Analogie des Subjekts 9783495816110, 9783495486115

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Analogie des Subjekts
 9783495816110, 9783495486115

Table of contents :
Inhalt
Vorwort des Übersetzers
1. Zum Autor
2. Zum Entstehungshintergrund
3. Zur Übersetzung
4. Zur Interpretation
Zur Einführung
ANALOGIE DES SUBJEKTS
Vorwort
Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft
Erstes Kapitel: Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes
Zweites Kapitel: Abwesenheit und Analogie
Drittes Kapitel: Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung
Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik
Viertes Kapitel: Umkehrung der transzendentalen Apperzeption
Fünftes Kapitel: Kommunikative Transformation der transzendentalen Apperzeption
Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung
Sechstes Kapitel: Transzendentale Vereinigung und Alterität; oder: Das Eine und das Andere
Siebtes Kapitel: Erzählung und Kindheit
Achtes Kapitel: Metaphysische Äquivokation
Anhänge
Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie
I
II
III
IV
V
Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft: Noch ein Kapitel der Geschichte des ontologischen Beweises
Personenregister
Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti

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P

EICHSTÄTTER philosophische Studien

1

Marco M. Olivetti

Analogie des Subjekts

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495816110

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Inspiriert von Levinas, auf der Grundlage einer profunden Kenntnis der klassischen deutschen Philosophie (Kant, Fichte, Hegel, Jacobi) und in kritischer Auseinandersetzung mit der Diskursethik (Habermas, Apel), mit der Systemtheorie (Luhmann) und mit dem Seinsdenken (Heidegger) entwickelt Olivetti eine Konzeption von Intersubjektivität, welche in »äqui-voker« Weise einen sowohl empirischen als auch transzendentalen und metaphysischen Charakter hat und als solche einen »Transzendentalismus sui generis« zum Ausdruck bringt. Personale Subjektivität wird dabei verstanden als das Ergebnis einer »Analogisierung« seitens eines Anderen (alter ego), dessen personale Subjektivität immer schon selbst einer solchen »Analogisierung« zu verdanken ist. Vor dem Hintergrund dieser wesentlich »asymmetrischen« Konzeption von Intersubjektivität ist nicht nur Olivettis These von der »Zusammensetzung« bzw. dem »Zerfall« der »Gegenwart« in die eigene »Anwesenheit« (sum), in die »Prä-existenz« des Anderen (prae-es) und in die »Abwesenheit« der Gesellschaft (abest) zu verstehen, sondern auch sein Verständnis von Ethik als »erster oder vielmehr vorgängiger Philosophie« und seine Konzeption des Verhältnisses zwischen Religion und Gesellschaft.

Der Autor: Marco Maria Olivetti (1943–2006) war von 1979 bis zu seinem Tode Professor für Religionsphilosophie an der »Sapienza« Universität Rom und hat über viele Jahre hinweg die berühmten internationalen »Castelli-Kolloquien« organisiert. Er ist der Herausgeber einer italienischen Ausgabe von Kants »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« und von Fichtes »Versuch einer Kritik aller Offenbarung«.

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Marco M. Olivetti Analogie des Subjekts

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

P

EICHSTÄTTER philosophische Studien

1

Herausgegeben von Walter Schweidler

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Marco M. Olivetti

Analogie des Subjekts Aus dem Italienischen von Thomas Hünefeldt

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Die italienische Originalausgabe ist 1992 unter dem Titel Analogia del soggetto erschienen. © Editori Laterza

Deutsche Erstausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48611-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81611-0

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Inhalt

Vorwort des Übersetzers . . . . . 1. Zum Autor . . . . . . . . . . 2. Zum Entstehungshintergrund 3. Zur Übersetzung . . . . . . . 4. Zur Interpretation . . . . . .

. . . . .

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9 10 16 20 26

Zur Einführung, von Bernhard Casper . . . . . . . . . . . . . .

35

Analogie des Subjekts Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

I. Abwesenheit und Gesellschaft 1.

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes .

49

2.

Abwesenheit und Analogie . . . . . . . . . . . . . . . .

81

3.

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung . . . . . . . . . . .

115

II. Kommunikation und Ethik 4.

Umkehrung der transzendentalen Apperzeption

5.

Kommunikative Transformation der transzendentalen Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . 139 172 7

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Inhalt

III. Prä-existenz und Vorstellung 6.

Transzendentale Vereinigung und Alterität; oder: Das Eine und das Andere . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

7.

Erzählung und Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226

8.

Metaphysische Äquivokation . . . . . . . . . . . . . . .

262

Anhänge Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie .

307

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft: Noch ein Kapitel der Geschichte des ontologischen Beweises . . . . . .

331

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

361

Vorwort des Übersetzers

Das vorliegende Werk bedarf mehr als vergleichbare Übersetzungen anderer philosophischer Texte aus dem Italienischen eines einleitenden Vorworts seitens seines Übersetzers. Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil der Autor dieses Werks hierzulande noch relativ unbekannt sein dürfte, sondern vor allem auch deshalb, weil dieses Werk selbst aufgrund seines komplexen Entstehungshintergrunds, seiner sprachlichen Mehrdimensionalität und seiner philosophischen Vielschichtigkeit nicht leicht zu durchdringen und zu überschauen ist. Es wäre aber überaus bedauerlich, wenn diese auch die italienische Rezeption erschwerenden Umstände die Rezeption der deutschen Ausgabe zusätzlich beeinträchtigen würden. Denn das Werk birgt in seinem Innern einen gedanklichen Reichtum, eine denkerische Tiefe und eine philosophische Innovativität, die nicht nur in der Philosophie der Gegenwart nicht leicht ihresgleichen finden. Um den Zugang zu diesem wichtigen Werk zu erleichtern, werde ich daher im Folgenden in der für ein Vorwort gebotenen Kürze zunächst einmal den Autor dieses Werks vorstellen (1.), dann den Entstehungshintergrund dieses Werks skizzieren, der Konsequenzen für die Übersetzung und Interpretation desselben hat (2.), und schließlich die wichtigsten Übersetzungsentscheidungen erläutern (3.) und einige grundlegende Hinweise zur Interpretation des Werks geben (4.). Eine weitergehende inhaltliche Darstellung und Interpretation liefert dann im Anschluss an dieses Vorwort der Text »Zur Einführung« von Bernhard Casper, einem engen Freund und intellektuellen Weggefährten des Autors, mit dem er über viele Jahre hinweg insbesondere während seiner alljährlichen sommerlichen Ferien- und Studienaufenthalte in der Nähe von Freiburg in regem denkerischen Austausch stand. Zuvor jedoch möchte ich denjenigen herzlichen Dank aussprechen, die die Übersetzung und Veröffentlichung dieses Werks ermöglicht haben, nämlich zum einen Herrn Professor Walter Schweidler 9 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

und der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und zum anderen dem Istituto di Studi Filosofici »Enrico Castelli« in Rom, dessen Präsidenten Herrn Professor Jean-Luc Marion und dessen Direktor Herrn Professor Pierluigi Valenza. Mein ganz persönlicher Dank gilt darüber hinaus auch all denen, die mich auf die eine oder andere Weise bei meiner Arbeit als Übersetzer unterstützt haben. Besonderen Dank verdienen in diesem Zusammenhang die Familie des Autors, darunter insbesondere seine Witwe, Frau Maria Adele Valentini, und seine Schwester, Frau Professor Marta Olivetti Belardinelli, sowie meine italienischen Kollegen und Freunde, darunter insbesondere Frau Dr. Chiara Adorisio und Frau Dr. Chiara Fabbrizi.

1. Zum Autor 1 Marco Maria Olivetti, geboren 1943 in Rom, war von 1979 bis zu seinem vorzeitigen und unerwarteten Tod im Jahre 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Religionsphilosophie an der staatlichen »Sapienza« Universität Rom, der ältesten und größten Universität Roms, und zwar zunächst an der traditionell sämtliche Geisteswissenschaften umfassenden »Philosophischen Fakultät« (Facoltà di Lettere e Filosofia) und von 2001 dann an der in Italien ersten und einzigen allein die Philosophie umfassenden »Fakultät für Philosophie« (Facoltà di Filosofia), für deren Gründung er sich maßgeblich eingesetzt hatte und der er bis zu seinem Tod mit großem Engagement vorstand. Auf dem Lehrstuhl für Religionsphilosophie folgte Olivetti seinem von ihm selbst in einem bewegenden Nachruf als »Maestro« 2 charakterisierten akademischen Lehrer Enrico Castelli (1900–1977), 3 von dem er auch die Direktion der von diesem 1931 gegründeten, auch international bedeutenden Zeitschrift Archivio di Filosofia überEinen umfassenden Überblick über Leben und Werk von Marco M. Olivetti vermittelt der Sammelband Marco Maria Olivetti. Un filosofo della religione, in Archivio di filosofia, 56 (2008), Nr. 3. Eine zusammenhängende Darstellung und Interpretation der wichtigsten Schriften Olivettis unternimmt Irene Kajon in ihrem Aufsatz Sulle Opere di Marco M. Olivetti. Fede, ragione pratica, immaginazione, spirito, in La cultura, LIII, Nr. 2, August 2015, anlässlich der Veröffentlichung der von Stefano Semplici herausgegebenen Ausgabe ausgewählter Werke Olivettis (Marco Maria Olivetti. Opere I–III, Pisa – Roma: Fabrizio Serra Editore, 2013). 2 Vgl. MMO-47. Die Sigle bezeichnet das Werk mit der Nummer 47 in dem am Ende dieses Buchs abgedruckten Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti. 3 Zur Person von Enrico Castelli vgl. Olivettis deutschsprachigen Aufsatz MMO-131. 1

10 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

nahm, die er später in Archivio di Filosofia. Archives of Philosophy umbenannte, um deren internationalen Charakter zu betonen. In dieser Zeitschrift erscheinen bis heute die Akten der von Castelli initiierten, seit 1961 zunächst jährlich und später dann alle zwei Jahre in Rom stattfindenden internationalen Kolloquien zur Religionsphilosophie, die Olivetti nach Castellis Tod weiterführte und nach ihrem Initiator »Castelli-Kolloquien« benannte. An diesen Kolloquien haben im Laufe der Jahre nicht nur viele der bedeutendsten zeitgenössischen Religionsphilosophen und Theologen teilgenommen, sondern auch viele bedeutende Denker aus angrenzenden Disziplinen und Forschungsfeldern. So gehörten zu den regelmäßigen Teilnehmern an diesen Kolloquien z. B. Paul Ricoeur und Emanuel Levinas. Dazu stießen von Mal zu Mal Denker, welche die Reflexion über bestimmte Themen bereicherten, darunter z. B. Karl-Otto Apel und Niklas Luhmann. Unter der Leitung von Olivetti erweiterten sich sowohl das Themenspektrum der Castelli-Kolloquien als auch das Spektrum der darin vertretenen philosophischen Strömungen und Perspektiven ganz erheblich. Waren diese Kolloquien anfangs auf die Problematik der Entmythisierung bzw. auf spezifisch religionsphilosophische Problemstellungen fokussiert, so rückte Olivetti mehr und mehr den Status der Religionsphilosophie als solcher bzw. die über die Religionsphilosophie im engeren Sinne hinausgehende Bedeutung religionsphilosophischer Themen in den Mittelpunkt der Reflexion. Dabei trat im Laufe der Zeit immer mehr die philosophische Reflexion über den intrinsischen Zusammenhang zwischen Religion, Gesellschaft, Intersubjektivität und Ethik in den Vordergrund. Diese Entwicklung zeigt sich auch an Olivettis Schriften, deren Verzeichnis am Ende dieses Buchs abgedruckt ist, und insbesondere an seinen vier Monographien, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll und deren letzte das vorliegende Werk darstellt. Olivettis erste Monographie, das 1967 erschienene Werk Il tempio simbolo cosmico. La trasformazione dell’orizzonte del sacro nell’età della tecnica [Der Tempel als kosmisches Symbol. Die Transformation des Horizonts des Heiligen im Zeitalter der Technik], 4 basiert auf seiner von Castelli betreuten akademischen Abschlussarbeit. In ihr behandelt Olivetti »das Problem der Möglichkeit des Glaubens im Zeitalter der Technik« 5 mittels einer philosophischen Reflexion über Sakralar4 5

Vgl. MMO-8. Ebd., S. 13.

