Spuren des Subjekts: Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie 9783666454042, 352545404X, 9783525454046

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Spuren des Subjekts: Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie
 9783666454042, 352545404X, 9783525454046

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Schriften des Sigmund-Freud-Institus

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 3 Psychoanalytische Sozialpsychologie Herausgegeben von Rolf Haubl und Hans-Joachim Busch Band 1 Spuren des Subjekts Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie

Hans-Joachim Busch (Hg.)

Spuren des Subjekts Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 10: 3-525-45404-X ISBN 13: 978-3-525-45404-6 Umschlagabbildung: Detailansicht der Albertina in Wien. © 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theoretische Traditionen und Verbindungen Hans-Joachim Busch Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johann August Schülein Psychoanalyse und Soziologie – Schwierigkeiten eines sinnvollen Diskurses . . . . . . . . . . . . . .

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Robert Heim Paradoxien des Genießens. Einige Konstellationen zwischen Lacan und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Untersuchungsfelder Rolf Haubl Be cool! Über die postmoderne Angst, persönlich zu versagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hans-Jürgen Wirth Sozial-Charakter, kulturelles Gedächtnis und kollektives Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

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Inhalt

Angelika Ebrecht Masochismus und Macht. Zur Konstitution von Herrschaft im Geschlechterverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Emilio Modena Das Eigene und das Fremde. Zur Prophylaxe des Faschismussyndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Hans-Dieter König Hitlers charismatische Masseninszenierungen. Psychoanalytische Rekonstruktion zweier Filmsequenzen aus Leni Riefenstahls »Triumph des Willens« . . . . . . . . . . . . . . 244 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Vorwort

Die moderne Gesellschaft hat das Subjekt geboren und ihm den Weg geebnet. Umgekehrt hat dieses Subjekt seiner Gesellschaft auf ihren Weg geholfen, auf dem sie sich freilich mehr und mehr von ihm emanzipierte. Am Ende einer wechselvollen Geschichte, die aus den Anfangszeiten der Aufklärung hervorging, scheint allerdings wenig von diesem einstmals so stolzen Subjekt geblieben zu sein. Kaum ans Licht der Welt getreten, hat es seine Schritte immer wieder in unvorgesehene Richtungen gelenkt und dabei auch düstere Gegenden betreten und ist auf schwankenden Boden, gar auf die schiefe Bahn geraten; auch hat es sich (unfreiwillig) zunehmend zurückgezogen, und mitunter schien es unsichtbar geworden zu sein. Das hat seine Befürworter nachdenklich und zurückhaltend gemacht. Doch umso wichtiger wurde es ihnen, seine Verstrickungen aufzudecken und seine seelischen Untiefen auszuloten, um seinen Rätseln auf die Spur zu kommen. Das war, insbesondere in Zusammenhang mit den (im Nationalsozialismus gipfelnden) Rebarbarisierungstendenzen der Moderne, das entscheidende Motiv, das in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zur Ausprägung einer eigenen Teildisziplin, der psychoanalytischen Sozialpsychologie, führte; der Hinweis Freuds, das Ich sei nicht mehr Herr im eigenen Haus, stand dabei Pate. Dieser Gedanke wurde freilich von der Persönlichkeitsstruktur, auf die er ursprünglich allein gerichtet war, auf das gesellschaftliche Ganze ausgedehnt, das zu einem »Gehäuse der Hörigkeit« (Weber) zu werden im Begriff war. Und es nimmt daher nicht wunder, dass der Ansatz psychoanalytischer Sozialpsychologie in der geschichtsund modernitätsreflexiven Ära der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu erneuter Blüte gelangte.

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Vorwort

Danach ist es um das Subjekt wieder still geworden; mehr und mehr scheint es heute aus dem Spiel genommen zu werden, das von anderen »Faktoren«, Kräften, von Intersubjektivität, von Netzwerken, von Systemen beherrscht wird. In posthumanistischen Visionen, die uns heute näher rücken, drohen sich seine Spuren allmählich in genetischen und kybernetischen Konstruktionen zu verlieren. Der Subjektdiskurs wirkt ermüdet und mit ihm psychoanalytische Sozialpsychologie. Ist diese Entwicklung objektiv berechtigt, unumgänglich und unumkehrbar? Das ist die Frage, die sich diejenigen zu stellen haben, die psychoanalytische Sozialpsychologie weiterhin betreiben. Sie ist nicht neu. Bereits Adorno, einer der Protagonisten dieser Forschungsrichtung, hat sie aufgeworfen und sie zunächst positiv beantwortet. Seine Folgerung aus den Geschehnissen des Nationalsozialismus und der Erfahrung einer unzugänglichen verwalteten Welt im Spätkapitalismus war ja bereits, dass die Geschichte des Subjekts zu Ende sei. Später relativierte er diese These und räumte verbliebene Residuen von Subjektivität, von Leidensfähigkeit, Widerstand und Spontaneität ein, deren Bestimmung die theoretische Anstrengung nunmehr zu gelten habe. Damit leitete er ein neues Zwischenhoch in der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie in Gestalt der Kritischen Theorie des Subjekts ein. Sie machte es sich zur Aufgabe, diesen Beständen, Potenzialen, Resten mit teilweise neuen theoretischen Ansätzen und Methoden auf die Spur zu kommen. Dieses Erkenntnisinteresse und die dahinter stehende wissenschaftliche Tradition bestimmen auch maßgeblich die Ausrichtung dieses Bandes. Er präsentiert Texte der Arbeitsgruppe »Psychoanalyse – Gesellschaft – Kultur«, die seit einigen Jahren existiert und nun ihre in verschiedenen Zusammenhängen entwickelten Argumentationen gemeinsam vorlegt. Diese Gruppe hat sich der Auseinandersetzung mit psychoanalytischer Sozialpsychologie, an deren Konzepte sie anknüpft, verschrieben und will sie zu einem Untersuchungsinstrument des gegenwärtigen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft fortentwickeln. Die Autoren begeben sich auf unterschiedlichen Feldern auf Spurensuche. Sie sichten die theoretischen Instrumente und Diskurse im Bemühen um kategoriale Präzisierung und konzeptuelle Klärung. Sie folgen den

Vorwort

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Spuren der Subjekte in Gewalt, Unterdrückung, Entfremdung, Unmündigkeit, politischer Verblendung, geschlechtlicher und interkultureller Differenz; sie finden sie in den Leiden der durch die Globalisierung forcierten Umstülpung gewohnter Lebensbedingungen und -muster. Sie fragen auch nach den Möglichkeiten, sich in den Labyrinthen der fortgeschrittenen Moderne zurecht- oder gar aus ihnen herauszufinden. Dabei ist es den Autoren darum zu tun, den Doppelsinn der Metapher nicht zu ignorieren: Gelingt es den Subjekten, eingefahrene Spuren, die sie einschränken und hemmen, zu verlassen? Können sie sich auf eigene Wege machen, statt nur zu »spuren«? Vermögen sie es, einen Kurs einzuschlagen, auf dem sie markante Spuren hinterlassen, die ihre Autonomie und Humanität bezeugen und entsprechende Impulse für ihre Gesellschaft bedeuten? Als Herausgeber möchte ich, stellvertretend für die Autoren, Marion Ebert-Saleh und Herbert Bareuther, meinen Kollegen am Sigmund Freud-Institut, für ihr Mitwirken an der Verwirklichung dieser Publikation danken. Sie haben in bewährter und hervorragender Weise die Texte dieses Bandes, was ihre Schriftfassung und Bibliografie betrifft, überarbeitet und in eine einheitliche Form gebracht. Hans-Joachim Busch

■ Theoretische Traditionen und Verbindungen

■ Hans-Joachim Busch

Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft1

■ Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt

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Als in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Psychoanalyse aus der Emigration ins Nachkriegsdeutschland zurückkehrte, war ihr dies auch deshalb möglich, weil sie an Traditionen aus den zwanziger und dreißiger Jahren anknüpfen konnte und Orte fand, an denen diese jedenfalls soweit wach geblieben waren, dass sie revitalisiert werden konnten. Ein solcher Ort war vor allem Frankfurt. Neben den klinischen waren es, insbesondere hier, sozialpsychologische Traditionen, in denen der psychoanalytische Ansatz Bedeutung gewonnen hatte. Die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie stand unter anderem dafür, Sozialphilosophie und Sozialwissenschaften mit der Perspektive der Psychoanalyse zu verbinden. Ihr Blick richtete sich auf das Leiden und die Verblendungen des individuellen Bewusstseins und der Massen in einer technokratisch erstarrten verwalteten Welt. So war es kein Zufall, dass das 1. Frankfurter Psychoanalytische Institut in den zwanziger Jahren in den Räumen des Instituts für Sozialforschung seine Arbeit aufnahm. Und es war erneut kein Zufall, dass Max Horkheimer, der Direktor des neuen Instituts für Sozialforschung, entscheidend zur zweiten Gründung eines Frankfurter psychoanalytischen Instituts beitrug. Dies hätte er sicher nicht getan, wenn er nicht in Alexander Mitscherlich, der diese Gründung maßgeblich betrieb, einem geistesverwandten, von der entschiedenen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus beseelten Wissenschaftler und 1 Ich danke Rolf Haubl für kritische Kommentare, die für Präzisierungen und Verbesserungen sorgten.

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Theoretische Traditionen und Verbindungen

Intellektuellen, begegnet wäre. Mitscherlich, der Arzt und Psychoanalytiker, hatte sich als subtiler Kritiker des Nationalsozialismus und der deutschen Nachkriegsgeschichte hervorgetan und verband die Idee des Instituts nicht nur mit der Re-Etablierung der Psychoanalyse als Therapie, sondern auch mit der Untersuchung sozialpsychologischer Fragestellungen. So ergab sich am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut eine so sonst nirgends zu findende interdisziplinäre Kooperation von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft. Sie schlug sich einerseits in der Tatsache nieder, dass Wissenschaftler wie Lorenzer, Horn, Dahmer, Brede und andere von den ersten Jahren an im Institut beschäftigt waren; andererseits machte sie das Institut zum Ort der Forschung und des Austauschs für Sozialwissenschaftler wie Habermas, Oevermann und andere. Die psychoanalytische Sozialpsychologie fand in den Arbeiten Alexander und Margarete Mitscherlichs zu neuer Blüte, und im Umkreis des Instituts wuchs in den sechziger Jahren eine produktive Wissenschaftlergeneration heran. Ihr war die sozialwissenschaftliche Verwurzelung in der Kritischen Theorie gemeinsam. Aber sie gab der Verbindung von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften auch wesentliche Impulse, die zu einer theoretischen und methodologischen Weiterentwicklung führten. Ich will in dieser Arbeit den Weg der psychoanalytischen Sozialpsychologie in Frankfurt nachzeichnen. Da dieser interdisziplinäre Kontakt in Frankfurt immer einen bevorzugten Ort2 hatte und von dort in andere geistige Zentren ausstrahlte, haben meine Betrachtungen, so denke ich, gleichzeitig auch exemplarischen Charakter für die Geschichte dieser »Disziplin zwischen den Disziplinen« überhaupt.

2 Andere Orte, an denen psychoanalytische Sozialpsychologie im deutschsprachigen Raum (wo sie vor allem betrieben wird) eine Heimat fand und sich ähnlich ausprägte wie in Frankfurt, waren Bremen, Hannover, Berlin, Gießen, Zürich und Wien. Zwischen Frankfurt und diesen anderen Stätten psychoanalytischer Sozialpsychologie bestand und besteht reger Kontakt, etwa im Rahmen des Arbeitskreises Politische Psychologie und der Arbeitsgruppe Psychoanalyse – Gesellschaft – Kultur.

H.-J. Busch · Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt

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■ Die erste Generation der Frankfurter Schule Die Kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule zeichnete sich von allem Anfang dadurch aus, dass sie die Psychoanalyse für die Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene heranzog. Allein dieses Merkmal unterscheidet sie noch nicht von der strukturellfunktionalen Handlungstheorie Talcott Parsons’, einem anderen zentralen soziologischen Theorieansatz des 20. Jahrhunderts. Jedoch war ihr Erkenntnisinteresse weniger auf die Analyse des Funktionierens von westlichen Gesellschaften und ihren individuellen Akteuren ausgerichtet als auf das Leiden, die Beschädigungen und Verblendungen der Subjekte, die die kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen hervorrufen. Allerdings geriet ihre zentrale Argumentationsfigur, die Theorie des Sozialcharakters, ungewollt mechanistisch. Ihr zufolge werden gesellschaftliche Verhältnisse über die Familien, die als Sozialisationsagenturen fungieren, dem individuellen Bewusstsein nahe gebracht. Die allgemeinen Anforderungen einer auf Herrschaft und Unterdrückung basierenden kapitalistischen Gesellschaft bringen einen speziellen Sozialcharakter hervor, den die Individuen in ihrer Sozialisation anzunehmen haben. Er ist in Gesellschaften dieses Typs in aller Regel ein autoritärer Charakter, durch Vorurteilsanfälligkeit gekennzeichnet, wenig demokratiefest, vielmehr erheblich faschismusanfällig. Die Entwicklung des Nationalsozialismus verdeutlichte nur schlagend eine allgemeine Tendenz zur Unmündigkeit und Halbbildung des Individuums in einer total verwalteten Welt, die mithilfe der Kulturindustrie die Artikulationsmöglichkeiten authentischer Subjektivität bis zur Unkenntlichkeit beschnitt. Für die Kritische Theorie war hier der Punkt erreicht, an dem gesellschaftlich Subjektivität ausgelöscht und die diesbezügliche theoretische Auseinandersetzung mithilfe der Psychoanalyse aussichtslos geworden zu sein schien. Die lange Jahre für die Arbeiten der Kritischen Theorie charakteristische Kooperation mit der Psychoanalyse schien nunmehr aussichtslos zu sein und stand infrage; Psychoanalyse als Therapeutik geriet gar in das Licht einer Anpassungstechnik (vgl. Adorno 1955; Dahmer et al. 1973; Decker u. Türcke 2006). Unter den Vertretern der Kritische Theorie war es wohl vor allem Marcuse (1955), der dieses insbesondere von Adorno geprägte Bild der Psychoanalyse

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nicht in dieser Konsequenz teilte und ihr theoretisches und gesellschaftsdiagnostisches Potenzial höher einschätzte. Ihm schienen die theoretischen Instrumente der Psychoanalyse jedenfalls nicht so stumpf, als dass sie nicht durch sozialpsychologische Begriffsarbeit kapitalismuskritisch geschärft werden könnten. In seiner sozialphilosophischen Neuinterpretation der freudschen Kulturtheorie wurde das überhistorische Realitätsprinzip historisch zum Leistungsprinzip und die konsumistisch-hedonistische Enthemmung, mit der die Individuen dem Wachstumskurs triebdynamisch folgten, als »repressive Entsublimierung« bestimmt. Das heißt, die psychoanalytischen Begriffe erwarben in dieser Umwandlung neue sozialdiagnostische Schärfe. Die Diskrepanz zwischen Triebstruktur und Anpassungsanforderungen des kapitalistischen Leistungsprinzips blieb ebenso sichtbar wie die Schattenseiten eines sich mit der Existenz im goldenen Käfig der warenkapitalistischen Angebotsfülle begnügenden Subjekts. So blieb immerhin konzeptionell ein Spalt offen, der den Blick freiließ auf die Dimension unintegriertauthentischer Subjektivität. Aber auch Adorno (1966) nahm seine einseitig verfallslogische Subjektdiagnose zurück und räumte einen verbliebenen Bewegungsspielraum autonomer Subjektivität ein. Somit boten die Werke der ersten Generation der Frankfurter Schule doch genügend Ansatzpunkte, an die insbesondere die »Kritische Theorie des Subjekts« anknüpfen konnte.

■ Alexander Mitscherlichs Gesellschaftsdiagnose Der andere renommierte Frankfurter Vertreter der engagiert-antifaschistischen Nachkriegssozialpsychologie in Deutschland, Alexander Mitscherlich, war in diesen theoretischen Fragen unbekümmerter. Er entwarf seine Sozialpsychologie nicht aus der Perspektive einer Theorie der Gesellschaft, sondern aus der einer gesellschaftlich engagierten Psychoanalyse. Als Arzt und Psychoanalytiker stellte er sich, von der Erfahrung der geschichtlichen Katastrophe angetrieben, die Aufgabe, die psychodynamischen Wirkungszusammenhänge der modernen Gesellschaft in aufklärerischer Absicht freizulegen. Seine Analyse zeigte sie als eine va-

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terlose Massengesellschaft, in der der Einzelne sich den Gefahren der Entwurzelung und Orientierungslosigkeit ausgesetzt sieht. Die Bindekräfte der Familie, die die Psychoanalyse bislang naiv vorausgesetzt hatte, waren in Wirklichkeit – das auch die Ansicht der Autoren der ersten Generation der Kritischen Theorie – im Schwinden begriffen. Die Väter, aber auch immer mehr die Mütter, standen vor der kaum zu lösenden Aufgabe, die auseinander driftenden Welten des Berufslebens und der Karriere auf der einen, der Familie und der Erziehung auf der anderen Seite in Einklang zu bringen. Lag hier die bedeutendere Wirkung Mitscherlichs als sozialpsychologischer Gesellschaftsdiagnostiker, die ihn in ihrer Weitsicht auch für die immer mehr sich herausprägenden Konturen spätmoderner Gesellschaften aktuell bleiben lassen, so waren seine Analysen zum Bewusstsein im nachfaschistischen Deutschland zeitgeschichtlich von ungleich höherem Einfluss. Das zusammen mit M. Mitscherlich verfasste Werk »Die Unfähigkeit zu Trauern« prägte die sozialpsychologische Kritik an den unverarbeitet fortdauernden psychischen Gehalten der nationalsozialistischen Ära in der Bundesrepublik. Mit der Wirkung dieses Buches, dessen Titel dabei nicht selten zum wohlfeilen Schlagwort verkam, sicherten die Mitscherlichs der Psychoanalyse über viele Jahre hinweg eine Meinungsführerschaft im bundesrepublikanischen Diskurs in Fragen der Sozialpsychologie überhaupt und waren maßgeblich (wie sonst nur noch H.-E. Richter) an der Konjunktur der Psychoanalyse im öffentlichen Bewusstsein in den sechziger und siebziger Jahren beteiligt.

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■ Die zweite Generation der Frankfurter Schule ■ Psychoanalyse als Hermeneutik und als Ich-

Psychologie (Habermas) Sowohl für die weitere Entwicklung der Kritischen Theorie wie auch deren Rezipienten waren die Arbeiten von J. Habermas aus den sechziger und siebziger Jahren von immenser Bedeutung. Habermas setzte sich mit der Psychoanalyse vor allem im Zusammenhang der Entwicklung einer Theorie des kommunikativen Handelns auseinander. Trotz seiner freundschaftlichen Beziehung zu A. Mitscherlich und obwohl er dessen Wirkung vor dem Hintergrund der eigenen theoretischen Zielrichtung als Wegbereiter einer »psychoanalytischen Konstruktion des Fortschritts« (Habermas 1963) im Sinne einer kommunikativen Vernunft einschätzte, sah er offenbar in der Psychoanalyse weniger ein Arsenal an gegenwartsdiagnostischen Instrumenten. Seine Perspektive auf die Psychoanalyse war wissenschaftstheoretisch. Psychoanalyse war eine seiner Stützen im Vorstoß gegen eine positivistisch halbierte instrumentelle Vernunft. Dies war ihr möglich aufgrund ihres – wie Habermas glänzend und mit nachhaltiger Wirkung argumentierte – Charakters einer »systematisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft«. In der Beziehung zwischen Analytiker und Analysand entfaltet sich eine unvergleichliche kommunikative Praxis, die modellhaft die Möglichkeiten kommunikativer Vernunft zu verdeutlichen vermag. Psychoanalyse wurde konsequent als Hermeneutik aufgefasst, die, und deshalb war sie auch als Tiefenhermeneutik zu bestimmen, narrativ den lebensgeschichtlichen Sinn der Konflikte des Analysanden hinter seinen manifesten sprachlichen Äußerungen hervorzubringen vermochte. Die Psychoanalyse war auf einmal nicht mehr Naturwissenschaft, auch nicht mehr Anpassungswissenschaft, sondern auf neuartige Weise unmittelbar Teil einer emanzipatorischen Gesellschaftstheorie. Neben der erkenntnistheoretischen hatte Psychoanalyse im habermasschen Werk der sechziger und siebziger Jahre auch eine sozialisationstheoretische Funktion. Dabei ging er in seiner Rezeption so weit, dass er auch die trieb- und sexualtheoretische Tradition der Psychoanalyse gegenüber einer eher an der psychoanalyti-

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schen Ich-Psychologie orientierten Auffassung in den Hintergrund rückte. Die Ansätze Hartmanns und Eriksons waren hier maßgebend; Hauptbezugsautorin war J. Loevinger. Bei der Theorie der Entwicklung eines sprach- und handlungsfähigen Subjekts konnte mithilfe der Psychoanalyse die Entwicklung der motivationalen Kräfte des Ich, die Genese seiner Fähigkeiten, mit phasentypischen lebensgeschichtlichen Konflikten umzugehen, konzipiert werden. Auch wenn Habermas’ Sozialisationstheorie ausdrücklich eine repressionstheoretische Orientierung3 vertrat und damit gerade auch in ihrer Psychoanalyse-Rezeption aus dem Schatten des strukturell-funktionalen Ansatzes der parsonsschen Systemtheorie und deren erstem soziologischem Übernahmeversuch der Psychoanalyse heraustreten wollte, blieben in ihr dennoch die Momente von Leiblichkeit und innerer Natur blass. In der Theorie des kommunikativen Handelns sind die Konflikte immer schon kommunikativ eingebettet, wodurch die Schärfe der Auseinandersetzung der Welt der Triebe mit Sozialität nicht angemessen zum Ausdruck gebracht wird. In Habermas’ späterem Werk traten psychoanalytische Gesichtspunkte mehr und mehr zurück. Von den psychoanalytischen Ansätzen zur Entwicklung von Moral ausgehend suchte Habermas über die Rezeption der moralpsychologischen Forschungen Kohlbergs festeren Stand zu gewinnen bei der Verfolgung seiner nunmehr verstärkt moraltheoretischen Interessen.

■ Psychoanalyse als Sozialwissenschaft – die Kritische

Theorie des Subjekts (K. Horn und A. Lorenzer) In den späten sechziger Jahren betrat aber auch eine ganz neue Generation psychoanalytischer Sozialpsychologie im engeren Sinn die Bühne. Gleichermaßen von den Anregungen der Kritischen Theorie bis hin zu Habermas wie von A. Mitscherlichs kritisch-zupackender sozialpsychologischer Gegenwartsdiagnose geprägt, erlebte mit ihr die Ehe von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie eine Renaissance, und es etablierte sich ein neuer 3 Eine so orientierte Soziologie betont, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch Unterdrückung von Bedürfnissen bestimmt ist.

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Ansatz, der diese Partnerschaft auf eine andere Stufe hob. Für die gegenwärtige Situation der psychoanalytischen Sozialpsychologie schätze ich diese Position als ebenso bedeutsam wie unausgeschöpft ein; sie steht deshalb, auch was den Umfang der Beschäftigung mit ihr angeht, im Mittelpunkt meiner Arbeit. Die »Kritische Theorie des Subjekts« machte es sich zur Aufgabe, das wissenschaftliche Verhältnis beider Disziplinen, das vorher nicht wesentlich über einen bloßen Austausch hinausgekommen war, genauer zu bestimmen. Insbesondere der Wissenschaftscharakter der Psychoanalyse erschien nun, ganz im Sinne der habermasschen Neuorientierung – die ihrerseits ja von den Anregungen A. Lorenzers nicht unbeeinflusst war (vgl. Mitscherlich-Nielsen 1996, S. 399) – in einem anderen Licht. Wie der Umgang des Psychoanalytikers mit dem Patienten bei näherem Hinsehen verriet, hatte es die psychoanalytische Praxis mit Sprache und Geschichte, nicht mit bloßer Natur zu tun. Ihr Vorgehen war nicht naturwissenschaftlich-distanziert und experimentell, sondern hermeneutisch, geschah in gemeinsamer Interaktion und war auf praktische Veränderung individueller Lebensmuster (im Sinne der Stärkung von Subjektivität) gerichtet. So gesehen verbot sich der (zeitweise dominierende) resignative Gestus Adornos, der in ihr nicht viel mehr als eine Anpassungswissenschaft sehen konnte. Doch blieb in den Argumentationen der Kritischen Theorie des Subjekts, anders als bei Habermas, der Geist eines auf die Psychoanalyse gestützten Subjektbegriffs ausdrücklich lebendig. Mehr noch: Diese Autoren machten sich daran, anknüpfend an diese Tradition eine umfassende Konzeption von Subjektivität zu entfalten, die auch die Entwicklung auf dem Gebiet der Sprach-, Interaktions- und Sozialisationstheorie berücksichtigen sollte. Auf diese Weise wurde auch ein Schritt unternommen, der über den platten Mechanismus der Formel »Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein« sozialisationstheoretisch hinausführte. Denn davon war die Sozialpsychologie der ersten Generation der Frankfurter Schule bei allem Streben nach Differenzierung im Grunde doch affiziert geblieben. Mit den Theoremen des »autoritären Charakters« und der »autoritären Persönlichkeit« schien es unausweichliches und unvermeidliches Schicksal, unter bestimmten Familienbedingungen genau die aufgewiesenen Ausprägungen auch persönlich her-

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vorzubringen, die das erzieherische Umfeld enthielt und anbot. Damit wurde ein theoretisches Verdikt über die Persönlichkeitsentwicklung verhängt, dass der Diffizilität und Unvorhersehbarkeit der psychoanalytischen Persönlichkeitsauffassung zuwiderlief. Das Je-Individuelle, für das es keinen besseren Anwalt als die Psychoanalyse gibt und das ja auch im Mittelpunkt des Denkens der Kritischen Theorie stand, musste – den eigenen Intentionen zuwider – mit dem unzureichend-groben sozialcharakterologischen Instrumentarium verfehlt werden. Das gilt noch für die späten pseudotheoretischen Ausläufer solcher Ansätze in der Studentenbewegung, aber auch für den Versuch Ziehes Anfang der siebziger Jahre, einen gegenüber den Erkenntnissen der früheren Frankfurter Schule »neuen Sozialisationstyp« zu statuieren, der durch die massenhafte Ausbildung einer infolge missglückender frühkindlicher Mutterbeziehungen entstandenen narzisstischen Störung ausgezeichnet war. Mit dieser Tradition brach die Kritische Theorie des Subjekts ausdrücklich. Sie trachtete danach, die innere Konstitution des Subjekts im Zusammenhang des Sozialisationsprozesses zu erfassen. Dieser Aufgabe widmete sich in erster Linie Lorenzer, während Horns Variante Kritischer Theorie des Subjekts – im Grundsatz mit Lorenzer einig – den Weg einer politischen Psychologie einschlug (vgl. Busch 1999, 2001b). Analog der Kritik der politischen Ökonomie, die es mit der gesellschaftlichen Aneignung äußerer Natur zu tun hatte, befasste sich die Kritik der politischen Psychologie (nicht wie die von Le Bon herstammende subjektkontrollierende Tradition politischer Psychologie) mit der gesellschaftlichen Bearbeitung der inneren Natur der Subjekte. Wie kann Subjektivität gesellschaftlich angemessen zur Geltung gebracht werden, und wie und wodurch wird sie daran gehindert, waren die Grundfragen, die Horn stellte, und die er an zahllosen Einzelthemen »durchbuchstabierte«: Erziehung, Gesundheit, Technik, Krieg und Frieden, Gewalt und Terrorismus, Massenmedien, Werbung, politische Apathie und andere.

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■ Psychoanalyse als Sprach-, Interaktionsund Sozialisationstheorie Den Vertretern dieser neuen Spielart, Horn und Lorenzer ging es darum, eine andere theoretische Betrachtungsweise einzuführen, ohne die Substanz der freudschen Theorie anzutasten. Wie den Autoren der ersten Generation der Frankfurter Schule war ihnen das Erbe der Triebtheorie wichtig, ohne das ein der Gesellschaft Widerstand entgegensetzendes, auf Autonomie ausgehendes Subjekt, leidensfähig, engagiert und doch kritische Distanz wahrend, gar nicht zu denken war. Gleichzeitig war ihnen aber klar, dass der klassische psychoanalytische Triebbegriff, der sich trotzig in den Winkel der theoretischen Mythologie zurückgezogen hatte, so nicht haltbar war und sozialwissenschaftlich zugänglich gemacht werden musste. Lorenzer gelang das dadurch, dass er ein Modell menschlicher Interaktion aufstellte, das zwischen den Polen Natur und Gesellschaft ausgespannt war. Der Mensch, so lautet die These, hat keine Triebe; wohl aber ist er immer auch, zu jedem Zeitpunkt seiner Biographie, ein Stück Natur. Diese Natur begegnet uns in der Eigengesetzlichkeit und Vergänglichkeit unserer Körper, in den Rätseln psychosomatischer Symptombildungen. Es handelt sich hierbei natürlich nie um reine, sondern um immer schon sozialisierte Natur. Die Triebe sind solche sozialisierte Natur. In allerletzter sozialisationstheoretischer Konsequenz lässt sich aber ein Zeit-Punkt annehmen, zu dem am Beginn des werdenden Lebens im Moment der Verschmelzung von Samen und Eizelle pure Natur besteht. Im unmittelbar einsetzenden körperlichen Zusammenspiel mit der schwangeren Mutter löst sich diese reine Natur aber sogleich auf und wird zum interaktiv geformten Substrat, das sich mehr und mehr (schon im und aus dem Körper der Mutter heraus) meldet. Ein Gutteil Naturgesetzlichkeit bleibt diesem Wesen immer eigen (Haar- und Augenfarbe sind unveränderlich, das Programm des körperlichen Wachsens und geschlechtlichen Reifens steht ebenso fest wie der Prozess der Alterung und der Tod). Die Widerständigkeit von Subjektivität stützt sich immer auf eine naturhafte Überschüssigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungen und Zugriffen; auch den Versuchen, sich selbst und sein Leben unter diesen Einflüssen durch das gesellschaftliche

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Umfeld zu steuern, stellt sie sich als Quelle unvorhersehbarer Einwirkungen in die Quere. Dieser Gedanke nimmt auch das Motiv Horkheimers und Adornos vom »Eingedenken der Natur im Subjekt« (Schmid Noerr 1987) auf, mit dem ein Gegenentwurf zum in der Moderne vorherrschend gewordenen Modell bloßer »instrumenteller Vernunft« greifbar zu machen versucht wurde. Blieb auf der einen Seite Natur im Individuum mitgedacht, war dieses Individuum auf der anderen Seite zugleich immer auch Interaktion. Das heißt, die Reifungs- und Entwicklungsprozesse waren stets verknüpft mit Interaktionen, ohne diese gar nicht zu denken. Diese Interaktionen waren von Anfang an nicht einseitige Formungsprozesse, sondern hatten wechselseitigen Charakter. So sehr die Mutter den Embryo auf sich einzustellen vermag, so sehr hat sie sich doch auch nach ihm zu richten. Von Anfang an fordert er sein eigenes Recht. Das gilt nun banalerweise für den Sozialisationsprozess unablässig fort. Die Sozialisationsinteraktionen hinterlassen, in ihrer Struktur bildenden Wirkung, bereits in der pränatalen Phase (und natürlich weiterhin) Spuren – »Engramme« könnte man in Übereinstimmung mit der Hirnphysiologie sagen. In einer anderen Sprache lassen sich diese Resultate von Interaktionen als »Interaktionsformen« bezeichnen. Diese »Interaktionsformen« sind zugleich Muster für künftiges Interagieren. Sie sind Registrationen von Erlebnissen und finden für sie Weisen der Artikulation. Je nach Entwicklungsstand beziehungsweise ontogenetischem Stadium haben sie unterschiedliche Eigenschaften. Zu Beginn, pränatal und bis in die postnatale Phase hinein, sind sie rein physiologisch. Sie entstammen Eindrücken aus der Regulation des eigenen Körperbedarfs in den Interaktionen mit der Mutter, sie bilden Muster der Einspielungen dieses szenischen Austausches. Mehr und mehr treten aber sprachliche Ausdrucksmittel in der Mutter-Kind-Dyade in den Vordergrund. Das Kind spielt in Gesten und Worten mit Bedeutungen und schafft sich einen inneren symbolischen Raum, über den es anfängt, die eigene Identität auch in Abwesenheit der Mutter und der Bezugspersonen aufrechtzuerhalten. Die Fähigkeit zur Symbolbildung ist also von Anfang an beziehungsweise gerade zu diesem ontogenetisch frühen Zeitpunkt für die individuelle Persönlichkeitsbildung eminent wichtig. Lorenzer legt sein Konzept der Interaktionsformen gewis-

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sermaßen über das Schema des freudschen psychischen Apparats. Dann entsprechen dem Unbewussten die bestimmten, unbewussten Interaktionsformen und dem Vorbewussten die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen. Letztere beruhen vor allem auf körperlich-gestischen Ausdrucksformen; aus ihnen setzt sich die Welt der Phantasie zusammen, und sie erstrecken sich in erster Linie auf die außersprachliche Sinnlichkeit (wie Bilder, Gerüche, Töne, Geschmack), aber auch auf die bildhafte, gefühlsbetonte, nicht diskursiv-begriffliche Seite der Sprache; aus ihrem Fundus schöpfen die Künste, Musik und Literatur. Zu ihnen treten schließlich die sprachsymbolischen Interaktionsformen hinzu, die das zumeist ja als entscheidend gewertete Humanspezifikum ausmachen. Mit der Sprache lassen sich Szenen benennen und eindeutig identifizieren, und diese Leistung bringen die sprachsymbolischen Interaktionsformen zustande. Aber die Sprache wird bei Lorenzer doch in ihrer Funktion für den Kulturmenschen stärker relativiert, als dies gemeinhin der Fall ist. Spätestens mit dem Erwerb der Sprache tritt der Einzelne unweigerlich in ein größeres soziales System ein. In der Moderne und ihrer Dynamik weitet sich dieser Systemzusammenhang immer mehr aus, wird abstrakter. Damit entfernt sich auch Sprache als das entscheidende Medium solcher Systeme immer weiter von den Bedürfnissen der Einzelnen; in der Formulierung von Normen tritt sie ihr gar von jeher gegenüber. Deshalb kann gerade das Einüben in und Übernehmen von Sprache insofern missglücken, als damit das Je-Eigene, Intime, eben die Welt der körperlich-sinnlichen Interaktionsformen übergangen beziehungsweise verraten wird. Hierin sieht Lorenzer auch das zentrale Thema der Psychoanalyse, nämlich »Sprachzerstörung und Rekonstruktion«. In der durch Verdrängung bedingten Neurose tritt das falsche Benennen der für das eigene, intime Leben eines Menschen wichtigen Lebensszenen und -zusammenhänge pathologisch-drastisch hervor. Tragisch verfehlt sich der Einzelne in dieser desymbolisierten Zeichenhaftigkeit der Sprache selbst und beginnt an dieser Differenz zu leiden. Zwar steht das Konfliktfeld Szene-Sprache für das soziale und Kulturwesen Mensch im Mittelpunkt, doch kann ihm auch seine sinnliche Symbolik aus den Händen gleiten und in bedürfnisfremde oder gar bedürfnismanipulative Schablonenhaftigkeit übergehen.

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Das lässt sich zum Beispiel oft an der Wirkung von Massenmedien oder Gütern des Massenkonsums beobachten. Mit den Mitteln der »tiefenhermeneutischen Kulturanalyse« (Lorenzer 1986; König 1993, 1996; Busch, in Vorb.) lassen sich diese Prozesse untersuchen, wie auch die Rezeption von filmischen, literarischen und künstlerischen Werken und Hervorbringungen der Architektur.

■ Kontinuität und neue Pluralität Die Ära dieser Vertreter der Sozialpsychologie der zweiten Generation der Kritischen Theorie ist inzwischen vorüber. Horns früher Tod war dafür ebenso ausschlaggebend wie die schwere Krankheit Lorenzers seit Anfang der neunziger Jahre, die – schon lange bevor er 2003 starb – kein wissenschaftliches Arbeiten mehr zuließ. Habermas’ Interessen waren ohnehin schon seit Mitte der siebziger Jahre in eine andere Richtung gegangen; und es schien, dass die Psychoanalyse als Theorieansatz für ihn nicht nur zunehmend keine Rolle mehr spielte, sondern auch in ihrem Potenzial als wenig aussichtsreich für die Bearbeitung derzeit anstehender theoretischer und gegenwartsdiagnostischer Fragen erachtet wurde. Wenige andere Autoren, die mit anders akzentuierten Positionen Profil gewonnen hatten und ihre Ansätze bis heute weiterführten, wie M. Mitscherlich, Richter, Brede, Erdheim und Reiche, blieben auf dem Gebiet psychoanalytischer Sozialpsychologie übrig; zu ihnen gesellten sich jüngere, die großenteils (die einen mehr, die anderen weniger) aus dem Umkreis der Kritischen Theorie des Subjekts hervorgegangen waren (König, Görlich, Haubl, Busch). Andere traten in die Fußstapfen Richters (Wirth), Brückners (Krovoza, Schneider), verbanden die Auffassungen der Sozialpsychologie der zweiten Generation der Kritischen Theorie mit den Anregungen der französischen Psychoanalyse-Rezeption, insbesondere Lacans (Heim), stellten in Fortsetzung der Überlegungen von Habermas die psychoanalytische Persönlichkeitstheorie und Entwicklungspsychologie in den Rahmen eines intersubjektivistischen Konzepts (A. Honneth) oder verknüpften die Anregungen der Ethnopsy-

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choanalyse mit einem kritisch-sozialwissenschaftlichen Ansatz (Bosse4). Ich werde nun einen Überblick über diese aktuellen Vertreter einer psychoanalytischen Sozialpsychologie zu geben versuchen und deren Positionen knapp skizzieren. Meine Darstellungsweise nimmt dabei porträtierenden Charakter an und vermeidet Urteile. Denn ich verstehe die Aufgabe dieses Kapitels vor allem so, den Lesern als Führer in ein wissenschaftliches Gebiet zu dienen. Und gerade weil ich diesem Gebiet zugleich selbst angehöre und Mitglied der derzeit hier wirkenden Wissenschaftlergeneration bin, möchte ich in diesem Abschnitt vermeiden, im Sinne eigener Positionen zu argumentieren. Dazu und zu Folgerungen aus dieser Übersicht werde ich dann im letzten Abschnitt übergehen.

■ M. Mitscherlich Margarete Mitscherlich, bereits in ihrem gemeinsam mit Alexander Mitscherlich verfassten Buch »Die Unfähigkeit zu Trauern« als engagierte und wirkungsvolle gesellschaftskritische psychoanalytische Sozialpsychologin hervorgetreten, blieb dieser Linie, mit verändertem Akzent, treu. Ab den siebziger Jahren machte sie sich einen Namen als wesentliche Stimme einer feministischen Psychoanalyse in Deutschland. Hier leistete sie nicht nur wichtige Kritik an überkommenen männlichkeitsorientierten Positionen der Psychoanalyse, sondern trat auch mit einer Neubestimmung der gesellschaftlichen Rolle von Weiblichkeit hervor. In »Die friedfertige Frau« arbeitete sie die Bedeutung weiblicher Fähigkeiten für die (dringend erforderliche) Etablierung einer aggressionskompetenteren Gesellschaft heraus.

4 Die von Bosse entwickelte »Ethnohermeneutik« richtet sich auf Kolonialisierungsprozesse und setzt dabei vor allem methodologische Akzente; sie wird daher nicht hier, sondern in meiner Arbeit im Rahmen des in dieser Reihe geplanten Methodenbandes (Busch, in Vorb.) behandelt.

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■ Richter Horst-Eberhard Richter, der nach seiner Emeritierung in Gießen von 1992–2002 das Sigmund-Freud-Institut leitete, begann bereits in den sechziger Jahren, die Perspektive der Psychoanalyse auf das familiale Umfeld und die Gruppe zu erweitern. Sein Ansatz ähnelte dem A. Mitscherlichs, indem er einerseits stark in eigener klinisch-psychoanalytischer Praxis wurzelte und andererseits von gesellschaftskritischem und politischem Engagement geprägt war. Ebenso wenig wie Mitscherlich kümmerten Richter, der wie jener ebenfalls Arzt war, theoretische Ansprüche, wie sie im Umkreis der Kritischen Theorie erhoben wurden; sie hätten seine Argumentationsweise, die auf praktische Probleme (und öffentliche Wirkung) gerichtet war, nur belastet. Zwischen beiden Varianten psychoanalytischer Sozialpsychologie (die von ihren kritischen Intentionen her doch nah beieinander lagen) bestand eher wenig Kontakt; unterschwellig war eine Distanz, wenn nicht Rivalität spürbar, die jedoch, soweit ich es übersehe, nicht offen ausgetragen wurde. Richter weitete seine Überlegungen Ende der siebziger Jahre zu einer umfassenden kritischen Gegenwartsdiagnostik, die die von den Frankfurtern ausgemachte »instrumentelle Vernunft« als Produkt der Vermessenheit eines aus der Gott-Losigkeit des modernen Menschen entstandenen gigantistischen Größenselbst verstand. Auf der Basis dieser Grundthese kritisierte Richter in zahlreichen Arbeiten (vgl. z. B. Richter 1992, 1993) die Verherrlichung von Technik und wachstumsversessener kapitalistischer Ökonomie und den achtlos-großspurigen, Angst verleugnenden Umgang mit Krieg, Gewalt und Zerstörung, mit Problemen der Umwelt, Gesundheit und des eigenen Todes.

■ Dahmer Helmut Dahmer vertrat in den sechziger und siebziger Jahren ebenfalls eine Position, derzufolge Psychoanalyse eine der Kritik der politischen Ökonomie entsprechende Kritische Theorie des Subjekts sei. Diese Auffassung entfaltete er in einer damals sehr einflussreichen und anregenden Schrift mit dem Titel »Libido und

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Gesellschaft« (1973). Es gelang ihm, durch eine ebenso intensive wie instruktive Auslegung von Freuds Schriften zu zeigen, inwiefern und wie sehr Psychoanalyse eine Theorie der Leiden und Beschädigungen des Subjekts und zugleich eine Kritik dieser psychischen Wirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse im Subjekt sei. Er trieb dabei die Entsprechungen der beiden Kritischen Theorien so weit, dass das Ich zur buchhalterischen Instanz der Libidoökonomie wurde, einer Art kapitalistischen Unternehmer im Inneren. Dahmer ließ jedoch, anders als Horn und Lorenzer, kaum Ansätze erkennen, Psychoanalyse auch mit anderen sozialwissenschaftlichen Diskursen als dem politisch ökonomischen der damaligen Jahre kompatibel zu machen. Letzten Endes lag hier wohl der Grund, wieso Dahmers wissenschaftliches Wirken nach der Publikation seines Hauptwerks mehr und mehr ins Abseits geriet und kaum noch Aufmerksamkeit erzielte.5

■ Brede Die Soziologin Karola Brede, die von 1967 bis 2004 am SigmundFreud-Institut arbeitete, war wie Horn und Lorenzer vom Denken der Frankfurter Schule geprägt. Sie stand jedoch von Anfang an dem Schritt, Psychoanalyse konsequent als Sprach- und Interaktionstheorie zu reformulieren, skeptisch gegenüber (Brede 1976). Auch schloss sie sich nicht der Auffassung an, dass sich Psychoanalyse und kritische Gesellschaftstheorie aufgrund einer gemeinsamen logischen Struktur theoretisch zusammenführen lassen. Stattdessen bestimmte sie das Verhältnis beider Disziplinen, anknüpfend an die erste Generation der Kritischen Theorie zwar als komplementär, jedoch von der logischen Struktur her als äußerlich. Aus dieser Position heraus entwickelte sie einen Ansatz, der soziologische Handlungs- und Identitätstheorie à la Mead und psychoanalytische Persönlichkeitstheorie als je eigene theoretische Perspektiven zueinander in Beziehung zu setzen trachtete (Brede 5 Hierzu trug wohl auch sein Scheitern im Machtkampf um die Herausgeberschaft der Zeitschrift »Psyche« Anfang der 90er Jahre bei, deren Redaktion und Herausgebergremium er über lange Jahre angehört hatte.

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1995a). Da diese Operation vor allem im Hinblick auf forschungspraktische Fragen ausgeführt wurde, werde ich auf ihren diesbezüglichen Ansatz an anderer Stelle (Busch, in Vorb.) noch eingehender zurückkommen.

■ Erdheim Großen Einfluss auf die psychoanalytische Sozialpsychologie im deutschsprachigen Raum gewann in den achtziger Jahren der Ansatz des Ethnologen und Psychoanalytikers Mario Erdheim. Er war zwar nicht aus dem Kontext der Kritischen Theorie entwickelt worden, stand mit den dort vertretenen Positionen aber in enger Verbindung. Erdheim ist auch einer derjenigen Autoren, die streng genommen nicht der Frankfurter »Szene« psychoanalytischer Sozialpsychologie zugerechnet werden können. Er wirkt in Zürich und versteht sich in der Tradition der Ethnopsychoanalyse Parins und Morgenthalers. Wegen seiner Bedeutung und weil seine Position in Frankfurter Kreisen regen Widerhall fand und er selbst in Frankfurt an der J. W. Goethe-Universität lehrte, ist es nicht nur legitim, sondern erforderlich, seine Denkanstöße hier zu würdigen. Eigentlich wäre es angebracht, den umfassenderen Kontext der Ethnopsychoanalyse einzubeziehen; im Rahmen dieser Arbeit dürfte es aber genügen, Erdheims Ansatz als den theoretisch und forschungsmethodologisch6 avanciertesten stellvertretend herauszugreifen. Erdheims Hauptargument war, dass das Unbewusste jedes Individuums zwar vornehmlich durch die persönliche Lebensgeschichte geprägt ist, aber immer auch gesellschaftliche Anteile hat. Letztere bestimmt er im Anschluss an Devereux als das »gesellschaftliche Unbewusste« (Erdheim 1982). Jede Gesellschaft ist zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnung und Stabilität, so schließt Erdheim weiter, auf die »Produktion gesellschaftlicher Unbewusstheit« (Erdheim 1982) angewiesen. Anders als für die Hauptrichtung psychoanalytischer Sozialpsychologie ist für ihn nicht in erster Linie die Familie die Produktionsstätte dieser Form von Unbe6 Der ethnopsychoanalytische Forschungsansatz von Erdheim und Nadig wird in einer eigenen Publikation (Busch, in Vorb.) vorgestellt.

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wusstheit. Der Zugriff der Gesellschaft und ihrer ideologischen Ansprüche erfolgt vielmehr wesentlich während des Ablösungsprozesses des Einzelnen von seiner Herkunftsfamilie. Deshalb, und das ist das zweite markante und einflussreiche Argument Erdheims, kommt der Adoleszenz großes sozialpsychologisches Gewicht zu. Wie Kulturen die Übergangsphase der Adoleszenz jeweils verstehen und gestalten, entscheidet in hohem Maß über die psychosoziale Verfassung ihrer Mitglieder.

■ Reiche Die Wandlungen der neueren und gerade der Frankfurter psychoanalytischen Sozialpsychologie lassen sich sehr gut am Werk Reimut Reiches verfolgen. Anfangs (Reiche 1966) brachte er die in der Studentenbewegung maßgebliche Psychoanalyse-Rezeption in der Tradition des Freudomarxismus und der Kritischen Theorie auf den Punkt. Nachdem sowohl soziologisch-empirische als auch psychoanalytisch-theoretische Arbeiten zu Fragen der Geschlechtlichkeit von Mann und Frau sowie der Karriereschritt von der soziologischen Identität zum niedergelassenen Psychoanalytiker folgten, wandte sich Reiche in den neunziger Jahren wieder der allgemeinen psychoanalytischen Sozialpsychologie zu. Entgegen der bis dahin herrschenden Auffassung stellte er die Geltung bisheriger Versuche und die Möglichkeit psychoanalytischer Sozialpsychologie grundsätzlich infrage. Schlüsse von individualpsychologischen, aus der psychoanalytischen Behandlungspraxis gewonnenen Erkenntnissen auf sozialpsychologische Gegebenheiten seien fragwürdig und unzulässig. Insbesondere der beträchtliche argumentative Aufwand, mit dem die Kritische Theorie des Subjekts psychoanalytische Sozialpsychologie zu einem eigenständigen seriösen Unternehmen zu machen versuchte, wird von Reiche als vergeblich angesehen, in Bausch und Bogen abgelehnt und radikal demontiert. Der Ansatz, auf Basis der Psychoanalyse oder ihrer Vereinigung mit Gesellschaftstheorie Gegenwartsdiagnostik und Gesellschaftskritik zu betreiben, wird daher verworfen. Übrig bleibt allenfalls das genügsame Sich-Bescheiden auf punktuelle psychoanalytische Ergänzungen leitender sozialwissenschaftlicher

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Groß-Theorien wie der Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. Reiche 1999). So sind auch die Fallanalysen zu FernsehShows und einzelnen Werken moderner Kunst zu verstehen, die Reiche zuletzt ohne den Anspruch einer Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse vorgenommen hat. Hier geht es um hermeneutische Fallrekonstruktionen à la Oevermann (vgl. Busch, in Vorb.), bei denen psychoanalytische Einsichten nur zum Einsatz kommen, soweit sie sich aus der Sprache des Falles ergeben.

■ Heim Robert Heim hat seine wissenschaftliche Sozialisation in Zürich und Paris erfahren, bevor er Anfang der neunziger Jahre nach Frankfurt übersiedelte, sich an der Universität Hannover habilitierte und dort eine außerplanmäßige Professur einnahm. Seine Auffassung von Psychoanalyse ist gleichermaßen durch die philosophischen Anregungen des Strukturalismus wie der Kritischen Theorie bestimmt. Dies erlaubte es ihm, ohne die Dichotomie zwischen Lorenzer und Lacan auszukommen und einen sehr reichen und offenen Ansatz einer philosophisch reflektierten psychoanalytischen Theorie des Subjekts, des Körpers, von Sprachlichkeit und Intersubjektivität vorzulegen. Dieses theoretische Instrumentarium richtet er immer wieder kenntnisreich auf aktuelle Fragen der Zeit, sodass er eine wichtige Stimme psychoanalytischer Gegenwartsbetrachtung bildet.

■ Krovoza und Schneider Alfred Krovoza war kommissarischer Leiter (1986–1992) und Christian Schneider war Mitarbeiter (1987–2002) der Abteilung Sozialpsychologie, später Forschungsschwerpunkt »Psychoanalyse und Gesellschaft«, am Sigmund-Freud-Institut; sie kamen aus Hannover. Beide verfolgten einen von der Kritischen Theorie geprägten Ansatz psychoanalytischer Sozialpsychologie, der, unter dem Einfluss Brückners, stark politisch-psychologisch akzentuiert war. Gegenwartsdiagnostisch lag der Schwerpunkt auf der Analyse

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von Bewusstseinsformationen im postfaschistischen Deutschland. Bei Schneider (zusammen mit Stillke und Leineweber) führte das zu einer äußerst differenzierten und instruktiven generationengeschichtlichen Studie der Weitergabe und des Fortwirkens von Bewusstseinsgehalten aus der Zeit des Nationalsozialismus (s. Busch, in Vorb.).

■ Honneth Axel Honneth ist von seinem Selbstverständnis her sicher nicht vorrangig psychoanalytischer Sozialpsychologe. Als Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Habermas sowie seit einigen Jahren als Direktor des Instituts für Sozialforschung setzt er vor allem die sozialphilosophische Tradition der Kritischen Theorie fort. In seinem Konzept der Anerkennung hat er psychoanalytischen Gehalten einen bestimmten Platz zugewiesen. Das objektbeziehungstheoretisch-entwicklungpsychologische Denken Winnicotts dient ihm als sozialisationstheoretische Stütze seines intersubjektivistischen Modells menschlicher Praxis. Mit der Konzentration auf die Rezeption der Erkenntnisse dieser neueren psychoanalytischen Schule steht er nicht allein. Jessica Benjamin hat diesen Weg bereits vor ihm beschritten. Andere Autoren wie Dornes, Altmeyer und Reiche liefern mit ihren Arbeiten auf unterschiedliche Weise Argumente, die die theoretische Grundlage dieses Modells stützen und verbreitern.

■ Die Weiterführung der Kritischen Theorie des Subjekts Die Kritische Theorie des Subjekts hat zumindest in Ansätzen Schulen bildend gewirkt. Dies gilt insbesondere für Lorenzer, der als Professor für Soziologie an der Frankfurter Universität einen beträchtlichen Kreis junger produktiver Wissenschaftler um sich scharte. Horn hingegen hatte am Freud-Institut (eine Universitätsprofessur übte er nur die letzten vier Jahre bis zu seinem frühen

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Tod aus) weniger Kontakt zum akademischen wissenschaftlichen Nachwuchs. Er betrieb vor allem den Arbeitskreis Politische Psychologie (innerhalb der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, DVPW), seit 1973 eine wichtige Gruppierung und Plattform psychoanalytischer Sozialpsychologen im deutschsprachigen Raum, die ihren Denkansatz mit dem Anspruch des politischen Geltendmachens individueller Subjektivität verbanden (vgl. Busch u. Schülein 1999). Zu den Vertretern der speziell von Lorenzer gestalteten »Psychoanalyse als Sozialwissenschaft« in Frankfurt – ich beschränke mich auf die wichtigsten und heute noch am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmenden – zählen B. Görlich, U. Prokop, G. Schmid Noerr, H.-D. König, H.-J. Busch und R. Haubl.7 Bernard Görlich war wohl der engste Schüler Alfred Lorenzers, der auch einige Arbeiten zusammen mit ihm verfasste. Sein Augenmerk galt vor allem der Pflege und Vertiefung der von Lorenzer verfolgten Zusammenführung von Psychoanalyse und Kritischer Theorie. Hervorzuheben sind seine kritischen Arbeiten zu Erich Fromm und zur Radikalität und Unbestechlichkeit des freudschen Denkens als Anwalt eines nicht bloß durch seine gesellschaftliche Umwelt gesteuerten, vielmehr widerständigen Subjekts. Ulrike Prokop richtete, in ebenfalls sehr enger Zusammenarbeit mit Lorenzer, die kulturanalytische Perspektive seines Werks auf die psychohistorische Situation des aufkommenden Bürgertums. Zugleich zeigte sie in ihren Studien zu Cornelia von Goethe, wie sich das modernitätstypische Geschlechterverhältnis in deren hinterlassenen Briefen (und im Kontrast zum Karriereweg des berühmten Bruders) bereits abzeichnete. Gunzelin Schmid Noerr ist der Philosoph unter den Schülern Lorenzers, der infolge seiner wissenschaftlichen Herkunft aus dem Umkreis von A. Schmidt und Habermas jedoch große Unabhängigkeit besaß. Er sorgte für wichtige konzeptuelle Klärungen, den Triebbegriff und die Frage der sprachlichen und sinnlichen Symbolik betreffend. Auch hat er an exemplarischen Arbeiten tiefenhermeneutischer Kulturanalyse mitgewirkt (Schmid Noerr u. Eggert 1986; Belgrad et al. 1988). 7 Weiter wären zu nennen A. Würker, J. Belgrad, S. Scheifele, M. Karlson, M. Dörr aus dem Frankfurter Arbeitskreis Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie sowie E. Rohr und – nicht zu vergessen – der an der Universität des Saarlandes lehrende S. Zepf.

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Hans-Dieter König konzentrierte sich auf die Analyse der sozialpsychologischen Wirkungen der die Einzelnen in erster Linie über Konsum steuernden kapitalistischen Gesellschaft der Spätmoderne. In tiefenhermeneutisch-kulturanalytischen Studien untersuchte er vor allem die mediale Präsentation und Rezeption nationalsozialistischer Propaganda und deren Fortsetzung durch die Neue Rechte in Deutschland, aber auch mediale Auftritte Reagans und Kohls, Bushs und Bin Ladens. Seine diesbezüglichen Arbeiten weisen ihn auch als wichtige Stimme auf dem Gebiet kritischer politischer Psychologie aus. Von ihm stammen zudem wichtige Ansätze, Lorenzers tiefenhermeneutische Kulturanalyse weiterzuführen und ihre konzeptionellen Grundlagen im Hinblick auf die Argumente von Kritikern auszuweisen und zu differenzieren (König 1993, 1996; vgl. auch Busch, in Vorb.). Hans-Joachim Busch bemühte sich um eine sozialwissenschaftliche Erweiterung und Festigung der von Horn und Lorenzer ins Leben gerufenen Subjekttheorie, indem er sie mit Konzepten der Sozialisation, der Intersubjektivität, der Individualisierung und der spätmodernen Gesellschaft abglich. Ferner widmete er sich Fragen der Methodologie und der Reichweite von Aussagen psychoanalytischer Sozialpsychologie und versuchte so, die Möglichkeit der Fortsetzung psychoanalytischer Gegenwartsdiagnose und politischer Psychologie zu klären. Busch sorgte auch (zusammen mit J. A. Schülein) für die Weiterführung des Arbeitskreises Politische Psychologie, dessen Sprecher er seit den späten achtziger Jahren (derzeit gemeinsam mit A. Ebrecht) ist. Rolf Haubl, erst 2002 als Nachfolger A. Lorenzers auf dessen Lehrstuhl und zugleich als Direktor und Leiter des Forschungsschwerpunkts Psychoanalyse und Gesellschaft am Sigmund-Freud-Institut nach Frankfurt übergesiedelt, war gleichwohl in seiner Forschungskonzeption schon frühzeitig auch von den Einflüssen der Sozialisationstheorie und tiefenhermeneutischen Kulturanalyse geprägt. Sein Ansatz profitierte von der relativ unabhängigen Aufnahme dieser Impulse (er war nicht direkt in die Schülerschaft Lorenzers eingebunden) und führte zu deren fruchtbaren Kombination mit emotionssoziologischen, gruppenanalytischen, medien- und organisationstheoretischen und kulturgeschichtlichen Forschungsperspektiven.

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■ Gegenwärtige Lage und Perspektiven Überblickt man die gegenwärtige Lage psychoanalytischer Sozialpsychologie in Frankfurt, so ergibt sich folgendes dreigeteiltes Bild. Zum einen gibt es diejenigen, die sie aus der psychoanalytischen Grundprofession heraus relativ ungebrochen im Sinn »angewandter« Psychoanalyse betreiben. Neben Richter und M. Mitscherlich zählen dazu zum Beispiel Moeller, Mentzos, Rohde-Dachser und Bohleber. In der Mehrzahl sind jedoch die Autorinnen und Autoren, die psychoanalytisches Wissen mit sozialwissenschaftlichem Anspruch zu vermitteln versuchen. Sie bilden, grob gesehen, zwei Lager. Dem einen Lager gehören die intersubjektivistischen Skeptiker beziehungsweise skeptischen Intersubjektivisten an; sie prüfen den psychoanalytisch-sozialpsychologischen Anspruch ernsthaft, um ihn dann zu bestreiten und fallen zu lassen (Reiche) oder auf mikrologische Fallanalysen zu reduzieren (ebenfalls Reiche) oder ihn nur noch unter Rekurs auf die objektbeziehungspsychologische und empirisch-säuglingspsychologische psychoanalytische Entwicklungspsychologie zu erheben (Honneth, Dornes, Altmeyer). Im anderen Lager befinden sich die, die (ohne sich gegen die genannten Neuerungen zu immunisieren) die klassische Triebtheorie und Freuds Auffassung der Kultur nicht einfach abschreiben und der kritischen Sozialisationstheorie des Subjekts und einer darauf gründenden psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Sozialforschung treu bleiben (Busch, König, Görlich, Schmid Noerr, Prokop, Haubl und andere) beziehungsweise mehr oder weniger nahe stehen (Brede, Heim, Krovoza, Schneider). Die erstgenannte Gruppe möchte ich hier nicht näher betrachten. Sie setzt eine von Freud über A. Mitscherlich führende Linie fort, die durch intuitionistisches (und gelegentlich charismatisches) Virtuosentum gekennzeichnet ist. Soziale Tatsachen werden unter Verwendung psychoanalytischer Instrumente direkt und ohne methodologisch vermittelten Ansatz interpretiert, was durchaus einen hohen Ertrag an Einsichten erbringt. Dies führt (und das macht diese Arbeit auch so wertvoll und unentbehrlich) unter anderem dazu, dass Psychoanalyse als gesellschaftlich engagierter Ansatz im Diskurs gehalten wird. Auf der anderen Seite unter-

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bleibt jedoch die Auseinandersetzung um die Erarbeitung einer theoretisch und methodologisch tragfähigen Grundlage einer interdisziplinären Kooperation von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften. Dies wiederum, Erbe der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie, visieren die erwähnten beiden Lager an, sei es aus Überzeugung oder in skeptischer Distanz. Deren Streit geht um das Wie und das Ob: Reiche zum Beispiel kommt zu dem Schluss, die Bemühungen um solch ein Gemeinschaftsunternehmen seien gescheitert und ad acta zu legen; an anderen Stellen äußert er sich weniger radikal und ist sich mit Honneth und anderen einig, dass einzig ein intersubjektivistisches Verständnis von Psychoanalyse die Chance auf interdisziplinären Kontakterfolg haben kann. Die Relevanz und Angemessenheit eines intersubjektivistischen Verständnisses wird von den Vertretern der anderen Gruppe nun nicht rundweg bestritten; sie sehen damit jedoch nicht zwingend ein Aufgeben der trieb- und subjekttheoretischen Linie einhergehen, die sie vielmehr konsequent beibehalten. Hier setzt sich also der Widerstreit zweier Schulen fort, der ab den siebziger Jahren herrschte, aber nicht beziehungsweise nicht genügend ausgetragen wurde: der Horn/Lorenzer-Schule auf der einen, der Habermas/ Oevermann-Schule auf der anderen Seite. Einige Autorinnen und Autoren wie Brede, Krovoza, Schneider und Heim gehören keinem der beiden Lager an, nehmen aber auch keine bloße Mittelstellung ein; indem sie psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialforschung auf dem Boden kritischer Theorie fortführen, ohne offensichtlich die Bedenken Reiches und die Beschränkung auf die Linie eines reinen Intersubjektivismus zu teilen, haben sie mehr Gemeinsamkeiten mit der von Horn und Lorenzer geprägten Richtung.8 Ich sehe in den Formen neuer Pluralität, die diese Lagebeschreibung ergibt, viele wichtige Impulse für eine Fortführung des psychoanalytisch-sozialpsychologischen Diskurses. Die Argumentati8 Deren Foren sind gegenwärtig der Arbeitskreis Politische Psychologie innerhalb der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, die Arbeitsgruppe Psychoanalyse – Gesellschaft – Kultur (deren Mitglieder die Autoren dieses Bandes sind) sowie der Arbeitskreis Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie.

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onen, die dabei entstanden sind, setzen unterschiedliche Akzente, stehen einander aber nicht unvereinbar gegenüber oder schließen einander aus. Sie beruhen auf subjekttheoretischen oder intersubjektivitätstheoretischen Annahmen sowie auf dementsprechend differenten Auffassungen der Psychoanalyse. Mir scheint aber, dass dabei die Gemeinsamkeiten, die dennoch bestehen, übersehen werden und in den Blick gerückt zu werden verdienen. Wenn ich dieses Ziel nunmehr verfolge, so geschieht dies in der Hoffnung, es könnten jedenfalls die Konturen eines Dachs entstehen, unter dem sich die Positionen Frankfurter psychoanalytischer Sozialpsychologie zusammenführen lassen. Wenn man eine Fortführung der Tradition der Frankfurter Schule insbesondere im Hinblick auf die Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie anstrebt, dann kommt es auf eine konstruktive Auseinandersetzung mit der genannten Hauptdifferenz an. Meine These ist, dass die Frage des Intersubjektivismus nicht zur unüberwindbaren Hürde eines solchen Einigungsversuchs werden muss. Eine moderne psychoanalytische Sozialpsychologie Frankfurter Provenienz hätte in der Lage zu sein, eine Lösung für diese Frage zu finden – und sie ist dies meines Erachtens auch. Es ist hierzu, denke ich, notwendig, auf die in den sechziger Jahren entstandene Ausgangssituation zurückzublicken, die zu der heute zu registrierenden Ausbildung zweier Richtungen der Verbindung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie in Frankfurt führte. Auf der einen Seite hatte Adorno seine These vom Ende der Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Psychoanalyse revidiert. Er sah nunmehr die Integration der Subjekte in die verwaltete Welt des Spätkapitalismus nicht als besiegelt an; stattdessen sah er sie noch in der Lage, sich gegen die Zugriffe der Gesellschaft behaupten zu können und als autonome Akteure spontan in das gesellschaftliche Geschehen eingreifen zu können. Daher sei es die Aufgabe, den Einfluss des Sozialen im Individuum genau zu untersuchen und in Rücksicht darauf die Bestimmungen von Subjektivität zu entwickeln zu versuchen. Marcuse (1955, 1965, 1967) hatte einen auf die Studentenbewegung (nicht nur in Frankfurt) seinerzeit sehr einflussreichen Vorstoß unternommen, die Psychoanalyse in eine kritische Sozialpsychologie ein- beziehungsweise

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umzuarbeiten. Er legte den Verfall der Bewusstseinsformen im Spätkapitalismus drastisch bloß; jedoch rückte er (durchaus mit Pathos) triebstrukturelle Potenziale einer neuen Sinnlichkeit der Subjekte in den Blick, die eine Überwindung der spätkapitalistischen Wirklichkeit möglich werden ließ. Das »Veralten der Psychoanalyse« war gleichzeitig Zeichen ihrer Unbestechlichkeit und Garant ihrer orientierenden Funktion bei der Erreichung dieses Ziels. Auf der anderen Seite startete Habermas sein monumentales Unternehmen, kritische Theorie der Gesellschaft als Theorie kommunikativen Handelns zu reformulieren. Dabei spielte Psychoanalyse auf ganz neuartige Weise plötzlich eine zentrale Rolle als Verfahren von wissenschaftstheoretischer Bedeutung. Sie wurde als Prototyp einer selbstreflexiven Kommunikation von Subjekten bestimmt. Solcherart kommunikationstheoretisch geadelt, musste die Psychoanalyse auch nicht mehr vorrangig die Zuständigkeit für das Ausloten subjektiver Beschädigungen, aber auch Widerstandspotenziale übernehmen. Im Vordergrund stand nunmehr ihr intersubjektives methodisches Vorgehen, nicht ihre Rolle als Anwältin missglückter, ihr Recht suchender Triebansprüche. Die zugrunde liegende, kontrafaktisch unterstellte Kommunikationsutopie sorgte ja aus sich heraus ausreichend für Anregungen, sich ihr im kommunikativen Alltag immer neu anzunähern. Emanzipatorische Praxis bestand nun im Beheben kommunikativer Verzerrungen, gewissermaßen Beschädigungen der Intersubjektivität, nicht der Subjektivität. Die Regulation von Bedürfnissen wurde dabei gleich mit erledigt. Es standen sich also gegenüber: die Auffassungen a) eines Subjekts im Widerstreit der in ihm Platz greifenden Sozialität und einer davon beschädigten und dagegen aufbegehrenden triebnaturalen Sinnlichkeit und b) eines Subjekts, eingebettet in sprachlichintersubjektive Strukturen, in denen es sich vor die Aufgabe gestellt sieht, seine Triebbedürfnisse kompetent zu artikulieren. Es besteht keine Veranlassung, diesen Stand einer in zwei Linien auseinander strebenden Psychoanalyse-Rezeption innerhalb der Frankfurter Schule ab den sechziger Jahren einfach zu beglaubigen und für alle Zukunft festzuschreiben. Im Gegenteil spricht nichts gegen den Versuch, beide wieder zusammenzuführen. Sowohl der

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eklatante Mangel an intersubjektivistischer Perspektive im Denken Adornos und Marcuses ist offensichtlich wie auch die Blutarmut des libidofrei sich vollziehenden Sprachpragmatismus habermasscher Provenienz. Gegenseitig könnten die Ansätze zusammen die jeweiligen Schwächen des anderen ausgleichen. Das hat mich seinerzeit dazu gebracht, den Vorschlag einer Adorno/Marcuse-Habermas’schen Allianz zu machen (Busch 2001a). Dieser Vorschlag lag für mich deshalb auf der Hand, weil die damals, Ende der sechziger Jahre, entstehende Kritische Theorie des Subjekts hierauf – was immer wieder übersehen wird – bereits angelegt war. Einerseits in den Traditionen einer sinnlichen Vernunft (Marcuse) und eines widerständigen Subjekts (Adorno) wurzelnd und diese systematisch weiterführend, erweiterte sie doch andererseits den Begriff dieses Subjekts um den Aspekt sprachlich-interaktionistischer Bildungsprozesse und fasste Psychoanalyse als hermeneutisches Verfahren der Rekonstruktion gestörter Sprach- und Interaktionsmuster. Die gegenseitige Befruchtung zwischen Habermas und Lorenzer, was die Eröffnung letzterer Perspektive auf Psychoanalyse betraf, kann ja auch gar nicht bestritten werden (Busch 2003b, S. 43). Dass der Dialog zwischen den beiden Protagonisten abnahm, war zu einem Teil wissenschaftsnarzisstischen Eitelkeiten (Freuds »Narzissmus der kleinen Differenz«) geschuldet; hinzu kam die Verlagerung der habermasschen Erkenntnisinteressen im Rahmen seines weit gespannten kommunikationstheoretischen Projekts. Der Dialogabbruch führte in der Folge zu Fehlwahrnehmungen und Ausblendungen (Reiche 1995; Honneth 2001a, S. 241), die eine erneute Kontaktaufnahme erschweren. Ich will versuchen, dies an zwei Punkten zu verdeutlichen. a) Reiche stützte seine These, die psychoanalytische Sozialpsychologie klassisch frankfurterischer Provenienz sei ausgelaugt, auf das Argument, die Fruchtlosigkeit der Zusammenarbeit der Disziplinen Soziologie und Psychoanalyse sei bereits seit Adornos bitter-resignativer Bestandsaufnahme der unhintergehbare Stand der Diskussion, den die Autoren der Kritischen Theorie des Subjekts nur nicht zur Kenntnis genommen hätten. Diese These Reiches fällt schon deshalb in sich zusammen, da Adorno selbst seine Überlegungen später revidiert hatte. Und genau seine dazu führenden Argumente wurden der konzeptuelle Aus-

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gangspunkt der Kritischen Theorie des Subjekts (Adorno 1966, S. 92): die Annahme von Grenzen der Vergesellschaftung im Subjekt, die Forderung nach einer Sozialpsychologie, die in den sozialen Kern der Strukturbildung der Persönlichkeit »eindringt« und »mit Schärfe« und »mit Rücksicht auf die Subjekte« der Frage nachgeht, wie weit die Integrationsprozesse das Ich schwächen oder Gegenkräfte der Selbstbehauptung wecken. Es war also nicht so, dass die Protagonisten der Kritischen Theorie des Subjekts einfach naiv oder ignorant waren, als sie sich anschickten, das Erbe der Kritischen Theorie fortzusetzen. Es lag vielmehr genau in der Logik der von Adorno angedeuteten Überlegungen, nunmehr theoretisch den Blick auf das Subjekt, seine Bildung, Struktur und Sozialisation zu richten, etwas, was im Rahmen Kritischer Theorie zuvor nicht zureichend unternommen wurde (vgl. Busch 2001a). Wenn Reiche also die Auffassung vertritt, Psychoanalyse könne, wenn überhaupt, dann nur im Rahmen einer intersubjektivistischen Konzeption mit Kritischer Gesellschaftstheorie verknüpft werden, dann kann ihm (mit Adorno) entgegengehalten werden, Psychoanalyse sei allenfalls im Zusammenhang einer gründlichen Erforschung von Subjektivität in einem eigenen Ansatz für die Kritische Theorie der Gesellschaft von Interesse. b) Ohne die bei Reiche beabsichtigte Polemik entwickelte A. Honneth im Rahmen der habermasschen Auffassung von Psychoanalyse eine intersubjektivistische Position, die ihm ja auch beträchtlichen Widerspruch eintrug (Whitebook 2001; Busch 2003a). Dabei unterlief ihm eine in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Fehleinschätzung speziell der lorenzerschen Subjekttheorie, der er ihren Mangel an einer ausgeprägten Konzeption von Sozialisation vorhielt (Honneth 2001a, S. 241). Nun war es aber gerade eine der wichtigsten Leistungen Lorenzers, ein interaktionistisches Sozialisationskonzept auf psychoanalytischer Basis (einschließlich damaliger Erkenntnisse der Säuglingsforschung) formuliert zu haben. Ich vermute, dass ein Grund für die hier bestehenden Sichtblenden (auch Reiches, vgl. Busch 2001b) die Betonung war, die Lorenzer anfangs auf den historisch-materialistischen Charakter seines Unternehmens legte. Manche Formulierungen (»Mutter = Gesamtarbei-

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ter«) gehen dabei sicherlich auf das Konto einer legitimatorischen Eingliederung in die Kanonik der Anfang der siebziger Jahre herrschenden marxistischen Theoriesprache. Gerade die erwähnte Formel war aber theoretisch keineswegs substanziell und führte nicht zu einem gesellschaftstheoretischen Kurzschluss von Subjektivität. Der, und das zeigt die ganze Anlage des lorenzerschen Subjektmodells, sollte ja gerade vermieden werden und dies gelang, meine ich, auch mit Erfolg. Und wenn Honneth die objektbeziehungstheoretischen Ansätze der Psychoanalyse zu alleinigen Ratgebern seiner Anerkennungstheorie (wie Habermas zuvor die Ich-psychologischen Ansätze) macht, so ist darauf zu beharren, dass die dort behandelten Aspekte in der Theorie der Interaktionsformen ebenfalls berücksichtigt sind, aber auf eigene (und geeignetere) Weise maßgeblich werden. Deshalb stelle ich die Auffassung zur Diskussion, der Versuch einer Integration der subjektivistischen und intersubjektivistischen Positionen Frankfurter psychoanalytischer Sozialpsychologie sei am aussichtsreichsten auf der Grundlage der Subjektkonzeption A. Lorenzers durchzuführen. In ihr werden die Probleme der kindlichen Entwicklung und des Aufbaus der Persönlichkeit selbstverständlich von vornherein in Zusammenhang mit der Sozialität, den Objektbeziehungen, Sozialisationsinstanzen, Normen und der Sprache erörtert. Das betrifft insbesondere die Entwicklung der Strukturen der Symbolbildung im Ich, aber auch die Annahme einer unabhängigen kindlichen Kernstruktur von Beginn der Interaktion in der Mutter-Kind-Dyade an, womit, wie in der neueren psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, mit gewissen Implikationen der freudschen Annahme eines primären Narzissmus aufgeräumt wird. Wichtig und ausschlaggebend für meine Wahl dieses Ansatzes ist, dass er diese Neuorientierung der Psychoanalyse vollzieht, ohne Verkürzungen an den ursprünglichen theoretischen Positionen Freuds (zum Beispiel die Triebtheorie betreffend) in Kauf zu nehmen. Denn diesen Preis zahlen etwa die an die Ich- und objektbeziehungspsychologischen Richtungen der Psychoanalyse anknüpfenden Sozialisations- und Interaktionstheorien von Parsons und Habermas bis hin zu J. Benjamin und Hon-

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neth durchweg.9 Weiter ist der Vorwurf, der im auf die Psychoanalyse gerichteten Intersubjektivitätsdiskurs erhoben wird, die Rede vom Subjekt sei unweigerlich in eine monologisch-cartesianische, bewusstseinsphilosophische Tradition eingezwängt und infolgedessen obsolet (Reiche 1995), nicht haltbar. So sehr eine gesellschaftliche und interaktionale Grundlegung der Psychoanalyse auf heutigem Stand sicher unumgänglich ist, lässt sie sich doch im Rahmen einer Subjekttheorie, wie Lorenzers Ansatz zeigt, nicht nur ohne Einbußen vollziehen, sondern sehr gut mit der, für eine angemessene Berücksichtigung der Psychoanalyse ebenfalls unerlässlichen, naturhaft-leiblichen Dimension von Subjektivität vermitteln. Der intersubjektivistischen Denkrichtung hingegen ist ihrerseits entgegenzuhalten, dass ihr diese letztere Dimension abhanden kommt. Psychoanalyse lässt sich aber nicht zu einer bloßen Beziehungstheorie verkürzen, auch wenn es zugleich stets darauf ankommt zu zeigen, dass dies ein für sie wesentliches Element oder Charakteristikum ist. Sie ist immer auch beziehungsweise immer schon gegründet auf ein triebhaft-leibliches Verständnis des Menschen, das zwar stets auf Intersubjektivität verwiesen ist, jedoch grundsätzlich über sie hinausragt beziehungsweise ihr vorausgeht (vgl. Busch 2003a). Die Vertreter einer solchen Psychoanalyse-Rezeption übersehen zudem, dass dieser Aspekt überständiger, überschüssiger, leiblichaußersprachlich verwurzelter Subjektivität auch in die Auffassungen für die Objektbeziehungstheorie maßgeblicher Autoren wie M. Klein und Winnicott eingeht. So hat etwa der intersubjektivitätstheoretisch gern in Anspruch genommene Winnicott (1988, S. 170) immer an der Vorstellung eines vorgeburtlich schon existierenden unabhängigen Ich-Kerns festgehalten. Damit verbunden ist in seiner Theorie die Annahme der absoluten Isolation des heranreifenden Individuums10 im vorgeburtlichen und frühen postnatalen Stadium (Winnicott 1988, S. 184). »Dieses fundamentale und angeborene Alleinsein, aus dem das Leben seinen Anfang 9 Zur Auseinandersetzung mit den entsprechenden Arbeiten von Parsons und Habermas vgl. Busch (1985), mit J. Benjamins Ansatz vgl. Busch (2001a). 10 Auf diesen Aspekt bin ich durch eine Diskussionsbemerkung des Wiener Psychoanalytikers Felix de Mendelsohn aufmerksam geworden.

