischen Politik und Recht, zwischen absoluter Souveränität der großen und begrenzter der kleinen Staaten, zwischen dem „diritto

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pubblico intemo“ und dem „diritto pubblico intemazionale“ seien gewaltig. Aufschlußreich ist, daß Messineo sich nicht nur von der Großraumtheorie distanziert, sondern auch vom an­ gelsächsischen Universalismus („quella falsa civiltà mercantilistica“) und daraus schließt: „NelFabbandono di queste due apparentemente diverse forme di organizzazione consiste la salvezza“ (La Civiltà Cattolica, 1/1942, S. 281 ; i. Buch S. 106). Messineos ehrgeiziger und bedeutender Versuch krankt daran, die oft beträchtlichen Unter­ schiede der Großraumtheorien zu übersehen. Er scheint auch nicht verstehen zu wollen, daß der fragmentarische und skizzenhafte Charakter der Theorie „en marche“ etwas Zwangsläufi­ ges hat, so daß der Vorwurf an eine Skizze, sie sei eine, wohl etwas fehl am Platze ist. Vor allem aber wertet er die Großraumtheorie nur als eine Ideologie im Dienste der Achse, ohne zu sehen, daß sie, darüber hinausweisend, wichtige Momente der tatsächlichen geschichtli­ chen Entwicklung erfaßt. Carlo Costamagna, Chiarificazione sui concetti di spazio vitale e di grande spazio, Lo Stato, XII/1941, S. 445 - 449, ging noch einmal kurz auf LaVia und Messineo ein und wies den Vorwurf, hier finde sich keine „valutazione morale“, zurück. In Japan sollen zwischen 1940 und 1942 mehrere Aufsätze zur „Großraumordnung“ Schmitts erschienen sein; ebenso das Buch von Kaoru Yasui, Die Fundamentalideen des eu­ ropäischen Großraum-VÖlkerrechts, Tokio 1942 (jap.). Genaueres dazu konnte der Herausge­ ber, trotz Bemühungen japan. Freunde, bisher nicht erfahren. In Spanien sind angeblich um 1940 mehrere Aufsätze in Zeitschriften erschienen, die aber noch nicht gefunden werden konnten. Dem bedeutenden Völkerrechtler, Vitoria-Forscher und Rechtsphilosophen Antonia Truyol y Serra (*1913), der öfters Kontakt mit Schmitt hatte (vgl. von diesem Autor u. a.: Die Grundsätze des Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, Zü­ rich 1947; Utopia y realismo politico en Tornas Campanella, Madrid 1955; Genèse et structu­ re de la société internationale, Recueil des Cours, 1959/1, S. 553 - 642; Die Entstehung der Weltstaatengesellschaft, 1963; L’expansion de la société internationale aux XIXe et XXe siècles, Recueil des Cours, 1965/III, S. 89 - 179; Der Wandel der Staatenwelt in neuerer Zeit im Spiegel der VÖlkerrechtsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, 1968; Dante y Campanella. Dos visiones de una sociedad mundial, Madrid 1968; The discovery of the New World and International Law, in: The University of Toledo Law Review, 1971, S. 305 - 321; La socie­ dad internacional, Madrid 1974 (u. ö.); Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado, Madrid 1954/1975 2 Bde.), verdanken wir die eindringliche Studie „Una nueva representa­ tion del espacio en Derecho internacional“, in: Revista de la Facultad de Derecho de Madrid, 4 - 5/1941, S. 81 - 104. Truyol, sich mehr auf „Raum und Großraum im Völkerrecht“ bezie­ hend, als auf Schmitts Buch, betont, daß das „Internationale Recht, mehr als irgendein ande­ rer Sektor des juridischen Feldes, sein axiologisches Fundament in Prinzipien findet, die dem Juristischen transzendent“ seien. Schmitts Thesen würden sich „bajo el signo de la vision organica del mundo“ befinden; Truyol behauptet hier eine Nähe zu Karl Larenz’ „Rechts­ und Staatsphilosophie der Gegenwart“ (1935). Im organischen Charakter des Großraums wä­ re dessen Überlegenheit über Konzeptionen zu suchen, die ihm vorausgingen. Eine nur geo­ graphische Einheit bzw. Nähe, etwa nach dem Vorbild der Monroe-Doktrin, schaffe noch nicht für sich eine Gemeinschaft der Volker. Entscheidend sei, daß es „una idea politica pujante“ gebe, „como fundamento de una hegemonia, un gran quehacer (eine große historische Aufgabe) bajo la direction de una potencia o de un grupo de potencias“ ; eine ökonomische Interdependenz oder ein einigendes Ideal (wie etwa im christlichen Mittelalter). Die einigen­ den Elemente würden im Fall der beiden Amerikas fehlen: die Vereinigten Staaten würden

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weder eine authentische Hegemonie über Hispanoamerika ausüben bzw. etablieren, noch könnten sie eine große konstruktive Idee offerieren, da sie selbst keine besäßen. - Für Tr. gehört die Idee des Großraums zum „regionalismo intemacional“: in der internationalen Poli­ tik würden nur dessen Varianten überleben, die „das konkrete Gekröse (entresijo) der Bestre­ bungen und Interessen der verschiedenen menschlichen Gruppen berücksichtigen, die ein Na­ turgesetz zum Zusammenleben bestimmt hat“. - Später, mit deutl. Bezug auf Schmitt: M. Navarro Rubio, Los grandes espacios econômicos y la guerra, in: Cätedra „General Palafox“ de Cultura militar, Hrsg., Defensa nacional, IV, Saragossa 1963, S. 361 - 98.

Zur Diskussion der „ Großraumordnung “ in Deutschland 1939-45 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, ein auch nur notdürftig vollständiges Bild dieser Dis­ kussion zu zeichnen; die „Großraumordnung“ wird in unzähligen Schriften und Aufsätzen des Völker- und Verwaltungsrechtes, der Geopolitik, der Auslandswissenschaften, des militä­ rischen Schrifttums usw. zumindest gestreift. Der Begriff „Großraumordnung“ wurde auch rasch ein bloßes Schlagwort im Popular- und Propagandaschrifttum, in dem auf den theoreti­ schen Versuch Schmitts kaum o. nur auf wenig aufschlußreiche Weise eingegangen wurde. Zum Überblick über die „seriöseren“ Publikationen vgl. die materialreichen Bücher von: Lo­ thar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer „deut­ schen Monroe-Doktrin“, Stuttgart 1962, DVA, 166 S. u. Mathias Schmoeckel, Die Großraum­ theorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbeson­ dere der Kriegszeit, Berlin 1994, Duncker & Humblot, 310 S. (mit guter Bibliographie). Gruchmann setzt vorschnell Schmitts Theorie mit den Ansichten der Führung des Dritten Reiches ineins, suggeriert, die Großraumtheorie Schmitts sei „die Krönung der nationalsozia­ listischen Völkerrechtstheorie überhaupt“ (S. 137) u. behauptet eine “Übereinstimmung mit den Zielen und theoretischen Grundanschauungen des Nationalsozialismus“ (ebd). Der Au­ tor beschönigt das politisch-militärische Vorgehen und die Interpretationen der Monroe-Dok­ trin seitens der USA. - Schmoeckel verfährt z. T. differenzierter und präpariert die Unter­ schiede zwischen den verschiedenen Großraumtheorien u. -Interpretationen heraus, die er allzu säuberlich - in eine „völkische“ und eine „etatistische“ Lehre trennt. Er sieht aber we­ der die politische Praxis noch die völkerrechtlich-ideologischen Vorstellungen (und Groß­ raumkonzepte) der Feindseite, auf die die Großraumtheorie oft nur reagiert. Nimmt bei Gruchmann die politische Polemik gg. Schmitt u. a. Vertreter der Theorie allzu üppigen Raum ein, so bleibt bei Schmoeckel das Politische zugunsten eines juridisch temperierten Moralisierens blaß. Beide Autoren verharren ganz im Banne der re-education. Die Zahl der Rezensionen zu Schmitts „Großraumordnung“ ist außerordentlich hoch. Der Grund liegt darin, daß die „Großraumordnung“ auch in kleinen Provinzzeitungen, Verbandsblättem u. ä. besprochen wurde; diese Besprechungen sind freilich oft nur kürzere Inhaltsan­ gaben (vgl. u. a.: Ärzteblatt für Norddeutschland, 7. 7. 1940; Die Zeit (Reichenberg), 3. 2. 1941; Weltwirtschaft, März 1942; Die Deutsche Volkswirtschaft. Nationalsozialistischer Wirtschaftsdienst, 21. 3. 1942; Sueddeutsche Sonntagspost, 18. 4. 1942). Schmitt scheint ei­ niges für die Verbreitung seiner Thesen getan zu haben und hielt eine Vielzahl von Vorträgen, oft in Anwesenheit höherer, wenn auch nur „lokaler“ oder „provinzieller“ Parteigrößen. So sprach er über die „Großraumordnung“ u. a. am 4. 5. 1939 während der „3. Schulungstagung des Gaurechtsamtes Mark Brandenburg der NSDAP vom 3. - 8. 5. 1939 in der Dietrich-Eckart-Schule in Lychen (Insel)“; am 4. 5. 1940 in der Mecklenburgischen Verwaltungsakademie

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in Rostock (vgl.: Anon., Die englischen Abschnürungsversuche werden scheitern!, Rostocker Anzeiger, 6. 5. 1940); am 26. 7. 1940 in Halle (vgl.: Anon., Das Raumbild der Erde ändert sich, Saale-Zeitung (Halle), 27. 7. 1940; wh., Die kommende Großraumordnung, Mitteldeut­ sche Nationalzeitung, 27. 7. 1940; Anon., Kommende Großraumordnung, Hallische Nach­ richten, 27728. 7. 1940); am 25. 1. 1941 vor Hörem der Verwaltungsakademie Dortmund (vgl.: O. Sehr., Weltneuordnung nach Großräumen, Westfalische Landeszeitung, 27. 1. 1941). Wir können und wollen hier nur einige der wichtigeren Rezensionsaufsätze und Kommen­ tare erörtern. Hermann Jahrreiß (1894 - 1992) unterstützte in seiner im August 1939 geschrie­ benen Stellungnahme „Völkerrechtliche Großraumordnung. Bemerkungen zu einer Schrift von Carl Schmitt“, ZAkDR, 1939, S. 608 f., die Thesen Schmitts in zwei Punkten. Schmitt würde, ggü. allen Neigungen, “nur das Volk als Grundlage, Ziel und Maß der politischen Macht gelten zu lassen“, dem Raum seinen Rang zurückgeben und mit seiner Kritik an Eng­ land mache er deutlich, „wie wenig die bisherige „Volkerrechts“-Ordnung mit der Gleichheit der Almanach-Staaten Emst gemacht“ habe, so daß Schmitt von den bisherigen völkerrechtli­ chen Theorien aus gar nicht attackiert werden könne. Danach macht J. einige Vorschläge zur Ergänzung: Beantwortet werden müsse, wie es um die Abgrenzung der Großräume stehe, was verbotene Einmischung sei, welche Probleme sich stellten, grenzten Großräume unmit­ telbar aneinander, wie es schließlich um die Pufferstaaten stehe. J.: „Die Pufferstaaten aber wären nach Lebensrechtfertigung und Lebensinhalt zwischen den „Reichen“ souverän-neu­ tral: Im Krieg und im Frieden neutral, in ihrer Art auch Völkerrechtssubjekte ersten Ranges ... Die Führungsordnung bringt große Schwierigkeiten. Ein Herrschaftszusammenhang soll es nicht sein. Was aber dann, wenn nicht etwa für den einzelnen Großraum eine verschleierte Situation derart bestehen soll, wie sie Großbritannien für seine Weltführung in Anspruch nimmt?“ - In s. Aufsatz „Wandel der Weltordnung. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Völkerrechtslehre Carl Schmitts“, ZöR, 1942, S. 513 - 536, weist J. darauf hin, daß Roo­ sevelt und Churchill „die Welt für die angelsächsische Alleinmacht sicher machen (wollen) und ... deshalb ... die angelsächsische Weltpolizei“ begründen wollen (S. 514); die verei­ nigte angelsächsische Macht will den Erdball beherrschen, nichts anderes sei der Sinn der Atlantik-Charta v. 12. 8. 1941. Den Dreimächtepakt v. 27. 9. 1940 deutet J. als Rechnen mit der UdSSR „wenn sie es nur will - als einem dritten politischen Kontinent“. Die Existenz eines vierten, Amerikas als Bereich der Monroe-Doktrin, werde als selbstverständlich voraus­ gesetzt. Die USA sollten sich aber daran erinnern, daß sich eine Politik, die sich zur MonroeDoktrin bekenne, gleichzeitig aber die Weltherrschaft beanspruche, „in einem tödlichen Selbstwiderspruch verfangen muß“ (S. 521). Danach führt J. aus, daß der „von beiden angel­ sächsischen Mächten vorbereitete Krieg ... den Trieb (verstärkt), Wirtschaftsgroßräume ein­ zurichten“ (S. 524); die „Notautarkie“ sei deshalb nicht Selbstzweck, „sondern Mittel zur Er­ haltung der bedrohten und bis zum letzten zu verteidigenden Selbständigkeit“ (S. 525). Es bildeten sich politische Kontinente, für die Begriff „Völkerrecht“ eigentlich nicht passe, so daß J. von einem „Zwischen-Kontinente-Recht“ spricht. Z. T. Hohns Kritik an Schmitts „leeren“ und „nicht substantiellem“ Großraumbegriff zustimmend, bezweifelt J. auch den Sinn des Begriffs „Völkerrecht“ bezüglich des politischen Kontinentes Europa und kommt zu dem Schluß, daß die „Gleichheit vor dem Kontinent ... keine formal-juristische Gleichheit sein“ kann. Der Kieler Völkerrechtler Viktor Böhmert wandte in einer Besprechung von Schmitts Buch ein (in: ZVR, 1940, S. 134 - 140), daß bereits „in der ursprünglichen Monroedoktrin die Keime ihrer späteren, imperialistischen Umfälschung ... enthalten waren“, wie es „ein Vergleich des Panamerikanismus mit der Monroedoktrin“ beweise. „Während der Panameri-

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kanismus auf dem Gedanken der Solidarität“ beruhe „und eine Raumordnung durch Zusam­ menwirken aller im Raume gelegenen Volker vornehmen will ..., enthält die Monroefcctfschafi von 1823 kein klares, positives Ordnungsprinzip.“ (Vgl. a. die bei Böhmert gefertigte Diss. V. K. Weege, Panamerikanismus u. Monroedoktrin, Kiel 1939, mit Bezugn. zu Schmitt.). Schmitt scheine die ursprüngliche Monroedoktrin im Sinne des Panamerikanismus zu deuten und so zu verfehlen. B. wies auch auf die Beziehung zwischen „Großraum“ und „Reich“ hin und hielt sie für ungeklärt; er plädierte auch für die Streichung des Reichsbe­ griffs, soweit es um die Großraumtheorie gehe. Die in der Großraumdebatte nicht selten vorgebrachten Argumente gg. den Reichsbegriff wurden auch, anders akzentuiert, von Emst Wolgast (1888 - 1959), einem aus Kiel stammen­ den Völkerrechtler, aufgegriffen. In einem bereits im August 1939 abgeschlossenen Aufsatze, der rätselhafterweise erst zwei Jahre später erscheinen konnte (Wolgast, Großraum und Reich. Bemerkungen zur Schrift Carl Schmitts: „Völkerrechtliche Großraumordnung“, ZöR, 1941, S. 20 - 31) monierte W.: „... „die „Welt“ empfindet die Benennung „Reich“ nicht in objektiver Wertung, sondern aus jenem Komplex an Begebenheiten, Erinnerungen und Ge­ fühlen heraus, dem sie - aus dem alten Reich herstammend oder doch aus Gegensatz dazu erwachsen - ihr Dasein verdankt. Die Verwendung des alten Namens „Reich“ empfindet sie daher, wie jede historische Argumentation dieses Zusammenhangs, als Anrufung eines inven­ tarium Imperii Sacri. Damit verbindet sich für die Umwelt die Wirkung der Tatsache, daß eine Zentralmacht bereits als solche als expansiv empfunden wird, gesteigert jedoch im deut­ schen Fall, da die Staaten um Deutschland zum großen Teil aus dem alten Reich entstanden sind und sich als disjecta membra Imperii Sacri empfinden, so wenig sie dies auch ausgespro­ chen wissen mögen. Die darin wirksame Furcht vor Reannexion lebt dumpf oder bewußt in allen, verwandte Gefühle in Staaten, die zwar nicht aus dem Reich entstanden sind, sich je­ doch zu Deutschland in ähnlicher Lage fühlen, wie die disjecta membra.“ (S. 24 f.) W. wies darauf hin, daß im Falle Englands, Frankreichs, sogar des neuen Italien, Portugals usw. die Welt den Ausdruck „Reich“ hinnehme. - Wolgasts etwas wildwuchernd-assoziativ geschrie­ benes Werk weist zahlreiche Berührungspunkte mit dem Schmitts auf; zumindest, wenn es sich um den Raum-Aspekt der Politik handelt und um die relative Abhängigkeit der „Macht­ auffassung“ der Staaten von ihrer geographischen Lage; damit verbunden ist bei W. stets eine Kritik der deutschen Unfähigkeit, die See zu verstehen, während er zugleich nicht müde wird, der deutschen Staatsrechtslehre Ignoranz in diesen Dingen anzukreiden. Vgl. von W. die öfters explicit o. implicit auf Schmitt bezugnehmenden Texte: Über die Gesetze der aus­ wärtigen Politik und die Machtauffassung der Staaten. Prolegomena zu einer Lehre von den Gesetzen der auswärtigen Politik, ZöR, 3/1940, S. 359 - 417; Landmacht, Seemacht, Luft­ macht, RVB1., 44 - 45/1941, S. 629 - 633; Über Seefahrt und Luftfahrt in der Machtauffas­ sung der Staaten, ZöR, 3 - 4/1941, S. 310 - 340; Staatslehre und Seemacht, ZöR, 4 - 5/1942, S. 508 - 528; Seemacht und Seegeltung. Entwickelt an Athen und England, Berlin 1944. Auch nach dem II. Weltkrieg korrespondierten Wolgast u. Schmitt miteinander; am 23. 2. 1951 wies W. Schmitt auf die ähnlichen Ergebnisse von „Der Nomos der Erde“ und seinem Buche „Grundriss des Völkerrechts“ (Hannover 1950) hin u. bezog sich dabei auf eine dies­ bezügliche Äußerung Forsthoffs; am 5. 3. 1951 gab er Schmitt Hinweise zu den Begriffen „Landnahme“ und „nehmen“ in skandinavischen Sprachen (HSTAD - RW 265, 8, Nr. 291 sowie 61, Nr. 3). In seinen späten Schriften „Revision der Staatslehre“ (Nürnberg 1950) und „Die Rückständigkeit der Staatslehre. Studien zur Auswärtigen Gewalt des Staates“, Wiesba­ den 1956, unterstrich W. nochmals lebhaft die Defizite der bisherigen Staatslehre u. meinte in letzterem Buche zu Schmitt: „... diese Schriften, bewundernswert in ihrem Scharfsinn, in der Brillanz ihrer Sprache und in ihrem Reichtum an Verwertbarem für eine Seemachtslehre,

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sehen die Dinge zu intellektuell, nicht elementar-seehaft, ohne das „individuelle Meereser­ lebnis“. “ (S. 124.) Anders als der intellektuelle Außenseiter Wolgast, dessen Parallelen zu Schmitt von eini­ gem Interesse sind, sah Schmitts enger Schüler Emst Rudolf Huber (1903 - 1990) die Schwächen der „Großraumordnung“. H. fragte, „ob ... der Großraumgedanke nicht nur ein politischer Sachverhalt, sondern auch ein rechtliches Gestaltprinzip“ sei bzw. sein könne (in: „Positionen und Begriffe“. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, ZgStW, 1/1941, S. 1 44, 39). Schmitt selber habe „mit großer Entschiedenheit im Namen des Rechtes gegen den Gewaltzustand von Versailles und den Imperialismus der Demokratie gekämpft, und es ist selbstverständlich, daß es ihm femliegt, in einem neuen Machtzustand nur wegen seines Da­ seins einen Rechtszustand zu erblicken“ (ebd.). Es müsse also gefragt werden, „was dem heutigen Großraumgedanken die rechtfertigende und rechtbegründende innere Kraft“ (S. 40) verleihe; die neue Ordnung müsse sittlich begründet, gerecht und ausgleichend sein. Nicht „der Besitz der Macht, sondern das Walten der Macht“ (S. 42) entscheide hierüber. Zusätz­ lich stellte H. einige eher fachliche Fragen: ob eine Großraumordnung ohne indirekte Gewalt und unsichtbare Herrschaft denkbar sei, ob zwischen Raumhoheit und Gebietshoheit wirklich Unterschiede bestünden, worin sich der Großraum vom Großstaat oder Überstaat unterschei­ de. Fast noch skeptischer wirken H.’s Ausführungen einige Monate später: „Für die politische Theorie wie für die Rechtslehre besteht das entscheidende Problem darin, wie der Gedanke des Reiches in seiner Wendung zum Großraum-Prinzip sich vom Imperialismus der anderen, gegen den wir ehrlich und aufrichtig gekämpft haben, unterschei­ det. Denn dieser Imperialismus der westlichen Demokratien strebte ja auch nach einer groß­ räumigen Aufteilung und Gestaltung der Welt. Der wesensbestimmende Unterschied kann nur darin liegen, daß der alte Imperialismus ein Gebilde der bloßen Macht und des nackten Interesses w ar... ; für den Begriff des Reiches dagegen muß entscheidend sein, daß er auf ein Gefüge der gestuften Ordnung zielt, in der die führende Macht die offene Verantwortung für den Bestand der Gesamtordnung und für die Existenz aller Glieder übernimmt. Nur so kann aus dem Wirken des Reiches eine echte Rechtsordnung entstehen - verfassungsrechtlich nach innen und völkerrechtlich nach außen ... Macht wird nur dadurch zum Recht, daß sie als eine verantwortlich gebundene Funktion gegenüber einem anvertrauten Lebensganzen be­ griffen wird.“ (Huber, Bau und Gefüge des Reiches, 1941, S. 51 f.); ähnlich Huber in: Großraum und völkerrechtliche Neuordnung, Straßburger Monatshefte, Nov. 1941, S. 744 - 748, wo H. auch für das „rechtliche Strukturprinzip des Großraums“ die Formel fand: „hegemonialer Föderalismus“. Auch H. J. Wolff, Verwaltungsarchiv, 1940, S. 262 - 264, betonte zum Schluß s. Besprechung: „Außerdem habe ich Bedenken gegen eine radikale Verleugnung uni­ versalistischer und sog. humanitärer inhaltlicher Gerechtigkeitsgedanken, da ohne sie weder ein Recht innerhalb des Großraums, noch zwischen den Reichen möglich wäre.“ Eine besonders pointierte Kritik leistete ausgerechnet der Paladin v. Ribbentrops, Fritz Berber. Er wollte den Begriff „Großraum“ nur gelten lassen in bezug auf die kommende euro­ päische Wirtschaftsordnung, nicht aber für die Politik. Berber schrieb u. a.: „Das Spezifikum der europäischen Aufgabe liegt gerade darin, daß auf einem verhältnismäßig kleinen Raum man vergleiche ihn etwa mit dem auch im politischen Sinn typischen und eindeutigen „Großraum“ Sowjetunion - eine Vielheit von Völkern in einer Kombination von verhältnis­ mäßig starker Einheit und verhältnismäßig starker... Unabhängigkeit. . . leben sollen. Dabei muß die Einheit so stark sein, daß in Zukunft alle internen europäischen Streitigkeiten auf friedlichem Wege ... beigelegt werden, und daß alle Interventionen raumfremder Mächte ...