11 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

chitektur, nämlich insbesondere über die katholische und protestantische Kirchenarchitektur der Nachkriegszeit. Anknüpfend an die Etymologie des Begriffs »Tempel« versteht Olivetti den Sakralbau nicht als »heiligen Ort«, d. h. nicht als eine Manifestation des Heiligen, sondern als »Ort des Heiligen« bzw. als »Horizont des Heiligen«, d. h. als Ort bzw. Horizont der Manifestation des Heiligen, und eben deshalb als »kosmisches Symbol«, d. h. als ein »Symbol des Kosmos«. 6 Im Wandel der modernen Kirchenarchitektur spiegelt sich dementsprechend für Olivetti der Wandel der Bedingungen christlichen Glaubens in der modernen Gesellschaft. In seiner zweiten Monographie, dem 1970 erschienenen Werk L’esito teologico della filosofia del linguaggio di Jacobi [Der theologische Ausgang der Sprachphilosophie Jacobis], 7 beabsichtigt Olivetti, die Analyse der Sprachphilosophie Jacobis »bis zu dem Punkt zu führen, an dem das Problem der Bedeutung seinen Horizont erreicht und dessen Thematisierung erfordert«, nämlich bis zum »Problem des Sinns der Existenz«. 8 Dabei sollte diese Analyse »zum Vorschein bringen, dass der Gott Jacobis die Projektion ist, mittels derer die Existenz als Freiheit sich kennt, ohne sich als Horizont zu erkennen«. 9 Olivettis Jacobi-Monographie zeugt aber nicht nur von einem Interesse für die Philosophie des Zeitalters des deutschen Idealismus, das Olivetti in den darauffolgenden Jahren weiterentwickelt, sondern sie thematisiert auch bereits einige Motive, deren Zusammenhang in anderer, insbesondere durch seine Levinas-Rezeption verwandelter Gestalt auch in dem hier in deutscher Übersetzung vorliegenden Werk Analogia del soggetto von zentraler Bedeutung ist. Dies gilt nicht nur für das Motiv der »Projektion«, das im Begriff der auch im Sinne von »Analogisierung« verstandenen »Analogie« in anderer Weise und auf einen anderen Gegenstand bezogen fortbesteht, sondern dies gilt allen voran auch für das Motiv der Sprache, für das Motiv des »Horizonts« jeder Bedeutung und für das Motiv der Intersubjektivität, das in Jacobis These »Kein ich ohne du« zum Ausdruck kommt, in der Olivetti den »hauptsächlichsten Inhalt« von Jacobis Denken erkennt. 10 Tatsächlich zitiert Olivetti in Analogia del sogget-

Ebd., S. 17. Vgl. MMO-28. 8 Ebd., S. 7. 9 Ebd., S. 9. 10 Ebd., S. 32. 6 7

12 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

to nicht nur wiederholt »Jacobis Motto ›Ke i n i c h o h n e d u ‹« zur Illustration seines eigenen, sprachlich geprägten Verständnisses von Intersubjektivität, 11 sondern er stellt sich darin auch explizit die Frage, »ob und in welchem Maße der Zusammenhang zwischen Ethik, Sprache und Metaontologie, den wir damals in Jacobi zu erkennen glaubten, den im vorliegenden Buch herausgearbeiteten Zusammenhang vorgebildet hat«. 12 Olivettis Auseinandersetzung mit der Philosophie des Zeitalters des deutschen Idealismus fand einen weiteren Höhepunkt in seiner dritten Monographie, dem eigentlich auf zwei Bände angelegten Werk Filosofia della religione come problema storico [Religionsphilosophie als geschichtliches Problem], von denen jedoch nur der erste Band 1974 erschienen ist. 13 Insgesamt sollte dieses Werk, das »aus der Überzeugung entstanden ist, dass sich die aktuelle Lage als Krise der Identität charakterisieren lässt«, eine artikulierte Antwort auf die Frage geben, wieso der Religionsphilosophie »eine privilegierte Perspektive« auf diese Krise zukommt. 14 Der erste Band des Werks verfolgt »die Geschichte von Romantik und Idealismus längs des Wegs, der zur Problematisierung des Verhältnisses Individuum-Universum im Zeichen der Identität geführt hat«, während der zweite, unveröffentlichte Band »die Inkohärenzen und Aporien untersuchen [sollte], welche die vermeintliche A u f h e b u n g der Romantik unterminieren und die Identität zum Scheitern bringen«. 15 Seinen Abschluss finden sollte das Werk »mit einer Rückkehr zum Transzendentalismus und mit einem Überdenken des Problems der Ekklesiologie«, d. h. mit einem »Nachdenken […] über die kantsche Ekklesiologie«. 16 Diese »Rückkehr zum Transzendentalismus« artikuliert Olivetti dann nicht nur in vielen seiner nachfolgenden Aufsätze, sondern auch in dem hier in deutscher Übersetzung vorliegenden Werk, und sie manifestiert sich dort nicht nur in seinen Ausführungen über das Verhältnis von KirVgl. z. B. S. 141. Alle Seitenangaben zu »Analogie des Subjekts« in diesem Buch beziehen sich auf die in der Übersetzung als Marginalien angegebenen Seitenzahlen der italienischen Ausgabe. Von Olivetti im italienischen Text auf Deutsch zitierte Ausdrücke sind in diesem Buch durch Sperrdruck gekennzeichnet. 12 Vgl. S. 163, Anmerkung 3 zu der wichtigen Passage auf S. 141. 13 Vgl. MMO-41. Zu Olivettis späterer Sicht der Religionsphilosophie vgl. seinen ausführlichen und äußerst dichten Aufsatz Filosofia della religione (MMO-168), der 1995 im enzyklopädischen Sammelband La Filosofia erschienen ist. 14 Vgl. ebd. S. 7 bzw. 9. 15 Ebd. S. 10. 16 Ebd. 11

13 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

che, Staat und Gesellschaft im ersten Kapitel dieses Werks, 17 sondern vor allem in seiner »Diskussion der zeitgenössischen Versuche, die transzendentale Apperzeption in ethischem Sinne neu zu überdenken«, welcher der gesamte zweite Teil dieses Werks gewidmet ist. 18 In diesem Zusammenhang sollte auch noch ein weiterer Aspekt von Olivettis Auseinandersetzung mit der Philosophie des Zeitalters des deutschen Idealismus nicht unerwähnt bleiben, der ebenfalls deutliche Spuren in dem hier vorliegenden Werk hinterlassen hat, nämlich seine Fichte-Rezeption. Spuren darin hinterlassen hat jedoch nicht so sehr seine Rezeption von Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung, dessen italienische Ausgabe Olivetti ebenso übersetzt und herausgegeben hat wie die von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 19 sondern vor allem seine Rezeption von Fichtes Wissenschaftslehre, an der er den freilich gescheiterten Versuch gutheißt, »Kants Philosophie im Sinne einer protologischen Ethik zu vollenden«, um so die schon bei Kant selbst laut gewordene Forderung einzulösen, »der Ethik anstelle der Ontologie einen protologischen Rang beizumessen«. 20 Tatsächlich versteht Olivetti seinen im vorliegenden Buch dargestellten, entscheidend von Levinas inspirierten Denkentwurf gleichsam als eine »Radikalisierung« dieses Versuchs, die »als Übergang vom cogito zum loquor charakterisiert werden [kann]«. 21 Olivettis vierte und letzte Monographie ist das 1992 im renommierten »Laterza« Verlag erschienene Werk Analogia del soggetto [Analogie des Subjekts], das in diesem Buch in deutscher Übersetzung vorliegt. Dieses Werk unterscheidet sich trotz der angesprochenen thematischen Kontinuitäten in mehrfacher Hinsicht ganz entschieden von den drei vorangegangenen Monographien. Zunächst einmal deutet schon der Titel an, dass in diesem Werk nicht die Religionsphilosophie im Mittelpunkt steht, sondern eine hochinteressante und überaus innovative philosophische Theorie der Intersubjektivität, die Olivetti in kritischer Auseinandersetzung mit einer Reihe von wichtigen zeitgenössischen Denkern (nämlich vor allem mit Luhmann, Apel, Levinas und Heidegger) entwickelt und die entschei-

17 18 19 20 21

Vgl. insbesondere S. 15 ff. Vgl. den letzten Absatz in Olivettis Vorworts zu diesem Werk (S. VII). Vgl. MMO-63 bzw. MMO-184. Vgl. S. 139. Ebd.

14 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

dend durch Levinas inspiriert ist und dabei empirische, d. h. genauer gesagt entwicklungspsychologische Erkenntnisse zur Konstitution von Subjektivität aufgreift. 22 Dementsprechend hat dieses Werk im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Monographien auch keinen vorwiegend philosophiehistorischen Charakter, sondern ist Ausdruck eines vielfältigen philosophischen Reflexionsprozesses, der dem komplexen Zusammenhang zwischen Religionsphilosophie, Gesellschaftstheorie, Subjekttheorie und Ethik nachgeht. Schließlich unterscheidet sich dieses Werk auch insofern von den vorangegangenen Monographien, als es – wie die Erläuterungen zu dessen Entstehungshintergrund im folgenden Abschnitt dieses Vorworts zeigen werden – im Gegensatz zu diesen nicht aus einem vorausgehenden Buchprojekt hervorgegangen ist, sondern auf einer Reihe von Aufsätzen basiert, die in mehr oder weniger stark überarbeiteter Form in das Buch eingearbeitet worden sind. Dies bedeutet zwar ganz und gar nicht, dass dieses Werk keinen systematischen Zusammenhang aufweist, aber es hat doch Konsequenzen für die Interpretation desselben, die im letzten Abschnitt dieses Vorworts angesprochen werden sollen. Eine noch so kurze Darstellung des Werks von Marco M. Olivetti wäre jedoch nicht nur unvollständig, sondern würde vielmehr einen ganz wesentlichen Aspekt übergehen, wenn darin die außergewöhnliche Wirkung unerwähnt bliebe, die Olivetti in seinen Vorlesungen und Seminaren und in der persönlichen Begegnung als akademischer Lehrer und Mentor oder als Kollege ausgestrahlt hat. Tatsächlich ist dies ein Aspekt seines Wirkens, der wohl bei allen seinen Schülern und akademischen Weggefährten einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat. 23 Olivettis Vorlesung und Seminare waren von unvergleichbarer Intensität. 24 Wenn der mittelgroße, hagere Mann in sich gekehrt und schnellen Schrittes in die meist überfüllte Aula gleichsam hineingestürmt kam, inmitten seiner Hörer an einem Vgl. hierzu die Ausführungen zur Interpretation des Werks im letzten Abschnitt dieses Vorworts. 23 Vielfältiges Zeugnis davon geben die Beiträge in dem Band Marco Maria Olivetti. Un filosofo della religione, op. cit. 24 Ich hatte das Glück, gerade in dem Jahr als junger Erasmus-Student an der »Sapienza« zu studieren, in dem Olivetti Teile seines kurz zuvor veröffentlichten Werks Analogia del soggetto in einem Kurs mit dem Titel Analogia e soggettività [Analogie und Subjektivität] diskutierte, und habe Olivettis Kurse gelegentlich auch in den darauf folgenden Jahren besucht. 22