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nimmt« (Winnicott 1988, S. 189), ist eine dem Menschen zutiefst innewohnende Erfahrung »von ungeheurer Bedeutung« (S. 191). Diese Bedeutung tritt, wie Winnicott (1988, S. 218) weiter schließt, darin zutage, »dass im Tiefsten jedes Individuum für immer und ewig vollkommen isoliert bleibt«. Diese Überlegungen Winnicotts halten, so sehr sie auch bemüht sind, den Schwierigkeiten der freudschen Triebtheorie zu begegnen, immer noch das Wissen um frühe leiblich-präreflexive Schichten im Persönlichkeitsaufbau wach, die auch in den zunehmenden intersubjektiven Verwicklungen der Lebensgeschichte nicht aufgehen. Und das unterscheidet sie von den sich auf sie berufenden Ansätzen einer strikt intersubjektivistischen Lesart der Psychoanalyse. Um meine Position zu rekapitulieren: Ich sehe in der gegenwärtigen psychoanalytischen Debatte kein Konzept, das – bei aller Vorläufigkeit und Unvollständigkeit – die begriffliche Öffnung zu den Sozialwissenschaften so konsequent, breit und elaboriert vorangetrieben hat, wie die auf dem Boden der kritischen Theorie des Subjekts entstandene Theorie der Interaktionsformen.11 Dieser sozialisationstheoretische Ansatz vermittelt Psychoanalyse und Sozialwissenschaft erst wirklich und führt über äußere terminologische Verbindungen wie etwa »Sozialcharakter« hinaus. Bisherige Verknüpfungen beider Disziplinen scheiterten regelmäßig an der Aufgabe, die sozial-naturale Bildungsgeschichte der Subjektstruktur wirklich nachzeichnen zu können und begreifbar zu machen. Wenn Freud bereits feststellte, das Ich sei Niederschlag seiner Objektbeziehungen, so macht die Theorie der Interaktionsformen damit programmatisch ernst. Gleichzeitig vermag sie den naturalen Anteil an sozialem Handeln im Spiel zu halten und verschafft damit dem freudschen Triebpostulat weiterhin Geltung. Psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Diskurs werden ineinander überführbar, ohne dass Ersterer damit seine Identität verliert. Wenn ich somit einer Fortsetzung kritischer psychoanalytischer Sozialpsychologie auf der Grundlage der Kritischen Theorie des Subjekts und insbesondere der Theorie der Interaktionsformen 11 Ob das sicher auch für einen solchen Versuch sich anbietende Theoriemodell Lacans sich hierzu wirklich eignen würde, vermag ich nicht zu beurteilen; vgl. hierzu sehr instruktiv Heim (1993).

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das Wort rede, so geht es mir doch keineswegs um bloßes orthodoxes Beharren auf dieser theoretischen Position. Fatal wäre gewiss Rechthaberei, etwa nach Art von »Das hat die Theorie der Interaktionsformen schon immer gewusst«. Vielmehr sieht sich dieser Ansatz heute einer Reihe von Herausforderungen gegenüber, denen er sich zu stellen hätte. Neben der schon erörterten Frage des Intersubjektivismus und der weiter unten behandelten Problematik psychoanalytisch-sozialpsychologischer Gegenwartsdiagnose zählen dazu meiner Ansicht nach zwei weitere Entwicklungen. Die eine betrifft die fortgeschrittenen Erkenntnisse der empirischen psychoanalytischen Säuglingsforschung, die ihre wesentlichen Impulse wohl Daniel Stern verdankt, und die Martin Dornes verdienstvoll zusammengefasst und theoretisch reflektiert hat. Es müsste geprüft werden, ob Lorenzers Annahmen den Ergebnissen und Schlussfolgerungen dieser Forschungsrichtung standhalten und inwiefern seine Sozialisationskonzeption zu modifizieren beziehungsweise zu revidieren wäre. Die andere Entwicklung sind die immer mehr Einfluss beziehungsweise Druck auf die psychoanalytische Konzeption generell ausübenden Einsichten der derzeit boomenden Neurowissenschaften. Hier wäre zu erörtern, welche Aktualität Lorenzers eigene frühzeitige Vorstöße auf dieses Gebiet (Lorenzer 2002) heute haben und wie sie zu einer Behauptung von Sozialisationstheorie gegenüber einer neuronalen Naturwissenschaft vom Menschen beitragen können.12 Psychoanalytische Sozialpsychologie ist stets mit dem Anspruch gegenwartsdiagnostischer Aussagen verbunden gewesen. In Frankfurt wurde dieser Anspruch selbstredend auch erhoben, andererseits aber auch immer wieder infrage gestellt (Adorno 1955; Reiche 1995). Die theoretischen Bemühungen der Kritischen Theorie des Subjekts waren sehr darauf bedacht, das begriffliche Instrumentarium so zu verbessern, zu revidieren und zu erneuern, dass es die Treffsicherheit solcher Aussagen zu erhöhen ermöglichte. 12 Wie aussichtsreich eine solche Frageperspektive wäre, belegt eine Äußerung des renommierten Hirnforschers Gerhard Roth (2006) im Rahmen eines Gesprächs in der »Zeit« aus Anlass des 150. Geburtstags Freuds: Es sei »die große Herausforderung«, »die Hirnforschung zumindest in Teilen als Sozialwissenschaft zu sehen«, »die Gesellschaft« gehe »mitten durch das Gehirn«.

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Diese Anstrengungen haben zu keinem abschließenden Resultat geführt; der Stand, auf dem sie sich bereits befinden, lässt aber meines Erachtens erkennen, welche Bedingungen ein solches Unternehmen heute mindestens erfüllen müsste und welche Einsichten es zulässt. Dies habe ich an früherer Stelle breiter ausgeführt (Busch 2001a, S. 220ff.). Hier möchte ich mich zum Schluss auf ein grundsätzliches Argument beschränken. Zumeist sind formelhafte psychoanalytisch-sozialpsychologische Bestimmungen für eine ganze Gesellschaft aufgestellt worden (Sozialcharakter usw.), die den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft nicht mehr zum Ausdruck zu bringen vermochten. Die Argumentation Freuds in »Das Unbehagen in der Kultur« weist dagegen bereits einen anderen Weg. Sie hält eine psychische Verfassung beziehungsweise Stimmung der Individuen und die ihr äußerliche soziokulturelle Lage erst einmal auseinander. Und – vor allem – sie betont die Differenz zu individueller Psychopathologie. Denn in der Tat kann nicht die Annahme gelten, gesellschaftliche Verhältnisse würden direkt auf sie zurückzuführende tiefgreifende psychische Schädigungen hervorrufen, so oft sie dafür auch wirksame Grundbedingungen abgeben. Genau dies ist der Ansatz der Kritischen Theorie des Subjekts. Ihr zufolge setzen sich gesellschaftliche Bedingungen nicht eins zu eins über Sozialisationsprozesse in Subjektstrukturen um. Anders herum gedacht: Die Bildung von Subjektstrukturen ist nicht bereits von frühester Kindheit an allein von der Logik des geltenden gesellschaftlichen Systems geprägt. Wie schon die Alltagserfahrung zeigt, kommt es stets zu je-individuellen biographischen Verläufen vor äußerlich identischen mikro- und makrostrukturellen gesellschaftlichen Hintergründen. Dies gilt insbesondere für die moderne Gesellschaft, in der die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemprozesse zwar in erheblichem (und gefährlichem) Ausmaß im Gange ist, keineswegs aber zu deren vollkommenen Okkupation geführt hat. In diesem Sinne sprechen Sozialwissenschaftler wie etwa Beck und Giddens immer auch von den Chancen, die gesellschaftliche Modernisierungsprozesse heute nach wie vor eröffnen. Mit der Kritischen Theorie des Subjekts kann der psychostrukturelle Teil dieser Konstellation sehr gut erfasst werden. Sie bewahrt begrifflich die Möglichkeit der Eigenständigkeit des Subjekts, entfaltet differenziert

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seinen Sozialisationsprozess und die Vielfalt an symbolischen Artikulationsmöglichkeiten und Fehlbildungen. Damit kann analysiert werden, ob und wie sich Subjektivität immer noch und weiterhin gesellschaftlich angemessen zur Geltung bringen kann. Unbehagen in der Kultur, aber auch »repressive Entsublimierung«, »vaterlose Gesellschaft« und »Gotteskomplex« sind weiterhin gültige sozialpsychologische Befunde heutiger psychosozialer Strukturen; den damit erfassten Verhältnissen können die Subjekte zwar nicht entrinnen, sich aber besser, verträglicher in ihnen einrichten und vielleicht sogar manches daran ändern. Wenn die damit zusammenhängenden psychischen Grundhaltungen undurchschaut die sozialisatorischen Interaktionen einseitig und gesellschaftlich flächendeckend dominieren, wird sich die Subjektbildung in Illusionismus, Konsumismus, Vorurteilshaftigkeit und Destruktivität erschöpfen und zu politischer Einfallslosigkeit, Einseitigkeit oder gar Lähmung und Apathie führen. Werden sie aber, wie es ja dem Postulat einer »reflexiven Moderne« adäquat wäre, aufgebrochen, bleiben beziehungsweise werden sich die Subjekte ihrer Beschädigungen inne, dann erhalten sie sich Authentizität, Lebendigkeit und die Fähigkeit zu konstruktiver politischer Beteiligung. Sozialisationstheoretisch beziehungsweise persönlichkeitsstrukturell heißt die Alternative: Symbolisierung versus Desymbolisierung. An ihr lassen sich mithilfe der entsprechenden begrifflichen Instrumente die Maßstäbe für das (relative) Gelingen oder Misslingen subjektiver Strukturbildung gewinnen. Werden die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nur dumpf empfunden, dann schlagen die genannten Befunde (denen andere hinzuzufügen wären; vgl. Busch 2001a, S. 233ff.) subjektdeformativ durch. Das Erleben der Widersprüche der fortgeschrittenen Moderne wird durch schablonenhafte Pseudokommunikation getilgt. Sich diesem Erleben zu stellen, ist dagegen sicher nicht einfach, wohl nur um den Preis melancholischer Schwere möglich (vgl. Busch 2005; Haubl 2005a). Doch es wird damit die neuerdings verstärkt diagnostizierte allgemeine Depressivität vermieden, die ein Zeichen von Ausweglosigkeit, innerer Leere und Betäubung der Symbolfunktionen ist. Den inneren, oft widerstreitenden Bedürfnisansprüchen nicht auszuweichen, sondern sie symbolisch zu verarbeiten und der Verständigung mit (sich und) anderen zugänglich zu

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machen, ist seelisch sicher aufwendiger, aber dem subjektiven Wohlbefinden und der individuellen Autonomie zuträglicher. Das Subjekt lässt sich dann nicht blind im Strom der gesellschaftlichen Wirklichkeit treiben, sondern greift ein, hält inne und übernimmt Verantwortung für sich und andere. Hierfür will die Kritische Theorie des Subjekts den Blick frei- und den Weg offen halten. Es zeigt sich zugleich, wie wichtig eine auf den gegenwärtigen Stand gebrachte psychoanalytische Sozialpsychologie heute ist und wie bedeutend dafür weiterhin die Beiträge ihrer Frankfurter Dependance sind. Daher verstehe ich meine Überlegungen auch als Anregung, dem psychoanalytisch-sozialpsychologischen Diskurs neuen Schwung zu verleihen und die Ermüdung und Enttäuschung zu überwinden, die so manche illusionäre Erwartung an eine gesellschaftskritisch gewendete Psychoanalyse zurückließ. Denn es ist auch bei nüchterner Betrachtung genügend Substanz an psychoanalytisch-sozialpsychologischem Denken vorhanden, an die angeknüpft und auf die aufgebaut werden kann. Vor allem aber erfordern die Probleme der späten Moderne mehr denn je einen Ansatz, der die auf der Makroebene sich vollziehenden Veränderungsprozesse mit dem Befinden am »Seelenende dieser Welt« (Freud 1950a, S. 194) in Zusammenhang zu bringen in der Lage ist. Denn ohne die Analyse der unbewussten Dimensionen der Wechselbeziehungen zwischen den Individuen und ihrer Gesellschaft kann die sozialwissenschaftliche Reflexion der gesteigerten Entwicklungsdynamik gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse nicht gerecht werden. Daran hat sich seit den sozialpsychologischen Anfängen der Kritischen Theorie in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts grundsätzlich nichts geändert.

■ Literatur Ich habe dieses Literaturverzeichnis umfassend angelegt und mich, anders als üblich, nicht auf die ausdrücklich im Text genannten Arbeiten beschränkt. Dies hängt mit der summarischen Behandlung von Autoren und Positionen zusammen, in die mehr Stoffmaterial einfließt, als es die korrekte Zitierform wiedergeben

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kann. Auch verfolge ich damit die Absicht, einen Eindruck vom Schriftenreichtum, den Diskussionsbezügen und der Themenvielfalt psychoanalytischer Sozialpsychologie in Frankfurt zu vermitteln, der über das hinausgeht, was im Rahmen eines solchen Übersichtsaufsatzes behandelt werden kann. Ich verbinde also mit diesem ausführlichen Literaturteil eine Einladung zum Weiterlesen und mache dazu noch eigens auf die Bibliographien von Goertzen (1982), König (1987), Bareuther (1998) und in »Politisches szenisch entschlüsseln« (1997) aufmerksam. Adorno, T. W. (1950): Der autoritäre Charakter. Frankfurt a. M., 1973. Adorno, T. W. (1951): Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda. In: Dahmer, H. (Hg.): Analytische Sozialpsychologie, Bd. 1. Frankfurt a. M., 1980, S. 318–341. Adorno, T. W. (1952): Die revidierte Psychoanalyse. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften 8: Soziologische Schriften 1. Frankfurt a. M., 1972, S. 20– 41. Adorno, T. W. (1954): Bemerkungen über Politik und Neurose. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften 8: Soziologische Schriften 1. Frankfurt a. M., 1972, S. 434–439. Adorno, T. W. (1955): Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften 8: Soziologische Schriften 1. Frankfurt a. M., 1972, S. 42–85. Adorno, T. W. (1966): Postscriptum. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften 8: Soziologische Schriften 1. Frankfurt a. M., 1972, S. 86–92. Altmeyer, M. (2003): Im Spiegel des Anderen. Anwendungen einer relationalen Psychoanalyse. Gießen. Bareuther, H. (1998): Bibliographie der Schriften von Klaus Horn. In: Horn, K.: Soziopsychosomatik. Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts, Bd. V. Hg. von H.-J. Busch. Gießen, S. 200–237. Belgrad, J. (1992): Identität als Spiel. Eine Kritik des Identitätskonzepts von Jürgen Habermas. Opladen. Belgrad, J.; Karlson, M.; Scheifele, S.; Schmid Noerr, G. (1988): Von unschuldigen Deutschen und ihren Opfern. Über die Wirkungsformen einer »großen Rede«: Richard von Weizsäcker und der 8. Mai 1945. In: Schmid Noerr, G. (Hg.): Metamorphosen der Aufklärung. Vernunftkritik heute. Tübingen, S. 174–188. Bohleber, W.; Leuzinger, M. (1981): Narzißmus und Adoleszenz. Kritische Bemerkungen zum »Neuen Sozialisationstypus«. In: Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hg.): Die neuen Narzißtheorien: Zurück ins Paradies? Frankfurt a. M., S. 119–132.

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H.-J. Busch · Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt

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■ Johann August Schülein

Psychoanalyse und Soziologie – Schwierigkeiten eines sinnvollen Diskurses

Es schien nahe zu liegen, Psychoanalyse und Soziologie in Kontakt zu bringen. Freud ist ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Psychoanalyse nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Verpflichtung hat, auch zum Verständnis gesellschaftlicher (in seiner Diktion: »kultureller«) Themen beizutragen. Und er hat von der »Kulturellen Sexualmoral« bis zum »Mann Moses« eine ganze Reihe von entsprechenden Arbeiten mit weitreichenden Ambitionen verfasst. Die »Zukunft einer Illusion« (Freud 1927c) beispielsweise enthält in nuce eine komplette Theorie der Funktionslogik menschlicher Gesellschaften.1 Zumindest für die erste Generation seiner Schüler (von Róheim2 bis Reich3) war es selbstverständlich, diese Möglichkeiten zu nutzen und auszubauen. Auch seitens der Soziologie gab es interessierte Reaktionen auf die Psychoanalyse. Eine ganze Reihe prominenter Soziologen hat 1 Allerdings operiert Freud hier auf dem Niveau früher funktionalistischer Vorstellungen. Formal wie inhaltlich argumentiert er ähnlich wie Hobbes: Menschen haben bestimmte Eigenschaften, daraus ergeben sich notwendige Konstitutionsbedingungen von Gesellschaften, die sich um diese anthropologischen Kernthemen organisieren. Originell ist dabei vor allem die Hervorhebung psychodynamischer Bedürfnisse und deren Verarbeitung; problematisch naturgemäß die Selektivität und Kurzschlüssigkeit der Konstruktion (vgl. G. W. Bd. XIV, kritisch dazu z. B. Fromm 1932; Nolte 1970). 2 Róheim steht für eine »rechtsfreudianische« Sozialpsychologie. Hier dominiert die Vorstellung, dass das humane Problemprofil direkt die soziale Wirklichkeit bestimmt und deren Freiheitsgrade bzw. Entwicklungspotenzial entsprechend begrenzt sind. So wird beispielsweise nicht nur der Ursprung, sondern auch die weitere Entwicklung der Ökonomie aus der Mutter-Kind-Beziehung abgeleitet (bzw. darauf reduziert) (vgl. Róheim 1970).

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sich dafür eingesetzt, beide Wissenschaften zu verbinden – nicht nur so genannte Linke (Marxisten, Vertreter der »Kritischen Theorie«), sondern auch Funktionalisten, Strukturalisten und andere mehr.4 Sicher ist nicht alles, was dabei entstand, von bleibendem Wert. Vieles, was geschrieben wurde, wirkt heute seltsam bis bizarr5 und ist nur noch von dogmengeschichtlichem Interesse (was sicher kein ausschließliches Merkmal dieses Diskurses ist). Aber es gibt auch Arbeiten, die nach wie vor taufrisch und lesenswert sind. Von Fromms frühen Arbeiten – etwa über das »Christusdogma« und die »Furcht vor der Freiheit« – bis zu den Arbeiten von Riesman (1950), Mitscherlich (1963), Lasch (1979) und Sennett (1998) gibt es eine solide Tradition von psychoanalytisch inspirierter Gesellschaftsanalysen. Daneben hat sich ein intensiver Diskurs im Bereich der Organisationsforschung etabliert (vgl. Sievers et al. 2003), da hier vor allem bei Beratung, Supervision und so weiter weder die Fach- noch die Perspektivenbegrenzungen hilfreich sind. Insofern waren und sind die Aussichten auf eine erfolgreiche 3 Reich ist ein Exponent einer »linksfreudianischen« Sozialpsychologie. Aus dieser Sicht sind Freuds Überlegungen Generalisierungen von zeitspezifischen Gegebenheiten, genauer: von Effekten kapitalistischer Ökonomie. Daher wird hier Freud ideologiekritisch hinterfragt; die sozialpsychologischen Gegebenheiten werden als Produkt und damit als veränderbar bzw. verbesserbar angesehen. In seiner »Massenpsychologie des Faschismus« (1933) behandelt Reich entsprechend die Anfälligkeit für faschistische Propaganda als Produkt von Sozialisation und Lebensbedingungen. 4 Während die deutschsprachige Soziologie anfangs sehr kritisch und distanziert reagierte (vgl. Brauns 1981), war die Rezeption in Frankreich (z. B. Bastide 1950) und vor allem den USA z. T. sehr positiv: Man erkannte in den psychoanalytischen Perspektiven erhebliches methodisches (Lasswell 1939) und theoretisches (Burgess 1939; Parsons 1964) Potenzial. Entsprechend entwickelte sich hier eine wesentlich breitere Diskussion und Reflexion (vgl. Hinkle 1957). 5 Das gilt beispielsweise für viele der von stupender Unkenntnis und Unvermögen geprägten Auseinandersetzungen der 20er Jahre (vgl. Sandkühler 1970) und der »Grundsatzdiskussionen« der späten 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Zeitbedingt und mangels hinreichender Kompetenz wird die Psychoanalyse – je nach Bedarf – dämonisiert, idealisiert, instrumentalisiert. Produktive Vermittlungsansätze gehen darin meist unter (vgl. Gente 1972).

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Kooperation eigentlich viel versprechend. Sie findet jedoch nicht statt. Ein Nachruf wäre verfrüht, aber die Lebenszeichen des Diskurses sind spärlich. Die meisten Diskussionen sind weitgehend erloschen. Eine Kultur gemeinsamer Forschung gibt es ebenso wenig wie einen Kernbereich akzeptierter Themen und Methoden, nichts oder wenig hat allgemeine Anerkennung und institutionellen Halt gewonnen. Im Zentrum beider Fächer stoßen sie auf Desinteresse bis Ablehnung, gelten als nicht zum Kernbereich der Tätigkeit gehörig oder werden gar mehr oder weniger als sektiererisch etikettiert. Dies jedoch nicht aufgrund von genauer Prüfung und Kenntnis. Schon deshalb nicht, weil die Psychoanalyse in der Soziologie weitgehend unbekannt ist. Während es noch für die Generation Adorno, König, von Wiese immerhin selbstverständlich war, zumindest Freud einigermaßen zu kennen und sich mit ihm auseinander zu setzen, ist in der Folge der Kontakt weitgehend abgebrochen. Bis auf wenige Ausnahmen – etwa Giddens (1991), in Deutschland: Honneth (2000) oder Bühl (2000) – gibt es kaum Kenntnisse von Freud, geschweige denn von modernen psychoanalytischen Konzepten. Psychoanalyse existiert innerhalb der Soziologie im Grunde nur als Gerücht – und dieses Gerücht unterscheidet sich kaum von den üblichen Vorurteilen, mit denen sich die Psychoanalyse plagen muss: dass sie eine wirre Form von Spekulation über seltsame, herbeiphantasierte Dinge sei. Eine Kontaktaufnahme mit psychoanalytischen Themen und Methoden ist daher praktisch kein Thema. Dies umso weniger, als die Psychoanalyse innerhalb der Soziologie noch mit studentenbewegten Zeiten assoziiert wird, als der Kampf gegen die so genannte bürgerliche Soziologie auch mit Berufung auf Psychoanalyse betrieben wurde.6 Heute ist jedoch alles, was mit 6 Für die meisten Exponenten der Oppositionsbewegung war ausgemacht, dass Gesellschaftstheorie nur als Kritik sinnvoll und objektiv ist und dass Marx, Adorno oder andere dazu die Grundlagen entwickelt hätten. Eine »materialistische Gesellschaftstheorie« benötige jedoch – so eine Reihe von Autoren (z. B. Reimann 1973; Schneider 1973) – als Ergänzung eine passende Subjekttheorie. Dieses Potenzial hatte ihr bereits Adorno, bei aller Kritik, zugestanden: Sie zerstöre den »Schein von Individualität« (1966, S. 343). Viele der aus der Mischung von Marxismus und Psychoanalyse resultierenden Produkte waren jedoch zwiespältig bis abschreckend und/oder grob simplifizierend (wie etwa Duhms Diagnose »Angst im Kapitalismus«, 1972).

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dieser heute als peinlich eingestuften Episode assoziiert wird, mega-out. Umgekehrt sieht es etwas besser aus. Die überfallsartige und schwer verdauliche Zu-Neigung der Achtundsechziger hat auch hier zu Irritationen und Abstoßungsreaktionen geführt. Dennoch gibt es nach wie vor sozialpsychologische Themenstellungen. Wo sich Psychoanalytiker mit Themen befassen, die über individualpsychologische Anwendung hinausgehen, nehmen sie zwangsläufig begrifflichen Kontakt mit sozialer Realität auf. Daher gibt es in ihren Reihen wesentlich mehr praktische und begriffliche Initiativen. Allerdings ist auch hier nicht zu übersehen, dass dieser Kontakt sich oft darauf beschränkt, psychoanalytisches Denken auf soziale Themen anzuwenden.7 Eine wirkliche Verbindung mit soziologischen Fragestellungen und Perspektiven ist meist nicht vorhanden. Auch innerhalb der Psychoanalyse gilt: Die Soziologie ist weitgehend unbekannt. Auch hier hat dies die Konsequenz, dass sie – soweit sie überhaupt Thema ist – als vage Vorstellung existiert. Und die sieht oft so aus: Die Soziologie produziert schwer verständliche Theorien, die über die wichtigen Themen des Lebens nur Oberflächliches zu sagen wissen – und dies äußerst umständlich tun. Das Verhältnis von Psychoanalyse und Soziologie ist daher von beiden Seiten durch Unkenntnis, Vorurteile und auch durch eine strapaziöse Vorgeschichte belastet, um nicht zu sagen: gestört. Die Psychoanalyse lehrt, solche Phänomene nicht einfach abzutun, sondern sie ernst zu nehmen. Auch aus soziologischer Sicht hat ein so eindrucksvolles Scheitern systematische Gründe. Was macht die Sache so schwierig? Zunächst ist jede Art von Interdisziplinarität für die Beteiligten in gewisser Weise ein Auswärtsspiel. Man muss sich auf ungewohnte Themenstellungen und Methoden einstellen; es müssen Regeln der Kooperation entwickelt werden, die für beide Seiten heterogen sind und von beiden Seiten verlangen, ein Stück weit 7 Diese pauschale (Dis-)Qualifizierung ist cum grano salis zu verstehen. Es gab und gibt sehr überlegte methodische Bemühungen zur Integration (z. B. Horn 1998; Erdheim 1988; Parin u. Parin-Matthèy 1986; Busch 2001).

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die eigene Perspektive zu relativieren. Interdisziplinarität verlangt die Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten und Grenzüberschreitungen zu ertragen: das heißt zu akzeptieren, dass es andere Weltsichten gibt und dass andere mit dem, was für die eigene Perspektive zentral ist, relativierend und dezentriert umgehen. Dies hat eine thematische, aber auch eine psychosoziale Seite: Fachstrukturen und -grenzen bieten der psychischen und sozialen Identität Halt und Sicherheit. Daher lösen Irritationen des Fachs (durch Kontakte und Konfrontationen) auch Identitätsprobleme aus.8 Die Kooperation von Soziologie und Psychoanalyse ist jedoch zusätzlich belastet. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der Struktur ihres Gegenstands und den damit verbundenen Problemen der Theoriebildung und Institutionalisierung. Darauf möchte ich etwas näher eingehen (ausführlicher: Schülein 1999, 2002). Themen, die gut identifizierbar und isolierbar sind und die eine konsistente und unveränderliche (also nomologische) Ordnung besitzen, können ohne Verlust an wichtigen Informationen mit abstraktiven Methoden untersucht werden und in denotativen Theorien formuliert werden. Denotative Theorien beschreiben Zusammenhänge mithilfe digitaler Zeichen und formaler Grammatik in Algorithmen, die kontextunabhängig gültig sind. Dies gibt Theorien Sicherheit: im Zugang zu ihrem Gegenstand, in der Begründung ihrer Aussagen und auch in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt. Solche denotativen Theorien sind daher auch vergleichsweise problemlos zu koppeln, weil sie thematisch in einem Ergänzungsverhältnis stehen und methodisch ähnlich verfahren. Wenn sich also Chemiker und Physiker zusammentun, dann haben sie ein geteiltes Paradigma im Hintergrund, das Gemeinsamkeit stiftet und Differenzen neutralisiert. Daher wird keine Seite in ihrer thematischen Identität bedroht, weil jede ihren Themenbereich für sich behält. Der Kontakt zwischen Psychoanalyse und Soziologie ist schwie8 Vgl. Busch (2001). Die daraus resultierenden Kontaktprobleme äußern sich auf vielfältige Weise. Was selten fehlt, sind Prioritätskriterien, Überschätzung der eigenen und Abwertung der fremden Perspektive, kurz: Rangkämpfe und Behauptungsstrategien. Allerdings kann dies über gemeinsame Interessen und auch über soziale Befindungen aufgefangen und neutralisiert werden.

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riger. Beide haben es mit Themen zu tun, denen eine besondere Komplexität eigen ist: Sie ergeben sich aus dem variablen Zusammenspiel von heterogenen Faktoren, besitzen eine prinzipiell nicht berechenbare Eigendynamik, die widersprüchlich sein kann und stets kontingent ist (es gibt immer mögliche Alternativen). Psychische wie soziale Realität sind keine monologische Einheit, sondern (in der Sprache der idealistischen Philosophie ausgedrückt) ein vermittelter Prozess, der sich als ein Mixtum compositum von Ebenen, Dimensionen, Teilprozessen bewegt. Entsprechend folgt sie einer multiplen und variablen Logik. Eng damit verbunden ist das Problem des empirischen Zugangs und der methodischen Kontrolle. Während materiale Realität ein »handfestes« Substrat hat, welches den physischen Sinnesorganen eine direkte und stabile Beziehung bietet, sind psychische und soziale Realität nicht greifbar, sondern nur mithilfe psychischer und sozialer Kompetenzen erschließbar.9 Daraus ergeben sich erhebliche Folgeprobleme, zum Beispiel die Schwierigkeiten, Sachverhalte zu identifizieren, die Möglichkeit, sie unterschiedlich zu interpretieren, das Problem, dass es kaum möglich ist, konsensfähige Methodologien und Theorien zu entwickeln und Ähnliches. Eine solche spezifische Form von »autopoietischer« Realität stellt daher Theorien wie praktische Strategien der Intervention (die ich im Folgenden ausklammere10) vor unlösbare Probleme. 9 Die erkenntnistheoretische Diskussion hat verdeutlicht, dass auch der Kontakt zu – scheinbar – sicher gegebenen Dingen problematisch ist. Aus moderner (konstruktivistischer) Sicht ist jeder Wirklichkeitskontakt ein Produkt mentaler Aktivität (und kein Effekt eines Sinnes-Eindrucks, den die externe Realität erzeugt). Ein zentraler Unterschied liegt jedoch darin, dass Sinneswahrnehmung standardisierbar ist und materiale Realität üblicherweise strikte Regelmäßigkeiten enthält, sodass hier relativ zwanglos eindeutige Konventionen zu finden sind. Dagegen sind psychische und soziale Phänomene nicht nur vielfältiger, sondern in der Wahrnehmung von vorauslaufenden Interpretationsleistungen abhängig. 10 Während nomologische Sachverhalte festlegen, was praktisch möglich ist und es erlauben, diese Möglichkeiten in verwendungsunabhängige Techniken zu übersetzen, bleiben Interventionen in autopoietische Realität immer ein Stück weit unkalkulierbar und unsicher. Entsprechend bleiben sie personen- und situationsgebundene Kompetenzen mit einem Problemprofil, welches dem der Theorien und Methoden entspricht.

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Da ist zunächst die Theoriestruktur. Wirklichkeit, die nicht auf ein immer und überall gültiges Kalkül reduzierbar ist, kann auch nicht in einer rein denotativen Form erfasst werden. Um die Fülle von Möglichkeiten und Wirklichkeiten begreifen zu können, müssen Theorien semantisch offen und syntaktisch flexibel sein, damit es möglich bleibt, die jeweils richtigen Verbindungen und Sinnzusammenhänge herzustellen. Psychoanalyse wie Soziologie arbeiten daher mit konnotativen Theorien. Diese Theorien bestehen aus Begriffssystemen, die nicht nur digitale, sondern auch analoge Modalitäten verwenden, also Wirklichkeit figurativ konstruieren. Begriffe wie »Abwehr« oder »Objektbeziehung« sind (im doppelten Wortsinn) plastische Begriffe, keine algorithmischen Formeln. Sie bilden keine fixe Ordnung und Hierarchie von Axiomen und Gesetzen, sondern ein flexibles System von Verweisungen. Dies ist schon deshalb nötig, weil konnotative Theorien ein Spagat zwischen Einzelfall und Allgemeinheit halten müssen: Jeder Fall ist singulär und braucht eine eigene Theorie. Umgekehrt ist eine allgemeine Theorie nicht einfach der gemeinsame Nenner vieler Fälle, sondern eine Meta-Logik vieler Logiken. Diese MetaLogik selbst kann nicht anders als indifferent sein, weil sie anschlussfähig für viele partikulare Logiken sein muss, ohne jedoch diesen Anschluss gebrauchsfähig bereitstellen zu können. Deshalb sind sie auch keine »Fertigprodukte«, sondern Rezepte, die erst im Gebrauch aktiv werden. Dieser Gebrauch variiert unvermeidlich in der Auswahl und der spezifischen Konfiguration der Dimensionen. Die Gebrauchsabhängigkeit hat auch zur Folge, dass Theorien erst durch den kompetenten Umgang produktiv werden. Eine bescheidene Theorie kann durch intelligenten Gebrauch hochwertige Leistungen erbringen – und natürlich umgekehrt. Auf alle Fälle variiert die Art, wie Theorien aufgefasst werden. Dies hat zur Folge, dass jeder Aneignungsprozess zu eigenen Variationen von Theorie führt und insgesamt keine lineare Theorie-Entwicklung stattfindet, sondern ein permanenter Neu- und Umbau. Unentwegt wird das Rad neu erfunden, wird Gleiches ähnlich und doch anders formuliert, wird vergessen und wieder entdeckt, wird abgegrenzt und kritisiert, scholastisch um Differenzen gestritten, die von außen nur mühsam erkennbar sind. Dies ist keine Frage mangelnder Kompetenz, sondern der un-

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vermeidliche Modus der Selbststeuerung. Konnotative Theorien bedeuten Dissens und Heterogenität. Eine alles umfassende, alles gleich kompetent erklärende Theorie muss zwar immer intendiert und behauptet werden, bleibt aber unerreichbar. Dazu kommt, dass es sie nur im Plural gibt. Die angedeutete multiple Gegenstandsstruktur hat zur Folge, dass verschiedene Theoriestrategien möglich sind. Multiple Logik bedingt daher multiple Thematisierbarkeit, das heißt, es gibt keine exklusive gültige, sondern eine Vielzahl von konkurrierenden Theorien. Deshalb gibt es nicht eine, sondern viele psychoanalytische Theorien, nicht eine Soziologie, sondern viele Soziologien. Und die, zumindest die Letzteren, bilden meist kein Konzert, sondern eher ein Kontrazert: Man kritisiert sich, spricht sich die Kompetenz ab und so weiter. Dies ist jedoch kein bloßes Hobby narzisstisch empfindlicher Exponenten einer Kunst, die zu Abgrenzung und Größenwahn einlädt.11 Der objektive Kern des Problems ist, dass nicht nur verschiedene – nicht alle – Positionen möglich sind, sondern jede strukturell defizitär ist, dass unter Umständen ihre Leistungen mit bestimmten Defiziten erkauft werden. Wahrheit und Irrtum, oft schwer zu trennen, bedingen sich unter Umständen gegenseitig. Daher sind Theorien immer kritisierbar, was die Theoriebalance und -evaluation in jeder Hinsicht erschwert. Kurz: Konnotative Theorien sind riskant und instabil. Sie lassen sich nicht definitiv begründen, bleiben unscharf, partikular und spekulativ. Eine konnotative Theorie bildet daher keine Einheit, sondern einen Thematisierungskorridor mit unscharfen Grenzen. So wie der Gegenstand aus lauter empirischen Singularitäten besteht, existiert Theorie letztlich als Feld von individuellen Auffassungen. Berücksichtigt man diese Probleme, so werden nicht nur interne, sondern auch externe Kontaktprobleme verständlicher. Kon-

11 Allerdings ist es nicht selten so, dass die Bedingungen konnotativer Theorien dazu verführen, sie für persönlichen Expansionsdrang und Selbstinszenierungen zu nutzen. Dagegen erlauben denotative Theorien keine eigenen Ausgestaltungen, sodass hier persönlicher Narzissmus hauptsächlich am Entdeckungs-/Entwicklungsprimat festmacht.

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notative Theorien fehlt die nötige Stabilität, um sich unbefangen auf andere einzulassen. Vor allem dann, wenn sich die Gegenstandsbereiche und Erklärungsansprüche überschneiden oder Thematisierungsstrategien in entgegengesetzte Richtungen zielen, geraten konnotative Theorien geradezu unvermeidlich in Konfrontationen. So auch Psychoanalyse und Soziologie. Soziologische Perspektiven zielen auf die Eigendynamik sozialer Prozesse und abstrahieren dabei stets von personenspezifischen Faktoren in Richtung auf soziale Bedingungen (und betrachten psychologische Argumente prima vista als reduktionistisch).12 Für das Verständnis latenter psychischer Sinnzusammenhänge sind soziale Strukturen nicht nur unerheblich, die Berufung darauf erscheint in diesem Kontext eher als Ablenkung, wenn nicht gar als Abwehr.13 Selbst bei verschiedenen Fragestellungen ist daher eine »friedliche Koexistenz« der Wissenschaften erschwert durch die Notwendigkeit, die jeweils andere Perspektive zu negieren. Dies spitzt sich bei gemeinsamen Fragestellungen noch zu. Wenn gefragt wird, warum bestimmte Organisationen Opfer züchten und schlachten, welche biographischen Prozesse Opfer und Täter zueinander führen und über welche Beziehungsmuster, soziale Wegweiser und Phantasien sie den Weg in passende Organisationen finden, sind die Perspektiven nicht mehr zu trennen und zugleich aufeinander angewiesen. Nur die Soziologie kann der Psychoanalyse helfen, die Frage zu beantworten, welches typische Triebschicksal ein bestimmtes Milieu kennzeichnet; nur die Psychoanalyse kann der Soziologie helfen, herauszufinden, wie das unbewusste Profil einer 12 Dies ist sowohl theoriegeschichtlich als auch gegenstandslogisch sinnvoll: Entstanden ist Soziologie auf der Basis von anthropologisch-psychologischen Konstrukten, aus denen die Logik von Gesellschaft abgeleitet wurde. Erst viel später entstand eine Soziologie, die Gesellschaft aus ihrer Eigenlogik begründete. Dies ging jedoch mit der Tendenz einher, psychologische Argumente gänzlich auszublenden und/oder durch eher schlichte Subjekttheorien zu ersetzen. 13 Auch dies ist ebenso konsequent wie riskant. Konsequent, weil nur auf diese Weise die volle Konsequenz intrapsychischer Dynamik zugänglich wird. Riskant, weil diese perspektivische Vereinseitigung naturgemäß den Umgang mit externer Realität (und Theorien, die sich mit ihr beschäftigen) erschwert.

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sozialen Position aussieht, welche Identifikationen sie anbietet und so weiter. Allerdings steht das Verhältnis von sozialen und psychischen Faktoren nicht fest. Da sie in unterschiedlichen Kombinationen wirksam sein können, müssen Erklärungen ausgehandelt werden. Das bedeutet unvermeidlich Konkurrenz. Damit kann bereits die Themendefinition, erst recht die Bestimmung der Gültigkeit und der Relevanz von Argumenten und die Verständigung über Methoden zu unüberwindlichen Hindernissen werden, weil es immer auch um mehr und anderes geht. Dazu kommt, dass in den meisten Fällen keine der Antworten eindeutig ausfällt, das heißt, verschiedene Theoretiker und Schulen geben auch verschiedene (oft kontroverse) Antworten. Eine ernsthafte Beurteilung der Argumente der anderen Seite ist daher doppelt schwierig, vor allem, wenn man nicht über die dafür erforderlichen Kompetenzen verfügt. Dies ist jedoch kaum zu schaffen, weil der Umgang mit konnotativen Theorien immer unzulänglich bleibt – ganz abgesehen davon, dass sich die Fächer bereits so differenziert haben, dass man unvermeidlich nur noch selektiv informiert sein kann und daher Dilettant schon in vielen Bereichen des eigenen Fachs ist. Die Chance, auch noch die andere Seite auf dem Niveau ihrer professionellen Differenzierung kennen zu lernen, ist daher gering. Diese Konstellation erfordert zusätzliche Kompetenzen, die alles andere als selbstverständlich sind. Wenn sie fehlen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Dialog entgleist. Statt sich interessiert dem zuzuwenden, was die andere Seite zu bieten hat, geht man sich dann auf die Nerven, verwickelt sich in unterschwellige oder auch manifeste Prioritätsstreitereien und Ähnliches. Das kann Chemikern und Physikern in dieser Form nicht passieren. Aber auch für Psychoanalyse und Soziologie handelt es sich zunächst nur um Risiken. Dass daraus Kontaktabbruch wird, ist keineswegs zwingend. Hier kommen weitere Faktoren ins Spiel, etwa die Probleme der Institutionalisierung. In diesem Zusammenhang ist nun bedeutsam, dass Psychoanalyse wie Soziologie nicht nur mit konnotativen Theorien arbeiten, sondern zugleich eine Form von selbstreflexiver Praxis darstellen, das heißt, dass ihr Thema und ihre institutionelle Grundlage sich überschneiden. Sie untersuchen Wirklichkeit mit den Mitteln, die aus dieser Wirk-

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lichkeit selbst stammen, die also Teil der Selbststeuerung dieser autopoietischen Realität sind.14 Thema und Theorie überschneiden sich also – mit der Folge, dass Theorie sich in den laufenden Prozess der Realität einmischt und dadurch auch die eigenen institutionellen Grundlagen tangiert. Zur Instabilität der Theorie gesellen sich daher Selbstthematisierungseffekte. Die Folgen zeigen sich in Geschichte und Sozialstruktur der Psychoanalyse auf eindrucksvolle Weise. Es gibt seit längerem heftige Diskussionen über deren dunkle Seiten. Tatsächlich mangelt es nicht an Episoden, die man – je nach Mentalität – als bizarr bis bedrückend erlebt. In jüngster Zeit ist eine Fülle von wirklichen (und auch vermeintlichen) Skandalen mehr oder weniger intensiv diskutiert worden, wobei sich im Umgang mit Themen dieser Art meist höchst unterschiedliche Interessen, Erklärungsstrategien und Einschätzungen ergeben. Das reicht vom Vergnügen, der Psychoanalyse eins auszuwischen, bis zur Besorgnis, dies alles könne die Psychoanalyse ernsthaft beschädigen, von der Besorgnis über (angebliche oder wirkliche) Fehler und Fehlentwicklungen bis zur Wut über deren (angebliche oder wirkliche) Verheimlichung. Auch dies findet sich in der Geschichte etwa der Physik nicht, jedoch in ähnlicher Form bei anderen Human- und Sozialwissenschaften. Es handelt sich also um Phänomene, die mit Thema und Struktur der Wissenschaft zusammenhängen. Sowohl die Irrungen und Wirrungen der Psychoanalyse als auch der nervöse Umgang damit werden verständlicher, wenn sie im Zusammenhang mit Institutionalisierungsproblemen gesehen werden. Denn Balanceprobleme und Selbstthematisierung haben zur Folge, dass das Schicksal der Theorieentwicklung hier von der Art der Institutionalisierung abhängig ist – anders als bei denotativen Theorien, die sich in ihrer Geltung von ihrer sozialen und psychischen Grundlage völlig lösen. Insofern entscheiden auch instituti14 Auch die Mittel denotativer Theorien stammen aus der sozialen Realität, aber sie können sich von ihrer Genese vollständig lösen und der (inerten) Logik ihres Gegenstands anpassen. Dadurch werden sie kontextfrei formulierbar und benutzbar. Gleichzeitig sind sie von ihrem Thema völlig getrennt, bleiben also reine Objektreflexion, auch wenn sich in ihnen das Reflexionspotenzial von Kulturen spiegelt.

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onelle Verhältnisse darüber, was aus Theorien – auch aus ihrer Kooperationsfähigkeit – wird. Ich hole etwas weiter aus, um diese Zusammenhänge besser verdeutlichen zu können, wobei ich mich auf die Psychoanalyse beschränke (die Problemlage der Soziologie ist strukturell ähnlich, konkret jedoch verschieden, sodass sie getrennt dargestellt werden müsste). Jede Form von Praxis, jede Theorie braucht eine soziale Grundlage. Dem Thema entspricht daher eine soziale Form: die Institutionalisierung des Themas. Institutionen sind, abstrakt ausgedrückt, dauerhafte kontextspezifische Relationierungen, die eine eigene Logik und Dynamik entwickeln und mit ihrer Umwelt in einem komplexen Austauschverhältnis stehen. Etwas bildlicher ausgedrückt sind Institutionen Themen als (abstrakte) soziale Akteure. Zum besseren Verständnis des Schicksals von Institutionen ist es sinnvoll, danach zu fragen, weshalb es sie gibt (welche manifesten und latenten Leistungen erbringen sie, wie behaupten sie sich in ihrem Kontext?), wie sie entstanden sind und sich entwickeln. Wie und auf welchem Niveau sie funktionieren, wie sie sich selbst steuern und von außen beeinflusst werden. Institutionen entstehen und entwickeln sich in einer Abfolge von Phasen mit einem spezifischen Profil. In der Konstitutionsphase geht es vorrangig darum, erste Grundlagen zu entwickeln und (unter Umständen auch gegen den Sog der nivellierenden Umwelt) zu stabilisieren. Dabei wird zwangsläufig mit Grobvarianten und Grobmarkierungen gearbeitet, da die Möglichkeiten und Grenzen der intendierten Praxis noch nicht bekannt beziehungsweise verfügbar sind. Die Genese von sozialen Bewegungen, Organisationen, neue Theorien und Ähnlichem wird getragen vom »Pionier«, einem Sozialtypus, der sich vor allem durch die Fähigkeit zur Grenzüberschreitung und ein gewisses Maß an Desintegration auszeichnet. Die damit verbundene »abweichende« Karriere ist attraktiv für Personen, die mit der herrschenden Normalität nicht zufrieden sind. Was noch durch das Fehlen geordneter Zugangsregeln (Aufnahmeprüfungen, Ausbildungsgänge) verstärkt wird. Diese Ansammlung von exzentrischem Personal hat eine produktive Seite (wo die Grenzen der Normalität überschritten werden können), aber auch eine problematische (weil dezentrierte Identitäten mehr Balanceprobleme bedeuten). Beides sorgt

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dafür, dass die soziale Integration fragil bleibt, zumal die Sozialorganisation dieser Phase naturgemäß rudimentär ist: Sie basiert weniger auf formalen Regulationen als auf persönlichen Beziehungen, mehr auf praktischer Gruppendynamik als auf elaborierter Planmäßigkeit. Die Proto-Institution lebt daher gewissermaßen noch von Tag zu Tag und von Krise zu Krise – von ihrer eigenen Instabilität beziehungsweise Überkomplexität genauso bedroht wie von äußerem Druck. Wenn Institutionen diese Phase überstehen und hinreichende externe Akzeptanz finden (und Ressourcen akquirieren können), geraten sie in eine Phase der Expansion und Differenzierung. Dies hat innere wie äußere Gründe. Äußere, weil ein junges und alternatives Paradigma gegenüber der Normalität in gewisser Weise einen »Attraktivitätsvorschuss« hat: Es zieht Interesse auf sich und gewinnt Orientierungswert. Dies gibt der Institution sozialen Rückenwind, der allerdings dadurch problematisch sein kann, dass dieses Interesse einer anderen Logik folgt als der des Paradigmas selbst. Die interne Entwicklung basiert auf Konsolidierung und Traditionsbildung: sowohl das Paradigma selbst als auch seine soziale Form (etwa Zugangsregeln und Kontrollen) können sich nun bereits auf Erfahrungen berufen, was mehr Sicherheit und differenzierteren Umgang erlaubt. Dies bedeutet jedoch zumeist auch, dass das ursprüngliche Exposé wegen des gesteigerten Problemverständnisses, aber auch wegen des Kanonisierungsbedarfs auf validierbare Kernbereiche reduziert wird. In dieser Phase wird der »Pionier« meist abgelöst von einem Sozialtypus, für den nicht mehr der Durchbruch, sondern die Strukturierung, die verlässliche Organisation im Vordergrund steht – wenn man so will: von »Verwaltern« des Paradigmas. Am Ende dieser Expansionsphase steht der Übergang zur Normalität. Das Verhältnis zur Außenwelt normalisiert sich dadurch, dass die Institution nunmehr in ihrer Welt ein bekannter und sozial definierter Bestandteil ist (was nicht heißen muss: positiv akzeptiert). Der Reiz der Novität ist verschwunden; mit dem fixierten Status ist auch eine Routinisierung des Austauschs und der Beziehungen verbunden. Dies kann auch heißen, dass die Institution auf ein Normalmaß schrumpft, weil die besondere Zuwendung der Expansionsphase wieder verschwindet (was auch seine Vorteile

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hat15). Intern bedeutet Normalisierung vor allem, dass der Zugang gebahnt und standardisiert ist, dass die wichtigsten Themen der Binnenstruktur: Interaktionsordnung, Normen, Machtverhältnisse, Legitimation und so weiter formalisiert sind. Damit dominieren die geschulten Vertreter des Paradigmas, der geordnete Betrieb, die stetige Weiterentwicklung. Dynamik wie Problemprofil der Institutionalisierung hängen nun erheblich von der Art des Themas und der Thematisierung ab. Hier machen sich die besonderen Merkmale von konnotativen Theorien und Selbstthematisierung bemerkbar. Während Institutionen, die mit denotativen Theorien und instrumenteller Praxis zu tun haben, sich linear entwickeln, ist die Balance des Verhältnisses von Gegenstand, Umgang mit den Themen und Institutionalisierung dieses Umgangs für konnotative Theorien und selbstreflexive Praxis schwierig. Da es keine verlässlichen Grenzen und Definitionen gibt, viel möglich und nichts sicher ist, ergibt sich kein stabiles Paradigma. Dies erschwert die Herausbildung institutioneller Routine. Ohne institutionelle Routine bleiben unbewältigbare Unsicherheiten, die Interaktionsordnung, Identitätsbalance und interne Steuerung belasten, weil alle Themen und Probleme immer wieder mühsam in jeder Situation und von jedem/jeder für sich klein gearbeitet werden müssen, ohne je ihre individuelle und soziale Brisanz zu verlieren. Dazu kommen die Effekte der Selbstreflexion. Zunächst handelt es sich dabei um eine Art von Praxis, die sich wegen ihrer Logik einer formalen Organisation entziehen. Die üblichen Mittel der Integration und Kontrolle – Arbeitsteilung, Hierarchisierung, Technisierung und so weiter – greifen hier nicht; sie bleibt eine unberechenbare Personen gebundene Kompetenz (Polanyi). Außerdem tendiert sie zur »Totalisierung«: Sie lässt sich nicht auf Berufsrollen begrenzen, sondern schwappt ungesteuert auf andere institutionelle und private Rollen über. Kurz: Sie bleibt aus Sicht 15 Der »Nachteil« modischer Attraktivität ist, dass es sich nicht um echte Anerkennung und Interesse handelt. Sekundärmotive dominieren und gaukeln ein Akzeptanz- und Entwicklungsniveau vor, welches über die wirklichen Probleme hinwegtäuscht. Insofern ist es notwendig, dass sich die »Rauchwolke« der Expansionsphase auflöst. Erst dann werden die strukturellen Verhältnisse sichtbar und bearbeitbar.

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der Organisierbarkeit archaisch. Zudem gerät sie in strukturelle Opposition zur Organisation des Alltags, weil und wo sie mit professionellen – exzentrischen – Mitteln betreibt, was im Alltag unentwegt mit lebenspraktischen Mitteln geschieht. Diese Überschneidung wird riskant, weil und wo sie die Selbstregulation des Alltags destabilisiert. Und dies im Kontakt nach außen wie in der Binnenstruktur. Interne Prozesse werden auf heikle Weise aufgeladen, wenn sie mit professionellen selbstreflexiven Kompetenzen geführt werden.16 Und während kein Laie die Überlegungen von Chemikern kritisieren würde, sind Psychoanalyse wie Soziologie mit Bewertungen, Einmischungen von außen konfrontiert – und damit, dass ihre Ergebnisse von ihrer Umwelt für Alltagszwecke instrumentalisiert werden.17 Dadurch kann sich institutionalisierte Selbstreflexion nur begrenzt von ihrer Umwelt emanzipieren; sie bleibt in deren Dynamik verstrickt. Aus diesen Gründen ist die Institutionalisierung von selbstreflexiven Kompetenzen problematisch. Schon die Pionierphase ist oft ein einziges Abenteuer.18 Ein solches Projekt kann nicht einfach »klein anfangen« und sich dann unter Ausblendung ungelös16 »Jedermann hat sein Seelenleben und darum hält sich jedermann für einen Psychologen« (Freud 1926e, S. 219). Diese einfache Feststellung – sie gilt sinngemäß auch für die Soziologie – markiert den Überschneidungs- und Austauschpunkt (dagegen würde sich niemand für einen Physiker halten, nur weil er/sie der Schwerkraft unterliegt). Daraus ergeben sich die bekannten Probleme der internen Stabilisierung und der Kontrolle externer Verwendungen. 17 In der Psychoanalyse hat es immer wieder den Vorschlag (den Wunsch?) gegeben, ihre Probleme mit ihren eigenen Mitteln zu erklären und zu behandeln. Es ist erkennbar, dass die Probleme damit auf eine bekannte Dimension reduziert werden (was den Umgang prima vista vereinfacht). Allerdings scheitert diese Strategie daran, dass sie die anderen Dimensionen nicht angemessen erfasst. Wenn sich also z. B. Greenson und Rangell in Los Angeles wilde Kämpfe lieferten, ist dies mit dem Verweis auf neurotische Konflikte der Akteure nicht hinreichend erklärbar. 18 In der Frühzeit der Physik gab es ebenfalls allerhand bizarre Ereignisse und »Glaubenskriege«. Da sie jedoch ihr Thema in weiten Bereichen theoretisch wie praktisch eindeutig beherrschten, haben sich die internen Spielräume dafür verengt. Zudem ist der externe Status so eindeutig, dass sich Auseinandersetzungen nur auf die Verwendung, nicht auf die Gültigkeit der Erkenntnisse und der darauf basierenden Praxis beziehen.

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ter Probleme planmäßig vorwärts arbeiten; es ist von Anfang an mit der vollen Komplexität des Themas konfrontiert. Man kann also nicht mit isolierten Teilphänomenen beginnen, sondern muss gleich umfassende Theorien und Praktiken anbieten. Gerade zu Beginn sind die verfügbaren Modi jedoch zwangsläufig beschränkt. Multiple Thematisierbarkeit ist in dieser Situation besonders schwer zu balancieren: Die Pioniersituation lädt dazu ein, weit gestreut zu improvisieren. Das macht das neue Paradigma zum Kristallisationskern für ein breites Spektrum von Entwürfen, die buchstäblich von Genie bis Wahnsinn reichen können. Diese Fülle von zwangsläufig erratischen Entwürfen gefährdet die Einheit der Institution und zwingt – da valide Kriterien und differenzierte Modi der Steuerung kaum verfügbar sind – zu Versuchen, sie über Strategien der Monopolbildung, der Isolation und andere repressive Modi zu erhalten. Die Einheit des Paradigmas systematische Überschätzung des Akzeptierten und Abwertung des Ausgegrenzten muss stabilisiert werden, damit sie überhaupt möglich ist. Der Preis dafür ist jene Kette von Spaltungen19, nicht immer glücklichen Ab- und Ausgrenzungen, von überbetonten Unterschieden, Dogmatisierungen, die nicht nur die Frühgeschichte der Psychoanalyse kennzeichnen. Aus institutionstheoretischer Sicht ist dies jedoch »normal« beziehungsweise unvermeidbar, ja mehr noch: Es ist dies der Emanzipationsmodus von konnotativen Theorien und selbstreflexiver Praxis. Aus dieser Sicht betrachtet sind die vielen Irrungen und Wirrungen der Frühzeit der Psychoanalyse keine peinlichen Störungen, sondern die mehr oder weniger normale (oder besser: unvermeidbare) Begleiterscheinung eines komplexen Emanzipationsprozesses: Wenn man bedenkt, mit welch mangelhafter Ausrüstung und unter welchen Umständen sich hier revolutionäre Umwälzun19 Legendär sind die Auseinandersetzungen zwischen Anna Freud und Melanie Klein in London. Ähnliches spielte sich jedoch in vielen Ländern und an vielen Orten ab. Kirsner (2000) beschreibt eindrucksvoll die Entwicklung der wichtigsten US-amerikanischen Institute mit ihren vielfältigen Konfliktlinien und teils hochgradig irrationalen Zügen. Dabei spielen Personen eine Rolle; wichtiger ist jedoch die Frage, wie sie dazu kommen, diese Rolle zu spielen – also nach den institutionellen Bedingungen der Möglichkeit.

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gen in Theorie und Praxis abspielten, so ist es eher ein Wunder, dass die Aporien der Pionier- und Expansionsphase vergleichsweise schadlos überstanden worden sind. Deutlich wird auch, dass die frühen Beschränkungen des Paradigmas ebenso unvermeidlich wie funktional waren. Auch, dass die Expansions- und Konsolidierungsphase hier mit einer Einschränkung der Aktivitäten und ihre Zentrierung auf Therapie einherging, erscheint als funktional: Zum einen wurde deutlich, dass die Ausrüstung (noch) nicht ausreichte, um dem Spektrum der verschiedenen Aktivitäten gerecht zu werden, zum anderen wurde es notwendig, die Identität des Themas schärfer zu profilieren. Dafür sind Zentrierung und Einschränkung probate, nahe liegende Mittel. Die Weiterentwicklung der Theorie hat zu einem hohen Maß an scheinbar inkompatibler Diversifizierung geführt. Aus institutionstheoretischer Sicht handelt es sich nicht um den Zerfall einer (fiktiven) Einheit, sondern darum, dass das volle Potenzial an Thematisierbarkeit (und umgekehrt: die prinzipielle Begrenztheit singulärer Ausformulierungen) sichtbar wird. Insofern ist »Multiparadigmatismus« ein gutes Zeichen: Die Psychoanalyse hat das Niveau institutioneller Normalität erreicht. Während in den frühen Phasen Heterogenität noch über repressive Mechanismen unterdrückt wird, bedeutet Normalisierung hier, dass die Möglichkeit der Differenz und des Widerspruchs systematisch zugelassen wird – nunmehr als interne Differenzierung. Wegen der beschriebenen Probleme lässt sich diese Komplexität nicht definitiv bewältigen. Da es keine verlässlichen Grenzen und Definitionen gibt, viel möglich und nichts sicher und vollständig richtig ist, können sich keine sicheren und verlässlichen Wissensbestände und Routinen bilden. Im Gegenteil: Gewissheit nimmt ab, Skrupel nehmen zu, je mehr die volle Komplexität des Paradigmas erkennbar wird.20 Es ist nur eine Fiktion von Normalität möglich, während der reproduktive Prozess der Institution weiter mit primitiven Mitteln arbeiten muss. Institutionalisierte Selbstreflexion, die mit konnotativen Theo20 »Normalisierung« bedeutet also bei institutionalisiertem Umgang mit autopoietischer Realität eine Erschwerung von Routinen und entsprechend einen wesentlich höheren Bedarf an internen Kapazitäten zum Aushalten und Absorbieren von Unsicherheiten und Differenzen.

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rien arbeitet, bleibt also aus systematischen Gründen strukturell »primitiv«. Es bildet sich keine stabile Normalität, sondern eine labile »phantom normalcy«.21 Diese strukturelle Schwäche der formellen Struktur stärkt die Bedeutung der informellen: Die vielfältigen Formen von inoffiziellen Aktivitäten und Meinungen, partikularen Interessen und Gerüchten, kurz: der informelle Prozess der Institution gewinnt Steuerungsfunktionen. Dadurch wird der produktive Prozess der Institution weiterhin der Unberechenbarkeit von Schulenbildungen, von Moden, von Theoriekarrieren, von lokalen und regionalen Subkulturen, von Machtverhältnissen, Kartellbildungen, von externen und internen Abhängigkeiten der Institution ausgeliefert. Was von wem akzeptiert wird, bleibt unvermeidlich ein Stück weit arbiträr; hängt davon ab, wer es in welcher Konfiguration sagt oder tut, was gerade in die Landschaft passt und so weiter. Dies bietet kein schönes, eher ein etwas peinliches Bild und provoziert Bemühungen um besondere Reputierlichkeit, Versuche, das (scheinbare) Chaos zu verleugnen, sich als besonders wissenschaftlich korrekt zu präsentieren und so weiter. Solche Strategien verdoppeln jedoch die Probleme, statt sie zu lösen. Denn es handelt sich bei alledem nicht um lösbare Probleme, sondern um Strukturmerkmale. Von Institutionen dieses Typs zu verlangen, dass sie sich gradlinig und homogen entwickeln, ist wirklichkeitsfremd. Was sich zeigt, sind lediglich typische Institutionalisierungsmerkmale und Entwicklungsschwierigkeiten. Normal ist daher das scheinbare Chaos, normal ist die Krise, normal sind Unsicherheit und Konflikte. Dieses Problemprofil lässt sich nicht beseitigen, aber es kann auf unterschiedliche Weise behandelt werden. In der Geschichte der Psychoanalyse haben sich Organisationsprinzipien herausgebildet, die vorrangig segmentierend und defensiv-neutralisierend verfahren. Dazu gehören vergleichsweise scharfe Abgrenzungen nach außen, ein weitgehend informell kooptierender Honoratioren-Verband (was konventionelle und traditionelle Modi bevor21 Diesen Ausdruck verwendet Goffman (1963), um darauf hinzuweisen, dass in fast allen Situationen Normalität nicht eingehalten/erreicht werden kann und deshalb simuliert wird. Die Unterstellung, es gäbe etwas, was es nicht gibt, führt naturgemäß zu Problemen der Darstellung, Begründung und Entwicklung.

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zugt), aus der Stabilisierung jener »phantom normalcy« und einer Mischung aus offiziellem Stillhalten und der Verschiebung von Kontroversen ins Inoffizielle. Diese Strategie funktioniert nicht zuletzt deshalb, weil die materielle Basis der Psychoanalyse die berufsständische Organisation als Therapie war und ist. Die Breite, in der Freud die Psychoanalyse anlegte, war zwar als Prospekt sinnvoll, aber praktisch nicht auf gleiche Weise durchzuhalten – er selbst lebte ja auch nicht von seinen kunst- und kulturtheoretischen Exkursen. Eine Verankerung im Wissenschaftssystem war (zumindest in Europa) kaum realisierbar. Insofern war es ein Glücksfall, dass Psychoanalyse diese ökologische Nische finden konnte. Beides zusammen – Bewältigung der Institutionalisierung durch »Zunft«-Strukturen, Defensive sowie die Anlehnung ans Medizinsystem – hat grosso modo die Entwicklung der Psychoanalyse gestützt und gefördert. Die Leistung dieses relativ flexiblen Systems des Ausbalancierens von Heterogenität ist beachtlich. Es bringt allerdings auch Kosten mit sich: Dazu gehört der schon oft kritisierte Medizinalisierungseffekt. So sehr die Anlehnung an den Medizinbetrieb und die Therapeutenidentität Stabilität und Entlastung brachte und bringt, so sehr ist damit eine Einschränkung des Horizonts verbunden. Die (wegen der naiven Struktur der frühen Versuche) unvermeidliche Einschränkung der Reichweite und Vielfalt des Paradigmas wird dadurch zugespitzt. Zwar verbietet niemand hauptberuflichen Therapeuten, als Hobby sich mit »Anwendungen« aller Art zu beschäftigen, aber ohne entsprechende Voraussetzungen (differenzierte Ausbildung, professionelle Grundlagen) bleiben die daraus resultierenden Diskurse strukturell amateurhaft. Auch die Beschränkung der institutionellen Steuerungskapazitäten machen sich bemerkbar. Konflikte bleiben dadurch ihren Steigerungszwängen ausgeliefert. Außerdem werden die Belastungen, die mit der selbstreflexiven Kompetenz verbunden sind, noch stärker privatisiert, das heißt der individuellen Verarbeitung überlassen. Dies fördert ein Klima der Selbstgenügsamkeit und Unsicherheit. Entsprechend tendiert die institutionelle Sozialisation (das ist der Prozess der Formierung einer sozialen Identität) zu eher konservativen und defensiven Modalitäten, das heißt auch:

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Problemausklammern. So hat die Ausbildung zwar aus der Not der Selbstthematisierung auf geniale Weise (durch die Lehranalyse) eine Tugend gemacht, aber ansonsten kann man ihr Modernität kaum nachsagen. Viele prominente Kritiker haben immer wieder moniert, dass die Ausbildung nicht expansiv, sondern restriktiv sei, dass sie zu viel Innovations- und Theoriefeindlichkeit zur Folge habe.22 Dies alles belastet interne wie externe Diskurse. Wo die schwierige Auseinandersetzung mit konnotativen Theorien nicht eingeübt und sozial gestützt wird, etablieren sich zwangläufig primitivere und defizientere Modi. Dazu gehört auch die unprofessionelle Verwendung professioneller Kompetenzen zur Diskussionssteuerung: Wenn Probleme und Differenzen beispielsweise als Ausdruck mangelnder Durchanalysiertheit und von Störungen betrachtet werden, erübrigen sich weitere sachliche Argumente: Wenn abweichende Vorstellungen als »unanalytisch« ausgegrenzt werden, erspart dies mühsame Auseinandersetzungen. Dies vereinfacht Diskussionen auf eine Weise, die sie schwieriger macht. Damit bin ich wieder bei den Kontaktproblemen zwischen Psychoanalyse und Soziologie angelangt. Die strukturellen Kontaktprobleme werden verstärkt durch institutionelle Defizite: Je labiler die Institution, desto heikler (weil bedrohlicher) ist der Kontakt mit potenziellen Alternativen beziehungsweise Konkurrenten. Genau dies trifft sowohl für Psychoanalyse als auch Soziologie23 zu – auf je verschiedene Weise. Nach allem, was angesprochen wurde, ist klar, dass beide analoge Probleme haben. Auch die Soziologie ist geprägt von theoretischer Zersplitterung, permanenten Bemühungen, einer schwierigen Identität, einem zwiespältigen öffentli22 Seit längerem werden von internen Kritikern Ausbildung und Organisation zum Teil heftig kritisiert. Ob die Psychoanalyse einer Kirche mit Dogmen, Tabus und Personenkult ähnelt, ob ihre Ausbildung eine ungute Mischung aus Priesterseminar und Berufsschule darstellt, die zu Anpassung und Abhängigkeit führt (vgl. Erdheim 1988; Cremerius 1995), ob die Interna gar dafür verantwortlich sind, dass die Psychoanalyse zur gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit verkommt (vgl. Kirsner 2000), kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Bedeutsam ist aus institutionstheoretischer Sicht, auf welchem Niveau Kritik geübt und wie mit ihr umgegangen wird: Fähigkeit zu kompetenter Kritik und zum Aushalten und zur produktiven Wendung von Kritik sind Zeichen von Reifung.

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chen Status. Das Zusammenwirken selbstreflexiver Theorien verlangt institutionelle Spielräume und Anpassungsfähigkeit, belastet daher ohnehin schon exponierte und labile Strukturen – und ist daher ein unwahrscheinliches Ereignis. Wahrscheinlicher (weil unmittelbar problemärmer) ist daher wechselseitige Ignoranz. Wenn man ohnehin davon überzeugt ist, alles besser zu wissen, wenn man nicht weiß, was man gewinnen kann und sich zunächst eher noch mehr Probleme einhandelt – warum soll man dann überhaupt Kontakt aufnehmen und sich auf ein fremdes Terrain begeben? Wozu in eine fremde Theorie und Denkweise einarbeiten, wenn man mit der eigenen genug zu tun hat – und wenn, in welche der vielen soziologischen, welche der psychoanalytischen Angebote? Wozu soll man sich noch zusätzlich fremde Prioritätsund Definitionsprobleme aufhalsen? Und wozu sich auf schwierige, immer wieder von Konflikten belastende Interaktionen einlassen, wenn man mit sich selbst viel friedlicher und konsenter zurechtkommt (oder interne Auseinandersetzungen zumindest vertrauter sind)? Warum sollte man sich auf notwendig inkompetente (weil in beiden Hinsichten relativierte) Kompromisse einlassen? Genau diese Zumutungen müssen jedoch verkraftet werden, wenn Kooperation möglich werden soll. So gesehen sind distanzierende Vorurteile auch Schutzmechanismen, weil und wo sich beide Seiten von den Thematisierungsstrategien der anderen bedroht werden beziehungsweise sich fühlen. So gesehen wird verständlich, warum trotz interessanter Perspektiven so wenig Versuche zur Kooperation unternommen werden und warum die, die unternommen werden, so leicht in den Sog von zeitgeistiger Chaotik geraten und/oder daran scheitern, dass sie keine tragfähige Gemeinsamkeit entwickeln. Und so gesehen ist es bemerkenswert, mit welcher Zähigkeit sich trotz aller Widrigkeiten Kontaktversuche halten. 23 Mutatis mutandis gelten viele der Überlegungen, die hier für die Situation der Psychoanalyse angestellt wurden, auch für die Soziologie. Ihre Institutionalisierung als akademische Disziplin bringt jedoch andere Eigenheiten und Balanceprobleme mit sich, die ausführlicher behandelt werden müssten. Ob und wie sie ihre Probleme im Umgang mit Psychologie, speziell der Psychoanalyse überwinden kann, kann daher hier nicht diskutiert werden (zur allgemeinen Problemlage vgl. Schülein 2002).

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Angenommen, es gelänge, die Kontakt- und Kooperationsprobleme zu lösen: In welche Richtung wäre mit sinnvollen Ergebnissen zu rechnen? Generell überall da, wo Phänomene nicht monologisch strukturiert und daher auch nicht monologisch geklärt werden können – und das ist praktisch in allen relevanten Bereichen humaner Realität der Fall. »There is every reason on believe that all human behavior is affected continuously by … psychodynamic processes« (Smelser 1993, S. 26). Daher ist die Vermittlung der Perspektiven der unterschiedlichen Human- und Sozialwissenschaften eine conditio sine qua non weiteren Erkenntnisfortschritts. Dabei können – im Fall des Kontakts von Soziologie und Psychoanalyse – beide Seiten ihre Möglichkeiten besser nutzen. Seitens der Psychoanalyse geht es darum, ihr sozialpsychologisches Potenzial zu entwickeln. Bisher geschah dies in den seltensten Fällen auf systematische und methodisch kontrollierte Art. Freuds Ausflüge ins Sozialpsychologische waren außerordentlich anregend, blieben aber letztlich (entsprechend seiner Annahme, Soziologie ist angewandte Psychologie) verallgemeinerte Psychologie und schon dadurch limitiert.24 In der Folge entwickelte sich unter sozialpsychologisch interessierten Psychoanalytikern das Verständnis für die Notwendigkeit, soziologische Bezugsrahmen für sozialpsychologische Argumentationen zu benötigen (vgl. bereits Fromm 1932). Dies hat jedoch noch nicht dazu geführt, dass systematisch entsprechende Bezüge aufgebaut und für Forschungsprogramme genutzt wurden. Selbst so wichtige Studien wie Mitscherlichs »Vaterlose Gesellschaft« (1963) bleiben in dieser Hinsicht sehr selektiv und wenig theoretisch ausgearbeitet. Von einer institutionalisierten Form sozialpsychologischer Forschung ist weit und breit noch nichts zu sehen. 24 Dazu kamen weitere Probleme, die sich aus seinen ideologischen Prämissen, dem noch unterentwickelten Repertoire der Psychoanalyse und aus seinem methodischem Improvisieren ergaben. Die daraus resultierende Mischung aus Pionierarbeit und eigenwilliger Philosophie (wie sie sich vor allem in seinen kulturtheoretischen Schriften zeigte) war schwer verdaulich und auch nicht unmittelbar weiterentwickelbar, sodass sie nur wenig direkte Fortsetzung fand und in dieser Form in der Soziologie kaum aufgegriffen wurde.

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Sollten sich entsprechende Ambitionen auf dem Weg zu einer elaborierten Sozialpsychologie ergeben, so wäre es sinnvoll und unvermeidlich, Fragestellungen, Methoden und Konzepte in den Kontext soziologisch aufbereiteter Themenzusammenhänge einzubetten. Nur auf diese Weise kann sie die erforderliche externe Stabilität und Präzision der Zuordnung gewinnen.25 Ohne soziologisch angereichertes Hintergrundswissen bleibt es bei mehr oder weniger gelungenen Exkursionen ohne Absicherung. Durch Anschluss an sozialwissenschaftliche Perspektiven und Adaptation ihrer Methoden kann psychoanalytische Sozialpsychologie Generalisierungen, die den Charakter einer zufälligen Hochrechnung von Fallstudien haben, durch systematisch begründete Muster typischer Art ersetzen. Dadurch öffnet sich auch ein Horizont für theoretische Erweiterungen, die nicht nur Ausweitungen klinischer Erfahrungen sind. Umgekehrt kann die Soziologie davon profitieren, dass die Psychoanalyse ihr Angebote machen kann, mit deren Hilfe sie ihre strukturelle subjekttheoretische und sozialpsychologische Indifferenz überwinden kann. Besonders für diese Theorie- und Themenbereiche ist aus soziologischer Sicht psychoanalytisches Wissen vor allem interessant: Theorie des Subjekts: Mithilfe der Angebote der Psychoanalyse lässt sich sowohl die Genese von psychischen Strukturen inklusive psychodynamisch relevanter Themen und Formen als auch die aktuelle Funktionsweise der Psyche präziser bestimmen. Vor allem die neueren Konzepte der Objektbeziehungen, die Übertragungstheorie und die Vorstellungen über Themenrelevanz und Problem/Konfliktbearbeitung lassen sich mit sozial relevantem Muster verbinden und auf diese Weise typische Formen des Pro25 Die methodische Grundregel der Soziologie heißt seit Durkheim: Erkläre soziale Wirklichkeit nur durch sich selbst und behandle alles relevante Geschehen als soziales Phänomen. Entsprechend werden zunächst auch psychologische Aspekte als Produkt sozialer Bedingungen und als Element sozialer Abläufe gesehen. Dies führt dazu, dass die Eigendynamik und Emergenz psychischer Faktoren nicht realisiert werden kann. Daher muss in einem nächsten Schritt die Grundregel aufgehoben werden, um die externe Stimulierung und Steuerung sozialer Prozesse wieder zugänglich werden zu lassen.

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blemausdrucks und der Problemdynamik entwickeln (vgl. Bühl 2000). Subjektivität im sozialen Kontext: Subjektivität ist in unterschiedlichem Ausmaß, in unterschiedlichen Formen und in unterschiedlichen Interferenzen in sozialer Realität auf unterschiedlichen Ebenen virulent. Dies lässt sich auf der Ebene der sozialen Situation (das Zusammenspiel von verschiedenen Subjekten unter bestimmten sozialen Bedingungen mit Blick auf situative Latenz, insbesondere die Interferenz unterschiedlicher subjektiver Latenzen und die daraus resultierende kollusive Dynamik), im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen (sowohl soziale Beziehungen und die in ihnen vorgebahnten psychodynamischen Muster als auch persönliche Beziehungsmuster mit ihren sozialen Konstituentien, Auswirkungen und Funktionen), in Bezug auf Gruppen (Gruppendynamik), Organisationen (Organisationsdynamik), aber auch im Zusammenhang mit Populationen (von Berufsgruppen über soziale Milieus bis zu gesellschaftstypischen Mustern) untersuchen (vgl. z. B. Sievers 2003). Subjektivität im sozialgeschichtlichen Kontext: Die Soziologie geht von der historischen Veränderlichkeit von Subjektstrukturen aus. Mit psychoanalytischen Konzepten lässt sich die Koevolution von sozialen und psychischen Strukturen erfassen. Dies bezieht sich einerseits auf die Art und Weise, wie Subjektivität durch Wandel umstrukturiert wird, andererseits auf die Art und Weise, wie Subjektstrukturen diesen Wandel beeinflussen und bestimmen (vgl. Sennett 1998; Honneth 2000; Busch 2001). Dabei öffnet sich insgesamt die Perspektive einer interdisziplinären Sozialforschung, die Methoden und Begriffe verbindet, statt sie zur Abgrenzung zu benutzen und nach außen abzuschotten. Profitieren können davon alle – aber nur, wenn es gelingt, die Egozentrik der Perspektiven und Kirchturmpolitik zu überwinden.

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■ Robert Heim

Paradoxien des Genießens Einige Konstellationen zwischen Lacan und Adorno1

Das Paradox des Genießens führt seine Problematik in jene Dialektik des Glücks ein, auf die wir uns, wir Analytiker – wer weiß? – vielleicht unklugerweise eingelassen haben. Wir haben es in mehr als einem Detail als das erfaßt, was als das Allgemeinste unserer Erfahrung auftritt. […] Diese Drohung, diese Zerrissenheit des moralischen Seins beim Menschen, dürfen wir sie in der analytischen Lehre und Praxis einfach vergessen? Jacques Lacan, »Die Ethik der Psychoanalyse« (1959–1960) Es gibt selten sichere Anhaltspunkte für unsere Erlebniswünsche, oft genug nur Mutmaßungen, ja völlige Ratlosigkeit, mag sie auch unbewußt bleiben, da es an Ablenkungen für diese Ratlosigkeit nicht mangelt. Am Anfang eines Erlebnisprojekts steht Unsicherheit, am Ende ein Enttäuschungsrisiko. Beide Probleme stabilisieren sich gegenseitig: Versucht man, das eine zu reduzieren, verschärft man das andere. Es ist deshalb weder erstaunlich, daß unsere Gesellschaft nicht glücklich scheint, noch ist der steigende Aufwand unerklärlich, mit dem sie nach Glück sucht. Der homo ludens spielt mit zunehmender Verbissenheit. Gerhard Schulze, »Die Erlebnisgesellschaft« (1993) 1

1 Der folgende Text geht auf einen Vortrag an der Jahrestagung des Arbeitskreises »Politische Psychologie« am 10. Mai 2003 zum Thema »Theorien und Methoden psychoanalytischer Sozialpsychologie« am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut zurück. Eine ergänzte Version wurde anlässlich eines von Alfred Krovoza ausgerichteten Kolloquiums am Soziologischen Institut der Universität Hannover, Fach Sozialpsychologie, am 5. Februar 2005 zur Frage »Zukunft der Psychoanalyse – jenseits der Couch« vorgetragen.