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unmöglich werden ... Aber zugleich muß die Autonomie der Glieder so stark sein, daß sie ihren besonderen Funktionen im Rahmen des Ganzen schöpferisch und freudig dienen kön­ nen, wobei es die Besonderheit der europäischen Situation ist, daß es nicht „Großmächte“, „Mittelstaaten“ und „Kleinstaaten“ gibt, sondern Norwegen und Rumänien, Spanien und Frankreich, Ungam und Schweden, Italien und das Deutsche Reich usw. usf., d. h. konkrete, geschichtlich einmalige Größen ... Es wird das Geheimnis der für die Neuordnung Europas tätigen politischen Weisheit sein, gerade die Realität der bunten Mannigfaltigkeit der konkre­ ten europäischen politischen Lage klug und elastisch in den vielfältig differenzierten Formen des europäischen Neuaufbaus zum Ausdruck zu bringen, statt in abstrakten Formulierungen die Wirklichkeit zu vergewaltigen ... Aus eben diesem Grunde erscheint bedenklich, den Namen „Reich“ für die führende und tragende Macht „eines Großraums“ einzuführen. Das Wort „Reich“ hat nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der diplomatischen Sprache eine einmalige, überaus prägnante Bedeutung: es bezeichnet das Deutsche Reich, und seine Verwendung für irgendeine führende Macht in irgendeinem Großraum ist schon deshalb ganz allgemein unangebracht, erst recht für die konkrete politische Wirklichkeit Europas, in der es nicht eine führende Macht gibt, sondern zwei, das Reich und Italien.“ B. kam zu dem Schluß: „Will man eine juristische vorläufige Formulierung für das organisatorische Hauptproblem der Neuordnung Europas, so bietet die Staats- wie die Völkerrechtslehre dafür den Begriff des Bundes . .. “. (Berber, Die Neuordnung Europas und die Aufgabe der aussenpolitischen Wissenschaft, in: Auswärtige Politik, 1942, S. 189 - 195, hier S. 192 ff.) - Nach 1945 gelang B. das Kunststück, diesen Text, der nirgendwo die recht weitgesteckten Grenzen der Mei­ nungsfreiheit in der Großraumfrage überschritt, als Widerstandsleistung anzupreisen, vgl.: Lehrbuch des Völkerrechts, I, 1975, S. 5; III, 1977, S. 154. Dies „gelang“ Berber nur dank seiner irreführenden Behauptung, die Großraumthese hätte den „Zentralpunkt der nationalso­ zialistischen Außenpolitik“ dargestellt (S. 154). Auch Carl Bilfinger, in seinen staats- wie in seinen völkerrechtlichen Auffassungen oft mit Schmitt übereinstimmend (vgl. zu letzterem Punkt bes. seine Schriften: Völkerbundsrecht gegen Völkerrecht, 1938; Der Völkerbund als Instrument britischer Machtpolitik, 1940; Das wahre Gesicht des Kellogg-Paktes. Angelsächsischer Imperialismus im Gewände des Rechts, 1941; Die Stimson- Doktrin, 1943) erhob Einwände und lehnte das Großraumkonzept sogar praktisch zur Gänze ab und hielt es nur für den wirtschaftl. Bereich sinnvoll (vgl.: Bismarcks Souveränitätsbegriff und die Neuordnung Europas, Deutsche Rechtswissenschaft, 1941, S. 169 ff.). „Raum“ und „Großraum“ waren für Bilfinger eher politisch-soziologische denn juristische Begriffe; „Raum“ benötige, um definiert werden zu können, eine rechtliche Ord­ nung. B. schrieb: „Bloße „Ausstrahlungen“ ohne deutliche Grenzen können, wenn man von der Vorstellung einer rechtlichen Raumordnung ausgeht, nicht dem „Raume“ zugeordnet werden, so wenig wie etwa eine nur tatsächliche, z. B. durch Stützpunkte, durch irgendeine Möglichkeit des Einsatzes von Machtmitteln ausgeübte Kontrolle. Ob eine von den Beteilig­ ten anerkannte „Interessensphäre“ rechtlich als Raum oder als Raumteil gelten kann, wird von den Umständen des Falles abhängen.“ (Bilfinger, Raum, Raumgrenzen und internationa­ les Nachrichtenwesen, Postarchiv, 1943, S. 281 - 293, 289 f.). Zur i. e. S. nationalsozialistischen, schroff „völkischen“ Kritik an Schmitts Auffassungen vgl. im vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [13] u. [25 - 28], S. 470 f., 474 ff., die Hinweise auf Lemmel, Best und Höhn. Von größerem Interesse für die Diskussion scheinen mir noch folgende Texte zu sein, auf die hier nur hingewiesen wird: Walter Mallmann, Völkisches Denken und Raumdenken in

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der Staatslehre, Geistige Arbeit, 5. 9. 1940, S. 1 f.; ders.. Zur Weiterentwicklung der Groß­ raumlehre, ebd., 20. 3. 1943, S. 1 - 3; Theodor Maunz, Verfassung und Organisation im Großraum, Deutsche Verwaltung, 1941, S. 456 - 459; ders.. Der Raum als Gestalter der Wissen­ schaft, ebd., 1942, S. 493 - 495; Franz Arthur Müllereisert, Die in der Einigung begriffenen Staaten von Europa, das Großdeutsche Reich und das Völkerrecht des europäischen Groß­ raums, Karlsruhe 1941, 63 S.; Axel Frhr. v. Freytagh-Loringhoven; Völkerrechtliche Neubil­ dungen im Kriege, Hamburg 1941, S. 64 - 70; Gustav Adolf Walz, Völkerrechtsordnung und Nationalsozialismus. Untersuchungen zur Erneuerung des Völkerrechts, München 1942, S. 130 - 147; Günther Küchenhoff, Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, ZaöRV, 1944, S. 34 - 82. Ein beträchtlicher Teil der Großraumlitertur des Dritten Reiches beschränkt sich auf das Referieren der Grundpositionen bzw. versucht zwischen ihnen zu vermitteln, etwa zwischen der Forderung nach aufrechtzuerhaltender Staatlichkeit und völkischem Ansatz, zwischen geopolitischen und rassischen Erwägungen, zwischen Reich und Großraum o. Großraum und Lebensraum, zwischen Hegemonie u. Föderalismus usw. Hinzu förderten die schnellen Ent­ wicklungen und Wechselfälle des Krieges oft eine nur abwartende Haltung. Die zunächst überraschende Fülle und Pluralität der Gesichtspunkte reduziert sich, ist man sich dieser Sachverhalte bewußt. Von bes. Interesse mögen aber einige damalige Überlegungen zur Großraumverwaltung sein, vgl. etwa: H. P. Ipsen, Reichsaußenverwaltung, RVB1. 1942, S. 64 - 67; ders., Das Recht des Großraums, Brüsseler Zeitung, 26. 9. 1942; Reichsaußenverwal­ tung, Brüsseler Zeitung, 3. 4. 1943, Ndr. in: H. W. Neulen, Europa und das 3. Reich, 1987, S. 111 - 115, sowie die zahlreichen Beiträge in der Zeitschrift „RçiçJiAyksQrd.o.u raum“, vgl. vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [11], S. 468 f. Zum Schluß sei noch auf zwei in der Regel übersehene Autoren hingewiesen. Emst Bock­ hoff (*1911) hat in seinen Leitartikeln in der Brüsseler Zeitung öfters die Großraumbildung als das eigentliche, anti-imperialistische und anti-universalistische Ziel des Krieges darge­ stellt und dabei öfters auf Schmitt und Daitz verwiesen, vgl. u. a.: Ordnungsgrenzen. Die kontinentalen Wohlstandsphären, 20. 3. 1943; Gleichgewicht und Frieden. Es geht um völ­ kerrechtliche Grossraumbildung, 31.5. 1943; Das neue Völkerleben. Arteigene Verfassungs­ ordnung im Grossraum, 6. 6. 1943. Von Giselher Wirsing (1907 - 1975) sind besonders seine zahlreichen Aufsätze während des Krieges in der von ihm geleiteten Zeitschrift Das XX. Jahrhundert erwähnenswert, die ohne Schmitts Einfluß kaum denkbar sind. Sein Buch „Das Zeitalter des Ikaros - Von Gesetz und Grenzen unserer Jahrhunderts“, Jena 1944, Diederichs, geht auf die Großraumtheorie bes. S. 200 - 205 ein, ist aber vor allem als eine Art Paralleltext zu dem damals schon in Arbeit befindlichen „Nomos der Erde“ Schmitts zu lesen. W. schreibt am 26. 10. 1943 an Schmitt u. a.: „Es freut mich, daß Ihnen der kleine Escorialaufsatz gefällt. Er stammt ebenfalls aus einem Buch, das ich während der letzten Monate ge­ schrieben habe und das gerade in diesen Tagen fertig wird. Es heisst „Das Zeitalter des Ika­ ros“. Ich glaube, wir beschäftigen uns von verschiedenen Ausgangspunkten mit denselben Fragen. Ich bemerkte beim Schreiben, wie sehr mir einige Ihrer wesentlichen Kategorien schon beinahe ins Unbewusste übergegangen sind.“ (HSTAD-RW 265, 8). Zu Wirsing noch w. u., S. 368 f.

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Der „Wirtschaftsgroßraum“ und die „Großraumwirtschaft“ Die außerordentlich umfängliche Debatte um den „Wirtschaftsgroßraum“ und die „Euro­ päische Großraumwirtschaft“ kann hier auch nicht annähernd skizziert werden. Sie setzt zu­ dem lange vor Schmitts Versuch v. 1939 ein und folgt auf die Mitteleuropapläne, die Süd­ osteuropa-Wirtschaftspolitik u. ä. Schmitt wird in dieser Literatur nach 1939 eher kursorisch erwähnt; eine der wenigen Ausnahmen ist wohl der Aufsatz von Justus Wilhelm Hedemann, Der Großraum als Problem des Wirtschaftsrechts, Deutsche Rechtswissenschaft, 1941, S. 180 - 203; bezeichnenderweise die Arbeit eines Juristen. Als Standardwerke, Jahre vor den The­ sen Schmitts veröffentlicht, darf man ansehen: Großraumwirtschaft. Der Weg zur europä­ ischen Einheit. Ein Grundriß, hrsg. von W. Gürge u. W. Grotkopp (mit Geleitwort von Reichsminister Treviranus), Berlin 1931; Karl Krüger, Deutsche Großraumwirtschaft, Ham­ burg 1932; Otto Leibrock, Weltwirtschaft oder Großraumwirtschaft?, Leipzig 1933. Ausführ­ lich informiert: Reinhard Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900 1945, Köln 1977, dort auf den S. 608 - 1007 Auszüge aus Reden, Denkschriften usw. ab 1933, auf den S. 641 - 648 Auszüge aus der „Großraumordnung“ Schmitts. Vgl. auch die gründliche Untersuchung von Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutsch­ land 1930 - 1939. Außenwirtschaftliche Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zwei­ tem Weltkrieg, München 1984 (mit guter Bibliographie). Zum auch (wirtschafts-)theoretischen Hintergrund: D. Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, 1968 u. L. Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft, 1982. Mit Schmitts Thesen befaßt sich z. T. auch der Hauptpropagandist der Großraumwirtschaft, Werner Daitz (vgl. vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [9], S. 465 ff.). Von Inter­ esse sind hier bes. einige Sonderhefte u. Sammelbände, etwa: Nationale Wirtschaftsordnung und Großraumwirtschaft, Jahrbuch 1941 der Gesellschaft für Europäische Wirtschaftspla­ nung u. Großraumwirtschaft (u. a. mit Beiträgen v. Daitz, Karl Krüger, Predöhl, Karl Schil­ ler); Der Vierjahresplan, Sonderheft 1941 (u. a. Beiträge v. Predöhl u. Günter Schmölders); Weltwirtschaft, Sonderheft 1941, „Großdeutschland und Europa in einer neuen Weltwirt­ schaft“; Europäische Grossraumwirtschaft. Vorträge, gehalten auf der Tagung zu Weimar v. 9. - 11. 10. 1941, Leipzig 1942. Vgl. a. die Aufs. v. Andrae, Schm. Jb., 1/1941, S. 71 ff. u. v. Brunner, ZgStW, 103/1943, S. 119 ff. - Ein bes. ehrgeiziger, systematischer Versuch: Arno Sölter, Das Großraumkartell. Ein Instrument der industriellen Marktordnung im neuen Euro­ pa, Dresden 1941 (mit Hinweis auf Schmitt, S. 22). Schmitt unterhielt zu mehreren Wortfüh­ rern der Theorie von der Großraumwirtschaft Kontakte, u. a. zu Carl Brinkmann, Friedrich Bülow, Walter Grävell und Helmuth Wohlthat.

Briefe an Schmitt zur „Großraumordnung “ Schmitt erhielt zur „Großraumordnung“ eine große Zahl an Briefen, die er, berücksichtigt man seine Gewohnheiten, wohl auch überwiegendst beantwortete. Hier können nur einige Stücke aus dieser Korrespondenz vorgestellt werden. Der Historiker Albert Brackmann (1871 - 1951) schrieb am 30. 6. 1941 u. a.: „Sie haben die grosse Freundlichkeit gehabt, mir ... die dritte vermehrte Auflage Ihres Buches „Völker­ rechtliche Grossraum-Ordnung“ zukommen zu lassen ... bereits die erste Auflage dieses Bu­ ches (hat) einen starken Eindruck auf mich gemacht und hatte mich veranlasst, den Gedan­ ken zu erwägen, dem Grossraumgedanken in der Geschichte nachzugehen. Bei den ersten Vorarbeiten sah ich jedoch, dass die Durchführung ... längere Zeit in Anspruch nehmen wür-

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de ... Schon die Beschäftigung mit der Geschichte des Altertums zeigte mir so manche Schwierigkeit, die nur durch eine gründlichere Untersuchung beseitigt werden könnte, und deshalb musste ich mich leider entschliessen, den Gedanken vorläufig zurückzustellen. Denn im gegenwärtigen Augenblicke, in dem der weitere Osten eine ausserordentliche Bedeutung für das Grossdeutsche Reich gewonnen hat, sind mir dort so viele neue Aufgaben erwachsen . . Brackmann, damals Leiter der Staatl. Preußischen Archiv-Verwaltung Berlin-Dahlem und zugleich Chef der NOFG (Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft), ein Protégé Ru­ dolf Heß’, leitete während des Krieges die wissenschaftliche Volkstumsarbeit in Nord- und Osteuropa; vgl. über ihn: E. Völlert, Albert Brackmann und die ostdeutsche Landesfor­ schung, in: H. Aubin, O. Brunner u. a. (Hrsg.), Deutsche Ostforschung, I, Leipzig 1942, S. 3 - 11 ; M. Burleigh, Historians & their times. Albert Brackmann and the Nazi Adjustment of History, History today, March 1987, S. 42 - 46; M. Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“, 1990, S. 55 ff., 118-127 u. ö. Mit dem Ökonomen Dr. Walter Grävell, Direktor im Statistischen Reichsamt und einem Dr. Ferber, Chefredakteur der Zeitschrift „Völkischer Wille“, scheint Schmitt öfters über Großraumfragen gesprochen zu haben. Von Grävell erschienen u. a.: Zwang zur Autarkie? Europa-Wirtschaft, 6/1932, S. 212 - 219; Nationalwirtschaft, Grossraumwirtschaft, Weltwirt­ schaft, ARSPh, 1933/34, S. 99 - 113; Der Außenhandel in der Nationalwirtschaft, Stuttgart 1937; Autarkie des Grossraums (ein mit „1. 1. 1942“ von Schmitt handschriftlich datierter Aufsatz im Nachlaß, HSTAD-RW 265, 17, ohne Hinweis auf den Fundort). - Zu Grävells Buch von 1937 schrieb Wilhelm Grotkopp, Die große Krise, 1954, S. 225: „Die Anhänger einer aktiven Konjunkturpolitik nahmen an diesen Fragen (Mittel- u. Südosteuropa - G. M.) der raumwirtschaftlichen Neuordnung ein steigendes Interesse, viele wirkten in der pan- oder mitteleuropäischen Bewegung mit und gründeten ... die Studiengesellschaft für Mittel- und Südosteuropa ... Die Möglichkeiten einer solchen raumorientierten Handelspolitik zeigte dann später (1937) Grävell in seinem Buche: „Der Außenhandel in der Nationalwirtschaft“ auf . . . “. - An Ferber, in dessem Blatt Grävell publizierte, schrieb Schmitt am 20. 12. 1940 u. a.: „Der Aufsatz von Dr. Grävell hat mich am unmittelbarsten beeindruckt, ebenso Ihr Auf­ satz aus der Festschrift für Haushofer. Ich glaube aber nicht, daß rein wirtschaftliche Erwä­ gungen ein klares Entscheidungsprinzip in sich enthalten. Sie sind immer ein „Stock mit zwei Enden“, den man auch von der andern Seite anfassen kann. Dasselbe gilt übrigens noch mehr für geopolitische Argumente. Dem gegenüber habe ich - da Großraum doch auch nicht ein bloßes Änhe'xionsprogramm sein soll - den technisch-industriell-organisatorischen Lei­ stungsraum herausgestellt. . . “. Schmitts Schüler Hans Franzen (*1911, vgl. seine Memoiren „Im Wandel des Zeitgeistes 1931 - 1991“, 1992; zu Schmitt dort bes. S. 65 - 71) schrieb am 21. 7. 1939: „Die Diskussion um Ihre Rede hat m. E. den Begriff Raum zu Unrecht im Sinne des bisherigen Staatsgebiets verstanden. Dadurch erklärt sich die irrige Gleichsetzung des Reichs mit dem vor Interventio­ nen bewahrten Großraum ... Μ. E. besteht der großartige Vorstoß der Untersuchung gerade darin, daß der bisherige Gebietsbegùïi aus seiner zentralen Stellung entfernt wird. Das We­ sentliche an dem Reichsbegriff scheint mir die Ausdehnung des Grundsatzes der Nichtinter­ vention über das Hoheitsgebiet eines Staates hinaus zu sein, also nicht so sehr das Raumele­ ment. Aus diesem Grunde halte ich es auch nicht für ganz berechtigt, das Britische Reich dem unseren, dem der Vereinigten Staaten oder dem Rußlands so betont entgegenzusetzen. Großbritanniens Raum ist das Meer. Die Tatsache, daß seine Nichtinterventionsansprüche sagen wir im Bereiche der Meerenge von Gibraltar - mit denen Italiens in Konflikt geraten, haben nicht in der Unvereinbarkeit der beiden Reichsprinzipien ihren Grund, sondern in der