15 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

gewöhnlichen Seminartisch Platz nahm und schließlich nach kurzem Innehalten mit tiefer, fester Stimme, aber immer auch mit großer Bescheidenheit und ohne professorale Allüren in medias res zu sprechen anhob, dann war man sofort gebannt und hatte das Gefühl, im besten Sinne des Wortes einem »denkenden Gespräch« 25 beizuwohnen. Es kam vor, dass Olivetti fast über ein ganzes Semester hinweg nur eine einzige Seite eines philosophischen Textes kommentierte und dabei ausgehend von einer detaillierten und dabei sowohl sprachlich als auch philosophisch ungemein tiefgründigen Interpretation einzelner Textstellen oder auch nur einzelner Wörter ein umfassendes philosophisches Panorama eröffnete, das nicht nur gleichermaßen verschiedene Strömungen der Philosophiegeschichte umfasste, sondern häufig auch scheinbar banale Alltagsphänomene wie z. B. Ernährung und Kleidung berücksichtigte und deren verkannte philosophische Dimension aufzeigte. Dabei bezog er auch gegenläufige Gedanken seiner anwesenden oder abwesenden Gesprächspartner geradezu spielerisch vergnügt in sein »denkendes Gespräch« mit ein, ohne dabei jemals sarkastisch oder verächtlich zu urteilen. 26 In der persönlichen Begegnung ging der intensive Blick seiner hinter dicken Brillengläsern noch größer wirkenden dunklen Augen zudem häufig mit einem freudigen, empathischen Lächeln einher, einem Lächeln, das nicht nur jenes »erkennende« Lächeln veranschaulichte, das für Olivettis Konzeption von Intersubjektivität »sinnbildlich« ist, 27 sondern das angesichts der unvermeidlichen Widrigkeiten und Ironien des Lebens inner- und außerhalb der Universität immer auch jene »Hoffnung nicht nostalgischer Art« mitteilte, die zu denken Olivetti im dritten Teil dieses Buchs unternimmt. 28

2. Zum Entstehungshintergrund Im Laufe der Übersetzungsarbeiten sind zwei Umstände zum Vorschein gekommen, die den Entstehungshintergrund von Analogia Vgl. Olivettis eigene Verwendung dieses heideggerschen Ausdrucks auf S. 177 ff. Tatsächlich ist auch mir aufgefallen, dass man »Marco Olivetti eigentlich nie über einen anderen Kollegen ein böses oder verurteilendes Wort sagen hörte«. Vgl. Bernhard Casper: Marco Maria Olivetti, in: Marco Maria Olivetti. Un filosofo della religione, op. cit., S. 13. 27 Vgl. hierzu S. 174 f., wo Olivetti auf eine Passage auf S. 133 f. Bezug nimmt. 28 Vgl. hierzu S. 117. 25 26

16 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Analogia del soggetto

Textgrundlage

Teil Kapitel

Seiten

Werksigle, Seiten

Erscheinungsjahr

1

5–9

MMO-62, 430–433; MMO-68, 189–195

1980

9–15

–/–

15

MMO-62, 434; MMO-68, 195–196

15–19

–/–

19- 20

MMO-62, 435; MMO-68, 197–198

20–26

–/–

29

MMO-151, 106; MMO-152, 67

29–42

–/–

1

2

3

2

4

1980 1980 1992

42–46

MMO-151, 106–110; MMO-152, 67–70

46–50

–/–

1992

50

MMO-151, 110; MMO-152, 70

1992

51

MMO-151, 111; MMO-152, 70–71

1992

51–53

–/–

55–57

–/–

57–60

MMO-151, 111–117; MMO-152, 71–74

1992

61–62

MMO-140, 119–120

1991

62–64

–/–

64–69

MMO-140, 120–125

1991

73–91 81–88

MMO-93, 42–70; MMO-98, 265–288 MMO-85, 117–123

1984 1983

91–92

–/–

5

99–116

MMO-87, 67–81; MMO-90, 595–611; MMO-92, 119–135

1983

6

121–135

MMO-133, 63–79

1990

7

139–146

MMO-108, 157–162

1986

146–162

MMO-111, 168–181; MMO-112, 162–175

1987

167–176 170–176

MMO-117, 703–712; MMO-118, 245–254 MMO-128, 44–49

1988 1989

177–188

MMO-124, 531–543; MMO-134, 89–102; MMO-135, 53–65

1989

189–196

MMO-138, 296–303; MMO-149, 399–409; MMO-150, 44–53; MMO-165, 173–179

1991

Anhang 1

203–219 206–216

MMO-107, 761–778 MMO-100, 126–133

1986 1985

Anhang 2

223–237

MMO-121, 38–55; MMO-125, 603–618; MMO-139, 157–179

1988

3

8

Textgrundlage von Analogia del soggetto: Werke auf Italienisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch. Die Seitenangaben zu Analogia del soggetto beziehen sich auf die in der Übersetzung als Marginalien angegebenen Seitenzahlen der italienischen Ausgabe. Die Werksiglen beziehen sich auf das am Ende dieses Buchs abgedruckte Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti. Bei mehr als einer Version eines Werks bezieht sich das Erscheinungsjahr auf die früheste Version.

https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Vorwort des Übersetzers

del soggetto betreffen und als solche Konsequenzen für die Übersetzung und Interpretation dieses Werks haben. Der erste dieser beiden Umstände besteht darin, dass nicht nur die beiden Anhänge, sondern fast der gesamte Text von Analogia del soggetto auf zwischen 1980 und 1992 veröffentlichten Aufsätzen basiert, die in mehr oder weniger stark überarbeiteter Form in dieses Werk eingearbeitet worden sind. Viele dieser Aufsätze sind nicht nur auf Italienisch, sondern auch in anderen Sprachen, nämlich vor allem auf Deutsch oder Französisch, vereinzelt aber auch auf Englisch oder Spanisch erschienen. Die beistehende Tabelle gibt einen Überblick über die Textgrundlage von Analogia del soggetto. Die entsprechenden Textabschnitte sind in der Übersetzung durch Fußnoten gekennzeichnet. Diese Textgrundlage von Analogia del soggetto hat nicht nur Konsequenzen für die Interpretation dieses Werks, sondern auch für die Übersetzung desselben. Denn nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass dieses Werk eine Vielzahl idiomatischer Ausdrücke enthält, die häufig Begriffe oder Redewendungen aus anderen Sprachen zu umschreiben versuchen, ohne dass dabei immer zweifelsfrei zu erkennen wäre, ob dies bei einem gegebenen Ausdruck tatsächlich der Fall ist und um welchen Begriff oder Redewendung es sich dabei jeweils genau handelt, liefern die in dieses Werk eingearbeiteten Aufsätze potentiell hilfreiche Anhaltspunkte für dessen Übersetzung. Dies gilt hier natürlich insbesondere für die deutschsprachigen Aufsätze, in geringerem Maß aber auch für die französisch-, englischoder spanischsprachigen Aufsätze, ja sogar auch für die italienischsprachigen Aufsätze, zumal diese gelegentlich abweichende Formulierungen enthalten, die auf die eine oder andere Weise Rückschlüsse auf das Gemeinte erlauben. Die auf Deutsch erschienenen Aufsätze sind sprachlich von sehr unterschiedlicher Qualität. Während einige von ihnen sprachlich einwandfrei sind, weisen andere eine mehr oder weniger große Anzahl von orthographischen, grammatikalischen, semantischen oder stilistischen Lapsus auf. Da diese Aufsätze in der Regel keinen Hinweis auf einen Übersetzer enthalten und Olivetti neben Französisch und Englisch auch Deutsch sehr gut beherrschte, ist damit zunächst einmal nicht ausgeschlossen, dass wenigstens ein Teil dieser Aufsätze von Olivetti selbst entweder direkt auf Deutsch geschrieben oder ins Deutsche übersetzt und dann womöglich in einigen Fällen von einem Muttersprachler sprachlich überarbeitet worden sind. Gegen diese Hypothese, die von Olivettis Familienangehörigen und damaligen 18 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Kollegen weder bestätigt noch entkräftet werden konnte, spricht jedoch der Umstand, dass nicht nur viele der sprachlich einwandfreien, sondern auch viele der sprachlich fehlerhaften Aufsätze gelegentlich philosophische Begriffe oder Zitate, die Olivetti zweifellos auch auf Deutsch geläufig waren, unpräzise oder gar entstellend wiedergeben. Plausibler erscheint daher die Hypothese, dass die meisten seiner deutschsprachigen Aufsätze nicht von Olivetti selbst, sondern von verschiedenen Personen ins Deutsche übertragen worden sind, von denen nicht alle Muttersprachler waren und von denen auch nicht alle hinreichend mit den philosophischen Begrifflichkeiten vertraut waren, auf die Olivetti in diesen Aufsätzen Bezug nimmt. Die deutschsprachigen Aufsätze, die inhaltlich bestimmten Passagen des vorliegenden Buchs entsprechen, liefern daher zwar potentiell hilfreiche, aber nicht immer zuverlässige, sondern gelegentlich auch irreführende Anhaltspunkte für die Übersetzung. Der zweite der beiden eingangs angesprochenen Umstände zum Entstehungshintergrund von Analogia del soggetto besteht darin, dass dieses Werk Hinweise auf eine frühere Fassung desselben enthält, in der die Kapitel desselben anders angeordnet waren als in der vorliegenden, endgültigen Fassung. Zum einen nämlich finden sich darin eine Reihe von Verweisen auf ein »erstes« bzw. »zweites« Kapitel, die sich de facto auf das jetzige dritte Kapitel beziehen, nämlich insbesondere auf denjenigen Teil desselben, der auf dem Aufsatz MMO-140 basiert. 29 Zum anderen findet sich im fünften Kapitel dieses Werks ein Verweis auf das »vorangegangene Kapitel«, der sich de facto nicht auf das vierte, sondern auf das zweite oder dritte Kapitel bezieht. 30 Daraus lässt sich schließen, dass 1) das jetzige dritte Kapitel, nämlich insbesondere der Aufsatz MMO-140, einmal Teil eines ersten Kapitels war, das dann entweder zu einem zweiten Kapitel geworden ist oder in ein erstes und zweites Kapitel (nämlich in das jetzige zweite und dritte Kapitel) aufgeteilt worden ist, und dass 2) das jetzige fünfte Kapitel einmal Teil eines Kapitels war, welches unmittelbar auf ein Kapitel folgte, dessen Teil das jetzige zweite und/oder dritte, aber nicht das jetzige vierte Kapitel war. Vor diesem Hintergrund legen die in der obigen Tabelle dargestellte Textgrundlage von Analogia del soggetto und die Inhalte der einzelnen Kapitel die Annahme nahe, dass das jetzige zweite, auf dem Aufsatz MMO-151 29 30

Vgl. S. 110, 129, 142 und 149. Vgl. S. 106.