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■ I. Der Musiker und Komponist Adorno steht zu Unrecht hinter seinem theoretischen Werk als Philosoph und Sozialwissenschaftler zurück. Wer sich in Frankfurt für zeitgenössische Musik interessiert, darf sich glücklich wähnen, eine so feine Institution wie das in der Alten Oper ansässige Ensemble Modern zu haben. Was man hier an musikalischen Kostbarkeiten zu hören bekommt, sind Kontrapunkte dessen, was der 35-jährige Adorno 1938 für sein Werk programmatisch unter dem Titel »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« im VII. Band der Zeitschrift für Sozialforschung abhandelte. Sie sollen im Folgenden als Präludium in Erinnerung gerufen werden, das mir als Einstimmung auf einige ungewohnte Verbindungen zwischen Adorno und Lacan dient. Einige der großen und prägenden Motive nicht nur im Werk Adornos, sondern der ersten Generation der Kritischen Theorie sind hier im Rahmen einer ästhetisch und musiksoziologisch argumentierenden Diktion versammelt: eine Kulturindustrie USamerikanischer Provenienz, »wo alles einander so vollkommen gleicht« (Adorno 1938, S. 15) und die »Liquidierung des Individuums« die »eigentliche Signatur des neuen musikalischen Zustands« (Adorno 1938, S. 21) geworden ist, schließlich, als Fazit der Studie, das Menetekel und zugleich die historisch angesichts der totalitären Ära bereits schon geschwächte Zuversicht: »Die kollektiven Mächte liquidieren auch in Musik die unrettbare Individualität, aber bloß Individuen sind fähig, ihnen gegenüber, erkennend, das Anliegen von Kollektivität noch zu vertreten« (Adorno 1938, S. 50). Allein in diesem Fazit sind die Fragestellungen der späteren sozialpsychologischen Arbeiten von 1955 und 1966 enthalten: die unlösbare Arbeitsteilung zwischen Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaft, ein Widerspruch, der als realer und logischer Antagonismus von Besonderem und Allgemeinem so lange sein Wesen treibt, »bis das gesellschaftlich Allgemeine wahrhaft der Inbegriff der individuellen Bedürfnisse wäre« (Adorno 1966b, S. 57). Dies musste zwangsläufig eine kontrafaktische Fiktion bleiben. Adorno argumentiert 1938 in der zentralen kategorialen Perspek-

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tive der marxschen Warenanalyse. Es geht ihm in der Reflexion zum Verhältnis von Musik, Kunst und Gesellschaft um die Möglichkeit eines Genusses, der sich dem Tauschwert zu entziehen vermöchte. »Je unerbittlicher das Prinzip des Tauschwerts die Menschen um die Gebrauchswerte bringt, um so dichter vermummt sich der Tauschwert selbst als Gegenstand des Genusses. Man hat nach dem Kitt gefragt, der die Warengesellschaft noch zusammenhält. Zur Erklärung mag jene Übertragung vom Gebrauchswert der Konsumgüter auf ihren Tauschwert innerhalb einer Gesamtverfassung beitragen, in der schließlich jeder Genuß, der vom Tauschwert sich emanzipiert, subversive Züge annimmt« (Adorno 1973, S. 25). Es wird sich später zeigen, wie sich Adorno und Lacan gerade im Begriff des Genusses – ein für die Psychoanalyse immer noch unzureichend definiertes Essential – in Beziehung bringen lassen. Und im Kitt, von dem Adorno hier spricht, findet sich natürlich eine fundamentale Problemstellung jeder Sozialpsychologie angedeutet: die Frage nach einer gelingenden oder scheiternden sozialen Integration, die im genannten Antagonismus von Individuum und Gesellschaft an die Grenze ihrer Lösbarkeit stößt. Schließlich hebt Adorno mit einer Bemerkung zum Verhältnis von Musik und Trieb an, die er am Schluss nochmals aufgreift, um seine Kulturdiagnose einer Regression des Hörens im historischen Kontext dieses Jahres auf den Punkt zu bringen. »Klagen über den Verfall des musikalischen Geschmacks sind kaum jünger als die zwiespältige Erfahrung, welche die Menschheit auf der Schwelle zum historischen Zeitalter machte: daß Musik zugleich die unvermittelte Kundgabe des Triebes und die Instanz zu dessen Sänftigung darstellt. […] Aber nicht nur den musealen Kulturgütern, sondern der uralten, sakralen Funktion der Musik als der Instanz zur Bändigung des Triebes wächst im regressiven Hören ein erbarmungsloser Feind heran« (Adorno 1973, S. 14, S. 48). Auch in der Psychoanalyse geht es in ihrer klinischen und, soweit sie in ihren Anwendungen empirisch mit Interviews arbeitet, sozialwissenschaftlichen Praxis um nichts anderes als um den Widerpart solch regressiven Hörens. Wie zu hören sei, auf dass das

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Unerhörte einer Wahrheit vernommen werden kann – dies bleibt die genuine Kunst der Psychoanalyse, und nach Freud hat sie wohl kaum ein anderer derart kultiviert wie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan. Lacan und Adorno sind Vertreter einer Generation des 20. Jahrhunderts, die den intellektuellen Zenit und die öffentliche Resonanz ihres Denkens angesichts einer katastrophalen Bilanz der neueren Geschichte erreichten. Beide sind – Lacan 1901, Adorno 1903 geboren – Kinder des eben begonnenen Jahrhunderts, und dessen tragische Erfahrung mit dem Totalitarismus geht prägend in die scheinbar disparaten, im Grunde aber in der Sache insgeheim kooperierenden Werkgeschichten ein. Was beide zudem biographisch verbindet, sind Väter, die mit Wein und Essig zu tun hatten, sie sind also Kinder von Eltern mit einem ex professio geforderten guten Geschmack. Dies konnte nicht ohne Wirkung auf die Theoriebildung der beiden bleiben. Adorno war Sohn einer Sängerin, deren Namen er seit 1943 trug, dieweil der Name des Vaters zwischen Vor- und Nachname gerade noch als Initiale aufscheint. Adorno war Kind einer starken mütterlichen Stimme; Lacan Sohn eines gedemütigten Vaters, dem er später im Konzept des mythisch überhöhten symbolischen Vaters – des Nom-du-Père – ein Denkmal setzen wird. Auch wird er die Stimme erstmals nach Freud zu einem spezifischen Objekt des Triebes machen. Die Werkgeschichten der beiden kreuzen sich in einer heterotopischen Distanz zwischen Frankfurt und Paris, in der es noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum einen synergetischen Theorietransfer zwischen den beiden Städten gab. Lacans strukturale Reinterpretation Freuds und die Fortschreibung der Kritischen Theorie nach ihrer Rückkehr aus dem amerikanischen Exil schienen keine gemeinsame Schnittflächen aufzuweisen, an denen sich – wie in der Philosophie später zwischen Habermas, Foucault, Derrida und Gadamer – ein produktiver Diskurs hätte entzünden können. In einem zuweilen falsch ideologisierten anti-strukturalistischen Milieu der 1970er Jahre bildete Frankfurt für einen vergleichbaren Diskurs in der Psychoanalyse ein befremdlich steiniges und widerständiges Terrain. Zwischen der »Frankfurter Schule« und Lacans »École freudienne de Paris« wollten nur wenige das Wagnis eines Grenzgängertums eingehen,

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das den sonnenklaren Blick theoriepolitischer Korrektheit hätte eintrüben und akademische Identitäten verunsichern können. Schulen disziplinieren eben und hemmen zuweilen auch die intellektuelle Beweglichkeit. Aber gerade als radikale Kritiker der Identität sprechen Lacan und Adorno eine beinahe identische Sprache, wenn auch gewiss in verschiedenen Dialekten.

■ II. Die Karten müssen also auch hier neu gemischt werden, wie dies Reiche (2004) einmal mehr getan hat, wenn er nach dem »Strukturwandel der Psyche« fragt und diesen auch sozialwissenschaftlich in Rechnung stellt. Doch nur in ungewohnten Rekombinationen der beschriebenen Art kann die Zukunft dessen liegen, was als »psychoanalytische Sozialpsychologie« ins Abseits des akademischen Betriebs zu fallen droht. Marcuses die Jahrzehnte durch aktuell gebliebenes Wort vom Veralten der Psychoanalyse trifft erst recht diese Form ihrer Anwendung. Verschiedentlich und wiederholt wird nach einer Zwischenbilanz der nichttherapeutischen Anwendungsfelder der Psychoanalyse gefragt. Nun, was die Profession des Psychoanalytikers in ihrem Kern ausmacht, ist das Bilanzieren von Verlusten. Das Unbewusste kreist, wie schon Freud in seinem genuinen Objektbegriff aufzeigte, um verlorene Objekte, idealtypisch gesehen, um ein verlorenes Objekt. Das Subjekt will es natürlich, nötigenfalls ein Leben lang und um den schmerzhaften Preis großen Leidens, wiederfinden, wird es aber immer wieder verfehlen. Daraus resultiert, nicht zuletzt als therapeutische Aufgabe, eine Trauerarbeit im präzisen Sinne dieses Begriffs, die diesen Verlust weniger beklagt, sondern vielmehr einen Verluststil ermöglicht, der erst recht die Lebendigkeit des Lebenstriebes gewinnen kann (vgl. Heim 2005). Wie aber verhalten sich Verluste und Gewinne in einer Zwischenbilanz der nichttherapeutischen Anwendung der Psychoanalyse? Ist die Beurteilung von Gewinnen eine Sache des öffentlichen wissenschaftlichen Diskurses, so steht eine psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie jedenfalls mit den Verlusten – es ist ein

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schwacher Trost – nicht allein. Sie lassen sich nur im Kontext einer allgemeinen Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften verrechnen, die nicht nur hochschulpolitisch in Bedrängnis sind, sondern von einer Lawine der Naturalisierung – denkt man an die Ambitionen von Biologie und Hirnforschung auf Deutungshoheiten in Gesellschaft und Kultur – in eine Talsohle defensiver Zukunftsungewissheit gestürzt werden. Das Schlimmste wäre – wie jüngst in selbstgefälliger Erhabenheit Zepf (2004) –, diese Talsohle in depressiver Manier oder paranoider Aufregung als Jammertal zu zelebrieren. Denn unübersehbar gibt es eine ungebrochene Produktivität und Kreativität der angewandten nichttherapeutischen Psychoanalyse. Den Ansprüchen auf Deutungshoheiten eines reduktionistischen Naturalismus wird sie weiterhin beharrlich die Freiheit der Deutung im autonomen Symbolbereich der menschlichen Kultur entgegensetzen. Sie wird dies nicht zuletzt dadurch tun müssen, dass sie – etwa im Kontext der aktuellen Debatte um Willensfreiheit und Determinismus – anthropologische Bedingungen der Freiheit in Rechnung stellt, die in der Realität eines Unbewussten liegen, das sich nicht auf eine lediglich implizite Unbewusstheit neuronaler Vernetzungen reduzieren lässt. Jedenfalls weiß sich die methodisch stets problematische Übertragung der Psychoanalyse auf Gesellschaft und Kultur nur dann eine innovationsfreudige Produktivität zu sichern, wenn sie ernsthaft mit ihren Beständen rechnet und sich nicht scheut, die Spreu vom Weizen zu trennen (vgl. Busch 2001). Im internationalen Maßstab gehören unübersehbar an vorderster Stelle zu diesen Beständen Erneuerung und Bereicherung des freudschen Erbes durch Melanie Klein oder eben Lacan. Nur wenn die psychoanalytische Sozialpsychologie ihren eigenen überlieferten Problemstellungen, ihren thematischen Klassikern sozusagen, die ja keineswegs in ihrer Relevanz erschöpft und ausgereizt sind (vgl. Heim 1999), mit diesen neuen Modellen zur Klinik und Metapsychologie des Unbewussten neue Perspektiven abgewinnen kann, bleibt sie am für sie steiniger werdenden Wissenschaftsstandort Deutschland einigermaßen zukunftsfähig. In seiner Streitschrift zur »Frage der Laienanalyse« zeichnete Freud eine Perspektive, in der heute das unvollendete Projekt der

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analytischen Sozialpsychologie ihren Beweis schuldig bleibt, dafür aber ausgezeichnete Voraussetzungen mitbringt. Auch die therapeutische, klinische Anwendung der Psychoanalyse hat Verluste zu beklagen, von denen noch nicht absehbar ist, inwieweit sie die Substanz der freudschen Tradition empfindlich angreifen werden. An erster Stelle steht hier eine Nachwuchskrise der psychoanalytischen Ausbildung, zu der die Entwicklung des Gesundheitssystems und im Besonderen des Psychotherapeutengesetzes seit 1999 geführt hat. So dürfte sich Freuds Perspektive möglicherweise auf längere Frist hinaus bewahrheiten, wenn er erwägt: »Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist« (Freud 1926e, S. 284). In diesem vorsichtigen Vielleicht liegt der Schlüssel für eine Evaluation des Standortes einer Psychoanalyse, die ihre Stimme im Kampf der wissenschaftlichen Kulturen um gesellschaftliche Anerkennung nicht verstummen lässt. Nach 80 Jahren werden also die Grenzgänger zwischen Psychoanalyse, Gesellschaft und Kultur zu klären haben, welche Zeiträume die Diktion von Freuds Satz durchmisst. Entweder liegt diese Zukunft schon hinter ihnen und es gilt, sich von ihr zu verabschieden: Das wissenschaftliche Objekt der psychoanalytischen Sozialpsychologie wird zu einem Objekt der Trauerarbeit. Oder diese Zukunft steht noch immer am Horizont, dann darf sie weiterhin gespannt erwartet werden. Schließlich: Die Grenzgänger leben gegenwärtig mitten in ihr, und so werden sie daran arbeiten müssen, das Gewicht ihrer Argumente und Deutungen in der Waagschale gesellschaftlicher Selbstthematisierung zu erhöhen. Dies bleibt ein Kampf um Anerkennung mit mächtigen Gegnern, in dem die konjunkturelle Position zwar geschwächt, ihre schärfste Waffe aber mitnichten abgestumpft ist: das Argument der Wirksamkeit und Macht des Unbewussten, die nicht nur das Individuum in seinem seelischen Leid kennt und der Analytiker in seinem Behandlungsraum zu spüren bekommt. Ich werde mich für die Gegenwart dieser freudschen Zukunft entscheiden und die Skizze einer Rekombination liefern, indem ich die Wissenschaftsjahre 2003 und 2004 (Adornos und Kants) zu einem sachhaltigen thematischen Kern verdichte. Wenn ich dabei die Psychoanalyse, insbesondere Anregungen Lacans zu den Be-

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griffen des Über-Ich und des Genießens, dazwischen schiebe, ermöglicht dies – vielleicht – eine neue Perspektive auf einige klinische, moralische und kultursoziologische Implikationen der Gesellschaft.

■ III. Wenn Adorno und Lacan in einer Sache kooperieren, dann tun sie dies zunächst in einer im Spannungsfeld zwischen Kant und Sade angelegten Moral, in dem sich der eine als die Wahrheit des anderen offenbart und sich das Über-Ich als sozialpsychologische Schlüsselkategorie der Psychoanalyse bewährt. Aus der »Dialektik der Aufklärung« stammt das Wissen, dass es für Adorno und Horkheimer die »dunklen Schriftsteller des Bürgertums« wie Sade, Mandeville, dann natürlich Nietzsche waren, die der bürgerlichen Gesellschaft schonungslos den Spiegel ihrer inneren Widersprüchlichkeit vorhielten. In ihrem Exkurs über »Juliette oder Aufklärung und Moral« stellen sie zwischen der Moralphilosophie Kants, verdichtet im kategorischen Imperativ – »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« –, und der von Sade beschriebenen Libertinage eine Äquivalenz fest. Den beiden gilt Sade, der revolutionäre Citoyen und Schriftsteller, als einer der wenigen seiner Zeit, der sich konsequent Kants Devise der Aufklärung, »seinen Verstand ohne Leitung eines anderen« zu gebrauchen, bediente. Sie arbeiten, wie dies am unbewussten Material schon vor ihnen Melanie Klein tat, anhand von zwei weiblichen Protagonisten im Werk von Sade, den Schwestern Justine und Juliette, die aufgespaltenen guten und bösen inneren Objekte des Subjekts der Aufklärung heraus. Dessen Zerrissenheit erweist sich von einem Ausmaß, das in den sublimsten Bindekräften von Moral und Ethik den Abgrund menschlicher Grausamkeit aufscheinen lässt. In der voluminösen Inszenierung dieser »Zerrissenheit des moralischen Seins beim Menschen« (Lacan) repräsentiert die tugendhafte Justine die zartfühlende, junge religiöse Frau. Sie ist die literarische Chiffre für Kants Grundregel der reinen praktischen

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Vernunft: Immer korrekt dem Sittengesetz folgend, weiß sie vom empirischen »Begehrungsvermögen« abzusehen und sich damit in den aufopfernden Dienst dieses Gesetzes zu stellen. Je mehr und selbstloser sie dies tut, umso mehr wird sie die Beute grausamster Lustbarkeiten der sadeschen Libertins. Die Tugend zieht die Grausamkeit an und bedarf dieser als ihr abgespaltenes Objekt. Sade ist es gelungen, in Justine die Personifizierung der Dialektik eines Über-Ich zu zeichnen, in der sich höchste Moral und Perversion die Hände reichen. Nicht nur die reine Vernunft ist von Antinomien zerrissen, die praktische ist es nicht weniger. Freud führte Kants Sondierung der Risse in der Vernunft fort und lokalisierte sie in keiner anderen Instanz so sehr wie im Über-Ich. Die klinische Psychoanalyse wollte nie ein Glücksversprechen – schon gar nicht ein Glück durch moralische Vervollkommnung – bieten, weil sie sich einer bis ins Über-Ich hinein verästelten Antinomie menschlichen Handelns schmerzlich bewusst ist und deren therapeutische Auflösbarkeit als unmöglich erachtet. Das Unbehagen in der Kultur wirft seinen Schatten noch heute über jede klinische Empirie, doch über Sades Justine hat sich dieser Schatten so gelegt, dass er im Gegenlicht zur Aufklärung eines zutiefst paradox verfassten Über-Ich beiträgt. »Müssen wir, in der Hoffnung, unseren Patienten die Möglichkeit eines ungetrübten Glücks zu eröffnen, denken, es wäre eine totale Reduktion jener Antinomie möglich, die Freud selbst so nachdrücklich artikuliert hat? Ich spreche von dem, was er im Unbehagen der Kultur gesagt hat, wo er formuliert, daß die Form, in der sich die Moralinstanz konkret in den Menschen einschreibt, und die seiner Auffassung zufolge nichts weniger als rational ist, diese Form, die er Über-Ich nannte, einer Ökonomie zugehört, derzufolge sie um so fordernder auftritt, je mehr man ihr Opfer bringt« (Lacan 1986, S. 360f.). Die Opfer von Justine sind unermesslich, und im Lichte ihrer Erfahrung kann es in der Psychoanalyse natürlich keinerlei Reduktion solcher Art geben. Nach all den Missgeschicken von Justines Tugendhaftigkeit tritt Juliette als imaginärer Zwilling ihrer Schwester auf. Wie Justine wurde sie im Geiste derselben Tugend erzogen. Die Erfahrung trieb sie freilich in die Richtung, die Justine unter ihren Qualen der Libertins schon kennen lernte. Juliette

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verkörpert als aufgeklärte Rationalistin, »Tochter der kämpfenden Aufklärung gegen die Religion« (Horkheimer u. Adorno 1944, S. 104) und jeglicher Mitleidsethik abhold, die Feier des rücksichtslosen Genusses. Juliette ist Nietzscheanerin avant la lettre. Mit der Luzidität einer in sich stimmigen rationalen Argumentation begründet sie die Freiheit zum Sakrileg, zur Subversion des Sittengesetzes und zum Tabubruch. Sie macht – im freudschen Mythos gesprochen – den Kultur stiftenden Mord am Urvater rückgängig und demokratisiert dessen monopolisierte Lustfülle zu einer Anarchie des Genießens jenseits eines regulativen zivilisatorischen Prinzips. Horkheimer und Adorno waren diesem moralischen Doppelgängertum zwischen Justine und Juliette auf der Spur, wenn sie ihre Dialektik der Aufklärung am Werk Sades, dieser zusammen mit Nietzsche radikal betriebenen »intransigente(n) Kritik der praktischen Vernunft« (Horkheimer u. Adorno 1944, S. 101), exemplifizieren: »Justine, die gute der beiden Schwestern, ist eine Märtyrerin des Sittengesetzes, Juliette freilich zieht die Konsequenz, die das Bürgertum vermeiden wollte. […] [Sie] besorgt nur aufgeklärt, geschäftig den Betrieb des Sakrilegs. […] Die urgeschichtlichen Verhaltensweisen, auf welche Zivilisation ein Tabu gelegt, hatten, unter dem Stigma der Bestialität in destruktive transformiert, ein unterirdisches Dasein geführt. Juliette bestätigt sie nicht mehr als natürliche, sondern als die tabuierten. […] Sie verkörpert die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen« (Horkheimer u. Adorno 1944, S. 101). Im Über-Ich hat sich die Zivilisation eine der stärksten Waffen gegen ihre immanente Selbstzerstörung geschaffen. Aber diese Waffe ist ein zweischneidiges Schwert, und Juliette weiß dieses souverän zu bedienen, wenn sie es in der literarischen Spiegelfechterei ihres Autors gegen ihre Schwester und damit gegen das Sittengesetz führt. Diese zentrale Antinomie in Kants praktischer Vernunft, ihr untergründiger Bezug auf das Denken Sades, hat Adorno immer wieder beschäftigt, etwa in seinen Vorlesungen zu »Problemen der Moralphilosophie« 1963, dann wieder in der »Negativen Dialektik«. In der Abarbeitung an genau derselben Antinomie trieb Lacan zu Beginn der sechziger Jahre seine »Rückkehr zu Freud« auf eine Spitze, die in einen definitiven Bruch mit der

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Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung mündete. Wie kein anderer aus seiner Zunft und zu dieser Zeit setzte sich Lacan als Psychoanalytiker mit einer Problematik auseinander, die auch Adorno umtrieb. Doch wie lassen sich aus dieser Koinzidenz Affinitäten herausfiltern, die für bestimmte Thematiken einer psychoanalytischen Sozialpsychologie von Interesse bleiben könnten? Lacan widmete sich 1959/60 in seinem Seminar Fragen einer »Ethik der Psychoanalyse«, 1963 erschien eine Arbeit mit dem Titel »Kant mit Sade«. In der einschlägigen Biographik wird davon ausgegangen, dass Lacan zu diesem Zeitpunkt Kenntnis der »Dialektik der Aufklärung« und damit auch der angedeuteten Reflexionen zu Sade und seiner Juliette gehabt haben muss (vgl. Roudinesco 1993, S. 460ff.). Er bezieht sich in »Kant mit Sade« nicht direkt auf das zehnbändige Epos über die beiden imaginären Zwillingsschwestern, sondern auf die 1795 nach dem Terror veröffentlichte Schrift »Die Philosophie im Boudoir«. Für Lacan jedenfalls enthüllt sich wenige Jahre nach der »Kritik der praktischen Vernunft« die Wahrheit der kantischen Moralphilosophie in einer obszönen Reaktionsbildung. Sade inszeniert die Wiederkehr des Verdrängten und Verleugneten bei Kant, das dieser im »radikal Bösen« freilich selbst andeutete; sein Werk ist korrespondierendes Postscriptum und literarisch elaborierte Delinquenz des Sittengesetzes. Vor allem aber reichen sie den Beleg nach für die Zerrissenheit und Spaltung eines Über-Ich, in dem sich kategorischer Imperativ und Grausamkeit verdichten. Kant und Sade bilden eine unheilige Allianz, weil der kategorische Imperativ des einen das Deckblatt für das literarische – und für den Analytiker Lacan damit selbstredend in die Struktur des Unbewussten eingelassene – Phantasma des anderen ist. Dieses Phantasma extrapoliert Lacan aus dem Text Sades zu einer Maxime, die zugleich allgemeines und unbedingtes Gesetz von dessen Vision einer Republik in permanenter Revolte wäre. In dieser sanktioniert die Gesellschaft ein Recht auf Genießen, nämlich folgenden Sinnes: »Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, kann ein jeder mir sagen, und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen, ohne dass irgendeine Schranke mich daran hindern könnte, diesen Lustzoll nach Belieben zu erpressen« (vgl. Lacan 1966, S. 139). Man wähnt sich zurückversetzt in den Geist der Endsechziger

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mit seiner Rhetorik der sexuellen Befreiung. Doch sind hier die paradoxen Folgen bekannt: Als diese zum stillen oder lärmenden Imperativ wurde, war ihr Scheitern schon besiegelt. Nicht zuletzt dies beließ Lacan in ironischer Distanz zum Pariser Mai 1968, auch wenn er es durchaus genoss, subjekttheoretischer Gewährsmann des französischen Marxismus zu werden. Seine Überlegungen zur menschlichen Freiheit standen jedoch der melancholischen Grundfigur der »Dialektik der Aufklärung« stets näher als einem zuweilen manisch beflügelten Utopismus des revolutionären Aufbruchs dieser Zeit. Der politische Überbau seiner anthropologisch ausgreifenden und psychoanalytisch begründeten Theorie des Begehrens mündete für Lacan in das ubiquitäre Rätsel einer erkämpften, aber stets vom Rückfall in Knechtschaft bedrohten Freiheit. Die Sphinx dieses Rätsels stellte Lacan freilich nicht nur die Frage nach Tragödie und Farce von Revolution und Konterrevolution; ebenso wenig war sie für ihn – wie für Horkheimer und Adorno – Quintessenz einer als Verfallsgeschichte interpretierten Moderne, die in Auschwitz die Mission der Aufklärung erfüllt. Sie musste vielmehr aus der psychoanalytischen Erfahrung hergeleitet und aus einer erneuerten Grundlegung dieser Erfahrung destilliert werden.

■ IV. In »Kant mit Sade« gibt Lacan einen Hinweis darauf, was für ihn eminenter Bestandteil dieser Grundlegung sein muss: den Begriff des Über-Ich »dem Labyrinth von Obskurantismus« entreißen, »in dem unsere Zeitgenossen« diesen Begriff verwenden: »Damit könnte diese psychoanalytische Instanz […] nicht nur ein wenig an Lebendigkeit gewinnen, sondern auch die Kantische Prüfung der allgemeinen Regel um jenes Quentchen Witz bereichert werden, das ihr fehlt« (Lacan 1966, S. 139). Dieses Quäntchen Witz aber findet sich vorzüglich in den Volumina des sadeschen Werkes, im Besonderen in der Geschwisterkonstellation zwischen Justine und Juliette. In den 1960er Jahren zählte auch Adorno zu diesen Zeitgenossen, und wenn man seine einschlägigen Schriften und

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Passagen zur Psychoanalyse Revue passieren lässt, erstaunt der Affekt, mit dem er es auf das ödipale väterliche Über-Ich abgesehen hat. Adorno ist in dieser Hinsicht noch zu sehr Opfer jener »Repressionshypothese«, deren historische Unhaltbarkeit die späten Arbeiten Foucaults zur Sexualität nachwiesen, um ihre innere Widersprüchlichkeit preiszugeben. Der heutige Stand psychoanalytischer Forschung hat uns etwas weiter gebracht, und was das Über-Ich anbetrifft, gilt dies für dessen frühe Genese aus dem primären Sadismus des Säuglings, wie man sie von Melanie Klein kennt. Dies gilt gleichermaßen für die innovativen Einsichten Lacans in die Paradoxien eines Über-Ich, wie sie in seinen Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Kant und Sade erhellt werden. Das Über-Ich ist nicht einfach, wie es eine kurzschlüssig argumentierende Repressionshypothese noch verfechten wollte, das verinnerlichte Gesetz der Kultur, das sich dem anarchischen Freiheitsdrang des Triebes widersetzt und diesen zur Verdrängung zwingt. Genauso wie Sittengesetz und kategorischer Imperativ immer an eine sadesche Welt grausamer Libertinage gefesselt sind, bleiben Begehren und Gesetz zwei Seiten einer Münze, die nicht gespalten werden kann: »Wenn aber das Gesetz wirklich da ist, hält die Begierde nicht stand, aus dem einfachen Grunde, daß das Gesetz und die verdrängte Begierde ein und dasselbe sind; und genau das war’s, was Freud entdeckte. Wir verbuchen diesen Punkt bei Halbzeit für Sie, Professor« (Lacan 1966, S. 154). Dies ist dieselbe paradoxe Schlussfolgerung, die auch die Argumentation in der »Dialektik der Aufklärung« ausmacht: Vernunft kann nicht einfach regressiv in Irrationalität und Wahn, Aufklärung ebenso wenig in Barbarei zurückfallen, sondern sind quer zu allen historischen Kontexten als »reversible Perspektiven« (Wilfred R. Bion) in ein und derselben Sache angelegt – im anthropologischen Grundgesetz des Unbewussten, das keine eindeutigen Werturteile kennt und sich im Über-Ich zu einer Instanz empor schraubt, in deren kantischem Gerichtshof der sadesche Libertin stets mit von der Partie ist. Nach Ende der Spielzeit teilen freilich alle Freuds Überzeugung, »welch wichtige Hilfen für das Verständnis des sozialen Verhaltens des Menschen […] sich aus der Berücksichtigung des Über-Ichs ergeben« (Freud 1933a, S. 73). Von Ernest Jones stammt zudem

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die erinnerungswürdige Bemerkung, das psychische Leben des Menschen sei beherrscht von hartnäckigen Versuchen, der Macht des Über-Ich zu entrinnen oder sie zu festigen. Doch wenn die Paradoxien der Dialektik der Aufklärung auch für das menschliche Seelenleben Gültigkeit besitzen, kann sich mit dem Versuch des Entrinnens gerade das Risiko der Festigung ergeben: Je mehr, um dies mit Lacan zu pointieren, das Begehren der Macht des Gesetzes zu »entspringen« sucht, desto mehr wird es diese stärken. Soweit sich dieses Gesetz im Über-Ich repräsentiert, bleibt es eine »Schicksalsmacht«.2 Wenn also am Programm einer psychoanalytischen Sozialpsychologie festgehalten werden möchte, dann bleibt das Über-Ich ein methodisch hochwertiges Indiz für die Erforschung gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungsprozesse. Was jede einzelne Analyse heute an Einsicht in Struktur und Wandlung des Über-Ich zutage fördern mag, enthält im Keim eine Wahrheit zeitdiagnostischer Relevanz. Zunächst Adorno aus der »Negativen Dialektik«: »Psychologie holte konkret nach, was sie zu Kants Zeiten noch nicht wußte und worum er deshalb nicht spezifisch sich zu bekümmern brauchte: die empirische Genese dessen, was, unanalysiert, Kant als zeitlos intelligibel glorifizierte. In ihren heroischen Zeiten hat die [ich unterstreiche die zufällige Koinzidenz: Lacan gründete seine École freudienne zwei Jahre zuvor – der Verf.] Freudsche Schule, darin eines Sinnes mit dem anderen, aufklärerischen Kant, die rücksichtslose Kritik des Über-Ichs als eines Ichfremden, wahrhaft Heteronomen, gefordert. Sie durchschaute es als blinde und bewußtlose Verinnerlichung von gesellschaftlichem Zwang.« Und mit Zitat Ferenczis heißt es gleich anschließend, »daß eine 2 Habermas verlieh dieser fundamentalen Paradoxie eine treffende gattungsgeschichtliche Formel: »Gelingende Aufklärung wäre es, wenn die Entfernung von den Ursprüngen Befreiung bedeutete. Die mythische Gewalt erweist sich aber als das retardierende Moment, das die erstrebte Emanzipation anhält, eine auch als Gefangenschaft erfahrende Bindung an die Ursprünge immer wieder prolongiert. […] Horkheimer und Adorno begreifen Aufklärung als den mißlingenden Versuch, den Schicksalsmächten zu entspringen. Die trostlose Leere der Emanzipation ist die Gestalt, in der der Fluch der mythischen Gewalten die Entfliehenden doch noch ereilt« (Habermas 1985, S. 133ff.).

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wirkliche Charakteranalyse, wenigstens vorübergehend, mit jeder Art von Über-Ich, also auch mit dem des Analytikers, aufzuräumen hat. […] Nur diese Art Abbau des Über-Ichs überhaupt kann eine radikale Heilung herbeiführen« (Adorno 1966a, S. 266f.). Nun, für den nicht minder negativen Dialektiker Lacan verhielt sich die Sache nicht ganz so einfach. Die Heteronomie des ÜberIch ist für ihn gerade dem vernünftigen Imperativ des kantschen Moralgesetzes verschwistert, dessen sadistische Kehrseite er in Belehnung von Melanie Kleins Vorarbeiten entdeckte. Tatsächlich hat schon Freud wiederholt darauf hingewiesen, wie sich in den klinischen Bildern von Melancholie, Zwangsneurose oder Hysterie »das Ich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs (unterwirft)« (Freud 1923b, S. 277). Wenig später geht er noch weiter, wenn er ausführt, wie das Über-Ich als Sitz des kategorischen Imperativs gar zur »Reinkultur des Todestriebes« (Freud 1923b, S. 282) zu mutieren vermag. Dann nämlich, so Freud, wenn »nach unserer Auffassung des Sadismus […] die destruktive Komponente […] sich im Über-Ich abgelagert und gegen das Ich gewendet [hat]. Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes, und wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben« (Freud 1923b, S. 282). Weil Kant sich zwischen kontingenter Moral und rigoristischer Hypermoral für letztere entschied, läuft sein kategorischer Imperativ in eine Falle, die Freud erkannte und die nach ihm zunächst Melanie Klein auf einen nach innen differenzierten psychoanalytischen Begriff bringen konnte: »Das Es ist ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das Es« (Freud 1923b, S. 283). Doch erst Lacans philosophisch reflektierter und mit Sades Text bestückter Kommentar dieser Falle konnte zeigen, dass es hier nicht nur um ungelöste Probleme moralischen Handelns und seiner ethischen Grundlegung in modernen Gesellschaften geht. Vielmehr ist dies ein zentraler Kern der psychoanalytischen Erfahrung, der sozialpsychologisch relevant bleibt. Zu dieser Relevanz gehört eine Reflexion des Genießens und des Genusses, und diese Relevanz zwischen Adorno und Lacan oder eben zwischen Kant und Sade nachzuweisen, kann zu einer besonderen Delikatesse werden. Wie mag es denn mit jener Genussfähigkeit stehen, die bei

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Freud noch die Fahne der Psychoanalyse zierte und die er neben der Liebes- und Arbeitsfähigkeit zu deren klassischen therapeutischen Zielen zählte? In weiten Teilen der zeitgenössischen psychoanalytischen Literatur scheint sie nicht mehr der Rede wert zu sein. Man hat dieses Terrain den mediengewandten Helden der kulinarischen Kultur, also Meisterköchen, klugen Wissenschaftsjournalisten (vgl. von Randow 2001) oder den Philosophen der Lebenskunst abgetreten. Dass die Psychoanalyse mit Autorität eine solche lehren könnte, geht bei aller Not defensiver Selbstlegitimation durch akribische Forschung vergessen.

■ V. Im Kontext der frühen 1960er Jahre, vor allem in seinem Ethik-Seminar, führt Lacan die für sein Denksystem fundamental bleibende Differenzierung zwischen Lust und Genießen ein.3 Verblüffend in dieser Differenzierung war eine irritierende Semantik des Genießens, die dessen prätendierte Sinnlichkeit einem naiven Hedonismus entreißt. Um sie zu verstehen, bleibt der Bezug auf seine Lesart von Freuds Begriff des Über-Ich unentbehrlich. Entscheidend hierfür ist eine Passage aus »Das Ich und das Es«, die 3 Es darf in diesem historischen Kontext nicht vergessen werden, dass dies ebenfalls die Zeit des Eichmann-Prozesses in Jerusalem war. Im Kapitel »Von den Pflichten eines gesetzestreuen Bürgers« ihrer Berichterstattung schildert Hannah Arendt, wie sich Eichmann auf Kant beruft, sich auf seine Weise dem kategorischen Imperativ unterwarf und diesen allein in Stimme und Befehl des Führers repräsentiert sah. Der Gehorsam in Eichmanns »Kadavergehorsam« ist eine Hörigkeit, ein ergebenes Horchen auf den Fetisch einer Stimme, mithin eine »Regression des Hörens« der totalitären Art. Lacans Schrift »Kant mit Sade« wollte sich denn auch als umwegiger Kommentar des Holocaust verstanden wissen, zumindest war sie eine Anmerkung zum Eichmann-Prozess. Eine subjekttheoretische Täterforschung, die sich nicht mit dem klinischen psychoanalytischen Konzept des Sadismus begnügt, dürfte hier mit diesem sadokantianischen Junktim auf neue Befunde stoßen. Denn zu den großen Rätseln dieser Forschung gehört auf immer die Befremdlichkeit, dass viele der verantwortlichen Nazis in den geistigen Höhen der deutschen Kultur zu Hause waren.

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einigermaßen gut verstehen lässt, wie Lacan dazu kommen konnte, das Unbewusste als »wie eine Sprache strukturiert« zu reinterpretieren und es als ein Ensemble verbaler und nicht-verbaler Signifikanten zu bestimmen. Und man darf auch hier mein Adorno entliehenes Leitmotiv einer »Regression des Hörens« nicht vergessen, die es 1938 schon verdiente, Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung zu werden. Freud liefert hier einen Beleg für die Komposition des Über-Ich aus Signifikanten, wenn er dessen »Herkunft aus Gehörtem« ableitet. Er stellt »mit Rücksicht auf die Bedeutung, die wir den vorbewußten Wortresten im Ich zugeschrieben haben, die Frage, ob das Über-Ich, wenn es ubw ist, nicht aus solchen Wortvorstellungen […] besteht. Die bescheidene Antwort wird lauten, daß das Über-Ich seine Herkunft aus Gehörtem unmöglich verleugnen kann, es ist ja Teil des Ichs und bleibt von diesen Wortvorstellungen […] her dem Bewußtsein zugänglich, aber die Besetzungsenergie wird diesen Inhalten des Über-Ichs nicht von der Hörwahrnehmung […], sondern von den Quellen im Es zugeführt« (Freud 1923b, S. 282). In der Konsequenz dieser Passage war es für Lacan evident und allein schon von der Stimmung der psychoanalytischen Situation her nahe liegend, aus der Stimme das Objekt eines entsprechenden invokatorischen Triebes zu machen. Die Stimme ist als Partialobjekt das pars pro toto des Analytikers für den Patienten, und für dessen stimmliche Intonation der Grundregel wird jener ein besonderes Hörvermögen aufbringen. Ähnlich wie für Melanie Klein ist der archaische Kern des Über-Ich in Lacans Verständnis ein persekutorisches inneres Objekt, das seine sadistische Energie aus einer Introjektion von Verboten, Ermahnungen und Befehlen bezieht, deren stimmlicher Kontext das Triebschicksal des Über-Ich festlegt. Wenn das Phantasieleben des Kleinkindes – so die Forschungen Melanie Kleins – mit sadistischen Triebanteilen aufgeladen ist, dann formiert sich das frühe Über-Ich – so auch Lacans Konklusion – zu einer tyrannischen Seelenmacht und bleibt als solche im Leben des Menschen wirksam. Was im gemeinen Verständnis der freudschen Psychoanalyse Sitz höchster moralischer Gefühle und Garant ethischen Empfindens gilt, ruht im Grunde auf einem sadokantianischen Imperativ. Im entscheidenden Schritt, mit dem Lacan hier über Freud hin-

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ausging, ist das Über-Ich in seiner perversen sadistischen Genealogie nicht mehr nur ein Imperativ, unter den auch der kategorische in seiner moralischen Unerbittlichkeit als Pflicht fällt – »ein bedingungsloses Du sollst« (Lacan 1986, S. 376). Dieser Imperativ ist im Besonderen ein Imperativ des Genießens, der das Lustprinzip gleichsam ausreizt und erodiert. In seiner Funktion eines vermeintlich gereiften Ich-Ideals mag sich das aufgeklärte Über-Ich redlich bemühen, Träger der Moral als zivilisatorische Errungenschaft zu sein, den kategorischen Imperativ empirisch einzuholen oder diskursethische Grundsätze in Anwendung zu bringen. Gerade hier aber lauert die Falle des rationalisierten Über-Ich: nämlich um so fordernder aufzutreten, je mehr wir ihm unsere Opfer entbieten. Dadurch gewinnt die Moralinstanz einen Januskopf, dessen rückseitige Blickrichtung die moralische Pflicht mit einem höchsten Gut des Genießens zu nötigen sucht. Dieses Gut ist das absolute Genießen der sadeschen Libertins, die ihm natürlich allesamt als todessüchtige Masochisten verfallen. Doch auch den, der sich nicht zu Sades ausgewählter literarischer Sozietät zählen möchte, drängt diese Nötigung zur Überschreitung von Grenzen und konfrontiert ihn hartnäckig mit der Unmöglichkeit dieses Guts. In dieser zutiefst paradoxen Lage triumphiert im Über-Ich immer wieder – wie es Juan-David Nasio im Anschluss an Lacan formuliert – eine höhnische Stimme als »perverser Anstifter, welcher das Ich mit dem Reiz eines Ideals des Genießens verführt. […] Das ›Gute‹, das uns dieses wilde Über-Ich zu finden befiehlt, ist nicht die gute Moral (das heißt das, was aus der Sicht der Gesellschaft gut ist), sondern das absolute Genießen selbst. Es befiehlt uns, jede Grenze zu überschreiten und die Unmöglichkeit eines unaufhörlich geraubten Genießens zu erlangen. Das tyrannische Über-Ich befiehlt, und wir gehorchen ohne zu wissen, auch dann, wenn es den Verlust und die Zerstörung dessen herbeiführt, was uns das Teuerste ist« (Nasio 1988, S. 110f.). Lacans Pendelschlag zwischen Kant und Sade will also vorführen, »wie leicht an die Stelle von Kants Du sollst jenes Sadesche Phantasma eines zum Imperativ erhobenen Genießens tritt – ein reines Phantasma, sicher, das […] aber in keiner Weise die Möglichkeit ausschließt, zum allgemeinen Gesetz erhoben zu werden«

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(Lacan 1986, S. 376f.). Diese verblüffende Semantik des Genießens verstößt schließlich gegen jeden Gemeinsinn, wenn er es zu einer Repräsentanz des Todestriebes, eben im Sinne der freudschen »Reinkultur des Über-Ichs«, stempelt. Wird diese Reinkultur zu mächtig, kommt es zu einem Wechsel »von der Rubrik der Lust in die Rubrik des Genießens« (Lacan 1986, S. 229), doch wer diesen Wechsel bewirkt, ist der Todestrieb. Wer sich also sinnenfroh seinen Lüsten und Genüssen hingeben will, vergisst in der Regel, dass er sich stets in heimlicher Gesellschaft des Todestriebes befindet. Das Genießen ist dessen listenreichste Maskierung. Tatsächlich drängt das Genießen das von allen Seiten gebeutelte Ich in jenes für die Psychoanalyse rätselhaft und umstritten gebliebene Jenseits des Lustprinzips. Es sucht – und dies ist natürlich eine der Quellen für jede Sucht, nur um eine Pathologie anzudeuten, die immerhin in der gesellschaftlichen Ökonomie des Genusses eine zentrale Rolle spielt – unaufhörlich nach einer Mehr-Lust, nach einer exzessiven somatopsychischen Erregungsquantität. Der Ironiker Lacan wollte diesen Begriff der Mehr-Lust bekanntlich vom marxschen Mehrwert abgeleitet verstanden haben. Die Mehr-Lust ist die katastrophische Überproduktionskrise in der Lustökonomie des Subjekts. In ihr aber geht die Lust in Schmerz über, und so sucht das Genießen eigentlich Leiden und kleidet sich dabei in die verschiedenen Kostüme der Leidenschaft. Wenn man dieser immer wieder verfällt, tut man dies unter dem Diktat eines Über-Ich, das einem hartnäckig diesen Imperativ des Genießens zuraunt. Wenn man vor ihr zurückschrickt, tut man dies im Namen eines Lustprinzips, das in der psychischen Ökonomie als moderates Regulativ fungiert. Das Lustprinzip bleibt ein Prinzip des Maßes, das Genießen als List des Todestriebes neigt zu Hybris, Maßlosigkeit und Selbstzerstörung. Schon bei Nietzsche fügten sich seine Einsichten in die grausame Genealogie der Moral letztlich stimmig in die Suche der Lust nach »tiefer, tiefer Ewigkeit«. Gemeinhin bestehen Sinn und Sinnlichkeit des Genießens ja darin, der Lust Dauer und zeitliche Dehnung zu verleihen. Für den Dichterphilosophen machte diese Ewigkeit ihren Reim auf »Herzeleid«, und es wird abermals plausibel, wie der fließende oder diskrete Übergang zwischen Lust und Genießen der kritische, schlimmstenfalls katastrophische Angelpunkt in der Ge-

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nussfähigkeit des Subjekts bleibt. So bleibt die Zwangslage des Ich in dieser Zweipoligkeit des Triebes alles andere als komfortabel, aber dies gehört unabdingbar zum Unbehagen in der Kultur.

■ VI. Zusammen mit Horkheimer war auch Adorno dieser Zwangslage auf der Spur. Wie die Libertins sucht Juliette einen exzessiven Genuss, den ihr die tugendhaft-reine Justine als Alter Ego, Doppelgängerin und Hüterin des Sittengesetzes energisch souffliert. Gerade damit fällt die Aufklärerin Juliette umso mehr hinter ihre radikale Religionskritik zurück. Denn, so Adorno und Horkheimer: »Bei aller rationalen Überlegenheit hält Juliette noch einen Aberglauben fest. Sie erkennt die Naivität des Sakrilegs, zieht aber schließlich doch Genuß aus ihm. Jeder Genuß aber verrät eine Vergötzung: er ist Selbstpreisgabe an ein Anderes« (Horkheimer u. Adorno 1944, S. 112). Genau dies ist jetzt mit Lacan bekannt: Der Genuss im Genießen ist tendenziell immer Preisgabe des Ich an die Imperative seines Über-Ich, seines heteronomen Anderen. Er ist das Opfer, dessen Preis das Über-Ich in dem Maß erhöht, wie diese Selbstpreisgabe unweigerlich dazu tendiert, die kritische Grenze zwischen Lust und Genießen zu überschreiten. Was Horkheimer und Adorno folgen lassen, ist eine kleine Anthropologie des Festes, in dem es kurzweilig gelingen mag, die kulturellen Schranken des Über-Ich einzureißen. Doch kann dies eine List der gebändigten Natur sein, dann nämlich, wenn der Genuss sich als deren Vergeltung drapiert und in die Transgression des Genießens in Selbstbestrafung und Selbstzerstörung mündet. »Natur kennt nicht eigentlich Genuß: sie bringt es nicht weiter als zur Stillung des Bedürfnisses. […] Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluß ganz unterjocht wird. Der Genuß ist gleichsam ihre Rache. In ihm entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation. In den ältesten Gesellschaften war solche Rückkehr als gemeinsame in den Festen vorgesehen. Die primitiven Orgien sind der kollektive Ursprung des Genusses. […] Erst mit zunehmender Zivilisation

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und Aufklärung macht das erstarkte Selbst und die gesicherte Herrschaft das Fest zur bloßen Farce. Die Herrschenden führen den Genuß als rationalen ein, als Zoll an die nicht ganz gebändigte Natur, sie suchen ihn für sich selbst zu entgiften zugleich und zu erhalten in der höheren Kultur; den Beherrschten gegenüber zu dosieren, wo er nicht ganz entzogen werden kann. Der Genuß wird zum Gegenstand der Manipulation, solange bis er endlich ganz in den Veranstaltungen untergeht. Die Entwicklung verläuft vom primitiven Fest zu den Ferien« (Horkheimer u. Adorno 1944, S. 112f.). Dies ist natürlich das Schicksal des Genusses in der Kulturindustrie. Dagegen sind die Orgien, die man bei Sade beschrieben findet, in ihrer Mischung von sexuellem Exzess und tödlichem Verbrechen noch kunstvoll dieser entrinnenden Rückkehr nachgebildet. Und für Lacan findet man im ersten Satz dieses Textes aus dem Jahr 1944 eine der Prämissen seiner wenig später anhebenden »Rückkehr zu Freud«: Wenn Natur nicht weiter denn bis zur Stillung des Bedürfnisses (besoin) reicht und ihre tierische, vorhumane Form Genuss nicht kennt, dann ist der Mensch als animal symbolicum anthropologisch Transzendenz des Bedürfnisses im Anspruch (demande) und im Begehren (désir). Erst im Begehren aber geht der Triebdualismus von Eros und Thanatos das Risiko eines Genießens ein, das seine archaische Genealogie aus den Orgien des Festes in unbewusster Erinnerung behält. Mit diesem psychoanalytisch geschärften Instrumentarium kann abschließend ein Blick auf soziologische Zeitdiagnosen gerichtet werden, die sich in einem präzisen Sinne der menschlichen Genussfähigkeit verschrieben haben. Wie bei Adorno und Lacan kann hier eine deutsch-französische Kooperation in der Sache festgestellt werden. Seit gut zehn Jahren ist mit Gerhard Schulzes »Kultursoziologie der Gegenwart« bekannt, dass alle Individuen klassifizierte Teilnehmer einer Erlebnisgesellschaft sind. Die Gebrauchswerte der Objekte des Genusses müssen einen Erlebniswert aufweisen, das Erleben des Lebens mit all seinen Ästhetisierungsmöglichkeiten wurde zu einem Objekt des Begehrens. Lacans Imperativ des Genießens, wie er vom Über-Ich mit kategorischem Befehlston ausgeht, kommandiert hier mit etwas milderer Stimme und will das Ich gerade dazu bringen, sein Leben mehr zu

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feiern. Also: »›Erlebe dein Leben!‹ ist der kategorische Imperativ unserer Zeit. […] Unter dem Druck des Imperativs ›Erlebe dein Leben!‹ entsteht eine sich perpetuierende Handlungsdynamik« (Schulze 1993, S. 59, 33). Deren unbewusste Logik ist nun etwas genauer bekannt: die innere Ökonomie eines Über-Ich, das sich um so fordernder geriert, je mehr sich das Ich ihm opfernd – und sei dieses Opfer gerade der Lustzoll im Genießen – unterwirft. Doch selbst in dieser weichgespülten Form ist der Imperativ nicht weniger unerbittlich und drängt das Subjekt gegebenenfalls in leidvolle Sackgassen. Heute hat sich diese Handlungsdynamik mit der brutalen Rückkehr des Sozialen nach dem Hedonismus von Postmoderne und Spaßgesellschaft erschöpft. Das sind Stoffe, von denen auch die klinische Praxis lebt und die sie zu verarbeiten hat. Und die diese Praxis damit zu einem immer noch vorzüglichen methodischen Laboratorium psychoanalytischer Sozialforschung machen. Wo von Genuss und Genießen die Rede ist, steht der Geschmack nicht abseits. Guten Geschmack darf man füglich jener Genussfähigkeit zurechnen, die Freud noch vorschwebte, ohne dass er normativ strapaziert werden muss. Das französische Äquivalent und Vorbild von Schulzes Kultursoziologie der deutschen Gesellschaft waren Pierre Bourdieus »Feine Unterschiede«, sein breit angelegtes Projekt, ausgerechnet mit Kants »Kritik der Urteilskraft« schon 1979 ein »Modell der Wechselbeziehungen zweier Räume – dem der ökonomisch-sozialen Bedingungen und dem der Lebensstile« (Bourdieu 1979, S. 11f.) in Bezug auf die Klassenstruktur der französischen Gesellschaft vorzulegen. Wenig später hebt Bourdieu mit einem Apell an, den die Grenzgänger zwischen Psychoanalyse, Gesellschaft und Kultur durchaus ernster nehmen könnten: »Nur selten nimmt die Soziologie derart prägnante Züge einer Psychoanalyse des Sozialen an wie in der Beschäftigung mit dem ›Geschmack‹, einem Gegenstand, dem innerhalb der Auseinandersetzungen auf dem Kräftefeld der herrschenden Klasse wie dem der kulturellen Produktion eine herausragende Rolle zukommt« (Bourdieu 1979, S. 31). Wo der Imperativ »Erlebe dein Leben!« in verschiedenen Variationen Schulzes schichtspezifische Milieustudien bestimmt, da

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nimmt Bourdieu Kants Pflichtbegriff auf und belehnt unter der Hand Lacans Vexierspiel zwischen Kant und Sade. Er sondiert dabei eine ethische Avantgarde in Fragen des Lebensstils, die die Pflicht, das kantische Du sollst, normativ stellvertretend für die ganze Gesellschaft zur Pflicht zum Genuss erhob. Doch erst mit dem Modell eines in seine unauflöslichen Paradoxien verstrickten Über-Ich kann eine Schlüsselpassage bei Bourdieu verstanden werden, die in ein psychosoziales Zentrum der westlichen Gegenwartsgesellschaften trifft. »Der Moral der Pflicht, die sich auf den Gegensatz von Vergnügen und Gutem stützt, Lust und Angenehmes generell unter Verdacht stellt, zur Angst vorm Genießen und einer Beziehung zum Körper führt, die ganz aus ›Scheu‹, ›Scham‹ und ›Zurückhaltung‹ besteht und jede Befriedigung verbotener Impulse mit Schuldgefühlen begleitet, stellt die neue ethische Avantgarde eine Moral der Pflicht zum Genuß gegenüber, die dazu führt, daß jede Unfähigkeit sich zu ›amüsieren‹, to have fun oder wie man heute mit leichtem inneren Beben zu sagen liebt, ›zu genießen‹, als Mißerfolg empfunden wird, der das Selbstwertgefühl bedroht, so daß aus Gründen, die sich weniger ethisch als wissenschaftlich geben, Genuß nicht nur erlaubt, sondern vorgeschrieben ist« (Bourdieu 1979, S. 575f.). Schuld und Scham wechselten im Zuge dieser neuen Normativität auf die Seite dessen, der nicht zu genießen wusste. Solche Paradoxien eskalieren weiter, wenn eine soziokulturell aufgenötigte Pflicht, die Angst vor dem Genießen zu überwinden, als logische Folge die Angst nach sich zieht, nicht ausreichend genießen zu können. Die Genussfähigkeit wird derart stets von Versagensängsten beschattet. Dies aber ist zugleich die Stunde des Neides, und so wird deutlich, wie sich im Genießen die bewegenden Affekte allesamt verdichten: Suchte es nach ungetrübter Lust und purem Genuss, so findet es sich unweigerlich affiziert von Scham, Schuld, Angst und Neid. Denn über diesen ausreichenden oder gar vollen Genuss verfügt allein der andere, der nächste »Nebenmensch« (Freud), der im paranoiden Kern des Ich stets verdächtigt wird, dieses der Möglichkeit seiner Genussfülle beraubt zu haben. Es gilt, »sich der Tatsache zu stellen, daß es der Genuß meines Nächsten ist, sein schädlicher, sein böser Genuß, was sich meiner

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Liebe als das wirkliche Problem stellt« (Lacan 1986, S. 227). Wenn man bedenkt, dass an Tücke und Klippe dieser unbewussten Phantasie immer wieder Ehen, Familien, Liebschaften, Freundschaften und Kollegialitäten scheitern, also elementare Ligaturen des Sozialen, kann die Reichweite dieses Phantasmas ermessen werden. Von der Phänomenologie dieses Scheiterns ist natürlich eine psychoanalytische Behandlung nicht ausgenommen, wenn sie dieses Phantasma in Übertragung und Gegenübertragung nicht hinreichend auflöst. Die Paradoxien des Genießens geraten hier in die Mühlen zwischen dem – sensu Lacan – Spiegelstadium des Ich und der – so Melanie Klein – paranoid-schizoiden Position. Das Genießen wird darin, wie Lacan im Kommentar von Freuds Schwierigkeiten mit dem Gebot der Nächstenliebe im »Unbehagen in der Kultur« ausführt, ein »Übel […] es ist ein Übel, weil es das Übel des Nächsten mit sich bringt« (Lacan 1986, S. 223). In diesen Mühlen verträgt das Genießen keine Teilung, keine Intersubjektivität, schon gar nicht Hingabe oder Dankbarkeit einem Objekt gegenüber. Was in der Klinik der zeitgenössischen Psychoanalyse so oft bei frühen, schweren und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen oder dann in der Zwangsneurose als Näheangst beschrieben wird, lässt sich nun nochmals anders belichten. »Dabei können wir uns darauf stützen, daß ein jedes Mal, wenn Freud wie schaudernd vor der Konsequenz des Gebots der Nächstenliebe einhält, jene tiefe Bösartigkeit auftaucht, welche in diesem Nächsten wohnt. Dann aber wohnt sie auch in mir selbst. Und was ist mir näher als dieses Innerste in mir, das das Innerste meines Genießens ist, dem ich mich nicht zu nähern wage? Soweit ich mich ihm nähere – das ist der Sinn des Unbehagens in der Kultur –, erscheint jene unergründliche Aggressivität, vor der ich zurückweiche, die ich gegen mich wende …« (Lacan 1986, S. 225). Die Last der Genusspflicht auf dem Selbstwertgefühl und die Wendung der Aggressivität gegen das Selbst rühren an die ätiologischen Wurzeln der Depression. Eine letzte Drehung in der eskalierenden Spirale eines paradoxen Genießens ermöglicht denn auch ein sozialwissenschaftlich aktualisierter Begriff der Depression (vgl. Ehrenberg 1998). Nicht von ungefähr interpretiert Ehrenberg die epidemische Breite depressiver Störungen im Geiste der

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Dialektik der Aufklärung als Preis eines Leidens an der Emanzipation, eines Leidens an deren »trostloser Leere«, wie Habermas 1985 die Schrift von Horkheimer und Adorno resümierte. In diesem Preis sind die klassischen Konflikte neurotischer Angst durch die Phänomene depressiver Erschöpfung ersetzt, zu der die Imperative des Genießens den rezenten Strukturwandel der Psyche drängen. Es lassen sich in diesem Zusammenhang zwei Formeln definieren, die mir idealtypisch zwei zentrale Widersprüche dieses Wandels zu veranschaulichen scheinen (vgl. Heim 2005). Zunächst, Folge der Pflicht zum Genuss, leidet der Depressive daran, dass er zu viel genießen muss und zu wenig begehren kann. Dann ist dieses Leiden die Konsequenz eines Imperativs des Genießens, der zur herrschenden Form des Über-Ich geworden ist. In einer »Ökonomie des befristeten Lebens« (Weinrich 2004) gerinnt die Herrschaft dieses Imperativs zum Diktat einer Zeit, die dem rastlos und verbissen genießenden Subjekt mehr im Nacken sitzt, als dass es sie selbst zum Objekt des Genusses zu erheben in der Lage wäre: Genieße! Denn deine Zeit ist knapp, also fülle sie mit einem Maximum an Erlebnissen, Gütern und Objekten, die dir ein Maximum an Lust und Genuss verschaffen.

■ VII. Adorno und Lacan waren Ethiker und Ästhetiker des menschlichen Begehrens. Von ihm nicht abzulassen, ohne es – wie das tragische Vorbild der Antigone – unbedingt auf seine tödliche Spitze zu treiben, war Lacans Empfehlung: Nicht Starrsinn, aber sicher Eigensinn des Begehrens, ein Leben konform mit diesem, gerade wenn und weil seine Objekte stets unmöglich sind. Letztlich winkt hier nur noch die Sublimierung: »Sublimieren Sie, was immer Sie wollen, Sie müssen es mit etwas bezahlen. Dieses Etwas heißt das Genießen« (Lacan 1986, S. 384). Ist die Kunst die vorzügliche Form der Sublimierung, dann aber, so riet Adorno in seinem Vermächtnis, ist die Autonomie der künstlerischen Erfahrung ein höchstes Gut. Diese erfordert ihrerseits freilich den Verzicht auf den »genießenden Geschmack« (Adorno 1966a/1970, S. 26), was

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den Preis der Sublimierung oft unbezahlbar erhöht. Sinnverwandt mit Lacan, dessen »Dialektik des Glücks« im Paradox des Genießens unseren Anfang noch zierte, heißt es gleich vorweg an zentraler Stelle der »Ästhetischen Theorie«: »Um des Glücks willen wird dem Glück abgesagt. So überlebt Begehren in der Kunst« (Adorno 1966a/1970, S. 26). Doch befindet man sich hier schon jenseits des Zuständigkeitsbereichs einer psychoanalytischen Sozialpsychologie.

■ Literatur Adorno, Th. W. (1938): Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Gesammelte Schriften, Bd. 14. Frankfurt a. M., 1973, S. 14–50. Adorno, Th. W. (1966a): Negative Dialektik. Frankfurt a. M., 1970. Adorno, Th. W. (1966b): Postscriptum zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. In: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie. Frankfurt a. M., 1970, S. 55–62. Adorno, Th. W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M., 1974. Bourdieu, P. (1979): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M., 1987. Busch, H.-J. (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Weilerswist. Ehrenberg. A. (1998): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M. u. a., 2004. Freud, S. (1923b): Das Ich und das Es. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M., S. 235– 289. Freud, S. (1926e): Die Frage der Laienanalyse. G. W. Bd. XIV. Frankfurt a. M., S. 207–286. Freud, S. (1933a): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XV. Frankfurt a. M. Habermas, J. (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. Heim, R. (1999): Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft. Gießen. Heim, R. (2005): Das verlorene Objekt der Zeit. Überlegungen zur Zeit-Diagnostik der Depression. In: Busch, H.-J.; Deserno, H.; Hau, S. (Hg.): Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit. Göttingen, S. 98–124. Horkheimer, M.; Adorno, Th. W. (1944): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M., 1969. Lacan, J. (1966): Kant mit Sade. In: Schriften II. Olten, 1975, S. 133–164.

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Lacan, J. (1986): Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch VII (1959– 1960). Weinheim u. a., 1996. Nasio, J.-D. (1988): 7 Hauptbegriffe der Psychoanalyse. Wien, 1999. Randow, G. v. (2001): Genießen. Eine Ausschweifung. Hamburg. Reiche, R. (2004): Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche. Frankfurt a. M. u. a. Roudinesco, E. (1993): Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Köln, 1996. Schulze, G. (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M. u. a. Weinrich, H. (2004): Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens. München. Zepf, S. (2004): Kritische Psychoanalyse in Deutschland – oder: Das Schweigen der Lemminge. Journal für Psychoanalyse, Nr. 43: 81–96.

■ Untersuchungsfelder

■ Rolf Haubl

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In identitätstheoretischer Perspektive wird die gesellschaftliche Transformation im 20. Jahrhundert bevorzugt als Übergang von einem »innengeleiteten« zu einem »außengeleiteten« Gesellschaftscharakter beschrieben. David Riesman (1950) prägt dazu eindrucksvolle technische Metaphern, wenn er die normativen Orientierungsleistungen des »innengeleiteten« Gesellschaftscharakters mit einem »Kreiselkompass«, die des »außengeleiteten« dagegen mit einem »Radarschirm« vergleicht: Jener verfolgt gradlinig sein ein für alle Mal feststehendes Ziel, das ihm die Prinzipien seines Gewissens vorgeben; dieser manövriert stets nur an wechselnden und aus seiner Sicht zufällig aufleuchtenden Hindernissen vorbei, auf welchen Kurs er dadurch auch immer gerät; mithin bestimmen nicht Prinzipien, sondern Gelegenheiten seine Lebensführung.

■ Identität als Projektmanagement Im Werthorizont von Riesman und seinen Epigonen erscheint der »außengeleitete« Gesellschaftscharakter als zivilisatorischer Rückschritt. Allerdings muss man sich fragen, inwieweit diese Zeitdiagnose nicht einer retrospektiven Heroisierung des bürgerlich-patriarchalen Subjekts geschuldet ist. Die häufige Diffamierung des »außengeleiteten« Gesellschaftscharakters lässt dies vermuten. Und ein Großteil der Versuche, das weitere Schicksal des »außengeleiteten« Gesellschaftscharakters für die spätbürgerliche/postmoderne Gesellschaft zu bestimmen, zeigt eine entsprechende Voreingenom-

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menheit: ob als »Marketing-Charakter« (Fromm 1947, S. 47ff.), als »Proteus-Mensch« (Lifton 1971), als »Momentpersönlichkeit« (Mitscherlich 1963, S. 276), als »Neuer Sozialisationstyp« (Ziehe 1975), als »minimales Selbst« (Lash 1984), als »leeres Selbst« (Cushman 1990), als »saturiertes Selbst« (Gergen 1991) oder als »flexibler Mensch« (Sennett 1998). Bei allen Typisierungsversuchen schwingt mit, Zeuge eines beklagenswerten, weil unersetzlichen Verlustes zu sein. Die »klassische« Moderne löst sich auf und mit ihr die Einheit des Subjekts. Im Rahmen der Spiegelmetaphorik, die für das Abendland als Leitmetaphorik der Identitätsbildung gelten darf (vgl. Haubl 1991), gleicht diese Situation einem gesprungenen »Hohlspiegel«: Jede Scherbe gibt ihre eigene Gesamtperspektive wieder, »ohne daß die von Rissen und Sprüngen feinmaschig zergliederte, in ihre Bestandteile zerfallende Spiegeloberfläche aus sich heraus noch ein gemeinsames Bild erzeugen könnte« (Beck 1983, S. 57). Nun bliebe abzuwarten, welche Auswirkungen diese Veränderung des Gesellschaftscharakters für die Gesellschaft und ihre Mitglieder tatsächlich bringt. An Gelassenheit aber fehlt es allzu oft. Und deshalb geraten viele Beschreibungen psychopathologisch: »Diese Fragmentierung der Selbstbilder entspricht einer Vielfalt inkohärenter und unverbundener Beziehungen. Diese Beziehungen zerren uns in unzählige Richtungen und laden uns ein, eine solche Vielfalt an Rollen zu spielen, daß gerade das Konzept eines ›authentischen Selbst‹ mit erkennbaren Merkmalen aus dem Gesichtsfeld entschwindet. Das voll saturierte Selbst wird so zu überhaupt keinem Selbst« (Gergen 1991, S. 7). Gut, dass es auch Typisierungsversuche gibt, in denen die Entmachtung des bürgerlich-patriarchalen Subjekts als Befreiung von Identitätszwängen erscheint. Dazu gehören die »Bastelmentalität« (Gross 1985) und die »Patchwork-Identität« (Keupp 1989, S. 63ff.). Beide rekurrieren auf eine sozialstrukturelle Freisetzung der Mitglieder der spätbürgerlichen/postmodernen Gesellschaft aus tradierten Lebensformen. Diese gesellschaftliche Individualisierung, die nicht mit einer Individuation aufseiten des Subjekts gleichgesetzt werden darf, führt zu einer Vermehrung individueller Lebensstil-Optionen. Immer aber sind es »riskante Freiheiten« (Beck u. Beck-Gernsheim 1993), die sich den Gesellschaftsmitglie-

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dern bieten – riskant deshalb, weil nie sicher ist, ob ein frei gewählter Lebensstil tatsächlich soziale Anerkennung findet. Wer frei wählt, ergreift eine Chance, trägt aber auch das Risiko einer möglichen gesellschaftlichen Marginalisierung, wenn die soziale Anerkennung ausbleibt. Insofern verläuft das Leben von immer mehr Gesellschaftsmitgliedern nicht länger nach Plan, sondern wird zu einem »individuellen Projekt« (Kohli 1986, S. 185).

■ Das Konzept des Gesellschaftscharakters Eine produktive Auseinandersetzung mit der Frage nach dem postmodernen Gesellschaftscharakter (vgl. Funk 2005) muss sich zunächst methodisch vergewissern, wobei Erich Fromm das Konzept des Gesellschafts- beziehungsweise Sozialcharakters vorgibt: In Fromms Anthropologie muss der Mensch eine Reihe von Grundbedürfnissen befriedigen, zu denen auch ein gleichsam übergeordnetes »Bedürfnis nach einer Charakterstruktur« (Fromm 1973, S. 227) gehört. Dieses Bedürfnis resultiert aus der Instinktentbindung des Homo sapiens. Die fehlenden Instinkte werden durch den Charakter ersetzt. Ihm kommt die Funktion zu, die Energien von Menschen so auszurichten, dass dauerhafte Orientierungen möglich werden. Sozialisationstheoretisch betrachtet entstammen diese Orientierungen der Auseinandersetzung der Individuen mit den strukturellen Zwängen der Gesellschaft, in der sie leben, wobei diese Zwänge ihrerseits wiederum mehr oder weniger personal vermittelt sind. In dieser Auseinandersetzung entwickelt jedes Individuum einen Individualcharakter und einen Gesellschaftscharakter. Was der Gesellschaftscharakter ist, expliziert Fromm auf verschiedene Weise: Zum einen meint er damit die psychischen Merkmale, die bei allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleich sind. Er stellt sich vor, dass die in einer Gesellschaft beobachtbaren Merkmale unterschiedlich verbreitet sind; die einen mehr, die anderen weniger. Bei zunehmender Verbreitung werden die Gesellschaftsmitglieder einander ähnlich, bei abnehmender Verbreitung dagegen einander unähnlich.

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Folglich kann man sagen, jedes Gesellschaftsmitglied habe nicht nur einen Individualcharakter, der aus der Kombination seiner besonderen Merkmale besteht, sondern auch einen Gesellschaftscharakter, also die Merkmale, die auch die anderen Gesellschaftsmitglieder haben. Ebenso kann man aber auch sagen, dass eine Gesellschaft einen Gesellschaftscharakter habe und damit die Menge der allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsamen Merkmale meinen. Diese – wenn man so will: statistische – Explikation reicht allerdings nicht aus, um den Gehalt des Begriffs voll auszuschöpfen. Denn Fromm (1962, S. 89) betont, dass der Begriff des Gesellschaftscharakters »nur richtig verstanden (wird), wenn er hinsichtlich seiner Funktion verstanden wird«. Über diese Funktion heißt es: »Der Gesellschafts-Charakter internalisiert äußere Notwendigkeiten und spannt auf diese Weise die menschliche Energie für die Aufgaben eines bestimmten ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ein« (Fromm 1941, S. 383); er ist »das Ergebnis der Interaktion zwischen individueller psychischer Struktur und sozioökonomischer Struktur« (Fromm 1976, S. 364). Als Vermittlungsinstanz zwischen diesen beiden Strukturen erfüllt er die Funktion, Individuen so zu formen, dass sie in die gegebene Gesellschaft hineinpassen und motiviert sind, so zu handeln, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartet. Seine Funktion liegt also darin, ihnen die gesellschaftlichen Erfordernisse so aufzuerlegen, »daß es keine Angelegenheit einer bewußten Entscheidung ist, ob ihr Verhalten dem gesellschaftlichen Muster folgt oder nicht, sondern daß sie sich so verhalten wollen, wie sie sich verhalten müssen, und daß sie gleichzeitig ihre Befriedigung darin finden, daß sie sich den Erfordernissen ihrer Kultur entsprechend verhalten« (Fromm 1955, S. 118). Mithin ist der Gesellschaftscharakter zwar nicht nur, aber vor allem eine Instanz, die dafür sorgt, dass den Individuen die Erhaltung der Gesellschaft, in der sie leben, zu ihrer zweiten Natur wird, was nur gelingt, wenn sie weitgehend unbewusst bleibt. Denn dann dient der Gesellschaftscharakter effektiv »als Zement, der der Gesellschaftsordnung zusätzliche Stabilität verleiht« (Fromm 1976, S. 364), indem er gesellschaftliche Unbewusstheit produziert (vgl. Erdheim 1982). Verweist Fromm darauf, dass der Gesellschaftscharakter »unter

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besonderen Umständen« aber auch »Sprengstoff« für einen gesellschaftlichen »Umbruch« (Fromm 1976, S. 364) liefert, so wird dies nur verständlich, wenn man bedenkt, dass es um einen funktionalen Begriff geht, der deshalb nicht ohne weiteres empirisch gilt. Wenn man, so ließe sich der Zusammenhang klarlegen, eine bestimmte Gesellschaftsordnung – vor allem ihre Sozioökonomie – analysiert, dann ergibt dies eine theoretische Antizipation, wie die Gesellschaftsmitglieder in ihrem Erleben und Handeln sein müssten, um diese Ordnung unbewusst mit ihren Energien am Leben zu erhalten. Empirisch braucht es diese Gesellschaftsmitglieder nicht (in ausreichendem Maß) zu geben. Denn Individuum und Gesellschaft sind nicht naturwüchsig gleichgeschaltet. Jede Gesellschaft wird zwar versuchen, ihre Mitglieder nach dem Gesellschaftscharakter, den sie objektiv hat, zu sozialisieren. Sie muss damit aber nicht zwangsläufig Erfolg haben, weshalb es vorkommt, dass sich die empirische Charakterentwicklung der Gesellschaftsmitglieder aufgrund zu großer Diskrepanzen zu einem Krisenpotenzial verdichtet. Zusammengefasst: Jede Gesellschaft hat einen »objektiven« Gesellschaftscharakter, der gesellschaftsanalytisch deduziert werden kann, und einen »subjektiven« Gesellschaftscharakter, der sich empirisch als Menge gemeinsamer psychischer Merkmale beziehungsweise als häufigster Individualcharakter operationalisieren lässt. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als eine theoretische Skizze, in die zwar empirische Befunde eingehen, ohne dass aber jedes Argument bereits empirisch befriedigend abgestützt wäre.

■ Versagensangst und narzisstische Depression Die Protagonisten der Postmoderne betonen die Chancen, die der Individualisierungsprozess bietet. Dabei erklären sie den »flexiblen Menschen«, um dessen Seelenheil sich Richard Sennett (1998) sorgt, zu ihrem neuen Helden. In der Postmoderne bestehe in weiten Grenzen gesellschaftlicher Notwendigkeiten die Möglichkeit, einmal getroffene (berufliche, familiäre, weltanschauliche) Lebens-

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entscheidungen jederzeit korrigieren zu können – wenn man psychosozial nur flexibel genug sei. Eine zweite Chance werde es immer geben. Diese Reversibilität existiert zwar bis zu einem gewissen Maß, ist ansonsten aber eine narzisstische Phantasie. Faktisch gibt es keinen bedingungslosen Neubeginn. Zum einen hängt das Ausmaß der Reversibilität von den Kapitalien ab, über die ein Gesellschaftsmitglied verfügt: Geld (ökonomisches Kapital), Bildung (kulturelles Kapital), Netzwerke (soziales Kapital); zum anderen ist fraglich, ob die Gesellschaftsmitglieder tatsächlich die erforderliche psychosoziale Flexibilität aufbringen (wollen und können), und wenn ja, ob dann die psychosozialen Kosten erträglich sind (vgl. Haubl 2004). Damit stellt sich die Frage, über welche Kompetenzen die Gesellschaftsmitglieder verfügen müssen, um die propagierte – nicht nur ermöglichte, sondern auch normativ geforderte – Flexibilität für ihre eigenen Interessen zu nutzen? Und was geschieht, wenn ihnen diese Kompetenzen fehlen? Um einen kleinen Ausschnitt dieses Fragenkomplexes zu behandeln, liegt im Folgenden der Fokus auf gesellschaftsspezifischen Ängsten und bestimmten Strategien, sie zu bewältigen. Zygmunt Baumann (1997) zufolge hat jede Zeit ihre dominanten Ängste. Seit der »klassischen« Moderne kommt es seiner Diagnose nach zu einer Verschiebung: Ist es vormals die »Konformität, die das Individuum in seinen Lebensanstrengungen anspornt«, so ändert sich dies in der Postmoderne. Nunmehr wird von jedem Gesellschaftsmitglied die »Anstrengung« erwartet, »fit zu bleiben für seine Anstrengungen« (Baumann 1997, S. 184). Damit verändert sich auch die dominante Angst: Ängstigten sich die Gesellschaftsmitglieder früher davor, von einer konventionellen Lebensführung abzuweichen, so ist Non-Konformismus in der Postmoderne nicht mehr das Problem. Im Gegenteil: Die Postmoderne bezieht ihre Kreativität und damit ihr Innovationspotenzial aus einer Vervielfältigung von frei gewählten Lebensstilen. Diese Vervielfältigung bringt jedoch eine ihr eigene Angst hervor: die Angst, persönlich zu versagen. Gefürchtet wird ein »Versagen darin, die Gestalt und Form, die man annehmen wollte, tatsächlich zu erlangen, welche Form auch immer dies sein mochte; das Versagen darin, in Bewegung zu bleiben, aber auch darin, an dem Ort

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seiner Wahl haltzumachen, flexibel und offen zu bleiben, nach Belieben Form anzunehmen, gleichzeitig formbarer Ton und ein vollendeter Bildhauer zu sein« (Baumann 1997, S. 183). Persönliches Versagen ist – klinisch gesprochen – einer der Auslöser einer narzisstischen Depression. Darüber ist bei den Propagandisten der Postmoderne aus gutem Grund nicht die Rede. Denn sie gehört zu den psychosozialen Kosten, die Gesellschaftsmitglieder ohne ausreichende Bewältigungskompetenzen zu tragen haben. Depression ist grundlegend verschieden von Trauer. Menschen mit einer narzisstischen Depression sind nicht traurig, sondern infolge von Enttäuschungen ängstlich und wütend zugleich. Dabei kehren sie die Wut aus Angst vor einem totalen Verlust der sozialen Anerkennung gegen sich selbst und setzten auf diesem Wege die erlebte Entwertung in eine gesteigerte Selbstentwertung um. Die Enttäuschung resultiert daraus, dass das RealSelbst dieser Menschen trotz aller Anstrengungen hinter ihrem Ideal-Selbst zurückbleibt. Angenommen, ein Gesellschaftsmitglied habe Flexibilität und Reversibilität zu seinem Ich-Ideal erhoben, dem es gerecht zu werden sucht; dann wird es jede reale Erfahrung, dass es diesem Anspruch an sich selbst nicht gerecht zu werden vermag, als beschämend erleben: nicht nur als Mangel, sondern als Makel, der sein Selbstwertgefühl erniedrigt. In der narzisstischen Depression, die es daraufhin entwickeln kann, bleibt ein »erschöpftes Selbst« (Ehrenberg 2004) unbewusst an den Anspruch gekettet, der es kränkt und krank macht. Epidemiologisch gibt es deutliche Hinweise dafür, dass die spätbürgerliche/postmoderne Gesellschaft eine »depressive Gesellschaft« (vgl. Haubl 2005) ist, auch wenn dies angesichts des Erlebnishungers und der Umtriebigkeit vieler ihrer Mitglieder auf den ersten Blick anders erscheinen mag. Unter diesen Bedingungen wird eine wirksame Enttäuschungsprophylaxe zur Schlüsselkompetenz.