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Überschneidung der beiden Reiche,... Italien und selbst Japan beginnen ebenfalls Verkehrs­ wege für ihren Großraum in Anspruch zu nehmen. Und ich bin sicher, daß auch wir im Jahre 1940 Weltstraßen bauen werden .. In Berlin scheint Schmitt sich des öfteren mit Oskar Ritter v. Niedermayer (1885 - wahr­ scheinlich 1948), dem damaligen Direktor des Instituts für Allgemeine Wehrlehre, über Großraumfragen ausgetauscht zu haben, v. Niedermayer, der im I. Weltkrieg einen Partisa­ nenkrieg im Iran gg. England zu organisieren versuchte (vgl. s. Buch: Im Weltkrieg vor In­ diens Toren, 3. Aufl., 1942, u. die Monographie von R. Vogel, Die Persien- und Afghanista­ nexpedition Oskar Ritter v. Niedermayers 1915/16, 1976) kann als Begründer der sogen. „Wehrgeopolitik“ gelten (vgl. s. Bücher: Wehrpolitik, Leipzig 1939; Wehrgeographie, Berlin 1942). Nach dem I. Weltkrieg spielte er eine bedeutende Rolle bei der geheimen Zusammen­ arbeit zw. Reichswehr u. Roter Armee (vgl. F. L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918 1933, 1964, S. 141 ff.) und freundete sich 1919 mit Karl Haushofer an. Im II. Weltkrieg war er zeitweise Chef der fremdvölkischen Turk-Division 162 (vgl. Fr. W. Seidler, Oskar Ritter v. Niedermayer im Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Geschichte der Ostlegionen, Wehrwis­ senschaftliche Rundschau, 3/1970, S. 168 - 208). v. Niedermayer, wahrscheinlich 1948 in russ. Kriegsgefangenschaft gestorben, stand im Ruf eines geheimnisvollen Abenteurers, was mir Schmitt lebhaft bestätigte - Schmitt übersandte an v. Niedermayer am 1.7. 1939 seine „Großraumordnung“ und schrieb u. a. dazu: „Sollte meine Schrift... Ihr Interesse finden, so würde ich mich ... ganz besonders freuen und gern einmal mit Ihnen darüber sprechen. Bis jetzt hat nur die Auslandspresse davon Notiz genommen, obwohl die Rede des Führers vom 28. April 1939 in aller Form die Monroedoktrin auch für uns in Anspruch genommen hat. Es ist leider in der Tat sehr schwer, die „Kleinräumigkeit“ unseres außenpolitischen und völker­ rechtlichen Denkens zu überwinden.“ v. Niedermayer antwortete am 14. 7. 1939 u. a.: „Ich habe Ihre kleine gedankenreiche und anregende Schrift... mit großem Interesse und einiger Überraschung gelesen, da von Völkerrechtlern solche mit dem strategisch-wehrpolitischen Gebiet sich eng berührende Fragen bedauerlicherweise oft wenig beachtet werden. Ich habe mich, soweit das meine Zeit erlaubte, mit der gewöhnlichen deutschen, englischen und fran­ zösischen Völkerrechts-Literatur beschäftigt und gelegentlich meiner eben beendeten Vorle­ sung über den neuzeitlichen See- und Luftkrieg auch Völkerrechtsfragen gestreift, soweit sie mir wehrpolitische Bedeutung zu haben scheinen. Das großräumige Denken ist ja nicht neu und das alte schon etwas abgetriebene Steckenpferd unserer Geopolitiker; es fehlte ihm viel­ fach die strategische und wehrwirtschaftliche Komponente ... Man kann darüber freilich we­ nig öffentlich schreiben ... Der Kampf um wirtschaftliche, strategische und politische Inter­ essengebiete geht seit langem und wird auch einmal zugunsten eines deutsch bestimmten Mittel- und Osteuropa entschieden werden müssen. Das weiß niemand besser als der Gene­ ralstab. Es ist nur schade, daß der Führer seine in dieser Richtung forcierte Politik der Öffent­ lichkeit gegenüber nicht gut damit begründen kann. Dann würden manche seiner Maßnah­ men besser verstanden und unterstützt werden.“ v. Niedermayer war befreundet mit dem russischen Sachbuchschriftsteller Juri Semjonow, der damals in Berlin lebte und die außerordentlich erfolgreichen Bücher „Die Güter der Erde. Vom Haushalt der Menschheit. Eine Wirtschaftsgeographie für Jedermann“, Berlin 1936, „Glanz u. Elend des französ. Kolonialreiches“, Berlin 1942 und, nach dem Kriege „Sibirien. Eroberung und Erschließung der wirtschaftlichen Schatzkammer des Ostens“, Berlin 1954, schrieb. S. übersandte Schmitt auch seine Aufsätze: „Die Überwindung des Raumes in Eur­ asien“, Süddeutsche Monatshefte, Nov. 1933; Die Transsibirische Eisenbahn, Volk und Reich, 10/1942; Frankreich und das Meer, Wir und die Welt, Sept. 1943; S. hat noch 1957

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mit Schmitt korrespondiert. Durch einen Brief v. 21. 9. 1940 scheint v. Niedermayer den Kontakt mit Schmitt vermittelt zu haben (der Durchschlag dieses Briefes an Semjonow im Düsseldorfer Nachlaß, HSTAD-RW 265 - 33). Von bes. großem politischen Interesse ist der Brief des Japaners Yosimiti Kuboi, einem Berater des japan. Außenministers Yosuke Matsuoka, der am 27. - 29. 3. und am 4. 5. 1941 mit Hitler u. Ribbentrop in Berlin konferierte (dazu A. Hillgruber, Hitlers Strategie 1940 1941, 1965, bes. S. 409 ff.). Kuboi schreibt am 24. 4. 1941 aus dem Charlottenburger Hotel Savoy an Schmitt u. a.: „Ich habe grosses Interesse über das von Ihnen vertretene Völkerrecht im Grossraum und habe darüber auch schon viel nachgeforscht. Ich bin überzeugt, dass der Dreimächtepakt Ausdruck des Völkerrechts im Grossraum ist und die zukünftige Weltpolitik darstellt. Der vor kurzem abgeschlossene japanisch-russische Neutralitätspakt [vgl. dazu Hill­ gruber, op. cit., S. 295 ff. - G. M.] ist die Voraussetzung zur Schaffung des Völkerrechts im Grossraum. Im japanischen Reichstag habe ich dem Aussenminister erklärt, dass wir auf Grund des von Herrn Carl Schmitt vertretenen Völkerrechts mit Russland einen Freund­ schaftspakt abschliessen müssen. In der japanischen Zeitschrift „Koron“ habe ich auch meine Meinung über das Völkerrecht im Grossraum dargelegt. Um dieses Völkerrecht im Grossraum zu verwirklichen, muss es die Pflicht des Aussenministers Matsuoka sein, nach Europa zu fahren und dort in direktem Kontakt mit den Führern Deutschlands, Italiens und Russlands zu treten. - Der Zweck meiner Reise nach Europa ist nun mit Ihnen zusammenzutreffen um von Ihnen [recte wohl: mit Ihnen - G. M.] ausführlich über das Völkerrecht im Grossraum sprechen zu können.“ Über dieses Gespräch zwischen Kuboi und Schmitt ist leider nichts bekannt. - Die Pointe war freilich, daß der Berater Matsuokas, sich wohl auf dessen Gespräche in Moskau v. 24. 3. 1941 mit Stalin und Molotow beziehend, noch nichts von den deutschen Angriffsabsichten ggü. der UdSSR ahnte, die am 22. 6. realisiert wurden, während Matsuoka einer der wenigen eifrigen Verfechter eines japan. Angriffs auf die UdSSR werden sollte (vgl. Hillgruber, a. a. O., S. 484 ff.). Gustav Adolf Walz (1897 - 1948) bedankte sich am 28. 4. 1939, also an dem Tage, an dem Hitler seine Monroe-Doktrin verkündete, für die Übersendung der Schrift: „Die Lektüre hat mir den spannenden Vormittag in Erwartung der Führerrede ausgefüllt.“ Er schrieb u. a.: „Nachdem ich leider versäumt habe, Ihren Vortrag in Kiel zu hören, war mir die Lektüre angesichts des allgemeinen Aufruhrs der Kieler doppelt interessant. Ihre Formulierungen ha­ ben auch in diesem Falle etwas außerordentlich Eindrucksvolles und Glänzendes. Über die Sache - glaube ich - kann man kaum verschiedener Meinung sein, wenn auch aus taktischen Gründen eine gewisse Differenzierung bestehen mag. Dies scheint mir ja letzten Endes auch die Basis der Kieler Auseinandersetzung gewesen zu sein. Die Art, wie Sie Ihren neuen Ge­ danken nunmehr schriftlich formuliert haben, dürfte aber - glaube ich - der neuen Konzep­ tion die Schärfe nehmen, um derentwillen ja von verschiedener Seite Bedenken angemeldet waren. Im übrigen dürfte das, was heute noch bestritten ist, wie üblich, übermorgen als com­ munis opinio übernommen werden . .. “. (HSTAD-RW 265 - 33.) Johannes Winckelmann (1900 - 1985), der Max Weber-Forscher und spätere enge Freund Schmitts, der sich auch in den 50er und 60er Jahren noch kritisch ggü. Schmitts Raumdenken verhielt (vgl. vorl. Bd., S. 570 f.), schrieb Schmitt am 19. 5. 1941 sehr ausführlich (8 Seiten) und meinte, u. a., sich vor allem auf „Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft“ bezie­ hend: „Raum - das grosse Modewort des Kolportagejournalismus, das nebst vielen Geschwi-

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

stem den deutschen Sprach„raum” ... seuchenhaft infiziert hat. Es begann wohl mit jenem Grimm’schen Buch ... Ich bin aber dessen sicher, dass diese Wortinflation keinerlei neue Raumvorstellung zum Ausdruck bringt, und dass der Raum, von dem damit die Rede ist, das Gegenteil des Raumes ist, „der an den Gegenständen haftet“. Wenn ... in der Kriegsbericht­ erstattung ... nicht mehr die Rede davon ist, dass das Gefecht bei X oder im Gebiet von X stattgefunden habe; wenn als Operationsfeld nicht mehr das .Gelände” im Sinne der alten Generalstabskarten bezeichnet wird, sondern von dem „Raum“ die Rede geht, so kommt das offensichtlich daher, dass für die heutigen Kampfhandlungen sozusagen die 3. Dimension, nämlich die Luft als Gefechts-„Raum” dazugekommen ist. Das aber bedeutet das Gegenteil jenes Raumes, der an den Dingen haftet, da aus der Vogelperspektive das Gelände, das Ge­ biet, die Landschaft, das Vorfeld sich in die Flächigkeit beinahe des Kartenblatts verwandelt hat. Für diese Perspektive haftet umgekehrt gewissermaßen das Erdfeld am Luftraum ... Einst hatten wir eine geschlossene Welt, in der der Raum an den Dingen haftete und an und mit ihnen gegeben war, und in dieser Dingwelt hatte ein Jegliches sein inneres Maß und seine innere Grenze ... Diese Welt und ihre realen und begrifflichen Ordnungen verfielen zuneh­ mend der Auflösung ... die Welt und damit der Raum verloren ihr Gesicht, und es trat die allgemeine Verwandlung der Weltvorstellung ins Unsichtbare ein. Der Himmel schien nur noch blau, aber hinter dem Zauber dieser „Täuschung“ verbarg sich die unsichtbare und un­ vorstellbare Unendlichkeit. Die Welt des Ich und Du, die Welt der Nachbarschaft, der Ge­ meinde, war aufgesprungen und ins Grenzenlose verflüchtigt. Es gab - vom Menschen her gesehen - keine geschlossene Welt mehr, und die neue Formel lautete: „Die Welt ist mein Feld“. Diese Welt, die keine gegebene, sondern eine zu entdeckende Welt war, war schier unendlich. Und in diese Unendlichkeit war der heroische Kraftstrom ganzer Völker tragisch mit hineingerissen, und sie vergingen an dieser Unendlichkeit, weil sie nicht die Kraft hatten und haben konnten, die Unendlichkeit in ein Endliches zu zwingen. Das ward erst völlig anders - und auch das ist Ihre Entdeckung - als die Engländer die soi-disant kopemikanische Wendung vollzogen, indem sie nicht vom Land über die Meere, sondern vom Meer her über die Länder sahen, und auf diese Verschiebung des Blickpunkts gehen erst die Weltherrschaft der Seemacht, der politische Universalismus und die Pax Britannica zurück ... in dem Be­ griff „Grossraum“ soll ein Doppeltes zum Ausdruck gelangen: die Verneinung des Universa­ lismus, Beschränkung auf einen (irgendwie begrenzten!) Grossraum, der nun aber zugleich zum totalen Herrschaftsraum mit Ausschliesslichkeits-Anspruch erweitert werden soll. Der „Welt“-Begriff des Universalismus war grenzenlos und unbegrenzt. Es findet eine Art Rück­ kehr aus der Unendlichkeit..., die Limitierung auf einen endlichen Raum statt. Das ist m. E. der Sinn des Grossraums: Es ist ein Weg von der Extensivierung zur Intensivierung . .. “. Die von der Verkehrstechnik, der Seefahrt usw. erreichten Grenzen implicieren aber auch das Ende der liberalistischen Wirtschaftsordnung, die an unbegrenzte Ausdehnungsmöglich­ keiten gebunden ist. Winckelmann weist hier zustimmend auf Engels’ Diktum vom Ende des Kapitalismus hin, das dann einsetze, wenn durch den industriellen Ausbreitungsdrang des freien Konkurrenz-Kapitalismus der letzte freie Markt exploitiert sei. Winckelmann fährt fort: „... wir sehen daher, dass auch das Imperium Britannicum als Gebilde sich nicht in fortschreitender Ausbreitung, sondern längst in der Defensive (Ottawa) befindet. Dieses, dass nämlich nicht nur „die Erde kleiner geworden ist“, sondern dass die „Welt“ an ihr Ende ge­ langt ist, ist der Ausgangspunkt der Raumrevolution. Sie sprechen aus, dass der Universalis­ mus einen raumaufhebenden Herrschaftsanspruch geltend machte und damit vom konkreten Raumgedanken wegführte. Wir kehren zum Raum als Umwelt, als Lebensraum und Lei­ stungsraum zugleich zurück.“

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Winckelmann verwies im Anschluß auf Otto Hintzes Kritik an Werner Sombart, der nicht gesehen habe, daß ohne das Zutun des Staates keine erweiterten Märkte entstünden, daß diese eine Begleiterscheinung des Fortschritts der Staatenbildung seien (vgl. Hintze, Wirt­ schaft und Politik im Zeitalter des modernen Kapitalismus, ZgStW, 1929, S. 1 - 28) und fuhr fort: „Handelt es sich hier also bei der Betonung der engen Verbindung von Politik und Wirt­ schaft um die Unterstreichung der Bedeutung der modernen Staatsentwicklung und Politik für die wirtschaftliche Entwicklung, so scheint mir die umgekehrte Betonung für die Erörte­ rung des Raumproblems von Nöten zu sein, nämlich die Unterstreichung der Bedeutung der Marktverbreiterung für die Raumentwicklung.“ Die Geschichte der „Raumbewegungen“ ist für Winckelmann stets auch eine Geschichte der Marktentwicklung, die von der Haus- und Dorfwirtschaft bis zur „Welt“-wirtschaft führt; die Markterweiterung ist ihm zugleich der wesentliche Schrittmacher des abendländischen Rationalisierungsprozesses. „... nachdem die expansive Marktverbreiterung ihr Ende gefunden hatte, (entwickelte sich sodann) die Tendenz zur Wirtschaftsplanung und zum Totalstaat, die zu ihrer Grundlage den Grossraum intentionieren . .. “. (HSTAD-RW 265 - 199.) Giselher Wirsing (1907 - 1975), damals Hauptschriftleiter der „Münchner Neueste Nach­ richten“ und Herausgeber der Monatszeitschrift „Das XX. Jahrhundert“, an der u. a. auch Emst Wilhelm Eschmann und Ferdinand Fried mitarbeiteten, bedankte sich am 1.6. 39 für die Übersendung der „Großraumordnung“ u. schrieb u. a.: „Sie wissen ja, dass ich seit Jahren Ihre Moiyx&&tudie, die damals in den Königsberger Forschungen erschien, als eines der Hauptstücke unserer aussenpolitischen Literatur ansehe. [W. meinte damit den Aufsatz Schmitts „VolkCJiechtliche Formen des modernen Imperialismus“, Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 162 - 180 - G. M.] In Ihrer jetzigen Schrift scheint mir das Wichtigste, dass wir endlich den Weg der negativen Abgrenzung verlassen und zu einer Völkerrechtsdeu­ tung kraft eigener Rechtsetzung kommen ... ich sehe als den entscheidenden Angelpunkt der Situation die Möglichkeit der amerikanischen Intervention an. Alles andere, was wir jetzt von der Gegenseite her erleben, ist nur eine Funktion dieser Möglichkeit.“ (HSTAD-RW 265 - 33.) Schmitt antwortete am 6. 6. 1939 und bedankte sich u. a. für den Aufsatz Wirsings „Ist der liebe Gott Engländer - Lebensraum gegen „Gleichgewicht“ und Einkreisung, Münchner Neueste Nachrichten, 27. - 29. 5. 1939, der auch zu den bemerkenswerteren frühen Reaktio­ nen auf die „Großraumordnung“ zählt (vgl. vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [9], S. 465 ff.). Schmitt ging noch ein auf Wirsings Aufsatz „Der Angriff gegen Europa“, Das XX. Jahrhundert, Mai 1939, S. 65 - 68, in dem W. den englischen und amerikanischen Ein­ mischungen „die europäische Doktrin“, im Grunde also die „deutsche Monroe-Doktrin“ ent­ gegenstellte, und führte dazu aus: „... muss ich für Ihren Aufsatz ... besonders dankbar sein, weil Sie jeden Eindruck einer grundsätzlichen Feindschaft gegen das englische Weltreich ver­ meiden und dadurch eine Mißdeutung von meiner Schrift femhalten, zu der ich selber nur zu leicht Anlaß geben könnte ... Bei mir erscheint, wie ich Ihnen gestehen muss, immer zu schnell der Gegensatz von Land und Meer, la mer contre la terre, von Leviathan und Behe­ moth. Im übrigen aber bin ich davon überzeugt, dass die eigentlichen völkerrechtlichen wie weltpolitischen Gesamtfronten sich auf den Gegensatz „Universalismus gegen Grossraum“ zurückführen lassen.“ Ein von Schmitt besonders geschätzter Gesprächspartner scheint damals Helmut Wohlthat (1893 - 1982) gewesen zu sein. Wohlthat befaßte sich schon früh mit Problemen der Wirt­ schaftsplanung u. ä. während der „Mitteleuropa“- Diskussion und sprach u. a. am 7. 12. 1936 auf einer Mitgliederversammlung der Deutschen Gruppe des Mitteleuropäischen Wirtschafts­ tages (vgl. R. Opitz, Hrsg., Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 - 1945, 1977, 24 Sinai. (iroUrnum. Nomos

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

S. 628; zu diesem Wirtschaftsverband und seiner Südosteuropa- und Großraumpolitik vgl. a.: A. Sohn-Rethel, Industrie und Nationalsozialismus. Aufzeichnungen aus dem „Mitteleuro­ päischen Wirtschaftstag“, 1992). W. war Ministerialdirektor zur besonderen Verwendung un­ ter Göring als dem Beauftragten für den Vierjahresplan. In dieser Eigenschaft reiste er Mitte Juli nach London, wo er offiziell v. 17. - 20. 7. 1939 sich zu Verhandlungen im britischen Ministerium für Landwirtschaft und Fischerei aufhielt, hauptsächlich aber nach Wegen für eine deutsch-britische Verständigung suchen sollte (vgl. M. Nebelin, Zwischen Wilhelminis­ mus und Nationalsozialismus. Helmuth Wohlthats England-Mission im Sommer 1939, in: Verfassung und Verwaltung, FS Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, 1994, S. 255 - 272). W. veröffentlichte mehrere Aufsätze zu Groß(wirtschafts)raumfragen (vgl. die Hinweise Schmitt, Großraumordnung, vorl. Bd., FN 3, S. 272, sowie: Besetzte Gebiete in der europä­ ischen Zusammenarbeit, Der deutsche Volkswirt, 12 - 13/1940, S. 458 - 464). Im April - Juni 1939 kam es zu einem Briefwechsel mit wechselseitiger Überreichung von Aufsätzen usw., dem engere Kontakte gefolgt zu sein scheinen (die betr. Briefe in: HSTAD-RW 265 - 33). W. spielte eine bedeutende Rolle b. Abschluß des Dt.-rumän. Wirtschaftsvertrages v. 22. 3. 1939, der als Vorbild für die Zusammenarbeit u. Arbeitsteilung im Großraum galt.