19 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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basierende Kapitel einmal der erste Teil eines ersten Kapitels war, das auch das jetzige dritte Kapitel umfasste und somit auf den Aufsätzen MMO-151 und MMO-140 basierte. Tatsächlich vermittelt das jetzige zweite Kapitel, das auf dem spätesten aller in dieses Werk eingearbeiteten Aufsätze basiert und in dessen Titel »Abwesenheit und Analogie« zum ersten Mal der Begriff der »Analogie« erscheint, ein erstes Verständnis davon, wie die »Analogie des Subjekts« zu verstehen ist, von der im Titel dieses Werks die Rede ist, und wie sie mit der im Vorwort desselben angesprochenen, zentralen These vom »Zerfall der Gegenwart« in sum, prae-es und abest zusammenhängt, auf die sich auch der Titel des diesem Kapitel zugrundeliegenden Aufsatzes »Abwesenheit als Weise der Gegenwart. Vom ›Wir‹ zur gesellschaftlichen ›dritten Person‹« (MMO-151) bezieht. Wenn aber das jetzige zweite und dritte Kapitel einmal als ein erstes Kapitel gedacht waren, dann lässt sich der eigentlich auf das jetzige zweite oder dritte Kapitel bezogene Verweis auf ein dem jetzigen fünften Kapitel vorangehendes Kapitel angesichts der Einteilung von Analogia del soggetto in drei Teile am plausibelsten dadurch erklären, dass das jetzige vierte und fünfte Kapitel einmal als ein zweites Kapitel gedacht waren, so dass der jetzige erste und zweite Teil dieses Werks aus dem hervorgegangen wären, was einmal als das erste und zweite Kapitel desselben gedacht war. Auf diese Weise könnten jedenfalls alle fehlerhaften Verweise geklärt werden, ohne die inhaltlich begründete, eng mit der zentralen These dieses Werks verknüpfte Einteilung desselben in drei Teile zu missachten. 31

3. Zur Übersetzung Die vorliegende Übersetzung folgt natürlich dem Text von Analogia del soggetto, berücksichtigt dabei aber auch die verschiedensprachigen Versionen der in dieses Werk eingearbeiteten Aufsätze. Die italienischsprachigen Aufsätze waren für die Übersetzung insofern relevant, als sie gelegentlich abweichende Formulierungen enthalten, die das Gemeinte entweder expliziter zum Ausdruck bringen (z. B. durch Apposition von auf Italienisch umschriebenen fremdsprachigen Begriffe) oder einen Sinn erkennen lassen, den die in Analogia del sogVgl. hierzu die Erläuterungen zur Interpretation dieses Werks im folgenden Abschnitt dieses Vorworts.

31

20 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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getto verwendeten Formulierungen zu präzisieren versuchen, ihn dadurch aber zugleich verschleiern. Die deutschsprachigen Aufsätze dienten zum Teil als Vorlage, vor allem aber zur Kontrolle der vorliegenden Übersetzung, nämlich insbesondere bei den zahlreichen idiomatischen Ausdrücken, die in Analogia del soggetto verwendet werden. Aufgrund der oben beschriebenen Zweifel an der sprachlichen und begrifflichen Zuverlässigkeit dieser Aufsätze galt es dabei aber von Fall zu Fall und anhand einer Vielzahl verschiedenartiger Indizien zu entscheiden, ob die in diesen Aufsätzen verwendeten Übersetzungen dieser Ausdrücke den Intentionen Olivettis tatsächlich entsprechen und von ihm womöglich wissentlich gutgeheißen oder sogar angeregt worden sind. Die französisch-, englisch- und spanischsprachigen Aufsätze wurden dagegen nur in den Fällen herangezogen, in denen Zweifel blieben, die sich anhand der italienischund deutschsprachigen Aufsätze nicht ausräumen ließen. Die in Analogia del soggetto verwendeten idiomatischen Ausdrücke sind im Wesentlichen zweierlei Art: 1) Begriffe lateinischen oder griechischen Ursprungs, die im Italienischen zwar mehr oder weniger geläufig sind, in Analogia del soggetto aber in einem besonderen, umfassenderen Sinne verwendet werden, der meist an die Etymologie dieser Begriffe anknüpft und neben dem geläufigen Sinn den im Sprachgebrauch nicht mehr unmittelbar evidenten etymologischen Sinn dieser Begriffe betont; 2) umschreibende Übersetzungen von Begriffen aus anderen Sprachen, die im Italienischen kein geläufiges Äquivalent besitzen und von Olivetti daher häufig anknüpfend an ihren buchstäblichen Sinn oder mittels eines Hendiadyoins umschrieben werden. Im vorliegenden Buch werden Übersetzungen von idiomatischen Ausdrücken jeder Art immer dann bei ihrer ersten Verwendung durch Fußnoten erläutert, wenn der volle Sinn eines solchen Ausdrucks durch dessen Übersetzung und den Kontext nicht unmittelbar evident ist oder wenn der intendierte Sinn eines solchen Ausdrucks unklar bzw. zweifelhaft und dessen Übersetzung somit unsicher ist. Idiomatische Ausdrücke der ersteren Art werden im vorliegenden Buch in der Regel durch einen deutschen Begriff gleichen Ursprungs übersetzt, sofern dieser Begriff in dem im Italienischen geläufigen Sinne auch auf Deutsch verwendet wird. Beispiele dafür sind etwa der Begriff der »Analogie« (analogia), der im Text nicht nur im geläufigen Sinne, sondern auch im Sinne von Analogisierung verwendet wird, oder der Begriff der »Äquivokation« (equivocazione), 21 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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der im Text nicht nur im Sinne von Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit, sondern auch im Sinne von lateinisch aequi-vocatio, also auch im Sinne von etwas verwendet wird, was Ausdruck gleichlautender, aber verschiedener (und Verschiedenes bedeutender) Stimmen ist. Es gibt jedoch auch zwei wichtige Ausnahmen von dieser Regel, die Schlüsselbegriffe dieses Werks betreffen und daher hier kurz erläutert werden sollen. Die erste wichtige Ausnahme betrifft die Begriffe presenza und assenza, die im vorliegenden Buch meist nicht durch die entsprechenden deutschen Begriffe »Präsenz« und »Absenz« übersetzt werden, sondern je nach Kontext zum einen meist mit »Gegenwart«, »Anwesenheit« oder »Vorhandenheit« und zum anderen immer mit »Abwesenheit«. Diese Übersetzungsentscheidung hat ihren Grund natürlich zum einen darin, dass der in Analogia del soggetto sehr häufig verwendete Begriff presenza in der Tat sowohl »Anwesenheit« und »Vorhandenheit« als auch »Gegenwart« im Sinne von »Präsenz« zum Ausdruck bringen kann und dass die durchgängige Verwendung der Begriffe »Präsenz« und »Absenz« im deutschen Text sehr künstlich wirken würde. Zum anderen und vor allem aber hat diese Übersetzungsentscheidung ihren Grund in der Tatsache, dass Olivetti die »Anwesenheit« (presenza) ebenso wie die »Abwesenheit« (assenza) als eine »Weise«, »Form« bzw. »Komponente« der »Gegenwart« im Sinne von »Präsenz« (presenza) versteht 32 und diese Übersetzung auch insofern wissentlich gebilligt zu haben scheint, als der Titel seines Aufsatzes »Abwesenheit als Weise der Gegenwart. Vom ›Wir‹ zur gesellschaftlichen ›dritten Person‹« (MMO-151) eben diese Übersetzung nahelegt. Tatsächlich spricht Olivetti gelegentlich auch von »präsenter Präsenz« (presenza presente) und »einfacher« bzw. »bloßer Präsenz« (semplice presenza), um die Begriffe der »Anwesenheit« und der »Vorhandenheit« vom Begriff der »Gegenwart« im Sinne von »Präsenz« (presenza) zu unterscheiden. 33 In allen anderen Fällen bleibt es jedoch der Interpretation überlassen, welcher dieser drei Begriffe in einem gegebenen Kontext den Begriff presenza am besten übersetzt, und nicht immer lässt sich dies zweifelsfrei entscheiden. Neben dieser potentiellen Unsicherheit gibt es zwei weitere Gründe, aus denen die Entscheidung, den Begriff presenza je nach Kontext mit »Gegenwart«, »Anwesenheit« oder »Vorhandenheit« 32 33

Vgl. insbesondere S. 62 sowie S. VII, 32, 51 f. und 158. Vgl. vor allem S. 158.

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zu übersetzen, nicht ganz unproblematisch ist. Zum einen verwischt diese Übersetzung die im Italienischen explizite Unterscheidung zwischen »Gegenwart« im räumlichen Sinne von »Präsenz« (la presenza) und »Gegenwart« im zeitlichen Sinne, also im Sinne der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft bzw. im Sinne der Zeitform des Präsens (il presente). Zum anderen verwischt diese Übersetzung den im vorliegenden Werk mehrfach betonten semantischen Zusammenhang zwischen der »Gegenwart« im Sinne von »Präsenz« (presenza) und der explizit als »Re-präsentation«, also als »Wiedervergegenwärtigung« verstandenen »Vorstellung« (rappresentazione). 34 Im vorliegenden Buch wird der Text daher entweder durch erläuternde Appositionen oder durch erläuternde Fußnoten ergänzt, wenn die angesprochene Unterscheidung bzw. der angesprochene Zusammenhang durch den Kontext nicht unmittelbar evident ist. Die zweite wichtige Ausnahme von der oben genannten Regel betrifft die Begriffe interlocuzione und interlocutore, die gemeinhin mit »Gespräch« oder »Dialog« bzw. mit »Gesprächs-« oder »Dialogpartner«, im vorliegenden Buch aber meist mit »Interlokution« bzw. »Interlokutor« übersetzt werden, obwohl diese Begriffe im Deutschen bisher nur sehr selten oder gar nicht in dem im Italienischen geläufigen Sinne verwendet werden. Der Grund für diese Übersetzungsentscheidung besteht vor allem darin, dass sich diese Begriffe in Analogia del soggetto auf ein Verständnis von sprachlicher Interaktion beziehen, welches sich von dem unterscheidet und abgrenzt, was gemeinhin unter den Begriffen »Gespräch« oder »Dialog« verstanden wird. Nicht zufällig wird der Begriff interlocuzione in diesem Werk sehr viel häufiger verwendet als die semantisch sehr ähnlichen und auch im Italienischen sehr viel geläufigeren Begriffe colloquio (Gespräch) und dialogo (Dialog), die beide in diesem Werk vor allem mit Bezug auf andere Autoren (insbesondere Heidegger bzw. Apel und Habermas) verwendet werden, von denen sich Olivetti kritisch abgrenzt. Tatsächlich bezeichnet der Begriff interlocuzione in diesem Werk ein Verständnis von sprachlicher Interaktion, welches sich schon allein insofern von dem unterscheidet, was gemeinhin unter »Gespräch« und »Dialog« verstanden wird, als es auch die sprachliche Interaktion zwischen Erwachsenem und noch nicht sprechendem Kleinkind umfasst, die für dieses Verständnis geradezu paradigma-

34

Vgl. S. 170 und 173 bzw. S. 108 f., 147 und 159.

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tisch ist. 35 Dementsprechend dient dieser Begriff insbesondere auch dazu, die dynamischen, allokutiven und vorpropositionalen Aspekte von »Gespräch« und »Dialog« zu betonen, die auch und ebenso gut non-verbaler Art sein können, und sich dabei sowohl gegen ein »monologisches« Verständnis von »Gespräch« wie bei Heidegger als auch gegen ein »symmetrisches« Verständnis von »Dialog« wie bei Apel und Habermas abzugrenzen. 36 Aus eben diesen Gründen wäre es in diesem Buch auch häufig irreführend, den Begriff interlocutore, zu dem es im Italienischen anders als zu dem gemeinhin auch durch die Begriffe colloquio (Gespräch) oder dialogo (Dialog) ersetzbaren Begriff interlocuzione keine geläufige Alternative gibt, mit »Gesprächs« oder »Dialogpartner« zu übersetzen, zumal der Begriff »Partner« ja auch ganz explizit eben jenes »symmetrische« Verhältnis zwischen Erwachsenen nahelegt, von dem sich die Verwendung des Begriffs interlocuzione gerade abzugrenzen versucht. Die Begriffe interlocuzione und interlocutore werden daher in diesem Buch nur dann mit »Gespräch« oder »Dialog« bzw. mit »Gesprächs-« oder »Dialogpartner« übersetzt, wenn aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass sie in ihrem spezifischeren, alltagssprachlichen Sinne verwendet werden, oder wenn sie sich auf Zitate beziehen, in denen diese Termini verwendet werden. Diese Praxis steht im Übrigen auch in Einklang mit den deutschsprachigen Versionen der in Analogia del soggetto eingearbeiteten Aufsätze, zumal diese Begriffe dort ebenfalls häufig mit den im Deutschen eigentlich nicht geläufigen Begriffen »Interlokution« bzw. »Interlokutor« übersetzt worden sind. Neben den inhaltlichen Übersetzungsentscheidungen galt es auch eine Reihe von formalen Übersetzungsentscheidungen zu treffen, die hier der besseren Übersicht halber aufgelistet sind: • Kursivdruck: Wie im italienischen Text sind auch in der vorliegenden Übersetzung nicht nur Hervorhebungen bestimmter Begriffe, sondern auch die in anderen Sprachen (d. h. auf Altgriechisch, Latein, Deutsch, Französisch, Englisch) zitierten Begriffe und Redewendungen kursiv gedruckt. • Gesperrter Kursivdruck: Um die im italienischen Text auf Deutsch zitierten Begriffe besonders zu kennzeichnen, sind diese Begriffe in der vorliegenden Übersetzung g e s p e r r t k u r s i v gedruckt. Auf Deutsch zitierte Begriffe werden im italienischen 35 36

Vgl. z. B. S. 46 ff., 133 f., 147 ff. und 151 ff. Vgl. hierzu auch S. 146, 184 und 187 bzw. S. 83, 106 ff., und 141 f.