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■ Unempfindlich werden Eine Theorie des Scheiterns steht noch aus. Bislang gibt es nur Ansätze (vgl. Junge u. Lechner 2004). Wie lebt es sich in einer Gesellschaft, in der die Angst, persönlich zu versagen, herrscht? Wie bewältigen die Gesellschaftsmitglieder ihre Schamangst? Am Besten hilft zweifellos gesellschaftlicher Erfolg. Um dieses knappe Gut wird dann auch unter Einsatz aller Kräfte konkurriert. Erfolgreiche Gesellschaftsmitglieder stellen ihren gesellschaftlichen Erfolg gut sichtbar heraus, um den Neid ihrer Konkurrenten, die sie hinter sich gelassen haben, als Anerkennung zu verbuchen (vgl. Haubl 2002a). Da gesellschaftlicher Erfolg ein knappes Gut ist, kann sich jedes Gesellschaftsmitglied ausrechnen, dass viele auf der Strecke bleiben werden. Unter diesen Bedingungen gilt es, auf Enttäuschungen vorbereitet zu sein. Angenommen, ein Gesellschaftsmitglied investiert alle seine Kräfte in die Verfolgung eines bestimmten Ziels, von dessen Erreichung es sich soziale Anerkennung, wenn nicht gar Bewunderung verspricht. Dann lassen sich mindestens drei Fälle des Scheiterns unterscheiden: a) Es scheitert, weil seine Kräfte nicht ausreichen, das Ziel zu erreichen. b) Es erreicht das Ziel, aber die soziale Anerkennung für die Erreichung des Ziels bleibt aus. c) Es erhält zwar soziale Anerkennung für die Erreichung des Ziels, sie befriedigt aber nicht. Der letzte Fall kann weiter differenziert werden: c 1) Die soziale Anerkennung für die Erreichung des Ziels befriedigt nicht, weil es sich falsche Vorstellungen gemacht hat; bislang kannte es sie ja nur aus der Beobachterperspektive. c 2) Sie befriedigt nicht, weil es sich bis zur Erreichung des Ziels unbemerkt selbst verändert hat, sodass es nun für das Erreichen eines Zieles sozial anerkannt wird, das es rückblickend besser gar nicht verfolgt hätte. c 3) Sie befriedigt nicht, weil es bis zur Erreichung des Ziels seine Kräfte soweit verausgabt hat, dass es nun erschöpft ist, mithin

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die Kosten der Zielerreichung die Belohnung übertreffen, sozial anerkannt zu sein. Ausschließlich auf eine offensive Erfolgsorientierung zu setzen, ist allerdings eine sehr riskante, womöglich zu riskante Strategie. Gesellschaftsmitglieder, vor allem diejenigen, die sich ihrer Kräfte nicht oder nicht mehr sicher sind, können sich deshalb defensiver einstellen und Misserfolgsvermeidung betreiben. Schließlich ist vorstellbar, dass Gesellschaftsmitglieder versuchen, gegenüber Enttäuschungen unempfindlich zu werden. Da sich eine solche Unempfindlichkeit aber nicht auf negative Gefühle begrenzen lässt, sondern den emotionalen Haushalt der ganzen Person betrifft, schwindet auch die Fähigkeit, positive Gefühle zu empfinden. So gesehen, verwundert es nicht, wenn Coolness (vgl. Poschart 2000) für den spätbürgerlichen/postmodernen Gesellschaftscharakter zu einem »moralischen Imperativ« (vgl. Lyman u. Scott 1970) wird, der verlangt, allem Geschehen nur mit »temperierten« Gefühlen zu begegnen (vgl. Käs 1991). Mag man es auch für überzogen halten, im Fall der Coolness von Moral zu sprechen, so hat der beschriebene Habitus doch zweifellos eine kaum zu unterschätzende moralpsychologische Relevanz. Denn er bestimmt nicht nur die Beziehung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder zu sich selbst, sondern auch der Gesellschaftsmitglieder untereinander, was etwa ihre Bereitschaft betrifft, einander sozial zu unterstützen. In dieser Perspektive zeigt sich, dass der Habitus der Coolness – historisch wie aktuell – etliche Verwandte hat:

■ Pathos der Kälte In »Menschliches, Allzumenschliches« (1878–80) zählt Friedrich Nietzsche auf, was »freie Geister« auszeichnet: ein »aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stoßendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Haß auf die Liebe« (Nietzsche 1954a, S. 439). Im Zentrum dieser Aufzählung steckt Nietzsche ein metaphorisches Feld ab, dessen

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Leitmetapher eine positiv konnotierte »Kälte« ist. Er gebraucht diese Metapher an verschiedenen Stellen seines Werkes in kritischer Absicht. Zwar geht er generell von einer Dialektik »warmer« und »kalter« Tugenden aus (vgl. Nietzsche 1954b, S. 1183), schlägt sich aber wiederholt auf die Seite einer »Kälte«, die er mit dem Mut gleichsetzt, auf eine konventionelle Lebensführung zu verzichten, und sei es um den Preis, einsam zu sein und zu bleiben. Denn in der »Wärme«, die Zugehörigkeit spendet, fürchtet er um seinen Verstand. »Lieber im Eise leben als unter modernen Tugenden und anderen Südwinden«, erklärt Nietzsche (1954c, S. 1165) deshalb in »Der Antichrist« (1888). Was ursprünglich einer der Namen des Teufels ist, wird bei ihm zu einem Ehrennamen für »freie Geister«. Zu den modernen Tugenden, die er als »warme Winde« veranschaulicht, zählt er vor allem das Mitgefühl, insbesondere das Mitleid. Es hat es in Verdacht, zwar »Wille zur Macht« zu sein, genau dies aber zu verschleiern. Dadurch diene das Mitleid dazu, den Bemitleideten zu bevormunden, mehr noch: Im Christentum verdiene man Mitleid nicht bedingungslos, sondern nur dann, wenn man sich ihm unterwerfe. Wenn Nietzsche das Mitleid als Mechanismus des sozialen Ausschlusses kritisiert, dann liegt das ganz auf der Linie aktueller Positionen, die betonen, dass Mitleid nur in Verbindung mit einem irreduziblen Respekt vor einem selbstbestimmten Leben ethisch legitimierbar, ansonsten aber »verletzendes Mitgefühl« (Sennett 2002, S. 157ff.) ist. Das Pathos der »Kälte« meint somit bei Nietzsche die Abkoppelung der Unterstützung eines Notleidenden von der Fähigkeit und Bereitschaft seiner Mitmenschen, sich in ihn einzufühlen. Ein Notleidender muss Unterstützung auch dann erhalten können, wenn er ein Leben lebt, das seine Mitmenschen nicht gutheißen. Wahre Nächstenliebe reduziert sich nicht auf seinesgleichen. Freilich ist die Grenze schmal, die zwischen einer Relativierung der Empathie und Empathielosigkeit verläuft. Denn ganz ohne die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in einen Notleidenden einzufühlen, wird die Not verkannt, deren Linderung sozialer Unterstützung bedarf.

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■ Blasiertheit und Zynismus Was heute als Coolness gilt, ist um 1900 herum Blasiertheit. Arthur Schnitzler hat sich in seinem Theaterstück »Die Blasierten« (1901) kritisch mit ihr auseinander gesetzt. Das Stück thematisiert die politische Handlungshemmung einer Generation von jungen Intellektuellen, die sich normativ in einer Orientierungskrise befinden, weil sie von dem fassadären Liberalismus des Bürgertums ihrer Väter enttäuscht sind, ohne sich einen eigenen Weg vorstellen zu können. In diesem Stück kommt es zu einem Dialog zwischen Cyprian und Paul, in dem Cyprian davon schwärmt, sich für die »Armen und Elenden« zu engagieren (Schnitzler 1901, S. 154ff.): »Da muß Wandel geschaffen werden. Nieder mit den Besitzenden! Nieder mit den Reichen!« Deshalb versucht er, Paul davon zu überzeugen, sich ebenfalls zu engagieren. Es gelingt ihm aber nicht. Er scheitert an Pauls Blasiertheit, mit der dieser alle moralisch-politischen Ansprüche an sein Handeln von sich weist: »Paul: Das Mißliche für mich, liebster Freund, ist, daß ich alle großen Ereignisse, die sich entwickeln, schon so sehe, wie sie später in einem Geschichtsbuch stehen werden … glanzlos, tot, als längst gewesen. Cyprian: Und darum? Paul: Und darum würde mich die Revolution langweilen.« Statt moralisch-politisch argumentiert Paul ästhetisch! Wer eine solche Verschiebung betreibt, ist blasiert, weil er den »Armen und Elenden« die Empathie verweigert, indem er den Kampf für soziale Gerechtigkeit als Vorwand missbraucht, um sich die Zeit zu vertreiben. Und das gilt nicht nur für Paul, sondern auch für Cyprian. Denn Schnitzler stellt ihn als Salonrevolutionär dar, der sich an seiner eigenen sozialromantischen Schwärmerei berauscht, womit auch ihm der ästhetische Reiz seines Handelns letztlich das Wichtigste ist. Beiden sind die »Armen und Elenden« gleichgültig. Eine solche Ästhetisierung der Gleichgültigkeit kann eine Form anti-depressiver Enttäuschungsprophylaxe sein. Der Gleichgültige engagiert sich nicht, zumindest nicht ernsthaft: »Das Risiko, dass die Dinge, für die man gestern noch stritt, heute schon vergessen

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sind, ist zu groß« (Werner 1999, S. 68). Warum sich dann noch empören? Der Übergang zum Zynismus ist fließend. Alles hängt davon ab, wie weit es dem Gleichgültigen gelingt, seine Resignation vor sich selbst zu verbergen: »Erst die wissende Indifferenz, die sich durch Indifferenz nicht mehr geschützt sieht, sondern diese als so vergeblich wie alles sonst durchschaut, ist zynisch« (Heinrich 1964, S. 43). Im Zynismus gewinnt die Wut die Oberhand, die in der Gleichgültigkeit noch stillgestellt ist. Um sie nicht gegen sich selbst wenden zu müssen, wird sie nach außen gekehrt, indem sie – exemplarisch formuliert – die »Opfer«, die zu einer moralisch-politischen Stellungnahme herausfordern, zu »Tätern« macht. Dann geschieht es leicht, dass etwa Arme für ihre sozialstrukturelle Benachteiligung selbst verantwortlich gemacht werden (vgl. Hewstone u. Augoustinos 1995, S. 92f.). In diesem Moment aber gerät die »Selbstbehauptung« des Zynikers zu »einem Mitmachen um jeden Preis« (Heinrich 1964, S. 43). Durch den Einfluss der Massenmedien, die keine frühere Gesellschaft so wie die spätbürgerliche/postmoderne Gesellschaft durchdrungen haben, verschärft sich die angedeutete Entwicklung. Zum einen bildet sich unter dem Eindruck der massenmedial vermittelten universalen Krisenherde eine universale wohlfeile Betroffenheit heraus, der keine Taten folgen (können); zum anderen bleibt nach einem Kräfte zehrenden moralisch-politischen Engagement nur noch Zynismus, um sich »von den Folgen des Erkennens nicht erschüttern [zu] lassen« (Heinrich 1964, S. 41).

■ Langeweile Wenn Paul in Schnitzlers Theaterstück sich gegen die Revolution ausspricht, weil sie ihn langweilen würde, ist mit der Langeweile eine weitere Form der Enttäuschungsprophylaxe genannt. Das Gefühl der Langeweile lässt sich als »Deckgefühl« verstehen, das aktualisierte unbewältigte psychosoziale Konflikte in Schach hält, indem es den konfligierenden Bestrebungen die emotionale Besetzung entzieht (vgl. Wangh 1975).

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Welche Folgen dieser Besetzungsentzug hat, beschreibt Alberto Moravia (1966, S. 94ff.) in seinem Roman »La Noia«: Die Hauptfigur ist ein etwa 30-jähriger Mann, den Dinge, aber auch Menschen langweilen: »Wie gewöhnlich zerstörte die Langeweile also zuerst meine Beziehung zu den Dingen und dann die Dinge selbst; sie machte sie für mich sinnlos und unverständlich.« Langeweile versetzt Dinge und Menschen, die ganze Welt, in einen irrealen Zustand. Dieser Realitätsverlust kann so unerträglich werden, dass als einziger Ausweg bleibt, das verlorene Realitätsgefühl aggressiv zurückzugewinnen: »Wenn mir infolge der Langeweile ein Glas unverständlich und absurd vorkam, packte mich manchmal der heftige Wunsch, es zu Boden zu schleudern und in Stücke zu brechen, um so eine Bestätigung für seine wirkliche Existenz zu haben.« Gleichermaßen für Menschen: »Wenn ich mich mit Cecilia langweilte, überkam mich das Bedürfnis, sie zu zerstören, oder wenigstens sie zu quälen, damit sie litt. Ich hatte die Vorstellung, daß es mir so vielleicht gelingen könnte, die Beziehung wiederherzustellen, die durch die Langeweile unterbrochen war.« Eine vergleichbare Situation begegnet dem Leser in der Erzählung »Der Fremde«, die Albert Camus 1942 veröffentlich hat. Im Mittelpunkt steht der in Algier lebende Büroangestellte Meursault, der zum Mörder an einem ihm fremden Araber wird, den zu erschießen er eigentlich keinen Grund hat. Nach einem Gerichtsprozess, der vergeblich nach plausiblen Motiven sucht, wird er schuldig gesprochen und hingerichtet. Camus beschreibt Meursault als einen jungen Mann, der allen Ereignissen in seinem Leben – in der Erzählung steht der Tod seiner Mutter am Anfang – gefühllos begegnet. Er ermordet den Fremden, weil er sich selbst fremd bleibt. Der Mord geschieht ihm – mehr, als dass er ihn aktiv begeht. Deshalb weiß er auch nicht so recht, was er sagen soll, als ihn der Richter fragt, ob er seine Tat bereue: »Ich überlegte und sagte, daß ich eher als echte Reue eine gewisse Langeweile empfände« (Camus 1942, S. 72). Diese Aussage provoziert das Gericht, ist von Meursault, der sich bemüht, aufrichtig zu sein, aber überhaupt nicht provozierend gemeint. Er fühlt tatsächlich nicht, was an Gefühlen von ihm erwartet wird. Diese Gefühllosigkeit betrifft alle Gefühle, besonders aber Traurigkeit. So fragt ihn sein Anwalt, als er ihn im Gefängnis be-

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sucht, ob er denn beim Tod seiner Mutter gar nicht traurig gewesen sei: »Die Frage verwunderte mich sehr, und es wollte mir scheinen, daß es mir sehr peinlich gewesen wäre, wenn ich sie hätte stellen müssen. Ich antwortete, daß ich mich nicht mehr viel beobachte und ihm deswegen kaum Auskunft geben könne. Natürlich mochte ich Mama sehr gern, aber das besagte ja nichts. Alle gesunden Menschen wünschten mehr oder weniger den Tod derer, die sie lieben« (Camus 1942, S. 66). Psychodynamisch betrachtet, erscheint Meursault in diesem Zusammenhang als ein Mensch, der unfähig ist zu trauern. Als habe er ein Trauma erlitten, dessen Schrecken er abwehrt, indem er sich und anderen gegenüber gefühllos wird und deshalb töten kann, ohne Reue zu empfinden: Meursault, »der sich aus der [inneren] Welt der Gefühle zurückgezogen hat, begegnet der Außenwelt – als Zerstörer« (Lyman 1978, S. 40f.). Während des Zweiten Weltkriegs einen solchen Fall von »armierter Trauer« (Haas 2002) zu erzählen, weist über Einzelschicksale hinaus: Gewalt ist eine Schicksalsfrage der Gattung, die jeder Krieg aufs Neue stellt. Ohne Mitgefühl für andere und ohne die eigene Verletzlichkeit spüren und ertragen zu können, pflanzt sie sich von Generation zu Generation fort.

■ »Ich glaube, daß jeder eine Maschine sein sollte« Diese Äußerung stammt von einem Idol der Coolness: Andy Warhol (zit. n. Heyden-Rynch 1963, S. 296). Die Maschine erscheint dabei als Sinnbild perfekter Rationalität und Funktionalität – bar jeglicher Gefühle. Darin nur dem Geld vergleichbar, dem »fürchterlichste[n] Nivellierer« (Simmel 1903, S. 196). Die spätbürgerliche/postmoderne Gesellschaft ist zum einen eine fast völlig monetarisierte Gesellschaft (vgl. Haubl 2002b), zum anderen eine Gesellschaft, in der Dinge, insbesondere Maschinen, soziale Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern vermitteln. In seinem Hauptwerk »Die Antiquiertheit des Menschen« hat Günther Anders (1956, 1980) als einer der Ersten die psychosozialen Konsequenzen dieser Ding-Vermitteltheit auf den Begriff

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gebracht. Er fordert, die sozialwissenschaftliche Fiktion unmittelbarer Mit-Menschlichkeit aufzugeben, und eine »Dingpsychologie« (Anders 1980, S. 58ff.) zu institutionalisieren (vgl. auch Hartmann u. Haubl 2000). Für ihn steht fest, dass der Modernisierungsprozess als Maschinisierungsprozess begriffen werden muss, in dem die Technik zum »Subjekt der Geschichte« (Anders 1980, S. 279f.) geworden ist. Er meint dies nicht metaphorisch, sondern buchstäblich; überall herrscht Sachzwang: »Produkte, also Dinge [vor allem Maschinen], sind es, die den Menschen prägen. In der Tat wäre es kaum eine Übertreibung zu behaupten, daß Sitten heute fast ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden« (Anders 1980, S. 260). Anders teilt nicht die beruhigende Ansicht, dass Maschinen neutral seien und es deshalb darauf ankomme, für welchen Zweck sie gebraucht werden; stattdessen geht er davon aus, dass sie verdinglichte Handlungspotenziale sind, die ein ihnen entsprechendes Handeln – zugespitzt formuliert – erzwingen. Was er meint, mag ein Beispiel aus Theodor Adornos »Minima moralia« (1951, S. 43) illustrieren. Dort heißt es lapidar über das Autofahren: »Und welchen Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße, Passanten, Kinder und Radfahrer, zuschanden zu fahren?« Der Autofahrer führt aus, wozu das auf Temposteigerung hin konstruierte Auto bestimmt ist. Von seiner Bestimmung her lässt es ihn seine Mitmenschen als »Ungeziefer der Straße« wahrnehmen, sodass er ohne jede Hemmung das Gaspedal durchtreten kann. Zwar wird er, wenn er so fahrlässig handelt und jemanden überfährt, vor Gericht gestellt, verurteilt und bestraft. Indessen ist eine solche individualisierte moralisch-rechtliche Beurteilung antiquiert; sie verfehlt, so Anders, dass die Moral beziehungsweise Unmoral in der Maschine verdinglicht ist. Mithin hat ein solches Gerichtsverfahren tatsächlich primär einen ideologischen Zweck: Unter Berufung auf »menschliche Unzulänglichkeit« wird die notwendige Moralisierung der verdinglichten Gewaltverhältnisse verhindert. Und so ist es in solchen Fällen subjektiv konsequent, wenn bei den Autofahrern kein Schuldbewusstsein aufkommen will. Der Handelnde begnügt sich mit dem Bewusstsein, sein Auto lediglich bedient zu haben – was keine moralische Kategorie ist.

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In den Worten von Anders (1981, S. 88), der Alltäglichkeiten dieser Art hochrechnet und verallgemeinert, heißt das: »Es gibt keine moralisch bösere Situation als diejenige, in der das Böse bereits so sehr zum integrierten Bestandteil der Situation selbst geworden ist, daß sie es dem Individuum ersparen kann, selbst böse zu sein.« Deshalb lehrt die spätbürgerliche/postmoderne, dinglich vernetzte Gesellschaft einen »kategorischen Imperativ«, der eine solche Entmoralisierung begünstigt: »Handele so, daß die Maxime deines Handelns die des Apparats, dessen Teil du bist oder sein wirst, sein könnte.« Oder negativ formuliert: »Handele niemals so, daß die Maxime deines Handelns den Maximen der Apparate, deren Teil du bist oder sein wirst, widerspricht« (Anders 1992b, S. 290). Wenn aber gilt, dass »jeder diejenigen Prinzipien [hat], die das Ding hat, das er hat« (Anders 1956, S. 296), dann müsste eine Ethik, die auf der Höhe gesellschaftlicher Verdinglichung wäre, fordern: »Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten« (Anders 1956, S. 298). Dass dieser gesellschaftskritische »kategorische Imperativ« breitenwirksam befolgt würde, dagegen steht, was Anders »prometheische Scham« (Anders 1956, S. 21ff.) nennt.

■ Selbstverdinglichung aus prometheischer Scham Anders (1956, S. 23) unterstellt, der spätbürgerliche/postmoderne Gesellschaftscharakter leide, wenn auch unbewusst, an »Scham vor der ›beschämend‹ hohen Qualität der selbst gemachten Dinge«, mit der er sich vergleiche und hinter der er zurückbleibe. Diese Scham bedeutet generell, sich gegenüber Dingen minderwertig zu fühlen. Das folgende Beispiel datiert inzwischen fast zwei Jahrzehnte zurück, hat aber nichts an Eindrücklichkeit verloren. In einer Institution werden für die Büroarbeit Computer eingeführt. Eine über lange Jahre hinweg bewährte Sekretärin beginnt, sich ehrgeizig in die für sie neue Technik einzuarbeiten. Wie kaum anders zu erwarten, gelingt ihr das nicht reibungslos. Der Lernprozess ist fehleranfällig und dadurch langwierig. Sie wird ungeduldig und ängstlich. In dieser Situation träumt sie folgende Szene:

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Sie steht in einem Hochhaus auf einem Fenstersims einer der oberen Stockwerke, so wie man das von Selbstmördern kennt, und blickt in die Tiefe. Um den Leib hat sie sich ihren Computer gebunden. Sie wirkt wie eine Schwangere kurz vor dem Entschluss, sich und ihr Kind hinabzustürzen. Noch hat sie sich nicht endgültig entschieden, den letzten Schritt zu tun, aber ihr psychischer Druck nimmt ständig zu. Da hält sie plötzlich inne und hört sich im Traum zu sich selbst sagen: »Du darfst nicht springen, denn dann geht der Computer kaputt«. Zum einen belegt der Traum, dass die Dingwelt Menschen nicht äußerlich bleibt, sondern von ihnen verinnerlicht wird. Zum anderen geht die Träumerin buchstäblich mit der Frage schwanger: Das Ding oder ich! Wer von beiden soll überleben? Es ist eine existenzielle Frage nach der Wertigkeit von Menschen und Dingen. In der Antwort, die sich die Träumerin gibt, akzeptiert sie klaglos, dass sie für das Ding lebt. Kränkung und Wut sind verdrängt. Die Lösung, nur das Ding zu zerstören, bleibt ungeträumt. Damit passt sich die Träumerin einer vermeintlich unentrinnbaren Situation an, in der sie einen Verlust ihres Wertes hinnehmen muss. Menschen fühlen sich minderwertig, weil sie in einer Kultur leben, die Dinge den Menschen vorzieht. Als den ultimativen Beweis für diese lebensfeindliche Haltung erachtet Anders die Erfindung der Neutronenbombe, die Menschen, aber nicht Dinge zerstört. Dass diese Bombe existiert, ist ein weitgehend verdrängtes Trauma, aber dadurch auch Teil des gattungsgeschichtlichen Unbewussten. Die Menschen müssen mit dem Wissen, genauer gesagt: trotz des Wissens um ihre Wertlosigkeit leben. Und deshalb suchen sie Zuflucht in einer materiellen Lebenseinstellung, die nach Besitz und Gebrauch von Dingen strebt, die über diese Wertlosigkeit hinweg trösten soll. Mehr noch: Wertvolle Dinge sollen ihrem Besitzer zu Selbstwert verhelfen (vgl. Haubl 1998). Anders geht aber noch weiter. Er nimmt an, dass das Minderwertigkeitgefühl des modernen Menschen gegenüber den von ihm selbst gemachten Dingen an seinem Ursprung das unerträgliche Gefühl ist, selbst (nur) »geworden, statt gemacht zu sein« (Anders 1956, S. 24). Diese brennende Scham rufe einen Wunsch nach Selbstverdinglichung, die vor narzisstischer Depression schützt, hervor.

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■ Die Zukunft des Prothesengottes Sucht man das soziokulturelle Leben in der spätbürgerlichen/postmodernen Gesellschaft nach Belegen für Tendenzen zu einer Selbstverdinglichung ab, wird man an vielen Orten fündig. Sogar Psychotherapien tragen seine Signatur, wie etwa die Methode des »Neurolinguistischen Programmierens«, die in den 1980er Jahren ihren Siegeszug begonnen hat: »1. Problemverhalten x bestimmen. 2. Kontakt mit dem Teil X der Persönlichkeit aufnehmen, der das Problemverhalten x erzeugt. 3. Positive Funktion Y des Problemverhaltens erfragen. 4. Kontakt mit dem kreativen Teil der Persönlichkeit aufnehmen und Verhaltensalternativen erbitten, die die positive Funktion Y ebenfalls erfüllen kann. 5. Einwände gegen die neuen Verhaltensalternativen überprüfen (Ökologie-Check). 6. Den Teil X ersuchen, die Verantwortung für die Umsetzung der Verhaltensalternativen zu übernehmen (Future-Pace).« Interventionstechnische Anweisungen wie das hier zitierte »NLPGrundmodell des Six-Step-Reframing« (Mohr 1993, S. 214) suggerieren, der Mensch sei ein Bio-Computer, der nahezu beliebig programmiert und reprogrammiert werden könne. Für den »flexiblen Menschen« (Sennett 1998) dürften solche Phantasien attraktiv sein, weil sie ihm – wenigstens vorübergehend – die Angst vor einer irreversiblen Festlegung nehmen, wodurch sie hoffen dürfen, das persönliche Versagen von heute jederzeit in den gesellschaftlichen Erfolg von morgen zu verwandeln. Liest man die von Anders herausgearbeitete Scham-Formel, »geworden, statt gemacht zu sein«, auf den Wunsch nach Selbstverdinglichung hin, dann verkehrt sie sich in die Formel: »gemacht, statt geworden zu sein«. Sind Geburt und Tod des Menschen die organischen Bestimmungsmerkmale seines Gewordenseins, so wird es zu einem Ziel der technischen Evolution, diesen Makel wettzumachen und den Menschen von seiner Naturverfallenheit zu befreien, indem sie eine Symbiose von Mensch und Maschine anstrebt. Freud (1930a, S. 451) bringt solche Befreiungsversuche tref-

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fend auf den Begriff, wenn er den Menschen als einen »Prothesengott« beschreibt: als ein Lebewesen, das um seine Naturverfallenheit weiß, die es kränkt, weshalb es seine Intelligenz einsetzt, um sich beständig weiter prothetisch aufzurüsten. Im Ausdruck »Prothesengott« schwingt allerdings mit, dass Menschen die Maschinen, derer sie sich bedienen, tatsächlich noch als Prothesen erleben, mithin nicht so mit ihnen verschmelzen, dass sie deren Leistungen als ihre eigenen Leistungen verkennen. Womöglich ist dies aber nur ein Durchgangsstadium der technischen Evolution, die über den Klon zum Cyborg und zum Comboter führt. Erste Schritte in Richtungen Cyborg hat die Medizin mit der Erfindung von Endoprothesen längst gemacht: von der künstlichen Hüfte über die künstliche Herzklappe und den Herzschrittmacher bis hin zum Hirnschrittmacher. Insofern ist der »Maschinenmensch« bereits ein Stück weit Realität, die auf das menschliche Selbstverständnis zurückwirkt. Stellt man sich einen Menschen vor, der auf einer Intensivstation liegt und nur noch von Maschinen am Leben gehalten wird, dann findet an seinem Bett längst ein Kampf um sein »Sterberecht« als organisches Lebewesen statt. Im letzten Abschnitt seiner »Abstammungslehre« schreibt Charles Darwin (1883, S. 920), der Gang der menschlichen Entwicklung – von Evolution spricht er noch nicht – mache Hoffnung »auf ein noch höheres Schicksal in ferner Zukunft«. Über diesen Satz ist viel gerätselt worden. Was meint er? Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern eingebettet in einen unabgeschlossenen Entwicklungsprozess, in dem er sich selbst höher entwickelt, aber auch noch höher entwickelte nicht-menschliche Lebewesen entstehen können. Bei Darwin ist diese mögliche höhere Spezies organisch gedacht. Mit fortschreitenden Mensch-Maschine-Symbiosen beginnen womöglich aber auch die Cyborgs eine eigene Entwicklungslinie. Noch futuristischer mutet es an, sich generative Comboter vorzustellen – lernfähige Computer, in Roboter eingesetzt, die ihrerseits neue Robotergenerationen produzieren. Solche Vorstellungen sind längst keine Science-Fiction-Phantastereien mehr, sondern werden von namhaften Wissenschaftlern diskutiert. Wie diese verschiedenen Wesen in weiter Zukunft einmal sein

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werden, ist völlig ungewiss. Da sie das Ergebnis einer Kreativität sind, die dem Wunsch des Menschen entspringt, seine »prometheische Scham« zu überwinden, werden sie die Selbstverdinglichung perfektionieren. Und das heißt: Mängel zu beseitigen, die als organischer Makel erscheinen, wozu in der rationalistischen Tradition vorrangig Gefühle gehören. Damit treibt der Mensch seine Entwicklung über den (heutigen) Menschen hinaus. »Würden wir Maschinen herstellen, die wie Menschen funktionieren, widerspräche das ganz einfach einem der wichtigsten Motive, weshalb wir überhaupt Maschinen bauen: unserem Wunsch nach Perfektion. Ist eine Maschine perfekt, ist sie nicht menschlich. Ist sie nicht perfekt, können wir sie streng genommen nicht wollen« (Mazlish 1993, S. 351). Aber vielleicht entwickeln Comboter den Wunsch, menschlich zu werden? In der Science-Fiction-Serie »Star-Treck« gibt es die Figur des Androiden »Data«, dessen größter Wunsch es ist, Gefühle haben zu können. Sein Ingenieur-»Vater« hat zwar einen »Emotions-Chip« erfunden, ihn seinem (guten) »Sohn« und dessen (bösem) »Zwillingsbruder« aber vorenthalten, weil er befürchtet, sie zu überfordern. Genau das geschieht. Als »Data« den Chip erhält, kann er mit den Gefühlen, die er nun hat, überhaupt nicht umgehen. Damit steht er vor der Aufgabe, vor der einst auch die Menschen zivilisationsgeschichtlich standen: Er muss lernen, seine Gefühle zu beherrschen. Damit aber würde er den ersten Schritt tun, der in der Gattungsgeschichte des Menschen zur Erfindung von Maschinen geführt hat, die ohne störende Gefühle funktionieren. – »Data« entschließt sich, auf den Gebrauch des »EmotionsChips« zu verzichten.

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■ Hans-Jürgen Wirth

Sozial-Charakter, kulturelles Gedächtnis und kollektives Trauma

■ 1. Individuelles und kollektives Trauma In den letzten Jahren hat der Begriff des Traumas eine erstaunliche Renaissance erfahren. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Kliniker sich vermehrt mit den Folgen schwerer Traumatisierungen durch Krieg, Verfolgung, Vertreibung, Folter, Gewaltverbrechen und sexuellen Missbrauch konfrontiert sehen. Historisch betrachtet geriet der Traumabegriff in Verruf, nachdem Freud seine Verführungstheorie aufgab und die Ursache der Neurosen im unbewussten Konflikt des Kindes, das heißt im unbewussten Phantasieleben des Subjekts lokalisierte. Dies hatte zur Folge, dass die Traumatheorie von der Psychoanalyse jahrzehntelang tabuisiert wurde, auch wenn Freud selbst sie nie ganz aufgab. Die Psychoanalyse weigerte sich lange, die pathogenetische Bedeutung des »realen Inzestes« (Hirsch 2005) und die Existenz sexueller und sonstiger Gewalt als Ursache psychischer Störungen anzuerkennen. Diese Verleugnung der Realität durch die Psychoanalyse hat – wie Bowlby 1990 in einem Interview (Hunter 1994) kritisch und auch selbstkritisch feststellte – dazu geführt, dass unzählige sexuell missbrauchte Patienten in der psychoanalytischen Behandlung einer Re-Traumatisierung ausgesetzt waren, weil die Psychoanalytiker unempathisch, abwehrend und häufig sogar vorwurfsvoll auf ihre Schilderungen reagierten. Auch die Anerkennung der Traumata, die die Überlebenden des Holocaust erlitten, wurden unter anderem durch diese Theorie lange Zeit erschwert. Inzwischen ist die Bedeutung von Gewalterfahrungen und sexuellem Missbrauch als Ursache für die Entstehung psychischer Störungen auch in der Psychoanalyse anerkannt. Aber diese Ausei-

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nandersetzung zwischen psychoanalytischer Traumatheorie und psychoanalytischer Konflikttheorie ist noch heute virulent und wird kontrovers diskutiert (Schlösser u. Höhfeld 1999; Bohleber 2000; Hillebrandt 2004). Die Kritiker des Traumabegriffs führen gegen seine allzu häufige Verwendung vor allem folgendes Argument ins Feld: Es könne zu einer Überdehnung des Traumakonzepts kommen, und dies erzeuge ein Opferbewusstsein beim Patienten (das durch eine entsprechende Sicht des Therapeuten gestützt werde), während das Bewusstsein, verantwortlicher Gestalter des eigenen Lebens zu sein, zu kurz komme. Dieser Hinweis auf die grundsätzliche Gefahr, des Missbrauchs psychologischer Konzepte zu Abwehrzwecken gilt allerdings generell. Denn umgekehrt kann eine psychologische Theorie, die die Eigenverantwortlichkeit des Subjekts (seine Täterschaft) besonders betont, auch zur Abwehr eingesetzt werden, nämlich der Einsicht, dass man vieles im Leben passiv und ohnmächtig erleiden muss. Da der Missbrauch psychologischer Konzepte zu Abwehrzwecken grundsätzlich nie ausgeschlossen werden kann, darf dieses ideologiekritische Argument also nicht der entscheidende Grund sein, ein psychologisches Konzept zu verwerfen. Ausschlaggebend ist, welche Konzepte und Modelle die klinischen Phänomene besser abbilden und erklären. Die Skepsis, die sich gegen den individuellen Traumabegriff richtet, wendet sich erst recht gegen den des kollektiven Traumas. Ich habe wiederholt erlebt, dass die Verwendung des Begriffs »kollektives Trauma« auf so heftige affektive Kritik stieß, dass eine sachliche Diskussion kaum noch möglich war. Das Konzept des kollektiven Traumas kann offenbar starke affektive Widerstände hervorrufen, die tiefere Konflikte vermuten lassen, von denen ich einige ansprechen möchte. Historisch ist der Begriff des kollektiven Bewusstseins belastet durch den mythologischen Anstrich, den ihm die Theorien C. G. Jungs gaben. Seine Theorie der Archetypen, als den im Menschen naturhaft angelegten kollektiven unbewussten Mustern, reduziert die individuelle Psyche zu einer Variante dieser immer gleichen, im Kosmos gleichsam göttlich vorgegeben Schemata. Jungs Archetypenlehre ist vor allem eines: ahistorisch. Psychologische Theorien über kollektive Phänomene gerieten

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auch deshalb in Verruf, weil die nationalsozialistische Ideologie Anleihen bei der Völkerpsychologie gemacht hat. Schließlich existiert gerade unter gesellschaftskritischen Psychoanalytikern eine historisch bedingte, nicht einfach zu entwirrende Komplikation in Bezug auf die psychoanalytische Sozialpsychologie. Den Hintergrund bildet die unglückliche Auseinandersetzung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) mit den so genannten »Neo-Freudianern« Erich Fromm, Karen Horney, Harry Stack Sullivan und Clara Thompson (Conci 2005). Sie wurden in Amerika als Revisionisten beschimpft und aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen (Roazen 2002). Sie gründeten daraufhin in New York ein eigenes psychoanalytisches Institut, das William-Alanson-White-Institute, das von Ferenczi ausgehend den Traditionslinien von Balint, Winnicott und Fairbairn über Loewald und Sullivan folgte und schließlich zu Stephan Mitchell (1997, 2003, 2004) und der »relationalen Psychoanalyse« führte (Buchholz 2004; Wirth 2004). In Deutschland schlug das anfänglich starke Interesse, das die »Neue Linke« Ende der sechziger Jahre an Fromm hatte, merkwürdigerweise schnell in eine verächtliche Diffamierung um. Die Vertreter der psychoanalytischen Sozialpsychologie jener Jahre – beispielhaft seien Alexander Mitscherlich, Klaus Horn und Alfred Lorenzer genannt – richteten ihr kritisches Instrumentarium zwar auf die Gesellschaft, kaum aber auf die orthodoxe Psychoanalyse und die freudsche Triebtheorie. Fromm wurde vorschnell wegen seiner Kritik an manchen Aspekten der freudschen Theorie als revisionistisch beschimpft und wegen seiner populären Arbeiten als seicht verachtet. Seine grundlegenden Arbeiten zu einer psychoanalytischen Theorie kollektiver Phänomene, die er mit den Begriffen »Sozialcharakter«, »Gesellschaftscharakter«, »Gruppen-Identität« und »Gruppen-Narzissmus« entwickelt hat (Fromm 1998), wurden weitgehend ignoriert. Hinzu kommt eine antipsychologische Einstellung vieler Sozialwissenschaftler und auch Psychoanalytiker, die sich aus ihren ehemals marxistischen Einstellungen speist. Für das Individuum lässt man psychoanalytische Deutungen gelten, kollektive Phänomene will man aber nach wie vor für soziologische Theorien reservieren. Eine gängige Argumentation lautet etwa: »Politik hat doch

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nichts mit unbewussten Prozessen zu tun, da geht es doch nur um Macht, Geld und ökonomische Interessen.« Der Diskurs über das Verhältnis zwischen Psyche und Gesellschaft oder zwischen Psychoanalyse und Sozialwissenschaften ist noch immer von vielfältigen ideologisch bedingten Missverständnissen und Denkverboten gekennzeichnet. Schließlich ist noch ein immanentes Problem wissenschaftlicher Theorieentwicklung in Rechnung zu stellen. Nahezu alle psychoanalytischen Begriffe und Konzepte unterliegen einem ständigen Wandlungsprozess. Teilweise verändert sich ihr Bedeutung geradezu in das Gegenteil des ursprünglich Intendierten. Besonders deutlich wird das bei den Begriffen der »Übertragung« und der »Gegenübertragung«, die anfänglich als große Hindernisse des psychoanalytischen Prozesses betrachtet wurden und heute als ihr entscheidender Motor und Träger angesehen werden. So hilfreich klare Begriffsdefinitionen sind, so notwendig kann es sein, sich neuartigen Phänomenen zu nähern, indem man bereits etablierte Begriffe – wie beispielsweise den des Traumas – als Metapher und in Analogiebildung benutzt. Neue Problemstellungen verlangen oft nach einer spielerischen Überdehnung der theoretischen Begriffe. Erst nachdem man die neue Fragestellung tiefer durchdrungen hat, sollte man die Begriffe wieder strenger definieren und in ihrer Bedeutung genauer festlegen.

■ 2. »Kollektive Identität«, »kulturelles Gedächtnis« und »kollektives Trauma« – Versuch der Begriffsklärung Unter »kollektiver Identität« verstehe ich nicht C. G. Jungs ahistorische Archetypenlehre vom kollektiven Unbewussten. Ich beziehe mich vielmehr auf Erik H. Eriksons (1950, 1959) Begriff der »Gruppen-Identität« und auf den Begriff der »Familien-Identität«, den Manfred Cierpka (1999) als Familientherapeut formuliert hat. Erikson (1959, S. 18) betont ausdrücklich, dass sich die »persönliche Identität« nur in einem fortwährenden psychosozialen Austausch mit den Anderen konstituiert und festigt. Die unmittelbare

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Selbstwahrnehmung »der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit« ist verbunden mit der Wahrnehmung, »daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen«. »Der Begriff ›Identität‹ drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt« (Erikson 1959, S. 124). Die individuelle Identität stellt eine Variante der »Gruppen-Identität« dar, wobei Erikson dabei sowohl den sozialen Nahbereich als auch Großgruppen und »historische Leitbilder« (Erikson 1959, S. 11) im Auge hat. Folgt man der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, so bilden Kinder ihre Identität, indem sie sich mit ihren primären Bezugspersonen und der Beziehung zu diesen identifizieren. Die psychoanalytische Familientherapie geht jedoch noch einen Schritt weiter und sieht in der Identifikation des Kindes mit den Eltern als Paar und auch mit der Familie als Ganzes einen wesentlichen Baustein der Identität. Durch die Identifikation mit dem Elternpaar und dem Gesamt der Familiengruppe, bildet sich im Kind eine »Familien-Identität«, ein bewusst und unbewusst strukturiertes Bild der »inneren Familie« (Cierpka 1999, S. 91), das die eigene individuelle Identität prägt und insbesondere die »psychosexuellen Fähigkeiten zur Intimität« und die »psychosoziale Bereitschaft zur Elternschaft«, wie das Erikson (Cierpka 1999, S. 137) formuliert hat, formt. Da Identität ein Sich-gleich-Bleiben über die Zeit meint, kommt der Erinnerung und dem Gedächtnis eine besondere Bedeutung zu. Es kann daher nicht verwundern, dass die Kulturwissenschaften, in denen es auch immer um die Frage geht, wie Gesellschaften die Kontinuität kultureller Riten, Sitten, Normen Werte und so weiter über die Generationenfolge hinweg gewährleisten, ganz ähnliche Konzepte herausgebildet haben, die sich um die von Maurice Halbwachs (1985a, 1985b), Aleida Assmann (1999) und Jan Assmann (1992, 2000) formulierten Begriffe des »kommunikativen« und des »kulturellen Gedächtnisses« ranken. Das menschliche Gedächtnis stellt man sich zunächst als ein Phänomen vor, das sich im Gehirn des Individuums abspielt – ein Thema für die Neurowissenschaften, aber nicht für die historischen Kulturwissenschaften. »Was dieses Gedächtnis aber inhalt-

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lich aufnimmt, wie es diese Inhalte organisiert, wie lange es was zu behalten vermag, ist weitestgehend eine Frage nicht innerer Kapazität und Steuerung, sondern äußerer, das heißt gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen« (Assmann 1992, S. 19f.). Das individuelle Gedächtnis konstituiert und erhält sich nur, indem das Individuum an sozialer Interaktion teilnimmt. Auch wenn das individuelle Gedächtnis immer schon ein soziales Phänomen ist, muss man individuelles und kollektives Gedächtnis unterscheiden. Das individuelle Gedächtnis ist im Gehirn verankert, auch wenn es inhaltlich durch die Kultur bestimmt ist und sich durch das auszeichnet, was das Subjekt aus den vielfältigen Gruppengedächtnissen, an denen es teilhat, macht. Das kollektive Gedächtnis hat hingegen keine neuronale Basis. »An deren Stelle tritt die Kultur: ein Komplex identitätssichernden Wissens, der in Gestalt symbolischer Formen wie Mythen, Liedern, Tänzen, Sprichwörtern, Gesetzen, heiligen Texten […] objektiviert ist« (Assmann 1992, S. 89) und durch Wiederholung und kulturelle Zirkulation erinnert und an die nächste Generation weitergegeben wird. Übrigens wird diese kulturwissenschaftliche Konzeption des »kommunikativen Gedächtnisses« durchaus von den neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften über die Funktionsweise der Erinnerungsprozesse gestützt (Welzer 2002). Nur durch fortlaufende Wiederholung im Kommunikationsprozess werden die neuronalen Verschaltungen im Gehirn, die eine bestimmte Erinnerung repräsentieren, dauerhaft im Gedächtnis verankert. Dabei kann eine bestimmte Erinnerung auch einem Wandlungsprozess unterliegen, sofern sich die Erzählungen über das zugrunde liegende Ereignis verändern. Unser Gedächtnis ist also keineswegs »objektiv«, sondern auch kommunikativ in dem Sinne, dass es durch Kommunikation beeinflusst, verändert – und durchaus auch verzerrt werden kann. Auf der Grundlage der Begriffe »kollektive Identität« und »kulturelles Gedächtnis« möchte ich nun versuchen, den Begriff des »kollektiven Traumas« näher einzugrenzen. 1. Man spricht von einem individuellen Trauma, wenn einem Menschen, die Erfahrung widerfährt, ohnmächtig einer äußeren Gewalt ausgesetzt zu sein – ein Zustand, der mit starker

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Angst, Panik, Entsetzen, Schrecken, Ohnmacht und dem Gefühl der Sinnlosigkeit einhergeht – und dies die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten des Subjekts übersteigt. Mit Otto F. Kernberg (2001) möchte ich ausdrücklich betonen, dass nicht nur die Gewalt, die man am eigenen Leib erlebt, traumatisierend sein kann, sondern auch und gerade die Gewalt, deren Zeuge man wird. Ein Kind, das zusehen muss, wie Soldaten seine Mutter vergewaltigen und seinen Vater ermorden, wird durch dieses Erlebnis traumatisiert, selbst wenn ihm selbst nichts passiert. Man sieht an diesem Beispiel, dass individuelle Traumata das Potenzial in sich tragen, nicht nur das unmittelbare Opfer zu traumatisieren, sondern zugleich auch nahe stehende Menschen mit in den Traumatisierungsprozess einzubeziehen. Als These formuliert: Jedes individuelle Trauma ist potenziell ein kollektives Trauma in dem Sinne, dass es auch andere Menschen trifft. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Menschen nicht als voneinander isolierte zu denken sind und zum anderen damit, dass das Trauma per definitionem ein durchschlagender Prozess ist, dessen Wucht nicht nur das Individuum aus der Bahn wirft, sondern eben auch die soziale Umwelt, das Kollektiv nicht unberührt lässt. 2. Wenn nun die Gewalt nicht nur einem einzelnen Individuum (und seiner Familie) angetan wird, sondern die gleiche Gewalt zur gleichen Zeit vielen Angehörigen einer Gruppe, einer Ethnie oder einer Religionsgemeinschaft widerfährt, liegt beim einzelnen traumatisierten Individuum sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Traumatisierung vor. Unter kollektiver Traumatisierung verstehe ich in diesem Zusammenhang das Bewusstsein des Opfers, vor allem oder ausschließlich deshalb verfolgt worden zu sein, weil man Angehöriger einer Gruppe ist. Dieses Wissen beeinflusst die intrapsychische Verarbeitung des Traumas. Das Bewusstsein, wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Traumatisierung erleiden zu müssen, kann helfen, das Trauma heroisch zu ertragen (»Ich bin stolz darauf, zur Gruppe X zu gehören und leide für eine gute Sache«), kann aber andererseits auch das Gefühl der Ohnmacht und Sinnlosigkeit hervorrufen (»Ich muss für meine Zugehörigkeit zur Gruppe leiden, mit der mich innerlich eigentlich gar nichts verbindet«).

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3. Unter »kollektiver Identität« verstehe ich den Teilaspekt unserer Identität, der sich auf die verschiedenen Kollektive bezieht, denen wir uns zugehörig fühlen und die für unsere Werte, Überzeugungen und Emotionen von zentraler Bedeutung sind. Diese »kollektive Identität« kann verletzt und traumatisiert werden, auch wenn das Individuum weder körperlich noch unmittelbar psychisch verletzt wurde, das heißt in seiner »persönlichen Identität« nicht traumatisiert wurde. Ich will das an einem Beispiel beleuchten: Ein Individuum wird Zeuge, wie zahllose Angehörige seiner ethnischen Großgruppe systematisch ermordet werden. Das Individuum selbst und seine Familie befinden sich aber in Sicherheit. Man könnte hier sagen: Eine individuelle Traumatisierung liegt in diesem Fall nicht vor, wohl aber eine Traumatisierung der kollektiven Identität, eben jenes Teils der individuellen Identität, die sich auf das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe stützt. Je nach dem, wie stark sich das Individuum mit dem Kollektiv verbunden fühlt, variiert das Ausmaß, in dem es sich von der gegen das Kollektiv gerichteten Gewalt betroffen, beeinträchtigt, traumatisiert fühlt. Das ist vom Individuum her formuliert. Man könnte es aber auch vom traumatisierten Kollektiv her denken und sagen: Ein Trauma von monströsem Ausmaß hat eine solche traumatisierende Durchschlagskraft, dass sich ein Individuum, das zu diesem Kollektiv gehört, seiner Wirkung nicht entziehen kann. Der Holocaust wäre das Beispiel für ein solches Trauma, das nicht nur unzählige Einzelne und ihre Familien traumatisiert hat, sondern auch diejenigen, die überlebt haben, diejenigen, die rechtzeitig emigrieren konnten, diejenigen, die immer in Sicherheit lebten, ja, selbst die nächsten Generationen, die noch nicht geboren waren, als der Holocaust stattfand. Das »Schuldgefühl des Überlebenden« (Niederland 1980) gehört in diesen Zusammenhang. Aber was heißt hier Durchschlagen des kollektiven Traumas auf das Individuelle? Wenn man an der Unterscheidung zwischen »individueller« und »kollektiver Identität« von zwei Bereichen oder Aspekten des Bewusstseins des Subjekts festhält, dann könnte man zwei Fälle unterscheiden: Im einen Fall schlägt die Traumatisierung des Kollektivs (beispielsweise der Holocaust) durch auf die Ebene der individuellen Identität und führt dort

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zu einer individuellen Traumatisierung und Symptombildung. Beispielhaft wäre das jüdische Mädchen, das in der Identifikation mit den Großeltern, die im Konzentrationslager verhungert sind, eine Magersucht entwickelt. Im anderen Fall führt das kollektive Trauma »nur« zu einer Störung der im Individuum verankerten »kollektiven Identität«. Das Individuum bleibt psychisch gesund, die kollektive Identität erfährt aber eine gravierende Störung. Liest man die Bücher von Lilly Brett, Tochter von Holocaust-Überlebenden, so bekommt man den Eindruck, dass in ihrem Leben kein Tag vergeht, an dem sie nicht an den Holocaust denkt. Als Frau, als Ehefrau, als Mutter, als Autorin erscheint sie nicht außergewöhnlich belastet zu sein. Doch mit ihrer kollektiven Identität, jüdisch und Tochter von »Überlebenden« zu sein, ist der Holocaust immer präsent oder kann doch jederzeit aktualisiert werden. Das kollektive Bewusstsein, Jüdin zu sein, ist mit einer Hypothek belegt. Der kollektive Teil der Identität ist traumatisiert. 4. Ich will noch eine vierte Perspektive auf das Phänomen kollektiver Traumata diskutieren: Wenn man die Abstraktionsstufen der kollektiven Identität weiter hinausgeht, kommt man von der persönlichen Identität über die Familienidentität, die Gruppenidentität, die nationale Identität und die ethnische Identität schließlich bei der »Identität als Gattungswesen Mensch« an. Der Entwicklungspsychologe Rolf Oerter stellt die These auf, jeder Mensch verfüge über ein »Bild des Menschen«, das auch die persönliche Identität präge. Dieses »Verständnis über Menschsein im allgemeinen« (Oerter u. Noam 1999, S. 56) sei neben dem Selbstkonzept von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Identität. »Um sich im Wechselverhältnis zu anderen zu verstehen, bedarf es stets einer Interpretation dessen, was der Mensch ist. Nicht die Herauslösung von Einzelkomponenten wie Moral, Empathie, theory of mind etc. sind das Entscheidende, sondern deren Herleitung aus einem globalen, wenn auch oft diffusen Menschenbild. Letztlich gibt es für jedes Individuum ein Grundverständnis dessen, was der Mensch ist und wie er sich zur Welt verhält« (Oerter u. Noam 1999, S. 58).

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»Menschenbild, Selbstbild und Selbst hängen zusammen, müssen aber als getrennte Konzepte mit unterschiedlicher Bedeutung verstanden werden. Das Selbstbild leitet sich vom Menschenbild her, befruchtet dieses aber auch, sodass beide Entwürfe in Wechselwirkung stehen« (Oerter u. Noam 1999, S. 60). Man könnte diese Identität als Gattungsidentität bezeichnen. Die Identität als Gattungswesen Mensch hat die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Tieren und den Pflanzen zum Thema, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Gott; sie behandelt unser Verhältnis zum Tod, aber auch unser Verhältnis zur Menschheit an sich, zu den Menschen, die vor uns gelebt haben, und zu denen, die nach uns kommen werden. Die Gattungsidentität hat eine philosophische Dimension, aber sie ist auch bereits für Kinder relevant. Wenn ein geliebtes Haustier stirbt, sprechen wir mit unseren Kindern darüber, dass das zwar traurig sei, aber dass es doch einen Unterschied zwischen Menschen und Tieren gebe und dass deshalb die Trauer um ein verstorbenes Tier weniger intensiv sein sollte als die um einen verstorbenen Menschen. Die Gattungsidentität kommt auch dann ins Spiel, wenn wir uns Gedanken darum machen, ob der Verbrauch der fossilen, nicht erneuerbaren Energievorräte auf der Welt durch die jetzt lebenden Menschen, den nach uns kommenden Generationen die Existenz- und Zukunftschancen beschneidet. Eine solche Überlegung versteht sich ja keineswegs von selbst, sondern sie ist nur möglich, wenn so etwas wie eine Identifikation mit der Menschheit schlechthin existiert. Ich will die Nützlichkeit der Kategorie Gattungsidentität an einem Beispiel erläutern: Als ich während des Irak-Krieges die Nachricht über die Zerstörung und Plünderung der Bibliothek in Bagdad erfuhr, war ich tief erschüttert. Ich verspürte ohnmächtige Wut, Verzweiflung, depressive Gefühle, Trauer, Gefühle der Sinnlosigkeit. Wie ist dieses Phänomen zu verstehen? Die Zerstörung der Bibliothek von Bagdad lässt meine nationale Identität als Deutscher völlig unberührt, auch meine persönliche Identität wird nicht beeinträchtigt, insofern mir die dort vernichteten Bücher und Kultgegenstände als konkrete ziemlich gleichgültig sind. Ich habe sie nie gesehen, ich werde sie nie sehen und ich hätte sie wahrschein-

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lich auch nie gesehen, wenn sie nicht vernichtet worden wären. Und trotzdem stimmt es mich traurig, macht mich wütend und verzweifelt, dass die Menschheit etwas so Wertvolles für immer verloren hat. Was als schmerzhaft erlebt wird, ist die Beschädigung von Symbolen für die menschliche Zivilisation. Nur in der Identifikation mit der Menschheit an sich wird dieser Verlust als solcher erfahrbar. Robert Jay Lifton und Eric Markusen (1992) sprechen von »Gattungsmentalität«, »Gattungsselbst« und »Gattungsbewusstsein« und meinen damit »das Bewusstsein, ein Exemplar der Gattung Mensch zu sein, die heute von der Ausrottung bedroht ist« (Lifton u. Markusen 1992, S. 272). Die Identifizierung mit der Menschheit als Ganzem erlaubt auch eine gewisse Aussöhnung mit dem eigenen individuellen Tod. Man kann die Begrenztheit des eigenen Lebens akzeptieren, indem man die Vorstellung hat, in der Menschheit fortzuleben. Die Gefährdung des Fortbestandes der Menschheit, beispielsweise durch einen Atomkrieg, stellt hingegen eine fundamentale Infragestellung der Gattungsidentität dar. Inwieweit die Bedrohung oder Verletzung der Gattungsidentität traumatischen Charakter annehmen kann und wie sich eine solche Traumatisierung auf die individuelle Identität auswirkt, ist eine offene Frage, die an anderer Stelle weiter verfolgt werden soll.

■ 3. Die Verzahnung von individuellem und kollektivem Trauma am Beispiel von Slobodan Milosevic und den Serben Im Folgenden will ich nun versuchen, am Beispiel der Serben und ihrem Führer Milosevic die Verzahnung zwischen individueller Identität und Großgruppenidentität, zwischen individuellem und kollektivem Trauma und zwischen kulturellem Gedächtnis und seiner massenpsychologischen Manipulation näher zu untersuchen. Diese Studie stellt den – sicherlich gewagten – Versuch einer wissenschaftlichen Analyse dar, bei der in einem ersten Schritt die psychischen, psychosozialen und durchaus auch die psychopathologischen Merkmale des Menschen Slobodan Milosevic mit den

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Mitteln der Psychoanalyse untersucht werden sollen. (Die Diagnose neurotischer, narzisstischer oder sonstiger psychopathologischer Symptome und Charaktermerkmale betrachte ich dabei keineswegs als Diffamierung, muss man doch davon ausgehen, dass jeder Mensch unter mehr oder weniger gravierenden psychopathologischen Symptomen leidet, so wie auch kein Mensch frei von körperlichen Krankheiten ist.) In einem zweiten Schritt wird dann die individualpsychologische, familiendynamische und paardynamische Ebene mit ethnopsychoanalytischen Betrachtungen auf der kollektiven Ebene der serbischen Ethnie verknüpft. Und schließlich wird diskutiert, welchen Nutzen die Politik aus einer solchen psychoanalytischen Betrachtungsweise ziehen könnte.

■ 3.1 Milosevic als schwer traumatisiertes Kind Slobodan Milosevic wurde am 20. August 1941 unter der Besatzung der Nationalsozialisten, mitten im Bürgerkrieg, der zwischen Titos Partisanen, kroatischen Ustascha-Faschisten und serbischen Königstreuen tobte, als zweiter Sohn eines orthodoxen katholischen Priesters geboren. Sein Vater Svetozar, ein überzeugter Antikommunist, verließ nach dem Krieg seine Familie und kehrte in seine Heimat Montenegro zurück. Slobodan wuchs bei der Mutter auf, einer Lehrerin und kommunistischen Aktivistin. Sie galt als »hart, despotisch und unduldsam«. Obwohl sie bei der Versorgung ihrer Kinder auf sich gestellt war, erfüllte sie neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin ihre Pflichten gegenüber der Partei mit geradezu fanatischem Eifer. Insbesondere nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin 1948 musste sie – wie alle Lehrer – als Staatsbeamtin »ihre Rechtgläubigkeit in jeder Hinsicht und auf jedem Schritt beweisen, vom Atheismus bis zur Ergebenheit gegenüber der Partei und Tito« (Djuric 1995, S. 7). Als Slobodan sieben Jahre alt war, nahm sich sein Lieblingsonkel, ein Geheimdienstgeneral, durch einen Schuss in den Kopf das Leben. Als er 21 Jahre alt war, tat sein Vater das Gleiche. Die Umstände seines Suizids blieben mysteriös. Gerüchte besagen, der Geheimdienst habe seine Hände im Spiel gehabt. Slobodan Milosevic war auf einer Exkursion in Russland und erfuhr erst bei seiner

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Rückkehr vom Suizid seines Vaters. Am Begräbnis konnte er nicht teilnehmen. In seinen Selbstdarstellungen pflegte Milosevic seinen Vater mit keinem Wort zu erwähnen. Dieses »schwarze Loch in Milosevics Biographie« (Djuric 1995, S. 7) legt die Vermutung nahe, dass Milosevic den Suizid seines Vaters als Schande erlebt und seelisch nur ungenügend verkraftet hat, denn nach serbischer Tradition ist »der Vater ein ›Heiligtum‹ für seine Kinder, vor allem für die Söhne« (Djuric 1995, S. 7). Milosevics Abwesenheit beim Begräbnis des Vaters mag dazu beigetragen haben, dass er nicht um den Verlust des Vaters trauern konnte. Als Milosevic 33 Jahre alt war, folgte der nächste Schicksalsschlag: Seine Mutter erhängte sich auf dem Dachboden. Laut Zeugen traf der Suizid seiner Mutter Milosevic tief. Milosevic ist ein seelisch schwer traumatisierter Mensch. Er ist in einer außerordentlich funktionsgestörten und psychopathologischen Familie aufgewachsen. Sein persönlicher und familiärer Lebensweg war von Kindheit an durch extreme Formen der Destruktivität in Verbindung mit extremer Selbstdestruktivität geprägt. Da ein Suizid nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern immer eine lange Vorgeschichte hat und auf eine gestörte Persönlichkeit und auf ein defizitäres Familienleben zurückzuführen ist, muss man davon ausgehen, dass seine Eltern unter gravierenden psychopathologischen Konflikten litten. Die Beziehung zwischen Milosevic und seinen Eltern war demnach von früher Kindheit an von erheblichen Spannungen belastet. Aus der psychotherapeutischen Arbeit mit Suizidpatienten und ihren Familien ist bekannt, dass die psychisch kranken und suizidalen Mütter ihre Kinder häufig dazu benutzen, ihr eigenes inneres Gleichgewicht zu stabilisieren. Vieles spricht dafür, dass Slobodans Mutter nicht nur »hart, despotisch und unduldsam«, sondern auch psychisch überlastet war. Nachdem der Vater die Familie im Stich gelassen hatte, musste sie, ganz auf sich gestellt, mit ihren beiden Söhnen zurechtkommen. Slobodan wurde von seiner Mutter unbewusst die Aufgabe zugewiesen, sie zu trösten, sie zu stützen und ihrem Leben einen Sinn zu geben. Ob Slobodan für die Mutter eher die »Rolle eines Partnerersatzes« (Richter 1963) oder eher die Rolle eines versorgenden Elternteils einnahm, kann nicht verlässlich geklärt werden. Jedenfalls scheint er frühzeitig Er-

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wachsenenfunktionen übernommen zu haben und von der Mutter zum Retter der Familie verklärt worden zu sein. Solche Deprivationserfahrungen, traumatischen Verlusterlebnisse und unbewussten Rollenerwartungen der Mutter an das Kind, wie sie Slobodan erleiden musste, führen dazu, dass Teile der Persönlichkeit eine seelische Frühreife erfahren, die mit einer Flucht aus der symbiotischen Verbindung mit der Mutter in eine Pseudoautonomie verbunden sind. Andere Teile der Persönlichkeit bleiben wiederum in einer archaischen Abhängigkeit fixiert, in der die seelische Verschmelzung mit der Mutter gesucht wird, und erfahren so keine normale Entwicklung. Die Entwicklung einer Pseudoautonomie und einer »seelischen Frühreife« zeigte sich bei Slobodan schon in der Kindheit und Jugend: »Mitschüler und Lehrer erinnern sich an Milosevic als ›zugeknöpft‹ oder ›ordentlich und zurückhaltend‹. Er trug schon als Grundschüler dunkle Anzüge mit weißen Hemden und Krawatten. Diese Art, sich zu kleiden, behielt er auch als Gymnasiast, Student und erwachsener Mann bei, und er bezeichnete sie als ›Beispiel anständigen Benehmens‹. Seine Mitarbeiter, die sich legerer kleideten, kritisierte er offen als ›ungehörig‹. Ein Schulkamerad: ›Wenn ich mich an Slobodan aus der Gymnasiumszeit erinnere, so konnte ich ihn mir als künftigen Chef eines Bahnhofs oder als pedantischen Beamten vorstellen‹« (Djuric 1995, S. 7). Slobodan entspricht dem Bild eines überangepassten, frühreifen, im Grunde aber tief verängstigten und Kontakt gestörten Jungen, der nie Kind sein durfte, weil er von seiner Mutter als Pseudoerwachsener seelisch gebraucht und ausgenutzt wurde. »Als Junge vermied Milosevic sportliche Aktivitäten und Schulausflüge und zeigte größeres Interesse an der Politik« (Djuric 1995, S. 7). Von Gleichaltrigen hielt er sich eher fern und suchte stattdessen Kontakt zur Welt der Erwachsenen. Seine Lehrer bescheinigen ihm eine »gute Auffassungsgabe, fleißige Mitarbeit im Jugendverband, Hilfsbereitschaft« (Gruber et al. 1999). Von dem späteren Kriegsherrn heißt es: »Er hat sich nie geprügelt« (Gruber et al. 1999). Der »strebsame Jungkommunist« war »immer Klassenbester« (Olschewski 1998, S. 398). Später als Student an der Juristischen Fakultät beschreiben ihn Studienkollegen als »Menschen mit zugeknöpftem Ernst, fester Überzeugung und Parteidisziplin« (Djuric 1995, S. 7).

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Später wird er von Leuten, die ihn gut kennen, wie etwa der ehemalige deutsche Botschafter in Jugoslawien, Horst Grabert, oder der Bosnien-Unterhändler Holbrooke, als distanziert, humorlos, egozentrisch und als Einzelgänger beschrieben. Er sei abwechselnd wütend und depressiv. Auch sei er sehr misstrauisch und habe selbst innerhalb des Kreises seiner politischen Anhänger keine Freunde. Vielmehr gehe er auch mit seiner politischen Gefolgschaft sehr berechnend um, protegiere Einzelne, wenn es ihm nützlich erscheint, lasse sie aber genauso schnell wieder fallen, wenn sie ihm in die Quere zu kommen drohen oder ihm nicht mehr nützlich sind. »Er hat viele Menschen benutzt. Noch mehr haben sich ihm zur Benutzung angeboten«, schreibt der Journalist und Balkan-Experte Malte Olschewski (1998, S. 399f.). Insgesamt gewinnt man aus diesen Beschreibungen den Eindruck, dass es sich bei Milosevic um einen Menschen mit ausgeprägt narzisstischen Zügen handelt. Er wird dargestellt als ein kühl berechnender Machtmensch, der alles, was er tut, unter dem narzisstischen Aspekt der Machterweiterung betrachtet. Dafür ist er bereit, jedes Opfer einzugehen. Politische, religiöse oder sonstige Überzeugungen bedeuten ihm nichts. Er wechselt sie nach Gutdünken aus und setzt sie funktional für seine jeweiligen Zwecke ein. »Ideologien wechselt er wie ein T-Shirt«, urteilt der Politologe Milos Vasic. Wenn es um den Erhalt seiner Macht geht, wandelt er sich chamäleonartig vom geschmeidigen Opportunisten zum geschickten Taktiker bis hin zum ideologisch verbohrten Fanatiker oder zum skrupellosen Befehlshaber von Mörderbanden. Nach Otto F. Kernberg (1975, S. 268) sind narzisstisch gestörte Persönlichkeiten dadurch charakterisiert, »daß sie ihre Beziehungen zu anderen häufig als reines Ausnutzungsverhältnis erleben«. Die Einstellung des Narzissten zu anderen Menschen ist entweder von Verachtung geprägt (er hat die anderen ausgenutzt und ausgequetscht wie eine Zitrone, und jetzt sind sie ihm nur noch lästig, und er wirft sie verächtlich weg) – oder aber von Angst und Misstrauen durchsetzt (er wähnt sich immer in der Gefahr, die anderen könnten ihn angreifen, ausnutzen und ihn mit Gewalt von sich abhängig machen (vgl. Kernberg 1975, S. 268). Kernbergs klinische Darstellung der »narzißtischen Persönlichkeit« liest sich wie der Steckbrief des Slobodan Milosevic:

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»Die mitmenschlichen Beziehungen solcher Patienten haben im allgemeinen einen eindeutig ausbeuterischen und zuweilen sogar parasitären Charakter. Narzißtische Persönlichkeiten nehmen gewissermaßen das Recht für sich in Anspruch, über andere Menschen ohne jegliche Schuldgefühle zu verfügen, sie zu beherrschen und auszunutzen; hinter einer oft recht charmanten und gewinnenden Fassade spürt man etwas Kaltes, Unerbittliches« (Kernberg 1975, S. 262). »Was besonders auffällt, ist das Fehlen echter Gefühle von Traurigkeit, Sehnsucht, Bedauern; das Unvermögen zu echten depressiven Reaktionen ist ein Grundzug narzißtischer Persönlichkeiten« (Kernberg 1975, S. 263). »Solche Menschen weisen in angsterregenden Situationen oft ein erstaunliches Maß an Selbstbeherrschung auf, so daß auf den ersten Blick leicht der Eindruck einer sehr gut entwickelten Angsttoleranz entsteht; bei genauerer analytischer Untersuchung zeigt sich jedoch, daß diese Angsttoleranz nur um den Preis gesteigerter narzißtischer Größenphantasien und des Rückzugs in eine Art von ›splendid isolation‹ aufrechterhalten werden kann und jedenfalls nicht als Ausdruck einer authentischen Fähigkeit zur Meisterung realer Gefahrensituationen anzusehen ist« (Kernberg 1975, S. 264). Wenn ich Milosevic in den Tagen des Kosovo-Krieges mit der immer gleichen unbewegten Mimik und seiner starren Körperhaltung vor die Kameras treten sah, fragte ich mich, was sich wohl hinter diesem »ausdruckslosen Babyface« (Olschewski 1998, S. 400), hinter der glatten Fassade seiner formelhaften Statements emotional abspielen mochte: War er traurig und verzweifelt darüber, wie sein Land von Tag zu Tag mehr und mehr in Schutt und Asche gelegt wurde? Bedauerte er seine Entscheidung, den Vertrag von Rambouillet nicht doch unterzeichnet zu haben, angesichts des Elends und der Zerstörung, die nun über sein geliebtes Serbien hereingebrochen war? Hatte er Angst vor der militärischen Übermacht der NATO? Von all solchen Gefühlen war auf seinem Gesicht nichts zu erkennen. Oder hatte er die situationsangemessenen Gefühle von Angst, Verzweiflung und auch Wut gewissermaßen abgeschaltet und sonnte sich nun in dem narzisstischen Überlegenheitsgefühl, im Mittelpunkt weltweiter Aufmerksamkeit zu stehen? Genoss er das Gefühl gleichsam grenzenloser Macht?

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Unbewusst mag er es so empfunden haben, als befehlige er nicht nur die serbischen Truppen im Kosovo, sondern auch die NATOBomber, hatte er doch die Angriffe provoziert und lag es doch zu jeder Zeit des Kosovo-Krieges in seiner Macht, die Bombardements sofort zu beenden. Die Psychodynamik, die sich hier andeutet, lässt sich auch unter dem Aspekt des Sadomasochismus beschreiben. »In der masochistischen Perversion erreicht der Masochist einen subjektiven Zustand … ›kompletter Kontrolle‹ über seine Bestrafung und seinen sadistischen Partner« (Keiser 1975, zit. n. Wurmser 1993, S. 423). Der Masochist empfindet den masochistischen Akt nur so lange als befriedigend, wie er vortäuschen kann, dass der andere stärker ist als er, gleichzeitig aber das Gefühl hat, die Situation vollständig zu beherrschen. »Es handelt sich also um ein ganz prekäres Gleichgewicht zwischen zwei nahezu gleich starken Teilen, welche […] nebeneinander in einer merkwürdigen Spaltung […] koexistieren: die Illusion totaler Macht/die Illusion masochistischer Unterwerfung« (Wurmser 1993, S. 416). Sobald der sadistische Partner wirklich Kontrolle über die Situation erlangt, bricht beim Masochisten die lustvolle Stimmung abrupt zusammen. Angenommen, die Interaktion zwischen Milosevic und der NATO sei nach diesem Muster verlaufen. In diesem Fall hätte Milosevic die Angriffe der NATO mit der »bittersüßen Lust« genossen, »gleichzeitig sowohl vollständig hilflos als auch total Meister über sich selbst« (Wurmser 1993, S. 417) und die Situation zu sein. Lustvoll wären für Milosevic nicht die NATO-Angriffe an sich, sondern die Phantasie, dass er die Macht besitze, die NATO zu zwingen, ihn zu bestrafen. Diese masochistisch lustvolle Situation konnte für Milosevic nur solange Bestand haben, wie er die Illusion aufrechterhalten konnte, die NATO meine es nicht wirklich ernst, das Ganze sei nur ein sadomasochistisches Spiel, dessen Regeln letztlich er bestimme. Erst als er realisieren musste, dass es die NATO doch ernst meinte, brach seine sadomasochistische Lust zusammen. Im Verhältnis zur NATO kommt der masochistische Anteil von Milosevics Persönlichkeit zum Tragen. Sadismus und Masochismus gehören aber immer zusammen. Der sadistische Anteil von Milosevic kommt in seinen Handlungen gegenüber den Kosovo-

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Albanern zum Ausdruck. Es ist durchaus vorstellbar, dass Milosevic an einer ausgeprägten sadomasochistischen Perversion leidet. Vielleicht ließ er sich täglich detaillierte Berichte (auch als Video) vorlegen über die Folterungen, die Vergewaltigungen und die Massaker, die mit seinem Wissen, auf seine Anordnung und nach dem von ihm ausgesponnenen Plan seit Jahren verübt wurden. Vielleicht benötigte er eine tägliche Dosis sadistischer Grausamkeiten, um seine latente Selbstdestruktivität in Schach zu halten. Er wehrte seinen Masochismus und seine Suizidalität durch Verkehrung ins Gegenteil, das heißt durch Sadismus, ab (vgl. Wurmser 1993). Indem er die Menschen im Kosovo ermorden und vertreiben ließ und mit seiner Politik hunderttausende Menschen schwersten Traumatisierungen aussetzte, fügte er anderen aktiv das Leid und die Traumata zu, die er in seiner Kindheit selbst passiv erleiden musste. Die Destruktivität und Selbstdestruktivität, die seine Kindheit und Jugend prägten, haben auch dem weiteren Lebensweg von Milosevic ihren Stempel aufgedrückt und spiegelten sich in seiner Politik wider: Seine Destruktivität wurde deutlich in den vier Kriegen, dem Kroatien-Krieg (1991–1995), dem Bosnien-Krieg (1992– 1995), dem Kosovo-Krieg (1998–1999), und dem Krieg gegen die NATO (24. März 1999–3. Juni 1999), die er während der 1990er Jahre angezettelt hat, in den »ethnischen Säuberungen«, den Massakern, den Vertreibungen, die er angeordnet hat, und in der Rücksichtslosigkeit, mit der er seine politischen Ziele verfolgte. Seine Selbstdestruktivität zeigte sich darin, dass er die Kriege verlor, sein Staatsgebiet schrumpfte und er sich mit einem militärisch übermächtigen Gegner, der NATO, anlegte und in Kauf nahm, dass sein Land durch die NATO-Bomben zerstört wurde. Von Journalisten wie auch in einer psychoanalytischen Studie über Milosevic (Wirth 2002) wurde schon frühzeitig die These aufgestellt, er werde dereinst eines gewaltsamen Todes sterben, entweder durch eigene Hand oder durch die des von ihm verführten und betrogenen Volkes – wie Ceaucescu. 1999 wurde Milosevic als erstes amtierendes Staatsoberhaupt wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Uno-Tribunal in Den Haag angeklagt. Nach seiner Abwahl als jugoslawischer Präsident wurde er 2001 auf internationa-

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len Druck an das Tribunal ausgeliefert. Der Prozess gegen ihn begann 2002. Am Anfang verteidigte sich der Ex-Präsident selbst. Nach zahlreichen verbalen Ausfällen gegen das Gericht, das er nicht anerkannte, wurde ihm schließlich ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. Wegen gesundheitlicher Probleme, Milosevic litt an Herzproblemen und Bluthochdruck, musste das Verfahren mehrmals unterbrochen werden. Zuletzt hatte er darauf gedrungen, zur medizinischen Behandlung nach Moskau ausreisen zu dürfen. Das UN-Tribunal lehnte dies ab. Am 11. März 2006 starb Milosevic in seiner Zelle an einem Herzinfarkt. Die sozialistische Partei von Milosevic behauptete sogleich, der frühere Parteichef sei in Den Haag gezielt getötet worden, und versuchte ihn damit zum Märtyrer zu stilisieren. Viele Serben schenkten dieser Verschwörungstheorie Glauben, weil sie in dem jugoslawischen Ex-Präsident noch immer einen Volksheld sahen und ihre kollektive Schuld abzuwehren versuchten. Die offizielle Obduktion ergab, dass Milosevic nicht verodnete Medikamente eingenommen hatte, die die ärztlich verordneten Mittel gegen seinen Bluthochdruck neutralisierten. Nach Einschätzung der Ärzte könnte Milosevic absichtlich falsche Medikamente eingenommen haben, um die Erlaubnis zu erzwingen, zur Behandlung nach Russland ausreisen zu dürfen, und damit indirekt seinen Herztod herbeigeführt haben. Wie kann der Tod Milosevics im Lichte der bisherigen Überlegungen interpretiert werden? Hat er sich selbst umgebracht? Ist er nicht viel zu berechnend und egoistisch, um sich selbst zu töten? Der Selbstmörder ist ein Mensch, bei dem Hass auf andere und Selbsthass zusammenfallen. Indem der Suizidale sich selbst umbringt, will er eigentlich und ursprünglich den Anderen, häufig den nächsten Angehörigen, treffen, und er ist bereit, für diesen Triumph einen sehr hohen Preis, nämlich den des eigenen Lebens zu zahlen. Beim Mörder – in dieser Position befand sich Milosevic sowohl psychisch als auch real – ist es umgekehrt: Er wehrt seine latente Suizidalität ab, indem er seine Selbstdestruktivität nach außen gegen andere richtet. Indem Milosevic andere massakrierte oder massakrieren ließ, versuchte er seinen verdrängten Hass auf seine Eltern und sich selbst unter Kontrolle zu halten. Als Milosevic in Den Haag in seiner Zelle saß, war er seiner

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Macht und damit seiner Möglichkeit beraubt, andere stellvertretend für sich leiden zu lassen, so dass seine Destruktivität auf ihn zurückfiel – er wurde suizidal. Sein zu Spekulationen und paranoiden Verschwörungstheorien Anlass gebender Tod ist symptomatisch für Charakter, Leben und Wirken von Milosevic. Sein Selbstmord fällt unter die Kategorie des »larvierten Suizids«, bei dem der Todeseintritt nicht angestrebt, sondern lediglich in Kauf genommen wird, weil er unter Einsatz des eigenen Lebens als Erpressungsmittel benutzt wird. Genau genommen handelt es sich bei der psychischen Störung von Milosevic um eine Borderline-Störung. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung spalten sowohl ihre innere Gefühlswelt als auch die Wahrnehmung ihrer Mitmenschen in absolut »gute« und absolut »böse« auf. Ihr Denken ist von Misstrauen, Aggressivität und Schwarz-Weiß-Schemata beherrscht. Sie sind narzisstisch, leicht kränkbar und neigen zu intensiven Wutausbrüchen. Ihren Mitmenschen begegnen sie mit einer rücksichtslos fordernden Haltung und entwertenden Angriffen. Macht und Kontrolle über andere ist ihr bevorzugtes Mittel, um mit ihrer Angst vor Nähe, ihrer schizoiden Kontaktunsicherheit und ihrem mangelnden Vertrauen und Selbstvertrauen umzugehen. In ausgeprägtem Maß zeigen sie eine mangelhafte Angsttoleranz und durchgehend eine sehr geringe Impulskontrolle. Häufig tritt die Neigung zu selbstschädigenden Aktivitäten und zur Suizidalität auf. Das Sexualleben ist regelmäßig durch sexuelle Perversionen gekennzeichnet. Alle diese Merkmale finden sich – mehr oder weniger ausgeprägt – im Charakter Milosevics. Nach psychoanalytischen Erfahrungen entsteht eine Borderline-Persönlichkeitsstörung dann, wenn das Kind von den Eltern, insbesondere der Mutter, kalt und unfürsorglich behandelt wurde, emotional hungrig geblieben ist und schwerwiegenden Traumatisierungen infolge von sexuellem oder narzisstischem Missbrauch, tiefgreifenden Verlusterlebnissen oder körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt war. Ein weiterer Faktor besteht regelmäßig darin, dass die Mutter (und in manchen Fällen auch der Vater) nicht nur gefühlskalt war, sondern ihrem Kind zugleich vermittelt hat, es sei etwas Besonderes, es sei schöner, klüger, begabter als seine Geschwister und es habe die Ehre, als Retter der Familie oder gar

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als Rächer der beschädigten Familienehre auserkoren zu sein. Das Kind bekommt unbewusst die Aufgabe zugewiesen, das verloren gegangene Glück der Eltern stellvertretend wiederherzustellen. Aufgrund dieser unbewussten Erwartungen der Eltern entwickelt das Kind eine Größenphantasie von sich selbst. Um seiner seelischen Einsamkeit, seiner Gier nach Zuwendung, seinen narzisstischen Kränkungen und seinem Selbsthass zu entkommen, flüchtet sich das Kind in grandiose Phantasien über die eigene Größe, Macht, Vollkommenheit und Unabhängigkeit. Diese Größenphantasien können dann entweder dazu führen, dass der Betreffende wirklich außergewöhnliche Leistungen vollbringt – wobei er nie wirklich glücklich wird mit den Leistungen, die er erreicht –, oder er muss immer noch mehr Macht anhäufen, um nun seine Umwelt so zu manipulieren, dass sie seinen Größenphantasien Unterstützung leistet. Es kann aber auch dazu kommen, dass die Größenphantasien so sehr in Widerspruch zur Realität des eigenen Lebens geraten, dass als Ausweg der Suizid gewählt wird, weil dieser als letzte Möglichkeit erscheint, die Größenphantasie von sich selbst als einem idealen und entrückten Wesen aufrechtzuerhalten. Seine Lebensumstände, sein Machtinstinkt, seine Intelligenz – und nicht zuletzt der Ehrgeiz seiner Frau Mira – erlaubten es Milosevic, den ersten Weg zu gehen, nämlich so viel Macht anzuhäufen, dass er seine narzisstischen Größenphantasien in der Realität ausagieren konnte, ohne (persönlich) bestraft zu werden. Er konnte extrem destruktiv sein, und die dabei gleichzeitig entstehende Selbstdestruktivität traf nicht ihn persönlich, sondern »nur« sein eigenes Volk.