Abschließende Bemerkungen und Hinweise Man darf vermuten, daß Schmitts „Großraumordnung“ auch dort Einfluß ausübte, wo nicht direkt auf sie Bezug genommen wurde, die Argumentation jedoch ähnlich verläuft (als Beispiel die Broschüre des Geopolitikers Erich Obst, Die Großraum-Idee in der Vergangen­ heit und als tragender politischer Gedanke unserer Zeit, Breslau 1940/41, 27 S.). Auffällig bleibt freilich, daß in der geopolitischen Llteratüf Schmitt - trotz nicht seltener Parallelen wenig genannt wurde (vgl. etwa: H. Offe, Im Zeichen der werdenden Großräume, Monats­ schrift f. das deutsche Geistesleben, 1941, S. 177 - 180; Fr. W. Kupferschmidt, Zur Geogra­ phie der Großräume, ZfP, 1943, S. 288 - 314). Auch Joseph Alois Schumpeter (1883 - 1950), den Schmitt seit der gemeinsamen Zeit an der Universität Bonn sehr schätzte (vgl.: Glossarium, 1991, S. 101, Eintragung v. 19. 2. 48) entwickelte während des II. Weltkrieges eine Großraumtheorie. Die Welt spaltete sich danach in vier Blöcke, einen angelsächsischen, europäischen, russischen und japanischen, die relativ autark sind (vgl. Schumpeter, An Economic Interpretation of our time. The Lowell Lectures (1941), in: The Economics and Sociology of Capitalism, Princeton, 1991, S. 339 - 40, ed. by R. Swedberg). Dies nur ein Hinweis, wie sehr die Idee damals „in der Luft“ lag; eine interna­ tional Vergleiche ziehende Studie wäre wünschenswert. Sie müßte auch die seit den 60er Jahren in den USA entwickelten Theorien über „regionalism“ und „continentalism“ umfas­ sen, vgl. etwa das grundlegende Buch des u.s.-amerikanischen Geographen Saul Bernard Co­ hen, Geography and Politics in a divided World, London 1964, Methuen. Cohen, der „geo­ strategic regions“ - die maritime USA und die eurasische UdSSR - von den „geopolitical regions“ unterscheidet (S. 56 - 87) will das internationale System auf eine Pluralität von Blöcken aufbauen, ähnlich wie in den 60er Jahren die von Schmitt stark beeinflußten spani­ schen Völkerrechtler Camilo Barda Trelles und Luis Garcia Arias (vgl. vorl. Bd., S. 572, S. 610 f.). (Helmut Wagner weist in s. Aufsatz „Der Kontinentalismus als außenpolitische Doktrin der USA und ihre historischen Analogien in Europa“, Aus Politik und Zeitge­ schichte, 6. 6. 1970, B23, S. 23 - 39, auf die engen theoretischen Beziehungen dieser und ähnlicher Ideen mit den Konzepten Schmitts und Daitz’ hin; eher politisch-geographisch: Detlef Herold, „Political Geography“ und „Geopolitics“, Die Erde, 2/1974, S. 200 - 213).

Völkerrechtliche Großraumordnung

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Auf keinen Fall kann die Großraumtheorie Schmitts (auch nicht die Daitz’) einfach als Recht­ fertigung von Gewalttaten oder gar als bloß vorauseilende Legitimationsideologie von Aus­ rottungsfeldzügen gedeutet werden (z. B. „Generalplan Ost“), wie dies Diemut Majer, Der Wahn von „Reich“ und „Großraum“, in: Der deutsche Beamte, 3/1983, S. 177 - 187, 9/1983, S. 198 - 208, behauptet, die all dies zusammenwirft. (Fast identisch mit diesem Aufsatz: dies., Die Perversion des Völkerrechts unter dem Nationalsozialismus, Jb. des Instituts für Deutsche Geschichte, Tel Aviv, 1985, S. 311 - 332). Die offenkundigen Tendenzen zur Bil­ dung von Wirtschafts-Großräumen, die auch im heutigen Völkerrecht festzustellenden Nei­ gungen zu „regionalism“ usw., schließlich die Krise des universalistischen völkerrechtlichen Systems und der es tragenden Ideologien lassen es als töricht erscheinen, den „Großraum“ wg. seiner Entstehungszeit und seines Entstehungslandes zu verdammen und als naiv, seine Überholtheit zu proklamieren. - Zur allgemeinen Einordnung der Großraumtheorie Schmitts in das weltpolitische Denken sei zum Schluß verwiesen auf: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, II, Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, 1982, S. 563 - 574. Auf die zahllosen Kommentare zur „Großraumtheorie“ in der Schmitt-Literatur nach 1945 kann hier nicht mehr eingegangen werden; hingewiesen sei aber auf die beiden Aufsätze Piet Tommissens, „De grootruimtetheorie van wijlen Carl Schmitt“ (in: Dietsland-Europa, Ant­ werpen, 12/1985, S. 18 - 22) und „Een politicologische initiatie in den grootruimtetheorie van Carl Schmitt“ (in: Tijdschrift voor sociale wetenschappen, 2/1988, S. 133 - 150 (mit Materialien aus den 40er Jahren). - Temperamentvoll-polemisch Schmitts Intentionen miß­ deutend: R. Faber, „Großraumordnung“ - Das imperialistische Friedenskonzept Carl Schmitts, in: Chr. Schulte, Hrsg., Friedensinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg. Wider­ sprüche, 1987, S. 135 - 158. - Die Großraumtheorie wird, ob berechtigt oder nicht, gelegent­ lich mit der Breschnew-Doktrin in Zusammenhang gebracht. Vgl.: Hendrik Fayat, Réflexions d’aôut 1942 sur un précurseur de la doctrine de Brejnev: la „Völkerrechtliche Großraumord­ nung“ de Carl Schmitt, bei: P. Tommissen, Hrsg., Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 96 - 104. Der Bezug wird hier nachträglich gewonnen; der Text stellt ein 1942 im Aufträge der belgi­ schen Exilregierung entstandenes Gutachten dar. Auf die Parallele weist des öfteren hin: Jür­ gen V. Alten, Die ganz normale Anarchie - Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, 1994, u. a. S. 261. In der spez. Literatur zur Breschnew-Doktrin wird Schmitt nicht erörtert, vgl. etwa: B. Meissner, Die „Breschnew-Doktrin“, 1970. 2. A.; D. Manai, Discours jurudique soviéti­ que et intervention en Hongrie et en Tchécoslovaquie, Genf 1980. - Zu den Aussichten einer Großraumbildung im heutigen Europa: G. Maschke, L’unità del mondo e il grande spazio europeo. Pagine libere (Rom), Luglio-Agosto 1993, S. 48 - 53. - Den Stellenwert von Schmitts Konzept in der heutigen Weltpolitik und ihren Theorien erörtert: H. Wagner, Staa­ tenpluralismus u. globales Gleichgewicht, FS Emst Fraenkel, 1973, S. 331 - 61.

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Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law“ (1890 -1939) Der Beginn des Kampfes für und gegen eine europäische Großraumordnung und darüber hinaus um den völkerrechtlichen Großraumgedanken überhaupt bedeutet nicht nur weltpolitisch, sondern auch völkerrechtswissenschaftlich den Beginn ei­ nes neuen Stadiums. Der unmittelbar vorangehende Entwicklungsabschnitt ist von 1890 bis 1939 zu datieren. Bismarcks Entlassung bezeichnet auch völkerrechtlich, nicht nur verfassungsrechtlich, einen tiefen Einschnitt. Der große Kanzler des Zweiten Reichs hat sich auf dem Berliner Kongreß von 1878 und auf der Kongo­ konferenz von 1885 als der letzte Staatsmann eines von Europa und den europä­ ischen Großmächten geführten, noch spezifisch europäischen Völkerrechts be­ währt1. Weitere Gründe für unsere mit dem Jahre 1890 einsetzende Periodisierung werden sich aus den folgenden Darlegungen ergeben. Der Weltkrieg gegen das Deutsche Reich, 1914 bis 1918, bedeutete natürlich auch für das Völkerrecht den Anfang einer Umwälzung. Aber der Restaurations versuch der Pariser Vorortverträge und des Genfer Völkerbundes hielt die Entwicklung einer sinnvollen Großraum­ ordnung für fast zwei Jahrzehnte zurück. In diesem letzten Unterabschnitt von 1919 bis 1939 versuchten alle Entwicklungstendenzen der Vor-Weltkriegszeit sich noch einmal zu äußerster Folgerichtigkeit und Totalität zu entfalten12. Der die völkerrechtsgeschichtliche Epoche bestimmende Vorgang dieses letzten Entwicklungsabschnittes liegt in der Ausdehnung des europäischen Völkerrechtes, des „Droit public de F Europe“, zu einem allgemeinen, erdumfassenden sog. inter­ nationalen Recht aller Volker, Rassen und Kontinente. Was einige europäische Na­ tionen als nahe Verwandte und Träger einer europäischen Hausgenosseilschaft im 18. und 19. Jahrhundert untereinander zu einer gewissen konkreten Ordnung ent­ wickelt hatten, dehnte sich plötzlich zu einem unterschiedslosen, für 50 - 60 hete­ rogene Staaten gelten sollenden Weltrecht aus. Das ist ein erstaunlicher Vorgang. Erstaunlich ist auch die Schnelligkeit, mit der diese Ausweitung sich um 1890 in 1 Für diese im übrigen anerkannte Tatsache möchte ich wegen des wichtigen Zusammen­ hanges mit dem kolonialen Völkerrecht auf folgende Äußerung von Julius Goebel, The strug­ gle for the Falkland Islands, Yale University Press 1927, S. 192, hinweisen: „Bismarck was the last statesman who seems to have been conscious of the old public law of Europe and with his retirement the last possibility of a restitution of the old (sc: colonial) system disap­ peared“. Neuestens Windelband, Bismarck u. d. europ. Großmächte, Essen 1940, S. 594, 654. 2 „Unmittelbar ehe ein qualitativ Neues auftreten soll, faßt sich der alte qualitative Zu­ stand - alle seine markierten Differenzen und Besonderheiten, die er, so lange er lebensfähig war, gesetzt hat, wieder aufhebend und in sich zurücknehmend - in sein allgemeines ur­ sprüngliches Wesen, in seine einfache Totalität zusammen“ (He^el).

Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law*

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einer Reihe von vollendeten Tatsachen durchsetzte. Noch erstaunlicher freilich die Bewußtlosigkeit, mit der die europäische Völkerrechtswissenschaft diesen Vorgang hinnahm und in einen raumlosen Universalismus hineinglitt, als handele es sich, statt um eine fundamentale Wesensänderung, um einen nur quantitativen Erweiterungs- und Ausdehnungsprozeß. Das seit dem 16. Jahrhundert entstandene europäische Staatensystem hatte sich zunächst in den Friedens Verträgen von 1648 und 1713 die Verfassungsurkunden des ihm zugeordneten ,Droit public de l’Europe34 geschaffen3. Der Wiener Kongreß von 1814/15 hatte dieses Werk restauriert und fortgesetzt, das sich mit starken Ver­ änderungen, aber im ganzen beibehaltener Struktur dank dem europäischen Sinn Bismarcks bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts hindurch hielt.[l] Dieses europä­ ische Völkerrecht war zum Unterschied von dem ihm folgenden universalen inter­ nationalen Recht kein bloßes Normensystem. Trotz aller Problematik blieb etwas wie eine „Familie“ der europäischen Fürstenhäuser, Staaten und Nationen, eine Hausgenossenschaft europäischer Völker, die, bei allen inneren Spaltungen und Besitzzersplitterungen, noch gemeinsamer Beratung, gemeinsamer Gesichts­ punkte, gemeinsamer Ordnungsaktionen, ja - wie sich auf der Kongo-Konferenz 1885 zeigte - sogar noch einer gemeinsamen Regelung einer europäischen Land­ nahme auf nicht-europäischem Boden fähig waren. Die Anerkennung der Negerrepublik Liberia (1848) war nicht mehr als eine harmlose, gewissen amerikanischen Liebhabereien konzedierte Abnormität. [2] Die im Pariser Friedensvertrag vom 30. März 1856 durch die Großmächte und Sardinien ausgesprochene Zulassung der Türkei zu den »avantages du droit public et du concert Européen4 war keine eigent­ liche Aufnahme als Mitglied, sondern geschah unter zahlreichen Bedingungen, ins­ besondere unter Beibehaltung des Regimes der Kapitulationen, das damit aller­ dings seinen bisherigen Sinn völlig veränderte, aber doch noch eine gewisse Vor­ mundschaft zum Ausdruck brachte und vor allem den Führungsanspruch der euro­ päischen Großmächte außer jedem Zweifel ließ.[3] Anläßlich des deutsch­ französischen Krieges erregte das Problem der Turkos infolge von Bismarcks Pro­ testnote als europäische Angelegenheit noch Interesse4. Dann folgten besonders in den achtziger Jahren schnell die zahlreichen Verträge mit ostasiatischen Staaten, insbesondere mit Japan und Siam. Siam trat 1885, Japan 1886 in den Weltpostver­ ein ein. Von 1894 bis 1904 setzte sich Japan als Großmacht durch. Das wurde als Triumph der europäischen Zivilisation und des mit ihr identifizierten europäischen Völkerrechts angesehen. Für den fortschrittlichen Rausch dieser Jahre, zugleich aber auch für das europäische Solidaritätsgefühl großer Deutscher, liefert Lorenz 3 Für das 18. Jahrhundert: Mably, Le Droit public de l’Europe, 1748 (behandelt besonders die Friedens vertrage 1648 bis 1748; die 3. Aufl. von 1764 auch die von 1763); Abreu, Derecho Publico de la Europa, 1743; Achenwall, Juris gentium Europ. 1775. Wichtig das Buch von J. Goebel, a. a. O, S. 120 f. 4 Bluntschli erklärt in § 559 seines „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt“ die Verwendung unzivilisierter Truppen für unzulässig; vgl. auch fùiuchille, Traité II § 1083 (S. 122).

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von Stein im Jahre 1885 ein fast rührendes Beispiel: Er schlägt vor, daß alle euro­ päischen Eisenbahnen ,en vertu de la solidarité des intérêts de l’Europe entière* ein »système juridique* bilden, mit der Wirkung, daß während eines europäischen Krie­ ges die großen, durch die kriegführenden Länder hindurchgehenden Eisenbahn­ strecken neutralisiert werden „im Namen der Integrität des großen europäischen Verkehrsorganismus und der konstitutionellen Einheit Europas“5. Das wurde frei­ lich als ein „chimärischer Gedanke“ abgelehnt6, bleibt aber symptomatisch für den Drang zur Überwindung kleinräumiger Staatsbezogenheit. Auf der Konferenz von 1885 konnte die Sonderbarkeit, daß die Flagge der Kon­ go-Gesellschaft von der amerikanischen Regierung anerkannt war, bereits als Fak­ tum von politischer Bedeutung eine Rolle spielen. [4] Die Auflösung des spezifisch europäischen Völkerrechts in ein unterschiedslos universales Weltrecht war nicht mehr aufzuhalten. Diese Auflösung ins Allgemein-Universale war zugleich die Auflösung des bisherigen europäischen Völkerrechts als einer auf bestimmten Vor­ aussetzungen beruhenden konkreten Ordnung in einen leeren Normativismus. Sie geht nach 1900 so schnell vorwärts, daß der Geschichtsschreiber des Konzerts der europäischen Großmächte, Charles Dupuis, bereits für das Jahr 1908 dessen offe­ nen Bankrott (faillite) feststellen kann6a. Mit der wachsenden Macht der Vereinig­ ten Staaten wurde auch deren eigentümliches Schwanken zwischen einer völligen Isolierung hinter einer gegen Europa gezogenen Trennungslinie und einem univer­ salistisch-humanitären Interventionsanspruch immer auffälliger, bis es im Erschei­ nen Wilsons auf der Pariser Friedenskonferenz einen verhängnisvollen Höhepunkt fand.[5] Das Ergebnis ist von allen Seiten her das gleiche: das Ende des überkom­ menen europäischen Völkerrechts. Die den Weltkrieg 1914 bis 1918 beschließen­ den Pariser Vorortkonferenzen von 1918/19 waren nur noch in dem Hauptobjekt ihrer Maßnahmen, nicht aber in ihren Trägem und Gesichtspunkten etwas spezi­ fisch Europäisches. Die Begriffe und Formulierungen der Völkerrechtswissenschaft, insbesondere der völkerrechtlichen Lehrbücher sind ein getreues Spiegelbild dieser Entwick­ lung. Bis um 1880 ist die Auffassung, daß „das“ Völkerrecht ein spezifisch euro­ päisches Völkerrecht ist, auf dem Kontinent und insbesondere in Deutschland durchaus vorherrschend. Auch wenn universalistische Vorstellungen wie „Mensch­ heit“ oder „Zivilisation“ das System bestimmen, ist das Gesamtbild durchaus euro­ pa-zentrisch, und bedeutet „Zivilisation“ selbstverständlich nur europäische Zivili­ sation. Das führende Lehrbuch der Mitte des 19. Jahrhunderts, August Wilhelm Heffters „Europäisches Völkerrecht der Gegenwart auf den bisherigen Grundla5 Le Droit international des chemins de fer en cas de guerre, in der Revue de Droit Inter­ national et de Législation comparée XVII (1885) S. 332 - 361. Bluntschli hatte 1878 in einem Aufsatz „Über die Organisation des Europäischen Staatenvereins“ nach deutschem föderali­ stischen Vorbild einen europäischen Staatenbund vorgeschlagen, vgl. dazu Holtzendorff in seinem Handbuch des Völkerrechts, I, Einleitung S. 37/38 (1885). 6 Annuaire de l’Institut de Droit International VIII, 179 f.; IX 274 f. 6u Vorträge in der Dotation Carnegie 1928 / 29.

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gen“ (1. Aufl. 1844, 8. Aufl. von F. H. Geffcken besorgt, 1888) ist hierfür typisch. Von ihm konnte Robert Mohl unter allgemeiner Zustimmung sagen: „Heffters Lehrbuch ist vom juristischen Standpunkt aus weitaus das beste, welches in irgend­ einer Sprache im Völkerrecht besteht“.[6] Auch Franz von Holtzendorff nannte die in seiner Enzyklopädie 1885 erschienene Darstellung noch „Europäisches Völker­ recht“. Die großen englischen Werke allerdings (Travers Twiss, Phillimore, Sum­ ner Maine, Hall, Lorimer, Stephen) lassen das im Hintergründe liegende Problem bereits dadurch erkennen, daß sie zwar auch selbstverständlich zwischen zivilisier­ ten und anderen Völkern unterscheiden, ihrem Werk im Ganzen aber ohne nähere Kennzeichnung, nach J. Benthams Vorgang, den Titel „International Law“ oder „Law of Nations“ geben und allgemein von „Nationen“ sprechen. [7] Ihnen lag die Hineinnahme der amerikanischen Staaten näher als den kontinentalstaatlichen, ins­ besondere den deutschen Völkerrechtslehrem. Die Erweiterung in den amerikani­ schen Bereich hinein äußert sich in der Gesamtbezeichnung verschieden. Kent be­ handelte das Völkerrecht im Rahmen seiner „Commentaries on American Law“ (1836 zuerst erschienen). Wheaton nannte sein 1836 veröffentlichtes Werk einfach „Elements of International Law“. Wharton sagt „Digest of the International Law of the United States“. Der Südamerikaner Calvo dagegen gibt seinem berühmten Werk bereits 1868 den Titel „Derecho intemacional teôrico y prâctico de Europa y America“. Das imposante Buch des Franzosen Pradier-Fodéré (1. Bd. 1885) nennt sich „Traité de droit international public européen et américain“. Aber auch in den Fällen, in denen es zu einer ausdrücklichen Nebeneinanderstel­ lung von europäischem und amerikanischem Völkerrecht kam, wurde das nicht als eine Verschiedenheit oder als ein wirkliches Problem empfunden, weil beides in der Vorstellung der europäischen Zivilisation zusammenfloß. Die Erweiterung und Ausdehnung vom spezifisch Europäischen ins allgemein Universale zeigt sich ent­ weder darin, daß die Autoren dazu übergehen, ihre völkerrechtlichen Werke jetzt einfach „Internationales Recht“ oder „Völkerrecht“ schlechthin zu nennen, wie das in diesem Entwicklungsabschnitt üblich wird7 und wodurch das Problem aus dem Bewußtsein verschwindet. Soweit noch ein gewisses Problembewußtsein vorhan­ den war, sagte man „Völkerrecht der zivilisierten Staaten“. Typisch hierfür ist Jo­ hann Caspar Bluntschlis viel beachtete Kodifikation „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt“ (1868). Das von Fr. v. Martens in russischer Sprache verfaßte völkerrrechtliche Werk wurde von Bergbohm (1883) deutsch unter dem Titel „Völkerrecht, das internationale Recht der civilisir­ ten Nationen herausgegeben. Der Italiener Contuzzi veröffentlichte 1880 „II diritto delle genti dell’Umanità“. So kündigte sich das große Problem der mehreren Völkerrechte statt eines verwi­ schenden, allgemeinen Völkerrechts deutlich an. Doch schien das, wie gesagt, um 7 Beispiele: Bulmerincq, Gareis, Ullmann, Heilbom, v. Liszt usw. (Völkerrecht oder Inter­ nationales Recht). Das italienische und das spanische Schrifttum sprach ebenfalls meistens von Diritto Internazionale oder Derecho Intemacional, die Slawen von Mezdunarodnoe prawe oder Medunarodnog Prawa (zwischen-völkisches) Recht usw.