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Text zum einen direkt anstelle eines italienischen Begriffs (mit oder ohne beigefügter italienischer Übersetzung oder Umschreibung) und zum anderen zur Erläuterung eines auf Italienisch übersetzten oder umschriebenen Begriffs (z. B. in Klammern, als Apposition, als Teil einer präpositionalen Bestimmung oder als Teil eines Hendiadyoins) verwendet. Die Weise, in der ein Begriff im italienischen Text auf Deutsch zitiert wird, lässt sich in der deutschen Übersetzung aber naturgemäß meist nicht mehr ohne weiteres erkennen und wird nur dann, wenn sie inhaltlich relevant ist, in einer Fußnote erläutert. Anführungszeichen (» «): Wie im italienischen Text werden auch in der vorliegenden Übersetzung Anführungszeichen nicht nur für Zitate anderer Autoren verwendet, sondern auch zur Kennzeichnung von Wörtern, die in einem übertragenen, etymologischen oder anderswie besonderen Sinne verwendet werden. Wenn nicht anders angegeben, folgt die Übersetzung von Zitaten aus Schriften anderer Autoren wenn möglich den bestehenden deutschen Übersetzungen. Vereinzelt war es nötig, eine bestehende deutsche Übersetzung zu verändern, um den Sinn von Olivettis italienischer Übersetzung und Interpretation eines Zitats verständlich zu machen. In diesen Fällen weist eine Fußnote auf die Änderung hin und erläutert gegebenenfalls ihren Grund. Fuß- und Endnoten: Wie im italienischen Text finden sich die Anmerkungen des Autors als numerische Endnoten am Ende jedes Kapitels. Erläuterungen des Übersetzers erscheinen dagegen als alphabetische Fußnoten. Seitenangaben: Um den Vergleich mit dem italienischen Text zu erleichtern und eine einheitliche Zitierweise zu ermöglichen, sind die Seitenzahlen der italienischen Ausgabe als Marginalien auf der Höhe derjenigen Textzeile eingefügt, in der im italienischen Text die Seite wechselt. Die eingefügten Seitenzahlen bezeichnen den Beginn der angegebenen Seite. Alle Seitenangaben zu »Analogie des Subjekts« in diesem Buch beziehen sich auf die in der Übersetzung als Marginalien angegebenen Seitenzahlen der italienischen Ausgabe.

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4. Zur Interpretation Angesichts der Tatsache, dass sich der Text des vorliegenden Werks im Wesentlichen aus Aufsätzen zu sehr unterschiedlichen Themen zusammensetzt, die über einen Zeitraum von über zehn Jahren hinweg an unterschiedlichen Orten und aus unterschiedlichen Anlässen veröffentlicht worden sind, stellt sich die Frage, worin der Zusammenhang dieses Werks begründet ist bzw. worin der zentrale Gedanke besteht, von dem her dieser Zusammenhang einsichtig wird. Das Werk selbst enthält eine Reihe von expliziten Hinweisen auf einen solchen zentralen Gedanken, die zum Abschluss dieses Vorworts jetzt kurz dargestellt und überdacht werden sollen. Zunächst einmal legt der Titel des Werks, »Analogie des Subjekts«, die Vermutung nahe, dass dessen zentraler Gedanke in einer bestimmten Konzeption von Subjektivität besteht. Wie dieser Titel und somit die darin angesprochene Konzeption von Subjektivität genauer zu verstehen ist, geht aus einer Passage zu Beginn des dritten Kapitels hervor. Dort heißt es, dass »der Titel dieses Buchs, Analogie des Subjekts, [einen ›äquivoken‹] Genitiv zum Ausdruck bringen [soll]: mit Subjekt ist sowohl das analogisierende als auch das analogisierte Subjekt gemeint; und die Gesamtbedeutung des Ausdrucks ist daher, dass das Subjekt, von dem im Buch die Rede ist, dem Subjekt der Tradition nur analog ist – nicht mit ihm identisch, aber auch nicht von ihm verschieden«. 37 Zentral ist hier der Gedanke der »Analogie« (analogia) im verbalen Sinne, d. h. im Sinne von »Analogisierung« (analogizzazione): das Subjekt, von dem im Buch die Rede ist, ist nicht nur ein Subjekt, das andere Seiende durch »Analogisierung« zu Subjekten macht, sondern es ist vor allem auch ein Subjekt, das selbst überhaupt erst durch die »Analogisierung« seitens eines anderen, »prä-existenten« Subjekts zu einem Subjekt geworden ist. Ein weiterer expliziter Hinweis auf den zentralen Gedanken des Buchs findet sich zu Beginn des Vorworts des Autors, wo es heißt, dass »[d]ie These dieses Buchs ist, dass es ein Wesen des Menschseins nicht gibt«, sondern dass ein solches Wesen »ein-gebildet« ist. 38 Der hier zentrale Begriff der »Ein-bildung« (immaginazione) ist dabei in einem ganz besonderen Sinne zu verstehen. Gemeint ist eine Einbildung, die »in die eigene Gegenwart eine andere Gegenwart und ein 37 38

S. 56. Vgl. S. VII.

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anderes Bewusstsein ein-bildet«, also eine »Ein-bildung des Anderen nach dem eigenen Ebenbilde«. 39 Hinsichtlich dieser »Ein-bildung des Anderen nach dem Ebenbilde des Einen« ist jedoch ganz entscheidend zu beachten, dass der »Ein-bildende« immer schon selbst ein »nach dem Ebenbilde des Anderen« »Ein-gebildeter« ist, dass also der »Einbildende« immer zuerst der Andere ist. 40 Der Begriff der »Ein-bildung« bezieht sich also ähnlich wie der Begriff der »Analogisierung« auf den Gedanken, dass jedes Subjekt von einem anderen, »prä-existenten« Subjekt als Subjekt konstituiert worden ist, und stellt im Wesentlichen eine anders akzentuierte Konzeptualisierung dieses Gedankens dar. Ein dritter expliziter Hinweis auf den zentralen Gedanken des Buchs ergibt sich daraus, dass Olivetti »Vergils Vers risu incipit cognoscere matrem« als »Motto« bzw. als »Sinnbild« für die Ausführungen in seinem Buch versteht. 41 Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff des »Erkennens« (lat.: cognoscere), der im Italienischen ähnlich wie im Englischen mit einem Begriff zum Ausdruck gebracht wird, der etymologisch eigentlich eine »Wiederholung des Erkennens« (vgl. ital.: ri-conoscere, engl.: re-cognize) bezeichnet und dementsprechend unter anderem auch ein »Wiedererkennen« bedeuten kann, von Olivetti aber im Sinne eines ein vorangehendes Erkennen erwidernden »Zurückerkennens« verwendet wird. 42 Das am Lächeln erkennbare »Erkennen«, mit dem das Kind die Mutter womöglich »zum ersten Mal« »wiedererkennt«, ist für Olivetti ein »Zurückerkennen«, das auf das vorangehende »Erkennen« des Kindes seitens der Mutter »antwortet«, die sich dem Kind »zuwendet« und es durch diese fürsorgliche »Zuwendung« »anspricht«. Dementsprechend ist umgekehrt das (ebenfalls am Lächeln erkennbare) »Erkennen«, mit dem die Mutter das Kind als ihresgleichen, d. h. als einen ihresgleichen potentiell Erkennenden »wiedererkennt«, ein »analogisierendes Erkennen«, 43 durch das die Mutter das Kind als ihresgleichen konstituiert. Wie der Begriff der »Analogie« und der »Ein-bildung« bezieht sich also auch der in dem Vergil-Zitat versinnbildlichte Begriff des S. 130. Vgl. S. 130 ff. 41 Vgl. S. 133 bzw. S. 174, wo auf S. 133 Bezug genommen wird. Vgl. auch die Erläuterungen zu Olivettis Interpretation des von ihm leicht verändert wiedergegebenen Vergil-Zitats in der diesbezüglichen Fußnote auf S. 133. 42 Vgl. insbesondere S. 148 ff. 43 Vgl. S. 155 f. 39 40

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»Erkennens« auf den Gedanken, dass jedes Subjekt von einem anderen, »prä-existenten« Subjekt als Subjekt konstituiert worden ist. Tatsächlich ist der »Mechanismus«, durch den ein Subjekt als Subjekt konstituiert wird, in allen drei Fällen derselbe, nämlich die fürsorgliche »Zuwendung«, d. h. die nicht notwendig verbale »Allokution« seitens eines anderen, »prä-existenten« Subjekts. 44 Der so charakterisierte »zentrale Gedanke« dieses Buchs, der in »äquivoker« Weise sowohl ein »empirischer« als auch ein »transzendentaler« und »metaphysischer« Gedanke ist, 45 so dass er einen »Transzendentalismus sui generis« zum Ausdruck bringt, 46 lässt bereits erkennen, dass er eine Reihe von anderen Gedanken nachvollziehbar werden lassen kann, die in diesem Buch ebenfalls von großer Bedeutung sind. Dies gilt allen voran für den Gedanken der »Präexistenz« 47 des Anderen, für den Gedanken seiner »Gegenwart als Prä-senz im Sinne von Prä-existenz«, 48 aus dem sich mittelbar der wichtige Gedanke der »Zusammensetzung« bzw. des »Zerfalls« der Gegenwart in die eigene »Anwesenheit« (sum), in die »Prä-existenz« des »Anderen« (prae-es) und in die »Abwesenheit« der Gesellschaft (abest) ergibt, 49 sowie für den Gedanken einer radikalen »Asymmetrie« und »Diachronie«, die Bedingung jeder Symmetrie und Synchronie ist, 50 und somit für Olivettis »asymmetrische« Konzeption von Intersubjektivität, die sich jeder »symmetrischen« Konzeption von Intersubjektivität wie etwa der der »kommunikativen Ethik« von Apel bzw. Habermas kritisch entgegenstellt. 51 Bei anderen wichtigen Gedanken, wie z. B. bei Olivettis Kritik am »nostalgischen Denken bzw. am Denken als Nostalgie«, dem Olivetti zufolge auch noch Heidegger verhaftet bleibt, 52 oder bei seiner auch an Levinas anknüpfenden Konzeption von Ethik als »erster oder vielmehr vorgängiger Philosophie«, 53 die eng mit dem Gedanken der »Prä-existenz« des Anderen zusammenhängt, ist der Zusammenhang mit dem oben anVgl. z. B. S. 61 f. zum Begriff der »Analogisierung«, S. 132 zum Begriff der »Einbildung« und S. 158 und 173 zum Begriffs des »Erkennens«. 45 Vgl. insbesondere S. 146. 46 Vgl. insbesondere S. 133. 47 Vgl. hierzu insbesondere den dritten Teil des Buchs, S. 119 ff. 48 Vgl. S. 158. 49 Vgl. S. VII, 14, 62 158 und 173 f. 50 Vgl. insbesondere S. 130 ff. 51 Vgl. hierzu insbesondere das fünfte Kapitel, S. 99 ff. 52 Vgl. insbesondere S. 122 ff. und 178 ff. 53 Vgl. z. B. S. VII. 44