■ 3.2 Slobodan und Mira: ein narzisstisches Paar Milosevic lernte seine Frau Mira Marcovic schon in der Schule kennen. Das Paar galt bald als unzertrennlich und wurde von den Mitschülern spöttisch Romeo und Julia genannt, die kollektiv Suizid begingen – auch Milosevics Eltern brachten sich beide um, wenn auch nicht gemeinsam. Das Motiv des Doppelsuizids, der kollektiven Selbstdestruktivität, taucht bereits hier auf. Auch Mira hat eine hoch dramatische, ja traumatische Famili-

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engeschichte. Miras Mutter wäre – so der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer (1999, S. 49) – »als Protagonistin einer griechischen Tragödie durchaus geeignet gewesen«. Die Nazis nahmen sie als Partisanin gefangen, folterten sie, bis sie die Namen ihrer Genossen preisgab, und ließen sie dann laufen. Sie galt fortan als Verräterin. »Als Folge dieser Verhöre sind im Raum Belgrad Dutzende Parteimitglieder verhaftet und großteils exekutiert worden« (Olschewski 1999, S. 399). Der Anführer ihrer Partisanengruppe, der im Übrigen ihr Vater war, exekutierte sie (vgl. Mailer 1999). Mira war beim gewaltsamen Tod ihrer Mutter 1943 noch kein Jahr alt. Auch in Miras Familie finden sich ein hohes Maß an innerfamiliärer Destruktivität und Selbstdestruktivität, wobei die familiären Dramen auf das Engste verwoben sind mit politischen Prozessen. Das Thema des Verrats haftete der Familie Marcovic als ewiger Schandfleck an. Mira versuchte mit ihren politischen Ambitionen, den Makel des Verrats abzuwaschen, indem sie eine überhöhte Treue-Ideologie vertrat. Mira betonte immer wieder, sie werde das Schicksal ihrer Mutter nie vergessen und dem »ehrlichen Kommunismus«, für den die Mutter gestorben sei, immer treu bleiben. 1994 gründete Mira eine neue Partei, die Jugoslawische Linke, weil ihr Slobodans Sozialisten nicht linienkonform genug waren (vgl. Gruber et al. 1999). Häufig trug Mira eine Seidenrose, die sie auf einem Foto ihrer Mutter entdeckte, in ihrem Haar. Das sollte ein Symbol des Sozialismus sein und an ihre Mutter erinnern. Mit der Seidenrose im Haar ließ sich Mira – in zarte Pastelltöne getaucht – wiederholt auf ihren Büchern und in Zeitschriften ablichten – teils allein, teils an der Seite ihres Ehemannes. Damit inszenierte sie nun selbst das süßliche Bild von Romeo und Julia, in dem Kitsch und Tod eine Verbindung eingehen. Sie erzeugte eine merkwürdige Atmosphäre voller Mysterien, Mythen und Pseudospiritualität, wie sie auch für den Kitsch des Nationalsozialismus kennzeichnend ist (vgl. Friedländer 1982). Nur verbrämt als Kitsch kann Mira Gefühle und Erinnerungen an den gewaltsamen Tod ihrer Mutter zulassen. Die Motive Verrat, Treue, Rache, Ungerechtigkeit, Tod, Verzweiflung und Trauer werden im verkitschten Bild mit der Seidenrose symbolisch verdichtet, rituell verklärt und ästhetisiert. Mira selbst stilisiert sich zur Heldin, die dem Schicksal

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ihrer Mutter, das auch ihr eigenes ist, treu bleibt, auch wenn es nur Tod und Vernichtung bringt. Indem der Tod mythisch verklärt, stilisiert und ästhetisiert wird, wird sowohl der wahre Tod, den Mira in ihrer eigenen Familie erschreckend erfahren musste, als auch der wahre Tod, den die serbische Politik der »ethnischen Säuberungen« im Kosovo anrichtet, in seinem alltäglichen Schrecken und seiner Banalität entwirklicht und damit für Mira erträglich gemacht. In einer folie à deux hatten sich Slobodan und Mira schon in der Schulzeit zu einer symbiotischen Einheit verschworen. Sie waren sich darin einig, sich wechselseitig nicht als eigenständige Individuen wahrzunehmen, sondern nur als »narzisstische Objekte«, das heißt als Erweiterung des eigenen Selbst, als etwas, das für ihr je eigenes Selbst eine bestimmte Funktion hatte, ihr Selbst auffüllte, ergänzte, schmückte und erhöhte. Für Slobodan war dieses Beziehungsmuster des narzisstisch Missbrauchtwerdens bereits durch die Beziehung zu seiner Mutter Teil seiner Persönlichkeit geworden. In Mira suchte und fand er eine Frau, mit der er dieses Beziehungsmuster einer »narzisstischen Kollusion« (Willi 1975) fortsetzen konnte. Und Mira fand in Slobodan einen Bundesgenossen, den sie für ihre eigenen ehrgeizigen politischen Ziele funktionalisieren konnte. Mit ihrem eigenen politischen Ehrgeiz trieb Mira Slobodan schon früh in die politische Laufbahn. Dereinst, so verkündete sie schon während ihrer Studienzeit, werde das Konterfei Slobodans die Portraits von Tito in den öffentlichen Gebäuden ersetzen (vgl. Fahrni 1999). »Sie plante seine politische Karriere, stachelte seinen Ehrgeiz an«, schreibt der Biograph von Milosevic. »Ohne sie gäbe es keinen serbischen Führer Milosevic.« Sie benutzte Slobodan, um ihre eigene unbewältigte familiäre Vergangenheit, den unehrenhaften Tod ihrer Mutter, wiedergutzumachen. Er benutzte sie, um sein grandioses Selbst vorbehaltlos und ohne Unterlass bestätigen zu lassen. Beide waren unzertrennlich, bildeten eine narzisstische Einheit. Er stützte seine folgenreichen politischen Entscheidungen auf Polizeiberichte und die Ratschläge seiner Frau. Mira wiederum »glaubt an übernatürliche Kräfte und liest die politische Zukunft auch aus Horoskopen« (Gruber 1999). Als narzisstisch schwer gestörte Persönlichkeiten teilten Slobodan und Mira eine paranoide

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und zynische Weltsicht. Sie waren zutiefst misstrauisch und spalteten alle echten Gefühle ab, da diese nur die Gefahr erneuter Verletzungen in sich bargen. Mögliche Spannungen und Konflikte innerhalb ihrer Beziehung, die auch aus der zu großen Nähe, aus der narzisstischen Verschmelzung mit dem Partner herrühren könnten, wurden nach außen abgeführt. Mit Horst-Eberhard Richters familiendynamischem Modell könnte man auch von einer »paranoiden Festungs-Ehe« sprechen, die sich bemüht, »unerträgliche wechselseitige feindselige Impulse nach außen gegen einzelne Personen, Gruppen oder Weltanschauungen abzuleiten« (Richter 1972, S. 91). Die Festungsbeziehung bleibt trotz ihres hohen Aggressions- und Konfliktpotenzials stabil, weil alles Böse nur draußen gesehen und dort bekämpft wird. Wie Richter weiter ausführt, kann das Freund-Feind-Denken des paranoiden Fanatikers auch über die Familie hinaus ansteckend wirken. Nur so könne man sich die »epidemieartigen Verbreitungen abnormer überwertiger Ideen in Zeiten scharfer Gruppenpolarisierungen erklären. Wer nicht über eine sehr fundierte persönliche Identität verfügt, ist anscheinend unter gewissen Umständen auch gegen besseres Wissen bereit, dem suggestiven Sog eines paranoiden Denksystems zu erliegen, das blitzableiterartig eine Abfuhr aller bedrohlichen intraindividuellen beziehungsweise gruppeninternen Spannungen verheißt« (Richter 1972, S. 91).

■ 4. Großgruppen-Identität der Serben Natürlich kann die Politik der jugoslawischen Regierung nicht allein aus der Persönlichkeitsstruktur, den seelischen Problemen, der Psychopathologie der Familie und der Ehe ihres Führers erklärt werden. Diese Faktoren stellen die persönlichen unbewussten Beweggründe der Führerfigur dar, die nur dann zur Entfaltung kommen können, wenn sie sozusagen in das psychokulturelle Klima der Großgruppe passen. Meine These ist, dass sich die Problematik von Milosevic, die mit den Stichworten Traumatisierung, Unfähigkeit zu trauern, Destruktivität, Selbstdestruktivität und narzisstische Größenphantasie charakterisiert werden kann, in ei-

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nigen zentralen Aspekten der Großgruppen-Identität der Serben widerspiegelt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sicherlich eine Vereinfachung und Verfälschung darstellt, von den Serben zu sprechen. Es soll während des Kosovo-Krieges 50.000 Deserteure und junge Männer, die untergetaucht waren, um sich dem Wehrdienst in der serbischen Armee zu entziehen, gegeben haben. Auch hatte einige Jahre zuvor eine breite Oppositionsbewegung gegen Milosevic von sich reden gemacht. Und überhaupt ist es in jeder differenzierten Gesellschaft problematisch, von den Serben, den Deutschen, den Amerikanern zu sprechen. Gleichwohl kann man nicht leugnen, dass sich die Angehörigen einer Nation oder einer Volksgruppe untereinander in mancherlei Hinsicht ähnlicher sind als andere Gruppierungen. Insofern kann man zu Recht davon sprechen, dass eine Nation oder Ethnie gemeinsame Merkmale aufweist, die man als Großgruppen-Identität bezeichnen kann. Bei den folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf das Buch des amerikanischen Psychoanalytikers und Konfliktforschers Vamik D. Volkan (1999) »Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte«. Volkan geht davon aus, dass Großgruppen und Nationen eine gemeinsame Identität dadurch erlangen wollen, dass sie sich auf einen gemeinsamen Ursprung beziehen. Dieser Ursprung ist häufig ein gemeinsam geteiltes Erfolgserlebnis, mit dem sich Triumphgefühle verbinden. Volkan spricht von »gewählten Ruhmesblättern«, deren in jährlich wiederkehrenden Feierlichkeiten gedacht wird und durch die ein generationsübergreifender Traditionszusammenhang hergestellt wird. Mit der Überlieferung der Ruhmesblätter wird zugleich die Großgruppen-Identität von einer Generation an die nächste weitergegeben. Solche nationalen Feiertage beziehen sich häufig auf die Befreiung von einer Vorherrschaft oder die Konstituierung als nationale Gruppe. In Krisen- oder gar Kriegszeiten werden die gewählten Ruhmesblätter aktiviert, um das Selbstwertgefühl der Gruppe zu stärken. Diese Vorgänge sind leicht nachvollziehbar und in allen Nationen beobachtbar. Etwas schwerer verständlich und in seinen psychologischen Auswirkungen häufig sehr weitreichend und destruktiv ist ein anderer Vorgang, den Volkan als »gewähltes Trauma« bezeichnet. Hier wählt die Gruppe nicht ein siegreiches triumphales Ereignis

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als gemeinsamen Bezugspunkt ihrer Gruppenidentität, sondern eine Situation, in der die Gruppe schwere Verluste oder demütigende Verletzungen hinnehmen musste und sich als Opfer fühlt. Wenn die vorangegangenen Generationen unfähig waren, die erlittenen Verletzungen und Traumata zu verarbeiten, geben sie diese Erfahrungen an die nächste Generation weiter, und zwar mit dem Auftrag, dass die nächsten Generationen die erlittenen narzisstischen Verletzungen des Selbstwertgefühls und die Demütigungen wieder gutmachen oder auch rächen sollen. Ähnlich wie das aus familientherapeutischen Behandlungen bekannt ist, dass nämlich die Eltern ihre eigenen ungelöst gebliebenen Konflikte, die Verletzungen, über die sie nicht trauern konnten, an ihre Kinder weitergeben und diesen die Bürde aufladen, stellvertretend die Konflikte der Eltern auszuagieren, kann man sich das auch auf einer kollektiven Ebene vorstellen: Die ältere Generation gibt an die nächste die selbst erlebten Traumata weiter mit der unbewussten Rollenerwartung, dass die nachfolgenden Generationen die früheren traumatischen Erlebnisse und Erfahrung rückgängig machen oder sie gar in ihr Gegenteil verkehren sollen. Psychologisch betrachtet ist das eine große Last für die nachfolgenden Generationen. Dieses Vermächtnis führt in der Regel zur Perpetuierung der alten Konflikte. Im Fall der Serben kann man die Schlacht auf dem Amselfeld, bei der die Serben vor 600 Jahren gegen die Türken eine militärische Niederlage erlitten, als ein solches kollektives Trauma bezeichnen. Das Ereignis ist historisch nicht ganz eindeutig rekonstruiert. Vielmehr wird es von Mythen und Legenden umrankt. In seiner serbischen Fassung beinhaltet dieser Mythos die Vorstellung, das serbische Volk habe zwar im Kampf auf dem Amselfeld sowohl seinen Anführer Lazar als auch die Schlacht verloren, mit diesem Opfer aber das christliche Abendland vor der Eroberung durch den Islam in Gestalt der Türken gerettet. Unter Tito war der Mythos vom Amselfeld viele Jahre lang ebenso stillgestellt wie die Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen. Offenbar war aber beides nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Milosevic hat es geschickt verstanden, diesen alten Opfermythos zu reaktivieren und für seine Zwecke nutzbar zu machen. Er ahnte, mit welchen Themen er die Serben packen konnte. Milosevic ließ die

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mumifizierten Überreste des damaligen Serbenführers Lazar, die in der Nähe von Belgrad lagen, in einen Sarg legen und durch ganz Serbien transportieren. Diese Prozession mit dem 600 Jahre alten Leichnam führte von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt und endete auf dem Amselfeld. Überall wo der Leichnam hinkam, weinten die Leute, klagten und hielten Reden, in denen sie beteuerten, dass sich eine solche Niederlage nie mehr wiederholen dürfe. Auf einer psychologischen Ebene war es so, als hätte die Niederlage im Kosovo erst gestern stattgefunden. Das alte Trauma von der Niederlage wurde reaktiviert, und gleichzeitig schürte Milosevic nationalistische Gefühle. Er ließ auf dem Amselfeld auf einem Hügel, der das Schlachtfeld überragt, ein riesiges Monument bauen, aus rotem Stein, der Blut symbolisieren soll. Der 600 Jahre alte Hass auf die Türken wurde nun verschoben auf die Muslime im eigenen Land. Nach und nach setzte sich immer mehr die kollektive Wahnidee durch, dass man die Muslime ausmerzen müsse, um die eigene Schande wiedergutzumachen. Den Muslimen sollte das angetan werden, was den Serben von den osmanischen Türken seinerzeit angetan worden war. Psychoanalytisch betrachtet, zeichnet sich die GroßgruppenIdentität der Serben durch eine Opfermentalität aus. Die Einnahme eines Opferstatus impliziert eine sadomasochistische Grundhaltung zum Leben. Der sadistische Anteil dieser Grundorientierung kommt in den Gräueltaten zum Ausdruck, die von den Serben ausgeübt werden, der masochistische Anteil zeigt sich darin, wie sehr Serbien bereit ist, zu leiden. Offensichtlich hatte die NATO die Leidensfähigkeit von Milosevic und auch die des serbischen Volkes in ihrem Ausmaß und in ihrer psychischen Bedeutung für den Einzelnen und in ihrer psychokulturellen Bedeutung für die Großgruppen-Identität der Serben unterschätzt. Von dem Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux (1974) stammt die Unterscheidung zwischen einer idiosynkratischen und einer ethnischen psychischen Störung. Die idiosynkratische Störung entsteht aufgrund ganz spezifischer Lebensumstände bei einem Individuum. Unter einer ethnischen Störung versteht Devereux demgegenüber eine psychische Störung, an der nicht nur Individuen, sondern eine große Zahl der Mitglieder eines Kollektivs leiden.

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Die idiosynkratische Störung des Slobodan Milosevic, seine Borderline-Persönlichkeitsstörung, sein Sadomasochismus, seine verleugnete Depression, seine latente Suizidalität und seine Unfähigkeit, sich mit seinem persönlichen Leidensweg innerlich auseinander zu setzen, passen zu der ethnischen Störung der Serben wie der Schlüssel zum Schloss. Milosevic hatte ein intuitives Verständnis für die verletzten Gefühle seines Volkes, weil er in seiner eigenen Biographie ein ähnliches Gemisch aus traumatischen Verlusten, Kränkungen des Selbstwertgefühls und grandiosen Wunschvorstellungen von der eigenen Größe hatte wie das Kollektiv der Serben.

■ 5. Die Notwendigkeit kollektiver Trauer- und Versöhnungsarbeit zwischen den Ethnien Durch die Jahrhunderte dauernde Fremdherrschaft, die alle Ethnien auf dem Balkan erleiden mussten, bildete sich bei ihnen eine Sonderform des Nationalismus heraus, den die Politikwissenschaft als »Ethno-Nationalismus« bezeichnet. Wie der Balkan-Experte Michael W. Weithmann ausführt, zeichnet sich der Ethno-Nationalismus durch »ein Nationalgefühl der verlorenen Ehre, des Nicht-Verstanden-Werdens, kurz, des traumatischen Nationalismus [aus], der reziprok dazu die Überhöhung imaginärer historischer Erinnerungen zur Folge hat« (Weithmann 1997, S. 232). Je frustrierender und erniedrigender die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse für die einzelnen Ethnien waren oder empfunden wurden, umso mehr suchten sie ihr illusionäres Heil in der ideologischen Rückwendung zur vermeintlich heroischen Vergangenheit. Der Rückgriff auf die weit zurückliegende, heroisch verklärte Geschichte, in der das eigene Volk einst eine bedeutende Rolle gespielt habe, soll Forderungen untermauern, die die Gegenwart betreffen. Betont wird die »Ureinwohnerschaft« und die »Alteingesessenheit« (Weithmann 1997, S. 232) und auch die Religion als ein Unterscheidungsmerkmal, das die eigene Identität stärkt. Titos Konzept einer föderativen Republik zielte darauf, das

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friedliche Zusammenleben der verschiedenen Ethnien zu fördern. Das Konzept der föderativen Volksrepublik war etwas wirklich Neues, nämlich die Abkehr von der großserbischen Staatsidee und die Abkehr vom (kommunistischen) Zentralismus nach Moskauer Vorbild. Dieses Ziel konnte Tito nur erreichen, indem er Serbien auf eine föderal-verträgliche Größe zurechtstutzte: Makedonien und Montenegro wurden als selbständige Republiken aus Serbien herausgelöst, der Kosovo und die Vojvodina erhielten einen Status als autonome Gebiete. Um Jugoslawien stark zu machen, musste Tito Serbien schwächen (Weithmann 1997, S. 453). Doch woran scheiterte Titos Versuch, die Balkan-Völker in einem gemeinsamen Staat zusammenzufassen, letztlich? Zunächst muss man betonen, dass Titos Jugoslawien immerhin fast 40 Jahre lang leidlich funktionierte. Die Gründung erfolgte 1945, nach Titos Tod im Jahr 1980 setzten ab 1981 die Auflösungserscheinungen ein. Titos zeitweiliger Erfolg beruhte darauf, dass die Nationalitätenfrage »in der gesamten Tito-Ära mit einem rigoros überwachten öffentlich-rechtlichen Tabu belegt« war (Weithmann 1997, S. 451). Zugleich blieb Tito in der nationalen Frage von einer »erstaunlich doktrinären Blindheit geschlagen« (Weithmann 1997, S. 451). Er handelte getreu dem marxistischen Motto, bei psychologischen, kulturellen, ethnischen, religiösen und nationalen Fragen handle es sich um reine Überbau-Phänomene, sie seien also nur von nachgeordneter Bedeutung. Maßgeblich war die illusionäre Hoffnung, mit der sozialistischen Umgestaltung der ökonomischen Basis und der Produktionsverhältnisse fänden auch die jahrhundertealten Konflikte zwischen den Ethnien eine endgültige Lösung. Dies war jedenfalls die offizielle Ideologie. »In Wirklichkeit waren sich, wie wir heute wissen, Tito und seine engeren Mitarbeiter der durch den ›Aufbau des Sozialismus‹ keineswegs geschwundenen nationalistischen Explosivkraft durchaus bewußt, versuchten aber durch Ignorieren das Problem totschweigen zu können« (Weithmann 1997, S. 452). Besonders verhängnisvoll wirkte sich aus, dass der Hass zwischen den ethnischen Gruppen, der sich in der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung aufgebaut hatte, auf einer psychologischen Ebene in keiner Weise bearbeitet wurde. So lieferte das Totschweigen der Gräueltaten der faschistischen Ustascha, einer

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kroatischen Organisation, die mit der SS kollaborierte und etwa 200.000 Serben ermordete, dem Hass der Serben immer wieder neue Nahrung. Die wechselseitigen Ressentiments zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppierungen auf dem Balkan wurden unter Titos Herrschaft nur unterdrückt, tabuisiert und oberflächlich harmonisiert. Eine offene und kritische Aufarbeitung der während der nationalsozialistischen Besatzung begangenen Massaker und Verfolgungen fand nicht statt. Eine Trauerarbeit, wie sie Alexander und Margarete Mitscherlich für Deutschland forderten und die gegen viele Widerstände in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich teilweise stattfand und noch immer stattfindet, wurde in Jugoslawien nicht versucht. Vielmehr brachen nach dem Ende des Ostblocks und dem politischen Zerfall Jugoslawiens die lange Jahre verdrängten und mit Macht unterdrückten Ressentiments zwischen den ethnischen Gruppen in ihrer ganzen archaischen Gewalt wieder auf. Hier bestätigt sich wieder einmal die Notwendigkeit einer Trauerarbeit auf kollektiver Ebene, wenn kollektive Traumata konstruktiv verarbeitet werden sollen.

■ 6. Vom möglichen Nutzen der Psychoanalyse für die Politik Welchen Nutzen kann nun eine solche psychoanalytische Studie für die Politik haben? Zunächst könnte die psychoanalytische Diagnose der psychischen Situation eines Führers, einer Regierung und eines ganzen Volkes dazu beitragen, diesen Teil der politischen Wirklichkeit ralitätsangemessener wahrzunehmen. Politisches Handeln wird nicht ausschließlich durch wirtschaftliche Interessen und militärische Absichten, sondern auch durch bewusste und unbewusste psychologische Motive von Einzelnen und von Großgruppen gesteuert. Die Erkenntnisse und Möglichkeiten der politischen Psychologie – speziell auf psychoanalytischer Grundlage – wurden sowohl in Politik und Diplomatie als auch in der öffentlichen Diskussion bislang weitgehend vernachlässigt oder aber durch eine unreflektierte Alltagspsychologie ersetzt. Sodann könnte die Einbeziehung individual-, familien-, grup-

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pen- und kulturpsychologischer Faktoren bei der politischen Entscheidungsfindung und bei diplomatischen Initiativen wesentlich dazu beitragen, dass unbewusste und irrationale Einflüsse, die manch gut gemeinte politische Absichten durchkreuzen, erkannt und berücksichtigt werden. Diplomatie ist keine Psychotherapie, aber diplomatische Prozesse haben in gewisser Hinsicht Ähnlichkeit mit gruppendynamischen und psychotherapeutischen Prozessen. Natürlich darf sich die psychoanalytische Untersuchung nicht auf eine Partei beschränken, sondern muss alle beteiligten Parteien einbeziehen und auch ihre Interaktion betrachten. Insofern müsste die vorliegende Studie noch erheblich ergänzt werden. Hinsichtlich der Beziehung zwischen den Parteien will ich dies abschließend noch kurz unter dem Aspekt der Gegenübertragung andeuten: Die Einbeziehung der Gegenübertragung, das heißt die Reflexion all der gefühlsmäßigen Reaktionen auf Milosevic, die sich einstellen, kann dazu beitragen, dass sowohl die Einschätzung des politischen Gegenübers als auch der eigenen Handlungen realitätsangemessener werden. Man sollte Gefühlsreaktionen durchaus als ein wichtiges Element des politischen Prozesses anerkennen, sich aber nicht seinen spontanen Gefühlsreaktionen unkritisch ausliefern. Psychoanalytiker sind Spezialisten im Umgang mit heftigen Gefühlen – sowohl ihren eigenen als auch denen ihrer Patienten – und könnten insofern Hilfestellungen bei der »Auswertung« von emotionsgeladenen Reaktionen auf politische Prozesse geben. Die zum Teil hysterisch zu nennenden Reaktionen mancher Politiker auf Milosevic, ihre moralisch aufgeputschte Rhetorik müsste sich unter dem Gesichtspunkt der Gegenübertragung daraufhin befragen lassen, ob es sich um ein unreflektiertes Ausagieren sich spontan einstellender Affekte handelt. Otto Kernberg (1975) weist darauf hin, dass man im Kontakt mit Menschen, die eine Borderline-Persönlichkeit aufweisen, fast unweigerlich vom Denken und Fühlen des so Gestörten affiziert wird und infolge dessen zu Abwehrmaßnahmen greift, die die eigene Realitätswahrnehmung beeinträchtigen: 1. Man muss darauf gefasst sein, dass man dazu verführt wird, sich masochistisch den Forderungen des »Borderliners« zu unterwerfen. In solchen Phasen geschieht es leicht, dass man sich

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mit den Aggressionen und den paranoiden Projektionen des Borderliners identifiziert und dessen destruktives Potenzial unterschätzt. Möglicherweise befanden sich speziell die Kritiker der NATO-Angriffe in der Gefahr, dass ihre Realitätswahrnehmung in dieser Weise beeinträchtigt wurde. 2. Eine andere Gefahr besteht darin, sich innerlich von dem »Borderliner« zu distanzieren. Dies hat einen Empathie- und damit Verständnisverlust zur Folge. Es kommt zur Ritualisierung des Gesprächs und schließlich zum Kontaktabbruch. Je mehr man sich innerlich von seinem Gegenüber zurückzieht, umso mehr ist man seinen eigenen aggressiv-sadistischen Gegenübertragungsaffekten ausgeliefert. Ist man schließlich entsprechend distanziert und frustriert, neigt man dazu, mit Sadismus »draufzuhauen«, und kann dies immer mit der offensichtlichen Destruktivität seines Gegenübers rechtfertigen. In dieser Gefahr standen zweifellos besonders die Befürworter der NATO-Angriffe. 3. Eine weitere, vielleicht noch schwerwiegendere Gefahr besteht darin, dass man sich narzisstisch von der Realität zurückzieht, indem man die ganz unrealistische Gewissheit entwickelt, mit seinem Verhandlungspartner auf jeden Fall eine Übereinkunft erzielen zu können. Dies führt dann dazu, dass man sich mit dem »Borderliner« gleichsam auf einer einsamen Insel einrichtet und gemeinsam alle destruktiven Impulse auf »böse« Objekte außerhalb richtet und damit die Beziehung relativ konfliktfrei hält. (Nach diesem Muster funktionierte auch die Ehebeziehung der Milosevics.) Man glaubt verzweifelt an das Gute in seinem Verhandlungspartner, obwohl er in seinem politischen Handeln keinerlei Anhaltspunkte dafür liefert. Eine solche »HeilsbringerHaltung« (Kernberg) hat allerdings mit einer echten verantwortungsvollen Sorge um das Wohl der betroffenen Völker nichts zu tun, denn diese muss stets auch die Realität mit einschließen. »Gegenübertragungs-Analysen« liefern keine zwingenden Begründungen für oder gegen bestimmte Maßnahmen. Diplomatische oder auch militärische Maßnahmen bedürfen zu aller erst der sachlichen Begründung. Wohl aber kann die Gegenübertragungsanalyse die unbewussten und irrationalen Hintergründe sowohl

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der Argumentationen für als auch gegen bestimmte Maßnahmen (z. B. eine militärische Intervention) erhellen und damit zu einer reflektierteren Argumentation verhelfen. Rückblickend erscheint die These plausibel, dass die internationale Gemeinschaft sich lange Jahre weigerte, die Destruktivität von Milosevic realistisch wahrzunehmen und sich mit der trügerischen Hoffnung beruhigte, er werde sich durch Verträge einbinden lassen. Man verleugnete sein destruktives Potenzial, um nicht handeln zu müssen. Eine Gegenübertragungsanalyse hätte diese illusionäre Einstellung des Westens zu Milosevic bewusst machen und frühzeitig zu einer konsequenteren Politik Anlass geben können. Frieden im Kosovo und auf dem gesamten Balkan wird dauerhaft nur dann eintreten, wenn er nicht nur durch die militärische Präsenz der NATO erzwungen wird, sondern wenn auch auf psychologischer und kultureller Ebene Trauerprozesse und Versöhnungsarbeit zwischen den verfeindeten ethnischen Gruppen initiiert werden. Die Menschen im Kosovo benötigen nicht nur militärischen Schutz, nicht nur wirtschaftliche Wiederaufbauhilfen, sondern auch psychologische Anleitung zur Bewältigung ihrer erlittenen Traumata und zur Aussöhnung mit ihren ehemaligen Peinigern. Hierbei könnte man sicherlich von den Erfahrungen der Wahrheitskommissionen in Südafrika sehr viel profitieren. Doch auch psychoanalytische Erfahrungen und psychoanalytisch und gruppendynamisch geschulte Multiplikatoren könnten mit helfen, solche konstruktiven Prozesse der Trauerarbeit und der Versöhnung auf individueller, vor allem aber auf kollektiver Ebene zu initiieren und zu unterstützen.

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■ Angelika Ebrecht

Masochismus und Macht Zur Konstitution von Herrschaft im Geschlechterverhältnis

Nach einer häufig zitierten Definition von Max Weber (1956, S. 28) bedeutet Herrschaft »die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, wogegen Macht die Chance bezeichnet, »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht«. Wenn man Herrschaft dementsprechend als politisch institutionalisierte Macht begreift, dann fragt man sich, auf welche Weise sie in Macht verankert ist. Und nimmt man ferner Max Webers Definition ernst, so kommt man nicht umhin zu fragen, worauf denn nun eigentlich die Chance beruht, den eigenen Willen bei einem anderen durchzusetzen. Die Antwort auf diese Frage führt zu der These, dass Macht nicht nur in einer bewussten Willensbeziehung gründet, sondern dass dieser Willensbeziehung wiederum weitgehend unbewusste psychische Motive zugrunde liegen. Daher sind Macht und Herrschaft für eine psychoanalytische Sozialpsychologie von besonderem Interesse. Macht ist zwar ein durch und durch soziales Prinzip gesellschaftlicher Institutionen; sie wird aber in persönlichen Beziehungen über psychische Strukturen und Dynamiken produziert und reproduziert. Sie kann konstruktiv genutzt werden, um etwas in der sozialen Gemeinschaft zu bewirken und voranzutreiben; sie kann jedoch auch in destruktiver Weise eingesetzt werden, um hierarchische Herrschaftsverhältnisse zu begründen und zu festigen (Ebrecht 1996). Dabei spielt das Geschlechterverhältnis deshalb eine besondere Rolle, weil es der Ort ist, an dem sich Macht psychisch konstituiert und in ein soziales Herrschaftsverhältnis umgewandelt wird. Geht man also davon aus, dass politische Herr-

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schaft stets in psychischen Machtbeziehungen gründet, dann muss gefragt werden, welche psychischen Dynamiken dazu beitragen, dass Macht in ihren konstruktiven Potenzialen behindert und in ihren pathologischen, destruktiven Dimensionen gefördert wird. Als Beziehungsform, die Herrschaft gleichsam in Reinkultur repräsentiert und die Macht in ihrer destruktiven Dimension auf die Spitze treibt, ist zunächst von der Kritischen Theorie, später auch von der feministischen Kritik, das sadomasochistische Verhältnis zwischen den Geschlechtern dargestellt worden. Dabei wird in der Regel dem Mann die aktiv unterwerfende, die sadistische, und der Frau die passiv unterworfene, masochistische Seite zugewiesen, wobei der Sadismus als konstitutiv für Herrschaftsverhältnisse gilt. Ich analysiere im Folgenden jedoch die Psychodynamik masochistischer Beziehungsformen als paradigmatisch für Machtverhältnisse, auf denen sich dann Herrschaft aufbaut, wo bei mir die Beziehung zwischen Leopold von Sacher-Masoch und seiner Frau Angelica Aurora Rümelin als Beispiel dient.

■ Sadismus und Macht in der Tradition der Kritischen Theorie Feministische Ansätze, die Macht auf eine sadomasochistische Beziehungsstruktur im Geschlechterverhältnis zurückführen, greifen auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zurück. Die hatte in der Tradition marxistischer Gesellschaftstheorie Macht und Herrschaft zunächst und vor allem als hierarchisches Verhältnis konstruiert, das sich als scheinbar gerechtes Tauschverhältnis präsentiert, im Grunde aber systematisch auf politisch-ökonomischer Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung beruht. Da demzufolge auch Macht latent oder manifest gewaltförmig strukturiert wäre, ergibt sich Gehorsam in dieser Definition aus einer individuellen Unterordnung unter eben solche Gewalt. Geht man indes mit Hannah Arendt davon aus, Macht bedeute die konstruktive Möglichkeit einer Gruppe von Menschen, sich zusammenzuschließen und Einfluss auszuüben (Arendt 1970, S. 45; Ebrecht 1996), so bestünde sie in einer freiwilligen, vernünftigen Überein-

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kunft. Die Spannung aus irrationaler Gewalt und scheinbar vernünftiger Freiwilligkeit hat den Diskurs über die sadomasochistische Dimension von Macht und Herrschaft bestimmt. Die Kritische Theorie versuchte, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts herrschende »Krise des Marxismus« durch einen Rückgriff auf philosophische und psychoanalytische Denkfiguren zu überwinden (Wiggershaus 1988, S. 53): Mit der Revolutionstheorie und dem Klassenbegriff wurde auch die zentrale Stellung des Produktionsparadigmas sowie der Arbeitswerttheorie infrage gestellt und durch Mechanismen einer Herrschaftssicherung substituiert, in denen individuelle, psychische und allgemeine gesellschaftliche Faktoren zusammenwirken. Horkheimer und Adorno ersetzen in ihrer »Dialektik der Aufklärung« (1947) den marxschen Dualismus von abstrakter und konkreter Arbeit durch den der instrumentellen Vernunft und des Nichtidentischen. Als Prototyp gesellschaftlicher Herrschaft gilt ihnen die Universalität und Destruktivität zweckrationaler, identifizierender Vernunft. Ihr entgegen steht das Nichtidentische, das Natürliche, das sich dieser Vernunft und ihrem zweckrationalen Denken nicht fügt. Der begrifflich identifizierenden Herrschaft der aufklärerischen Vernunft über die äußere, gegenständliche Natur, in der Horkheimer und Adorno den Ursprung der totalitären und destruktiven Kraft des Faschismus sahen, korrespondiert die Herrschaft über die innere, psychische Natur, die Triebe und Wünsche des Individuums. Daraus zogen auch andere Vertreter der Kritischen Theorie den Schluss, dass Herrschaft nur gesichert werden kann, wenn sie im Inneren der Menschen verankert ist. Eine zentrale Position bei der Verbindung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse nimmt Erich Fromms Version des autoritären Charakters ein. Nach Fromm (1936, S. 110) beruht der autoritäre Charakter auf einer sadomasochistischen Charakterstruktur, die im Über-Ich verankert ist: Er richtet seine Aggressionen sadistisch »gegen Wehrlose« und unterwirft sich auf masochistische Weise »den Mächtigen«. In Fromms (1936, S. 76ff.) Interpretation ist es das Über-Ich, das mit den vom Vater vermittelten Normen und Werten auch gesellschaftliche Machtstrukturen ins Individuum verlängert, das Ich schwächt und Herrschaft sichert. Dabei gilt nicht nur ihm die patriarchal strukturierte Familie als die gesell-

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schaftliche Institution, in der eine solche Vermittlung stattfindet, als »Urbild jeder gesellschaftlichen Herrschaft« (Marcuse 1936, S. 122). Die Theorie des sadomasochistisch strukturierten autoritären Charakters setzt jene Debatte fort, die innerhalb der Psychoanalyse um die Frage ausgetragen wurde, ob der Masochismus als Manifestation eines Destruktionstriebs gelten und damit die freudsche Todestriebtheorie bestätigen könne. Freud (1920g, S. 58f.) hatte seine Todestriebtheorie anhand von Beobachtungen sadistischer und masochistischer Tendenzen entwickelt (Le Soldat 1989, S. 25). Wenngleich er eine Art Ur-Masochismus annimmt, entsprechend der im Organismus herrschenden Tendenz, das Organische ins Anorganische zu überführen, wird diese Tendenz ihm zufolge in Verbindung mit der Libido zunächst »nach außen ableitet, gegen die Objekte der Außenwelt« gerichtet (Freud 1924c, S. 376). Diesen Trieb nennt Freud »Destruktionstrieb«, aber auch »Bemächtigungstrieb« oder (mit Nietzsche) »Wille zur Macht«. Ein Teil von ihm werde »in den Dienst der Sexualfunktion« gestellt und damit zum Sadismus, ein anderer im Inneren durch die »sexuelle Miterregung libidinös gebunden« und damit zum »ursprünglichen, erogenen Masochismus«, der alle Phasen der Triebentwicklung mit durchlaufe. Sadismus wie Masochismus stellen also in Freuds Sicht eine Verbindung von Liebes- und Destruktionstrieb dar, allerdings eine pathologische. Das Besondere an ihnen besteht darin, dass sie sich gleichsam komplementär zueinander verhalten und dass sie auf einer Sexualisierung und Pervertierung der normalen Beziehung zum Objekt beruhen, bei der es grundsätzlich darum geht, libidinöse mit aggressiven Anteilen zu verbinden. Dass die Verknüpfung sadomasochistischer Dynamiken mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht etwa beliebig ist, sondern vielmehr aus der Argumentationslogik Freuds schlüssig abgeleitet werden kann, wird im Blick auf die Entwicklung des ÜberIch deutlich, wie sie Freud (1930a) in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« darstellt. Dort zeigt er, wie durch die Identifikation mit der väterlichen Autorität eine Bindung an die gesellschaftlichen Normen und Werte stattfindet. Diese bilden im Inneren dann die Gewissensinstanz, die idealiter zugleich eine Unabhängigkeit von realen Autoritäten ermöglicht: Nun bestimmt

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nicht mehr die Angst vor dem Liebesverlust der äußeren Autorität, welche Triebregungen als richtig und falsch, gut und böse zu gelten haben, sondern das Gewissen. Diese Unabhängigkeit ist jedoch mit dem Unbehagen in der Kultur erkauft, das im Grunde einer masochistischen Wendung ursprünglich sadistischer Regungen gegen das eigene Ich entspricht. Denn das Über-Ich übernimmt in der ödipalen Phase die zunächst sadistisch nach außen gerichteten Aggressionen und wendet sie masochistisch gegen das eigene Ich, sodass sie in der Innenwelt bleiben können und nicht sozial zerstörerisch werden müssen. Bei Fromm löst sich diese Spannung zwischen Freiheit und Unfreiheit auf; bei ihm korrespondiert das Über-Ich den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Sie vermitteln sich durch das Über-Ich ins Innere der Menschen und werden dort als Unterdrückungsverhältnis verankert. Während das Über-Ich bei Freud also eine psychische wie soziale Autonomie begründet, garantiert es Fromm (1936, S. 76ff.) zufolge die innere Unterordnung unter äußere Mächte, nicht nur unter den Vater, sondern auch unter autoritäre Gesellschaftsstrukturen. Ist bei ihm der Masochismus als ein Pol von Macht noch mitgedacht, so tritt er bei Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« hinter den Sadismus zurück. Dies mag daran liegen, dass sie die totalisierende Herrschaftsstruktur der aufklärerischen Vernunft direkt mit dem Faschismus in Verbindung bringen, sodass jede kritische Analyse des Opferstatus als aktiv an der Unterdrückung beteiligt eine Infragestellung der Holocaust-Opfer hätte implizieren müssen. Für Horkheimer und Adorno entspricht der äußeren Naturbeherrschung durch die Vernunft nicht nur die Unterwerfung der inneren Triebnatur, sondern auch die Herrschaft von Männern über Frauen. Sadismus stellt für sie dabei eine Pervertierung der männlichen Herrschaftstechnik dar. In ihrer Analyse von de Sades »Juliette« zeigen Horkheimer und Adorno (1947, S. 106), wie eine Frau als sexuell quälende Unterdrückerin der männlichen, aufklärerischen Vernunft einen Spiegel vorhält, sodass diese angesichts ihres totalitären, amoralischen und zerstörerischen Gehalts »vor sich selbst erschrickt«. Diese grausame Frau macht deutlich, dass die »Formalisierung der Vernunft« zugleich das »Verdikt über die Gefühle« umfasst (S. 83). In-

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dem sie die »hingebende Liebe« verwirft, entlarvt Juliette Horkheimer und Adorno (S. 86, S. 96) zufolge die »Knechtschaft der Frau« und verkörpert »die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie liebt System und Konsequenz. Sie handhabt das Organ des rationalen Denkens ausgezeichnet«. Sie entlarvt das Innerste jeglicher Herrschaft, indem sie Gewalt, Unterdrückung, Zerstörung und Barbarei als der Geschlechterordnung zugehörig demaskiert. Das Werk des Marquis de Sade mache deutlich, dass die aufklärerische Befreiung von Vernunft und Verstand zugleich die Tendenz freisetze, »die Menschen zum Material« werden zu lassen, so, »wie die gesamte Natur für die Gesellschaft« (S. 79). Das barbarische Telos dieser Entwicklung bildet dann die Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. So erhellend dieser Gedanke einerseits auch sein mag, so viel verdunkelt er doch zugleich auch wieder. Denn er verhindert es, das Besondere am Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern von der totalitären Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zu unterscheiden. Die Frau wird mit den Juden gleichgesetzt und zum Opfer männlich totalisierender Vernunftherrschaft erklärt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Adorno und Horkheimer hier eine Mimesis ans Totalitäre betreiben, die alle Widerstandsmöglichkeiten verleugnet. Das wiederum geht darauf zurück, dass sie die Herrschaft zweckrationaler Vernunft mit Macht gleichsetzen und beide auf die gesamte abendländische Entwicklung übertragen: ausgehend vom Mythos, über Wissenschaft und Vernunft, Gesellschaft und Politik bis hinein in die psychischen Strukturen und das Geschlechterverhältnis. Gesteht man jedoch der aufklärerischen Vernunft zu, dass sie die idealtypische Möglichkeit einer relativen Freiheit des Ich gegenüber dem Es und dem Über-Ich repräsentiert, dann wäre ein totalitärer Sadismus als absoluter Vernichtungsimpuls dem Objekt gegenüber Folge eines entkoppelten Destruktionstriebes, für den die vom Objekt ausgehende libidinöse Unterwerfung keine Rolle mehr spielt, sodass auch der Masochismus als Gegenpart des Sadismus vernichtet beziehungsweise aufgehoben wäre. Eine Unterwerfung des Objekts wäre für diese Art totalitärer Herrschaft nicht mehr erforderlich, Macht wäre ausgelöscht und in absolute Herrschaft übergegangen. So wenig wie die Herrschaft über die Natur ist jedoch die Herr-

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schaft von Männern über Frauen an sich schon totalitär; denn sie bleibt auf die Ausübung von Macht und somit auf ihr Objekt angewiesen. Indem Adorno und Horkheimer Herrschaft mit Vernunft gleichsetzen und beide nicht nur als destruktiv, sondern in letzter Konsequenz totalitär verstehen, können und dürfen sie den Masochismus nicht systematisch berücksichtigen. Sieht man allerdings die Position des Opfers nicht ausschließlich aus der Perspektive des Holocaust, dann fragt sich, was das Opfer oftmals zur Unterwerfung unter den Täter treibt beziehungsweise ob die Position des Opfers insbesondere für Frauen stets unausweichlich sein muss. Und es entsteht auch die Frage, wie sich die destruktiven Kräfte des Unbewussten zu den zerstörerischen Potenzialen der Vernunft verhalten. Denn obwohl das Diktum »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« eine solche Verschränkung nahe legt, gehen Horkheimer und Adorno (1947, S. 5) nicht genauer auf sie ein. Das hindert sie daran, die psychischen Ursachen von Macht und Herrschaft in ihrer ambivalenten Konflikthaftigkeit zu begreifen und trotz der destruktiven Grundtendenz gesellschaftlicher Entwicklung auch nach ihren libidinösen Dynamiken zu fragen.

■ Sadismus, Masochismus und Macht in der feministischen Kritik Die neuere feministische Theorie übertrug die Argumentation der Frankfurter Schule auf das Geschlechterverhältnis und entdeckte dabei auch die systematische Relevanz des Masochismus für Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Sie versteht sich weniger als Vernunftkritik, denn vielmehr als eine Kritik, die Herrschaft auf ihren Ursprung im Geschlechterverhältnis zurückverfolgt. Für sie gelten nicht mehr die Produktionssphäre oder die bürgerliche Öffentlichkeit oder gar die Vernunft, sondern die Reproduktion, die Privatsphäre und die Sphäre persönlicher Beziehungen als Orte, an denen sich gesellschaftliche Herrschaft als Herrschaft von Männern über Frauen konstituiert

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(Benjamin 1988, S. 191ff.; Chodorow 1978, S. 230ff.; Rohde-Dachser 1992, S. 4, S. 14). Folgerichtig stellen ihre Autorinnen die Beziehungen zwischen den Individuen ins Zentrum und verknüpfen Macht und Herrschaft in der Tradition Max Webers mit den Problemen der persönlichen Autonomie und Willensfreiheit beziehungsweise der Selbständigkeit des Selbstbewusstseins und dem Kampf um Anerkennung (Hegel 1807, S. 145ff.; Honneth 1992). Sie gehen davon aus, dass Macht auf der weniger freiwilligen als vielmehr durch unbewusste Konflikte erzwungenen Unterwerfung des einen Selbst unter ein anderes Selbst beruht. Problematisch erscheint dabei aus meiner Sicht vor allem, dass die neueren so genannten intersubjektiven Ansätze feministischer Psychoanalyse sowohl die freudsche Triebtheorie als auch die objektbeziehungstheoretischen Konzepte (Benjamin 1988, S. 21; Chodorow 1978, S. 83ff.) frühkindlicher Abhängigkeit und phantasierter Einheit mit der Mutter ablehnen beziehungsweise uminterpretieren (Busch 2001, S. 200ff.). Aus ihrer Perspektive sind im Wesentlichen die Mütter für die Reproduktion der Geschlechterordnung sowie der kulturellen Herrschaftsverhältnisse verantwortlich. Dabei knüpfen sie an die neuere Säuglingsforschung an, die davon ausgeht, dass der Säugling und die Mutter sich von Geburt an als getrennte Wesen wahrnehmen und verständigen können. Diese vorzeitige Entlassung des Babys in die Autonomie lässt jede Art der Asymmetrie immer schon als Herrschaftsverhältnis erscheinen. Nun gilt nicht länger die ödipale Phase als der systematische Ort, an dem die individuelle Psychodynamik und die Mechanismen gesellschaftlicher Herrschaftssicherung ineinander greifen; Macht und Herrschaft werden dieser feministischen Kritik zufolge im Wesentlichen bereits über die präödipale Mutter-KindBeziehung im Individuum verankert, in der sich vorgeblich bereits die ödipale Unterdrückung von Frauen durch Männer reproduziert. Als exponierteste Vertreterin dieser Position kann Jessica Benjamin gelten. Benjamin (1988, S. 27) unterstellt als Maßstab einer gesunden Entwicklung ein idealtypisches Gleichgewicht von Selbstbehauptung und wechselseitiger Anerkennung zwischen zwei Subjekten. Der Widerspruch zwischen beiden Prinzipien bestimmt in ihrem Denken die gesamte psychische Entwicklung und

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ersetzt den freudschen Dualismus von Libido und Todestrieb (Benjamin 1987, S. 147). In der Beziehung zwischen Mutter und Baby müsse sich ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung konstituieren. Gelingt dies nicht, so hat das einen Kampf um Anerkennung zur Folge, der ein Herrschaftsverhältnis begründet. Zwischen den Geschlechtern werden Macht und Herrschaft, wie Benjamin (1988) unter Berufung auf Hegel behauptet, durch ein persönliches Verhältnis von Unterwerfung und Kontrolle konstituiert, in dem jene Dynamik zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung aus der Balance geraten ist. Während sich Frauen Benjamin (1988, S. 53) zufolge Männern aus dem Wunsch heraus unterwerfen, von ihnen anerkannt zu werden, unterwerfen Männer Frauen aus Angst vor Abhängigkeit: »Herrschaft beginnt mit dem Versuch, Abhängigkeit zu leugnen.« An diesem Modell von Macht und Herrschaft wird deutlich, dass es bei Versuchen, den eigenen Willen durchzusetzen, nicht nur darum geht, den eigenen Vorstellungen oder Interessen auf vernünftige, bewusste Weise Geltung zu verschaffen. Es geht ihnen vielmehr auch um die (meist unbewusst motivierte) Dialektik von Bemächtigung und Unterordnung, also um einen Zuwachs an Willkürchancen oder Selbstbestätigung und um die damit verbundenen Gefühle von Überlegenheit und Ohnmacht sowie von Wert und Unwert. Benjamin (1988, S. 48) erklärt die »Differenzierung« zwischen Selbst und Anderer, Kind und Mutter, mithilfe des Zerstörungsparadigmas von Donald W. Winnicott. In ihrer Interpretation besagt dieses Paradigma, dass das Kind den Anderen zu kontrollieren beziehungsweise zu »negieren« versucht, um herauszufinden, ob da tatsächlich jemand ist, der es anerkennen kann. Dafür muss das Objekt beziehungsweise die Andere »im Inneren« (also in der Phantasie) aggressiv attackiert und »zerstört« werden, »damit das Subjekt erkennen kann, dass das Objekt außen überlebt hat« (S. 40). Auf diese Weise werde das innere Objekt »aus der Phantasie herausgestellt und als äußere Realität erlebt« (S. 69), die nicht der eigenen omnipotenten Kotrolle unterliegt. Diese Zerstörung, bei der die Andere (die Mutter) überlebt, das Ich seine Grenzen in ihr findet und sie als Realität wahrnehmen kann, sei notwendig, um sich als getrennt von anderen Menschen wahrnehmen zu können.

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Wenn aber die Spannung zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung aus der Balance gerät, ist für Benjamin (S. 31) Autonomie »nur durch Vernichtung« der Anderen und Bindung nur »durch Unterwerfung unter die Andere« möglich, woraus eine sadomasochistische Beziehungsstruktur entsteht. Der masochistischen »Verbindung von Weiblichkeit und Unterwürfigkeit« korrespondiere der männliche Sadismus als »vergeltende Umkehr« der durch die Mutter »erlittenen Kontrolle« (Benjamin 1987, S. 147, S. 151). Dementsprechend interpretiert Benjamin (1988, S. 53) »sadomasochistische Phantasien und Beziehungen« im Geschlechterverhältnis als »Herrschaft in ›Reinkultur‹«. Am Beispiel von Pauline Réages Roman »Geschichte der O« möchte sie zeigen, dass der masochistische »Wunsch nach Unterwerfung eine sonderbare Verformung des Wunsches nach Anerkennung repräsentiert« (S. 57). Die Masochistin versuche, ein Selbst zu gewinnen, indem sie durch das Opfer ihres Selbst das mächtige Selbst des Herrn hervorbringt, um dann an seiner Macht partizipieren zu können. Der Sadist versuche, »zum anderen durchzudringen«, an ihm eine Grenze und mit dieser ein anderes Selbst zu finden (S. 72). Benjamin (S. 55, S. 65) knüpft damit zwar indirekt an Fromms Modell des autoritären Charakters an, verlagert aber die Ursprünge des sadomasochistischen Verhältnisses in die präödipale Phase; denn bereits in der Mutter-Kind-Beziehung beginnt für sie das, was sie als sadomasochistische »Dialektik der Kontrolle« bezeichnet: der Versuch, durch Kontrolle Grenzen zu durchbrechen oder aber im Kontrolliert-Werden Grenzen zu finden. Wie im hegelschen HerrKnecht-Verhältnis werden durch die masochistische Unterordnung die Handlungsmöglichkeiten des Machthabenden zwar prinzipiell erweitert, in letzter Konsequenz werden sie aber vernichtet, wenn der abhängige Part keinen Widerstand mehr entgegensetzen kann (Hegel 1807, S. 149). Wie in der feministischen Kritik generell ist auch bei Benjamin eine Tendenz festzustellen, die psychischen Mechanismen von Macht und Herrschaft aus der ödipalen in die präödipale Phase, von der Vater- in die Mutterbeziehung zu verlagern: Da es Müttern aufgrund ihrer gesellschaftlichen Entwertung als Frau schwerlich gelingen kann, ihre Töchter adäquat anzuerkennen, reproduzieren sie nach Benjamin den Kreislauf der Unterdrückung von Frauen.

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Denn weil Mütter sich stärker mit Töchtern als mit Söhnen identifizierten, sei diese Beziehung durch den Wunsch nach »Verschmelzung und Kontinuität auf Kosten von Individualität« gekennzeichnet (Benjamin 1988, S. 79). Die Eigenschaft der Mutter, mit der das Mädchen sich identifiziere, der Junge hingegen des-identifiziere, ist für Benjamin die masochistischen Haltung, die »Erkenntnis, dass die Macht der Mutter aus ihrer Selbstaufopferung entspringt«. Die Väter bekräftigen aus ihrer Sicht nur mehr die Herrschaft des jeweiligen männlichen Prinzips über das weibliche. In der ödipalen »identifikatorischen Liebe« wird der Vater Benjamin (S. 107) zufolge von Mädchen und Jungen idealisiert und die Mutter abgewertet. Denn der Vater repräsentiere »als Vertreter der Außenwelt« Autonomie, die Mutter hingegen Abhängigkeit. Da das Mädchen aber vom Vater nicht als gleichwertig anerkannt werde, reproduziere sich in der ödipalen Phase die Abwertung der Weiblichkeit. Dem Mädchen wird verweigert, was der Junge bekommt: die Identifikation mit dem Vater. »Wenn der ödipale Standpunkt sich völlig durchsetzt, begegnen die Männer den Frauen nicht mehr als anderen Subjekten, die sie anerkennen könnten« (S. 166). Derartig polarisiert, bestimmt nach Benjamin (S. 15) der Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung als Herrschaftsverhältnis die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Benjamins Argumentation bedeutet meines Erachtens eine Rückprojektion gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen auf frühe Beziehungsformen. Indem Benjamin einen als Autarkie konzipierten Autonomiebegriff auch für die frühe Phase kindlicher Entwicklung anwendet, kann sie nicht ausreichend zwischen Machtbeziehungen und Herrschaftsstrukturen unterscheiden. Da Macht so als ein auf Dauer gestellter destruktiver Kontrollmechanismus erscheint, fällt sie in dieser Konzeption mit Herrschaft zusammen. Entscheidend dabei ist, dass Benjamin Freuds Unterscheidung von primärem und sekundärem Masochismus beziehungsweise Sadismus nicht berücksichtigt und beide auch nicht als voneinander verschiedene sexuelle Perversionen konzipiert, sondern sie als ein entgleistes Anerkennungsverhältnis zwischen den Geschlechtern parallelisiert und generalisiert. Dabei wird der männliche Sadismus zum eigentlichen Mechanismus einer Macht, die immer schon nur Herrschaft etabliert.

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■ Masochismus und der fiktionale Erhalt von Grenzen Die Überbewertung des Sadismus gegenüber dem Masochismus stellt aus meiner Sicht eine ideologisierende Vereinfachung dar, die Frauen auf die masochistische Opferrolle festlegt und sich damit in letzter Konsequenz als Emanzipationshindernis erweist. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass die feministische Psychoanalyse in der Tradition der »Dialektik der Aufklärung« implizit doch am Primat des Sadismus als männlichem Herrschaftsinstrument festhält und den Masochismus lediglich als dessen Pendant konzipiert. Jessica Benjamins Modell muss meines Erachtens jedoch als eines relativiert werden, das sich nur mit der Abwehrseite der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern beschäftigt. Indem sie patriarchale Muster einer autonomen Beziehung zwischen Erwachsenen auf die frühkindliche Beziehung zwischen Mutter und Kind rückprojiziert und aus dieser Rückprojektion dann ihr Modell von Macht und Herrschaft im Geschlechterverhältnis ableitet, verdeckt sie eine tiefere, archaischere Dimension von Macht, die in masochistischen Pathologien wirksam ist. Dass sie die nicht in den Blick nehmen kann, liegt unter anderem daran, dass sie mit dem freudschen Triebbegriff auch dessen Primat der Sexualität ablehnt beziehungsweise umformuliert. Ich möchte im Folgenden am Beispiel der Beziehung zwischen dem Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch (1836–1896) und seiner ersten Ehefrau Wanda von Sacher-Masoch alias Angelica Aurora Rümelin (1845 – ca. 1906) zeigen, wie Macht im Geschlechterverhältnis durch Beteiligung beider Partner, die beide die Opferrolle für sich reklamieren, in Herrschaft umgewandelt wird. Als Sacher-Masoch 1872 seine spätere Frau kennen lernte, war er gerade dabei, sich wegen eines Briefwechsels mit einer ihrer Freundinnen (Emilie Frischauer) von seiner damaligen Verlobten (Jenny Frauenthal) zu trennen. Angelica Aurora Rümelin traf sich mit dem Dichter, um die Briefe der verheirateten Freundin zurückzufordern, da diese fürchtete, durch einen persönlichen Kontakt mit ihm kompromittiert zu werden (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 31f.). Für die Psychodynamik der Beziehung ist wichtig, dass es zwischen dem Paar von Anfang an zu einem Wechsel fikti-

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onaler Beziehungsrealitäten kommt, in denen die masochistische Phantasie stets alle anderen Realitätsaspekte überlagert. Dieser fiktionale Charakter wird weder von den Theoretikern der Frankfurter Schule noch von den feministischen Theoretikerinnen berücksichtigt. Er ist aber wichtig, um die Psychodynamik im Kampf um Macht und Herrschaft zwischen den Geschlechtern zu verstehen. Das erste Treffen des Grafen mit seiner späteren Ehefrau war bereits durch eine solche Verdeckung der Realität gekennzeichnet: erschien sie (die Tochter einer Näherin und eines Militär- beziehungsweise Bahnbeamten) doch als vermeintlich adlige Frau, verschleiert und maskiert sowie unter falschem Namen. Sie kam seiner Phantasiewelt insofern noch mehr entgegen, als sie auf sein verzweifeltes Werben nur unter der Maßgabe einging, dass er sich verpflichtete, sie weder zu sehen noch ihr Leben auszuspionieren, sondern lediglich mit ihr zu korrespondieren (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 34f.). Das alles bestärkte den Dichter offenbar in der Vorstellung, in ihr die Verkörperung seiner sexuellen Urphantasie der grausamen Frau gefunden zu haben. Dieses Bemühen, der Realität um jeden Preis eine fiktionale Phantasiewelt entgegenzusetzen, in der das Phantasma der grausamen Frau alles andere beherrscht, kennzeichnet die masochistische Inszenierung als Versuch, eine Herrschaft über die Realität zu etablieren, durch die die Geschlechtergrenzen neu bestimmt, die Geschlechterverhältnisse verdreht und diese willkürlich neu gesetzten Grenzen gegen alle Einflüsse von außen immunisiert werden. Dem Masochismus liegt also gerade nicht, wie Jessica Benjamin glauben macht, ein Bedürfnis zugrunde, die eigenen Grenzen vom anderen gewaltsam durchbrechen zu lassen, sondern es geht in ihm vielmehr darum, eigenmächtig fiktionale Grenzen zwischen den Geschlechtern zu etablieren. Das Bedürfnis, solche Grenzen zu setzen, reagiert wiederum auf den Wunsch nach einer entgrenzenden Beziehung wie auch auf deren Gefahren. Die Bewegung, eine Scheinrealität durch eine andere zu ersetzen, die auch die spätere Beziehung zwischen dem Autor SacherMasoch und seiner Frau kennzeichnet, macht eins deutlich: Das Objekt darf nicht wirklich werden, es muss hinter einer phantasmatischen Konstruktion verborgen bleiben, mit der das Subjekt eine Art künstliche, in jedem Fall aber extrem starre Grenze er-

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richtet. Schon bei der ersten Begegnung mit der späteren Wanda wie auch im weiteren Verlauf der Beziehung, zeigt Sacher-Masochs Art der Kontaktaufnahme, dass es ihm nicht nur um Distanz geht, sondern dass er auch bestrebt ist, mithilfe seiner erotischen Phantasien eine extreme Nähe, ja nachgerade eine Identität mit dem auserwählten Objekt herzustellen; es muss sich vollends in die von ihm entworfene masochistische Szene einfügen. Dabei dienen ihm seine Phantasien als Lockmittel, um die noch Fremde an sich zu binden: Er weiht sie in sein Frauenideal ein und bietet an, ihr unter dem Decknamen der Heldin seines Schlüsselromans »Venus im Pelz«, Wanda von Dunajew, seine in Bücher gefassten intimen Phantasien zu schicken. Das stellt für sie eine Verführung dar, der sie nicht widerstehen kann: »Und die Bücher! Wie dürstete ich danach!« (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 34). Die masochistische Phantasie hat somit nicht nur die Funktion, die Grenze zur äußeren Realität zu verschieben, sondern sie hat auch die Aufgabe, die Grenze zum ersehnten Objekt aufzulösen und es dazu zu veranlassen, sich in die innere Phantasiewelt einbeziehen zu lassen wie in eine neue Realität, die ganz der Kontrolle des Anderen unterliegt. Dieser Versuch totaler Kontrolle und Vereinnahmung des Objekts lässt die masochistischen Bemächtigungsversuche als Mechanismen einer Herrschaftssicherung erscheinen, die den Anschein erwecken, einer (im Sinne von Horkheimer und Adorno) totalitären Tendenz zu folgen. Das wäre sicher auch der Fall, wären nicht an dieser Umarbeitung der Realität beide Teilnehmer der masochistischen Inszenierung beteiligt. Dass die spätere Wanda gleich auf das Werben Leopolds einging, mag auch damit zusammenhängen, dass sie zu Recht eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihnen empfand. Denn beide waren sie durch Katastrophen in ihren frühkindlichen Beziehungen traumatisiert. Ihre Mutter, so berichtet Wanda (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 11) in »Meine Lebensbeichte«, sei durch einen Unfall gezwungen gewesen, »den Rest der Schwangerschaft liegend zu verbringen und nur so viel Nahrung zu sich zu nehmen, als sie absolut brauchte, um leben zu können«. Dieses frühe Trauma einer nachgerade tödlich verzehrenden Einheit mit der Mutter wird überlagert durch spätere Retraumatisierungen: Der Vater droht, die Familie umzubringen, die Tochter wird mitten im Revo-

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lutionsjahr 1848 als Dreijährige für fünf Jahre in ein Kloster gesteckt. Als sie 15 Jahre alt ist, verlässt der Vater die Familie, was sie und ihre Mutter zeitweilig dem Hungertod nahe bringt. Die Nähe zu einem Objekt scheint für sie unweigerlich mit Leid und Not verbunden zu sein, was dazu dient, eine noch schlimmere, weil tödliche Gefahr abzuwenden. Hier geht es folglich nicht darum, im Sinne von Benjamin sadistisch Grenzen zu durchbrechen oder sie masochistisch zu finden; sondern die Identifikation mit einer masochistischen Beziehungsform wird als lebenserhaltend und begrenzend empfunden. Eine gewisse innere Bereitschaft, sich auf die masochistische Beziehung einzulassen, brachte Wanda (Schlichtegroll 1906, S. 21) auch dadurch mit, dass sie wie ihr späterer Mann die Tendenz hatte, ihr reales, ärmlich karges Leben durch eine Traumwelt zu ersetzen: Dem Verhungern nahe, »erschuf sich meine Phantasie eine schöne und glückliche Welt, in die hinein ich mich rettete, in der ich eigentlich lebte«. Als Prototyp dieser Rettungsphantasien kann eine Halluzination gelten, die sie im Alter von zwölf Jahren hatte: Sie sah »in der Nische die Gestalt eines halberwachsenen Knaben von wunderbarer Schönheit aufrecht stehen. Die Nische war dunkel, aber die Erscheinung ganz hell, als ob das Licht von ihr ausginge. Er trug ein langes weißes Gewand, das Hals und Arme nackt ließ. … Seine blauen Augen blickten mich an, so beredt, so innig und so schmerzlich, als wollten sie mir etwas sagen, etwas Trauriges und Glückliches. In diesen Augen lag etwas mir Bekanntes und Vertrautes, fast so, als ob ich mit meinen eigenen Augen auf mich schaute« (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 15). In der Schilderung dieser Lichtgestalt lässt sich unschwer erkennen, dass sie sowohl eine idealisierende Vorausahnung des späteren Retters Sacher-Masochs darstellt als auch ein abgespaltenes, narzisstisch idealisiertes Selbstbild. In der Tat lässt Wandas (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 15) Schilderung ihrer ersten Begegnung Sacher-Masoch mit seinem »bleichen bartlosen Gesicht« und dem Aussehen eines Theologen wie eine Reinkarnation dieser narzisstischen Phantasie erscheinen. Das bedrohliche »Gefühl von Trauer« wie auch die verführerische »Phantasie von Liebe und Glück«, die von dieser Begegnung ausgingen, deuten an, dass auch die spätere Wanda sich eine Scheinre-

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alität konstruierte, in die sie Sacher-Masoch hineinsetzte, nur dass ihre Fiktion durch die narzisstische Abwehr einer Depression gekennzeichnet ist und nicht durch eine Perversion. Als der Graf sich dann später tatsächlich als der ersehnte Retter aus der Not erwies, indem er ihr als bereits erfolgreicher Schriftsteller ebenfalls zu kleinen publizistischen Erfolgen verhalf, suggerierte ihr das auf fatale Weise, sie habe in ihm die Realität ihrer Phantasien gefunden. Dass dies lediglich eine Scheinrealität war, die er ihr angeboten hatte und an der sie sich im Ertrinken klammerte wie an einen Strohhalm, bemerkte sie erst sehr viel später. Die Struktur dieser Beziehung veranschaulicht, was Masud Khan (1979, S. 25f.) als »Technik der Intimität« bei Perversionen herausgearbeitet hat, nämlich die »Fähigkeit, eine emotionale Atmosphäre zu schaffen, an der eine andere Person freiwillig teilnimmt«. Macht stellt sich hier also auf der Grundlage einer Freiwilligkeit her, die jedoch einen untergründigen Zwang verbirgt, dem freilich beide Teilnehmer der Szene unterworfen sind. Mithilfe jener Technik der Intimität wird Khan zufolge »eine Scheinsituation dargeboten, in der zwei Individuen vorübergehend auf ihre getrennten Identitäten und Grenzen verzichten«, um eine »gesteigerte, maximale Körperintimität orgiastischer Art zu schaffen«, wobei der Perverse versucht, eine »manipulative Ich-Kontrolle« aufrecht zu erhalten. Diese Kontrolle dient dazu, eine phantasmatische, spielerische Scheinrealität gegen das Eindringen realer Wirklichkeitsanteile zu immunisieren. Der Masochismus »funktioniert nur, wenn es mit seiner Ausführung nicht wirklich Ernst ist« und darf daher niemals den Charakter eines spielerischen Rituals überschreiten (Koschorke 1988, S. 89). Da folglich das Objekt dazu gebracht werden muss, sich in den durch die Phantasie vorgegebenen starren Grenzen zu bewegen, geht es in einer derartigen Beziehung eben nicht nur, wie Jessica Benjamin meint, um agierte Grenzüberschreitung, sondern vor allem auch um die Etablierung und den Erhalt neuer, unflexibler Grenzen, die das Ausagieren einer destruktiven Auflösung der Grenzen zum Objekt einerseits verhindern, andererseits aber auch ermöglichen sollen.