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den Beginn des Entwicklungsabschnittes, um 1890, kein Problem, weil man die unproblematisch gemeinsame europäische Zivilisation im Auge hatte. Daß es kein „Afrikanisches Völkerrecht“ gab, war selbstverständlich.[8] Aber auch von einem „Asiatischen Völkerrecht“ ist nicht einmal der Möglichkeit nach die Rede. Zwar erscheinen in den achtziger und neunziger Jahren asiatische Staaten in der „Völ­ kerrechtsgemeinschaft“. Aber während in den iberoamerikanischen Staaten der Gedanke eines kontinentalen Völkerrechts wenigstens auftaucht, stehen diese asia­ tischen Staaten ohne jede kontinentale Problematik sofort mitten in einem unter­ schiedslos universalen Völkerrecht. [9] Das erklärt sich wohl hauptsächlich daraus, daß sie zunächst nur unter Kapitulationsverträgen und ähnlichen Vorbehalten mit dem Träger des bisherigen Völkerrechts in Berührung traten und dadurch das Pro­ blem für das europäische Bewußtsein vorerst verschleiert blieb, während es später, als Japan die „Rezeptionspartien“ 1894 (Krieg mit China) und 1904 (Krieg mit Rußland) geschlagen hatte, nicht mehr zu existieren schien8. Die Völkerrechtswissenschaft dieser Übergangsjahre um 1890 hat in A. Riviers vorzüglichem „Lehrbuch des Völkerrechts“ ihren in dieser Hinsicht typischen Aus­ druck gefunden. Dieses Lehrbuch ist 1889 in Kirchenheims „Handbibliothek des öffentlichen Rechts“ erschienen9. Es hat in allem - in seiner wissenschaftlichen Haltung, in seiner literarhistorischen Sachkunde (Rivier ist der Verfasser der „Li­ terarhistorischen Übersicht der Systeme und Theorien des Völkerrechts seit Groti­ us“ in Holtzendorffs Handbuch), im Aufbau des Systems und in der Art der Be­ handlung des erst jetzt, wenn auch nur für einen Augenblick in das Bewußtsein rückenden Übergangs vom europäischen zum universalen Völkerrecht - den ganz besonderen Wert eines Dokumentes, das die Bewußtseinslage einer Übergangszeit, die sonst nicht leicht zu fassen ist, in hellstem Lichte zeigt. Rivier betont nach­ drücklich den europäischen Ursprung und Charakter des „Völkerrechts der zivili­ sierten Staaten“. Er hebt hervor, daß die Bezeichnung „Europäisches Völkerrecht“ „auch jetzt noch insofern richtig ist, als Europa wirklich der Ursprungskontinent10 unseres Völkerrechts ist“. Aber, so fährt er fort, „unsere Völkergemeinde ist keine geschlossene. Wie sie sich der Türkei geöffnet hat, wird sie sich noch anderen Staaten öffnen, wenn diese die erforderliche Höhe einer der unserigen analogen Gesittung erreicht haben werden. Durch Verträge, die an Häufigkeit und Bedeu­ tung stets zunehmen, werden nach und nach die Staaten Asiens, sowie auch afrika8 Besonders lehrreich für die Bedeutung der Vorstellung „humanité“ sind die Äußerungen des italienischen Juristen Patemostro, Berater des japanischen Justizministeriums, aus Tokio 1890: Das Völkerrecht erstreckt sich nicht nur auf Europa, sondern die ganze Menschheit und die ganz Erde, vgl. Revue de Droit Internat. XXIII (1891), S. 67. In der 1. Aufl. von Liszt „Völkerrecht“ (1898, S. 3) heißt es: „Zur Völkerrechtsgemeinschaft muß aber heute schon Japan gerechnet werden. Seine Kultur . . . steht durchaus auf der Durchschnittshöhe der christlich-europäischen Staaten. Im Krieg mit China hat es die Regeln des Völkerrechts stren­ ger beachtet als mancher europäische Staat“ usw. 9 2. Aufl. 1899; die Principes du droit des gens erschienen 1896. 10 Der Ausdruck: Europa als „Ursprungskontinent“ offenbar aus Holtzendorffs Einleitung in das Völkerrecht, in seinem Handbuch 1885,1 S. 14.

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nische und polynesische Staaten, zu einer teilweisen Rechtsgemeinschaft herange­ zogen“. Wie stellt er sich nun in concreto die sich weit öffnende europäische Völ­ kergemeinde vor, und wie führt er die nicht-europäischen und nicht- amerikani­ schen Völker in sie ein? Eine Übersicht über die „jetzigen souveränen Staaten, welche gegenwärtig die eigentlichen Personen der Völkergemeinde bilden“ (S. 92 ff.) gibt darüber Aufschluß. Nachdem er erst die Staaten von Europa, dann die von Amerika aufgezählt hat, nennt er die „Staaten in Afrika“, nämlich: Unab­ hängiger Congostaat; Freistaat Liberia; Freistaat Oranien; Sultanat Marokko; Sul­ tanat Zanzibar“. Daran knüpft sich unmittelbar der Zusatz: „Daß die zwei letzteren nicht zur Völkerrechtsgemeinde gehören, ist selbstverständlich“. Nach diesen „Staaten in Afrika“ folgt auf gleicher Ebene eine Übersicht „In Asien“. Das Wort „Staaten“ wird hier vermieden. Diese Übersicht hat folgenden Wortlaut: „GleicHfallsDöcH außerhalb der Staatengesellschaft, aber vielfach in Vertragsverbindung mit verschiedenen Gliedern derselben stehen: Persien, China, Japan, Korea, Siam. Die anderen asiatischen Staaten werden, unter verschiedenen Bezeichnungen, nach und nach von England und von Frankreich annektiert; Malay sien gehört den Nie­ derlanden, mit Ausnahme eines Teils von Borneo (British Borneo, Sarawack, Bru­ nei)“. Am Schluß folgt: „In Polynesien: Hawai, Samoa“. Die symptomatische und dokumentarische Bedeutung dieser Übersicht bedarf keines weiteren Kommentars; sie macht den Augenblick des Umschlags deutlich sichtbar. Mit dem kurzen Hinweis auf diese völkerrechtsgeschichtlichen Daten versuchen wir auf eine wichtige völkerrechtsgeschichtliche Tatsache aufmerksam zu machen: Ohne jedes kritische Empfinden, ja, in völliger Ahnungslosigkeit hat die europä­ ische Völkerrechtslehre einen immer weiter, immer äußerlicher und immer ober­ flächlicher werdenden Universalierungsprozeß hingenommen und nicht bemerkt, wie die frühere gute oder schlechte, immerhin als eine gewisse konkrete Ordnung nicht unwirkliche Hausgenossenschaft der europäischen Fürstenhäuser, Staaten und Nationen verschwand, und zwar ersatzlos verschwand. Was an ihre Stelle trat, war kein „System“ von Staaten, sondern ein systemloses Nebeneinander von Nor­ men; im übrigen ein ungeordnetes, räumlich und völkisch zusammenhangloses Ne­ beneinander von 50 heterogenen, aber angeblich gleich berechtigten souveränen Staatén, fur’die schließlich nicht einmal mehr der Begriff der „Zivilisation“ als Substanz einer gewissen Homogenität gelten konnte. Die bisherige, für das kolo­ niale europäische Völkerrecht grundlegende Unterscheidung von zivilisierten, halbzivilisierten (barbarischen) und wilden Völkern (sauvages) wurde ebenso J u ­ ristisch belanglos“ wie die Tatsache räumlich kontinentaler Zusammenhänge.! 10] Es gab nur noch eine nichts mehr unterscheidende VÖlkerrechtsgemeinschaft, die „communauté internationale“ 103. Daß eine „Familie“ oder „Hausgenossenschaft“ von Staaten und Nationen sich in solcher Weise ins Allgemeine öffnete, war offen­ bar keine bloß quantitative Ausdehnung und Erweiterung, sondern ein Sprung in das Nichts einer bodenlosen Allgemeinheit. An die Stelle der konkreten Ordnung 1(,u Als „frei“, d. h. staatsfrei, bleiben nur noch einige Beduinenstämme; vgl. Knubben, Die Subjekte des Völkerrechts, 1928.

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des bisherigen europäischen Völkerrechts trat auch nicht der Schatten einer neuen konkreten Ordnung. Das System des europäischen Gleichgewichts ließ sich nicht einfach auf ein Weltgleichgewicht des Erdballs übertragen. Der englische An­ spruch, Mitte der Welt zu sein, aus dem Handhaber des europäischen Gleichge­ wichts der Träger eines die Kontinente balancierenden Weltgleichgewichts zu wer­ den11, hat sich nicht verwirklichen lassen; dafür war die europäische Insel doch zu schwach. Das Konzert der europäischen Großmächte wurde nicht einmal scheinbar von einem Konzert der imperialistischen Weltmächte abgelöst. Was nunmehr als „Völkerrecht“, genauer als „International Law“ erschien, war - von speziellen technischen Materien abgesehen - nichts als eine Reihe von Generalisierungen zweifelhafter Präzedenzfälle, kombiniert mit mehr oder weniger allgemein aner­ kannten Normen, die um so allgemeiner anerkannt waren, je bedeutungsloser sie in der Sache waren, über einem undurchdringlichen Netz von positiven vertragli­ chen Abmachungen verschiedenster Art. Was der Ansatz zu einer konkreten Aus­ gestaltung hätte werden können, z. B. die Unterscheidung von universalen und be­ sonderem Völkerrecht oder die Herausarbeitung des konkretpolitischen Sinnes des kontinentalen gegenüber dem britischen Kriegsbegriff, blieb in unklaren Allge­ meinheiten stecken. [ 11] Dafür aber setzen sich zwei scharfe dualistische Trennungen um so entschiede­ ner durch. Beide sind nicht etwa nur Begleiterscheinungen des völkerrechtlichen Entwicklungsabschnittes von 1890 bis 1939, sondern konstituierende Elemente, die zur Struktur der Epoche gehören. Die erste dieser Trennungen ist der Dualis­ mus von zwischenstaatlichem und innerstaatlichem Recht. Der Titel des Buches von Heinrich Triepel, das ihn begründete, „Völkerrecht und Landesrecht“ (1899), ist noch traditionsgebunden und läßt das begrifflich Entscheidende, nämlich die ausschließliche St^atsbezpgenheit dieses Dualismus, in seiner Formulierung nicht erkennen. Je schärfer sich der Staat als territorial geschlossene, klein- oder mittelräumige zentralistische Organisation entwickelt, um so mehr verwandelt sich das Völkerrecht in ein zwischen- staatliches Recht. Die Möglichkeit eines nicht-staatsbezogenen, gemeinen Völkerrechts entfällt dem Bewußtsein, weil die innerstaatli­ che Entwicklung zum Gesetzespositivismus das Recht in staatliches Gesetz ver­ wandelt hatte. Das rechtswissenschaftliche Denken bewegte sich nur um eine durch die Begriffe Staat und Gesetz bestimmte Begriffsachse. Daran konnte die ausdrückliche Anerkennung des Gewohnheitsrechts nichts Wesentliches ändern. Je positiver, d. h. hier je staatsbezogener, je straffer gesetzlich und je vollziehbarer dieses innerstaatliche Recht wird, um so tiefer wird der Abgrund, der die Welt des 11 Canning sagte am 12. Dez. 1826 im englischen Unterhaus über die Erneuerung des Gleichgewichts: „Ich blicke anderswohin! Ich suche die Ausgleichsmittel in einer anderen Hemisphäre . . . Ich rief die neue Welt ins Dasein, um das Gleichgewicht der alten wieder­ herzustellen“. Diese Rede ist sowohl gegen jede Confederacy (die heilige Allianz), wie ge­ gen jede Resolution (die Monroe-Botschaft), wie gegen jede Combination (Bolivars Denk­ schriften 1819 bis 1826) gerichtet; vgl. dazu Adolf Rein in seinem auch völkerrechtlich wich­ tigen Aufsatz „Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäische Staa­ tensystem“, Histor. Zeitschr. 137 (1927), S. 79.

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innerstaatlichen Rechts von dem Bereich der zwischen-staatlichen Beziehungen trennt. Je vollkommener sich der innerstaatliche Bereich zu einem sicher und be­ rechenbar funktionierenden, mit fast mechanischer Genauigkeit seine Gesetze durchführenden Kosmos entwickelt, um so mehr verlieren die zwischen-staatli­ chen Beziehungen und ihre Normierungen diesen Charakter, um so „unvollkom­ mener“ wird das Völkerrecht. [12] Die völlige Strukturverschiedenheit von inner­ staatlichem und zwischen-staatlichem Recht wird durch überkommene Bezeich­ nungen, wie „Völkerrecht“, „internationales Recht“, noch stark verwischt. Wo aber konsequent staatsbezogen gedacht wird, steigert sich die Strukturverschiedenheit der beiden „Rechte“ bis zur völligen Beziehungslosigkeit. Das Wort „Recht“ be­ deutet in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes. Der gemeinsame Nenner ist schließlich nur noch, daß beides „Normen“ und „Normenkreise“ im Sinne eines allgemeinen „Sollens“ sind. Die Überbrückung des Abgrundes wird das Hauptpro­ blem der Völkerrechtswissenschaft. Es ist für diese Einstellung eigentlich entweder unlösbar oder überhaupt kein Problem, eine wahre „Aporie“. Folgerichtig geht Triepel in seinem staatsbezogenen Normativismus davon aus, daß zwischenstaat­ liches wie inner-staatliches Recht nicht als zwei verschiedene „Rechtsordnungen“ (gemeint sind Normenkreise) nebeneinander gelten, sondern daß sie „zunächst“ überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Sie sind nach Geltungsgrund und nach dem Inhalt der Lebensverhältnisse so unendlich weit voneinander getrennt, daß eine Konkurrenz zwischen ihnen im Sinne der Normierung desselben Tatbestandes „zunächst undenkbar ist“. „So ist es vor allem unmöglich, daß ein Satz der einen Rechtsordnung in Konflikt (von Triepel gesperrt) käme mit einem aus der ande­ ren“. „Das ist aber“, fährt Triepel fort, „von größter Bedeutung nach mehreren Sei­ ten“.! 13] Freilich ist das von größter Bedeutung. Es ist sogar von grundlegender Bedeutung, weil die völlige Beziehungslosigkeit der beiden Normenkomplexe die Frage nach ihrem Verhältnis theoretisch unbeantwortbar macht. Von der praktischen Seite her wird aber die Zeitgebundenheit dieser dualisti­ schen Auseinanderreißung heute offensichtlich. Dieser Dualismus von zwischen­ staatlichem und inner-staatlichem Recht ist ein Ausdruck der innenpolitischen La­ ge des deutschen 19. Jahrhunderts. Es bedeutet keine Herabsetzung der großen wissenschaftlichen Leistung von H. Triepel und ebensowenig derjenigen von G. A. Walz, der den Dualismus zu einem Pluralismus vertieft hat12, wenn der geschicht­ liche Zusammenhang mit dem Begriffssystem der innerdeutschen Problematik des 19. Jahrhunderts festgestellt wird. Die innenpolitische Verfassungslage Deutsch­ lands war durch den Kampf der einzelnen deutschen Staaten um ihre „Souveräni12 Völkerrecht und staatliches Recht, Untersuchungen über die Einwirkungen des Völker­ rechts auf das innerstaatliche Recht, 1933. Auch hier bedeutet „Völkerrecht“ zwischen-staatliches Recht, wodurch der Dualismus oder, wie G. A. Walz richtiger sagt, Pluralismus ebenso unvermeidlich wie unlösbar wird. Das zeigt sich besonders deutlich im Prisenrecht bei der Frage, ob der staatliche Prisenrichter staatliches oder Völkerrecht zur Anwendung bringt; vgl. Carl Schmitt, Über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZAkDR 1940, 4; ferner in der Festgabe für G. Streit (Athen), Positionen u. Begriffe, 1940, S. 261 ff.

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tät“, ihre staatliche Geschlossenheit und Selbständigkeit bestimmt. Dieser Kampf führte dazu, daß das weite Problem des völkerrechtlichen Bundes zu der bereits ganz „dualistischen“ Alternative von rein völkerrechtlichem Staatenbund und rein staatsrechtlichem Bundesstaat verengt wurde und sich in dieser Sackgasse mit un­ sagbarem Scharfsinn totlief. [14] Das Verlegenheitsergebnis war der Kompromiß­ begriff „Bundesstaat mit hündischer Verfassungsgrundlage“. Auch dem Begriff der Vereinbarung, mit dessen Hilfe Triepel die Entstehung zwischen-staatlichen Rech­ tes erklären will, haftet etwas von dieser Herkunft an; er stammt aus den Konstruk­ tionsversuchen, die die Gründung des norddeutschen Bundes von 1867 juristisch zu erklären suchen13. Eine Anwendung dieser Vereinbarungskonstruktion auf Eu­ ropa wäre nicht sinnvoll, wenn auch ein großer Denker wie Lorenz von Stein ei­ nem in dieser Richtung gehenden Irrtum verfallen ist14. Denn der Bundesstaat „Deutsches Reich“ war trotz seiner komplizierten Verfassung dank der existentiel­ len Wirklichkeit der nationalen Einheit des deutschen Volkes eine konkrete Ord­ nung echter Art, während sich das damalige europäische Völkerrecht bereits um 1900 auf dem Wege der Auflösung in ein universalistisches Normensystem be­ fand. Triepels Versuch, die Vereinbarungskonstruktion sogar auf das damalige Völ­ kerrecht im ganzen zu übertragen, beweist, daß das um 1890 noch andeutungswei­ se vorhandene Bewußtsein des Überganges aus einer engeren in eine weitere „Ge­ meinschaft“ um 1900 bereits völlig normativistisch verblaßt war. Die ganze Frage des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht wird als eine Normenfrage auf­ gefaßt. Normenkreise, Normenquellen, Normenadressaten sind die juristischen Größen, mit denen hier gerechnet wird, ohne daß die Frage nach konkreten Ord­ nungen auch nur als interessante Nebenfrage auftaucht. Sogar die völkerrechtliche Anerkennung neuer Staaten, deren juristische Konstruktion für die Struktur der konkreten Ordnung der sog. Völkerrechtsgemeinschaft unmittelbar entscheidend ist, wird zu einer Vereinbarung über die Ausdehnung völkerrechtlicher Normen auf die neuen Staaten (Triepel, S. 102). Die ganze Frage des Verhältnisses von zwischen-staatlichem und inner-staatli­ chem Recht konnte nur deshalb eine derartig zentrale Bedeutung gewinnen, weil sie in der Verfassungslage des Konstitutionalismus und insbesondere des deut­ schen Konstitutionalismus gestellt wurde. Wo eine nach innen und außen einheitli­ che Herrschafts- oder Führungsgewalt besteht, ist die Umschaltung von außen nach innen keine prinzipielle Angelegenheit, sondern eine Sache der geordneten Befehlsweitergabe und der Disziplin, ein Problem, das sich ohne grundsätzliche Bedeutung überall erheben kann, innerhalb der staatlichen Verwaltung, bei der Ordnung des hierarchisch geordneten Weisungsrechts, innerhalb jeder Armee, je­ des Betriebes und jeder Organisation. Die „auctoritatis interpositio“ kann doch nur 13 Vgl. das Schrifttum bei Meyer-Anschütz, Staatsrecht, 7. Aufl. 1919, S. 201; daraus be­ sonders Karl Binding, Die Gründung des norddeutschen Bundes, 1889 (in „Wesen und Wer­ den der Staaten“, 1920, S. 161 f.), der mit Recht den „Gesetzlichkeitsfehler“ der Konstruk­ tionsversuche hervorhebt. 14 Vgl. oben S. 374.