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gesprochenen »zentralen Gedanken« dieses Buchs nicht so unmittelbar ersichtlich, lässt sich aber wohl immerhin erahnen. Es würde zu weit gehen, diesen und anderen Zusammenhängen, die z. T. in dem äußerst dichten und synthetischen Vorwort des Autors skizziert sind, hier im Einzelnen nachgehen zu wollen. Wir müssen uns hier darauf beschränken, danach zu fragen, wo der Ursprung dieses Gedankens zu suchen ist und in welcher Weise er sich in den einzelnen Kapiteln dieses Buchs niederschlägt. Der Ursprung des »zentralen Gedankens« dieses Buchs scheint in Olivettis philosophischer Auseinandersetzung mit Levinas und insbesondere mit dessen Begriff der »Subjektion« (sujétion) 54 zu suchen zu sein, die sich unter anderem in dem in das vierte Kapitel eingearbeiteten Aufsatz aus dem Jahr 1983/84 niedergeschlagen hat. 55 Jedenfalls vertritt Olivetti diesen Gedanke in den Aufsätzen, die in dieses Buch eingearbeitet worden sind, zum ersten Mal in dem in das fünfte Kapitel eingearbeiteten Aufsatz aus dem Jahr 1983 in einer Passage, in der er sich im Rahmen einer Kritik an der von den Theoretikern der »kommunikativen Ethik« vertretenen Variante einer »›semiotischen Transformation‹ der transzendentalen Apperzeption« 56 die als eine alternative Variante einer solchen Transformation verstandene Position von Levinas zu eigen macht. 57 Alle weiteren Bezüge auf diesen Gedanken in diesem Buch entstammen entweder Aufsätzen späteren Datums oder sind erst bei der Zusammenstellung dieses Buchs hinzugefügt worden. Bezeichnenderweise thematisiert Olivetti diesen Gedanken schon in diesem Aufsatz vor allem mit Bezug auf eine »empirisch feststellbare Tatsache«, nämlich das »beständige Vorhergehen des kommunizierenden alter gegenüber dem ego, das sich in dieser Kommunikation als solches identifiziert«. Diese »empirisch feststellbare Tatsache«, aus der sich »[d]ie Asymmetrie und die Diachronie des empirisch bekannten bzw. wiedererkannten Kommunikationsprozesses« ergeben, verweist dabei für Olivetti »auf eine radikale Asymmetrie und Diachronie, in welcher und durch welVgl. die Erläuterungen zur Übersetzung dieses Begriffs in der diesbezüglichen Fußnote auf S. 74. 55 Vgl. zu diesem und den nachfolgenden Bezügen auf die in dieses Buch eingearbeiteten Aufsätze die obige Tabelle zur Textgrundlage von Analogia del soggetto 56 Vgl. S. 82. An anderen Stellen ist in diesem Zusammenhang auch von einer »protologischen«, »intersubjektiven« oder »kommunikativen« »Transformation der transzendentalen Apperzeption« die Rede. 57 Vgl. S. 108 ff. 54

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che jede Kommunikation, jedes Subjekt und jedes Sein konstituiert sind«. In diesem Verweis kündigt sich bereits die oben angesprochene »transzendentale« und »metaphysische« Dimension des »zentralen Gedankens« dieses Buchs an, der dadurch einen »Transzendentalismus sui generis« zum Ausdruck bringt. Das Paradigma für die genannte »empirisch feststellbare Tatsache« ist schon in diesem Aufsatz die ontogenetische Konstitution der Subjektivität des Kindes, 58 also eben derjenige empirische Sachverhalt, den Olivetti später mit Bezug auf einen Vers Vergils als »Motto« bzw. als »Sinnbild« für die Ausführungen in seinem Buch bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass Olivetti diesen Sachverhalt in einem der beiden in das siebte Kapitel eingearbeiteten Aufsätze aus den Jahren 1986/87, in denen er den »zentralen Gedanken« seines Buchs zum ersten Mal ausführlich entfaltet, 59 als einen Vorgang beschreibt, der sich im »Wechselspiel von Identifikation und Projektion« verwirklicht. 60 »Identifikation und Projektion« lautet nämlich der Titel eines 1971 erschienenen Buches der Schwester Olivettis, der Psychologieprofessorin Marta Olivetti Belardinelli, 61 mit der Marco M. Olivetti zeit seines Lebens auch geistig in regem Austausch stand. In diesem Buch beschreibt Olivettis Schwester nämlich ebenso wie in ihrem zwischen 1974 und 1986 in drei Auflagen erschienenen Hauptwerk »Die Konstruktion der Wirklichkeit als psychologisches Problem« 62 unter anderem auch die Mechanismen der »Identifikation« und der »Projektion« bei der ontogenetischen Konstitution der Subjektivität des Kindes. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass Olivetti zu dem »zentralen Gedanken« seines Buchs zwar durch Levinas inspiriert worden ist, dass die Artikulation dieses Gedankens aber entscheidend durch seine Schwester beeinflusst worden ist. Darüber hinaus ist bezeichnend, wann und wie die drei oben genannten Begriffe, mittels derer Olivetti den »zentralen Gedanken« seines Buchs zusammenfasst, also die Begriffe »Analogie« (analogia), Vgl. auch S. 106. In dem zuvor erwähnten Aufsatz aus dem Jahr 1983 hatte Olivetti den »zentralen Gedanken« seines Buchs lediglich vertreten, aber noch nicht ausführlich entfaltet. 60 Vgl. S. 147 f. 61 Vgl. Marta Olivetti Belardineli: Identificazione e proiezione. Natura e caratteristiche, Bologna: Cappelli Editore, 1971. 62 Vgl. Marta Olivetti Belardinelli: La costruzione della realtà come problema psicologico. Torino: Boringhieri Editore, 1974, 1978, 1986. 58 59

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»Einbildung« (immaginazione) und »Erkennen« (riconoscimento), ihren spezifischen, auf die Subjektkonstitution bezogenen Sinn angenommen haben. Aufschluss darüber findet sich nicht zufällig in den beiden eben erwähnten, in das siebte Kapitel eingearbeiteten Aufsätzen aus den Jahren 1986/1987. In dem ersten dieser beiden Aufsätze wird der Begriff der »Analogie« zusammen mit den Begriffen der »Projektion« und »Identifikation« und dem Begriff der immaginazione an einer Stelle verwendet, an der es in der Übersetzung heißt, die »Maske« der »Person« sei »eine Erscheinung, die es mir erlaubt, das ›Innere‹ des Anderen mittels der Prozesse der Analogie, Projektion und Identifikation zu imaginieren«. 63 Die Begriffe »Analogie«, »Projektion« und »Identifikation« werden hier also noch nicht in dem im Titel dieses Buches angesprochenen, auf die Subjektkonstitution bezogenen Sinne verwendet, sondern mit Bezug auf ein bereits konstituiertes Subjekt, so dass der Begriff der immaginazione hier nicht ein »Ein-bilden«, sondern ein »Imaginieren« bezeichnet. In dem zweiten der beiden Aufsätze wird der Begriff der »Analogie« dagegen vor dem Hintergrund des Bezugs auf das »Wechselspiel von Identifikation und Projektion« zusammen mit dem Begriff des »Erkennens« in der Rede von einem »analogisierenden Erkennen« (riconoscimento analogante) seitens des Anderen verwendet, durch welches »mir die Subjektivität des Selbstbezugs […] gegeben ist«. 64. Hier klingt der im Titel dieses Buchs angesprochene, auf die Subjektkonstitution bezogene Sinn des Begriffs der »Analogie« zwar schon im Begriff der »Analogisierung« an, ist dabei aber noch an den in dem oben beschriebenen, »interlokutiven« Sinne verstandenen Begriff des »Erkennens« gebunden. Erst in den in das zweite, dritte und achte Kapitel eingearbeiteten Aufsätzen aus den Jahren 1989–1992 werden die Begriffe »Analogie« und »Analogisierung« unabhängig vom Begriff des »Erkennens« in dem im Titel dieses Buchs angesprochenen Sinn verwendet. 65 Etwa zur gleichen Zeit, nämlich in dem in das sechste Kapitel eingearbeiteten Aufsatz aus dem Jahr 1990, wird auch der Begriff der immaginazione zum ersten Mal nicht im Sinne von »Imaginieren«, sondern im Sinne von »Ein-bilden« verwendet. 66 DieS. 143. S. 155 f. Vgl. auch S. 154. 65 Vgl. z. B. S. 61 ff., 188 und 195 f. Alle Verwendungen dieser Begriffe in Kapiteln, die auf früheren Aufsätzen beruhen, sind erst bei der Zusammenstellung von Analogia del soggetto hinzugefügt worden. 66 Vgl. S. 130 ff. sowie die obige Tabelle zur Textgrundlage von Analogia del soggetto. 63 64

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Vorwort des Übersetzers

se Umstände deuten darauf hin, dass die Begriffe »Analogie« bzw. »Analogisierung« und »Ein-bildung« ihren besonderen, auf die Subjektkonstitution bezogenen Sinn erst relativ spät und – wie der Begriff »Erkennen« – im Zusammenhang mit der auf die Subjektkonstitution bezogenen Verwendung der Begriffe »Identifikation« und »Projektion« angenommen haben. Dies bestätigt und verstärkt die oben motivierte These, dass die Artikulation des »zentralen Gedankens« dieses Buchs entscheidend durch Olivettis Schwester beeinflusst worden ist. Der »zentrale Gedanke« dieses Buchs steht weder am Anfang noch am Ende desselben, aber er kommt in den meisten Kapiteln mittels wenigstens eines der drei Begriffe »Erkennen« (riconoscimento), »Ein-bildung« (immaginazione) und »Analogie« (analogia) bzw. »Analogisierung« (analogizzazione) zur Sprache: im zweiten, dritten und achten Kapitel mittels des Begriffs der »Analogie« bzw. »Analogisierung«; 67 im vierten und fünften Kapitel ohne expliziten Rekurs auf einen dieser drei Begriffe, aber im Zusammenhang bzw. vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Levinas und dessen Begriff der »Subjektion« (sujétion); 68 im sechsten Kapitel mittels des Begriffs der »Ein-bildung« und im siebten Kapitel vor allem mittels des Begriffs des »Erkennens«. 69 Lediglich im ersten Kapitel und in den beiden Anhängen fehlen Bezüge auf diesen Gedanken. Dementsprechend kann die Abfolge der Kapitel und mithin die Struktur dieses Buchs nicht unmittelbar von dessen »zentralen Gedanken« her bzw. auf diesen Gedanken hin verstanden werden, sondern muss einem anderen Kriterium folgen. Einen ersten Hinweis darauf gibt das Vorwort des Autors, wo vor dem Hintergrund der sich aus dem »zentralen Gedanken« dieses Buchs ergebenden These vom »Zerfall« der »Gegenwart in sum – prae-es – abest« die Einteilung des Buchs in drei Teile erläutert wird. 70 Diese Erläuterung deutet nämlich darauf hin, dass die drei Teile des Buchs den drei »Formen«, »Weisen« oder »Komponenten« korrespondieren sollen, in welche die »Gegenwart« zerfällt bzw. aus welchen sie sich zusammensetzt. 71 Ganz offensichtlich ist dies in Bezug auf den ersten Teil des Buchs, dessen Betrachtungen der »Abwesenheit als Form der Gegenwart, der höchst gegen67 68 69 70 71

Vgl. S. 46 ff., S. 50 und 61 ff., bzw. S. 188 und 195 f. Vgl. S. 74 ff. bzw. S. 108 ff. Vgl. S. 130 ff. bzw. S. 148 ff. Vgl. S. VII. Vgl. S. VII, 14, 62 158 und 173 f.