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■ Masochismus zwischen Macht und Ohnmacht Wie seine Frau, so berichtet Sacher-Masoch (1887, S. 20) in seinen »Autobiographischen Notizen« ebenfalls von einer frühen lebensbedrohlichen oralen Traumatisierung: Seine Mutter war nicht in der Lage, ihn zu stillen und flehte daher eine russische Amme an, ihren Sohn zu retten. Nachdem die das kränkliche Kind gesehen hatte, bat sie »eine Nachbarin, die ebenfalls einen Säugling hatte, ihren […] zu stillen; dann zog sie ihre großen Männerstiefel und ihren Mantel aus Schafspelz an« und folgte der Mutter. Erkennt man in dieser, nach Art einer Deckerinnerung präsentierten Erzählung unschwer das Vorbild der späteren »Venus im Pelz«, so gibt sich in ihr zugleich eine Urszenenphantasie zu erkennen: In der Amme erscheinen Mutter und Vater (Schafspelz und Männerstiefel) bis zur personalen Identität untrennbar miteinander verquickt, sodass der Sohn chancenlos und bis zur tödlichen Vernichtung brutal aus der elterlichen Beziehung ausgeschlossen bleibt. Wie Sacher-Masoch das Trauma psychisch verarbeitete, fasst folgende Schilderung des ersten Kontaktes mit der Amme zusammen: »Daran gewöhnt, bei meiner Mutter aus Leibeskräften saugen zu müssen, tat ich es auch bei ihr; der Milchstrahl aber, der mir in den Mund schoß, war so stark, daß es mir den Atem nahm und ich fast erstickt wäre« (Sacher-Masoch 1887, S. 21). Die Vorstellung, dass der Kontakt mit einer Frau nicht etwa Befriedigung, sondern eine lebensbedrohliche Gefahr bedeutet, in der ein tödlicher Mangel mit oral und urethral überschwemmender Überwältigung abwechseln, bestimmt auch die spätere Phantasiewelt Sacher-Masochs. In ihr zeigt sich, dass der Masochismus, wie Wurmser (1993, S. 53) erläutert, »immer mit schwerer Traumatisierung kausal verknüpft« ist, die in dem Sinne verarbeitet wird, den Schmerz als Abwehr des Objektverlustes einzusetzen. Dass das Trauma ständig wiederholt werden muss, beeinträchtigt Wurmser zufolge die Phantasietätigkeit insofern, als es zu einer starr fixierten Phantasiekontrolle führe. Diese phantasmatische Beziehung gestaltet Sacher-Masoch in seiner »Venus im Pelz«. Der Roman erschien 1869 als erster Teil des unvollendeten Romanzyklus »Das Vermächtnis Kains« und verfolgt manifest die Absicht einer literarischen Veranschauli-

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chung des Geschlechterkampfes. Latent zeigt sich in ihm jedoch das »Kerntrauma« des Masochismus, nämlich die Erfahrung von Passivität gegenüber einer grausamen und gefährlichen präödipalen Mutter (Wurmser 1993, S. 50ff.). Explizit vertritt Sacher-Masoch hier die Vorstellung, dass Mann und Frau »von Natur Feinde sind, daß die Liebe für die kurze Zeit zu einem einzigen Wesen vereint, das nur eines Gedankens, einer Empfindung, eines Willens fähig ist, um sie dann noch mehr zu entzweien, und […] wer dann nicht zu unterjochen versteht, wird nur zu rasch den Fuß des anderen auf seinem Nacken fühlen« (Sacher-Masoch 1869, S. 11). Im Roman realisiert sich das, indem der Held Severin eine masochistische Beziehung mit Wanda von Dunajew eingeht und sich ihr als Sklave anbietet. Diese Beziehung wird abgesichert durch einen Vertrag, dessen latenter Sinn darin besteht, die Destruktion zu begrenzen (Böhme 2002, S. 22). Manifest geht es ihm darum, dass der versklavte Mann ein »bedingungsloses Aufgeben« seines »Selbst« zusichert und die Frau als »Herrin über Leben und Tod einsetzt«, sie tatsächlich aber auf die masochistische Inszenierung verpflichtet: stets im Pelz zu erscheinen und grausam gegen ihn zu sein (Sacher-Masoch 1869, S. 140f., S. 63). Dazu gehört, dass Wanda versprechen muss, »daß du dich nie ganz von mir trennst, und dann, daß du mich nie der Rohheit eines deiner Anbeter preisgibst« (S. 63). Dieses Versprechen macht in der Verneinung deutlich, worum es geht: Der Roman thematisiert die Urangst des Masochisten, dass die Nähe zu einer Frau als Nähe zu einem archaischen mütterlichen Objekt empfunden wird und daher mit einer zerstörerischen Verschmelzung droht. Die führt zunächst zu einem Verlust der Grenzen und zur Selbstaufgabe im Anderen, dann aber aufgrund der eigenen ungebundenen Destruktivität zu einer gewaltsamen Trennung und phallischen Unterwerfung. Die Venus im Pelz symbolisiert den narzisstischen Ersatz eines archaischen Objekts, das mit einer doppelte Zerstörung droht: entweder das Subjekt zu vernichten, indem es einverleibt und identisch gemacht wird, oder es zu zerstören, indem es verlassen wird. Um diese Ängste abzuwehren, wird das Frauenbild gespalten, wird die Frau einerseits idealisiert und andererseits dämonisiert. Gleich zu Beginn des Romans präsentiert Sacher-Masoch

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(1869, S. 9ff.) seine Venus als Verkörperung dieses gespaltenen Weiblichkeitsideals: Sie erscheint einem Dichter im Traum als grausame Frau mit »toten Steinaugen«, einem »Marmorleib«, bekleidet mit einem Pelz, mit den Bewegungen einer Katze, versehen mit den Attributen des Spiegels und der Peitsche. Während die toten Augen, der Spiegel und die Marmorstatue emotionale Kälte, Unnahbarkeit und Leblosigkeit des Objekts garantieren, verkörpern Pelz, Katze und Peitsche eine Lebendigkeit, in der sich Wärme und Grausamkeit wie bei einem gezähmten Raubtier verbinden. Es klingt wie eine elektrische Theorie menschlicher Triebhaftigkeit, wenn Sacher-Masoch (1869, S. 44) schreibt, »Pelzwerk« übe »auf alle nervösen Naturen eine aufregende Wirkung« aus und dies auf »eine gewisse Verwandtschaft zwischen Elektrizität und Wärme« zurückführt. Auf ihr beruhe auch »der hexenhaft wohltätige Einfluß«, den Katzen, diese »Funken sprühenden, elektrischen Batterien« ausübten. Die Frau wird zu einem unerreichbaren »Objekt des Horrors und der Begierde« (Ebrecht 1993), das selbst kalt bleibt, während es im anderen ein Begehren entfacht: »du frierst, während du selbst Flammen erregst« (Sacher-Masoch 1869, S. 20). Der psychische Trick dieser Konstruktion besteht darin, von einem als zerstörerisch gefürchteten Objekt sexuelle Befriedigung erwarten und bekommen zu können, indem es auf Distanz gehalten, kontrolliert und dadurch erotisch ausgebeutet werden kann. Indem die Macht der archaischen Frau im leblosen Selbstbild maschinengleichen Funktionierens fixiert wird, werden das Auftauchen einer realen Frau und die Integration von Weiblichkeit in das männliche Selbstbild verhindert. Hinter dem idealisierten Objekt, hinter der kalten, steinernen Venus, verbirgt sich also die paranoide Phantasie eines grausamen, verfolgenden archaischen mütterlichen Objekts. Geht man mit Reik (1941, S. 48) davon aus, dass das gezähmte Raubtier den Todestrieb darstellt, dessen »primitive Wildheit« im Sadismus immerhin »so weit gebändigt ist, daß das Objekt grausam und gewalttätig geliebt wird«, dann wird klar, dass die Derealisierung des Objekts und die mechanisierende Kontrolle der Triebimpulse in der masochistischen Praktik dazu dienen, mit dem paranoid gefährlichen Objekt auch die eigene, gegen das Ich gerichtete Destruktivität auf Distanz zu halten, um sie dort wie eine

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Art Triebmaschine zur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse und zur Absicherung eines starren Selbst- und Objektbildes verwenden zu können: Indem das bedrohliche Objekt auf Distanz gehalten wird, kann es auf mechanische Weise ein Minimum an Lebendigkeit sichern. Folglich trifft es nicht zu, dass de Sade »das philosophische Programm einer Rationalisierung der Begierde« verfolge, wohingegen es Sacher-Masoch »um die Sexualisierung der Herrschaft« zu tun sei (Koschorke 1988, S. 38). Denn auch bei Sacher-Masoch wirken Rationalisierung und Sexualisierung bei der Konstitution von Herrschaftsverhältnissen zusammen. Der Masochismus ist gekennzeichnet durch die für Perversionen typischen Mechanismen der »Spaltung, Entmenschlichung, Fetischisierung und Idealisierung« zur Abwehr früher Traumata (Stoller 1975, S. 171). Durch die Entmenschlichung und Verdinglichung der Liebesobjekte partizipiert er an der von Horkheimer und Adorno für den Sadismus reklamierten Formalisierung der Vernunft, die Menschen zum Material herabwürdigt. Doch soll dadurch nicht etwa eine totalitär destruktive Vernunft inthronisiert werden, wie man mit Horkheimer und Adorno vermuten könnte. Es sollen vielmehr der Trieb wie auch das Unbewusste und mit ihnen die Realität der Geschlechterverhältnisse überlistet und unschädlich gemacht werden. Zu dieser pathologischen, nachgerade betrügerischen Rationalisierung gehört das, was Theodor Reik (1941, S. 152) als wesentlich für den Masochismus herausgearbeitet hat: das Suspense, das als »ein Schwanken zwischen Näherkommenwollen und Flüchtenwollen« nach Art eines Aufschubs der Triebbefriedigung versucht, »das Gefürchtete zu vermeiden oder zumindest hinauszuschieben« und damit zugleich die lustvolle sexuelle Vereinigung mit dem begehrten Objekt verhindert. Mithilfe des Suspense sucht der Betreffende etwas auf, vor dem er Angst hat und das er versucht, zu kontrollieren, indem er »ein Stückchen Schmerz« auf sich nimmt, um ihm »nicht plötzlich oder unvorbereitet ausgesetzt zu sein« (S. 91). Das Suspense zögert die Annäherung heraus und bewirkt dann gezielt ein Umschlagen in Grausamkeit. Es dient damit jedoch nicht nur der Triebregulierung, sondern auch der Abwehr von Angst vor einem archaischen, grausamen Objekt, indem dessen phantasierte Grausamkeit der Kontrolle des Subjekts unter-

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worfen wird. Zu Recht verweist Deleuze (1967, S. 195) gegen Krafft-Ebings (1892, S. 104ff.) Vorstellung, das Wesentliche dieser Pathologie bestehe in der »Richtung des Geschlechtstriebes auf den Vorstellungskreis der Unterwerfung unter und Misshandlung durch das andere Geschlecht«, darauf, dass die grausame Frau in der masochistischen Inszenierung eben gerade keine Sadistin sein darf, sondern eine Person ist, die ihrem eigenen Masochismus entkommt, indem sie den aktiven Gegenpart übernimmt und den passiven an den Masochisten delegiert (Khan 1979, S. 288). Es handelt sich also hierbei um eine durchaus kunstvolle Sublimierung des Sadismus und nicht etwa um seine Freisetzung. Ebenso wenig wird er lediglich gegen das eigene Ich gekehrt; denn das Objekt bleibt ja stets in die Szene einbezogen. Insofern kann man zwar mit Reik (1941, S. 219) durchaus »von der Geburt des Masochismus aus dem Geist der sadistischen Phantasie sprechen«, aber aus dem Geist einer paranoiden Angst vor dem die eigene Existenz vernichtenden Sadismus, der durch eine phallisch narzisstische, sexualisierende Abwehr gebannt werden soll: Indem die idealisierte, kalt distanzierte Marmor-Frau plötzlich zur dämonisierten, schlagenden Raubtier-Frau wird, kann zwar die Triebspannung gelöst und Sexualität freigesetzt werden. Dies geschieht aber im Sinne einer homoerotischen Unterwerfung unter die mit der phallischen Frau verschmolzene, »strafende Vaterinstanz« (Koschorke 1988, S. 68). Durch die Unterwerfung wird die Strafe für das inzestuöse sexuelle Begehren vorweggenommen, womit die gefürchtete Kastration verhindert werden soll. Dadurch, dass der sexuelle Akt selber mit der Strafe beziehungsweise dem strafenden Penis (der Peitsche) verschmolzen wird, wird ein archaisches Über-Ich überlistet beziehungsweise betrogen: Bevor es noch vernichtend strafen kann, ist die Strafe schon vollzogen – und mit ihr der lustvolle Akt. Indem sich die Triebspannung in der Phantasie durch das plötzliche Umschlagen beider Extreme aufund abbaut, werden einerseits die psychische Existenz und die Triebökonomie gesichert und wird andererseits der Destruktivität Tribut gezollt, ohne dass Selbst und Objekt ernsthaften Schaden nehmen. Auf diesem Hintergrund erscheint es zunächst bemerkenswert, wenn nicht gar fragwürdig, dass Freud (1933a, S.123) den Maso-

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chismus aufgrund der »Bevorzugung passiver Ziele« als »echt weiblich« beschrieben und eingeordnet hat. Geht er doch schon vor der theoretischen Ableitung des Über-Ich (1924c, S. 375) davon aus, dass im »manifesten Inhalt der masochistischen Phantasien« stets »ein Schuldgefühl zum Ausdruck komme«; es werde angenommen, dass »die betreffende Person etwas verbrochen habe«, »was durch alle die schmerzhaften und quälerischen Prozeduren gesühnt werden soll«. Das verweist auf eine strukturelle Nähe der Entwicklung des Masochismus zur Entstehung des Über-Ich und lässt darin eher eine männliche Problematik vermuten. Entsteht doch das Über-Ich, das den Bestand der Kultur garantieren soll, in Freuds Argumentationslogik aus der ödipalen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn und ist es inhaltlich an die Wertvorstellungen patriarchaler Gesellschaften gebunden. Da Frauen Freud (1933a, S. 139) zufolge anders als Männer den Ödipuskomplex nicht überwinden, sondern vielmehr in der libidinösen Bindung an den Vater verharren, kann deren Über-Ich »nicht die Stärke und die Unabhängigkeit erreichen, die ihm seine kulturelle Bedeutung verleihen« würde. Angesichts der paranoiden Dynamik masochistischer Phantasien lässt sich indes vermuten, dass es sich dabei um ein Problem der frühen, archaischen Über-Ich-Entwicklung handelt, wie sie Melanie Klein (1945) beschrieben hat, was wiederum auf eine verfolgende, archaische Mutterimago zurückführt. Die narzisstische Abwehr der masochistischen Inszenierung verbirgt eine extrem destruktiv aufgeladene Beziehung zu einem frühen mütterlichen Objekt, das mit aller Macht der männlichen Attribute ausgestattet erscheint. Als Repräsentantin eines mütterlichen Gesetzes, das auf der Ebene der paranoid-schizoiden Position (Klein 1945, 1946) nach Art einer Rache- oder Talionsmoral (Alford 1989, S. 181) funktioniert, ersetzt sie das väterliche Gesetz des ödipalen Über-Ich. Die Angst, das paranoid aufgeladene mütterliche Objekt könne sich am Sohn für seine Gier und seinen Hass rächen, wird hier noch ergänzt durch die Vorstellung, sie habe bereits dem Vater den Penis (Pelz und Peitsche) geraubt und verwende diesen dazu, den gierigen Sohn ebenfalls durch Kastration zu bestrafen. Der versucht nun listig, diesem Schicksal zu entkommen, indem er sich gleichsam in vorauseilendem Gehorsam in die passive Position der kastrierten Frau begibt und so tut, als

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habe er gar keinen Penis. Wenn der Sohn gleichsam in die weibliche Position der Mutter eintritt und dieser die phallisch-männliche Funktion zuweist, schließt er den Vater aus der Urszene aus. Damit ist der als Dritter vollends aus der Beziehung verdrängt, und die Triade erscheint als Dyade. Das jedoch würde die symbolische Ordnung und mit ihr die psychische Integrität des masochistischen Subjekts bedrohen, denn es droht eine Verschmelzung mit der gefürchteten, grausamen, archaischen Mutter. Daher muss die masochistische Beziehung gesprengt werden, indem ein Dritter in die Szene einbezogen wird. Der Dritte, im Roman als der Grieche bezeichnet, setzt der masochistischen Phantasie ein Ende, indem er Severin vor dem lachenden Blick Wandas auspeitscht (SacherMasoch 1869, S. 135). Diese ödipale Rache des aus der Urszene vertriebenen Vaters schafft eine Art Ersatztriangulierung, die zumindest das Gefühl für die Realität wieder herstellt und mit ihr erneut eine Symbolisierungsfähigkeit konstituiert: »Mir war es wie das Erwachen aus einem Traum« (Sacher-Masoch 1869, S. 136). Allerdings bedroht die »aggressive Wiederkehr des Vaters« (Deleuze 1967, S. 217) die symbolische Ordnung sogleich wieder mit potenzieller Aufhebung der Triangulierung, da der schlagende Vater nach dem Vorbild der schlagenden Mutter gestaltet ist: »Er ist ein Mann wie ein Weib, er weiß, daß er schön ist und benimmt sich danach« (Sacher-Masoch 1869, S. 117). Der Dritte ist notwendig, um die bedrohliche Beziehung zu der archaischen Mutter zu neutralisieren und die hinter der Szene verborgene Angst vor Beschädigung und Zerstörung durch Trennung abzuwehren. Zugleich wird er aber auch als zerstörerischer Eindringling empfunden, der das latent Sprengende der Beziehung zum primären Objekt realisiert. In der Trennungsphantasie verdichtet sich die Angst, dass die Frau dem Mann in der Vereinigung den Phallus erst rauben und ihn dann zu seiner Unterwerfung verwenden könnte mit der Vorstellung, der Vater könnte sich am Sohn für die Vereinigung mit der Mutter rächen, beide gewaltsam trennen und den Sohn kastrieren. Doch verdeutlicht die masochistische Szene, dass die Kastrationsangst hier keine genuin ödipale Angst ist, sondern eine Verschiebung archaischer paranoider Ängste darstellt, durch die Trennung und Differenzierung von der Mutter körperlich versehrt und existenziell vernichtet zu werden.

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Die Einführung fetischisierter Objekte dient dann wiederum dem Schutz vor der archaischen Mutter: Pelz und Peitsche haben nicht nur die Funktion, als Fetisch die Penislosigkeit der Frau zu verleugnen, sondern sie dienen auch dazu, eine psychotische Auflösung der Grenzen zur Realität zu verhindern, indem sie eine »Pufferzone« bilden, die eine »libidinöse Umwertung« der kalten, sachlichen, quasi autistischen Beziehung erlaubt (Koschorke 1988, S. 118). Sie errichten eine starre Grenze, die den Übergangsraum symbolischer Kommunikation ersetzt. Im Masochismus scheint der intermediäre Raum im Sinne Winnicotts (1983, S. 301f.), ein »Zwischenbereich des Erlebens« und Raum »illusionärer Erfahrungen«, den wir mit anderen teilen, wenn auch nicht ganz aufgehoben so doch zumindest angegriffen – und mit ihm die durch den Vater gesetzten Grenzen der symbolischen und der moralischen Ordnung. Sie werden ersetzt durch eine eindimensionale, vom Subjekt beherrschte »Doppelgängerwelt, in der Gewalt und Exzesse der Welt aufgefangen werden können« (Deleuze 1967, S. 190). Hier wird deutlich, dass der Masochismus die sexuelle Grenzüberschreitung als Herrschaftsinstrument zwischen den Geschlechtern im Sinne von Benjamin nur auf einer phantasmatischen Ebene inszeniert, um die Angst vor einer sehr viel gefährlicheren Auflösung der Persönlichkeitsgrenzen der archaischen Mutter gegenüber abzuwehren. Mit der Errichtung der Doppelgängerwelt werden jedoch auch die konstruktiven, differenzierenden Möglichkeiten von Macht (im Sinne Hannah Arendts) angegriffen beziehungsweise negiert. Denn sie bildet keinen intersubjektiven Raum kreativer psychischer Entwicklung, sondern ein narzisstisches Universum, das dazu dient, die Welt der Objekte der eigenen destruktiv erstarrenden Phantasie zu unterwerfen und still zu stellen. Die Macht des masochistischen Universums ist in dem Sinne destruktiv, als sie versucht, alle Entwicklung erstarren zu lassen und die lebendigen Objekte der eigenen phantasmatischen Triebbewältigung anzugleichen.

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■ Masochismus, Macht und Herrschaft Folgt man der autobiographischen »Lebensbeichte« seiner Frau, so bestätigt sich der phantasmatische Charakter masochistischer Inszenierungen darin, dass Sacher-Masoch versuchte, seine eheliche Beziehung genau nach dem Muster der »Venus im Pelz« zu gestalten. Hatte die spätere Wanda sich zu Beginn der Beziehung freiwillig in die ihr zugedachte Rolle begeben, so tat sie es in der Ehe zunehmend widerstrebend, sodass ihr Mann sie auf eine nachgerade tyrannische, ja erpresserische Weise in die Position der grausamen Herrin zwang. So versuchte er etwa, sie durch kompromittierendes Verhalten und Untreue dazu zu nötigen, ihn auszupeitschen oder sie dazu zu bringen, selbst bei größter Sommerhitze und zu allen gesellschaftlichen Anlässen Pelze zu tragen. Gegen Ende der Beziehung fügte sie sich seinen Wünschen dann eher aus Angst vor seinen nervösen Attacken und weil sie fürchtete, er könnte sonst verrückt werden. Dabei empfand sie ihre Rolle zunehmend als Zwang: »Es gab Tage, an denen es gar arg mit ihm war und ich aus der Rolle der grausamen Herrin gar nicht herauskam und voller Ungeduld die Nacht herbeisehnte, die mir erlaubte, wieder ich selbst zu sein« (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 112). Schließlich brachte ihr Mann sie unmittelbar nach einer Niederkunft dazu, geschwächt in seine Suche nach dem Dritten, dem Griechen, einzuwilligen: »Ich war nicht in der Lage, an Widerstand zu denken, noch irgendeinen Ausweg zu suchen« (W. von Sacher-Masoch 1906, S. 97). Der erste Versuch schlug fehl und brachte sie sowie das Neugeborene in Lebensgefahr. Als Wanda sich zunächst weiteren Versuchen gegenüber sperrte, stellte Leopold ihrer Darstellung zufolge vorübergehend seine literarische Produktion ein, sodass die Familie hungern musste. Als er sie dann schließlich doch dazu brachte, sich einem fremden Mann, dem Schriftsteller Armand Rosenthal, hinzugeben, trennte sie sich von ihm. Hatte Sacher-Masoch versucht, das Trauma des Ausschlusses aus der Urszene ungeschehen zu machen, indem »das Ganze unter seiner Regie« (Bang 2003, S. 283) stattfand, so hatte das doch das Gegenteil zur Folge: Wanda verließ ihren Mann für den Liebhaber, nachdem sie Sacher-Masoch des Ehebruchs mit seiner späteren Frau überführt hatte. Sie wurde schuldig geschie-

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den und erscheint so letztlich als Unterlegene im zwischengeschlechtlichen Machtkampf. Allerdings lassen ihre Schilderungen offen, aus welchem inneren Grund sie sich auf die entwürdigende und einengende Lebensweise eingelassen und so lange in ihr verharrt hatte. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass nach der Trennung und nachdem sie ihre »Lebensbeichte« veröffentlicht hatte, ein heftiger Streit in der Öffentlichkeit entbrannte. Zu Recht, doch ohne allerdings die unbewussten Motive zu berücksichtigen, betont Theodor Lessing (1906, S. 213): »Was denn zwang diese Frau, auf die wahnsinnigen Phantasmen« einzugehen? »Madame Wanda hat ihre Liebschaften freiwillig und unter eigener Verantwortung angetreten.« Diese indirekte Beschuldigung wie auch Carl Felix von Schlichtegrolls Versuch, den Grafen von aller Schuld zu entlasten und seine Frau als wirkliches (nicht nur phantasiertes) Ungeheuer erscheinen zu lassen, bleiben in der Doppelbödigkeit der Inszenierung verfangen. Schlichtegroll (1901, S. 110ff.) stellt sie als böse Frau dar, die es durch eine gezielte Intrige verstanden habe, den Dichter für sich zu gewinnen. Ihr Ziel sei es gewesen, »ihn von allem Übrigen auf der Welt zu trennen und ihm schließlich die Severin-Rolle aufzuzwingen, damit sie als Wanda triumphieren könne.« Solche und ähnliche Verdrehungen folgen der Logik der masochistischen Phantasie: Das Gefürchtete darf nicht wirklich werden, es muss in der Phantasie gebannt bleiben. Freilich sprechen derartige Kritiken auch eine verdeckte Möglichkeit masochistischer Inszenierungen an: Verleihen diese doch der als Quälerin ausersehenen Frau tatsächlich eine gewisse Macht. Wanda nimmt in der Inszenierung genau die Position ein, die das Objekt bei der Perversion hat: Indem sie ihre Funktion als »Plombe« oder »Pfropf« (Morgenthaler 1984, S. 29) wahrnimmt, um eine Lücke im Selbstbild des Mannes zu schließen, erlangt sie für sein psychisches Funktionieren eine eminent wichtige Position, die ihr ungeahnte Macht verleiht. Es ist dies eine Macht, die sie dem Masochisten als tödliche Gefahr erscheinen lässt: Wenn sie diese Position verweigerte, würde das den Zusammenbruch seiner Ich-Grenzen und Zerstörung seiner labilen psychischen Stabilität bedeuten. Deshalb auch mag Leopold seiner Frau mitunter gedroht haben, sich umzubringen, wenn sie ihn verließe.

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Allerdings dürfte aus den vorherigen Ausführungen deutlich geworden sein, dass sich dies nicht auf die schlichte Formel bringen lässt, Sacher-Masoch habe die überkommenen Rollen der Geschlechter vertauscht, denen zufolge der Mann aktiv und die Frau passiv sei (Krafft-Ebing 1892, S. 104ff.; Schlichtegroll 1901, S.41). Auch kann der Masochismus nicht (wie bei Benjamin) als typisch weibliches Pendant des männlichen Sadismus begriffen werden. An den Winkelzügen der masochistischen Inszenierung wird vielmehr deutlich, dass Macht und Ohnmacht hier zwischen den Geschlechtern nicht so eindeutig verteilt sind, wie es einigen feministischen Theorien scheinen mag. Die Beziehungsgeschichte der Eheleute Sacher-Masoch zeigt, dass der Masochismus zwar sadistische Anteile enthält und verbirgt (Stoller 1979, S. 87), dass diese aber auf beide Geschlechter verteilt sind: Beide Teilnehmer der Inszenierung sublimieren ihren Sadismus in dem gemeinsam konstituierten masochistischen Phantasma. Viel entscheidender als eine Dynamik von Grenzüberschreitung im Sinne Jessica Benjamins erscheint hier, dass dieses Phantasma dazu dient, die Angst zwischen den Geschlechtern zu bannen und sie den Omnipotenzphantasien einer Herrschaft über die Geschlechtergrenzen zu unterwerfen. Zwar ist Benjamin Recht zu geben, dass der Masochismus eine Teilhabe an Macht erreichen möchte. Was er aber bewirkt, ist keine wirkliche, sondern eine illusionäre Teilhabe. Sie hilft, »Illusion und Wirklichkeit« nicht wirklich »in Übereinstimmung« zu bringen, wie Morgenthaler (1984, S. 30) nahe legt, sondern auf eine illusionäre Weise. In dieser Illusion erweist sich die grausame Frau als Bestandteil des Masochismus im Sinne einer »zur Technik gesteigerte[n] Kunst des Phantasmas« (Deleuze 1967, S. 218). Eines Phantasmas, das nicht nur wie Deleuze (1967, S. 224) meint, »das Wirkliche neutralisiert« und das Ideal in der Innerlichkeit »in der Schwebe hält«, sondern das auch als Grenze und Schutz vor der Fusion mit einer archaisch verfolgenden, übermächtigen Mutterimago dient. Indem Sacher-Masoch sich in die passive Position begibt, scheint er der mächtigen archaischen Mutter durch Identifikation mit der unterdrückten und ausgebeuteten, passiven Frau entkommen zu können. Versucht er doch auf diesem Weg, das Objekt zu kontrollieren, es in eine illusionäre Position zu bannen, so-

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dass es ihm nicht gefährlich werden kann. Die Kontrolle über das Objekt soll zugleich auch die eigene Angst des Masochisten kontrollieren und ihm eine Teilhabe an der phantasierten Macht dieses Objekts verleihen. Doch wehren solche Versuche, Macht und Kontrolle zu etablieren, tiefere Gefühle von Ohnmacht und Ängste vor Zerstörung ab. Um diese Abwehr zu sichern, versucht SacherMasoch nicht nur über seine Frau Macht auszuüben, sondern durch die phantasmatische Grenzsetzung eine absolute Herrschaft über die Realität des Geschlechterverhältnisses zu etablieren. Das gelingt ihm aber nur bedingt, nämlich um den Preis des Selbstbetrugs: Indem er die eigene Ohnmacht verleugnen muss, verfestigt er sie. Man kann den Masochismus daher auch als die Macht der Ohnmacht bezeichnen: Der Masochist sucht auf einem Umweg »sein Ich zu behaupten«; er ist, mit den Worten Reiks (1941, S. 199), ein »Revolutionär der Selbstaufgabe«, ein Wolf im Schafspelz. Herrschaft, so lässt sich aus dem Dargestellten schließen, ist weder gleichzusetzen mit einer totalitären, sadistischen Vernunft im Sinne von Horkheimer und Adorno noch mit einer sadomasochistischen Beziehungsstruktur, wie sie Jessica Benjamin entwirft. Um Herrschaft im Geschlechterverhältnis etablieren zu können, ist es nötig, Macht als lebendiges und konstruktives Prinzip psychischer Dynamik, wechselseitiger Einflussnahme und gemeinsamen Handelns ein Stück weit still zu stellen beziehungsweise einzufrieren. Wenn das auf eine Weise geschieht, dass das eine Geschlecht die Realität des anderen einschränkt oder gar negiert, dann wird Macht in der Tat zu einem hierarchisierenden Unterdrückungsverhältnis und etabliert zwischen den Geschlechtern ein Herrschaftsverhältnis, bei dem es scheint, als so das eine Geschlecht dem anderen überlegen oder gar übergeordnet. Diese Herrschaft, die ein unehrliches Bild der Geschlechterverhältnisse konstituiert, entsteht jedoch, wie das Beispiel der Eheleute Sacher-Masoch deutlich werden lässt, aus tiefem Ohnmachtsgefühl und fundamentalen Ängsten heraus, die beide Geschlechter teilen, die sie gemeinsam abwehren, die sie nicht bewältigen können und daher verfestigen. Solange aber das Verhältnis der Geschlechter von derart starren und trügerischen Bildern geprägt ist, solange kann es schwerlich gelingen, das in ihm enthaltene konstruktive Machtpotenzial für

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die Gestaltung einer gemeinsamen Realität fruchtbar werden zu lassen.

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■ Emilio Modena

Das Eigene und das Fremde Zur Prophylaxe des Faschismussyndroms

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in ganz Europa Einwanderungsströme aus den agrarischen Ländern des Südens und Ostens in die Industriezentren des Nordens geflossen. Sie haben fremdenfeindliche Reaktionen nach sich gezogen, die im letzten Vierteljahrhundert von den Kräften der Neuen Rechten mit zunehmenden Erfolg systematisch dazu benutzt worden sind, den Rassenhass zu schüren und Sündenböcke aufzubauen mit dem Ziel der Re-Faschisierung der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erscheint die Fähigkeit, das Fremde möglichst vorurteilsfrei zu verstehen, als eine sozialpolitische Notwendigkeit, will man dazu beitragen, dem Umschlag von Fremdenangst in Fremdenhass vorzubeugen. Vorurteilsfrei heißt für mich in diesem Zusammenhang, dass das Fremde weder perhorresziert noch idealisiert werden soll; die Anderen sind lediglich Menschen wie wir – allerdings mit besonderen Eigenarten –, mit allen guten und bösen Eigenschaften ausgestattet, deren wir selber fähig sind. Nach meiner psychoanalytischen Überzeugung muss, wer über das Fremde und die Fremden nachdenkt, zuerst bei sich selber anfangen. Wer könnte von sich behaupten, er oder sie habe sich stets im Einklang mit sich selbst befunden, habe stets rational gehandelt? Depressive Zustände, Angstanfälle, Zwänge, Somatisierungen, ganz zu schweigen von den eigentlichen Entfremdungsgefühlen (Derealisation und Depersonalisation) werden in der Regel als Ich-fremd erlebt. Darüber hinaus sorgt der Wiederholungszwang als inneres Schicksal dafür, dass wir uns immer wieder in unheilvolle Verhältnisse verstricken, die uns ebenfalls als fremd erscheinen, als nicht selbst gemacht. Man kann sich fragen, inwiefern die Unterschiede zwischen etwa einem Kosovo-Albaner und einem

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Schweizer größer wären als diejenigen zwischen einem Basler Chemiearbeiter, einem Zürcher Bankier und/oder einem Oberwalliser Bergbauern. Einzig die gemeinsame Sprache – die mühsam genug von den Kindern in der Schule erlernt werden muss – verbindet die drei letztgenannten Ethnien. Was wir an uns selbst als unannehmbar fremd verdrängen, das wird in die Fremden projiziert und ängstigt oder ärgert uns fortan von außen. Wahr ist allerdings, dass es auch in Bezug auf Fremdheit ein quantitatives Moment und die sozialen Relationen zu beachten gilt. Neben der Sprache spielen auch Aussehen und Hautfarbe, manifestes Verhalten, Religion und Kultur eine wichtige Rolle, und es macht einen Unterschied, ob man einem einzelnen Fremden oder einer fremden Masse gegenübersteht. Das Ausmaß von Neugierverhalten und von Fremdenangst in ihrer reziproken Relation hängt im Sinne einer Ergänzungsreihe von subjektiven (innerpsychischen) und von objektiven (sozialpolitischen) Faktoren ab, auf deren quantitative Verhältnisse es ankommt (für die Einzelpsyche hatte Sigmund Freud vom notwendigen ökonomischen Gesichtspunkt gesprochen). Auf die Bedingungen, wie aus Fremdenangst Fremdenhass entstehen kann, werde ich im Schlusskapitel zu sprechen kommen. Beginnen möchte ich mit dem Eigenen. Mein persönliches »Fall«-Beispiel gibt nicht nur Auskunft über meinen politpsychologischen Standort, es unterscheidet sich auch nicht grundsätzlich von den anderen in diesem Aufsatz dargestellten Fällen und kann als gleichwertige Information über das Geschehen im Kulturschock gelesen werden. Inwiefern psychoanalytisches Fallmaterial – sei dieser aus therapeutischen Beziehungen, aus Gruppenbeobachtungen oder Selbstanalysen gewonnen – eine allgemeine sozialpsychologische Relevanz beanspruchen darf, möchte ich hier nicht weiter diskutieren. Ich habe früh schon darüber gearbeitet (Modena 1980)1 und kann im Übrigen auf Helmut Dahmer (1989) und Klaus Horn (1998a, 1998b; Horn et al. 1983) sowie auf das 1 Ich bin der Ansicht, dass in jeder individuellen Fallgeschichte Informationen von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz enthalten sind, allerdings zufällig verstreut und bruchstückhaft. Um zu allgemein gültigen Aussagen zu gelangen, müssen sie wie in einem Mosaik zusammengetragen und durch eine Metatheorie interpretiert werden.

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Lehrbuch von Siegfried Lamnek zur qualitativen Sozialforschung hinweisen (Lamnek 1988) und auf Heinz Hartmann (1950).

■ Über mich selbst Obschon ich vor einigen Jahren nach einer Gesetzesänderung als Ehemann einer Schweizerin in Besitz eines Schweizer Passes gelangte, bin ich kein »stolzer Schweizer«; ich bin mit neun Jahren aus Norditalien (Genua) in die Schweiz mitgenommen worden, weil meine Mutter in zweiter Ehe einen Schweizer Journalisten heiratete, der aus politischen Gründen aus Italien ausgewiesen worden war. Da mich niemand wirklich um meine Meinung zu diesem Transfer fragte, habe ich mich lange Zeit als passiver Emigrant gefühlt und weiß noch heute nicht so recht, ob ich importiert oder exportiert worden bin. Ich habe jedenfalls die Erfahrung des Kulturschocks und des sozialen Todes (Erdheim, Nadig) sehr intensiv am eigenen Leib erlebt, wenn auch nicht gerade bewusst – ich somatisierte und wurde unter anderem für einige Jahre stark übergewichtig. Ich habe mich in einer ersten Lebensphase nach der Emigration/Immigration mit der Kultur des väterlichen Aggressors überidentifiziert, in einer zweiten Phase aber den Spieß umgedreht, was mir 1968 – mit 27 Jahren – beinahe ebenfalls den Landesverweis eingetragen hätte. Laut dem Schweizerischen Bundesgericht war ich nicht »willens oder fähig«, mich »in die im Gastland herrschende Ordnung einzufügen« (Urteil vom 5. Juni 1970). Da war ich also zu einem aktiven Emigranten geworden. Dank zweier persönlicher Analysen (in Zürich und Freiburg i. Br.) entwickelte ich mich in der Folge ganz langsam auch zu einem reflektierten Emigranten, der über eine doppelte kulturelle Identität verfügt. Und das ist mein Leistungsausweis als Ethnologe: Ich kann je nach den Erfordernissen der äußeren Situation in wenigen Augenblicken von einem italienisch geprägten Verhalten, Denken, Fühlen in ein schweizerdeutsches wechseln und umgekehrt. Dabei habe ich glücklicherweise genügend Elemente beider Kulturen in ein persönliches Muster integriert, dass ich mich innerlich nicht

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zerrissen fühle. Ich gehöre in der Schweiz am ehesten zur Subspezies der »Secondos«, aber auch das nicht wirklich, da ich nicht im Immigrationsland geboren und aufgewachsen, sondern primär in Italien sozialisiert worden bin. Zur Illustration möchte ich zwei Ereignisse schildern, die sich meinem Gedächtnis eingebrannt haben. Der erste Vorfall trug sich in meiner vierten Primarschulklasse zu. Ich war wenige Monate zuvor nach Zürich gekommen und sprach sozusagen kein einziges Wort Deutsch, musste aber doch am Unterricht teilnehmen und meinen Platz in der Gruppe der Gleichaltrigen suchen. Da hat mich ein anderer Junge beleidigt. Ich konnte zwar nicht verstehen, was er gesagt hatte, merkte aber doch, dass er sich über mich lustig gemacht hatte. Ich stürzte mich wie eine Furie mit meiner ganzen Leibesfülle auf ihn, verfolgte ihn unter dem Gejohle der Menge quer über den Pausenplatz und verdrosch ihn. Dies hat mir in der Klasse für die nächste Zeit den nötigen Respekt verschafft, ich wurde von da an in Ruhe gelassen, lernte langsam Deutsch und Schweizerdeutsch (zwei recht verschiedene Sprachen!) und konnte mich behaupten. Der zweite Vorfall ereignete sich zwei Jahre später in der sechsten Primarschulklasse – das ist in Zürich die letzte Klasse vor der Mittelschule. Ich war wegen der Operation einer Vorhautverengung einige Zeit dem Unterricht ferngeblieben und schämte mich. Als mich die Kameraden fragten, warum ich so lange weggeblieben wäre, behauptete ich, ich sei am Bein operiert worden. Da war aber einer, so ein drahtiger, sportlicher Schweizerjunge, der meine Notlüge durchschaute. Er hatte an meiner Unsicherheit gemerkt, dass ich etwas Sexuelles verheimlichte, und begann mich zu foppen. Ich stürzte mich nach bewährtem Muster auf ihn, um ihn zu verprügeln, doch diesmal nützte mir mein größeres Körpergewicht nichts, und ich lag bald überwältigt auf dem Rücken, während der Widersacher auf mich eindrosch – die Kultur des Immigrationslandes war letztendlich stärker! Diese Episode unter anderen leitete die schon erwähnte Überidentifikation mit dem Schweizertum ein. Von da an schämte ich mich beispielsweise, wenn meine Mutter auf der Straße italienische Lieder sang, und wandte mich entschieden dem Stiefvater zu. Ich trat 1956 15jährig in die »Freie Jugend« ein, eine kommunistischen Jugend-

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gruppe. Es handelte sich um eine relativ kleine Gruppe, an die zwei Dutzend Personen insgesamt. Durch ihre Kleinheit und den starken emotionalen Rückhalt – man stand gegen die feindliche (antikommunistische) Umwelt eng zusammen – wurde die Zürcher FJ-Gruppe zu meiner ersten Peer-Group. Darüber war ich glücklich, hatte ich mich doch in der Schule, auch im Gymnasium, nicht zugehörig gefühlt. Die starke emotionale Erfahrung der Gruppenbindung mit der dazugehörigen Ideologie-Pflege, den sozialistischen Ritualen und dem Kampf für eine bessere Welt bestimmte künftig die Politik zur bevorzugten Verkehrsform, mich mit der schweizerischen Realität auseinander zu setzen und sie mir nach und nach anzueignen. Dieses Stück emotionsgeladener politischer Kultur blieb mir erhalten, auch nachdem ich mich später ganz aus dem kommunistisch-«revisionistischen« Umfeld gelöst hatte und an der Universität neue, selbst bestimmte Wege suchte. Wie Figura zeigt, habe ich noch heute – 55 Jahre später – etwas Mühe, meine Identität klar zu bestimmen, obschon ich mich, wie gesagt, am ehesten der Gruppe der Zweiten Generation Ausländer zurechne, die im Immigrationsland aufgewachsen sind. Eine Folge dieser anhaltenden Verunsicherung war, dass ich mich als Psychoanalytiker früh schon der Thematik des Narzissmus zuwandte, ohne dessen Verständnis auch die Identität nicht klar definiert werden kann. Was also ist Narzissmus, was Identität?

■ Erster Exkurs: Narzissmus und Identität Narzissmus ist »in«, ein Modewort, das bald synonym mit »Egoismus«, bald als Ausdruck eines individuellen Leidens, bald als Paradigma einer Erkrankung der Gesellschaft verwendet wird. In der Sprache der freudschen Metapsychologie ist der Begriff definiert als »Selbstliebe« oder genauer: als libidinöse Besetzung der SelbstRepräsentanz. Das Selbst ist dabei all das, was ein Mensch als wesentlich zu seiner Person gehörig empfindet: Körper, Kleidung, persönliche Vorlieben und Abneigungen, Gewohnheiten, Charakter, Überzeugungen und Ideale, kurz, all das, was für ihn typisch ist und von anderen unterscheidet. Allerdings ist die Abgrenzung

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der Selbst-Repräsentanz von den Objektrepräsentanzen nicht statisch, ein für alle Mal gegeben; das Selbst wächst vielmehr und verändert sich in einem lebenslangen Prozess in fortwährendem Austausch mit der Objektwelt und den gesellschaftlichen Realitäten, indem es etwa durch Identifikation Eigenschaften eines anderen in sich aufnimmt (zum Beispiel in der Trauerarbeit) oder durch Entfremdungsprozesse sich gewisser Anteile entledigt (beim Durcharbeiten in der Analyse). Dabei reagiert es auf Einwirkungen von außen mit einer gewissen Festigkeit oder Trägheit – ich könnte auch sagen: mit einer Flexibilität in engen Grenzen –, es besitzt gewissermaßen ein Trägheitsmoment. Diese relative Festigkeit ist das, was man unter Identität versteht, dem Sich-selbst-gleich-/treuBleiben. Das Selbst ist im Unterschied zu Ich, Es, Über-Ich keine psychische Instanz, sondern ein inneres Bild, welches Anteile aller drei Instanzen in sich vereinigt. Unter Narzissmus verstehe ich im Unterschied zu Freud (1914c) das dem Selbst zugehörige Selbstgefühl und das ihm entsprechende Verhalten. Definitionsgemäß denkt man zuerst an das positive Selbstgefühl, eben die Selbstliebe, doch sollte man meiner Meinung nach den Gegenpol, den Selbsthass, nicht vergessen. Die narzisstische Homöostase ist immer Resultante von positiver (libidinöser) und negativer (aggressiver) Besetzung und befindet sich im besten Fall im Gleichgewicht. Überwiegt aber die aggressive Besetzung, fühlen wir uns depressiv. Ob eine vorwiegend positive oder negative Besetzung zustande kommt, entscheidet sich daran, ob es dem Ich und vor allem seiner synthetischen Fähigkeit in einer gegebenen realen Lebenssituation gelingt, die oft widersprüchlichen Gebote von Es, Ich-Ideal und Über-Ich zu erfüllen. Jede geglückte Erfüllung von Triebwünschen und jede im Sinne des ÜberIch oder des Ich-Ideals realisierte »gute Tat« gibt Pluspunkte, jeder nicht sublimierbare Triebverzicht und jede Verletzung von ÜberIch- oder Ich-Ideal-Forderungen Minuspunkte, wobei das Trieb-, Über-Ich- beziehungsweise Ich-Ideal-Muster eines jeden Menschen verschieden und auch in sich selber widersprüchlich ist. So kann ein gelungener Ehebruch zum Beispiel der Selbstbesetzung libidinöse Energie aus dem Es und dem Ich-Ideal und aggressive Energie aus dem Über-Ich zuführen. Je nach individuellen Normen und konkreter Situation kann das Resultat eine hypomani-

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sche Selbstzufriedenheit verbunden mit einem leisen Schuldgefühl sein oder etwa eine depressive Verstimmung verbunden mit einem quälenden Schuldgefühl. Im Lauf der Zeit entsteht für die Selbstwahrnehmung aus unzähligen solchen Episoden ein konstanter vorherrschender Selbsteinschätzungsmodus, das Selbstwertgefühl. Wo dieses großen Schwankungen unterworfen oder dauernd insuffizient ist, betreten wir das Gebiet des pathologischen Narzissmus mit der Symptomtrias: Minderwertigkeitsgefühl, innere Leere und Depression. Wenn von einem gestörten Narzissmus die Rede ist, ist zunächst immer ein Symptom gemeint (gestörtes Selbstwertgefühl und entsprechendes Verhalten), niemals wird damit schon eine Diagnose ausgesprochen. Wer im psychoanalytischen Sinn eine Diagnose vertreten will, kann nicht umhin, die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zu analysieren, denn Symptome wie Angst, Minderwertigkeitsgefühl und Depression sind ubiquitär über das ganze Gebiet der Psychopathologie verteilt. Einem genetischen und adaptiven Gesichtspunkt folgend habe ich es mir in Anlehnung an die Ich-Psychologie und an Kernberg (1975) zur Gewohnheit gemacht, die Abwehrorganisation eines Menschen zu untersuchen, um zu einer diagnostischen Beurteilung zu gelangen. Die Frage ist, ob frühere oder spätere (reifere) Abwehrmechanismen vorherrschen, ob beispielsweise mehr Verleugnung oder mehr Verdrängung vorliegt. Ein quantitatives Moment muss auch hierbei beachtet werden, denn so, wie jede reifere Persönlichkeit immer auch infantile Anteile aufweist, so besitzt meist auch eine weniger strukturierte psychische Organisation höher entwickelte Anteile. Nach Abwägung der vorgefundenen Abwehrmechanismen gelingt es meist, zwischen Psychosen, Borderline-Zuständen und Psychoneurosen zu unterscheiden. So habe ich zum Beispiel aufgrund einer biographischen Studie über Berta Pappenheim – Breuers berühmter Patientin Anna O. – zeigen können, dass es sich bei ihr sehr wahrscheinlich nicht um eine Hysterie, sondern um eine Borderline-Persönlichkeit gehandelt hat (Modena 1982). Aber auch eine Strukturdiagnose genügt nicht zur Beurteilung der Lebensumstände und des wahrscheinlichen Schicksals eines Menschen. Sie muss erst noch in Bezug zu den Fertigkeiten und Begabungen, den Ich-Leistungen, gebracht und vor allem mit der

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sozialen Umwelt verglichen werden. So kann zum Beispiel ein reicher Psychotiker trotz Wahnideen und bizarrem Verhalten sozial völlig unauffällig bleiben, weil er sich in seiner Villa genügend Dienstpersonal leisten kann, und ein Borderline-Fall dank einer Sonderbegabung kompensiert sein und ein glückliches Leben führen. Die italienische Journalistin Oriana Fallaci beschreibt in ihrem Buch »Ein Mann« (1979), wie der griechische Freiheitskämpfer Panagoulis, welcher in bewundernswerter Weise der Verfolgung durch das Obristenregime in Griechenland und schweren Folterungen widerstanden hatte, im Privatleben nach überstandener Gefahr einen äußerst unangenehmen Charakter an den Tag legte (wahrscheinlich eine Borderline-Störung). Dass auch Menschen mit starker Persönlichkeit unter den Bedingungen der durch den Kulturschock ausgelösten sozialen Anomie neurotisiert werden, geht aus dem Bericht des Ethnopsychoanalytikers Paul Parin (Parin et al. 1971) über den Aufenthalt seiner Forschungsgruppe bei den Agni in Westafrika hervor: »Man muß sich zusammennehmen, die Zähne zusammenbeißen und sehen, daß man es aushält, man reagiert neurotisch, da kann man Analytiker sein oder nicht, man reagiert unter dem Einfluß dieser schwer erträglichen Gefühle« (Parin 1981). Ich habe bisher Narzissmus und Identität phänomenologisch und strukturell als Selbstwertgefühl und als stabiles (aber entwicklungsfähiges) Selbstbild definiert, das sich als Resultante im komplexen Kräftefeld von Triebwünschen, Moral, Idealvorstellungen, Begabungen und äußerer Realität entfaltet. Zu einer vollständigen metapsychologischen Definition fehlt nur noch die entwicklungspsychologische Dimension. Diese ist mit dem Namen von René A. Spitz verbunden. Er hat Heimkinder untersucht und dabei beobachtet, dass diese durchschnittlich mit drei Monaten das menschliche Gesicht erkennen konnten, was von einem Lächeln als Ausdruck der Zufriedenheit begleitet war (Spitz 1965). Er hat diese typische Säuglingsreaktion (die bei gesunden Säuglingen, die in der eigenen Familie aufwachsen, schon um einiges früher auftritt, durchschnittlich mit sechs Wochen) als »Blick erwiderndes Lächeln« von früheren, rein reflektorischen Mundbewegungen (Grimassieren) differenziert. Wichtig ist dabei, dass nicht nur die Mutter oder Hauptpflegeperson auf diese Art angelächelt wird,

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sondern jedes menschliche Gesicht. Wichtig, weil es nicht immer so bleibt: Im Alter von acht Monaten ungefähr (nach Spitz – bei normalen, zu Hause aufwachsenden Säuglingen schon mit fünf bis sechs Monaten) ändert sich das Verhalten. Jetzt reagiert das Kind nur noch auf das Gesicht der eigenen Mutter und der nächsten Angehörigen mit dem Blick erwidernden Lächeln, auf ihm Unbekannte aber mit einer Abwehrreaktion, indem es sich abwendet und schreit. Spitz hat dieses Verhalten die Achtmonatsangst genannt, eine phasenspezifische Angstreaktion, die im Verlauf der weiteren Ontogenese ihrerseits wieder verschwindet. Was bedeuten diese Verhaltensweisen für die innerpsychische Entwicklung? Spitz spricht von »Organisatoren der Psyche«, deren Bedeutung es ist, dass sich der werdende Mensch zunächst allgemein als ein menschliches Wesen identifiziert, im Weiteren aber als ein spezifisches Subjekt erlebt, das zu einer bestimmten Primärgruppe gehört. Sobald es die Mutter als besonderes Wesen und darüber hinaus seine Zugehörigkeitsgruppe erkennen kann (spätestens mit acht Monaten), beginnt es zu fremdeln. Es geht einerseits um die Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem Eigenen und dem Fremden und anderseits um den damit verbundenen Affekt. Die Angstreaktion ist phasenspezifisch und schon im ersten Lebensjahr von einem Kind zum andern keineswegs einheitlich. Das Fremdeln kann sehr verschieden ausgeprägt sein, manchmal nur angedeutet oder fast ganz fehlend, umgekehrt aber auch sehr auffällig. Meiner Meinung nach hängt die Reaktionsstärke des Fremdelns vom Grad der Zufriedenheit des Kindes mit sich und seiner engeren Umwelt ab, mit anderen Worten: vom Grad des Sicherheitsgefühles oder, nach Erikson (1959), des »Urvertrauens«. Vor und neben dem Angstaffekt ist immer auch ein spezifisches Neugierverhalten feststellbar, welches im Erfolgsfall mit dem Ausdruck von Freude verbunden ist. Das erlaubt mir einen Hinweis auf meine neuere Aggressionstheorie, wonach alles, was man machen kann, Freude bereitet. Ich habe das den natürlichen oder gesunden Aggressionstrieb genannt (die »Aggredo«), das in der frühen Kindheit noch nichts Destruktives an sich hat (Modena 2001, 2003). Dieses gesunde Neugier- und Angriffsverhalten wird also durch die Fremdenangst gehemmt. Es hängt von der weiteren Entwicklung ab, was daraus wird – ob ein ängstliches oder gehemmtes Individuum

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oder vielleicht ein kontraphobischer Draufgänger entsteht. Ein gewisses Maß an Angst – die wir in diesem Fall Realangst im Gegensatz zur phobischen oder neurotischen Angst nennen – ist normal und für die weitere Existenzsicherung notwendig und hat noch überhaupt nichts mit Fremdenhass zu tun. Dieser kann sich auf der Grundlage der Fremdenangst allenfalls viel später in der Sozialisation aufgrund familiärer, kultureller und politischer Einflüsse entwickeln (vgl. die Schlussbetrachtung »Von der Fremdenangst zum Fremdenhass«). Eine weitere Möglichkeit in den darauf folgenden Jahren ist die Verschränkung von Angst und Lust in der so genannten Angstlust. Wagnisse aller Art werden dann zwar ängstlich, aber trotzdem lustvoll erlebt, wie zum Beispiel in der Geisteroder Achterbahn oder anlässlich einer Schussfahrt auf den Skiern oder an einem Formel-1-Rennen.

■ Zweiter Exkurs: Über die materielle Gewalt der Phantasie Bevor ich zur konkreten Betrachtung der Fremden in ihren Interaktionen mit der sozialen und kulturellen Umwelt des Einwanderungslandes übergehe, die ich anhand der jeweils besonderen Problematik der ersten und der zweiten Generation darstellen werde, möchte ich mir noch einen kleinen Exkurs über die materielle Gewalt der Phantasie (der Ideologie, des Glaubens) erlauben. Es heißt ja: »Am Anfang war das Wort.« Und: »Der Glaube kann Berge versetzen.« Was bedeuten diese religiösen Kernsätze bei Lichte betrachtet, auf der Grundlage moderner Neurophysiologie? Man muss sich das Gehirn als eine ungeheure Ansammlung von sensiblen, untereinander mannigfach vernetzten Zellen vorstellen, von Zellen, die sich »beeindrucken« lassen. So kann die Hirnmasse Informationen aller Art speichern. Die Neurologen nennen diese Erinnerungsspuren Engramme. Sigmund Freud hat dabei zwischen der Sach- und der Wortvorstellung unterschieden, was heißt, dass es vor dem Spracherwerb (im Unbewussten) nur Sachvorstellungen geben kann. Alfred Lorenzer hat präzisiert, dass es genauer um die Speicherung von situationsbedingten Interaktionsmustern geht. Je-

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de Wort- und Sachvorstellung ist auch mit einer bestimmten Situation oder Situationsfolge im interpersonalen Feld und den damit zusammenhängenden Affekten verbunden. Aus dieser Summation oder Überdeterminierung von Sach-, Wort- und situativer, beziehungsweise interpersonaler Vorstellung entsteht übrigens das Bewusstsein. Nehmen wir als Beispiel einen Apfel: Die Sachvorstellung ist zusammengesetzt aus einem optischen und einem taktilen Engramm, wozu noch die Geruchs- und Geschmacksempfindung kommt. Bei der Wortvorstellung »A-P-F-E-L« geht es sodann um eine bestimmte, sichtbare Abfolge oder Zusammenstellung von Buchstaben, wozu noch das entsprechende akustische Lautbild sowie das motorische Innervationsmuster beim Sprechakt hinzukommen. All diese Engramme – und noch viel mehr, wenn wir an die ganze Variationsbreite assoziativer Verknüpfungen denken, die von einem Apfelbaum und einem Früchtekorb bis zu einem Apfelkuchen, zur weiblichen Brust, einem knackigen Hinterteil und bis zum Sündenfall gehen können, machen unser Bewusstsein des Apfels aus, das wir auch dann besitzen und zur Verfügung haben, wenn gerade kein Apfel in unserer unmittelbaren Umgebung vorhanden ist. Es handelt sich um eine Repräsentanz oder um ein inneres Bild des Apfels. Repräsentanzen gibt es für alles, was irgendwie zu uns gehört, seien es Sachen aus der unbelebten Natur, Tiere oder geliebte und gehasste Menschen oder seien es unsere eigenen Körperteile. Alle diese Repräsentanzen sind entsprechend den situativen und interpersonalen Szenen, die sie in uns haben entstehen lassen, mit einer speziellen affektiven Aura verbunden, die angenehm oder unangenehm sein kann, meist aber komplex zusammengesetzt ist. Nun sind aber Affekte und Repräsentanzen ihrerseits mit Körperteilen und -funktionen nicht nur assoziativ, sondern auch via willkürliches und unwillkürliches (autonomes) Nervensystem verbunden, sodass das Ansprechen eines bestimmten Vorstellungsinhalts auch immer (unbewusst automatisch) eine körperliche Reaktion auslöst. Zum Beispiel Hautwarzen: Hautwarzen sind hässlich, unangenehm, ja Ekel erregend. Aufgrund aller assoziativen und nervösen Verknüpfungen kann man sie durch ein einfaches, auf den ersten Blick magisch erscheinendes Ritual verschwinden lassen, indem man sie »bespricht«. Das funktioniert auf alle Fälle bei Kindern, die noch genügend suggestibel sind.

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Man kann aber auch geeignete Erwachsene unter Hypnose schmerzfrei operieren. Auf der anderen Seite gibt es Vorstellungen, die in uns derart tief verankert und mit unserem Ich-Erleben derart stark verschmolzen sind, dass wir lieber krank werden oder sogar sterben würden, als sie aufzugeben. Ich kann als Beispiele die Bedeutung der Jungfräulichkeit oder der Keuschheit in traditionell-konservativen Kulturen anführen oder an den Soldaten erinnern, der für seine Fahne in den Tod geht, oder auch an die so genannten Wilden, die unrettbar erkranken, wenn sie ein wichtiges Tabu ihres Volkes verletzt haben (Voodoo-Tod). Nichts, was zu unserer Identität gehört, kann »einfach« verändert oder schnell aufgegeben werden. Sitten und Gebräuche, religiöse Vorstellungen und Ideologien besitzen eine materielle Gewalt über uns, die dem Körper eingeschrieben ist und sich erst manifestiert, wenn sie uns in Konflikte mit uns selbst oder mit unserer Umwelt gestürzt haben. Damit kann ich zum klinischen Interaktionsfeld übergehen und fragen, was Fremdsein bedeutet und wie man es trotz sprachlichen und kulturellen Barrieren besser verstehen kann. Da ich meine Praxis von Anfang an vor allem auf die Unterschicht ausgerichtet habe, stammen die Beispiele fast ausschließlich aus der Arbeiterklasse. Ich habe seit 1974 zwar auch oft mit politischen Flüchtlingen und selten mit Oberschichtangehörigen (Managern) gearbeitet, befasse mich aber hier nicht mit deren spezifischen Problemen. Ich bin gleichwohl davon überzeugt, dass die nachfolgend beschriebenen Mechanismen für alle dauerhaft Emigrierten in ihrem Kern zutreffen.

■ Die erste Generation (ein Rennen gegen die Zeit) Ich spreche lieber von Fremd- als von Gastarbeitern, da mir jener Begriff unredlich vorkommt: Das Schweizer Kapital hat keine Menschen aus fremden Ländern zu Gast gebeten, sondern Arbeitskräfte gerufen – wie Max Frisch formuliert –, die der Profitmaximierung dienen sollten. Der Schwerpunkt meiner Erfahrungen liegt bei den Fremdarbeitern aus Süditalien, die in den

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fünfziger und sechziger Jahren massenhaft in die Schweiz immigriert sind. Ich hatte in meiner psychotherapeutischen Praxis aber auch häufig Kontakte mit spanischen, vereinzelt mit portugiesischen Fremdarbeitern und, entsprechend der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes in den letzten Jahren, auch vermehrt mit Leuten aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit Türken und Lateinamerikanern. Angehörigen der Mittelschicht sind diese Fremdarbeiter in doppelter Hinsicht fremd: einmal infolge ihrer anderen Sprache und Kultur und zum Zweiten als Proletarier, als Menschen also, die definitionsgemäß nichts anderes besitzen als ihre »Proles«, ihre Nachkommenschaft (was letztere Fremdheit betrifft, die eine ubiquitär klassenspezifische ist, vgl. Modena 1984, 1995, 2006). Einmal hat mich eine ehemalige Analysandin in einem erregten, panikartigen Zustand wieder notfallmäßig aufgesucht. Anlass war ein Familienstreit. Um sich die bevorzugte Aufmerksamkeit der alten Mutter zu sichern, von der sie sich in Wirklichkeit benachteiligt fühlte, hatte Beatrice (geboren 1943) in einem Brief zu einer Notlüge gegriffen. Sie hatte die Mutter um Generalabsolution für alle früher angezettelten Streitereien gebeten, da sie sich einer Gehirnoperation hätte unterziehen müssen und danach nicht mehr gewusst habe, was sie tue. Der Brief hatte die gewünschte Zuwendung vonseiten der Familie erzielt, die in ihrer großen Mehrheit in ein und demselben Städtchen in der Nähe von Neapel lebt, zugleich aber die ältere Schwester und Rivalin der Patientin auf den Plan gerufen, die ebenfalls in der Schweiz wohnt. Diese hatte den Betrug gewittert und war ausgezogen, ihn durch Erkundigungen bei verschiedenen Spitälern zu beweisen. Die Vorstellung, vor der ganzen Familie als Lügnerin entlarvt zu werden, war Beatrice derart unerträglich, dass sie mir drohte, sie würde die Schwester oder sich selbst umbringen, wenn ich nicht Abhilfe schaffen könne. Nun, ich konnte Beatrice relativ schnell beruhigen, indem ich ihr erklärte, dass ihre Erfindung ja gar nicht so falsch sei, da sie zwar keinen eigentlich chirurgischen Eingriff am Gehirn habe durchführen lassen, aber durch die Analyse doch eine Art »Gehirnoperation« vorgenommen worden sei. Der Ehemann der Patientin, ein ruhiger, besonnener Sizilianer, hatte inzwischen seinerseits eine einigermaßen glaubhafte Geschichte erfunden, die ich nur noch ärztlich abzusegnen brauchte. So kam eine Ausspra-

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che zwischen den Schwägern zustande, und die Sache wurde auf Eis gelegt. Die Krisenintervention hatte nur zwei Stunden und ein längeres Telefongespräch beansprucht. Trotzdem war ich sehr von der Heftigkeit von Beatrices Gefühlen beeindruckt: Offensichtlich hatte die Aussicht auf Gesichtsverlust Todesängste mobilisiert, die ihr zunächst nur durch Mord oder Selbstmord lösbar erschienen waren; sie kam mir wie ein Tier in der Falle vor. Durch das phantasierte Scherbengericht der Familie wähnte sich die Patientin von ihrem Clan ausgestoßen – obschon sie in Wirklichkeit seit über 20 Jahren in Zürich lebt und hier, wenn auch kinderlos, verheiratet ist. Wenn sie nach Italien in die Ferien fährt, geht sie zudem meistens nach Sizilien, in das Städtchen des Ehemannes, und besucht ihre eigenen Verwandten in der Nähe von Neapel jeweils nur kurz, obschon das Paar in beiden Ortschaften je eine eigene Wohnung besitzt. Bei genauerem Hinsehen sitzt die Frau tatsächlich in der Falle: Sie hatte vor zwei oder drei Jahren auf Drängen des Mannes, dem es beruflich gut geht, ihren Arbeitsplatz als Putzfrau in einem größeren Spital gekündet und damit ihr hauptsächliches soziales Netz verloren. Nun sitzt sie untätig als grüne Witwe in einem Mehrfamilienhaus in der Zürcher Provinz und langweilt sich – wie man so sagt – zu Tode. Die soziale Isolation ist der Preis, den sie für die Übertragung ihrer und ihres Mannes Standesdünkel auf die Schweizer Verhältnisse bezahlen muss, da man als süditalienische Kleinbürgersfrau nicht arbeiten sollte. Im italienischen Dorf hätte sie aber als Hausfrau auch ohne eigene Kinder die vielfältigen Beziehungsmöglichkeiten einer Großfamilie zur Verfügung gehabt. In ihrer durch die Aufgabe des Arbeitsplatzes gegenüber der früheren Situation noch verstärkten Einsamkeit hat Beatrice regressiv die alten Familienbande und -konflikte neu belebt und entsprechend ihrer hysterischen Struktur in Szene gesetzt. Damit klar wird, dass diese massenhaft vorkommende und für Emigranten der ersten Generation als ganz normal zu bezeichnende Ich-Spaltung nicht nur im süditalienischen Kulturkreis vorkommt, sondern allgemein für Menschen gilt, die aus traditionsgeleiteten Kulturen mit starken Familienbanden in die Metropolen der Ersten Welt einwandern (mit ihren ganz verschiedenen Familienverhältnissen) füge ich eine weitere Fallgeschichte an, diesmal

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einer Frau aus einer nordafrikanischen Kultur. Samia steht schon seit fünf Jahren in meiner psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlung. Ich sehe sie normalerweise 14-täglich, doch hatte sich ihre Problematik dramatisch zugespitzt, sodass eine Krisenintervention notwendig wurde. Samia stammt aus Algerien, genauer aus einem kabylischen Dorf (in der Schule musste sie arabisch und französisch lernen). Sie hatte mit Billigung der Familie früh einen Mann aus ihrer Gegend geheiratet und zwei Töchter von ihm bekommen, der sich bald nach der Eheschließung und der Auswanderung des Paares in die Schweiz als schlimmer Tyrann entpuppte. Aufgrund der für sie mit der Zeit unerträglich gewordenen Belastung in der Beziehung war sie mehrmals mit kurzen psychotischen Attacken dekompensiert und musste zwei Mal in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert werden (ich habe die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeit vom präpsychotischen und hysteroiden Typ gestellt entsprechend der kernbergschen Einteilung). Schließlich konnte sie in der Schweiz die Scheidung durchsetzen, ihr Ex-Mann blockierte aber die Ausreise der Töchter aus Algerien, die in der Obhut der Familie geblieben waren. Erst dank einer List und erheblichen Schmiergeldzahlungen gelang es der Patientin, die Töchter nach Zürich nachkommen zu lassen. Nun beruhigte sich die Situation, die Mädchen wurden eingeschult und kamen voran, sodass ihre allein erziehende Mutter den Wunsch nach einer zweiten Heirat zu entwickeln begann. Da sie sich im Verlauf ihrer Leidensgeschichte zu einer gläubigen Muslimin entwickelt hatte, kam nur eine traditionelle Heirat in Betracht. Im Verlauf einiger Jahre verliebte sich Samia zwei Mal, doch beide Heiratskandidaten waren ihrer in Paris lebenden Familie nicht genehm. Nach der zweiten erzwungenen Absage im Sommer vor anderthalb Jahren erkrankte sie an einer mittelschweren Depression. Wir brauchten fast ein Jahr in der Psychotherapie, bis diese aufgehellt war und die Patientin neuen Mut schöpfen konnte. Wieder genesen, beschloss sie, die nächsten Sommerferien in ihrer engeren Heimat zu verbringen und sich dort umzusehen. In ihrem Ursprungsdorf lernte sie an einem Fest einen anziehenden jungen Ingenieur aus einer Nachbargemeinde kennen, der ihr von einem wohlmeinenden Onkel als charakterfest und anständig

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empfohlen wurde. Er entsprach in jeder Hinsicht ihren Wünschen, verliebte sich seinerseits und war bereit, zu ihr in die Schweiz zu kommen und sich hier niederzulassen, da sie nicht mit den zwei pubertierenden und erst vor drei Jahren ausgewanderten Mädchen nach Algerien zurückkehren wollte. Das Paar war heiratswillig, sodass Samia bei der Fremdenpolizei in Zürich die Bewilligung zur Einreise ihres Verlobten zwecks Heirat einholte (er konnte anders kein Einreisevisum bekommen). Doch kaum hatten die Eltern von der beabsichtigten Liaison erfahren, legten sie sich wieder quer. Sie behaupteten, der junge Mann – der mittlerweile eine Stelle in der Petrochemie in Südalgerien angetreten hatte – wolle sie nur wegen der Papiere heiraten. Außerdem sei er keine gute Partie, da unvermögend, und stamme obendrein aus unmoralischen Verhältnissen (sein Vater hatte zehn Jahre früher die Familie verlassen und war nach Frankreich ausgewandert), eine Verbindung mit ihm wäre eine Schande. Alles Bitten und Flehen nützte nichts. Es wurde noch schlimmer: Ohne den Mann überhaupt zu kennen, beschimpften Mutter und Schwestern ihn als »voyou« (einen Tunichtgut), weil er sich nicht ihrem Willen unterzog und auf die Verlobte verzichtete. Samia drohten sie den Beziehungsabbruch an, wenn sie sich weiterhin der elterlichen Autorität widersetzen sollte. In dieser Zerreißprobe bewegte sich die Patientin wieder auf einen Nervenzusammenbruch zu, ich musste ihr erneut starke Medikamente verschreiben. Da beschloss ich, mich einzumischen. Ich telefonierte in ihrer Anwesenheit mit der Mutter in Paris, was allerdings nichts fruchtete – die Mutter wiederholte nur immer in erregtem Ton, dieser Mann würde die Tochter ins Unglück stürzen. Da entschloss ich mich im Einverständnis mit Samia, ihrem Vater als Familienoberhaupt einen höflichen Brief zu schreiben. Ich schrieb in meiner Eigenschaft als Arzt und langjähriger Psychotherapeut sehr respektvoll, warnte aber gleichzeitig eindringlich vor einer neuerlichen psychischen Entgleisung und appellierte an seine patriarchale Autorität, er möge doch aus Rücksicht auf die eindeutigen Gefühle der Tochter wenigstens den Verlobten näher kennen lernen. Er antwortete nicht. Stattdessen rief mich eine der Schwestern der Patientin aus Paris an und beschimpfte mich als »arroganten Intriganten«. Trotzdem hat sich der Druck der Familie vermindert,

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und Samia ist auf den Gedanken gekommen, die Einladung um ein paar Monate zu verschieben. Sie benötigt weiterhin Tranquilizer, fühlt sich aber ruhiger, auch wenn die Familienschlacht zwischen Paris, Alger, Tizi-Ouzu und Zürich in den Telefonleitungen weiter tobt. Samia ist zwar schon 34, eine hübsche Frau mit eigenem Einkommen, sodass sie keinen »Ernährer« benötigt; sie hat sich trotz vieler Probleme ganz gut in der deutschsprachigen Schweiz zurechtgefunden, einen Freundeskreis aufgebaut und die Sprache erlernt. Sie sorgt in bewundernswerter Weise für die Töchter und behauptet sich auch gegenüber dem Ex-Mann, der ihr noch manchmal nachstellt. Trotzdem wagt sie es nicht, ihrem Herzenswunsch zu folgen und sich gänzlich der Autorität der Eltern zu entziehen. Zu sehr fürchtet sie die Ausstoßung aus der Familie – die in Wirklichkeit weit weg ist und ihr von Paris aus auch dann nicht hatte helfen können, als sie es wirklich gebraucht hätte. Die Geschichte erinnert mich an jene von Romeo und Julia, ich kann nur hoffen, dass sich die Liebenden diesmal besser durchsetzen werden. Mario Erdheim und Maya Nadig (1979) schreiben: »Der soziale Tod ist jener Prozess, in welchem die sozialen und kulturspezifischen Rollen zerfallen, die unbewussten Werte und Identitätsstützen ins Wanken kommen und damit auch die diesen Verhältnissen angepassten Wahrnehmungen.« Erdheim führt an anderer Stelle weiter aus: »Der Ethnologe sieht sich in der fremden Kultur einer Situation ausgesetzt, in der ihm seine in der eigenen Kultur gut eingebetteten Identifikationen fragwürdig werden können. Diese Identitätserschütterung erfolgt nicht so sehr über mystisch-exotische Erlebnisse, sondern in der Erfahrung des Banal-Alltäglichen. Bereits die Veränderung der Ess-Sitten vermag ihm aufzuzeigen, dass ganze Anteile seiner Identität als ›Bürger‹ an bestimmte Essgewohnheiten geknüpft sind« (Erdheim 1982, Hervorh. v. Verf.). Man vergleiche hierzu die dem Internisten des Zürcher Universitätsspitals, Prof. Hegglin, zugeschriebene Diagnose des »italienischen Magens«, eine unter italienischen Emigranten der 1960er Jahre massenhaft vorkommende Form der Magenneurose, deren tiefenpsychologische Bedeutung im Ausdruck der Unverdaulichkeit der Schweizer Verhältnisse beruhte. Mit anderen Worten, man

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fand die Lebenssituation hier »zum Kotzen«, musste aber gleichwohl ausharren. Was nun folgt, ist eine stark verdichtete Geschichte, gewissermaßen das »Robotbild« der Emigranten, die es nach 20 oder 30 Jahren nicht geschafft haben, nach Hause zurückzukehren, die in der Schweiz Bürger zweiter Klasse geworden sind, zu modernen Hintersassen. Ich habe sie aus zahlreichen Geschichten meiner italienischen Patientinnen und Patienten zusammengesetzt. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass dieses Bild heute noch auf ungefähr eine halbe Million Italiener in der Schweiz zutreffen dürfte. Ich nehme dabei an, dass die andere Viertelmillion Ausländer mit Niederlassungsbewilligung Angehörige der so genannten »Zweiten Generation« darstellen, die Kinder der zuerst beschriebenen Generation von Auswanderern (soweit sie nicht schon eingebürgert sind und aus der Statistik wegfallen).2 Übrigens: Was ich für die in der Schweiz größte Ausländergruppe der Italiener ausführe, gilt in den Grundzügen – abgesehen von der jeweils besonderen kulturellen Spezifität einer jeden Emigrantengruppe – auch für alle anderen Fremdarbeiter.

■ Die Geschichte von Antonio und Ismelda Antonio Benevento ist zwischen 1950 und 1960 aus Apulien, Kampanien, Kalabrien, Sizilien oder Sardinien im Alter von 18 bis 20 2 Diese statistischen Angaben sind heute – 2006 – veraltet, die Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz verändert sich fortlaufend, ich denke aber gleichwohl, dass sich die grundsätzlichen Probleme nicht verändert haben. Die Schweizer Fremdenpolizei erteilt nach dem Prinzip des »Divide et impera« eine ganze Palette verschiedener Aufenthaltsbewilligungen mit jeweils anderen Rechten – vom Saisonnier-Statut (Bewilligung nur für 9 Monate, danach obligatorische Ausreise) über die Jahresaufenthaltsbewilligung (gilt für eine bestimmte Arbeitskategorie und muss jährlich erneuert werden) bis zur Niederlassungsbewilligung (ermächtigt zum freien Wechsel des Arbeitsplatzes und zur selbständigen Arbeit). Wer sich genauer über die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz informieren möchte, sei auf Meyer (1987) und Weiss (2003) verwiesen.

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Jahren ausgewandert. Er war nicht einer der Allerersten, kam zum älteren Bruder oder zu einem Onkel oder Vetter nach Zürich, Aarau, Glarus oder St. Gallen, da er in seinem Dorf keine persönliche Entwicklungsmöglichkeit fand; er war einer der ältesten Söhne einer größeren Geschwisterschar eines Kleinbauern oder eines Land- oder Grubenarbeiters oder eines erfolglosen Kleingewerblers. Er arbeitete auf dem Bau oder in einem Metall- oder Chemiebetrieb als Handlanger oder Angelernter. Seine Familie war froh über die Unterstützungsbeiträge, die er monatlich nach Hause schickte. Antonio war fleißig, machte so viele Überstunden wie nur möglich und war auch einer Schwarzarbeit am Wochenende nicht abgeneigt. Er wohnte in einem möblierten Zimmer, und in der Freizeit ging er manchmal zum Tanz und hatte ein paar amouröse Abenteuer mit Schweizerinnen. Im Übrigen sparte er eisern, da er das Geld zum Bau eines Häuschens benötigte, wo seine zukünftige Ehefrau und seine Kinder leben sollten. Auch wollte er sich mit dem Ersparten eine Existenz aufbauen. Aber nach einigen Jahren Emigration war das Geld doch noch nicht beisammen, und das Leben begann ihm zu verleiden: zu viel Arbeit, zu wenig Spaß. Da kam Antonio auf den Gedanken, doch früher zu heiraten. Er dachte sich, wenn die Frau ebenfalls mitverdiene, ginge das Sparen schneller. Seine Familie war einverstanden und suchte ihm eine passende »paesana«, mit der er sich in den nächsten Ferien verlobte und die er ein Jahr später heiratete. Nun war er vielleicht 26 Jahre alt. Das Paar bewohnte ein etwas größeres möbliertes Zimmer oder eine kleine Einzimmerwohnung. Mit der Kapitalakkumulation ging es tatsächlich schneller, aber die Frau war unglücklich: Das Klima in der Schweiz behagte ihr gar nicht, und sie hätte gerne Kinder gehabt. Antonio dachte, noch ein paar Jahre, und es würde für die Rückkehr reichen. Eine Tochter wurde geboren und tagsüber in eine Pflegefamilie gegeben. Nach drei Jahren folgte ein Söhnchen nach – jetzt lohnte die Arbeit der Ehefrau nicht mehr, denn wenn zwei Pflegeplätze zu bezahlen waren, blieb von ihrem Näherinnenlohn kaum etwas übrig. Aber eigentlich hatte das Paar Glück: Beide waren gesund und hatten keinerlei Prestigebedürfnisse, ein Kleinwagen, das war alles, und eine Zweizimmerwohnung mit billigen Möbeln. Dafür konnte Antonio in den Sommer-

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ferien ein Stück Land im Dorf erwerben, wo er sogleich mit dem Hausbau begann. Am Abend ging die Frau Büros putzen; das Häuschen wuchs langsam; als Antonio 32 Jahre alt geworden war, war es unter Dach; jetzt ging es nur noch um die Inneneinrichtung. Die Tochter kam in den Kindergarten und bald in die Volksschule. Antonio litt nun doch an Magenbeschwerden und musste Diät essen, die Frau hatte am Wochenende immer wieder Kopfschmerzen, die Tabletten nützten nicht viel, ein drittes Kind lag finanziell einfach nicht drin … Beide überlegten: Wäre es nicht gescheiter, wenn Ismelda jetzt in die Heimat zurückkehrte? Mittlerweile waren ja die wichtigsten Möbel angeschafft. Antonio hätte noch ein paar Jahre in der Schweiz bleiben und dann eine Arbeit in Italien suchen können. Aber er schaffte es nicht, sich von Ismelda und den Kindern zu trennen, schließlich hatte er hier nur wenige Freunde, und er hatte sich an die Geborgenheit in der Familie gewöhnt. Die kleine Anna hatte Schwierigkeiten in der Schule, nun wurde auch Enrico eingeschult. Antonio und Ismelda beschlossen, in der Schweiz zu bleiben, bis Enrico die Primar- und Anna die Sekundarschule abgeschlossen hätten. Sie beauftragten die Eltern, sich langsam um einen Arbeitsplatz für Antonio zu kümmern, vielleicht eine Stelle als Hauswart oder etwas Ähnliches, aber man konnte nichts finden, hieß es, höchstens auf dem Bau gebe es Arbeit. Antonio, der jetzt als Lagerist eine saubere und auch geachtete Arbeit hatte, mochte nicht wieder als Handlanger auf dem Bau arbeiten gehen. Das Ehepaar Benevento kam jetzt auf die Idee, einen kleinen Lebensmittelladen zu erwerben. Im Nachbardorf besaß eine Kusine von Ismelda einen Laden. Da sie kinderlos war und schon ziemlich alt, hätte sie gerne verkauft. Der Kauf dieses Ladens hätte nun aber alles Ersparte restlos aufgebraucht, man konnte das Risiko nicht eingehen; Antonio und Ismelda sagten sich: »Noch zwei bis drei Jahre, und wir haben für alle Fälle noch eine Reserve.« In dieser Zeit hatte Ismelda im Winter einen dummen Unfall: Sie rutschte auf dem Glatteis aus und verletzte sich am Knie. Die Operation des Bänderrisses schien eine Routinesache zu sein, aber Ismelda – die auch ziemlich übergewichtig geworden war – konnte über ein halbes Jahr nicht mehr putzen. Außerdem war Anna nicht in die Sekundarschule aufgenommen worden. Das war nicht wei-

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ter schlimm, sie sollte ja später eine Lehre als Coiffeuse oder als Schneiderin machen. Aber Enrico war ein ausgezeichneter Schüler. Die Lehrerin mochte ihn und sagte bald einmal, er könnte sogar ins Gymnasium gehen, wenn er weiter so gut bliebe. Nun begann Ismelda, insgeheim darüber nachzudenken, dass Enrico wahrscheinlich hier die besseren Chancen hätte als in Italien. Antonio war wütend! Er wollte nur noch bis zum Primarschulabschluss des Sohnes warten und dann endgültig den Laden der Kusine erwerben. Er hielt es in der Schweiz nicht mehr aus. Viele seiner Kollegen waren schon früher zurückgekehrt, und sein Magen wurde immer schlimmer. Es wurde ein Magengeschwür diagnostiziert. Nachdem die Ulkuskur nicht den erhofften Erfolg gezeitigt hatte, musste Antonio operiert werden. Auch nach der Genesung wollte es lange nicht besser werden. Unter diesen Umständen wagte er nicht den Sprung nach Italien. Anna, die Tochter, hatte eine gute Lehrstelle als Coiffeuse gefunden, und Enrico schaffte tatsächlich die Aufnahme ins Gymnasium. Beide Eltern waren sehr stolz auf ihn. Sie beschlossen, noch ein paar Jahre zu bleiben … Heute ist Anna mit einem Jungen aus Kampanien oder Lukanien oder Kalabrien verlobt, der eine kaufmännische Ausbildung macht und Bankangestellter werden will, eine gute Partie. Nur mit Enrico haben die Eltern Mühe. Er hat angefangen, Medizin zu studieren, aber er treibt sich herum, hat komische Freunde und Freundinnen und raucht Haschisch, wie die Eltern vermuten. Sonst geht es ihnen gut. Ismelda ist noch etwas rundlicher geworden. Aber sie putzt immer noch bei einer netten Schweizer Familie, wenn die Kniearthrose nicht allzu sehr schmerzt. Und Antonio muss noch Diät essen – wegen des Magens –, hat aber sonst keine Beschwerden. Der Arzt meint, es stimme zwar nicht ganz mit dem Blutdruck, aber es sei nicht so schlimm, dass er deswegen schon Tabletten nehmen müsste. Die Beneventos freuen sich auf ihre Pensionierung, da werden sie endlich richtig ins Häuschen auf dem Dorf einziehen und die Kinder werden sie einmal besuchen kommen – und wenn sie dann doch beschließen sollten, ganz hier zu bleiben, nachdem die eigenen Eltern gestorben sind, ist es doch wenigstens ein schönes Ferienhäuschen für den Sommer! Soweit das idealtypische Porträt eines durchschnittlichen Fremd-

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arbeiterpaars in der Schweiz, das zwar nicht besonders Glück gehabt hat, aber auch nicht gerade großes Unglück. In jeder Phase der Emigration kann die Anpassung versagen, die mögliche Folge ist dann die ganze Palette der Psychopathologie, entsprechend den frühkindlich erworbenen Prädispositionen. Im Grunde genommen ist das Bild auch nicht wesentlich verschieden von der Entwicklung einer durchschnittlichen Schweizer Hilfsarbeiterfamilie. Darüber hinaus können alle Menschen an einer der Lebensschwellen in eine Krise geraten und psychisch dekompensieren. Das wirklich Spezifische an einem Fremdarbeiterleben ist nur die Tatsache, dass keine der verschiedenen Lebensphasen wirklich intensiv im Hier und Jetzt gelebt werden kann. Das reale Leben bleibt immer unerfüllt und wird zum guten Teil durch die Idealisierung der Rückkehr in die Heimat ersetzt, die den Charakter einer überwertigen Idee annimmt. Die Idealisierung der Rückkehr hilft maßgebend, die realen Verhältnisse zu verleugnen. So führt die tiefe Unbefriedigtheit der Fremdarbeiterexistenz mit zunehmendem Alter zu einer Verschiebung der Heilserwartungen auf die Kinder.