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dann zum fundamentalen Problem werden, wenn es sich um zwei verschiedene Arten von Autorität, d. h. um die praktische Möglichkeit eines Gegensatzes von Innen- und Außenpolitik handelt. Zwei Generationen hindurch ist das deutsche Verfassungsrecht durch diesen Gegensatz bestimmt worden, der in dem Gegensatz von Regierung und Parlament konstitutionell und institutionell verankert war und bei dem vorausgesetzt wurde, daß die Regierung die Außenpolitik mache, während die Volksvertretung kraft ihrer entscheidenden Mitwirkung an der Gesetzgebung die Innenpolitik bestimmte. Die „Autorität“, die völkerrechtlich nach außen auf­ trat, war von der „Autorität“, die staatsrechtlich nach innen maßgebend war, so verschieden, daß die „auctoritatis interpositio“ bei der Umschaltung von außen nach innen nicht eine einfache technische Umschaltung, sondern eine echte „in­ terpositio“, nämlich die Einschaltung einer spezifischen Art von Autorität, derjeni­ gen der Volksvertretung, zum Inhalt hatte. Ich möchte noch einmal betonen, daß die straffe Konstruktion des Gegensatzes von innen und außen auch in der damali­ gen weltpolitischen Lage Deutschlands und erst recht in der Zeit von 1919 bis 1933 vom deutschen Standpunkt aus praktisch-politisch sinnvoll war. Den Versu­ chen, auf dem Weg über die Beseitigung dieses Dualismus, über Lehren vom sog. „Primat des Völkerrechts“[15] und über Art. 4 der Weimarer Verfassung („die all­ gemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts“) das damalige, weitläufige, liberaldemokratische Recht des Weltkapitalismus zum innerdeutschen Recht zu machen, bin ich selber oft und entschieden genüg entgegengetreten. Auch ist mir bekannt, welches Hindernis die Notwendigkeit einer innerstaatlichen Gesetzgebung für die Effektivität des Art. 16 der Völkerbundsatzung bedeutete.[16] Aber auch das gehört zur Zeitgebundenheit sowohl des staatsbezogenen wie des normativistischen Denkens in einem Entwick­ lungsabschnitt des Völkerrechts, der alle konkreten Ordnungen in bloße Normen aufgelöst hatte. Neben die dualistische Aufreißung von außen und innen tritt eine zweite, für diesen völkerrechtlichen Entwicklungsabschnitt kennzeichnende scharfe Tren­ nung, die von »juristisch“ und „politisch“. Diese Unterscheidung ist ah sich uralt, wird jetzt aber die eigentliche Grundlage, die wahre Verfassung des Völkerrechts dieser Epoche. Nicht die Vorstellung von Grundrechten der Völker oder der Staa­ ten, nicht der mehr oder weniger tautologische Satz „pacta sunt servanda“, sondern diese Ausscheidung alles Politischen aus einer hochpolitischen Wissenschaft be­ stimmte die Struktur der Begriffs- und Systembildung. Die Haager Friedenskonfe­ renzen von 1899 und 1907 konnten zwar noch einige Regelungen aufstellen, ver­ mochten aber an der schnellen Weiterentwicklung zu dieser Grundstruktur hin nichts mehr zu ändern. [17] Sie haben insbesondere das für die Abgrenzung des Krieges von friedlichen Aktionen wichtige Problem der Kriegserklärung nicht ge­ löst. Die erste große Probe auf die ordnende Kraft der Haager Regeln fiel bereits in dem Weltkrieg 1914 bis 1918, also in eine Zeit, in der sich der Übergang zur Tota­ lität des Krieges und damit zu einer völlig neuen Epoche entschied. In der Nach­ kriegszeit von 1919 bis 1939 konnte der Schein einer Völkerrechtswissenschaft nur

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noch in dem Leerlauf eines „rein juristischen“ Normativismus gewahrt wer­ den. [18] Was es in Wahrheit mit der „Reinheit“ dieser Trennung des Politischen vom Juristischen auf sich hatte, läßt sich am besten an den hoffnungslosen Bemü­ hungen um eine Begiffsbestimmung der beiden Größen „politisch“ und „juri­ stisch“ erkennen. Sie müssen schließlich bei einem rein dezisionistischen Volunta­ rismus enden: Was „politisch“ ist und wo das Politische beginnt, das bestimmt nur der Wille jedes beteiligten Staates15. Die Parallele mit der entsprechenden Defini­ tion des Krieges ist so auffällig, daß an der Strukturbedingtheit solcher Definitio­ nen kein Zweifel mehr möglich ist: Wann eine bewaffnete militärische Aktion (Repressalie, friedliche Blockade usw.) aufhört, „friedlich“ zu sein, und wann der Krieg beginnt, das bestimmt nur der Wille, der animus belligerandi, jedes beteilig­ ten Staates. Aber auch, wer „Subjekt des Völkerrechts“ ist, bestimmt schließlich der „Wille“ des Völkerrechts16. Die Wahrheit, daß alles Recht in erster Linie konkrete Ordnung ist, während Normen und Regelungen ihren Sinn und ihre Logik nur im Rahmen einer konkre­ ten Ordnung erhalten, bewährt sich im Zusammenleben der Völker am stärksten und unmittelbarsten. Hier muß sich daher auch jede Verkennung und Mißachtung dieser Wahrheit unmittelbar rächen, vor allem auch an dem moralischen Ansehen und der praktischen auctoritas der Rechtswissenschaft und ihrer Repräsentanten. Im innerstaatlichen Recht eines modernen, gut funktionierenden Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizbetriebes hat der positivistische Gesetzesnormativismus ei­ nen praktischen Sinn und einen verhältnismäßig weiten Spielraum. Als man mit Hilfe des Stichwortes „pacta sunt servanda“ versuchte, die Voraussetzungen und Methoden des innerstaatlichen Gesetzesnormativismus zu einem positivistischen Vertragsnormativismus der Pariser Vorortdiktate auszudehnen, wurde der Betrug sofort handgreiflich. Der positivistische Gesetzesnormativismus des staatsbezoge­ nen Gesetzesdenkens ist aus der innerstaatlichen Entwicklung der führenden euro­ päischen kontinentalen Völker heraus entstanden und als eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts durchaus begreiflich. Auch die innerstaatliche, durch die gesetzgebe­ rische Regelung des staatlich-politischen Willens bewirkte Art von Entpolitisie­ rung des Rechts ist daher nicht sinnwidrig, wenn sie auch nicht absolut sein kann. Die konkrete Ordnung „Staat“ ist so stark und so straff durchorganisiert, daß sie auch die Trennung von „juristisch“ und „politisch“ zu tragen und ihren Zwecken dienstbar zu machen vermag. Die zwischen-staatliche Ordnung hat diesen Grad von Organisation selbst im längsten europäischen Frieden nicht erreicht, während das erdumfassende zwischen-staatliche Völkerrecht überhaupt niemals auch nur annähernd eine konkrete Ordnung gewesen ist. Das ist der tiefere Grund, aus dem sich der positivistische Normativismus des zwischen-staatlichen Vertragsdenkens, 15 Folgerichtig Onno Oncken, Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht. Ein Beitrag zu den Grenzen der Staatsgerichtsbarkeit, Berlin 1936. 16 Georg Kappus, Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung gegenüber den militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57; Knubben, Die Subjekte des Völkerrechts (Handbuch des Völkerrechts 1928), S. 495.

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unter Beifügung einiger verschwommener Allgemeinheiten und Generalisierun­ gen, immer schärfer als ein völlig „unpolitisches“ Völkerrecht aufspielen mußte. Nur dadurch konnte er zugleich seine bösartige und hinterlistige Art von status quo-Politik verbergen. Seine Blütezeit - 1919 bis 1939 - ist heute abgelaufen und derartig überholt, daß wir uns hier nicht mit seiner Widerlegung aufzuhalten brau­ chen17. Die praktische Nutzanwendung aber, die sich aus der luxurierenden Scheinblüte dieses Völkerrechtsbetriebes ergibt, besteht darin, daß wir unsere völ­ kerrechtswissenschaftliche Fragestellung nicht auf Gesetzes- oder Vertragsnormen, sondern von Anfang an auf konkrete Ordnungen richten. Normen und Normensy­ stematisierungen haben selbstverständlich überall und auch im Völkerrecht ihren Bereich. Aber der Grad ihrer praktischen und theoretischen Sinngemäßheit ist in den verschiedenen Ordnungen ganz verschieden und erreicht in spezifischer Weise nur in der konkreten Ordnung „Staat“, und dort wieder nur in der staatlichen Ju­ stiz, seinen höchsten Punkt. Das auf andere konkrete Ordnungen, z. B. Familie, Hausgenossenschaft, gewerblichen Betrieb, Armee usw. zu übertragen, hieße diese nur zerstören. So hat auch die bisherige Methode der völkerrechtlichen Lehrbü­ cher, auf Grund einiger, meistens angelsächsischer Präzedenzfälle Normen zu fin­ gieren, die dann für fünfzig ungleichartige, aber in gleicher Weise souveräne Ge­ bilde der ganzen Erde gelten sollen, den Rest von wirklicher europäischer Ord­ nung, der um 1890 noch vorhanden war, zerstört und dem Nihilismus des politi­ schen Machtbetriebes einige normativistische Feigenblätter geliefert. Wenn es einer Enthüllung der inneren Unwahrheit einer solchen Methode noch bedurfte, so wurde sie durch den Verlauf und die Ergebnisse des Haager Kodifikationsversu­ ches von 1930 erbracht. [19] Der einzige dankenswerte Erfolg dieser Kodifikations­ bemühungen sind die Massen wertvollen Materials, die jeden darüber belehren, daß hinter den angeblich „allgemein anerkannten“ und „kodifikationsreifen“ Nor­ men eine erstaunliche Fülle konkreter Ordnungen steht, die sich den universalisti­ schen Generalisierungen entziehen und z. B. dem allgemeinen universalen Satz von der Drei-Seemeilengrenze des Küstenmeeres durch zahlreiche verschiedene Sonderzonen und Raumausgrenzungen ein neues Gesicht geben. Es gehörte schon etwas dazu, angesichts des ebenso lehrreichen wie handgreiflichen Endes derarti­ ger Kodifikationsversuche am völkerrechtlichen Normativismus festzuhalten und keinerlei praktische Folgerungen für die Methode der Völkerrechtswissenschaft und ihren systematischen Aufbau daraus zu entnehmen. Heute treten die Merkmale der universalistisch-normativistischen Völkerrechts­ periode dieser fünf Jahrzehnte deutlich in unser Bewußtsein. In der Klarheit, mit der uns die innere Struktur und die Zeitgebundenheit ihrer Voraussetzungen heute erkennbar geworden sind, liegt ein weiterer Beweis dafür, daß dieser Abschnitt sein Ende erreicht und ein neues Stadium völkerrechtlicher Entwicklung begonnen hat.

17 Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Völkerrecht, Schriften der Hochschule für Poli­ tik, Heft 9, Berlin 1934, besonders S. 10 f.

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Anmerkungen des Herausgebers [1] Zur Leistung des Wiener Kongresses in diesem Sinne: J. v. Elbe, Die Wiederherstel­ lung der Gleichgewichtsordnung in Europa durch den Wiener Kongreß, ZaöRV, 1934, S. 226 260; Griewank, Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814/15, 2. Aufl. 1954; R. Rie, Der Wiener Kongreß und das Völkerrecht, 1957. S. a.: C. Chr. v. Pfuel, Wiener Kongreß - Versailler Vertrag. Ein Vergleich. Diss. Gött. 1934. [2] Seit 1822 siedelten freigelassene Sklaven aus den USA an der westafrikanischen Kü­ ste und setzten sich mit Gewalt gegen die „Afroliberianer“ durch und installierten sich als Herrenschicht. Die - schwarzen - Kolonisatoren proklamierten am 26. 7. 1847 die Republik Liberia, die 1848 / 49 von mehreren europ. Staaten, aber erst 1862 von den USA anerkannt wurde; vgl. Y. Gershoni, Black Colonialism, Boulder / Colorado 1985. [3] Vgl. vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, FN [55], S. 339 f. [4] Die „Association Internationale du Congo“ (= Internationale Kongo-Gesellschaft o. IKA) wurde 1880 von König Leopold II. von Belgien gegründet. Am 22. 4. 1884 wurde die IKA von den USA als befreundeter Staat anerkannt. Das Deutsche Reich folgte jedoch am 8. 11., also noch vorder am 15. 11. beginnenden Konferenz (vgl. Fleischmann, Völkerrechts­ quellen, 1905, S. 193); mit ausschlaggebend dafür war die Erklärung der IKA ggü. Bismarck, „in ihrem Gebiet die vollständige Zollfreiheit und das Meistbegünstigungsrecht für Deutsche zu gewähren“ (Wehler, Bismarck und der Inperialismus, 3. Aufl. 1972, S. 386). Der KongoStaat wurde nicht, wie Schmitt hier nahezulegen scheint, durch die am 26. 2. 1885 mit der Generalakte schließende Konferenz geschaffen, sondern durch Abmachungen zwischen der IKA und den einzelnen Teilnehmern : teils vor, teils während, teils nach der Konferenz. [5] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 270 - 274. [6] R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, I, 1855, S. 394. [7] Gemeint sind: Sir Tr. Twiss, The Law of Nations, considered as independent political communities, 2 Bde., 1861 /6 3 ; Sir R. Phillimore, Commentaries upon International Law, 4 Bde., 1854 / 61 ; ders., International Law, 3 Bde., 1864 / 73; Sir H. Sumner Maine, Internatio­ nal Law, 1888; W. E. Hall, A Treatise on International Law, 1880 (8. Aufl. 1924); J. Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, 2 Bde., 1883 / 84; I. K. Stephen, International Law and international relations, 1884. Zu dieser „Gruppe“ und zu der von Schmitt skizzierten Ent­ wicklung vgl.: A. Truyol y Serra, Die Entstehung der Weltstaaten-Gesellschaft unserer Zeit, 1963, S. 72 ff.; ders., La sociedad intemacional, Madrid 1981, bes. S. 71 - 80. - Benthams nachgelassene „Principles of International law“, 1786 / 89, wurden erstmals 1843 in den von J. Bowring hrsg. „Works“, Bd. II, publiziert; dt. Ausgabe, hrsg. von O. Kraus, Jeremy Be­ nthams Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden, übers, v. C. Klatscher, Halle 1915; Auszüge in: K. v. Raumer, Ewiger Friede, 1953, S. 379 - 417. Zu B’s utilitaristisch-pazifistischen Vorstellungen: E. Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, II, 1963, S. 20 ff., 153 ff., 162 f. [8] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 190, 204. [9] Der Chilene Alejandro Alvarez, von einer extrem harmonisierenden Deutung der Monroe-Doktrin ausgehend, ist wohl der bedeutendste Verfechter eines eigenständigen ame­ rikanischen Völkerrechts gewesen, vgl. von ihm: Le Droit international américain, Paris 1910; La codification du Droit international, scs tendances, ses bases, Paris 1912; The Mon-

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roe Doctrine. Its importance in the international life of the states in the New World, New York 1924. Ab 1915 lancierte A. Vorschläge zur Bildung einer europäischen und einer pan­ amerikanischen Union; beide unions politiques sollten Zusammenarbeiten und den Weltfrie­ den sicherstellen; vgl. Alvarez, Le Droit international de l’avenir, Washington 1915; ders., La réforme de pacte, Revue du Droit intern., 1937, S. 497 ff. Auf der 5. Panamerikanischen Konferenz 1923 in Santiago de Chile forderte A. die Kodifikation des amerik. Völkerrechts; seine Thesen wurden von ggü. den USA skeptischen bis feindlichen Lateinamerikanern abge­ lehnt. Vgl. zu den betr. Diskussionen: Schmitt, wie FN [8], S. 202 ff.; Codification of Ameri­ can International Law, Washington 1926, mit Beiträgen v. Ch. E. Hughes, J. Brown Scott, E. Root u. A. Sanchez de Bustamante y Sirvén; J. M. Yepes, La contribution de l’Amérique latine au développement du Droit international public et privé, RdC, 1930 / II, S. 697 - 799, hier S. 709 ff., 776 ff.; ders., Les problèmes fondamentaux du Droit des Gens en Amérique, ebd., 1934 / I, S. 1 - 143, bes. S. 115 - 137; A. Truyol y Serra, La sociedad intemacional, Madrid 1981, S. 52 ff. - Spez. zum Panamerikanismus: A. H. Fried, Pan-Amerika. Entwick­ lung, Umfang u. Bedeutung d. zwischenstaatl. Organisation i. Amerika (1810 - 1916), 2. ver­ mehrte Aufl., Zürich 1918 (pazifistisch); E. Gil, Evoluciôn del Panamericanismo, Buenos Aires 1933 (die wohl umfangreichste wie eindringlichste histor. Studie); J. M. Yepes, Le Pan­ américanisme au point de vue historique, juridique et politique, Paris 1936 (mit guter Biblio­ graphie); H. Berner, Die panamerikanischen Friedenssicherungsverträge, 1938; K. Weege, Panamerikanismus u. Monroedoktrin, Diss. Kiel 1939. C. Beals, Pan-America, New York 1940; L. Richarz-Simons, Die Entwicklung des Panamerikanismus i. d. Ära Roosevelt (bis zur Konferenz in Rio de Janeiro), Ibero-Amerik. Archiv, XVI, 1942, 16, S. 1 - 16; R. Piccinini, Evoluzione del Panamericanismo, La Comunità Intemazionale, 15/1960, S. 293 ff.; vgl. auch die Stichworte „Panamerikanische Konferenzen“, „Panamerikanische Union“ u. „Pan­ amerikanismus“ von Josef L. Kunz in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, II, 1961, S. 729 - 734. Von bes. Interesse für die von Schmitt aufgeworfenen Fragen u. a.: I Phayre, Can America last? A survey of the emigrant empire from the wilderness to worldpower together with its claim to „Sovereignty“, London 1933; d. Autor behandelt die faktische, nicht nur proklamatorische Ausweitung der Monroe-Doktrin auf den ges. Kontinent. - Der dem panamerikanischen Gedanken meist feindliche Ibero-Amerikanismus hat kaum eigene völkerrechtliche Vorstellungen entwickelt; R. F. Seijas, El Derecho intemacional hispanoamericano publico y privado, Caracas 1884 / 85, 6 Bde., bietet trotz des Titels nur eine Reihe juristischer Kommentare zu politischen Vorfällen der Neuen Welt, jedoch keine Theorie. [10] Zu den Unterscheidungen von zivilisierten, barbarischen u. wilden Völkern und den daraus begründeten Rechten auf Okkupation u. Kolonisation vgl. J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, bes. S. 290 ff., 304 ff., 328 ff., 360 ff. u. ö. [11] Vgl.: Mendelssohn-Bartholdy, Der Kriegsbegriff d. englischen Rechts, 1915; E. Wol­ gast, Völkerrecht, 1934, §§ 471 - 74 („Staat gg. Staat“ als kontinentale Auffassung des Krie­ ges, „Volk gegen Volk“ als angelsächsische); Glahn, Vom englischen Kriegsbegriff, Abhand­ lungen d. Deutschen Gesellschaft f. Wehrpolitik u. Wehrwissenschaften, Dez. 1939, 7. Folge, S. 39 -4 2 ; E. Menzel, Der „anglo-amerikanische“ und der kontinentale Kriegsbegriff, ZöR, 20 / 1940, S. 161 - 197; Schlechte, Unterschiede des Kriegsbegriffs zu Lande, zu Wasser und in der Luft, 1965, bes. S. 4 ff., 15 ff.; D. Steinicke, Wirtschaftskrieg und Seekrieg, 1970, passim; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 628 f. [12] Vgl. E. Zitelmann, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts, 1919; allgem.: G. A. Walz, Wesen d. Völkerrechts u. Kritik der Völkerrechtsleugner, 1930, S. 97 - 100. 23 Staat. (iroUraum, Nomos