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Vorwort des Übersetzers

wärtigen Abwesenheit der Gesellschaft« gelten, so dass sich dieser Teil ganz offensichtlich auf das abest bezieht. Weniger offensichtlich ist dies dagegen in Bezug auf den zweiten und den dritten Teil, die der »Diskussion der zeitgenössischen Versuche, die transzendentale Apperzeption in ethischem Sinne neu zu überdenken«, bzw. dem Versuch, »das vorstellende Denken ›aufzuspüren‹, d. h. es wieder auf die ›rechte‹ Spur der Vorstellung zu bringen«, gewidmet sind. Bedenkt man jedoch, dass der Begriff der »transzendentalen Apperzeption« traditionell eben gerade das cogito und mithin die »Gegenwart« in der »ersten Person« bezeichnet, und dass der Begriff der »Vorstellung« hier auf die nicht nur in einem räumlichen, sondern vor allem in einem zeitlichen Sinne verstandene »Vo r- s t e l l u n g und praesentia des Gesichts des Anredenden, der mich zum Subjekt gemacht hat«, 72 anspielt, dann wird nachvollziehbar, dass sich der zweite und dritte Teil des Buchs auf das sum bzw. das prae-es beziehen. Diese These wird im Übrigen auch durch eine Anmerkung Olivettis im ersten Teil dieses Buchs bestätigt, in der davon die Rede ist, dass die »folgenden« Teile des Buchs »dem ›ich‹ und dem ›du‹ gewidmet« sind. 73 Es würde zu weit gehen, darüber hinaus hier auch noch im Einzelnen erörtern zu wollen, warum die drei Teile dieses Buchs in dieser und nicht in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind. Dies gilt natürlich umso mehr für die thematische Abfolge und Komposition der Kapitel innerhalb jedes dieser drei Teile, zumal wir gesehen haben, dass es diesbezüglich im Verlauf der Zusammenstellung dieses Buchs zu einer Reihe von Veränderungen gekommen ist. 74 Sehr wahrscheinlich jedoch würde eine Erörterung dieser Fragen unter anderem auch auf Umstände rekurrieren, die mit der Biographie des Autors und der Entstehungsgeschichte des Werks zu tun haben. So dürfte es zum einen kein Zufall sein, dass die thematische Abfolge der drei Teile des Buchs im Wesentlichen dem Denkweg eines Religionsphilosophen entspricht, der ausgehend von der Reflexion über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft zur Frage der Notwendigkeit einer »intersubjektiven Transformation der transzendentalen Apperzeption« und von dort aus zur Frage nach der »Spur« der »Prä-existenz« des Anderen in der »Vorstellung« gekommen ist. 72 73 74

S. 174. Vgl. S. 53. Vgl. die diesbezüglichen Erläuterungen im zweiten Teil dieses Vorworts.

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Vorwort des Übersetzers

Zum anderen ist es für die thematische Abfolge und Komposition der Kapitel innerhalb jedes dieser drei Teile eben nicht unerheblich, dass dieses Buch nicht aus einem Guss entstanden ist, sondern sich im Wesentlichen aus darin eingearbeiteten Aufsätzen zusammensetzt. Wer diese Umstände im Sinn behält und sich durch ihre systematischen Konsequenzen nicht irritieren lässt, wird umso mehr den gedanklichen Reichtum, die denkerische Tiefe und die philosophische Innovativität zu schätzen wissen, die dieses Buch auszeichnen.

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Zur Einführung

Marco Maria Olivetti wendet sich in seinem Werk Analogie des Subjekts jener Frage zu, die seit dem Beginn des abendländischen Philosophierens in dessen geheimem Zentrum stand, die heute in dem finalen Stadium unserer menschlichen Geschichte, im welchem uns die technischen Mittel zu einer totalen Ausrottung unserer selbst als Gattung »Mensch« zur Verfügung stehen, nur noch dringlicher wird: »Wer sind wir als wir selbst?« Seit dem signifikanten Auseinandertreten des umfassenden Erkennens aller Wirklichkeit in ein alles erschöpfend more geometrico geschehen könnendes einerseits und ein Denken andererseits, welches sich darüberhinaus definitiv mit Kant der Frage stellt, ob wir, die wir eine solche scientia universalis more geometrico betreiben, uns durch diese dann aber auch als wir selbst erschöpfend begreifen können, ist die Frage nach dem »Subjekt« immer mehr zu einer Kernfrage alles Philosophierens geworden. Marco Maria Olivetti, der über dreißig Jahre lang das von Enrico Castelli an der ältesten römischen Universität »La Sapienza« gegründete »Istituto di Studi filosofici« leitete, welches in seinen Kolloquien in regelmäßigen Abständen immer wieder Philosophen aus der ganzen Welt zu einem Austausch zusammenführte, stellt sich dieser Frage, indem er die überlieferte Figur der »Analogie« in die Antwort auf diese Frage einführt. Denn diese Frage erlaubt es ja, die ganze Fülle dessen, was »wirklich ist« in seiner unverkürzten Differenziertheit dem Denken zugänglich zu machen, – und doch zugleich in seinem Einander-entsprechen. Sie lässt darauf hoffen, diese Fülle im Lichte der aristotelischen Grundeinsicht zu verstehen: »To on pollachos legetai« (Metaphysik 1003 a 33) »Das wirklich Seiende wird auf vielfache Weise zur Sprache gebracht«. Aber Olivetti versteht »Analogie« im Kontext der Grundfrage des Menschen nach sich selbst als einem »Subjekt«, das sich selbst das Rätsel ist, in einer ganz neuen und über das bisherige klassische 35 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zur Einführung

metaphysische Verständnis von »Sein« und »Analogie« zugleich hinausgehenden Weise. Er versteht sie nicht als Entsprechung, die in einem prinzipiell schon vorliegenden Raum von »Sein« entschlüsselt und vor Augen gestellt werden könnte. Sondern er versteht sie als »Ent-sprechung«, die sich im Sich-ereignen von Sprache als einer menschlichen selbst allererst zuträgt. Dazu bedarf es aber immer zumindest zweier Menschen, die als sie selbst je füreinander uneinholbare »Andere« sind und derart zueinander und miteinander sprechen. Dass Analogie nur so, im Sich-einlassen auf diese Paradoxie, verstanden werden könne, behauptet bereits der allererste Satz des ganzen Werkes: »Die These dieses Buches ist, dass es ein Wesen des Menschseins nicht gibt« 1. Olivetti geht davon aus, dass eine abgeschlossene und derart nennbare »essentia«, in dem Sinne, in welchem dieses Wort in der Schulphilosophie und insbesondere der seit Claubergs »Metaphysica« (1646) so genannten »Ontologie« gebraucht wird, schlechthin nirgends vorhanden ist. Freilich treten bereits gleich in diesem ersten Satz des Werkes die Schwierigkeiten der Übersetzung des italienisch gedachten und niedergeschriebenen Textes Olivettis ins Deutsche vor Augen. Denn »essentia/essenza« hat im Lateinischen und Italienischen einen eben sehr viel eindeutiger zeitlos statisch-substantivischen Charakter als das deutsche »Wesen«, das diese Grundbedeutung zwar auch hat, in welchem sich aber immer auch ein je verbaler zum Substantiv erhobener Infinitiv mithören lässt. Gerade dieses »Äquivokum« gibt nun aber zu denken. Es eröffnet dem Denken ursprünglich das Geschehen des Sich-ereignens von Sprache, welches sich je wieder zwischen mindestens zwei füreinander nie je endgültig einholbaren »Subjekten« zuträgt. In ihrer Ursprünglichkeit wird uns diese »Szene« (scena), so Olivetti, in dem Deponens »loquor« deutlich, welches die nur aktive Bedeutung von »Sprechen« abgelegt hat. Ich kann nur sprechen, weil ich angesprochen werde. Man ist hier an Franz von Baaders, Descartes korrigierendes »cogitor, ergo cogito, ergo sum« erinnert. Olivetti hatte seine Universitätslaufbahn im engeren Sinn mit einer sehr gründlichen und beachteten Arbeit über L’esito teologico – »Das theologische Ergebnis der Sprachphilosophie Friedrich Heinrich Jacobis« (1969) begonnen. »La tesi di questo libro è che non esiste un’essenza dell’essere umano«. Kursivierung im Deutschen v. Vf.

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Zur Einführung

In diesem Lichte entfaltet Olivetti in den drei Teilen seines Werkes nun aber je wieder neu »Analogie« als den Grund, der es uns erlaubt, in einer aufmerksamen phänomenologischen Deskription den anderen Menschen und uns selbst als Subjekte zu verstehen. Der Erste Teil geht dabei von der Erfahrung des Zerfalls der Präsenz aus, die jener Gesellschaft eigen ist, die wir als die »säkularisierte« bezeichnen. In einer überlieferten »Onto-theologie« wurde diese Präsenz von »Gott«, – gleichsam dem »Subjekt der Subjekte« – garantiert. Die gründliche Auseinandersetzung Olivettis mit Luhmann, Habermas und Apel zeigt, dass und wie angesichts deren hermeneutischer Soziologie sich die Frage nach dem Grund der Möglichkeit der Gegenwart der Intersubjektivität als eine allererst noch zu beantwortende erweist. Gerade in dem durch nichts auszulöschenden »kategorialen Horizont« der ständig »anwesenden Abwesenheit« der »Gegenwart der Intersubjektivität« kann Olivetti denn aber in aufschlussreichen phänomenologischen Analysen zeigen, warum nicht der Horizont der »Welt«, sondern allererst der der Gesellschaft jener ist, in welchem als dem geschichtlich geschehenden Horizont sich Subjektwerdung ereignet; und dass dies bedeutet, dass die derart sich ereignende »Analogisierung ursprünglicher ist als die Objektivierung und sie determiniert, auch wenn beide zeitgleich erfolgen« (96). Olivetti nennt dieses Geschehen die »ursprüngliche« Situation des sich ereignenden Gespräches, die »dem Subjekt seinen Ursprung gibt und es zur Welt bringt« (114). Heideggers These von der ekstatischen Gründung eigentlichen Daseins in dessen In-der-Welt-sein wird so grundsätzlich überschritten, oder – wenn man das lieber so sehen will – zumindest vor einem Missverständnis geschützt. Der Zeitigung des sich ereignenden Gespräches als einer solchen widmet sich der letzte Abschnitt des ersten Teils der »Analogie des Subjekts« unter dem Titel »Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung« in formaler Parallele zu der heideggerschen Struktur der Sorge, welche sich im § 41 von »Sein und Zeit« als «Sich-vorweg-sein – imschon-sein-in – als Sein-bei« darstellt. Der Zweite Teil der anspruchsvollen Untersuchung Olivettis geht nun dazu über, den zunächst einmal gleichsam anatomisch genau vorgestellten Aufriss von Subjektwerdung in dem zwischen Menschen, die als sie selbst sprechen, geschehenden »ethischen« Ereignis der Kommunikation aufzusuchen. Es kommt nicht von ungefähr, dass der erste Abschnitt dieses zweiten Teiles dabei intensiv von einer Aufnahme des zweiten 37 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zur Einführung