■ Die Leiden der Zweiten Generation Die Kinder der ersten italienischen Ausländergeneration der Nachkriegszeit, die in den fünfziger und sechziger Jahren in die Schweiz emigriert ist, haben ihre Jugend meist hier erlebt, sind heute erwachsen und stehen ihrerseits im reproduktiven Alter zwischen 30 und 40. So ist es seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen, dass mich eine verzweifelte Mutter in der Praxis aufgesucht hat, weil sie keinen gefühlsmäßigen Zugang mehr zu ihrem Erstgeborenen finden konnte. Vom Wunsch nach schneller Kapitalakkumulation getrieben, hatten viele Arbeitsemigranten in Unkenntnis der möglichen psychischen Folgen die Kinder bei engen Verwandten in Italien zurückgelassen. Nachdem es ihnen in der Schweiz wirtschaftlich besser ging oder nachdem hier ein weiteres Kind geboren worden war und die Arbeit der Frau nicht mehr lohnte, wollten sie sie zurückholen, stießen bei den Kindern aber auf keine Gegenliebe. Im Ge-

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genteil: Die Jungen und Mädchen hatten ihre Liebe auf die Großmutter oder Tante verschoben (die in Wirklichkeit als Mütter funktioniert hatten) und wollten zudem ihren Freundeskreis und ihre engere Heimat nicht für ein ungewisses Schicksal im fernen Norden eintauschen, nur um mit ihren leiblichen Eltern – von denen sie sich entfremdet hatten – zusammengeführt zu werden. Man musste sie also kraft elterlicher Autorität zwingen, und damit war eine Beziehungskatastrophe programmiert. Sie kamen zwar widerwillig, akzeptierten auch die leiblichen Eltern als Respektpersonen, im besten Fall als wohlgesinnte ältere Freunde, doch die normale zärtliche und vertrauensvolle kindliche Zuneigung blieb aus und war durch nichts mehr zu erkaufen. Das einzigartige Liebesverhältnis der Kinder zu den Eltern, das ein Leben lang anhalten kann, entwickelt sich in den ersten Lebensjahren aufgrund tagtäglicher Fürsorge, ausgehend von einem Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit (das eriksonsche »Urvertrauen«). Nach dem Untergang des Ödipuskomplexes und dem Eintritt in die Latenz mit sechs bis sieben Jahren ist es dazu bereits und unwiderruflich zu spät. So konnte ich meinen verzweifelten Patienten und Patientinnen und ihren verunsicherten und traurig gestimmten Kindern auch nicht mit Psychotherapie helfen, denn die verfehlte Realität konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Ich musste mich darauf beschränken, ihnen nachträglich begreiflich zu machen, warum sich diese Gefühlskatastrophe in ihrem Leben ereignet hatte, sie dazu anzuhalten, das Unabänderliche – wie im echten Drama – möglichst ohne die Entwicklung von persönlichen Schuldgefühlen hinzunehmen und sie dabei durch meine Anteilnahme kathartisch zu stützen. Die Leiden der zweiten Generation, der Secondos, beginnen also durch traumatische Verunsicherung in der frühen Kindheit. Auch diejenigen, die in der Schweiz geboren sind, wurden oft eine Zeit lang nach Italien zu Verwandten gegeben und wieder zurückgeholt, je nach wirtschaftlicher Situation. So habe ich mehrmals gehört, dass ein erstgeborenes Kind nach den ersten Lebensmonaten zur Großmutter gebracht und nach der Geburt eines zweiten Kindes zwei bis drei Jahre später wieder zurückgenommen worden ist. Diese Brüche haben immer einen psychisch traumatisierenden Effekt auf den Säugling oder das Kleinkind, wobei das Ausmaß und

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die Spezifität des Schadens von der genauen Entwicklungsphase abhängt und somit nicht verallgemeinert werden darf. Bei sonst optimalen Verhältnissen konnte manchmal in der späteren Entwicklung bis zum Erwachsenenalter die durchgemachte Trennungsangst kompensiert werden, vielleicht unter Ausbildung einer noch erträglichen neurotischen (meist phobischen) Symptomatik. Wir wissen aber als Psychoanalytiker, dass Säuglinge und Kleinkinder grundsätzlich keine länger dauernde Trennung von der Mutter oder der Hauptpflegeperson ohne Schaden ertragen. Das englische Psychoanalytikerpaar Joyce und James Robertson hat Kleinkinder gefilmt, die während des Wochenbettes ihrer Mutter anlässlich einer zweiten Niederkunft in einer Krippe betreut wurden: Schon nach wenigen Tagen entwickelten sie eine anaklitische Depression3, sie wurden traurig und apathisch, mochten nicht mehr spielen und zogen sich in eine Ecke zurück. Wenn die Kinder aber zu Verwandten gegeben wurden, zu denen schon vorher eine Gefühlsbeziehung aufgebaut worden war, entwickelte sich die depressive Reaktion stark verzögert und fiel leichter aus. Aber auch ohne biographische Brüche, wenn die Kinder der ersten Italienergeneration in der Schweiz in stabilen Verhältnissen aufwachsen, sind sie im Vergleich mit gleichaltrigen Schweizerkindern auf eine besondere Weise benachteiligt. Sie besitzen im Immigrationsland keine »vollständige« Familie (Großmütter, Onkel, Nichten und Neffen), sondern haben außer Mutter und Vater nur wenige Bezugspersonen. Außerdem kennen ihre Eltern die Verhältnisse im Immigrationsland nur ungenügend und beherrschen die deutsche Sprache nicht (in der Schweiz müssten sie ja – um wirklich akzeptiert zu werden – sogar zwei Sprachen gelernt haben, Hochdeutsch für den Schriftverkehr und Schweizerdeutsch für den Kollegenkreis). Da die Secondos aber ab dem Kindergarten-Alter zweisprachig aufwachsen, sind sie es, die den Eltern mit ihren besseren Deutschkenntnissen helfen müssen – eine Aufgabe, die sie hoffnungslos überfordert. Neben dieser Überforderung, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspringt, gibt es aber eine noch nachhaltigere, hinterhältige Überforderungssituation: die 3 Das ist die spezifische Depressionsform von älteren Säuglingen und Kleinkindern mit einer noch nicht entwickelten Ich-Organisation.

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heimlichen Erwartungen der Eltern. Diese – real unterprivilegiert – setzen all ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in ihre Kinder. Diese sollen es dereinst besser haben, das heißt möglichst viel lernen und sozial aufsteigen. Ich kenne einige Fremdarbeiterkinder, die diesen Aufstiegswunsch der Eltern erfüllt haben: Sie sind Bankangestellte geworden oder haben sogar an der Universität Ökonomie oder Medizin studiert. Dabei hat sie aber gerade der soziale Aufstieg und die damit verbundene bessere Integration in die schweizerische Gesellschaft und Kultur noch mehr von ihren Eltern entfremdet. Diese erkennen es schmerzlich und versuchen oft verzweifelt, ihre pubertierenden Kinder mit übertriebener Verwöhnung oder umgekehrt mit inadäquater autoritärer Härte an sich zu binden, erreichen damit aber nur das Gegenteil. Viele Adoleszentenkrisen von Jugendlichen der zweiten Generation sind auf diesem Hintergrund zu verstehen. Den Secondos ist ein sozial bedingtes Minderwertigkeitsgefühl inhärent, das sich aus dem Auseinanderfallen von Ich-Ideal und real möglicher Kompetenz oder Dominanz erklärt. Das Ich-Ideal wird von den ehrgeizigen Wünschen der Eltern gespeist und aufgebläht, ohne dass diese in der Lage wären, ihren Kindern das Wissen und die Fertigkeiten zu vermitteln, die sie zur Erreichung der ihnen delegierten Ziele bräuchten. Da das Ich-Ideal als psychische Struktur eine unbewusste Wurzel hat, ist die Diskrepanz zum Real-Ich in Wirklichkeit in einem ganzen Leben nicht aufzuholen. So sind depressive Störungen und Somatisierungen vorprogrammiert, die sozial verursachte narzisstische Störung – die angesichts ihres massenhaften Vorkommens ähnlich wie die schon erwähnte Ich-Spaltung der ersten Generation als normales Phänomen anzusehen ist – kumuliert sich mit den Risiken infolge der biographischen Brüche und den daraus resultierenden Angststörungen. Die Frage ist allerdings, wie sie im Einzelfall bearbeitet wird. Sie kann ebenso durch eine Begabung kompensiert werden, wie durch grandiose Verleugnung Anlass zu arrogantem oder anderem auffälligen Verhalten geben. Hierzu noch zwei kurze Fallgeschichten.

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■ B. – lebenslänglich unerfüllt Frau B. ist die 37-jährige Freundin eines chronisch depressiven, rückenkranken italienischen Berufsmusikers, der aus Mangel an Erfolg das Musizieren aufgegeben hatte und in die Schweiz immigriert war, wo er als Hilfsarbeiter besser verdiente. Es handelt sich um eine schlanke, bildhübsche Norditalienerin, die gekonnt auftritt und sich fließend in zwei Sprachen unterhält. Sie arbeitet erfolgreich als Parfümerieverkäuferin und hat gelernt, immer eine perfekte Fassade aufrechtzuerhalten. Dahinter sieht es jedoch kritisch aus. Vor acht Jahren ging sie ihren derzeitigen Mann nach Italien besuchen, der damals noch mit einer anderen Frau verheiratet war. Sie hatte schon vor der Reise unbestimmte Angstgefühle, wurde im Hotel aber, als sie auf ihn wartete, von einer regelrechten Panik mit Herzrasen und kaltem Schweiß überwältigt, sodass sie den Notfallarzt in Anspruch nehmen musste. Mit einem Tranquilizer erholte sie sich. Als sie schon einige Zeit zurück in der Schweiz war, wurde sie in dem Laden, wo sie als Geschäftsführerin wirkte, plötzlich wieder von einem Drehschwindel mit Falltendenz heimgesucht, sodass sie sich am Boden niederkauern musste. Sie fühlte sich bloßgestellt und schämte sich fürchterlich. Sie entwickelte fortan eine Schamangst, sie fürchtete, eine Schwäche oder gar eine Ohnmacht dieser Art könnte sich erneut in der Öffentlichkeit ereignen. Sie musste die gute Stelle aufgeben und suchte einen Arzt auf, der ihr ein antidepressives Medikament verschrieb. Dieses half aber nicht, und sie nahm aufgrund der Nebenwirkungen in zwei bis drei Jahren 15 Kilo an Gewicht zu. Schließlich suchte sie einen zweiten Arzt auf, der ein anderes Mittel verschrieb. Dieses Medikament war wirksamer – und sie nimmt es seit mehreren Jahren regelmäßig ein –, sie kann es aber nicht mehr absetzen. Als B. einmal auf Grund eines starken Kinderwunsches nicht verhütet hatte und schwanger geworden war, setzte sie das Medikament versuchsweise ab, um das Kind nicht zu schädigen. Nach einigen Tagen begann sie sich schlecht zu fühlen, litt an Schwindelgefühlen und starker Übelkeit, schließlich war »der Magen blockiert«. Auf der Notfallstation im Spital riet man ihr dazu, das Antidepressivum wieder zu nehmen, doch sie weigerte sich zunächst noch. Erst als die Magen-

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symptome unerträglich wurden, entschloss sie sich verzweifelt dazu, die Schwangerschaft zu unterbrechen und das Mittel wieder einzunehmen. Sie erzählt mir, dass ihr Problem mit dem Magen seit der Kindheit bestünde, sie habe schon im Kindergarten Angst gehabt. Ihre Eltern hätten sie stets dazu angehalten, ordentlich zu sein und sich in der Öffentlichkeit ja keine Blöße zu geben. Die Leute durften nicht über sie reden. So habe sie immer irgendwie befürchtet, es könnte ihr etwas passieren. Sie erinnere sich gut daran, wie schlimm es gewesen sei, wenn sie für ihre Eltern mit irgendeiner Amtsstelle auf Deutsch telefonieren musste. Da habe sich der Magen verkrampft, und es sei immer schlimmer geworden. Wenn sie nichts dagegen nehme, sei es wie ein Knoten, wie ein Stein. Erst in letzter Zeit, dank der psychiatrischen Unterstützung, habe sie gelernt, sich ein wenig besser zu behaupten. Zurzeit sei ihre um sieben Jahre jüngere Schwester im fünften Monat schwanger – sie vergehe fast vor Neid.

■ C. – militärdienstuntauglich und melancholisch C. gehört nicht zum Arbeitermilieu (was übrigens – neben meinem eigenen Beispiel – als weiterer Beleg dafür gelten mag, dass die in dieser Arbeit diskutierten Mechanismen nicht klassenspezifisch sind, sondern mehr oder weniger für alle Angehörigen der ausländischen Wohnbevölkerung gelten). Bei C. verzahnen sich pathogene Familieneinflüsse und das Schicksal des Angehörigen der zweiten Generation auf eine eindrückliche Art und Weise. Die Mutter – eine süditalienische Künstlerin – ist ihrem Mann, einem Akademiker, in die Schweiz gefolgt. Sie bereut aber heute ihren Schritt, denn sie hat sich in der Fremde trotz äußerlichem Erfolg nie wohl gefühlt. Seit auch die Beziehung mit dem Mann schwierig geworden ist, ist sie in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung wegen depressiver Zustände und Ängste. Ihr Sohn ist gerade 20 Jahre alt geworden, als er mich aufsucht, weil er sich vor der Rekrutenschule4 fürchtet. Er steht kurz vor der Maturitätsprüfung (er musste eine Klasse wiederholen). Er meint,

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er könnte in der anonymen Menschenmasse im Militär seine Identität verlieren, einer Gehirnwäsche unterworfen werden. Ich notierte in der Krankengeschichte »Schmaler Wurf mit großer Brille – wirkt depressiv«. Der junge Mann ist in der Tat untergewichtig, er wirkt aber auch aufgrund seiner Introvertiertheit dünner, als er ist. Die frühesten Erinnerungen weisen auf eine Früh-Traumatisierung hin: Ein Vogel verirrt sich in die Wohnung und zerschlägt dabei Geschirr; beim Fingernägelschneiden schneidet sich der Knabe in den Finger. Es blutet – später wird er eine Hämatophobie entwickeln (er kann kein Blut sehen). In der Krippe fühlt er sich sehr schlecht, er spricht noch überhaupt kein Deutsch und kann keinen Anschluss finden. Nach der Geburt der jüngeren Schwester reagiert er sehr eifersüchtig und reißt sich während längerer Zeit die Haare aus (Trichillomanie), in der Schule gehört er zu den körperlich Schwächeren und wird von den anderen Kindern geplagt. Am meisten leidet er aber unter den Hänseleien der Klasse, die ihn als »Tschingg« verspottet. Er kann sich nicht wehren: Körperlich ist er unterlegen und sprachlich zu wenig kompetent. C. hat nie einen richtigen Freund. Die Prüfung fürs Gymnasium besteht er – trotz guter Intelligenz – zunächst nicht und muss noch ein Jahr Sekundarschule absolvieren. Als es dann so weit ist, kommen ihm die Kameraden wie »Kindsköpfe« vor. Er flüchtet in Frauengeschichten und hat schon mit 14 eine feste Freundin; als die Liebesbeziehungen auseinander gehen, wird er manifest depressiv, schwänzt die Schule, läuft ziellos in der Stadt herum. Aber auch abgesehen von der depressiven Verstimmung weiß er nicht, was er mit sich anfangen soll. Vieles interessiert ihn, von nichts ist er überzeugt. Er fühlt sich immer mehr als Außenseiter. Ständig schwankt er zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und kompensatorischen Größenideen. Die ständige Spannung der Emigrantenkinder zwischen dem 4 In der Schweiz sind alle jungen Männer wehrpflichtig und müssen eine ca. halbjährige Rekrutenschule absolvieren und danach jährliche bis zweijährliche Wiederholungskurse von einigen Wochen. Sie können auf dem so genannten blauen Weg wegen körperlichen oder psychischen Krankheiten als militärdienstuntauglich eingestuft werden, worauf sie dauernd vom Dienst befreit sind, dafür aber eine besondere Steuer zu zahlen haben.

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Wunsch, dazuzugehören, und dem Bewusstsein, etwas ganz Besonderes zu sein, erfordert viel Kraft und ist anderseits ein Ansporn zu kreativen Leistungen aller Art. Die Eltern – die erste Generation – haben ihnen ein Phantasiebild von Heimat vermittelt, real aber keine Heimat bieten können (ich verstehe Heimat als einen Raum, in welchem man sich fraglos zugehörig fühlt), denn zu stark, ja übergewichtig ist in den Köpfen und Herzen der Emigranten die Erinnerung an ihre Wurzeln. So werden manche Secondos im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter die Reise in die Heimat der Eltern antreten auf der vergeblichen Suche nach der vergangenen Zeit. Was sie finden, ist im besten Fall schöne, unverbrauchte Natur und ein anderes, wärmeres mitmenschliches Klima (abgesehen vom feinen Essen); aber was sie in Wirklichkeit suchen – ob sie es wissen oder nicht –, können sie niemals finden, denn die ihnen von den Eltern vermittelte Idealisierung der realen Verhältnisse war nur ein virtueller Raum. Der 1952 in Zürich geborene und hier aufgewachsene Schriftsteller und Koch Carlo Bernasconi hat über seine ganz persönliche Suche nach den Wurzeln der Familie einen Roman geschrieben, »Der Italiener« (1987), in welchem er die Reise nach Venetien, ins Land seiner Ahnen, beschreibt. Zuletzt sitzt er allein »… auf der Terrasse des Zimmers. Der Kopf leert sich: Menschen, Bäume, Strassen und Tränen verlassen ihn. Die Sonne geht unter. Als hätte ich etwas liegengelassen. In Lutrano, Oderzo, Col San Martino. Wieder taucht die Sehnsucht auf, gleich dorthin zurückzukehren. Sie wird mich begleiten, wohin ich gehe« (S. 151). Sehnsucht und Nostalgie bleiben ein Leben lang bestehen. Erst die dritte Generation wird darüber hinwegkommen. So habe ich die leichtere depressive Episode einer jungen, schönen Italienerin verstanden, der eigentlich nichts fehlte. Aus einer in einfachen Verhältnissen lebenden norditalienischen Familie stammend, war sie in der Schweiz geboren worden, später mit der Mutter und den älteren Brüdern wieder nach Italien gekommen, während der Vater in Zürich weiterarbeitete. Es war die klassische Trennung »all’ italiana«; die Familie besuchte den

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Vater in den Sommerferien, und er kam zu Weihnachten auf Besuch. In ihrer Spätadoleszenz, als die älteren Brüder schon ihrer Wege gingen, entschloss sich die Mutter dazu, es wieder mit dem Vater zu versuchen. Die Tochter zögerte keinen Moment, unterbrach sogar ihre begonnene Ausbildung und folgte ihr begeistert. Die Familienzusammenführung hat sich für sie bewährt (während einer der Brüder, der zurückblieb und in die Drogenszene geriet, sich umgebracht hat), und sie erlebte mehrere glückliche Jahre. Sie erlernte einen proletarischen Beruf, der sie mit vielen Menschen in Kontakt brachte und begann, die Stadt Zürich so richtig zu lieben. Sie hatte immer wieder kürzere Liebesabenteuer, was sie genoss – bis sie sich in ihren späteren Mann verliebte, einen »richtigen Italiener«, einen höheren Bankangestellten, der in einer hiesigen Großbank ein Fremdjahr absolvierte. Er entschloss sich ihretwegen, in Zürich zu bleiben. Sie heirateten, hatten ein Kind und zogen in eine geräumigere und schönere Wohnung in einem bürgerlichen Stadtteil um. Nach einigen Jahren erwarben sie sogar eine elegante moderne Wohnung in der Nähe. Meine Patientin liebte ihren Mann und ihren Sohn sehr, auch wenn sie sich manchmal nach einem Seitensprung sehnte. Sie führte ein großes Haus, genoss die kulturellen Einrichtungen der Stadt und hatte bald auch eine interessante Teilzeitbeschäftigung. Also rundum ideale Verhältnisse. Warum war sie depressiv geworden? Es war paradoxerweise das Gefühl von Heimatlosigkeit – die schönere, größere Wohnung war ihr unvertraut und die bürgerliche Lebensweise fremd, auch wenn sie vieles daran genießen konnte. Der Klassensprung hatte die früheren, kindlichen Gefühle, die sie als Erwachsene verdrängt hatte, wiederbelebt. Und die Eltern waren bald nach ihrer Verlobung in die Heimat zurückgekehrt. Schon nach wenigen Psychotherapiestunden hat sich die manifeste Depressivität aufgehellt, es ist aber auch der Haarriss im Selbstwertgefühl sichtbar geworden – wie in einer schönen chinesischen Vase, die einmal unsanft gefallen ist. Natürlich kann auch das Gefühl von Heimatlosigkeit verleugnet und überkompensiert werden. Im letzteren Fall haben wir es mit jenen Eingebürgerten zu tun, die manchmal noch schlimmer als die einheimischen Konservativen gegen die aus ferneren Län-

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dern und Kulturen stammenden neuen Immigrantengenerationen vom Leder ziehen.

■ Das Fremde verstehen Abgesehen von der Sprache, mit deren Hilfe wir Fragen stellen können (notfalls unter Zuhilfenahme eines Übersetzers), und dem Wissen um die Kultur und die Geschichte der Fremden (welches wir uns aneignen sollten), haben wir drei Techniken zur Verfügung, die uns helfen können, das Fremde besser zu verstehen. Ich meine die forcierte Identifikation, das szenische Verstehen und die Gegenübertragungsanalyse.

■ Zur forcierten Identifikation Infolge der kulturellen und klassenspezifischen Verschiedenheit des Fremden verläuft der Identifikationsprozess – ein im Übrigen ubiquitär vorkommender früher Abwehrmechanismus gegen die Angst vor der Aggression des anderen – erschwert. Ich habe es mir deswegen angewöhnt, mich prinzipiell und forciert probeweise zu identifizieren, zu versuchen, für einen Moment die eigene Identität zur Seite zu stellen und in die Haut meines Gegenübers zu schlüpfen, ungeachtet allenfalls auftretender unangenehmer Gefühle des Ärgers, Ekels et cetera. Bei diesem Vorgehen fällt es mir oft wie Schuppen von den Augen, und es wird mir klar, warum der andere gerade so reagieren muss, ja nicht anders kann. Oder dann fällt mir wenigstens die richtige Frage ein, die weiterführt. Ein Beispiel: S., ein Fremdarbeiter aus dem Kosovo, 28 Jahre alt, wird vom Hausarzt überwiesen wegen unklarer, anfallsweise auftretender Absenzen, weswegen er einmal sogar fast unter ein Auto geraten ist. Er ist deprimiert und seit mehreren Wochen als Bauarbeiter arbeitsunfähig. Eine Epilepsie ist neurologisch ausgeschlossen worden, sodass der überweisende Arzt an ein psychotisches Geschehen gedacht und ein Neuroleptikum verschrieben hat. Infolge Arbeitsüberlastung kann ich den Patienten nicht selber sehen und bitte

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zunächst meinen psychologischen Mitarbeiter um eine erste Abklärung. Dieser meldet sich bald, er verstehe nicht recht, was los sei, vermutlich handle es sich um eine Psychose oder gar um eine organische Störung. Nun sehe ich S. erstmals, ein einfacher sympathischer Arbeiter, der nur gebrochen deutsch spricht, etwas merkwürdig Steifes an sich hat und einfach nicht erklären kann, was ihm fehlt, aber doch offensichtlich appellativ Hilfe sucht. Er meint, er sei immer gesund und stark gewesen, er wisse nicht, was los sei. Beiläufig erwähnt er, dass er vor einem Jahr geheiratet hat und seine Frau schwanger ist. Ich versetze mich an seine Stelle und realisiere, was es bedeutet, in einer traditionellen Agrarkultur zu heiraten: Es ist doch das Größte und Wichtigste im Leben. Nun ist seine Frau sogar schwanger geworden, der Mann kann stolz auf seine Potenz sein – zugleich macht ihm aber die Schwangerschaft Angst, er hat ja keine Ahnung von Anatomie und Physiologie. Er sorgt sich also, ob alles gut geht, er fürchtet, es könnte etwas passieren und er wäre nicht zur Stelle! Zugleich kann er aber die Arbeit hier nicht verlassen, das Geld wird von der Familie benötigt, jetzt da er Kinder bekommen wird, umso mehr. Er wird traurig verstimmt und seine Aufmerksamkeit lässt nach, da er immer wieder in Gedanken zur schwangeren Frau ins ferne Kosovo abschweift. Meine Diagnose ist klar: depressive Entwicklung, iatrogener Parkinsonismus5. Ich setze das Neuroleptikum ab, verschreibe statt dessen ein antidepressives Mittel und vor allem einen Urlaub zu Hause. Stützende Gespräche. Nach der gelungenen Entbindung und der Rückkehr in die Schweiz habe ich einen verwandelten, strahlenden Menschen vor mir … Man mag einwenden, dass die Identifikation als unbewusster Mechanismus nicht »forciert« werden kann. Nach meiner Erfahrung geht es aber doch. Ich erkläre es mir in Analogie zum Traum. Man kann sich vor dem Einschlafen noch mit ungelösten Problemen beschäftigen und die Lösung an den Schlaf oder den Traum delegieren. Häufig wird einem am nächsten Morgen eine Lösung 5 Alle Neuroleptika (die sog. major Tranquilizer) können als häufige Nebenwirkung einen Parkinsonismus nach sich ziehen, der sich in einer leichten Verkrampfung und Rigidität der Muskulatur äußert.

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einfallen. Möglicherweise kommt die verstärkte Identifikation auch durch einen regressiven Prozess zustande, indem ich mich bewusst zurücknehme und in leichte Trance versetze, was wohl der freudschen »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« entspricht.

■ Zum szenischen Verstehen Dieser ursprünglich von Alfred Lorenzer geprägte Begriff (Lorenzer 1970) wurde von Argelander (1970) weiterentwickelt. Dieser spricht sogar von einer »szenischen Funktion des Ichs«. Die Vorstellung dabei ist, dass sich der gegenwärtig aktualisierte unbewusste Komplex in der Physiognomie, Mimik und Haltung, in der Art der Begegnung und der Stimme ausdrückt, was vom Analytiker ebenso spontan verstanden werden kann, wie es ihm vorgeführt wird. Das Unbewusste des Patienten spricht gewissermaßen direkt zum Unbewussten des Arztes. Ähnlich wie bei der forcierten Identifikation kann auch das szenische Verstehen geübt werden, es geht diesmal um die Aktivierung des eigenen »hysterischen« Potenzials. Dazu ein weiteres Beispiel. Es handelt sich wieder um einen Fremdarbeiter, ein Kollege hat mich aber darauf aufmerksam gemacht, dass es sich ebenso gut um einen einheimischen Arbeiter handeln könnte. Das ist gewiss richtig und entspricht genau meiner Hypothese: Wenn es dem Therapeuten (und darüber hinaus jedem, der mit Fremden zu tun hat) durch eine besondere kognitive und empathische Anstrengung gelingt, von den fremdenspezifischen Aspekten abzusehen, die sich aus der vordem unbekannt gewesenen Kultur und Geschichte des Fremden ergeben, sind sich die Menschen sehr ähnlich. Trotzdem gilt, dass besonders schmutzige, anstrengende und gesundheitsschädliche Tätigkeiten im Immigrationsland vorwiegend von Fremdarbeitern verrichtet werden. Diese haben das eingeborene Proletariat gewissermaßen unterschichtet. R. war mir wegen einer merkwürdigen Symptomkonstellation von einem Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten aus einer Nachbarstadt überwiesen worden. Er war Gießereiarbeiter in einem Großbetrieb gewesen, hatte einen chronischen Husten bekommen, der sich therapierefraktär verhielt und wofür kein organisches Substrat ge-

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funden werden konnte. Zusätzlich litt der Patient an starken Kreuzschmerzen, sodass er leicht vornüber gebeugt gehen musste. R. war ein schmächtiger Sarde, Mitte 30, seit langem schon in der Schweiz. Seine Bitten um einen Arbeitsplatzwechsel waren in dem Betrieb stets auf taube Ohren gestoßen. Ich ließ mir die Lebensgeschichte erzählen, fand aber keinerlei Anhaltspunkte, die das pathologische Geschehen hätten erklären können; und doch war die Botschaft, die er in seiner geknickten Haltung und mit dem ständigen Husten vermittelte, völlig klar: »Ich kann nicht mehr!« So bat ich ihn, mir genau zu erklären, wie er arbeitete. Er musste die Gussformen vorbereiten, indem er in das jeweilige Gefäß ein ätzendes Sand-Öl-Gemisch einfüllte und dann mit einem schweren Metallstößel zurechtdrückte. Ich schaute den kleinen Mann noch einmal an, die Beschwerden seines Arbeitsplatzes hatten sich in seinen Körper eingraviert: Die ätzenden Dämpfe reizten seine Schleimhäute und die Arbeit mit dem Stößel hatte die Lendenpartie überfordert. Er musste einen anderen Arbeitsplatz bekommen oder dann eine Rente, anders war diese Somatisierung aufgrund einer Arbeitsneurose – wie ich diese spezielle Neurosenform nenne, da mir der Begriff der »Begehrungsneurose« allzu diskriminierend erscheint – nicht zu heilen.

■ Zur Gegenübertragungsanalyse Die Analyse unserer in der Interviewsituation auftauchenden Gefühle ist für den Analytiker zweifellos die Via Regia (wie früher allein der Traum) zum Verständnis dessen, was sich im Patienten tut, nur muss unterschieden werden zwischen unserer eigenen Übertragungsneigung auf einen ganz bestimmten Menschen und auf der anderen Seite unseren Reaktionen auf seine besonderen Übertragungsangebote. Dies bedeutet, dass jeder von uns entsprechend dem eigenen Neurosenmuster in gewissen Grenzen verschieden auf ein und denselben Patienten reagiert. Jeder Psychotherapeut kann aber im Laufe der Zeit (am besten in einer persönlichen Analyse, auf alle Fälle aber in einer lebenslangen Selbstanalyse oder Selbstbeobachtung und -Kontrolle) seine ganz spezifischen Reaktionsmuster kennen lernen und dann zur De-

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chiffrierung der emotionalen Lage der Patienten anwenden. Dazu eine letzte Vignette. G. wurde von seiner Frau angemeldet. Er war ein großer, starker, ruhiger Metallarbeiter aus Kroatien (geboren 1939), schon seit über zwei Jahrzehnten in der Schweiz, hatte sich hier nie im Geringsten etwas zuschulden kommen lassen; er war das, was man eine »ehrliche Haut« nennt. Zu seiner leichten Introvertiertheit passten seine psychologischen Interessen ganz gut. Er hatte einen einzigen Sohn, welcher an der Universität Zürich studierte. Folgendes war geschehen: G. hatte im Auftrag seiner Ehefrau Fleisch eingekauft. Er hatte diese Besorgung an der Bahnhofstraße erledigt, weil er dort noch anderes zu tun hatte und auch gern die Schaufenster betrachtete. Wie er aus der Metzgerei hinausgeht, eilt ihm eine Verkäuferin nach und fragt, ob er denn bezahlt habe. Unsere ehrliche Haut bejaht mit dem allerbesten Gewissen, denn er spürt das Papierchen in der rechten Hand, von dem er annimmt, es sei der Kassenzettel. Er geht mit der Verkäuferin zurück, um das Missverständnis aufzuklären; er realisiert aber plötzlich, dass der Zettel in der Hand gar nicht der Kassenzettel ist, sondern die Einkaufsliste, die er zu Hause erstellt hat. Von jäher Panik ergriffen, rennt nun G. davon und landet alsbald in den Armen eines Polizisten. Er wird daraufhin auf den Posten mitgenommen, als Dieb traktiert, einer Leibesvisitation unterzogen. Man will ihm nicht glauben, dass es ein unglückliches Versehen war, doch lässt man ihn laufen, nachdem man festgestellt hat, dass er ja genügend Geld bei sich führt. Einige Zeit später kommt G. wieder durch die Bahnhofstraße an der Metzgerei vorbei – und nun verspürt er den unstillbaren Drang, jetzt und sofort zu onanieren. Er erschrickt, eilt schließlich in eine öffentliche Toilette. In der Folge entwickelt sich ein Zwang – der Mann muss alle paar Wochen vor die Metzgerei gehen und dort onanieren. Er besorgt sich dazu einen weiten Regenmantel, damit man die obszöne Geste nicht sehen kann, empfindet die Sache im Übrigen als völlig Ich-fremd, schämt sich derart, dass er mit niemandem, nicht einmal mit der Ehefrau, darüber spricht. Eines Tages aber war an der Bahnhofstraße einer Dame die Handtasche entrissen worden. Sie hatte ausgesagt, es sei ein großer Mann, vermutlich ein Ausländer, gewesen, mit einem weiten Re-

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genmantel. Wie G. sich von der Metzgerei wieder entfernt, wird er festgenommen. Auf dem Posten wiederholt sich die erniedrigende Prozedur, nur wird diesmal der Regenmantel konfisziert. Beim wissenschaftlichen Erkennungsdienst werden die Spermaflecken entdeckt, und jetzt wird auch die Ehefrau einvernommen. G. kann seine Geschichte nicht mehr geheim halten, er schämt sich fürchterlich, beginnt sogar eine Selbstanalyse, findet aber keinen Grund für sein Verhalten, kann sich selber nicht mehr verstehen. Zudem fürchtet er sehr ein Verfahren wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Ich lasse mir sein Leben erzählen, forsche nach den Kindheitserinnerungen, mache auch einige Deutungsversuche, die aber ins Leere gehen. In der dritten Stunde tappe ich ebenso im Dunkeln wie der Patient, werde aber zunehmend ärgerlich. Meine gut gemeinte, fürsorgliche Haltung führt nicht weiter, ich beginne zu denken, dass er mich zum Narren hält … und außerdem, dass es ihm recht geschieht mit seiner verdammten Ehrlichkeit und seiner unterwürfigen, immer einsichtsvollen Haltung! – Wahrhaftig, eine Landsknechtnatur! Ich spüre meine Wut und beginne zu verstehen: Die obszöne Gebärde vor dem Metzgerladen ist Ausdruck verdrängter Wut; aber warum wird die Wut auf diese, doch sehr seltsame Art ausgedrückt? Es ist etwas, worin ich mich nicht einfühlen kann. Da fällt mir die Erzählung einer kroatischen Freundin und Linguistin ein, Jasmina Sakic, die mir eine eigenwillige Art des Fluchens in ihrem Volk erklärt hatte. Wenn man sehr wütend ist, sagt man in Kroatien zum Beispiel: »Ich fick deine Tante!« oder »Fick deinen Tisch!« oder »Ich fick dein Haus!« – wir waren uns im Gespräch einig gewesen, dass diese Ausdrucksweise Zeugnis einer gesunden, kraftvollen Triebhaftigkeit sei. Ich bitte jetzt G., mir zu sagen, wie man bei ihm zu Hause flucht. Nach einigem Zögern – das Ganze ist ihm sehr peinlich – kann er meiner Aufforderung folgen und bestätigt den Sachverhalt – und ich kann ihm die Zwangshandlung als symbolischen Akt, als unbewusst inszenierten Fluch, als Ausdruck ohnmächtiger Wut deuten. Er staunt, zögert noch, ich wiederhole die Deutung, und er begreift es endlich mit großer Erleichterung! Wir haben in den nachfolgenden zwei Stunden die Aggressionsproblematik durchgearbeitet. G. sind verschiedene frühere Demütigungen eingefal-

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len, zum Beispiel eine ungerechtfertigte Buße, gegen die er sich nicht wehren konnte, weil er bei der Polizei das nötige Gehör nicht gefunden hatte, oder eine Entlassung ausgerechnet wenige Monate, bevor er die Niederlassungsbewilligung erhalten sollte. Die Therapie ist nach fünf Stunden zu Ende, das Symptom dauerhaft beseitigt (es ist mir natürlich bewusst, dass weder die Aggressionsproblematik mit der Ehefrau noch die narzisstische Charakterstörung behandelt werden konnten). Zusammenfassend bin ich überzeugt, dass es unter Berücksichtigung der Kulturtheorie und im Wissen um die besondere Geschichte der Fremdarbeiter durch forcierte Identifikation, szenisches Verstehen und Gegenübertragungsanalyse gelingen kann, Fremdarbeiter besser zu verstehen und dadurch auch besser zu behandeln. Ich ärgere mich heute zum Beispiel längst nicht mehr, wenn eine vitale 50-jährige Neapolitanerin mit einer floriden Agoraphobie (Platzangst), deren Ursache in einem verdrängten Ehekonflikt liegt, auf die Behandlung verzichtet, die ich ihr dringend angeraten habe; sie muss ja noch soviel putzen, bis sie ihr Eigenheim finanziert hat – und soll sie sich im Übrigen scheiden lassen oder einen heimlichen Geliebten nehmen? Das ist kulturell aus Rücksicht auf die Kinder und die ganze Familie in ihrem Alter nicht mehr drin! Ich benutze dagegen die knappe Zeit, die noch zur Verfügung steht, zur Aufklärung, indem ich ihre Ängste als Frau vor eigener sexueller Aktivität in der Ehe anspreche und entlasse sie freundlich mit der Versicherung, sie könne jederzeit wieder anrufen. Ich verzichte bei Arbeitsneurosen prinzipiell auf aufdeckende Psychotherapie und beschränke meine Intervention auf reine Stützung, inklusive die Unterstützung beim meist unvermeidbaren Prozess mit der Versicherungsgesellschaft, um so wenigstens die iatrogene Überlagerung und Verschlimmerung der Neurose zu vermeiden. Und ich wundere mich auch nicht mehr, wenn ein Mann mit langjähriger rheumatischer Krankengeschichte, die eine sogar von der Züricher Poliklinik anerkannte Teilarbeitsunfähigkeit zur Folge hatte, nach der Lösung eines schweren Beziehungskonflikts und der Rückkehr in die Heimat plötzlich wieder ganz gesund ist. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch aus dem Kreis der

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Fremdarbeiter immer wieder Menschen, mit denen eine intensive, langfristige analytische Therapie möglich und sehr lohnend ist. Nur muss ich auch da als Analytiker stets ihre besondere Realität im Hinterkopf behalten, wenn ich zu korrekten Deutungen gelangen will.

■ Von der Fremdenangst zum Fremdenhass Eines unserer wichtigsten zeitgenössischen Probleme im Zusammenhang mit dem Fremden – im doppelten Wortsinn – ist die Fremdenfeindlichkeit. Sie ist in der Schweiz (und in Europa) kein neues Phänomen, man erinnere sich zum Beispiel an die zwei Initiativen gegen die so genannte »Überfremdung von Volk und Heimat« in den sechziger und siebziger Jahren. Damals hieß der Vordenker und Einpeitscher noch James Schwarzenbach und nicht Christoph Blocher, und fast die Hälfte des schweizerischen Stimmvolks folgte ihm gegen die geschlossene Phalanx der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für eine erhebliche Limitierung der Einwanderung. Meiner Meinung nach ist es für das Verständnis der Xenophobie (des Fremdenhasses) wichtig, zunächst zwischen rationalen und irrationalen Faktoren zu unterscheiden. Auf der einen Seite führt eine große Zahl ausländischer Arbeiter zu einer Konkurrenzierung der einheimischen und zu einer Verzerrung des Arbeitsmarktes. Die Löhne werden gedrückt, die Arbeitszeiten verlängert und die Gewerkschaften politisch geschwächt (jedenfalls in der Anfangsphase). Auf der anderen Seite werden die Aufstiegschancen für die Schweizer verbessert, doch können davon nur die jüngeren und tüchtigeren profitieren. Der Konkurrenzdruck für die Arbeiter-Unterschicht ist aber auch auf anderen sozialen Sektoren spürbar: auf dem Wohnungsmarkt und beim öffentlichen Verkehr, schließlich im Freizeitbereich und ganz besonders auf dem Beziehungs- und Heiratsmarkt. Ich denke, dass all diese realen Probleme zu einer Verunsicherung der direkt betroffenen Schichten einheimischer Arbeiter und Angestellten führt, die ihrerseits zu einer Neubelebung der frühkindlichen Fremdenangst Anlass gibt. Die Verunsicherung – das Ausmaß der

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Achtmonatsangst nach René Spitz hängt vom Grad der Zufriedenheit des Säuglings ab – stellt gewissermaßen die Weiche für eine phobische Entwicklung. Die Realangst kann in der für den Einzelnen nicht mehr überschaubaren gesellschaftlichen Wirklichkeit neurotisch überhöht werden und dann das vernünftige Denken schwächen oder ganz außer Kraft setzen. Wenn es dann noch wirtschaftlich kriselt und die Arbeitslosigkeit steigt, nimmt die Verunsicherung massenhafte Ausmaße an. Das ist ein günstiger Nährboden für Populisten und Volksverführer aller Art, denn das verunsicherte Individuum sucht verzweifelt nach Halt und Führung. Es regrediert wieder auf kindliche Verhaltensweisen und wird vermehrt suggestibel. Man kann jetzt den Leuten einreden, dass alles Übel von den Fremden kommt, die somit zu Sündenböcken gestempelt werden. Fast alle Frustrationsaggression über ungerechte Verhältnisse im Land kann auf diese Art politisch bequem gegen die Ausländer kanalisiert werden. Statt gegen den wahren Nutznießer der Profitmaximierung, den unbekannten und unsichtbaren »Shareholder«, richtet sich die Wut gegen den ausländischen Nachbar, mit welchem man täglich konfrontiert ist. Das Problem bei diesem Verschiebungsmechanismus ist allerdings, dass er – einmal gebahnt – recht hartnäckig funktioniert, da die Verschiebung auf den Sündenbock psychische Energie spart: Es ist in der Tat einfacher, gegen weitgehend rechtlose Mitbürger zu wüten, als gegen Vorgesetzte und Arbeitgeber zusammenzustehen. Gewiss sind die Verhältnisse im Einzelnen komplexer, nicht jeder Einheimische regrediert automatisch, und die Einwanderer sind auch keine Unschuldslämmer. Es gibt unter ihnen – wie überall – Kriminelle, Diebesbanden und mafiös organisierten Drogenschmuggel, es gibt auch ab und zu den berüchtigten »Sozialschmarotzer«. Viele sind ohne Erlaubnis eingewandert und zur Schwarzarbeit gezwungen oder gelangen über das Sexgewerbe ins Land und müssen mit allen Mitteln versuchen, einen Schweizer oder eine Schweizerin zu heiraten. Manche einheimische Schmarotzer lassen sich eine »Papierli-Heirat« fürstlich bezahlen (dem Vernehmen nach bewegt sich der Marktwert einer solchen Dienstleistung an die 30.000 SFr oder 20.000 Euro). Obschon all diese Phänomene gesamtgesellschaftlich betrachtet eher als marginal zu verorten sind, dienen sie der Propaganda von rechts als glaubhafte

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Argumente. Und immer mehr Einheimische machen sich die Thesen der Neuen Rechten zu Eigen. In den letzten 25 Jahren konnte man dieser Entwicklung wie in einem Ionesco-Stück (»Die Nashörner«, 2000) zusehen. Die Fremdenfeindlichkeit wurde zwar von den staatstragenden Institutionen stets offiziell abgelehnt und gebrandmarkt, inoffiziell wurde sie aber gesellschaftsfähig gemacht und hat immer mehr auch auf den Kern des Staates selbst, Regierung und Parlament übergegriffen. Man könnte von einer schwelenden Kernfäulnis der Demokratie sprechen. Als in Italien 1994 die erste Rechtsregierung unter Staatschef Silvio Berlusconi an die Macht gelangte, war ich – mütterlicherseits mit den Idealen des Antifaschismus und dem Pathos der Resistenza (der Widerstandsbewegung gegen den Nazifaschismus im Zweiten Weltkrieg) geimpft – wie vor den Kopf gestoßen. Es fiel mir schwer zu glauben, dass sich in einem halben Jahrhundert die politische Kultur in meinem Ursprungsland in ihr Gegenteil hatte verkehren können. Ich ergriff am Psychoanalytischen Seminar Zürich die Initiative für eine Study Group über den alten und den neuen Faschismus. Daraus entstand ein Vortragszyklus über die Neue Rechte in Europa und ein internationaler Kongress zur Tiefenpsychologie des Faschismus, deren Ergebnisse ich in einem Buch, »Das Faschismus-Syndrom«, vorgestellt habe (Modena 1998). Ausgehend von den »Studien zur autoritären Persönlichkeit« von Adorno et al. (1950), von Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« (1933) und Fromms »Die Furcht vor der Freiheit« (1941) verdichtete sich angesichts der Verhältnisse in Österreich und Frankreich (mittlerweile aber in fast ganz Europa), der Geschichte Ex-Jugoslawiens, der Erinnerung an die lateinamerikanischen Diktaturen und dem Genozid in Burundi die Gewissheit, dass es trotz jeweils sehr verschiedenen kulturellen, politischen und historischen Verhältnissen in jedem Land ein latentes faschistoides Gewaltpotenzial gibt, das von interessierter Seite unter bestimmten Bedingungen geweckt werden kann. Benötigt wird dafür eine demagogische und skrupellose Führerpersönlichkeit, die über einen Machtapparat verfügt und über die Unterstützung der Massenmedien. Hilfreich sind eine Wirtschaftskrise und die politische Selbstdiskreditierung der herrschenden Eliten durch Korruption und Regierungsunfähigkeit. Unter diesen Bedingungen entsteht

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ein Klima der sozialen Anomie – wie es Paul Parin (1998) anhand der Verhältnisse in Serbien beschrieb –, welches dann sehr schnell, in wenigen Jahren, zur Paralyse des Staates und zur Machtergreifung des Führers, dann zu Krieg und Bürgerkrieg führen kann. Dann können sich die in Jahrzehnten aufgestauten Ressentiments (vgl. Spangenberg 1998) in blinder – von der Führung aber gezielt kanalisierter – Gewalt gegen die jeweiligen, zuvor aufgebauten Sündenböcke entladen – Juden, Kommunisten, Muslime, Hutus oder Tutsis. Zuerst folgt nur eine kleine Minderheit von real Unterprivilegierten, von psychisch Gestörten und von ideologisch Verblendeten der Partei des Führers. Ist aber erst eine anomische Situation entstanden, werden massenhaft Ängste mobilisiert, die immer größere Schichten in eine maligne Regression (im psychoanalytischen Sinn eine Systemregression) treiben, sodass sich bald ein Großteil der Bevölkerung in einer Art und Weise zu verhalten beginnt, als ob sie Borderline-Persönlichkeiten wären, die auf einem niedrigen Ich-Niveau funktionieren (vorwiegend frühe Abwehrmechanismen werden aktiviert: Spaltung in alles gut/alles böse, projektive Identifizierung, Idealisierung/Entwertung; das Bewusstsein regrediert auf magisches Denken). Damit ist die Partie für die Partei des Führers aber noch nicht gewonnen, denn die Gefahr mobilisiert auch auf der Gegenseite Abwehrkräfte und lässt echte Liberale, Linke und Demokraten mit dem Mut der Verzweiflung kämpfen. Die progressiven Kräfte, mindestens aber ihre Eliten, wissen spätestens jetzt, dass ein Sieg des Faschismus ihren Untergang bedeutet. Der Ausgang hängt von der Entscheidung großer und mächtiger gesellschaftlicher Kräfte und Institutionen ab, von den Wirtschaftsverbänden, den Kirchen und dem Militär (in der Weimarer Republik gab zum Beispiel die Harzburger Front den Ausschlag, im republikanischen Spanien war es das Bündnis von katholischer Kirche, Agrarkapital und Militär). Wenn allerdings eine solche unheilige Allianz zustande kommt, die Partei des Führers die Macht ergreift und – sofern es noch dazu kommt – den nachfolgenden Bürgerkrieg für sich entscheidet, kann nur noch eine militärische Niederlage in einem vom Zaun gerissenen Krieg das faschistische Projekt stoppen. Andernfalls kann die Vernichtung der demokratischen und progressiven Kräfte und ein gesell-

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schaftlicher Umbau nach dem Muster des Ständestaates die faschistische Herrschaft für Generationen zementieren. Das Fremde in sich und bei den Anderen immer besser verstehen und sich mit ihm und mit ihnen produktiv austauschen ist die Voraussetzung zur Überwindung der Xenophobie – die nach dem Muster der autoritären Persönlichkeit meist im Verbund mit Sexismus, Antisemitismus, Antikommunismus und einem Blut-undBoden-Nationalismus daherkommt – und ist die beste Garantie gegen neue, immer mögliche faschistische Abenteuer. Nach dem 11. September ist es im mächtigsten Land der Welt gelungen, mit dem – dem Islam zugeschriebenen – »Terrorismus« ein neues Menetekel zu erfinden, das wie einst das Judentum oder der Bolschewismus als absolut fremd und absolut böse erscheint und dadurch im globalisierten Maßstab den Abbau der demokratischen Rechte, Folter und Krieg legitimiert, was so lange dauern wird, bis die neoliberalen Verheißungen und die (christlich-)fundamentalistischen Lügen aus Angst vor dem Fremden und aus Existenzangst noch geglaubt werden. Die real existierenden, menschenverachtend und skrupellos-größenwahnsinnig operierenden terroristischen Zellen auf der ganzen Welt – ihrerseits Musterschüler der faschistischen »Propaganda der Tat« (die ersten Bomben in einem Bahnhof explodierten in Bologna lange vor der Wende6) – wären für die Demokratie weniger bedeutend und bedrohlich, wenn sie nicht dem gegenwärtig vorherrschenden internationalen Machtkartell in die Hände arbeiten würden. So aber dienen sie dem Staatsterrorismus als Vorwand.

6 Am 2. August 1980, 10:17 Uhr, der Bahnhof wurde weitgehend zerstört.

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■ Hans-Dieter König

Hitlers charismatische Masseninszenierungen Psychoanalytische Rekonstruktion zweier Filmsequenzen aus Leni Riefenstahls »Triumph des Willens«1

■ Zum Hitler-Mythos, zum Film und zur Methode

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Nach Auffassung von Broszat (1970, S. 399) ist der Nationalsozialismus »nicht primär eine ideologische und programmatische, sondern eine charismatische Bewegung« gewesen, »deren Weltanschauung durch den Führer Hitler verkörpert wurde und ohne ihn alle Integrationskraft verloren hätte«. Wie sehr auch die alten Kämpfer der NSDAP von der völkisch-antisemitischen Weltanschauung durchdrungen waren, durch Organisations- und Weltanschauungsfragen bedingte innerparteiliche Konflikte wurden stets durch die Berufung auf Hitler gelöst, der als »Vermittler der ›richtigen‹ Idee grundsätzlich« anerkannt wurde (Broszat 1970, S. 399). Die Einschätzung, bei Hitler habe es sich um einen »charismatischen Führer« gehandelt (Kotze u. Krausnick, 1966, S. 41), bestätigt Kershaws (1980) empirische Studie zum »Hitlermythos«, der im »Dritten Reich« zum Dreh- und Angelpunkt der nationalsozialistischen Propaganda wurde (vgl. auch Kershaw 1991, S. 24ff.): Dass mit Hitler zum ersten Mal in der Weimarer Republik ein Politiker ein Flugzeug benutzte, der auf »seinen vier Deutschlandflügen zwischen April und November 1932 […] auf insgesamt 148 Massenkundgebungen« sprach, wobei er täglich drei Großveranstaltungen absolvierte und häufig vor 20.000 bis 30.000 Menschen sprach, brachte Hitler »das Image einer jugendlichen, dynamischen Persönlichkeit« ein, die im Unterschied zu 1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte Fassung des in der »Zeitschrift für Politische Psychologie«, Heft 1/1996 veröffentlichten Aufsatzes.

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den »alten Männern« der reaktionären Rechten die Begegnung mit dem Volk suchte und durch ihren missionarischen Eifer beeindruckte (Kershaw 1991, S. 41). Auf diese Weise wurde Hitler so populär, dass ihm viele Deutsche ihre Stimme gaben, obwohl sie der Partei skeptisch und abwartend gegenüberstanden. Wie die konservativen Eliten, die Hitler in ein Koalitionskabinett der Rechten als Reichskanzler einsetzten, hofften die Massen darauf, dass Hitler auf die radikalen Kräfte in der Partei mäßigend einwirken werde. Im Unterschied zur SA und zur Partei, an deren rabiaten Auftreten und Vorgehen man nach der Machtübernahme zusehends Anstoß nahm, wurde Hitler als über den Parteiangelegenheiten stehende Autorität geschätzt. Selbst die Massenverhaftungen von Kommunisten und Sozialdemokraten steigerten Hitlers Popularität, weil viele »einfache Leute« fanden, er habe damit entschlossen den Kampf gegen die als Feinde Deutschlands denunzierte Linke aufgenommen (vgl. Kershaw 1991, S. 48ff.). Auch die Exekution der SA-Führung brachte Hitler weitere Sympathie ein, weil sie als Zeichen dafür gedeutet wurde, dass Hitler entschlossen gegen die Willkür und Korruption in SA und NSDAP vorging (vgl. Kershaw 1991, S. 73ff.). Obgleich die Herrschaft der Partei vielfach Unbehagen erzeugte, weil die »Klagen über Korruption, anmaßendes Verhalten, persönliche Skandale« nicht abrissen, »blieb Hitlers Charisma von den Widrigkeiten des NS-Alltags weitgehend unangetastet« (Kershaw 1991, S. 88f.). Das geflügelte Wort »Wenn das der Führer wüßte« verdeutlicht, wie sich unter dem Einfluss des Hitler-Mythos die Überzeugung verbreitete, »daß der Führer sofort einschreiten würde, wenn er von Mißständen etwas erfahren würde« (Kershaw 1991, S. 89). Die Frage, warum die deutsche Bevölkerung für den HitlerMythos empfänglich war, ist ideologiekritisch eingehend untersucht worden. Der Ruf nach einem starken Führer war ein fester Bestandteil des von Sontheimer (1962) untersuchten antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik, das nach der Abdankung des Kaisers die Hoffnung darauf setzte, dass »das Frontsoldatentum« einem »großen Führer« den Weg bahnen werde, der die »führerlose Demokratie« hinter sich lassen und »Deutschland aus seiner Not reißen und es wieder empor zum Licht und zu neuer Größe führen wird« (Sontheimer 1962, S. 216ff.). Wie Broszat

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(1970, S. 401) bemerkt, lieferte die Hoffnung auf einen »charismatischen Volksführer und Erneuerer« die »Rolle, die Hitler nur aufzunehmen brauchte«: »Mit dem Bild der Entschlossenheit, das er darbot, wußte Hitler zu artikulieren und zu zelebrieren, was die Zuhörer halb unbewußt wünschten und fühlten. Er sprach aus, was sie insgeheim dachten und wollten, bekräftigte ihre noch unsicheren Sehnsüchte und Vorurteile, verschaffte ihnen dadurch eine tief befriedigende Selbstbestätigung, das Gefühl, einer neuen Wahrheit teilhaftig zu werden, weckte ihre ebenso selbstlose wie selbstvergessene Gefolgschafts- und Einsatzbereitschaft.« Diese Rolle eines »mitreißenden Führer-Rednertums« könne keine reife Persönlichkeit ausfüllen, sondern nur eine Person wie Hitler, die »so tief von der Krisen- und Panikstimmung ihrer Zeit und Gesellschaftsschicht gezeichnet war, dass sie ihren Ton instinktiv traf« (Broszat 1970, S. 401f.): »Hitlers plötzlicher Aufstieg aus geistiger und sozialer Mediokrität und Anonymität auf die Rampe des politischen Geschehens bestätigt, daß sein Führertum sich nur im Fluidum einer bestimmten Krisenatmosphäre und Kollektiv-Psychologie entfalten konnte. Die ungewöhnliche Leidenschaft, mit der Hitler der allgemeinen Pathologie verfiel, und die Unbedingtheit, mit der er sich darauf konzentrierte, sie zum Ausdruck zu bringen und in Aktion umzusetzen, ließen ihn zum ›Führer‹ werden. Auf dem Hintergrund der allgemeinen Exaltation vermochte er die eigene Neurose als allgemeine Wahrheit zu erleben und die kollektive Neurose zum Resonanzboden der eigenen Besessenheit zu machen. Hitlers Führertum stand mithin von vornherein im Schnittpunkt paradoxer Deutung: einerseits nur Exponent einer breiten nationalistischen Psychose, andererseits Integrationsfigur dieser ›Bewegung‹, die ohne solche Integration nicht zum politischen Durchbruch kommen konnte« (Broszat 1970, S. 402). Wie man Broszats Ausführungen entnehmen kann, wird Hitler als ein charismatischer Volksführer verstanden, der sich in der sozialen und politischen Krisenlage der dreißiger Jahre zum Sprachrohr des »in Panik« geratenen Mittelstands machte (vgl. Geiger 1930). Zwar bringt Broszat Hitlers Massenwirksamkeit damit in

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Zusammenhang, dass er sich in der damaligen Krisenatmosphäre der »allgemeinen Pathologie« so zu bedienen verstand wie der »eigenen Neurose«. Aber diese Bestimmungen bleiben abstrakt und unklar. Wie Broszat nicht zwischen Neurose und Psychose unterscheidet, so übersieht er auch, dass psychische Erkrankungen sozial isolieren. Daher kann er die Frage nicht beantworten, wie Psychopathologie und Massenbildung zusammenhängen und eine fatale Form der Vergesellschaftung erzeugen. Einen Schritt weiter führen die Überlegungen von Elias (1989a, S. 42), der Hitler ebenfalls als einen charismatischen Herrscher begreift. Seine Ausführungen schließen an Beobachtungen an, die er bei einer Massenkundgebung mit Hitler angestellt hat: »Sein, solange er stumm war, nicht besonders anziehendes Gesicht belebte sich, sowie er vor einem großen Publikum zu reden begann. Ich selbst habe ihn einmal bei einer Rede in Frankfurt erlebt. Er erweckte den Eindruck, in persönlichen Kontakt mit dem Zuhörer zu stehen. Er faszinierte das Publikum.« Elias schildert noch eine weitere Szene aus dieser Massenveranstaltung: »Ich selbst habe erlebt, wie er nach seinem Vortrag die Kinder zu sich rief und ihnen gleichsam segnend die Hand auf den Kopf legte. Sie standen unter seinem Schutz. Und das gleiche Gefühl erweckte er in seinen Anhängern. Er war, wie er selbst es einmal ausdrückte, der lebendige Gott. Ihm konnte man sich anvertrauen. Er traf immer die richtigen Entscheidungen, im Guten wie im Bösen« (Elias 1989a, S. 43). Die erste Szene, in der Elias den Eindruck gewinnt, als ob Hitler »in persönlichem Kontakt mit dem Zuhörer« stehe, offenbart das Bemühen des nationalsozialistischen Agitators um die emotionale Bindung seines Publikums an seine Person, die erst den Glauben an sein Charisma erzeugt.2 Und in der zweiten Szene, in der er die Kinder zu sich ruft und ihnen die Hand segnend auf den Kopf legt, präsentiert Hitler sich als ein charismatischer Herrscher, der über 2 Die Einschätzung von Elias bestätigt Stern (1975, S. 22f.): Hitler habe einen »Mythos« geschaffen, der sich auf die »Einführung eines Konzeptes der persönlichen Authentizität in die öffentliche Sphäre« und auf die »Proklamation dieses Konzeptes als Hauptwert und wesentlichste Rechtfertigung der Politik« zurückführen lasse. Nicht durch sein politisches Programm und durch das, was er inhaltlich zu sagen hatte, habe Hitler fasziniert, son-

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die außeralltägliche Kraft verfügt, den Menschen das Heil zu bringen, sofern sie sich seiner Führung wie gläubig ergebene Kinder anvertrauen. Ähnlich wie Broszat ergänzt Elias seine Deutung durch den Gedanken, »daß der Ausdruck charismatischer Herrschaft« sich in diesem Fall »auf eine eigentümliche Form der psychosozialen Erkrankung« bezieht, »eine Erkrankung, zu deren Symptomen ein gewisser Schwund des Realitätssinns, eine Überschätzung der eigenen Potentiale, kurzum, eine Art von Größenwahn gehört« (Elias 1989a, S. 43). Aus diesem Grund will Elias »Webers Theorie charismatischer Herrschaft mit Le Bons Theorie der Veränderung« verbinden, »die sich im Verhalten von Menschen vollzieht, wenn sie als Mitglieder einer Masse agieren« (Elias 1989a, S. 44). Mit dieser Argumentation fällt Elias jedoch hinter Freuds (1921) Kritik an Le Bon zurück: Wie überzeugend Le Bon auch die Masse als entindividualisiert, vernunftlos, leicht beeinflussbar und gewalttätig charakterisiert, seine Erklärung des veränderten Verhaltens der Individuen in einer Masse durch eine »Massenseele« stellt, wie Freud zu Recht eingewandt hat, keine Lösung der Frage, sondern selbst das Problem dar. Wenn Freud rekonstruiert, wie die Individuen libidinöse Bindungen an den Massenführer und zueinander eingehen, dann erfasst er in psychoanalytischen Begriffen das soziologische Problem, unter welchen psychodynamischen Bedingungen sich Individuen in eine Masse verwandeln. Aber wie sehr man auch mit Adorno (1951, S. 37) darin übereinstimmen kann, »daß Freud, obwohl ihn die politische Seite des Problems kaum interessierte, in rein psychologischen Kategorien das Heraufkommen und die Natur faschistischer Massenbewegungen klar voraussah«, die theoretische dern dadurch, dass er »die Begriffe der Aufrichtigkeit, Redlichkeit« und der »lebendigen Erfahrung […] aus dem privaten und poetischen Bereich in den Bereich der öffentlichen Angelegenheiten« übersetzt habe (S. 22f.). Seine Reden hätten den Eindruck vermittelt, »daß jede seiner Äußerungen Ausdruck der aufrichtigen Gefühle dieses Mannes« seien (S. 26). Hitler habe eine mythische Größe gewonnen, weil er in seinen Massenversammlungen die Politik zur Bühne für ein »authentisches inneres Erlebnis« gemacht habe, »Gefühle«, die im »Gegensatz zu den verwirrenden Abstraktionen von Wirtschaft und Politik« etwas waren, »das jedermann verstehen, beurteilen und teilen« konnte (S. 26).

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Klärung des Problems lässt die Frage unbeantwortet, wie die hitlerschen Masseninszenierungen konkret aussahen und in das Erleben der Versammelten so eingriffen, dass sie ihm Charisma zusprachen. Wie man diese Fragestellung aus der Perspektive psychoanalytischer Sozialpsychologie empirisch untersuchen kann, soll am Beispiel zweier Szenensequenzen aus dem Riefenstahl-Film »Triumph des Willens« gezeigt werden. Dieser Film wurde ausgewählt, weil sein Gegenstand der Nürnberger Reichsparteitag von 1934 ist, der »vor allem eine Tribüne des Führer-Kults« wurde (Kershaw 1980, S. 64). Eben diesen Hitler-Mythos propagiert auch der Film, für den die Ufa mit den Worten warb, dass »das deutsche Volk […] den Führer in diesem Filmwerk sehen und erleben« werde, »wie es bisher nur den Wenigsten vergönnt war« (zit. n. Loiperdinger 1987, S. 69). Die Uraufführung des in Hitlers persönlichem Auftrag gedrehten Films wurde im April 1935 in Berlin als Staatsakt in Anwesenheit des Führers, der Parteispitze und des diplomatischen Korps inszeniert (vgl. Loiperdinger 1987, S. 45ff.). Gleichzeitig lief der Film in den Erstaufführungstheatern von 70 deutschen Städten an. Der Film, für den wie nie zuvor Werbung betrieben wurde, spielte Rekordergebnisse ein und wurde vom »Völkischen Beobachter« zum »Denkmal der Bewegung« stilisiert (Loiperdinger 1987, S. 52). Wie Loiperdinger berichtet, wird Leni Riefenstahl in den hymnischen Besprechungen der nationalsozialistischen Presse und den Presseerklärungen des Ufa-Konzerns als die Regisseurin gefeiert, die das »Parteitagserlebnis« in ein »authentisches Filmerlebnis« übersetzt habe (Loiperdinger 1987, S. 52). »Das ist es!«, hieß es in einer Pressemitteilung der Ufa: »Der Zuschauer soll nicht nur sehen und hören, sondern er soll die innere Größe und Monumentalität des nationalsozialistischen Gedankens empfinden und erleben« (Loiperdinger 1987, S. 53). Die Frage, »was jenes ›Erlebnis‹ nun eigentlich ausmacht, das in Nürnberg als ›Parteitagserlebnis‹ beschworen wird und nun in den Kinosälen wieder auferstehen soll« (Loiperdinger 1987, S. 52f.), lässt sich sozialpsychologisch durch die Rekonstruktion der Lebensentwürfe, der Wünsche, Ängste und Phantasien untersuchen, die der Film aufgreift und im Dienste der nationalsozialistischen Weltanschauung funktionalisiert. Der Film wird mithilfe der von Lorenzer (1986) entwickelten Tiefenhermeneutik untersucht, die sich grundlegend von der tra-

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ditionellen Anwendung der Psychoanalyse in den Sozialwissenschaften unterscheidet. Denn wo psychoanalytische Beiträge zum Nationalsozialismus darauf hinauslaufen, dass Hitlers Wille und Wirkung auf der Basis seiner ödipalen Konflikte oder seiner narzisstischen Störungen erklärt wird (vgl. König 1990, S. 146ff.), da setzt sich der psychoanalytische Biographismus durch, der, wie Wehler (1971, S. 20f.) kritisiert, »individuelle Motive« herausarbeite, wo es um »gesellschaftlich-politische Antriebskräfte« gehe, weil »nicht Hitlers individuelle Psychopathologie […] das eigentliche Problem« sei, »sondern der Zustand einer Gesellschaft, die ihn aufsteigen und bis zum April 1945 herrschen ließ«. Wenn Historiker wie Wehler sich pauschal gegen die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geschichte wenden, dann ist ihre Kritik insofern begründet, als sie sich gegen eine naive Form des Umgangs mit der Psychoanalyse richtet, die dadurch zustande kommt, dass das methodologische Problem des Einsatzes der Psychoanalyse auf das Terrain der Kultur nicht reflektiert wird. Infolgedessen wird der Gegenstand abstrakt unter klinische Begriffe subsumiert. Die Folge ist eine Psychologisierung und Pathologisierung einer sozialpsychologischen Fragestellung. Diese Sackgasse lässt sich vermeiden, wenn man nicht Theoriebruchstücke der Psychoanalyse überträgt, sondern sich an die Verfahrensweise des psychoanalytischen Interpretierens hält, die Lorenzer (1970, 1974) als »szenisches Verstehen« auf den Begriff gebracht hat. Mit der von ihm so bezeichneten Tiefenhermeneutik ist eben diese Methode gemeint, die sich dem sozialpsychologischen Gegenstand anschmiegt und eine der Sache angemessene neue Begrifflichkeit entwickelt (vgl. König 1993a, 1996a). Die tiefenhermeneutische Kulturforschung (vgl. König 2000, 2001) geht von Gruppeninterpretationen aus (vgl. König 1993b, S. 206ff.), im Rahmen derer die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer sich durch das Thematisieren ihrer Reaktionen, Einfälle und Verstehensansätze einen ersten Zugang zu den verborgenen Lebensentwürfen erschließen, die der Film aufgreift und öffentlich zur Debatte stellt.3 Denn der Film stellt einen Mikrokosmos dar, in 3 Der vorliegende Beitrag ist auf der Grundlage von Gruppeninterpretationen entstanden, die in einem Seminar über den Reichsparteitagsfilm am

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dem Lebensentwürfe im Einklang mit den in dieser sozialen Welt geltenden Regeln und Normen artikuliert und zugleich unterdrückt werden. Der manifeste Sinn des Films wird durch die Lebensentwürfe bestimmt, die sich aufgrund ihrer sozialen Akzeptanz im Handeln und Sprechen der Akteure durchsetzen; der latente Sinn wird hingegen durch die Lebensentwürfe bestimmt, die aufgrund ihrer sozialen Anstößigkeit verpönt sind, jedoch auf einer verborgenen Bedeutungsebene zur Geltung kommen. Während sich die sozial anerkannten Lebensentwürfe ohne Schwierigkeiten entziffern lassen, werden die sozial anstößigen Lebensentwürfe dadurch zugänglich, dass der Kulturforscher sich durch die im Film zutage tretenden Ungereimtheiten, Widersprüche und Brüche irritieren lässt. Irritationen eröffnen also den Zugang zu einer quer zum manifesten Sinn gelegenen zweiten Sinnebene. Damit ist die Verfahrensweise der Tiefenhermeneutik, die ganz im Sinne Adornos (1969a, 1969b) über exemplarische Fallrekonstruktionen das Gesellschaftlich-Allgemeine erschließt (vgl. König 1993a, König 1996a), so weit umrissen, dass zur Rekonstruktion jener beiden Filmsequenzen übergegangen werden kann, anhand derer das Erlebnis, das der zweieinhalbstündige Film übermittelt, exemplarisch analysiert werden soll.

■ Das durch Hitlers Ankunft in Nürnberg bestimmte Szenarium ■ Zum Inhalt der Szenensequenz Zunächst soll der Inhalt der ersten Filmsequenz vergegenwärtigt werden: Nachdem der den Film einleitende Vorspann darüber informiert hat, dass Hitler im September 1934 erneut nach Nürn-

Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt a. M. und in einem am Psychoanalytischen Seminar Zürich durchgeführten Workshop zustande gekommen sind. Ich möchte hiermit noch einmal allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Gruppendiskussionen für ihre Mitarbeit danken.

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berg geflogen ist, »um Heerschau abzuhalten über seine Getreuen« (Loiperdinger 1980, S. 6), durchqueren die sich auf die erste Szenensequenz einlassenden Kinozuschauer mit dem Flugzeug ein malerisches Wolkengebirge. Die Wolken lichten sich und geben den Blick auf die in den Dunst der Morgensonne getauchten Dächer, Kirchtürme und Burganlagen Nürnbergs frei. Hitlers Flugzeug überfliegt eine der Marschkolonnen, die von allen Himmelsrichtungen aus in das mit einer Unzahl von Hakenkreuzfahnen geschmückte Stadtzentrum ziehen. Sobald das Flugzeug landet, bricht die wartende Menschenmenge in einen Sturm der Begeisterung aus. Heilrufe ertönen, und die Arme der Versammelten fliegen zum Gruß hoch, als Hitler aus dem Flugzeug steigt. Während sich junge Frauen dem Führer lachend und neugierig entgegenstrecken, schüttelt dieser, der über die Begeisterung ein wenig verlegen und zugleich geschmeichelt ist, einem Uniformierten die Hand. Begleitet von lautstarken Heilchören, fährt Hitler an der Spitze einer langen Autokolonne durch die Stadt. Er steht im offenen Wagen und grüßt mit der rechten Hand das dichte Spalier der Zuschauer. Hitler fährt durch steinerne Tore, an Denkmalsfiguren und Renaissancehäusern vorbei, aus deren Fenstern Menschen mit weißen Tüchern winken. Die schwarzen Limousinen halten vor dem mit SS-Männern bewachten Hotel »Deutscher Hof«. Hitler grüßt mit gestrecktem Arm, wechselt entspannt ein paar Worte mit den Uniformierten und verschwindet in seiner Unterkunft. Als die das Geschehen begeistert verfolgenden Frauen, Kinder und Jugendlichen den Ruf »Wir wollen unseren Führer sehen!« skandieren, geht das Hotelfenster auf, unter dem die Leuchtschrift »Heil Hitler« prangt. Sobald Hitler sich am Fenster zeigt, bricht die Menge erneut in Jubelgeschrei aus.

■ Die den Zugang zu bewussten und unbewussten

Lebensentwürfen erschließende szenische Interpretation Die durch diese Bilderwelt geweckten bewussten und unbewussten Lebensentwürfe sollen nun anhand der szenischen Konstellationen dechiffriert werden, die von der Interpretationsgruppe als beson-

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ders eindrucksvoll erlebt wurden: Als den an den Film herangetragenen Erwartungen widersprechend wurde vor allem die erste Szenensequenz erlebt, die völlig quer zum Parteitagsgeschehen zu liegen scheint: Zu einer ruhigen und getragenen Melodie gleitet das Filmpublikum im Flugzeug über ein von der Sonne beschienenes Wolkengebirge. Ein dunkles Wolkenmassiv tritt ihm entgegen und zieht vorbei. Damit eröffnet sich der Ausblick auf ein lichtdurchflutetes Wolkenmeer, das sich endlos auszudehnen scheint. Schneeweiße Wolken türmen sich zu einem gewaltigen Gebirge auf. Wenn die Zuschauer sich auf diese Bilder emotional einlassen, dann tritt die vertraute Alltagswirklichkeit in den Hintergrund und sie fangen an zu träumen. Die Bilder wecken die Vorstellung, wie ein Vogel abheben und durch die Lüfte gleiten zu können. Das von Reinhard Mey in einem Lied beschriebene Gefühl erfasst das Publikum, dass über den Wolken die Freiheit wohl grenzenlos sein muss. Dieses Hochgefühl gipfelt in der Empfindung, die Grenzen der eigenen Körperlichkeit hinter sich lassen und sich durch das Aufgehen in der Natur in kosmische Weiten ausdehnen zu können. Dieser rauschartige Zustand, über den Wolken ein Gefühl einzigartiger Freiheit und Größe zu erleben, verbindet sich mit dem Gefühl, Hitler nahe zu sein, der ja – wie die Kinobesucher aus dem Vorspann wissen – mit dem Flugzeug auf dem Weg nach Nürnberg ist. Das Erstaunliche ist, dass Hitler in dem Cockpit, von dem aus man auf die Wolken schaut, nicht zu sehen ist. Da die Szene die Vorstellung auslöst, über den Wolken Hitler nahe zu sein, er jedoch unsichtbar bleibt, kann religiös empfindende Zuschauer das erhaben-schaurige Gefühl erfassen, in den Kontakt mit einer Gottheit zu treten. Denn in der mythischen Welt ist der Himmel von den Göttern bewohnt, die allgegenwärtig und zugleich für die Sterblichen unsichtbar sind. Darüber hinaus lädt Hitlers Unsichtbarkeit dazu ein, sich mit ihm verbunden zu fühlen und mit ihm gemeinsam den Anblick der Wolken zu genießen. Spätestens dann, wenn Hitler in Nürnberg landet und das Lärmen der Menschenmenge eingeblendet wird, die ihm begeistert zujubelt, erwacht das Filmpublikum aus diesem Traum. Zwischen Hitler und die Kinobesucher treten die ihn begleitenden Parteigenossen und die ihm einen enthusiastischen Empfang bereitenden Zuschauer. Zudem wird das Gefühl, mit ihm eins zu sein, dadurch

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überlagert, dass Hitler sich als der »Führer« materialisiert, der aus dem Flugzeug aussteigt, kurz die ihn empfangenden Parteigenossen begrüßt und sogleich die Autofahrt durch Nürnberg antritt. Allerdings wird das durch die erste Szene geweckte Gefühl, sich mit Hitler auf eine ganz besondere Weise verbinden zu können, durch ein bestimmtes szenisches Arrangement wieder aufgegriffen: Wenn auf der Fahrt durch Nürnberg Nahaufnahmen von Hitler eingeblendet werden, wird er dem Kinopublikum zugleich dadurch entrückt, dass er nicht von vorn, sondern von hinten gezeigt wird. Zweifellos ist diese Szene auch Bestandteil des von Loiperdinger (1987, S. 71) beschriebenen dramaturgischen Kunstgriffs, »Adolf Hitler wiederholt auf der Bühne des Parteitags auftreten und wieder von ihr abtreten zu lassen«, um durch »Verzögerung« im Publikum eine erwartungsvolle Spannung aufzubauen, die »die nationalsozialistische Publizistik mit dem Topos ›in freudiger Erwartung des Führers‹ umschreibt«. Darüber hinaus offenbart diese szenische Konfiguration noch etwas anderes: Da diese Filmszene suggeriert, sich unmittelbar hinter Hitler zu befinden, kann man sich auch hier mit Hitler verbunden fühlen und das Geschehen mit seinen Augen betrachten. Weil das Kinopublikum aufgrund dieses Einsseins mit Hitler die ihm entgegengebrachten Ovationen mit genießt, hat es in diesen Szenen ein Stück weit Anteil an seiner Macht und Größe. Der durch diese szenische Konstellation erschlossene Zugang zu Hitler erscheint intim, weil den Filmzuschauern eine Botschaft übermittelt wird, die Außenstehenden nicht zugänglich ist. Denn da sie sich direkt hinter Hitler aufhalten, können sie Erscheinungen sehen, die Anderen verborgen bleiben. So bildet sich einmal aufgrund des Gegenlichts der Sonne ein »Lichtflor um die Silhouette von [Hitlers] Kopf und Schultern« (Loiperdinger 1980, S. 13); und dreimal erscheint Hitlers zum Gruß erhobene Hand, die die Sonnenstrahlen reflektiert, durch Weichzeichner selbst als Lichtquelle (vgl. Loiperdinger 1980, S. 14f.). Diese Bilder bestätigen die frohe Botschaft, die bereits die erste Filmszene übermittelt hat: Dass Hitler eine strahlende Lichtgestalt ist, ein neuer Messias, der die Grüße der ihm zujubelnden Menge gelassen und ernst entgegennimmt, um sie mit der von einem Heiligenschein umgebenen Hand zu segnen.