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[13] H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 254; dazu auch G. A. Walz, Völ­ kerrecht und staatliches Recht, 1933, S. 14 f. [14] Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, 2. Aufl. 1978, S. 785 - 808; M. Stolleis, Geschichte d. öffentl. Rechts in Deutschland, II, 1980, S. 364 - 368. Grundsätze z. Unterschied v. Bundesstaat u. Staatenbund: Huber, a. a. Ο., I, 2. Aufl. 1975, S. 663 - 670. [15] Zum angeblichen Primat des Völkerrechts vgl. u. a.: Kunz, La primauté du Droit des gens, Revue de Droit international et de législation comparée, 1925, S. 556 - 98; ders., Zur Hypothese vom Primat d. Völkerrechts, Revue de Droit intern. (Genf), V / 1927, S. 1 - 15; Wengler, Studien z. Lehre v. Primat u. Völkerrechts, ZöR, 1936, S. 322 - 92; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat d. Völkerrechts in der neueren Literatur, Diss. Genf 1937, bes. S. 58 ff. (ü. Duguit); zur Übersicht: P. Guggenheim, Völkerrecht und Landesrecht, Wörterbuch d. Völker­ rechts, hrsg. v. Strupp / Schlochauer, 1960, Bd. Ill, S. 251 ff., vgl. auch vorl. Bd., Raum und Großraum im Völkerrecht, FN [7], S. 264. Vgl. a. Schmitt (anon.), Völkerrecht (Repetitori­ um), 1948/50, S. 7 - 11. [16] Der Art. 16 d. Völkerbundsatzung behandelte die Erzwingbarkeit des VB-Rechtes u. konstatierte, daß eine nach der VB-Satzung unerlaubte Kriegshandlung als „gegen alle ande­ ren Bundesmitglieder“ gerichtet betrachtet werden müsse. Der Art. bezog sich auf die ent­ sprechenden wirtschaftl., finanz. und militärischen Sanktionen; zu letzteren vgl. M. Röttger, Die Voraussetzungen für die Anwendung von Völkerbundzwangsmaßnahmen, insbesondere solcher militärischer Natur, 1931. Vgl.: v. Freytagh-Loringhoven, Die Satzung d. Völker­ bunds, 1926, S. 183 ff. (Text u. Kommentar); v. Bardeleben, Die zwangsweise Durchsetzung im Völkerrecht, 1930, S. 40 ff.; O. Göppert, Der Völkerbund, 1938, S. 487 - 547; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 257, 692, 700. [17] Vgl. Ph. Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 u. 1907, 1915; H. Wehberg, Les Contributions des Conférences de la Paix de La Haye au progrès du Droit in­ ternational, Recueil des Cours, 1931 / III, S. 533 ff. [18] Diese Entwicklung in ungewöhnlich klarer Form zusammenfassend und charakteri­ sierend: G. A. Walz, Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, 1939 (Beiheft z. Bd. XXIII d. Zeitschrift f. Völkerrecht). [19] Die Haager Kodifikationskonferenz (13. 3. - 13. 4. 1930) erreichte nur einige wenig bedeutende Abkommen zu Fragen der Doppelbürgerschaft u. d. Staatenlosigkeit. Vgl.: M. O. Hudson, The first conference for the codification of International Law, AJIL, 1930, S. 447 466; H Wehberg, Der augenblickliche Stand d. Kodifikation d. Völkerrechts i. Europa u. Amerika, ZVR, 1930, S. 1 - 19; H. Rauchberg, Die erste Konferenz zur Kodifikation des Völkerrechts, ZöR, 4 /1931, S. 481 - 526; O. Göppert, wie FN [16], S. 372 - 380.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Deutsche Rechtswissenschaft, 5. Bd., 4 / 1940, S. 267 - 278; Teile daraus wurden übernommen in: Der Nomos der Erde, 1950, S. 202 - 212. Schmitts Thesen wurden u. a. erörtert von Julius Evola, Per un vero diritto „europeo“, Lo Stato, Gennaio 1941, S. 21 - 29, der die „idea della diversité, della relativa indipendenza, della graduali­ té e della gerarchizzazione“ (S. 29) dem Recht des europäischen Raumes zugrundegelegt

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sehen wollte. Hans Wehberg, Universales oder Europäisches Völkerrecht? Eine Auseinander­ setzung mit Professor Carl Schmitt, Die Friedens-Warte, 4 / 1941, S. 157 - 166, betonte, daß die Erweiterung des Völkerrechts über den europäischen Rahmen hinaus „nicht erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts“ begonnen hätte u. Schmitt den anarchischen Charakter der alten Ordnung verkennen würde; das Haager Werk 1899 / 1907 sei als Versuch einer „konkreten Ordnung“ anzusehen und das Völkerrecht von 1890 - 1939 nicht schlechter als das vorherge­ hende; im übrigen handele es sich, schon aufgrund der Einladung Bismarcks an die USA (die freilich zum Schluß die Kongoakte nicht ratifizierten), um einen internationalen Kolonialkon­ greß, nicht um einen europäischen. Grewe, Vom europ. z. universellen Völkerrecht, ZaöRV, 1982, S. 449 ff., Nachdruck in ders., Machtprojektionen und Rechtsschranken, 1991, S. 169 195, datiert den Beginn der Umwandlung des Völkerrechtes an den Beginn des 19. Jahrhun­ derts, nicht wie Schmitt an dessen Ende (S. 180 f.); A. Truyol y Serra, Die Entstehung der Weltstaaten-Gesellschaft unserer Zeit, 1963, S. 64 f., behauptet einen „Dualismus eines christlich-abendländischen Völkerrechts einerseits und eines implizite auf dem von allen an­ erkannten Naturrecht begründeten, partikulären Völkerrechts im Umgang mit außerchristli­ chen Mächten andererseits“; usw. Das Problem d. Ausweitung d. Völkerrechts (von europäisch/christlich auf mundial/zivilisiert) erörtert auf interessante Weise: Reibstein, AVR, 4 / 1960, S. 385 ff.; Carrilo Salcedo, REDI, 1 /1964, S. 3 ff. u. Bülck, FS Laun, 1972, S. 29 ff. Zum Triepelschen „Dualismus“ von Volker- und Landesrecht vgl. auch von Schmitt: Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems (1939), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 261 - 271.

Die Raumrevolution Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden Es sind im Lauf der Geschichte viele Arten von Kriegen unterschieden worden, um Sinn und Ziel des bewaffneten Ringens zu kennzeichnen: Einigungs- und Se­ zessionskriege, Erbfolge-, Verfassungs-, Kabinetts- und zahlreiche andere Kriege. Der gegenwärtige Krieg läßt sich in keine solche herkömmliche Einteilung einfügen, mögen auch selbstverständlich in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten und Pa­ rallelen mit früheren Kämpfen aufweisbar sein. Das spezifisch Neue, das unver­ gleichbar Aktuelle des heutigen Kriegs liegt darin, daß für und gegen eine neue Raumordnung gekämpft wird. Der Wandel der Raumvorstellungen, der heute auf der ganzen Erde und bei allen Völkern vor sich geht, ist tief und in seinen Wirkungen unabsehbar. Jeder weiß, daß infolge der neuen technischen Verkehrs- und Kommunikationsmittel unsere räumlichen Maße und Maßstäbe sich schnell verändert haben, daß „die Erde klei­ ner“ geworden ist. Doch bleiben die Folgerungen aus solchen Einsichten meistens leider auf dem Niveau der Eindrücke von Expreßzugreisenden, Flugzeugpassagie­ ren und Kraftwagenfahrem, denen zum Bewußtsein kommt, daß man heuzutage schneller von einem Ort zum anderen kommt als etwa zur Zeit Karls des Großen. Auf dem gleichen Niveau bewegten sich diese Theorien und Programme von der Art „Paneuropas“ des Grafen Coudenhove und der Genfer Völkerbundspazifisten, denen die Erde schon fast als ein einziges kosmopolitisches Hotel erschient 1] Diese Schlaf- und Speisewagenphilosophie meine ich hier nicht. Der gegenwärtige Wandel unserer erdräumlichen Vorstellungen geht unendlich tiefer. Er läßt sich in seiner umwälzenden und umordnenden Wirkung höchstens mit einem einzigen Vorgang der uns bekannten Geschichte vergleichen, nämlich mit der Änderung des Weltbilds, die vor vier Jahrhunderten eintrat, als nach der Entdeckung Amerikas und anderen Entdeckungen und Erfindungen das mittelalterliche Weltbild versank und das europäische Staatensystem der Zeit von 1648 - 1914 sich bildete. Ja, die raumrevolutionäre Kraft der neuen technischen Entwicklung wird unser bisheriges erdräumliches Bild noch mehr als damals verändern. Es ist eine echte Raumrevolu­ tion im Gange.[2] Sie wirkt sich sowohl in den Ausmaßen des heutigen weltpoliti­ schen Geschehens wie in der Totalität des modernen Krieges aus. Als ihre unver­ meidliche Folgerung ist heute bereits der kontinentale Großraum in seinen Umris­ sen erkennbar.

Die Raumrevolution

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I. Der Sinn des Krieges: Friede Der Sinn jedes nicht sinnlosen Krieges liegt in dem Frieden, der den Krieg been­ det^ Das Wesen des Friedens besteht aber nicht nur dann, daß nun die Kanonen aufhören zu schießen, die Rieger keine Bomben mehr werfen und die Diplomaten auf Friedensbanketten die Art von Reden halten, die wir von Genf her kennen. Dann wäre der Frieden ein bloßer Nicht-Krieg, und was es damit auf sich hat, wis­ sen wir aus der Erfahrung, die wir mit dem Instrument von Versailles und dem dar­ aufhin eintretenden zwanzigjährigen Zwischenzustand zwischen Krieg und Frie­ den gemacht haben. Nicht auf irgendeinen beliebigen Friedensschluß kommt es an, sondern auf die Begründung einer neuen Ordnung, die in der gegenwärtigen ge­ schichtlichen Entwicklung an der Zeit ist. Es dient der Sache des Friedens in kei­ ner Weise, wenn ein liberaler Autor wie Guglielmo Ferrero in einem kürzlich er­ schienenen Buch mit dem Titel „Reconstruction“ plötzlich den vorbildlichen Wert des Wiener Kongresses entdeckt und den Vorschlag macht, das Friedenswerk von 1814/15 heute zu wiederholen.[3] Der gegenwärtige Krieg ist in allem, in seinem Raum- und seinem Zeitmaß, in seiner Totalität und seinen plötzlichen Wendungen, neu und unvergleichbar. Er läßt sich nicht als eine Wiederholung früherer bewaff­ neter Aktionen verstehen. Ebensowenig kann der Friede, der ihn beendet, das Nachbild eines früheren Friedens sein. In der großen Geschichte der Menschheit ist jeder wahre Friede nur einmal wahr. Der Friede, der einen Raumordnungskrieg wirklich beendet, kann nur ein Raumordnungsfrieden sein.

II. Was „total“ bedeutet Die Völker der Erde haben inzwischen erfahren, daß das Wort von der Totalität des Krieges keine leere Redensart war. [4] Ein Krieg zwischen Ipchindustrialisierten modernen Völkern, der zum Existenzkampf wird - andere Kriege sind k^ echten Kriege mehr - ist im furchtbarsten SinjQ£„xi£§^o^ gleichgültig, ob er vo'n Änfang~an iûïâLgeïuHh wircl^oder..s i r h ^ L dem Wege gegenseitiger Aktio­ nen allmählich in die Totalität hineinsteigert. Was man jrp ejjiropäi sçhgJl Volkerrecht von 1648 - 1914 unter Frieden und Völkeirecht^Yerstaad, rechnete zwar auch mit dem Krieg, aber nicht mit dem totalen Krieg des hochindustriellen Zeitalters. Der frühere Krieg konatç, gelegentlich sehr blutig sein, aber er war als ein grund­ sätzlich partieller ufld. dosierter.Krieg kein Existe^^ und Tod, und nicht nur ein bloßer Kom&attaatenk^ auch ein Krieg, dessen Besiegter im Funktionieren des europäischen Gleichgewichts einen sehr wirksamen Schutz fandTßas zweimal - 1814 /_.15 ^μηn^7\\v[\knt-prhnn als AnÆallci des Antichrist- Land und Meer, 1942, S. 11 f.; Ex captivitate salus, 1950, S. 31 ; Der Nomos der Erde, 1950, S. 28 36 („Das christliche Reich als Aufhalter (Kat-echon)“); Drei Stufen historischer Sinngebung,

Beschleuniger wider Willen

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Universitas. H. 8. 1950_g_gg9 / 30; j a Unidad del Mnndn Madrid JffiL * Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 385, 428 f.; Politische Theologie II, 1970, S. 61 f. (FN 8); ebd., S. 81 (Differenz zu Peterson); Glossarium, 199.1, S. 63, 807 1Î37 T ^ ^ 2 5 ^ ^ 5 K E in tragungen aus d. Jahren 1947 / 49). - Nachdruck auf die Bedeutung des kat-echon als der ,,jgeislî^Xrî)^rücïïe vom eschatologischen Christentum zur weltgeschichtlichen Existenz des fränkisch-deutschen Reiches“ legte Schmitt in s. Kommentar (als Koreferent) zur Habilitati­ on V. Reinhard Hohns Schüler Roger Diener, Das Reich im Weltanschauungskampf, Teildruck in: Reich-Volksordnung-Lebensraum, VI / 1943, S. 216 - 352; dazu: Chr. Tilitzki, Carl ScHmitT- Staatsrechtslehrer in Berlin, Siebte Etappe, Bonn, Okt. 1991, S. 77 ff. - Schmitts Freund Alvaro d’Ors kritisierte das Konzept in: De la guerra y de la paz, Madrid 1954, S. 181 - 204, „Carl Schmitt en Compostela“. Danach kann es kein Interesse des Christen geben, das Ende der Welt aufzuhalten : „aquel Fin, no solo no debe ser repugnado, sino que debe ser deseädo“ (S. 194); vgl. auch d’Ors’ Kritik an Schmitts theologischen Voraussetzun­ gen: Teologia politica, una revision del problema, Revista de Estudios Politicos, 205 / 1976, S. 41 - 79. Zum kat-echon bei Schmitt: A. Caturelli, Despotismo universal e katéchon paulino en Donoso Cortés, Sapientia (Argentinien), 13 / 1958, S. 36 - 42, 110 - 127; E. Castrucci, Naphta, o un Katechon per l’Europa (zuerst 1981), in: ders., La forma e la decisione. Studi critici, Mailand 1985, S. 91 - 102; H. Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“, 1988, ö.; G. Maschke, La rappresentazione cattolica, Der Staat, 4 /1989, S. 557 575; M. Nicoletti, Trascendenza e potere. La teologia politica di Carl Schmitt, Brescia 1990, S. 487 - 494; F. Balke, Be schleu nigei^A uft^erjJip^^ ders. u.a. (Hrsg.), Zeit des Ereignisses - Ende der Geschichte? 1992. S. 209 - 32: M. Cacciari, Commento teologico-politico a 2 Tessalonicesi 2, in: Multiformità ed unità della politica, FS Miglio, Mailand 1992, S. 103 - 23; Th. W. A. de Wit, De onontkoombaarheid van de politiek. De soevereine vijand in de politieke filosofie van Carl Schmitt, Ubbergen / Niederlande 1992, S. 202, 219, 249, 258, 336 - 39 u. ö.; F. Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom ,Katechon4, unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 1992; L. Berthold, Wer hält zur Zeit den Satan auf?, Levia­ than, 2 / 1993, S. 285 - 99. - Zur theologischen Deutung, H ie ~ ^ vgl. (neben d. umfängreichenTiteratur zum 2. Thessalonicher-Brief, zur mittelalterlichen Reichs­ theologie u. zur Apokalypse), u. a. etwa: D. Buzy, L’adversaire et l’obstacle, Recherches de Science religieuse, 1934, S. 402 - 431; J.Jkhmid, Der Antichrist und die hemmende Macht, Theologische Quartalschrift, 1949, S. 323 - 343; W. Stählin, Die Gestalt des Antichrist und das Katechon, Festgabe J. Lortz, II, 1957, S. 1 - 12 (mit deutlichen Bezugnahmen auf Schmitt, ohne ihn zu nennen); A. Strobel, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, 1961, bes. S. 98 - 116, 135 ff., 147 ff.; J. Emst, Die eschatologischen Gegen­ spieler in den Schäften des Neuen Testaments, 1967, bes. S. 48 ff.; H. D! Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter, 1973, S. 55 - 71; die von Schmitt wiederaufgenommene^staatstheologische“ Deutung d. kat-echon als „Reich“, zurückgehend auOJippolyt, In Dan., IV, 21, 3; Tertullian, Apologeticum, 32, 1; Lactanz, D iv.in sU jj^ JL Jj^ ^ 5, 26, u. im Mittelalter bei Otto v. Freising uf a. fortgeführt, ist theologisch stark umstritten, vgl. schon die Zweifei b. Augustinus, de civ. Dei, XX, 19. Mit bes. Nachdruck hat O. Cullmann die „staatstheologische44Deutung zurückgewiesen, vgl. ders., Der eschatologische Charakter des Missionsauftrags u. des apostolischen Selbstbewußtseins bei Paulus (1936), in: ders., Vorträ­ ge und Aufsätze 1925 - 1962, 1966, S. 305 - 336; ders., Christus und die Zeit, zuerst 1946, 3. Aufl. 1962, S. 146 ff. Danach ist b. Paulus die Heidenmission d. kat-echon, Zu weiteren möglichen Deutungen vgl. auch J. Emst, op. cit., S. 48 - 57. - Bei Schmitts Freund E. Peter­ son halten die Juden durch ihren Unglauben die Wiederkunft Christi auf, vgl. ders., Die Kir-

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

che, 1928/29, nach: Theolog. Traktate, 1951, S. 413; Petersons Haltung ggü. dem kat-echon ist negativ; ähnlich wie bei A. d’Ors (s. o.). [13] Das „American Century“ wurde „proklamiert“ von dem Zeitungsverleger Henry Lu­ ce in dem von ihm hrsg. Sammelband „The American Century“, New York 1941. Luce bil­ ligte darin dem Britischen Reich nur noch die Rolle eines Juniorpartners zu. Zu Luce vgl.: G. Wirsing, Der maßlose Kontinent. Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft, Jena 1942, S. 330 ff.; H. J. Laski, The American Democracy, New York 1948, S. 659 - 664. Mit dem Rüstungsprogramm zur Schaffung einer „Two Ocean Navy“ und der Panamerikanischen Konferenz in Lima, Dezember 1938, wären für die USA die Grundlagen der anglo-amerikanischen Gesamthänderschaft hinfällig geworden - so Grewe, Sinnwandel der amerikanischen Neutralitätspolitik, Monatshefte f. Ausw. Politik, Jan. 1939, S. 29 - 33.

Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien am 19. 4. 1942 in „Das Reich“, Sp. 1 - 5; ein Nachdruck in d. Zeit­ schrift „Tumult - Zeitschrift für Verkehrswissenschaft“, H. 7 / 1983, „Der Planet“, S. 9 - 14, mit einer Nachbemerkung v. Kai Wagner; vgl. dazu die späte, scharf polemische Stellung­ nahme V. D. Krochmalnik, „Tumult“ und Carl Schmitts Großraumordnung, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 10. 1. 1986. - K. Saucke, Präsident Roosevelts Funktion, Zeit­ schrift f. Geopolitik, 10 / 1952, S. 644, weist auf Schmitts Aufsatz in Zusammenhang mit einem Artikel v. A. Seidel, Der Kalte Krieg ist nicht der Friede, ebd., 8 / 1952, S. 449 - 52, hin. - Eine italienische Fassung, „La lotta per i grandi spazi e Γillusione americana“, er­ schien in der Zeitschrift „Lo Stato“, 1942, S. 173 - 180; Ndr. in: Schmitt, Scritti politicoguiridici (1933 - 1942) - Antologia da „Lo Stato“ a cura di Alessandro Campi, Perugia 1983, S. 115 - 123, sowie in: Schmitt, L’unità del mondo e altri saggi, Rom 1994, S. 261 - 69; eine französische Version, „Accélérateurs involontaires ou: La problématique de l’hémispère occi­ dental“, in: Schmitt, Du Politique. „Légalité et Légitimité“ et autres essais, éd. A. de Benoist, Puiseaux 1990, S. 169 - 175. - Schmitts Kritik an Roosevelt deckt sich z. T. mit der AntiRoosevelt-Propaganda des III. Reiches, der ein analytischer Wert nicht abzusprechen ist, vgl. etwa: W. A. Lohe, Roosevelt-Amerika, 1939; Silvanus, Präsident Roosevelt und der Krieg, Monatshefte f. Ausw. Politik, 4 / 1941, S. 263 - 277; G. Jentsch, Triebkräfte u. Grundlagen der Roosevelt’schen Außenpolitik 1941, Jb. für Ausw. Politik 1942, S. 47 - 74; H. H. Dieckhoff, Zur Vorgeschichte des Roosevelt-Krieges, 1943. Über diese Literatur informiert - frei­ lich ganz im Banne der re-education verharrend -: H. Frisch, Das deutsche Rooseveltbild (1933 - 1941), Diss. FU Berlin 1967. Roosevelts Hinarbeiten auf den großen Krieg mit Japan und Deutschland, den Deutschland unbedingt vermeiden wollte, Japan nicht vermeiden konnte, wird belegt von D. Bavendamm, Roosevelts Weg zum Krieg, 1983; ders., Roosevelts Krieg 1937 - 45 und das Rätsel von Pearl Harbor, 1993; D. Kunert, Ein Weltkrieg wird pro­ grammiert. Hitler, Roosevelt, Stalin: Die Vorgeschichte des 2. Weltkriegs nach Primärquel­ len, 1984. Die „Klassiker“ der „revisionistischen“ US-Kritik an R.: Ch. Beard, President Roosevelt and the Coming of War, 1941, New Haven 1948; F. R. Sanborn, Design for War A Study of secret Power Politics, 1937 - 1941, New York 1951 ; Ch. C. Tansill, Back Door to War: The Roosevelt Foreign Policy 1933 - 1941, Chicago 1952; eine Bilanz, die auch detail­ liert die Hexenjagd auf die „Revisionisten“ darstellt, bietet Harry Eimer Barnes in den von ihm edierten Sammelband „Perpetua! War for perpetual Peace - A critical Examination of the Foreign Policy of Franklin Delano Roosevelt and its aftermath“, Caldwell / Id. 1953, Ndr. New York 1969. - Vgl. a.: Archiv-Kommission des Ausw. Amtes (Hrsg.), Roosevelts Weg in den Krieg, Dok., 1943. - Vgl. a. vorl. Bd., S. 511.