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Viel diskutiert wurde in der Interpretationsgruppe auch die Szene, in der Hitler seine Limousine halten lässt, um eine Mutter und ihr Kind zu begrüßen, die die Absperrungen offensichtlich durchbrochen haben: Ein etwa drei Jahre altes Kind, das auf dem Arm seiner Mutter sitzt, versucht Hitler einen Blumenkranz zu überreichen. Als das misslingt und Hitler dem Kind die Hand schüttelt, reicht die Mutter dem Führer den Blumenkranz an. Das Lachen von drei zwischen sechs und zehn Jahre alten Mädchen, deren Portraitbilder nacheinander eingeblendet werden, bezeugt, wie begeistert die Kinder über dieses Ereignis sind. Die Szene endet damit, dass Hitler den Blumenkranz entgegennimmt, auch der Mutter die Hand schüttelt, und sich beide voneinander verabschieden, indem sie den Arm zum Gruß ausstrecken. Auch das Kleinkind hebt etwas unbeholfen den linken Arm zum Hitlergruß. Die Bedeutung dieser Szene wird dadurch unterstrichen, dass sie musikalisch durch das Erschallen einer Fanfare untermalt wird. Damit wird diese Szene zum feierlichen Ereignis stilisiert, zum Sinnbild der Verbundenheit des Führers mit einer deutschen Mutter. Was diese Mutter Hitler gibt, indem sie ihm bereitwillig ihr Kind zuführt und es – wie dessen Hitlergruß belegt – in seinem Geist erzieht, das gibt er ihr zurück, indem er sich ihrer annimmt und sich um das Kind kümmert. Nimmt man noch hinzu, wie sehr an dieser Begebenheit die drei lachenden Mädchen Anteil nehmen, dann wird deutlich, dass sich auch dieses Ereignis als Ausdruck von Hitlers Selbstinszenierung als ein neuer Messias verstehen lässt, der – wie es bereits Elias beschreibt – wie Jesus die Kindlein zu sich kommen lässt. Merkwürdig ist schließlich, wie polarisiert sich das Geschlechterverhältnis in dieser Filmsequenz darstellt: Während die Frauen gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen die Menge bilden, die dem Führer auf seiner Fahrt durch die Stadt begeistert zujubelt, sind die Männer ihnen dadurch entrückt, dass sie in Uniformen stecken und das reibungslose Funktionieren des Reichsparteitags organisieren. Wie die Szene zwischen Führer, Mutter und Kind dokumentiert, füllt Hitler die Lücke aus, die dadurch entsteht, dass es in der sozialen Welt dieses Films keine Ehemänner und Väter mehr gibt. Das Auftreten dieses Messias ist auch deshalb eindrucksvoll, weil er wie ein von langer Reise nach Hause zurück-

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kehrender Führer wirkt, der als bewunderter Mann und guter Vater Frau und Kind begrüßt.

■ Zum Verhältnis des manifesten und latenten Sinns

dieser Filmsequenz Nunmehr soll der manifeste und der latente Sinn dieser Filmsequenz bestimmt werden: Auf der manifesten Bedeutungsebene des Films wird ein Mikrokosmos vorgeführt, in dem Hitler als ein neuer Messias erscheint, der vom Himmel herabsteigt, um sein Volk aufzusuchen. Dem Eindruck, dass mit Hitler ein von der gesamten Bevölkerung gefeierter Retter eingetroffen ist, dessen Gegenwart uneingeschränkt genossen wird, widersprechen jedoch eine Reihe szenischer Konstellationen, die einen Zugang zur latenten Bedeutungsebene erschließen: – Wie beeindruckend auch die Begeisterung der Nürnberger Bürgerschaft für Hitler ist, die durch die Straßen marschierenden Kolonnen von Parteigenossen und die über den Straßen, an den Fassaden, auf den Dächern und selbst an Kirchturmspitzen flatternden Hakenkreuzfahnen sind zugleich Ausdruck eines aggressiv-militanten Einsatzes der Propagandamaschinerie der NSDAP, die die Stadt in eine Hintergrundkulisse für eine gigantische Machtentfaltung verwandelt. – Wie plausibel es auch erscheint, dass die Partei viele Helfershelfer braucht, um den reibungslosen Verlauf aller Veranstaltungen zu gewährleisten, das durch die Uniformen beherrschte Stadtbild bedeutet eine allgegenwärtige Überwachung der Bevölkerung durch SA und Partei. Das verdeutlicht vor allem jene in der Interpretationsgruppe ausführlich erörterte Szene gegen Ende der Filmsequenz, die durch die SS-Männer bestimmt wird, die vor Hitlers Hotel Stellung bezogen haben. Sie tragen schwarze Uniformen mit schwarzen Stiefeln und schwarzem Koppelzeug. Sie verharren regungslos oder bewegen sich, wenn sie sich überhaupt einmal rühren, mechanisch wie Automaten. Da die Stahlhelme schwarze Schatten auf die Gesichter werfen, erscheinen die SS-Männer anonym und kalt. Da sie sich gegenseitig am Koppel anfassen, bilden sie eine geschlossene Mauer,

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die Hitler gegen die jubelnden Zuschauer abschirmt. Diese martialischen Männer wirken gefährlich und verbreiten Angst, weil man ihrer Emotionslosigkeit und Härte anmerkt, dass sie als gut gedrillte Kampfmaschinen jederzeit einsatzbereit sind. – Als irritierend wurde in der Gruppeninterpretation auch erlebt, dass es in dieser Filmsequenz keine einzige Szene gibt, in der es zu einem Kontakt zwischen einem Mann und einer Frau kommt. Wie die Frauen ganz darin aufgehen, sich mit ihren Kindern dem Gefühl der Begeisterung für Hitler hinzugeben, so sind die Männer völlig durch die Aufgaben in Anspruch genommen, die ihnen der Führer und die Parteispitze auferlegt haben. Damit offenbart bereits dieses Szenarium, dass die durch die Nationalsozialisten in Gang gesetzte totale Mobilmachung persönliche Beziehungen zerstört und familiale Bindungen auflöst: Wie die Männer nur noch in der Arbeit für die Partei aufgehen sollen, wird von den Frauen nämlich erwartet, dass sie dem Führer Kinder schenken. Damit wird fassbar, wie sich hier das Verhältnis zwischen manifestem und latentem Sinn herstellt: Während es auf der manifesten Bedeutungsebene um die Erlösung des deutschen Volkes durch den Führer geht, der auf die ergebene Gefolgschaft der Uniformierten so angewiesen ist, wie er den Frauen die fehlenden Männer durch die eigene Person ersetzt und zugleich ein guter Vater für die Kinder ist, geht es auf der latenten Bedeutungsebene um die bedingungslose Unterwerfung der Männer und Frauen. Gerade da, wo Männer und Frauen sich selbst aufgeben und sich in Funktionsträger des Parteiapparats verwandeln, wird ihnen zugleich die Illusion vermittelt, dass sie endlich aufatmen und all das empfinden und erleben können, was ihnen bisher verschlossen war: das Gefühl von Freiheit und Größe, das die Wolkenbilder wecken und mit dem Führer in Verbindung bringen, der vom Himmel gekommen ist, um die Deutschen zu erlösen.

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■ Die Szenerie von Hitlers Großkundgebung mit den Parteifunktionären ■ Zum Inhalt dieser Szenensequenz und zur Inan-

spruchnahme christlicher Inszenierungsmuster Die Großkundgebung mit Hitler beginnt damit, dass über der Zeppelinwiese, wo sich die politischen Leiter zum Appell versammeln, der Himmel noch einmal im Licht der Sonne erstrahlt. Dann wird der Himmel durch eine düster wirkende Wolke verdunkelt, deren Umrisse durch die Sonnenstrahlen erhellt werden. Der Blick des Filmpublikums fällt auf den darunter befindlichen grauen Himmel, bis die Augen einen Halt an dem mächtigen Gitterwerk des Reichsadlers finden, der die Tribüne auf der Zeppelinwiese beherrscht. In der einbrechenden Dämmerung kommen auf die Kinobesucher langsam zwei gewaltige Kolonnen uniformierter Männer mit riesigen Hakenkreuzfahnen zu. Die unter dem Fahnenmeer verschwindenden und daher im weiteren Verlauf der Szenerie kaum noch sichtbaren Gestalten der politischen Leiter marschieren zu Zehntausenden in das Stadion ein. Sie werden von Hitler erwartet, der auf die ihm von unten entgegenstreckten Arme reagiert, indem er selbst den rechten Arm zum Gruß erhebt. Erst als das Stadion vollständig in die Dunkelheit der Nacht getaucht ist, beginnt der auf der Tribüne in Scheinwerferlicht getauchte Führer zu reden. Er spricht von den 200.000 Männern, die sich hier zu einem Generalappell versammelt haben und die nur »das Gebot ihres Herzens« und das »Gebot ihrer Treue« hergerufen habe (Loiperdinger 1980, S. 113). Es sei »die große Not unseres Volkes« gewesen, die die Versammelten »einst ergriffen« und »im Kampfe« zusammengeführt habe (Loiperdinger 1980, S. 114). Das könnten aber diejenigen, »die nicht die gleiche Not in ihrem Volk gelitten haben«, nicht verstehen (Loiperdinger 1980, S. 114). Diese könnten sich das »nicht anders denken als durch einen staatlichen Befehl« (Loiperdinger 1980, S. 114). Gleich zu Anfang verdeutlicht Hitler, wie die Welt sich in Gut und Böse teilt: Wer der Partei angehört, habe sich hier aus freien Stücken versammelt, weil er wie seine Kameraden dazu beitragen wolle, Deutschland aus »großer Not« herauszuführen. Wer außerhalb der Partei stehe, nehme da-

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gegen keinen Anteil am Leiden des Volkes und verstehe auch nicht, worüber Hitler sich mit seinen Zuhörern verständigt. Vielmehr hält er die Großkundgebung für eine autoritäre Veranstaltung: »Sie irren sich: Nicht der Staat befiehlt uns, sondern wir befehlen dem Staate! Nicht der Staat hat uns geschaffen, sondern wir schaffen uns unseren Staat!« (Loiperdinger 1980, S. 114f.). Nachdem Hitler die Partei als politischen Ausdruck einer aus dem Volk hervorgegangenen sozialen Bewegung in Szene gesetzt hat, in der alle freiwillig mitmachen, überrascht es um so mehr, dass er im weiteren Verlauf der Rede auf das Gegenteil zu sprechen kommt – die Notwendigkeit einer auf einen großen Befehl setzenden hierarchischen Ordnung: »Es wird nicht so etwas aus dem Nichts, wenn diesem Werden nicht ein großer Befehl zugrunde liegt. Und den Befehl gab uns kein irdischer Vorgesetzter, den gab uns der Gott, der unser Volk geschaffen hat!« (Loiperdinger 1980, S. 117). Den Nationalsozialismus treibt also nicht einfach ein Parteianliegen an, vielmehr handeln der Führer und die Parteispitze auf einen göttlichen Befehl hin. Die zu Beginn der Massenkundgebung eingeblendeten Bilder, die vom Himmel, von der Sonne und der sie verdeckenden Wolke über dem Stadion erzählen, gewinnen damit nachträglich eine besondere Bedeutung: Hitler setzt wie zu Beginn des Films, als er mit dem Flugzeug vom Himmel herabzusteigen schien, auf das Charisma eines religiösen Führers, der im Namen des Allmächtigen spricht und den Eingebungen folgt, die er seiner besonderen Nähe zu Gott verdankt, der vom Himmel aus die strahlende Sonne oder auch düstere Wolken schickt. Wenn die politischen Leiter gegen Ende der Ansprache Feuerstellen in Brand setzen und ihre Fackeln entzünden, um in einem prächtigen Fackelzug aus dem Stadion hinaus durch die Nacht zu marschieren, dann werden christliche Zeremonien aufgegriffen und dem Parteianliegen entsprechend funktionalisiert. Wie in katholischen Kirchen zu Ostern in der Mitternachtsmesse eine Kerze entzündet wird, mit der alle anderen Kerzen in Brand gesetzt werden, um die Wiederauferstehung Jesu zu feiern, so feiert Hitler mit den Parteifunktionären, die in der Nacht die Fackeln entzünden, die »deutsche Wiedergeburt« (Loiperdinger 1980, S. 6). Und wie Pfingsten daran erinnert, wie der Heilige Geist über die Jünger kam und sie

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erleuchtete, auf dass sie auszogen, um den Menschen in aller Welt das Wort Jesu Christi zu predigen, so wird der mehrmals mit einem Lichtflor umgebene Hitler zu dem mit einem Heiligenschein umgebenen außergewöhnlicher Führer stilisiert, der die politischen Leiter durch seine Rede erleuchtet, sodass sie als seine Fackelträger das Licht politischer Einsicht in die Welt hinaustragen. Bereits diese erste Vergegenwärtigung der Hitlerrede verdeutlicht, dass es nicht um die diskursive Verständigung über ein Parteiprogramm geht, das die Zuhörer mit ihrer Vernunft prüfen können; vielmehr werden wie in einer Messe Bilder beschworen, Glaubensbekenntnisse verkündet und liturgische Formeln zelebriert, die sich lediglich an die Emotionen der Teilnehmer wenden.

■ Der auf die Macht des Adlers setzende Totemkult Betrachtet man den bildhaft-präsentativen Gehalt dieser Inszenierung noch genauer, fällt Folgendes auf: Als Hitler von dem Gott spricht, »der unser Volk geschaffen hat«, wird der die Tribüne beherrschende Reichsadler eingeblendet. Was bedeutet es, dass der Ruf nach der Gottheit mit dem Bild des Adlers verknüpft wird? Der Sinn dieses szenischen Arrangements lässt sich mithilfe der Filmszenen erschließen, in denen der Reichsadler vorkommt: 1. Szene: Ganz zu Anfang des Films wird ein steinerner Reichsadler vor dem Hintergrund eines düsteren Wolkenhimmels eingeblendet. Der Adler hockt auf einer Mauer aus Steinquadern, »auf der in reliefartig herausgehobenen Frakturbuchstaben« der Filmtitel »Triumph des Willens« zu lesen ist (Loiperdinger 1980, S. 5). 2. Szene: In der zu Beginn des Films eingeblendeten Szene mit der SS-Wache, die vor dem Hotel postiert ist, in dem Hitler übernachtet, wird ein SS-Mann gezeigt, dessen ins Koppel eingehakten Hände die Aufmerksamkeit auf die »auffallend große rechteckige Gürtelschnalle aus hell blinkendem Metall« lenken, »die als Relief mit einem Reichsadler verziert ist« (Loiperdinger 1980, S. 22). 3. Szene: Der Einmarsch der politischen Leiter in das bereits von der Dunkelheit der Nacht erfasste Stadion wird durch das

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Fahnenmeer bestimmt, das sich eine unsichtbare Treppe hinunter bewegt und auf den Reichsadler zuläuft, der das Licht der untergehenden Sonne reflektiert. Die Parteifunktionäre scheinen sich in den Schutz des Adlers zu begeben, der den Eindruck hinterlässt, als wolle er sie mit seinen weit ausgebreiteten Schwingen umarmen. 4. Szene: Die Parteigenossen tragen auf den Spitzen ihrer mehrmals ins Scheinwerferlicht getauchten Fahnenstangen nicht nur Hakenkreuze, sondern auch zum Abflug bereite Adler. So entsteht der Eindruck, dass sie durch die von ihnen gehaltenen kleinen Adler dem riesigen Reichsadler auf der Tribüne ihre Reverenz erweisen. 5. Szene: Hitlers Rede an seine Männer wirkt auch deshalb gewaltig, weil hinter ihm der pompöse Reichsadler steht. Der Eindruck entsteht, dass Hitler seine Energie dem Adler verdankt, der ihm seine Kräfte zu leihen scheint. 6. Szene: Mehrmals, vor allem gegen Ende der Veranstaltung, wird die Großkundgebung aus größerer Entfernung eingeblendet. Die alle anderen Requisiten weit überragende Kulisse, die durch den an fünf großen Masten aufgehängten Adler bestimmt wird, wirkt wie die Vorderfront eines griechischen Tempelaufbaus. Der Reichsadler, der aufgrund seiner außergewöhnlichen Größe zwischen Himmel und Erde zu vermitteln scheint, besetzt den Platz, den in antiken Tempeln die Gottheiten einnahmen. An die Stelle einer christlichen Inszenierung, die den Führer als erleuchtet durch den Gott präsentiert, der allein über das Schicksal der Menschheit waltet, tritt damit ein Totemkult, der auf die Macht des Adlers setzt. Dessen Kräfte eignen sich die Nationalsozialisten an, um sich in ihn zu verwandeln. Der gesichtslose SSMann mit dem Stahlhelm, der den Reichsadler auf dem Koppel trägt, scheint einen gefährlichen Raubvogel nachzuahmen, der regungslos verharrt, bevor er zum Angriff übergeht. Die politischen Leiter, die den Adler auf ihren Fahnenspitzen tragen, huldigen dem mächtigen Reichsadler auf der Tribüne, durch den das Stadion zu einer Kultstätte für den einsamen Herrscher der Lüfte wird.

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■ Hitlers Ansprache als Ausdruck einer schamanoiden Selbstinszenierung Wenn man sich auf die Bedeutungsebene dieser Bilder und Szenen einlässt, wie ist dann die Rede zu verstehen, die Hitler vor den Parteigenossen hält? Wie bereits ausgeführt wurde, geht Hitler mit der Rede von der »großen Not unseres Volkes« von dem Übel aus, das es zu behandeln gilt. Wenn er erklärt, es sei Außenstehenden »rätselhaft und geheimnisvoll, was diese – Hunderttausende – denn zusammenführt, was sie Not, Leid und Entbehrungen ertragen läßt« (Loiperdinger 1980, S. 114), dann äußert er sich nicht nur abfällig über die Parteigegner, sondern lässt seine Zuhörer auch ahnen, dass er selbst einen »rätselhaft-geheimnisvollen« Weg einschlägt, um das Übel zu beseitigen. Was bedeutet es unter diesen Umständen, wenn er laut schreiend in den Ausruf ausbricht: »Die Bewegung – sie lebt – und sie steht felsenfest begründet. Und solange auch nur einer von uns atmen kann, wird er dieser Bewegung seine Kräfte leihen« (Loiperdinger 1980, S. 115). Wie unsinnig Hitlers Worte auch auf einer diskursiven Bedeutungsebene sind, auf der von ihm in Anspruch genommenen präsentativen Bedeutungsebene archaischer Bilder erscheint dieser Auftritt sinnvoll. Denn wenn er zunächst das Übel beschreibt und dann erregt die Bewegung beschwört, dann tritt er wie ein Schamane auf, der einen Kranken von seinem Leiden heilt, indem er sich in eine Raserei versetzt, in der er die guten Geister anruft, um mit ihrer Hilfe die bösen Geister niederzuringen. Und weil die Feinde so mächtig sind, ist es erforderlich, alle zur nationalsozialistischen Bewegung zählenden Kräfte des Guten zusammenzurufen: »Dann wird zur Trommel die Trommel kommen, zur Fahne die Fahne, dann wird zur Gruppe die Gruppe stoßen, zum Gau der Gau, und dann wird endlich diese gewaltige Kolonne, die geeinte Nation nachfolgen […]« (Loiperdinger 1980, S. 115). Zwar gelingt es Hitler, die Kräfte des Guten zu einer gewaltigen Streitmacht zu vereinen, jedoch sind bis zum Erreichen des Ziels noch viele Hürden zu nehmen: »Es würde ein Frevel sein, wenn wir jemals sinken ließen, was mit so viel Arbeit, so viel Sorgen, so viel Opfern und so viel Not erkämpft und errungen werden mußte« (Loiperdinger 1980, S. 115).

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Wie der Schamane in der Ekstase den Kampf mit den bösen Geistern austrägt und sie besiegt, so dient auch Hitlers Geschrei dazu, die Beseitigung des Übels als einen Kampf mit dem Bösen darzustellen, dessen Niederlage mit der Beschwörung der wiederhergestellten sozialen Ordnung verknüpft wird, die zu erhalten alle Zuhörer verpflichtet werden: »Denn unser Gelöbnis an diesem Abend: Zu jeder Stunde, an jedem Tag nur zu denken an Deutschland, an Volk und an Reich, an unsere deutsche Nation« (Loiperdinger 1980, S. 118). Und wenn Hitler sich auf dem Höhepunkt seiner Ansprache auf den Gott bezieht, der das deutsche Volk geschaffen hat, und dabei der mächtige Reichsadler eingeblendet wird, dann stellt er sich nicht nur in die kulturelle Tradition, die durch das Wappentier symbolisiert wird, das schon in Rom als Zeichen Jupiters Sinnbild kaiserlicher Macht war und im Mittelalter zum deutschen Reichswappen wurde. Vielmehr ruft Hitler dadurch, dass er auf eine geheimnisvolle Weise die Kräfte des Guten gegen das mächtige Böse beschwört, auch jene älteste kulturelle Symbolwelt an, die in schamanistischen Kulturen durch den Adler verkörpert wird. Denn wie Eliade (1951, S. 79ff. u. S. 157ff.) berichtet, versucht der Schamane sich häufig einen magischen Körper in der Gestalt eines Vogels zu verschaffen, weil der Adler als Vater des Schamanen gilt und das Erscheinen eines Adlers daher als Zeichen schamanistischer Berufung betrachtet wird.

■ Der manifeste und latente Sinn von Hitlers Masseninszenierung ■ Der manifeste Sinn der Masseninszenierung Auf der Grundlage dieser szenischen Interpretation lassen sich die Wünsche fassen, die auf der manifesten Bedeutungsebene dieser Filmsequenz inszeniert werden: Die Parteifunktionäre versammeln sich zu einer Massenkundgebung, bei der sie auf das Hereinbrechen der Nacht warten. Und wie einer Anfangsszene dieser Filmsequenz zu entnehmen ist – die Kamera blendet diese Szene

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dreimal ein (vgl. Loiperdinger 1980, S. 110f.) –, bedeutet das, dass sie eine Treppe in das Stadion hinabsteigen, das schon die hereinbrechende Dunkelheit erfasst hat. Warum haben Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer diese Szene des Hinabsteigens in das dunkle Stadion, über dem noch ein heller Nachmittagshimmel steht, als faszinierend empfunden? Das szenische Arrangement legt die Antwort nahe, dass die Marschierenden die Helligkeit des Tages, die unserem Wachbewusstsein entspricht, bereitwillig aufgeben und sich mit dem Abstieg in das Stadion dem dunklen Keller unbewusster Impulse überlassen, die normalerweise nur nachts im Zuge der Traumarbeit zugelassen werden. Zu untersuchen ist, wodurch in dieser Situation das Wiederauftauchen archaischer Affekte provoziert wird: einmal durch die Militärmusik, die die Körper der Versammelten einem monotonen Rhythmus unterwirft, zudem dadurch, dass die Versammelten zum Bestandteil einer riesigen schwarzen Masse werden, über der sich nur noch das düstere Firmament wölbt, auch dadurch, dass die Versammelten sich in einer tempelartigen Kultstätte aufhalten, die von dem in hellem Licht erstrahlenden Reichsadler beherrscht wird, und schließlich durch Hitlers Auftritt, im Zuge dessen er die »große Not unseres Volkes« beklagt, mit seinen Händen wild gestikuliert und sie zu Fäusten ballt, um laut schreiend zu beschwören, dass sich allein mithilfe der Bewegung das Übel heilen lasse. Unter dem Eindruck der damit evozierten Bilder, magischen Formeln und Zeremonien überlassen die Versammelten sich atavistischen Affekten: Sich dadurch einzigartig und stark zu fühlen, dass sie sich selbst die Macht des Adlers, in dessen Namen Hitler spricht, aneignen und sich in ebensolche gewaltige Raubvögel verwandeln, die sich auf der Suche nach Beute in die grenzenlosen Weiten der zu bestehenden Gefahren aufschwingen.

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■ Auf der Suche nach dem latenten Sinn der Massen-

inszenierung. Zugleich ein Beispiel für eine tiefenhermeneutische Gruppeninterpretation Die Frage, welche Lebensentwürfe in dem Mikrokosmos, der in dieser Filmsequenz gestaltet wird, als sozial anstößig gelten und daher auf die latente Bedeutungsebene verbannt werden, soll anhand einer Gruppeninterpretation beantwortet werden, in der sich der Zugang zu der zweiten Sinnebene, die sich dem manifesten Sinn der Massenveranstaltung widersetzt, auf die folgende Weise erschloss: Auf die Frage, was den Anwesenden zu der vorgeführten Filmsequenz einfällt, antwortete ein Seminarteilnehmer, dass er die Großkundgebung irgendwie als beängstigend und unheimlich empfunden habe. Auf ihn habe das dunkle Stadion nicht wie eine Bühne für eine pseudoreligiöse Veranstaltung, sondern wie ein Schlachtfeld gewirkt, die Parteifunktionäre mit den Fahnen hätten ihn an römische Legionäre erinnert, bei den Standarten habe er an senkrecht in den Himmel gehaltene Lanzen gedacht und die Art und Weise, mit der Hitler von seinem Podium aus den Aufmarsch der Parteigenossen betrachte, habe in ihm die Vorstellung geweckt, der Führer mustere vom Feldherrnhügel aus seine Truppen. Der Seminarleiter erwiderte, es werde also nicht nur eine pseudoreligiöse Veranstaltung, sondern auch ein pseudomilitärisches Ritual zelebriert; dann lasse sich der manifeste Sinn der Massenveranstaltung dadurch bestimmen, dass Hitler sich sowohl als ein neuer Messias als auch als ein mächtiger Feldherr in Szene setze. Der Seminarteilnehmer entgegnete, wie einleuchtend dieser Verstehenszugang auch sei, er treffe doch nicht das beklemmende Gefühl, das er beim Zuschauen empfunden habe. Auf die Frage, woran er denn festmache, dass er die Großkundgebung mit den politischen Leitern als bedrohlich erlebe, verwies der Seminarteilnehmer auf die Szene zu Beginn der Veranstaltung, in der zwei Kolonnen von Parteigenossen auf den Betrachter zukommen. Aufgrund der Kameraführung habe er die Phantasie entwickelt, wie ein kleines Kind auf einer Wiese zu stehen, auf das zwei gewaltige Heerhaufen zumarschieren. So, wie man in dieser Szene und in folgenden Szenen immer wieder zu den Männern mit den Standarten und Fahnen aufschaue, so habe er mit der Angstvorstellung

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reagiert, schon im nächsten Augenblick unter die Stiefel der Marschierenden geraten zu können. Damit war es dem Seminarteilnehmer gelungen, sein Erleben der Filmsequenz an einer konkreten szenischen Konstellation so festmachen, dass sich ein Zugang zum latenten Sinn erschloss: Zum manifesten Sinn gehört zweifellos die Selbstinszenierung der Partei als einer militanten Bewegung, die »aus den Erlebnissen und Erfahrungen, die der kämpfende Soldat im Weltkrieg gemacht hatte, […] die Grundlagen für einen neuen Staat und eine vollkommenere Ordnung menschlichen Zusammenlebens« gewinnen wollte (Sontheimer 1962, S. 93). Auf der latenten Bedeutungsebene geht es dagegen um die Drohung, dass derjenige, der sich den Nationalsozialisten entgegenstellt, einfach niedergetrampelt wird. Schüchtert der latente Sinn dieses Szenariums diejenigen ein, die in irgendeiner Weise an Kritik und Widerstand denken, so führt der manifeste Sinn vor, wie die Angst vor Vernichtung durch die NS-Bewegung überwunden werden kann. Die Lösung lautet, dass sich der Betrachter den sich im Stadion versammelnden Parteifunktionären nicht entgegenstellen darf, sondern sich ihnen anschließen muss. Reiht er sich in die aufmarschierenden Kolonnen ein, kann er zudem an der Macht der Nationalsozialisten teilhaben, die in der Filmsequenz so eindrucksvoll in Szene gesetzt wird. Die szenische Konfiguration, dass im weiteren Verlauf der Massenveranstaltung nur noch die Hakenkreuzfahnen zu sehen sind, nicht jedoch deren Träger, versinnbildlicht, wie die Parteifunktionäre in einer einzigartigen Masse aufgehen, die, so ein Seminarteilnehmer, wie eine Lavamasse den Hügel herabströmt, sich über die Senke des Stadions ausbreitet und die Tribüne mit Hitler umspült, die wie ein Felsen aus einer kochenden See herausragt. Die Bilder, auf denen die NS-Bewegung wie eine elementare Naturkraft wirkt, die im Bündnis mit den Unheil verkündenden Gewitterwolken diejenigen, die sich ihr entgegenstellen, niederwalzen wird, nehmen so dafür ein, was Hitler in seiner Rede propagiert: dass er kein Verständnis für die Andersdenkenden hat, die in seiner Großkundgebung eine autoritäre Veranstaltung sehen. Als befremdend wurde auch die Szene empfunden, in der die Kamera sich Hitler von hinten nähert und ihn aus einer solchen Entfernung zeigt, dass er angesichts der Menschenmassen vor ihm

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unscheinbar und verloren wirkt. Die Frage stellte sich, ob diese Kameraeinstellung nicht der Wirkung des Auftritts eines großen Volksführers abträglich sei. Dagegen wurde geltend gemacht, auf diese Weise werde doch die Botschaft übermittelt, dass Hitler ein einfacher Mann aus dem Volk sei, den sich jedermann zum Vorbild nehmen könne. Dieser Verstehenszugang steht im Einklang mit Adornos (1943) Beobachtung, ein Trick faschistischer Agitation bestehe darin, dass sich der Redner als »schwach und stark zugleich« darstellt: »[…] schwach: insofern jeder Einzelne aus der Menge als fähig erachtet wird, mit dem Führer sich zu identifizieren, der ihm darum nicht allzu überlegen sein darf; stark: insofern er das machtvolle Kollektiv repräsentiert, das durch die Einigung der Angesprochenen zustande gekommen ist« (Adorno 1943, S. 375). Wie einleuchtend es auch ist, dass in diesem Szenarium die »Imago des großen kleinen Mannes« aufgebaut wird (Adorno 1943, S. 375), ungeklärt bleibt die szenische Konstellation, dass mit dem Erleben, Hitler wirke in dieser Situation klein, der Eindruck kontrastiert, sich als Zuschauer dieser Filmszene stark und überlegen zu fühlen. Zurückzuführen ist diese Empfindung darauf, dass man den Aufmarsch im Stadion aus der Vogelperspektive betrachtet, dann mit der Kamera vom Himmel herabschwebt und schließlich von hinten auf Hitler und auf die vor ihm versammelten Menschenmassen herabschaut. Gerade deshalb, weil man sich in dieser Szene in der überlegenen Position der das Ganze überschauenden Zuschauer befindet, wirkt Hitler um so unscheinbarer. Eine Seminarteilnehmerin bemerkte, die Szene mache auf sie den Eindruck, das Kinopublikum solle sich des Führers annehmen. Diesen Verstehenszugang bestätigte ein Seminarteilnehmer durch den Einfall, dann sei nachvollziehbar, weshalb Hitler den Zuschauern den Rücken zukehrt: Die Bilder versetzen in die Sichtweise des das Geschehen insgesamt überschauenden Filmpublikums, in dessen Macht es liegt, sich für Hitler zu entscheiden und ihm den Rücken zu stärken. Die Frage, ob dieser Deutungsversuch zum Verständnis des manifesten oder des latenten Sinns beiträgt, klärte sich im Anschluss an den Einfall einer Seminarteilnehmerin: Wenn dieses Szenarium dazu auffordert, Hitler als Führer zu bestätigen und ihn in dieser Rolle zu unterstützen, dann werben die-

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se Bilder für die antiautoritäre Botschaft, die Hitler in seiner Rede übermittelt; dass nicht der Staat den Nationalsozialisten befehle, sondern sie und die sich auf das Geschehen einlassenden Zuschauer Anteil an einer populistischen Bewegung haben, die dem Staat befehle und sich ihren Führer selbst wähle. Somit verdeutlicht dieser Verstehenszugang, wie eine irritierende Filmszene auch zur Vertiefung der auf der manifesten Bedeutungsebene arrangierten Lebensentwürfe führen kann.

■ Zum Verhältnis von manifestem und latentem Sinn Abschließend ist zu bestimmen, wie sich die Bedeutung dieser Filmsequenz in der Spannung zwischen manifestem und latentem Sinn entfaltet: Während auf der manifesten Bedeutungsebene vorgeführt wird, wie die Parteifunktionäre in einer großartigen Bewegung aufgehen, die wie eine Lavamasse einen Hügel herabströmt, um sich dann in die Senke des Stadions zu ergießen, geht es auf der latenten Bedeutungsebene um die Drohung, dass vernichtet wird, wer sich dieser Bewegung entgegenzustellen wagt. Gerade da, wo in den Kinozuschauern die Angst geweckt wird, unter den Stiefeln der uniformierten Männer zertreten zu werden, wird ihnen zugleich suggeriert, dass unerfüllbare Wünsche nach Freiheit und Größe in Erfüllung gehen können. Denn wer sich dem Führer unterwirft und sich in die marschierenden Kolonnen einreiht, gelangt in den Genuss eines ozeanischen Gefühls grenzenloser Verbundenheit mit der Welt, aufgrund dessen er sich einzigartig und allmächtig fühlen kann.

■ Theoretische Schlussfolgerungen: Zur Sozial-

psychologie eines charismatischen Volksführers Wie wurde also verfahren? Ohne theoretische Begriffe zu verwenden, wurde die szenische Struktur zweier Filmsequenzen vor dem Hintergrund der Wirkung des Films auf das Erleben einer Gruppe von Rezipientinnen und Rezipienten und ihrer Einfälle zu beiden

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Szenenfolgen rekonstruiert. Erst im Zuge der abschließenden Bestimmung des manifesten und latenten Sinns der Massenveranstaltung mit den politischen Leitern wurde auf theoretische Begriffe zurückgegriffen. So konnte eine lebendige Erfahrung der Sache selbst erschlossen werden, weil der Interpretationsprozess nicht durch eine subsumtionslogische Verfahrensweise abgekürzt wurde. Zu beantworten bleibt die Frage, welche theoretischen Schlüsse sich aus der szenischen Fallrekonstruktion ziehen lassen.

■ Die Inszenierung eines charismatischen Volksführers Die Analyse zeigt, dass man Hitler mit Max Weber (1922b) als einen charismatischen Führer begreifen kann (vgl. König 1990). Bereits das durch die Wolkenbilder bestimmte Szenarium entführt die Zuschauer in eine außeralltägliche Welt, die atmosphärisch auf die Ankunft eines charismatischen Führers einstimmt, der, weil er mit dem Flugzeug vom Himmel herabsteigt, mit »übernatürlichen« oder »übermenschlichen« Qualitäten begnadet oder »gottgesandt« zu sein scheint (Weber 1922b, S. 140). Sowohl das in strahlendes Sonnenlicht getauchte Wolkengebirge zu Beginn der ersten Filmsequenz als auch das die zweite Filmsequenz eröffnende Szenarium, das durch das kurze Aufleuchten der Sonne bestimmt wird, die sogleich hinter einer düsteren Wolke verschwindet, stellen bedeutsame Naturereignisse dar, die offenbaren, dass Hitler »in der Gnade des Himmels« steht (Weber 1922a, S. 161). Wenn Hitler sich in der zweiten Szenenfolge darauf beruft, dass er die Befehle jenes Gottes entgegennehme, der dieses Volk geschaffen habe, dann setzt er sich erneut als ein neuer Messias in Szene. Und wenn die Großkundgebung darüber hinaus zur Bühne für einen die Macht des Adlers zelebrierenden Totemkult wird und Hitler in eine Raserei gerät, in der er die »guten Geister« der Bewegung gegen die bösen Geister anruft, die sich gegen die Feinde des deutschen Volkes verschworen haben, dann bedient er sich auch des »Charismas eines Schamanen« (Weber 1922a, S. 161).4 Die 4 So führt die szenische Fallrekonstruktion am konkreten Material vor, wie zutreffend die Einschätzung von Elias (1989b, S. 500) ist, Hitler habe »eine

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Zehn- und Hunderttausende von Uniformierten, die das reibungslose Funktionieren des Parteitags ermöglichen und vor Hitler zum Appell antreten, bilden eine mächtige Gefolgschaft, die von seinen charismatischen Begabungen überzeugt und ihm rückhaltlos ergeben ist. Die in der Gruppe der Interpretinnen und Interpreten als auffällig bezeichnete szenische Konstellation, dass die auf den Führer wartende Masse nicht abwartet, bis sie Hitler sieht, sondern bereits in Jubelgeschrei ausbricht, als das Flugzeug noch auf der Landebahn ausrollt, dramatisiert, wie sehr auch das Volk dem Führer Charisma zuspricht. Die Begeisterungsstürme, die Heilrufe und die zum Hitlergruß in die Höhe fliegenden Arme, eine Bewegung, die immer wieder wie eine Welle durch die Menge geht, bestätigen den Eindruck, dass Hitler sein Charisma der »aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborenen gläubigen, ganz persönlichen Hingabe« der Masse verdankt (Weber 1922b, S. 140). Mit der Spitze gegen diejenigen, die nicht verstehen, was die Begegnung zwischen dem Führer und seinen Männern bedeutet, stellt Hitler sich zudem dadurch als charismatischer Führer dar, dass er die Andersdenkenden als »Pflichtwidrige« behandelt (Weber 1922b, S. 140), von denen er Glaube und Anerkennung fordern kann. Denn charismatische Machtausübung ist »durchaus autoritären, herrschaftlichen Charakters« (Weber 1922a, S. 161). Wenn auf Kirchturmspitzen Hakenkreuzfahnen flattern, wenn die Männer in der uniformierten Gefolgschaft des Führers so willig aufgehen, wie die Frauen ihm zujubeln und ihm Kinder schenken wollen, wenn Hitler zudem in seiner Rede betont, nicht der Staat befehle den Nationalsozialisten, sondern sie würden dem Staat sehr ähnliche Funktion« wie »ein Schamane in einfacheren Stammesgruppen« übernommen: Da sich »besonders in kritischen Situationen […] die Massen der Bevölkerung, selbst in den ›fortgeschrittensten‹ Nationen, von Gefahren bedroht« fühlen, »deren Eigenart sie kaum besser verstehen als einfachere Stammesgesellschaften die Gefahren von Überschwemmung und Gewitter, Dürre oder Krankheit«, hätten sie in Hitler einen »politischen Medizinmann« gesehen (S. 500f.), »der einem die Last der Verantwortung von den Schultern nahm und sie sich selbst aufbürdete, der sich anheischig machte, alle nationalen Hoffnungen und Wünsche, alles Sehnen nach einem Ende der Demütigung Deutschlands, nach einer neuen Größe, einer neuen Macht wie mit Zauberhand zu erfüllen« (S. 499).

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befehlen, dann geben Bilder und Rede der Partei den Anstrich einer modernen Massenbewegung (vgl. Dahrendorf 1968), die den Kampf gegen die tradierten religiösen und familiären Bindungen im Dienste der Gleichschaltung der Menschen aufnimmt. Da in den Massenorganisationen der Partei alle sozialen und regionalen Differenzen unter der Parole der Volksgemeinschaft eingeschmolzen werden, erweist sich Hitler auch dadurch als charismatischer Führer, dass er die sozialen Verhältnisse durch den Sturz der traditionalen Ordnung »revolutioniert« (vgl. Weber 1922b, S. 141f.).

■ Die Inszenierung narzisstischer Wünsche nach

Größe, Macht und Einssein Nachdem mit Weber vergegenwärtigt wurde, dass Hitler als charismatischer Führer in Szene gesetzt wird, an den die ihm ergebenen Massen bedingungslos glauben, ist mit Freud zu fragen, wie dieser Glaube an den Führer über die Mobilisierung der Emotionen der Massenindividuen hergestellt wird. Da charismatische Herrschaft auf »affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihrer Gnadengaben« beruht (Weber 1922a, S. 159), lässt sich die Frage, warum die Hitler zugesprochenen Qualitäten »als Charisma galten und wirkten« (Weber 1922a, S. 161), dadurch beantworten, dass die durch die tiefenhermeneutische Inhalts- und Wirkungsanalyse dechiffrierten Lebensentwürfe, an die Hitlers charismatische Masseninszenierungen anschließen, auf einen der Sache angemessenen psychoanalytischen Begriff gebracht werden. Zu betrachten ist zunächst die erste Filmsequenz: Da die Wolkenbilder dazu einladen, sich der Phantasie des Fliegens und der Vorstellung eines großartigen Naturerlebens zu überlassen, wird hier der primärnarzisstische Wunsch aufgegriffen, die in der sozialen und politischen Krisenlage der dreißiger Jahre gemachten Erfahrungen der Ohnmacht und Angst durch ein einzigartiges Erleben von Sicherheit und Macht zu überwinden, das durch die Verbindung des eigenen Selbst mit dem kosmischen Element der Luft möglich ist (vgl. Argelander 1971). Mit der grandiosen Vorstellung, sich in unendliche Weiten auszudehnen, taucht das Kinopublikum in eine phantastische Welt ein, die sich über die in der

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Realität geltenden Gesetze des Raumes, der Zeit und der Kausalität hinwegsetzt. Wenn das Filmpublikum mit Hitlers Landung auf dem Flugplatz aus diesem Traum erwacht, dann tritt ihm mit dem vom Himmel herabgestiegenen Messias ein Führer entgegen, der das Abschiednehmen von dieser primärnarzisstischen Vorstellungswelt erleichtert. Denn die Bilder fordern dazu auf, auf ihn die durch die erste Szene geweckten Größen- und Allmachtsphantasien zu übertragen. Wenn der an der Spitze einer Autokolonne durch Nürnberg fahrende Führer, der die Ovationen der ihm wie begeisterte Kinder zujubelnden Bevölkerung ernst und gelassen entgegennimmt, als der in der Not erschienene Retter des Volkes idealisiert wird, dann wird er »wegen der Vollkommenheiten« geliebt, »die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte« (Freud 1921, S. 105). Die szenische Konfiguration, dass das Filmpublikum hinter Hitler stehend miterleben kann, wie die Massen ihm zujubeln, verdeutlicht, wie die Kinozuschauer aufgrund einer narzisstischen Identifikation mit Hitler an dessen Größe und Einzigartigkeit partizipieren können. Nachdem Hitler als die strahlende Lichtgestalt in Szene gesetzt worden ist, die an die Stelle des eigenen Ich-Ideals rückt, wird er auch als der starke und männliche Führer in Szene gesetzt, der dadurch, dass er Opfer verlangt, an die ödipale Vaterbindung der Versammelten anknüpft. So stellen die regungslos vor dem Hotel verharrenden SS-Posten ein eindrucksvolles Monument für ergebene Söhne dar, die sich der väterlichen Autorität des Führers bedingungslos unterworfen haben und die dazu entschlossen sind, die gegen ihn aufkommende Aggression gegen deren Feinde zu richten, sobald es befohlen wird. Eine ödipale Vaterfigur, die es zu bewundern und selbstlos zu lieben gilt, ist Hitler zudem für die ihm hingebungsvoll zujubelnden Frauen sowie für die Frau, die den Führer mit dem Blumenkranz ihr Kind schenkt. Dem manifesten Sinn dieser Szenenfolge, dass der den eigenen Idealvorstellungen entsprechende Führer das Publikum aus dem Traum von Größe und Macht weckt, den sie im Zusammenspiel mit Flugphantasien genossen haben, und ihnen sodann als ein strenger Vater entgegentritt, der das Triebverzicht verlangende Re-

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alitätsprinzip verkörpert, widersetzt sich der latente Sinn. Denn der Einsatz eines großen Organisations- und Parteiapparats macht Nürnberg zur Hintergrundkulisse für eine gigantische Machtentfaltung, die mit einer beängstigenden Gleichschaltung der in Uniformen steckenden Männer und den als begeisterte Zuschauerschaft vereinnahmten Frauen einhergeht. Weil über den latenten Sinn, dass die Nationalsozialisten Angst und Schrecken verbreiten, der manifeste Sinn hinwegtäuscht, dass die Deutschen unter Hitlers Führung erwachen und aus ihrer Not befreit werden, weichen die Einwände der Vernunft dem erhebenden Glauben an einen charismatischen Führer, dem man die eigene Unterwerfung und selbstlose Opfer schuldig ist. In der zweiten Filmsequenz schließen sich die politischen Leiter zu einer Masse zusammen, die den Hügel herabströmt und das Stadion mit einem Fahnenmeer ausfüllt, in dem die Versammlungsteilnehmer untergehen. Die Szenerie versinnbildlicht, dass die Parteifunktionäre auf den archaischen Wunsch regredieren, mit der Gruppe als einer allmächtigen Mutter zu verschmelzen. Wie es Anzieu (1971) formuliert hat, wird die Gruppe der vor Hitler zum Appell angetretenen Männer damit »zu jenem sagenhaften Ort, an dem alle Wünsche sich erfüllen« (zit. nach Chasseguet-Smirgel 1975, S. 84). In der Rolle eines Schamanen, der sich der Macht des Adlers bedient, um den aus einem zerrissenen Volk stammenden Männern neue Kraft einzuhauchen, übernimmt Hitler eine mütterliche Rolle, der entsprechend er sich so besorgt um das in Not geratene Volk kümmert, wie er dessen Leiden heilt, indem er gleichsam zur »Hebamme« der nationalen Wiedergeburt wird. Wenn Hitler die Rede mit dem Aufruf zum Schwur beendet, »an jedem Tag« und »zu jeder Stunde« nur zu denken »an Deutschland, an Volk und an Reich, an unsere deutsche Nation«, dann findet er Worte für den Wunsch aller Versammlungsteilnehmer nach narzisstischer Verschmelzung mit der Nation. Der von diesem Geschehen mitgerissene Kinozuschauer wird so zum Zeugen eines eindrucksvollen Erlebnisses, das die bei der Großkundgebung versammelten Parteigenossen verbindet: das regressive Verlangen nach Verschmelzung und Einssein, dementsprechend die Teilnehmer der Großkundgebung sich als Teil einer großartigen und allmächtigen Bewegung fühlen

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können, die sich unter dem Zeichen des Adlers die Welt unterwerfen wird. Während das Ausleben narzisstischer Größen- und Allmachtsphantasien manifest ist, erweist sich als latent die Gewalt der Bewegung, die rücksichtslos Unterwerfung fordert. Die Szene, in der die versammelten Parteifunktionäre auf den Betrachter loszumarschieren scheinen, dramatisiert auf der Wirkungsebene der Bilder, dass jeder Widerstand zwecklos ist und das eigene Überleben von der Fähigkeit zur autoritätsgebundenen Identifikation mit den übermächtigen Aggressoren abhängt. Ganz in diesem Sinne stellt Hitlers Auftritt in der Szene, in der er sich auf einen göttlichen Befehl bezieht und dann der Reichsadler eingeblendet wird, die Neuauflage des ödipalen Vaters dar, der in aller Strenge die Ordnung des Gesetzes exekutiert, das durch das Wappentier des Dritten Reichs verbildlicht wird. Wie Hitler das idealisiert, was er durch die Großkundgebung in Gang setzt, offenbaren seine irritierenden Worte, dass die politischen Leiter nur dem »Gebot ihres Herzens« folgen. Mit dieser theatralischen Leerformel findet Hitler einen Ausdruck dafür, was auf der latenten Bedeutungsebene der Massenveranstaltung in Gang gesetzt wird: Während dem Herzen zu folgen heißt, im Einklang mit dem Unbewussten eigene Gefühle zu empfinden, geht es bei Geboten um Ansprüche des Über-Ich, die auf der Verinnerlichung sozialer Normen und Werte beruhen. Wenn Hitler meint, die Teilnehmer würden dem »Gebot ihres Herzens« folgen, dann begeistert er sich dafür, dass die Versammelten nicht ihrem eigenen Willen folgen, sondern es hinter dem Rücken ihres Ich zu einem stabilen Kurzschluss zwischen den durch die Massenveranstaltung geweckten ödipalen Triebimpulsen und den Imperativen des Über-Ich kommt, die Hitler durch seine moralisierenden Appelle abruft. Der Vergleich beider Filmsequenzen verdeutlicht das Gemeinsame: Ob im Zusammenspiel mit den Wolkenbildern primärnarzisstische Wünsche abgerufen oder in der Großkundgebung mit Hitler frühinfantile Verschmelzungssehnsüchte ausagiert werden, in beiden Fällen werden auf der manifesten Bedeutungsebene des Films unerfüllbare Lebensentwürfe aufgegriffen und als realisierbar präsentiert. Dieser Sachverhalt bestätigt Adornos (1951, S. 58) Einschätzung, dass Hitlers Stärke auf seiner »Fähigkeit« beruhte,

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das, was in den Massenindividuen »latent ist, ohne ihre Hemmungen auszudrücken«. Auf die latente Bedeutungsebene der über den Film inszenierten Parteitagszeremonien wird dagegen verbannt, was im Alltag manifest ist: Dass die Massenveranstaltungen mit den endlosen SA-Kolonnen und den martialisch wirkenden SAMännern Angst erzeugen und sich die Stimme der Vernunft gegen dieses Spektakel und die unsinnige Hitlerrede regt, stellt die Parteitagsfeier infrage und wird auf die latente Bedeutungsebene verbannt. Auf diese Weise decken sich die Ergebnisse der Fallrekonstruktion mit den durch eine andere Fallrekonstruktion gewonnenen Einsichten, im Zuge derer untersucht wurde, wie Hitler Jugendliche anspricht. Bei dieser szenischen Interpretation wurde nämlich deutlich, wie sich die Nationalsozialisten die Jugendlichen durch die Nachahmung archaischer Initiationsrituale autoritär unterwerfen. Während der manifeste Sinn der Hitlerkundgebung mit den Jugendlichen verheißt, dass sie durch ihn Freiheit und Unabhängigkeit erlangen und ganze Männer werden können, fordert der latente Sinn dazu auf, ihm »bis in den Tod hinein bedingungslos ergeben zu sein« (König 1995b, S. 68). Wie in der vorliegenden Fallrekonstruktion versöhnt auch dort mit dem latenten Sinn, sich Hitler rückhaltlos unterwerfen zu müssen, der manifeste Sinn, dass er ein einzigartiger Führer ist, der sich der Jugend so verständnisvoll und verantwortlich annimmt wie seines Volkes insgesamt.5 So spiegelt das Außeralltägliche der Parteitagsfeiern wider, dass die sich in der Spannung zwischen manifestem und latentem Sinn entfaltende Doppelbödigkeit des Alltags auf den Kopf gestellt wird: In den Massenveranstaltun5 Beide Fallrekonstruktionen bestätigen die in einer Vorstudie (vgl. König 1990) entwickelte These, dass es sinnvoll ist, die Eigenart von Hitlers Masseninszenierungen im Rückgriff auf Weber und Freud zu bestimmen. Freilich widerlegen sie auch den dort unternommenen Versuch einer ersten Bestimmung des manifesten und latenten Sinns von Hitlers Masseninszenierungen (vgl. König 1990, S. 165ff.). Denn was damals als latenter Sinn vermutet wurde, dass Hitler eine väterliche und mütterliche Position übernimmt, hat sich als die dunkelste Facette des manifesten Sinns erwiesen, der insgesamt über den latenten Sinn der Großkundgebungen hinwegtäuscht, die unter Androhung von Gewalt bedingungslosen Gehorsam verlangen.

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gen werden die Lebensentwürfe manifest, die im Alltag als unerfüllbare Größenphantasien und unterdrückte Triebregungen latent bleiben; und die Lebensentwürfe, die im Alltagsleben manifest sind, weil sie die diskursive Verständigung der Akteure ermöglichen und im Einklang mit den von ihnen geteilten Werten stehen, werden im Zuge des Parteitagsgeschehens auf die latente Bedeutungsebene verwiesen.

■ Die der Massenwirksamkeit von Hitlers charismatischen Inszenierungen zugrunde liegende soziale und historische Situation Zu der Frage, wie die historische und soziale Situation beschaffen war, in der Hitlers charismatische Masseninszenierungen so erfolgreich waren, ist zweierlei zu sagen: 1. Wie sehr auch Webers Einschätzung zutrifft, dass die europäische Geschichte von der sich mit der Entwicklung von Wissenschaft und Technik durchsetzenden Rationalisierung aller Lebensbereiche abhängt, als die Kehrseite dieser Entzauberung der Welt lässt sich mit Horkheimer und Adorno (1947, S. 263) die »unterirdische« Geschichte beschreiben, die »im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften« besteht. Wie die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung technologischer Rationalität und der naturwissenschaftlichen Deutung der Welt zu einer »Ausgrenzung der Sinnlichkeit« aus der auf instrumentelles Denken und strategisches Handeln reduzierten menschlichen Praxis geführt hat (Lorenzer 1981, S. 107), so sind die religiösen Mythen nicht nur als Deutungssysteme objektiver Weltzusammenhänge, sondern auch als Bedeutungsträger individueller Wünsche und kollektiver Träume entzaubert worden. Was aus der Welt diskursiver Welterkenntnis als die irrationale Welt der Phantasie und der Triebe ausgegrenzt wurde, verschmolz mit den Resten der mythischen Weltdeutung zu einem »irrationalen Bodensatz im Alltagsbewußtsein« (Lorenzer 1981, S. 133), der durch die Nationalsozialisten aufgegriffen wurde, die mithilfe

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moderner technischer Mittel Massenveranstaltungen organisierten, in denen die alten Mythen, Kulte und Symbole auf neue Weise zelebriert wurden. Konkret heißt das, dass die Nationalsozialisten den politischen Stil eines neu erwachten nationalen Bewusstseins aufgegriffen haben, der, wie Mosse (1975, S. 11f.) ausgeführt hat, seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts von der antiparlamentarischen Bewegung im Gegenzug zu der auf die französische Revolution zurückgehenden Freiheitsbewegung entfaltet wurde. Während das Versagen der Weimarer Republik zu illustrieren schien, dass »eine parlamentarische Regierung nach dem Repräsentativsystem« dazu »geeignet« schien, »die Menschen und die Politik aufzusplittern« und den Willen des Volkes in einen blutleeren »Rationalismus der Regierungsangelegenheiten« aufzulösen, sprach der Nationalsozialismus die Emotionen der Massen durch eine »Ästhetik der Politik« (Mosse 1975, S. 32) an, die den Willen des Volkes über die »aktive Teilnahme an der nationalen Mystik mittels Riten und Feiern« zu realisieren versprach (Mosse 1975, S. 11). 2. Zum ersten Mal anfällig wurden die Massen für Hitlers kultisch zelebrierte Großkundgebungen in der Unsicherheit und Angst erzeugenden sozialen und politischen Krisenlage zu Anfang der dreißiger Jahre. Dabei ist zu beachten, dass das Vertrauen in die rationale Herrschaft des Weimarer Parlamentarismus zusammengebrochen war, nachdem die grauenvolle Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der Schrecken über die militärische Niederlage den Glauben an die traditionale Herrschaft des gottgewollten Kaiserreichs erschüttert hatte. Wie sehr der erregten Stimmungslage der Massen das Auftreten eines die Nation erlösenden charismatischen Führer entgegenkam, der als mit »magisch« geltenden Qualitäten des »Übernatürlichen« und »Übermenschlichen« begnadet erschien (Weber 1922b, S. 140), dokumentiert das Wiederaufflammen magischer Wünsche in der damaligen Krisenlage. Das Verlangen nach okkultistischen Trostangeboten war in den dreißiger Jahren so groß, dass es, wie Olden (1935, S. 238) berichtet, allein in Berlin über 3.000 »Heil- und Fernseher, Schriftdeuter, mediale Personen, Spiritisten, Kartenleger, Parapsychologen, Horoskopsteller« gab:

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»Es war die Zeit, in der ein Bericht der hamburgischen Landeskirche darüber klagte, der Hexenglauben breite sich von neuem aus. Alte Frauen, selbst wenn sie fleißig zur Kirche gingen, würden als Zauberinnen respektiert oder auch verfolgt. Bei Krankheiten von Mensch und Vieh würden sie oder Hexenmeister zum Besprechen und nicht Ärzte oder Tierärzte zu verständiger Behandlung hergeholt« (Olden 1935, S. 238). Diese magischen Wünsche, die von einer Vielzahl von Scharlatanen kommerziell ausgeschlachtet wurden, politisierte Hitler, indem er sich als ein charismatischer Volksführer in Szene setzte, der nicht nur als vom Himmel niedergefahrener neuer Messias auftrat, sondern auch einen die Massen faszinierenden Zauberer spielte. Über dem Vergleich Hitlers mit einem Schamanen sollten freilich die Differenzen nicht übersehen werden: Eliades (1951, S. 229) Ausführungen zeigen, dass in archaischen Kulturen ein Schamane über das Ritual der Ekstase das »geistige Gleichgewicht« der Gemeinschaft auf magisch-symbolische Weise wiederherstellt, das durch die den Dämonen zur Last gelegten Krankheiten und Unfälle gestört wird. Hitler spielt dagegen in einer hoch industrialisierten Zivilisation einen Schamanen, um die versammelte Masse in einen Zustand emotionaler Erregung zu versetzen, in dem sie für eine politische Agitation empfänglich ist, die barbarische Ziele verfolgt. Während ein Schamane mit seinen magischen Praktiken die äußere Natur mimetisch nachahmt, um die durch einen Konflikt bedrohte Selbsterhaltung der Gruppe zu sichern, imitiert Hitler einen Schamanen. Horkheimer und Adorno (1947, S. 214) haben deshalb von einer »Mimesis der Mimesis« gesprochen: Hitler ballt die Fäuste, er schlägt mit der Hand um sich und stimmt ein moralsierendes Geschrei an, um an die Stelle politischer Maßnahmen, die gesellschaftliche Veränderungen einleiten könnten, die magische Beschwörung eines mächtigen Willens zu setzen, von dem die nationale Wiedergeburt abhänge. Die Tatsache, dass Hitler dem Film den Titel »Triumph des Willens« gegeben hat, offenbart, wie zentral für seine politische Agitation die im Kultus des Willens zum Ausdruck kommende magische Beschwörung von Wünschen war: Während es in der Weimarer Republik keinen »politischen Willen« gegeben habe, weil die »bisherige Partei[en]-welt« die Nation in ei-

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ne Unzahl einander widerstreitender Interessen »zertrümmert« habe (Domarus 1973, S. 85f.), hänge der Wiederaufstieg Deutschlands davon ab, dass man der »Zersplitterung des deutschen Lebens in kleinste Gruppen […] wieder einen großen geschlossenen Willen der Nation« entgegensetze (Domarus 1973, S. 181f.).

■ Die Funktionalisierung bewusster und unbewusster Lebensentwürfe durch Führerkult und Weltanschauung Zu erörtern ist schließlich das von Broszat und Elias nicht gelöste Problem, wie im Fall von Hitlers Masseninszenierungen Psychopathologie und objektive Verblendung zusammenhängen. Zunächst ist zu fragen, wie in diesem Film unerfüllte Triebwünsche instrumentalisiert werden: Folgt man den Ergebnissen der Fallrekonstruktion, dann fasziniert Hitler, weil er über die autoritäre Unterwerfung der Masse hinwegtäuscht, indem er die Befriedigung narzisstischer Wünsche nach Größe, Macht und Einssein verheißt. Zugleich werden über die charismatischen Masseninszenierungen auch weltanschauliche Überzeugungen propagiert,6 für die viele Deutsche empfänglich waren. So entsprach der Hitlermythos einem nationalistischen Denken, für das ein starker Führer, der Deutschland aus seiner Krise retten könne, eine Alternative 6 Der Begriff der Weltanschauung wird für die totalitäre Ideologie des Nationalsozialismus reserviert, um sie von den klassischen Ideologien vergangener Jahrhunderte zu unterscheiden. Während diese Manifestation eines »gesellschaftlich notwendigen falschen Bewußtseins« waren, das in seiner »Unwahrheit, als Ausdruck solcher Notwendigkeit […] auch ein Stück Wahrheit« war (Adorno 1961, S.161), an dem die Kritik sich abarbeiten konnte, zeichnen sich »totalitäre Ideologien« dadurch aus, dass »in solchem sogenannten ›Gedankengut‹ […] kein objektiver Geist sich« widerspiegelt, »sondern es ist manipulativ ausgedacht, bloßes Herrschaftsmittel« (Adorno 1956, S. 169). Schnädelbach (1969, S. 89f.) präzisiert diesen qualitativen Unterschied zwischen Ideologien und Weltanschauungen, die nach einer sozialpsychologischen Untersuchung verlangen, folgendermaßen: »Ohne Zweifel haben auch die klassischen Ideologien psychische Bedürfnisse befriedigt«, jedoch in einer »sublimeren« und »indirekteren« Weise,

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zum Parlamentarismus der Weimarer Republik darstellte. Hitlers Masseninszenierungen verknüpfen daher das Versprechen, grandiose Wünsche zu stillen, mit der völkisch-nationalen Antwort auf ein soziales und politisches Problem. Dieses Ineinandergreifen von phantastischen Wünschen und weltanschaulichen Versatzstücken wird dadurch kompliziert, dass Hitler seine Bedeutung als charismatischer Führer auch als Verkünder der Weltanschauung gewinnt. Wenn Hitler zum Beispiel in der Rede vor den politischen Leitern das »Gelöbnis« ablegt, »zu jeder Stunde, an jedem Tag nur zu denken an Deutschland, an Volk und an Reich, an unsere deutsche Nation«, dann beschwört er damit einen »politischen Mythos«, dessen »magische Leuchtkraft« die »vielleicht wirksamste Antithese gegen den Staat von Weimar« darstellte (Sontheimer 1962, S. 222f.). Denn der auf das Deutsche Reich des Mittelalters zurückgehende Reichsgedanke beschwört den Glauben an eine »weltgeschichtliche Sendung und Verantwortung des deutschen Volkes« (Sontheimer 1962, S. 236). Die Reichsidee zielte darauf ab, das zerrissene Europa unter Deutschlands Führung zu einen und zu befrieden, um auf diese Weise das Himmelreich auf Erden Wirklichkeit werden zu lassen. Wie analysiert wurde, beschwört Hitler mit dem Aufruf, immer nur an die Nation und das Reich zu denken, das Wiederauftauchen frühinfantiler Verschmelzungswünsche. Also wird auch über die weltanschauliche Indoktrination die Mobilisierung unerfüllter Wünsche mit der nationalistischen Antwort auf die soziale und politische Krisenlage verknüpft, die nicht durch sozialen Wandel, sondern durch die Schaffung eines Europa einigenden Reichs bewältigt werden soll. Der Zusammenhang, wie durch die Massenveranstaltung mit Hitler und durch die Weltanschauung grandiose Wünsche instrumentalisiert werden, lässt sich daher sozialisationstheoretisch folgendermaßen beschreiben: weil sie »Resultate rationaler Anstrengung« »psychisch gesunder Menschen« waren. Politische Wahnsysteme wie der Nationalsozialismus befriedigen hingegen die »elementaren psychischen Bedürfnisse« jener Individuen, die sich aufgrund der schwindenden Fähigkeit, »die gesellschaftliche Totalität zu durchschauen«, als ohnmächtig und orientierungslos erleben und in historischen Krisensituationen zu »irrationalen Reaktionen« neigen (Schnädelbach (1969, S. 90).

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Die Parteitagsinszenierungen der NSDAP waren so erfolgreich, weil durch die Großveranstaltungen mit Zehn- und Hunderttausenden von Menschen die von Freud zur gleichen Zeit analysierte soziale Situation der Massenbildung hergestellt wurde: Die Versammelten wurden von archaischen Wünschen überwältigt, regredierten auf das magische Erleben von Kindern und begeisterten sich aufgrund ihrer libidinösen Bindung an Hitler für diesen charismatischen Führer, der – wie die Filmbilder zeigen – wechselweise die Rolle einer verständnisvoll-besorgten Mutter, eines rettenden guten Vaters oder eines ins Gewissen redenden strengen Vaters einnahm. Und weil die Versammlungsteilnehmer verband, dass Hitler an die Stelle ihres Ich-Ideals und ihres Über-Ich trat, stellte die wechselseitige Identifikation das Gegenstück zur Liebe (Objektbeziehung) zum Führer dar. Auf diese Weise bildeten die Massenveranstaltungen mit Hitler eine Sozialisationsagentur, in der die Versammlungsteilnehmer aufgrund ihrer Regression auf eine infantile Erlebnisweise für die weltanschaulichen Botschaften empfänglich waren, die der Führer ihnen auf der präsentativen Bedeutungsebene sinnlich-bildhafter Inszenierungen und auf der diskursiven Bedeutungsebene sprachlicher Indoktrination übermittelte. Dieser Zusammenhang soll noch einmal anhand zweier Szenen verdeutlicht werden: Da die auf die Ankunft des Führers wartenden Frauen und Kinder das Erlebnis teilen, wie Hitler mit dem Flugzeug vom Himmel herabsteigt, fühlen sie sich als die Anhänger eines einzigartigen Führers, den sie als mit Charisma begnadet empfinden. Weil sie in dieser Massensituation das narzisstische Hochgefühl verbindet, dass vor ihren Augen ein guter Vater zur Erde niederfährt, um sie von ihrem Leiden unter sozialen und politischen Missständen zu erlösen, übernehmen sie auch die weltanschauliche Botschaft, dass nur ein starker Führer Deutschland aus seiner Notlage herausführen kann. Und da die politischen Leiter in der nächtlichen Großkundgebung unter dem Einfluss Hitlers, der durch seine schamanoide Selbstinszenierung als eine gute Mutter, die der Nation zur Wiedergeburt verhilft, von archaischen Verschmelzungssehnsüchten überwältigt werden, im Zuge derer die Gruppe der versammelten Männer zu einer Sicherheit und Wärme stiftenden Ersatzmutter wird, sind sie empfänglich für die von

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Hitler verkündete weltanschauliche Botschaft, dass sie für die Verwirklichung der Reichsidee kämpfen, derzufolge Deutschland »die Mutter der Völker« sei, »die unter tausend Schmerzen und Leiden immer neues Leben und neuen Segen in die Welt gesandt hat« (Sontheimer 1962, S. 227). Wie der vorliegenden Medienanalyse entnommen werden kann, bildeten die nationalsozialistischen Großkundgebungen mit Hitler eine Sozialisationsagentur, über die Individuen für eine irrationale Weltanschauung eingenommen wurden, die auf dreierlei Weise von ihrem Erleben Besitz ergriff: – Was der Einzelne als unerfüllbare Wünsche verwirft, verwandelt sich in der Massenveranstaltung mit Hitler in eine mit Händen greifbare Möglichkeit. Ganz in diesem Sinne spricht Freud (1921, S. 69) davon, dass das Individuum in der Masse »unter Bedingungen« kommt, die es ihm »gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen«. Die zuvor als phantastisch verworfenen Wünsche gelten als erfüllbar, weil sie im Zuge der weltanschaulichen Ausrichtung benannt und konkretisiert werden. Denn die Weltanschauung verheißt, dass mit dem Aufstieg Deutschlands zur führenden Macht in Europa jeder Deutsche die Chance erhält, an der einzigartigen Größe und Macht des zu errichtenden Dritten Reiches teilzuhaben. – Während der sich seinen Träumen überlassende Einzelne von seinen Mitmenschen isoliert ist, bewirkt die weltanschauliche Indienstnahme des Verlangens nach Größe, Allmacht und Einssein, dass der Einzelne in das durch politische Agitation hergestellte Bewusstsein einer Masse eingebettet wird. Wie irrational seine Phantasien auch sind, er hält sie nunmehr für realistisch, weil sie unter Nationalsozialisten sozial akzeptiert sind. – Zwar handeln die Hitler zujubelnden Massenindividuen nicht aufgrund einer Einsicht in ihre Bedürfnisse und in ihre soziale und politische Lage. Dennoch sind sie zum Handeln entschlossen und tun bereitwillig, was der Führer verlangt. Denn wie irrational auch Hitlers Antworten auf die sozialen Fragen sind, die Massenindividuen sind davon »tief bewegt«, weil er durch seine politische Agitation zugleich ihre unerfüllten Träume und unterdrückten Triebimpulse anzusprechen vermag.

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■ Die tiefenhermeneutische Fallrekonstruktion in der Perspektive von Adornos Analyse faschistischer Massenbildung Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der vorliegenden Fallrekonstruktion im Vergleich mit Adornos Arbeit zur Sozialpsychologie nationalsozialistischer Massenbildung ziehen? Adorno (1951, S. 46) ist der Meinung, »daß der faschistische Führertyp eigentlich keine Vaterfigur […] zu sein scheint«. Vielmehr handele es sich bei faschistischen Massenführern wie Hitler um eine narzisstisch geliebte Person, die nichts anderes »als eine Vergrößerung der eigenen Persönlichkeit, eine kollektive Selbstprojektion« sei (Adorno 1951, S. 47). Nun wäre es methodisch unzulässig, von der Fallrekonstruktion her darauf zurückzuschließen, wie Hitler wirklich war. Jedoch lassen sich Aussagen darüber machen, wie der Film Hitler als Massenführer inszeniert. Die tiefenhermeneutische Kulturforschung zeigt, dass Hitler verschiedenste Erlebnisweisen der Masse aufgreift und instrumentalisiert, indem er nicht nur die Rolle einer eigene Idealvorstellungen verkörpernden Person übernimmt, die sich in der Tat als eine narzisstische Vaterfigur erweist, sondern auch die Rolle einer guten Mutter spielt, die sich der Leiden des Volkes annimmt und ihm zu einer Wiedergeburt verhilft; schließlich tritt er auch als eine ödipale Vaterfigur auf, die ihren Zuhörern ins Gewissen redet und ihnen Opfer abverlangt. Adornos Beiträge zur Autoritarismusforschung (Adorno et al. 1950) waren Bestandteil der von Horkheimer und Flowerman herausgegebenen »Studies in Prejudice«, die von der Untersuchung des Antisemitismus als dem irrationalen Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgingen. Dagegen spielt der Antisemitismus in den analysierten Filmsequenzen keine Rolle, weil »Triumph des Willens« Bestandteil einer Massenpropaganda war, die an die Stelle der alten Kernbestände der sozial-reaktionären Weltanschauung die sozial-utopische Vision revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen rückte (vgl. Broszat 1970, S. 393ff.). Denn aus dem »Ghetto der kleinen extremistischen Radikalpartei« vermochte sich die NSDAP zu Anfang der dreißiger Jahre nur dadurch zu befreien (Broszat 1983, S. 61), dass sie den radikal-völkischen

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Antisemitismus, mit dem Hitler in den zwanziger Jahren Parteimitglieder gewonnen hatte, durch die »Bekämpfung […] des demokratischen Parteienstaates« und durch »die Parole sozialer und nationaler Wiedergeburt« ersetzte (Broszat 1970, S. 400). Wie die Analyse verdeutlicht, werden mit dieser sich im Film spiegelnden Modernisierung der politischen Agitation auch andere Wünsche aufgegriffen und instrumentalisiert. Dass in der antisemitischen Propaganda paranoide Ängste geweckt und politisiert werden (vgl. Horkheimer u. Adorno 1947, S. 217ff.), bedeutet, dass das weltanschauliche Angebot in Persönlichkeitsdefekte einhakt und die »objektive Verblendung« mit der »individuellen Pathologie« kurzgeschlossen wird (Lorenzer 1981, S. 122). In den untersuchten Filmsequenzen geht es hingegen nicht um die Instrumentalisierung einer Psychopathologie (wie auch von den Einschätzungen von Broszat und Elias her zu vermuten wäre), sondern um das Aufgreifen unerfüllter Lebensentwürfe, die in der erstrebten Volksgemeinschaft realisierbar erscheinen. Weniger auf die sich des Sprachmediums bedienende Vorurteilspropaganda setzt der Film als vielmehr auf das Bildmedium, über das noch nicht bewusst gewordene Lebensentwürfe aufgegriffen werden, ungestillte Träume, die mit der revolutionär wirkenden Vision nach »völkischer und sozialer Regeneration« verknüpft werden (Broszat 1970, S. 401). Damit wird eine weitere Differenz zu Adornos Analyse deutlich: Da »Triumph des Willens« auf die Macht der Bilder setzt, ist dieser Film ein Beispiel für eine nationalsozialistische Propaganda, in der der autoritäre Zugriff auf die Individuen durch das Versprechen der Befriedigung unerfüllter Wünsche überlagert wird. Die szenische Interpretation beider Filmsequenzen zeigt nämlich, dass über den latenten Sinn der Inszenierungen, der auf die masochistischautoritätsgeleitete Unterwerfung der Masse unter einen starken Führer hinausläuft, der manifeste Sinn hinwegtäuscht, der die Erfüllung narzisstischer Phantasien der Größe, Allmacht und des Einsseins mit der Welt verheißt. Die Massenwirksamkeit der NSPropaganda ist also nicht allein auf die Indienstnahme autoritärer Verhaltensbereitschaften zurückzuführen, sondern beruht auch auf der Instrumentalisierung einer Vielzahl unerfüllter Wünsche, denen im Zusammenspiel mit der Vision von dem zu verwirklichenden Reich die Erfüllung versprochen wurde.

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Zweifellos konfrontiert eine psychoanalytische Fallrekonstruktion Sozialwissenschaftler mit Anforderungen, die ihnen nicht vertraut sind. Denn so selbstverständlich Kulturforscher dem Nationalsozialismus gegenüber eine distanziert-ideologiekritische Haltung einnehmen, so leicht wird (wie die in den Gruppeninterpretationen aufgetretenen Widerstände gezeigt haben) es als Zumutung empfunden, sich emotional auf faschistische Agitation einzulassen. Aber nur dann, wenn man sich der Wirkung von Hitlers Masseninszenierungen auf das eigene Erleben aussetzt, lassen sich die Wünsche dechiffrieren, die die politische Agitation nationalsozialistischer Führer weckt und im Dienste der weltanschaulichen Propaganda funktionalisiert. Die vorliegende Analyse zeigt, wie mithilfe der Tiefenhermeneutik über exemplarische Einzelfalluntersuchungen neue Einsichten in die Sozialisationsleistung politischer Masseninszenierungen gewonnen werden können. Die beiden Szenensequenzen des Riefenstahl-Films illustrieren, wie über eine solche Fallrekonstruktion eine konkrete Antwort auf die sozialpsychologische Frage gegeben werden kann, warum Hitlers charismatische Masseninszenierungen faszinierten.

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Die Autoren

Priv.-Doz. Dr. phil. Hans-Joachim Busch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und vertrat von 2004–2006 eine Professur für Soziologie und Sozialpsychologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main. Priv.-Doz. Dr. phil. Angelika Ebrecht, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Psychologische Gutachterin, ist Privatdozentin am Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Dr. Dr. Rolf Haubl ist Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt am Main und Direktor des SigmundFreud-Instituts Frankfurt. Dr. Robert Heim ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt am Main und lehrt als außerplanmäßiger Professor Psychoanalyse und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Hannover. Prof. Dr. phil. Hans-Dieter König, Sozialwissenschaftler und Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Dortmund, lehrt Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main und ist Dozent am Düsseldorfer Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie. Emilio Modena, Arzt, Psychoanalytiker, Supervisor, arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis in Zürich. Prof. Dr. Johann August Schülein ist Ordinarius für Allgemeine Soziologie und Wirtschaftssoziologie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Prof. Dr. habil. Hans-Jürgen Wirth, Diplom-Psychologe, arbeitet als Psychoanalytiker und psychoanalytischer Paar-, Familien- und Sozialtherapeut in eigener Praxis in Gießen, lehrt als außerplanmäßiger Professor Psychoanalyse und Analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen und ist Gründer und Verleger des Psychosozial-Verlags in Gießen.