Die letzte globale Linie Kaum waren die ersten geographischen Karten und Globen hergestellt und däm­ merten die ersten Vorstellungen von der wirklichen Gestalt der Erde als eines „Globusses“, so wurden auch gleich globale Linien gezogen, um diese Erde einzu­ teilen oder zu verteilen. Am Anfang steht die berühmte Linie, die der Papst Ale­ xander VI. am 4. Mai 1493, wenige Monate nach der Entdeckung Amerikas, vom Nordpol zum Südpol durch den Atlantischen Ozean gezogen hat, und nach der die neuen Länder und Ozeane zwischen Portugal und Spanien geteilt wurden. Dieser ersten globalen Linie folgen in Verträgen zwischen den Entdeckerländem Portugal und Spanien zahlreiche weitere für beide Hälften der Erde. Sie stellen einen beson­ deren Typus dar, den man am besten mit dem spanischen Namen „Raya“ bezeich­ net. Ihr Wesen besteht darin, daß sie eine Verteilungslinie zwischen Land und See nehmenden Mächten darstellt.[l] Ganz anderer Art ist der im 16. und 17. Jahrhundert häufige Typus einer globa­ len Linie, der mit den sogenannten Freundschaftslinien, den „amity lines“ er­ scheint. Sie sind keine Verteilungslinien, sondern grenzen eine Zone rücksichtslo­ sen Kampfes aus. Solche Linien waren z. B. der Äquator oder der Wendekreis des Krebses im Süden, oder ein Meridian, der über die Azoren ging, im Westen. „Jen­ seits der Linie“ hörte alles überkommene oder vereinbarte europäische Recht auf und begann das rücksichtslose „Recht des Stärkeren“. Das ist das berüchtigte „be­ yond the line“ der englischen Piraten und KorsarenTder Flibustiers und Bucca­ neers des 17. Jahrhunderts. Diese Linie ist ihrem Wesen nach eine KampflinieJZ] Ein dritter, wiederum anders gearteter Typus einer globalen Linie ist die ameri­ kanische Linie der westlichen Hemisphäre. Sie erscheint in aller Form, mit geogra­ phischer Bestimmtheit in der Botschaft des Präsidenten Monroe vom 2. Dezem­ ber 1823.[3] Hier wird das Wort „Hemisphäre“ bereits bewußt und mit spezifischer Bedeutung gebraucht und nennt ihren eigenen Raum sowohl „Amerika“ - oder „diesen Kontinent“ - wie auch „diese Hemisphäre“ (this hemisphere). Absichtlich oderjLinabsichtljichXäUljler,^ JmJ^usam daß das politische System dçr..westlichen Hemisphäre als ein Regime der Freiheit dem anders gearteten^politischea System der damaligen absoTuten Monarçhien Europas entgegengestellt wird. Monroedoktrin und westliche Hemisphäre gehören seitdem zusammen und grenzen einen über das eigentliche Staatsgebiet hinausgehenden Raum_für ..spezielle Interessen*Axler Vereinigten Staatftn ah [4] In zahlreichen Er­ klärungen der Regierung der Vereinigten Staaten wurde das Wort verwendet, und zu Beginn des neuen Weltkonflikts 1939 schien es geradezu die Parole der Politik der Vereinigten Staaten zu werden. Die geographische Abgrenzung, der Inhalt und das Schicksal dieser Linie verdienen daher heute besonderes Interesse.

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Was den geographischen Bereich der „Westlichen Hemisphäre“ betrifft, so hat vor kurzem ein Geograph des State Department der Vereinigten Staaten, S. W. Boggs, eine genaue Abgrenzung der westlichen Hemisphäre im Zusammen­ hang mit der Abgrenzung der Monroedoktrin vorgenommen. [5] Er geht davon aus, daß man unter der westlichen Hemisphäre im allgemeinen die von Christoph Co­ lumbus entdeckte „Neue Welt“ versteht, daß aber im übrigen die geographischen oder historischen Begriffe „Westen“ und „Osten“ weder durch die Natur noch durch gemeinsame Abmachungen bestimmt sind. Die Kartenzeichner haben sich daran gewöhnt, eine Linie durch den Atlantischen Ozean zu ziehen, die auf dem 20. Längengrad westlich des Null-Meridians von Greenwich verläuft. Danach wür­ den die Azoren und Cap Verde-Inseln in die westliche Hemisphäre gehören, was allerdings, wie auch Boggs zugibt, ihrer geschichtlichen Zuordnung zur alten Welt widerspricht. Grönland dagegen rechnet er fast ganz zur westlichen Hemisphäre, obwohl es doch nicht durch Christoph Columbus entdeckt worden ist. Über die arktischen und antarktischen Regionen des Nord- und Südpols spricht er nicht. Auf der pazifischen Seite der Erdkugel will er nicht einfach den dem 20. Grad entspre­ chenden 160. Längengrad zur Grenzlinie machen, sondern die sogenannte interna­ tionale Datumsgrenze, d. h. den 180. Längengrad, wobei er allerdings einige Aus­ buchtungen im Norden und Süden vornimmt. Die westlichen Inseln Alaskas zieht er noch ganz zum Westen, auch Neuseeland kommt in die westliche, Australien dagegen in die andere Hemisphäre. Daß die ungeheuren Rächen des Pazifischen Ozeans wenigstens, wie er sagt, „provisorisch“ ebenfalls in die westliche Hemi­ sphäre fallen, hält er damals (vor dem Ausbruch des Krieges mit Japan) nicht für eine praktische Schwierigkeit, sondern für etwas, worüber sich höchstens die Kar­ tenverfertiger aufregen könnten. Der amerikanische Völkerrechtsjurist P. S. Jessup hat seinem Bericht über die Denkschrift Boggs’ bereits im Jahre 1940 hinzugefügt: „Die Dimensionen ändern sich heute schnell, und dem Interesse, das wir 1860 an Cuba hatten, entspricht heute unser Interesse an Hawaii ; vielleicht wird das Argu­ ment der Selbstverteidigung dazu führen, daß die Vereinigten Staaten eines Tages am Yangtse, an der Wolga und am Kongo Krieg führen müssen.“[6] Es mußte auffallen, daß wichtige amerikanische Erklärungen, die nicht von Wa­ shington ausgingen, insbesondere die gemeinsamen Beschlüsse der amerikani­ schen Außenminister von Panama (Oktober 1939),[7] den Ausdruck „westliche Hemisphäre“ nicht gebrauchten, sondern einfach von „Amerika“, vom „amerika­ nischen Kontinent“ (in der Einzahl) oder von „Gebieten, die geographisch zu Ame­ rika gehören“, sprachen. Hinter diesen Verschiedenheiten des Sprachgebrauchs ste­ hen Verschiedenheiten tieferer Art. Hier wird bereits der Mißbrauch sichtbar, der den Panamerikanismus zu einem Instrument der Politik der Vereinigten Staaten ge­ macht hat. Allerdings hat noch in diesen Tagen der Präsident von Brasilien in einer Erklärung vom 4. Mai 1943 mit Bezug auf die französische Insel Martinique auf deren Zugehörigkeit zur westlichen Hemisphäre hingewiesen.[8] Für die Raumfragen des heutigen Völkerrechts hat die eben genannte „Erklärung von Panama“ vom 3. Oktober 1939 noch eine besondere Bedeutung, auf die hier

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kurz eingegangen werden muß. Innerhalb der durch diese Erklärung bestimmten „Sicherheitszone“ zum Schutz der Neutralität amerikanischer Staaten sollten die Kriegsführenden keine feindlichen Akte vornehmen. Die Linie der neutralen Si­ cherheitszone sollte sich zu beiden Seiten der amerikanischen Küsten bis auf 300 Seemeilen in den Atlantischen und in den Pazifischen Ozean hinein erstrecken. An der brasilianischen Küste erreichte sie den 24. Längengrad westlich von Green­ wich, näherte sich also dem 20. Längengrad, der üblicherweise die kartographi­ sche Trennungslinie von Westen und Osten darstellt. Diese so unbegrenzte „ame­ rikanische Sicherheitszone“ vom Oktober 1939 ist heute praktisch schon deshalb überholt, weil die in ihr vorausgesetzte Neutralität der amerikanischen Staaten ent­ fallen ist. Sie bleibt aber von außerordentlicher grundsätzlicher Bedeutung. Erstens hält sie zum Unterschied von der inzwischen völlig grenzen- und uferlos geworde­ nen Politik der Vereinigten Staaten, an dem Begriff „Amerika“ und der darin lie­ genden Beschränkung fest. Außerdem hat sie eine große, man darf sagen, aufse­ henerregende Auswirkung, weil sie die Maße und Maßstäbe der überlieferten Drei­ meilenzone und die überkommene Dimension der Küstengewässer in der großzü­ gigsten Weise ad absurdum führt. Und schließlich unterwirft sie auch den freien Ozean dem Großraumgedanken, indem sie eine neue Art von Raumausgrenzungen aus der Meeresfreiheit einführt. Das wurde von der deutschen Völkerrechtswissen­ schaft gleich bemerkt und hervorgehoben. [9] Es ist aber auch amerikanischen Völkerrechtslehrem aufgefallen, daß der „Zwei-Sphären-Aspekt der Monroedoktrin“ (two-spheres-aspect of the Monroe-Doctrine) durch die Panama-Erklärung vom Oktober 1939 eine wichtige Änderung erfahren hat. Früher dachte man, wenn man von der Monroedoktrin sprach, im allgemeinen nur an das feste Land der westli­ chen Hemisphäre und setzte für den Ozean die Freiheit der Meere im Sinne des 19. Jahrhunderts voraus. Jetzt werden die Grenzen Amerikas auch ins freie Meer hinein erstreckt. Dieser letzte Punkt ist ganz besonders wichtig. Wie stets in der Weltgeschichte, hat auch hier der Übergang vom Land zum Meer unabsehbare Folgen und Auswir­ kungen. Solange man bei dem Wort „westliche Hemisphäre“ nur an einen konti­ nentalen Landraum dachte, war damit eine nicht nur mathematisch-geographische Abgrenzung verbunden, sondern auch eine konkrete geographisch-physikalische und geschichtliche Gestalt gegeben. Die nunmehr eintretende Erweiterung und Verlagerung auf das Meer macht den Begriff der westlichen Hemisphäre noch mehr abstrakt im Sinne eines leeren, überwiegend mathematisch-geographisch be­ stimmten Raumes. In der Weite und Ebenheit des Meeres tritt, wie insbesondere Friedrich Ratzel sagt, „der Raum an sich reiner hervor“.[10] In kriegswissenschaft­ lichen und strategischen Erörterungen findet sich sogar gelegentlich die zugespitz­ te Formulierung eines französischen Autors, daß das Meer eine glatte Ebene ohne Hindernisse ist, auf der sich die Strategie in Geometrie auflöst.[l 1] Ihrem Inhalt nach ist die globale Linie der westlichen Hemisphäre weder eine Vcrteilungslinie, wie die spanisch- portugiesische „Raya“, noch eine offene Kampllinie, wie die englische „amity-linc“, sondern - wenigstens nach ihrem ur-

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

sprünglichen Sinne - eine Linie der Selbstisolierung. Die Neue Welt maßt sich den Anspruch_an, das ,wahre und echte.Europa, zujseia. pnd setzt sich gegen das alte Europa ab. Zwei oft zitierte Äußerungen Jeffersons aus den Jahren 1812 und 1820 fennzeichnen diese Haltung am besten, weil in beiden der Haß gegen England und die Verachtung des alten Europa deutlich zutage tritt. „Das Schicksal Englands“, sagt Jefferson Anfang des Jahres 1812, „ist nahezu entschieden, und die gegenwär­ tige Form seines Daseins neigt ihrem Untergange zu. Wenn unsere Stärke uns er­ laubt, unserer Hemisphäre das Gesetz aufzuerlegen, so sollte es darin bestehen, daß der Meridian, der mitten durch den Atlantischen Ozean läuft, die Demarkati­ onslinie zwischen Krieg und Frieden bildet, diesseits derer keine Feindseligkeiten begangen werden und der Löwe und das Lamm in Frieden nebeneinander ruhen sollen.“[12] Deutlich klingt hier noch etwas von dem Kampfcharakter einer „Freundschaftslinie“ nach; nur ist Amerika nicht mehr, wie im 16. und 17. Jahrhundert, der Schauplatz rücksichtsloser Kämpfe, sondern umgekehrt ein Bereich des Friedens und die ganze übrige Welt ein Schauplatz des Krieges, aber nur der Kriege der anderen, an denen sich Amerika grundsätzlich nicht beteiligt. Im Jahre 1820 sagt Jefferson: „Der Tag ist nicht fern, an dem wir in aller Form einen Meridian der Teilung durch den Ozean verlangen, der die beiden Hemisphä­ re trennt, diesseits von dem kein europäischer Schuß jemals gehört werden soll, ebensowenig wie ein amerikanischer Schuß auf der anderen Seite.“ Immer wird, wie auch in der Monroebotschaft selbst, der Ausdruck „westliche Hemisphäre“ in der Weise gebraucht, daß die Vereinigten Staaten sich mit allem identifizieren, was moralisch, kulturell oder politisch zur Substanz dieser Hemisphäre gehört. Oft sind diese Äußerungen der Selbstisolierung so stark, daß die Linie der westlichen He­ misphäre geradezu als eine Quarantänelinie erscheint, als eine Art Pestkordon, durch den sich eine gesunde neue Welt vor dem Leichengift eines vergangenen alten Kontinents zu schützen sucht. Es kommt heute nicht mehr darauf an, was an solchen Äußerungen „moralischer Überlegenheit Amerikas über Europa“ früher einmal berechtigt gewesen ist. Zwei­ fellos hatte die neue Welt gegenüber dem alten, in Reaktion und innere Problema­ tik verfallenen Europa große moralische, kulturelle und geistige Möglichkeiten. Aber bereits am Ende des Jahrhunderts, um 1900, waren alle großen Möglichkei­ ten von außen und innen her erschöpft und entfallen. Der Überfall auf Kuba 1898 war das außenpolitische Signal, das der Welt die Wendung zum Imperialismus ver­ kündete. Dieser war indessen schon lange vorhanden und hielt sich nicht an die alten kontinentalen Vorstellungen von der westlichen Hemisphäre, sondern griff auch weit in den Pazifischen Ozean hinein nach dem alten Osten. Für die weiten Räume Asiens trat an die Stelle der veralteten Monroedoktrin der Grundsatz der „offenen Tür“. Geographisch-global betrachtet war das ein Schritt von Osten nach Westen. Der amerikanische Kontinent war jetzt im Verhältnis zu dem weltge­ schichtlich auftauchenden ostasiatischen Raum in die Lage eines östlichen Konti­ nents versetzt, nachdem hundert Jahre vorher das alte Europa durch den weltge­ schichtlichen Aufgang Amerikas in den Bereich der östlichen Hemisphäre abge-

Die letzte globale Linie

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drängt worden war. Für eine „Geistesgeographie“ bedeutet ein solcher Wechsel der Beleuchtung ein höchst sensationelles Thema. Unter seinem Eindruck ist denn auch 1930 „Der Aufgang einer Neuen Welt“ verkündet worden, die Amerika und China verbinden sollte.[13] Daß sich Völker und Reiche von der übrigen Welt isolieren und durch eine Ver­ teidigungslinie vor der Infektion durch die übrige Welt zu schützen suchen, ist oft in der Weltgeschichte vorgekommen. Der „Limes“ ist ein Urphänomen der Ge­ schichte, die „chinesische Mauer“ ist ein, wie es scheint, typisches Bauwerk und die „Säulen des Herkules“ bleiben ein mythisches Grenzbild für alle Zeiten. Die Frage ist nur, welches Verhalten sich gegenüber anderen Völkern aus einer solchen Abschließung und Isolierung ergibt. Der Anspruch Amerikas, die neue, nichtkor­ rupte Welt zu sein, war für die übrigfeJ&eTt-nuj: so lange erträglich, als er sich mit einer folgerichtigen Isolierung verband._Eine globale Linje. die die WpJf P ^h gut umTschlecht in zwei Hälfteni einteilt, stellt eine Plus- und MLOH^ini?. moralischer Bewertung dar. Sie ist eine fortwährende politische Herausfonie an den gesamteiTanderen Teil dePlaneten^ wemi sie sicJi nicht streng auf die.Defensive und Selbstisolierung beschränkt. Das war keine Frage bloß ideologischer Folgerichtig­ keit, keine Angelegenheit theoretisch-begrifflicher Konsequenzmacherei, auch keine Frage bloßer Zweckmäßigkeit und Opportunität, und erst recht kein Juristen­ streit über die Frage, ob die Monroedoktrin ein Rechtsgmjid.s (ein „legal principle“) oder nur eine politische Ma>dme ist. [14] Hier entsteht vielmehr ein Dilem­ ma, dem sich weder der Urheber einer solchen Isolierungslinie noch die übrige Welt entziehen kann. Die Linie der Selbstisolierung verwandelt sich^jj^eXwaS’ganz anderes, Gegenteiliges, wenn sie hr eine Linie der pisqualifiziemn^ und nierung der ‘übrigen*Welt umschlagtlDenn die völkerrechtliche r^ tra H ^ ^ d i^ we­ sentlich zu einer solchen Sd.bstisolierung gehört, ist schon in ihrer Voraussetzung und ihrer Grundlage etwas Absolutes und strenger als die im alten europäischen Völkerrecht im 18. und jj^Jahrhundert für zwischenstaatliche Kriege entstandenen Arten der Neutralität. Entfällt die absolute Neutralität, die der Selbstisqlierung we­ sentlich ist, dann wird aus dem weltpolitischen Gedanken der Isolierung ein gren­ zenloser, unterschiedslos die Jfade iimfamender InterycjiüonsaiSpmch.'Oie Isolierung ward zur „Fabel“ erklärt; die Monroedoktrin wird ein „Märchen“. Die Regierung der Vereinigten Staaten wirft sich zum Richter der ganzen Erde auf und nimmt sich das Recht der Einmischung in alle Angelegenheiten aller Völker und aller Räume. In unmittelbarem Selbstwiderspruch schlägt die extrem-defensive Selbstisolierung in einen ebenso extremen, raum- und grenzenlosen Pan-Interventionismus um. Alles, was die Regierung der Vereinigten Staaten seit 40 Jahren getan hat, steht unter dem Zwang dieses Dilemmas von Selbstisolierung und Pan-Interventionisrrjus. Der Zwang ist ebenso mächtig und unwiderstehlich, wie die räumlichen und politischen Maße eines solchen globalen Liniendenkens riesig und gewaltig sind. In dem ungeheuerliche^Dilemma.taumell die westliche Hemisphäre seit dem Be­ ginn der sogenannten imperialistischen Ära, also sejj. dern Ende; des j 9. und dem

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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht

Beginn des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich hier nicht etwa nur um gegensätzli­ che Tendenzen, um Kontraste und innere Spannungen, wie sie zu jedem starken Leben und erst recht zu jedem großen Reich gehören. Der innere Widerspruch von Isolation und Intervention ist etwas anderes. Es ist eine ungelöste ftc^lematik^ die d^n gefährlichen, für die westliche wie die übrige Welt unheil­ vollen Zwang enthält, den bishengen^w isc^ desei^opäis Völkerrechts in einen Weltkrieg zu verwandeln. Indem die Regierung von Wa­ shington den Änspnich erheb! jedenApolitischen Gegner* ni