Hauptwerkes von Emmanuel Levinas Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974) ausgeht. Denn Emmanuel Levinas war von der Mitte der 70er Jahre an zu einem der wichtigsten Teilnehmern an den von Olivetti an der römischen Universität »La Sapienza« veranstalteten internationalen Castellikolloquien geworden, einer der weltweit wichtigsten Plattformen für die Diskussion religionsphilosophischer Grundfragen. Im IV. Kapitel von »Analogie des Subjekts« gelingt es Olivetti ausgezeichnet, den entscheidenden Schritt einsichtig zu machen, mit dem Levinas in der Frage »Wer« wir sind, über sein erstes großes Hauptwerk Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité noch einmal hinausgeht und das »anders als Sein« des »Subjekts« in einer Hermeneutik des diachronen Geschehens der Intersubjektivität zu erschließen unternimmt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, dass sich für Levinas die »Subjektivität« als »Subjektion (sujétion)« konstituiert; oder, so könnten wir auch mit einem anderen, auf die kantsche Problematik von Autonomie als Freiheit eingehenden Terminus, den Levinas bereits in Totalité et Infini gebraucht, sagen, als »hétéronomie priviligiée« 2. Diese führt das »Ich« aber in eine von diesem als ihm selbst nicht definitiv zu Ende zu bringende »infinition« hinein. Mit Recht bringt Olivetti dies mit der These Fichtes zusammen, dass folglich »das Sein, da es vermittelt ist und deduziert werden kann, nicht der unmittelbare Gegenstand dessen ist, was wir ›erste Philosophie‹ nennen könnten« (145). In der Sache »kommt es mit Fichte zum ersten Mal zu einer protologischen Transformation der von Kant auf den Weg gebrachten Transzendentalphilosophie«. Derart geht es denn auch in Autrement qu’ être »um eine radikale Neudefinition der Subjektivität«, die Levinas als »Subjektion« bzw. als »Substitution« versteht. Diese Neudefinition bringt es mit sich, im Verständnis des Subjekts über die transzendentale Apperzeption hinauszugehen (147). Bei diesem Schritt ist Levinas aber mehr Kant als Husserl verpflichtet. Daran schließt Olivetti die wichtige Einsicht an, dass es sich im Denken von Levinas nicht, wie immer wieder einmal behauptet wird, »um das Denken eines Moralisten handelt, sondern um das Denken eines Philosophen, der zu der These gelangt, die Ethik sei die erste

2 Emmanuel Levinas: Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité. La Haye (Nijhoff) 1974, 60 u. ö.

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Zur Einführung

Philosophie, indem er aus dem Innern der Transzendentalphilosophie heraus das Ziel verfolgt, den Erfordernissen einer protologischen Transformation derselben gerecht zu werden, die sich an dem […] ›äquivoken‹, aber unabweisbaren Symptom des Erscheinens von Intersubjektivität zeigen« (154). Man darf darin denn auch eine der grundlegendsten Einsichten sehen, aus der heraus Olivetti seine eigene »Analogie des Subjekts« schrieb. Diese stellt jede »substantialistische und monadologische Konzeption des Subjekts« in Frage (165) und schließt sich nach Olivettis eigenem Verständnis der Kritik an, die schon Kant an Leibnizens »Rekurs auf eine G o t t h e i t z u r Ve r m i t t l u n g « aller »Substanzen der Welt, nur, wie sie der Verstand allein denkt« (KrV B 293), geübt hatte (165). Sowohl der Heidegger, den Levinas 1928/29 in Freiburg gehört hatte wie, zu derselben Zeit, Husserl, hatten allerdings die Subjektivität des Subjekts in einer solchen »Vermittlung« durch die Übermacht des »Seins« als des »Selben« oder einer »monadologischen Intersubjektivität« zu verankern versucht. Angesichts dieser Situation setzt sich Olivetti sodann im V. Kapitel mit den Versuchen der zeitgenössischen Diskursethik auseinander in einer symmetrisch-synchronen, als »Selbsteinholung« »des rekonstruierenden Subjekts« (175) zu verstehenden Kommunikationsgemeinschaft eine »Letztbegründung« für diese selber zu finden. Und er unternimmt es im Dritten Teil seines Werkes dann schließlich eine »Hoffnung zu denken, die nicht nostalgischer Art« ist (196). Ein solches hoffendes Denken erscheint nicht unmöglich, wenn Denken denn selbst aus seiner Verwurzelung in der sich mindestens zwischen zwei füreinander uneinholbaren Anderen ereignenden Sprache in ihrem Sich-ereignen selbst heraus verstanden wird, d. h. in einem in einem ursprünglichsten Sinn zu verstehenden »erfahrenden Denken«. Ein solches, seine eigene Zeitlichkeit radikal ernst nehmendes Denken ist sich dessen bewusst, dass es selbst nur geschehen kann in einem ständigen »Bedürfen des Anderen« als dessen nur andere Seite sich das vorbehaltlose »Ernstnehmen der Zeit« erweist. Diese Maxime des »Neuen Denkens« Franz Rosenzweigs nimmt Olivetti in der Tat auf, wenn er in seinem VI. Kapitel formuliert: »Sprache ist Zeitlichkeit in diesem radikalen Sinne, noch bevor sie dies in unzähligen anderen, obschon bedeutungsvollen Sinnen ist, die in diesem uneinbildbaren und uneinschließbaren Sinne nicht etwa ihren Grund, sondern ihren Abgrund finden« (218). 39 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zur Einführung

In einem solchen Verständnis von Denken als einem selbst erfahrenden kann dann aber auch das »Versammeln selbst«, das in Sprache und derart im Denken geschieht, als »nicht ein logisches«, d. h. alles in einem Einen, das dem Denken zur Verfügung stünde, abgeschlossenes, sondern vielmehr nur »ein analogisches, kein univokes, sondern ein äquivokes, kein einziges, sondern ein vielzähliges Versammeln sein« (211). Olivettis neues Verständnis von Analogie findet hier in einer phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität tatsächlich geschehender geschichtlicher Sprache seinen es ausweisenden Grund. Das tatsächliche, in einem unendlichen Interim zwischen dem als er/sie/es selbst wahrzunehmenden »Anderen« und dem Sprechenden sich zutragende Geschehen nennt Olivetti das der »interlokutiven Allokution« (219 u. ö). Das sehr einlässliche VII. Kapitel »Erzählung und Kindheit« sucht deren Genese in dem Geschehen der Selbstwerdung, die sich im Zur-Sprache-kommen eines Kindes zwischen Mutter und Kind ereignet, zu Bewusstsein zu bringen. Dieses Ereignis kann zugleich – und dies wiederum im Zusammenhang mit dem Verständnis von Autonomie bei Kant – auch deutlich machen, worin sich ein rein neuzeitlich-ontologisches Verständnis von Ethik, von dem hier ans Licht tretenden Verständnis unterscheidet. In einem abschließenden VIII. Kapitel wendet sich Olivetti dann noch einmal intensiv Heidegger zu, um zu zeigen, wie ein Verständnis von Sprache, das in einer rein ekstatischen Fundamentalontologie des Daseins zum Tode wurzelt (»Die Sprache spricht«) hinter dem zurückbleibt, was sich in dem diachronen Ur-ereignis der »interlokutiven Allokution« zeigt. Dabei geht Olivetti von der bekannten Stelle des Humanismusbriefes aus: »Den Halt für alles Verhalten schenkt die Wahrheit des Seins. […] Darum ist die Sprache zumal das Haus des Seins und die Behausung des Menschenwesens« 3. Gewiss, das epochemachende Verdienst Heideggers liegt darin, dass es die von einem verfallenden metaphysischen Denken vergessene »ontologische Differenz« aufdeckt und zur Grundlage allen Denkens macht. Auf diesen Boden stellt sich auch Olivetti. Aber ist es in dem Geschick der Globalisierung, das uns heute zum ersten Mal in der Geschichte des Menschen derart universal herausfordert und uns die Möglichkeit zu einem atomaren Gattungsselbstmord an die Hand gibt, für ein philosophisches Denken um un3

Martin Heidegger, Gesamtausgabe, 9, 361.

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Zur Einführung

seres Menschseins willen nicht mindestens ebenso wichtig, sich mit der dieser Differenz noch einmal voraufliegenden »ethischen Differenz« einzulassen? Olivettis Analysen führen mit Notwendigkeit zu der Frage, ob sich dann aber auch die Frage nach »Gott« nicht noch einmal ganz neu und anders stellt. Deshalb hat Olivetti seiner »Analogie des Subjekts« zwei größere Arbeiten beigegeben, die im Hinblick insbesondere auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Religion und die verschiedenen sprachtheoretischen Ansätze in der angelsächsischen Analytik umfassende Präliminarien herausarbeiten, die heute eine Religionsphilosophie, welche die »Analogie des Subjektes« aufnehmen würde, zu beachten hätte. Sie lassen erkennen, dass und wie die Gottesfrage heute gar nicht mehr anders als im Kontext der Frage nach dem Ursprung menschlicher Sprache und das heißt von vornherein nur im Kontext einer Hermeneutik sterblichen menschlichen Daseins mit anderem derart sterblichen Dasein gestellt werden kann. Marco Maria Olivetti starb für uns alle zu früh. Aber er hat uns in den drei Bänden seiner Schriften 4, und in der »Analogie des Subjekts« insbesondere, ein Werk hinterlassen, das dadurch zu denken gibt, dass es zu hoffen gibt. Es ermöglicht es dem Denken, sich selbst in einem es selbst allererst gründenden Sinne »vorweg zu sein«. Wittnau, im Juni 2016 Bernhard Casper

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Marco Maria Olivetti: Opere I–III. Pisa – Roma (Fabrizio Serra Editore) 2013.

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ANALOGIE DES SUBJEKTS

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Vorwort

VII

Die These dieses Buches ist, dass es ein Wesen des Menschseins nicht gibt. Ein solches Wesen ist »ein-gebildet«, a und ohne solche Ein-bildung würden das Sein und das Menschliche nicht zusammengehören. b Auf diese Weise bringt man in gewissem Sinne das Ende von Ethik zum Ausdruck. Zugleich jedoch bringt man auf diese Weise zum Ausdruck, dass Ethik und nicht Ontologie die erste oder vielmehr die vorgängige Philosophie ist. Diese Äquivokation c im etymologischen Sinne des Worts öffnet das Intervall des Seins, indem sie die Bühne d der Interlokution e enta

Im Sinne des Resultats einer »Einbildung« (immaginazione), die »in die eigene Gegenwart eine andere Gegenwart und ein anderes Bewusstsein ein-bildet« (S. 130) und somit ermöglicht, zwischen dem »eigenen« und dem »anderen« Bewusstsein, zwischen ego und alter ego zu unterscheiden und ein ihnen gemeinsames »Wesen« zu identifizieren. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der »Ein-bildende« immer zuerst der Andere ist (vgl. S. 130 ff.). Vgl. hierzu auch die Erläuterungen im vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers. b Das »Zusammengehören« des »Seins« (l’essere) und des »Menschlichen« (l’umano) spielt hier vordergründig auf die Verbindung der beiden italienischen Termini in dem hier mit »Menschsein« übersetzten Ausdruck essere umano an, der im Italienischen auch schlicht im Sinne von »Mensch« verwendet wird, er ist aber natürlich vor dem Hintergrund von Heideggers Rede vom »Zusammengehören« des »Seins« (l’essere) und des »Menschen« (l’uomo) zu verstehen (vgl. S. 116, 161, 184–187) und ist durch die Abwandlung dieser Rede selbst Hintergrund der unmittelbar nachfolgenden Aussagen zur Ethik. c Der Begriff der »Äquivokation« wird in diesem Buch nicht nur im Sinne von Zweibzw. Mehrdeutigkeit verwendet, sondern auch im Sinne von lateinisch aequi-vocatio, also auch im Sinne von etwas, was Ausdruck gleichlautender, aber verschiedener (und Verschiedenes bedeutender) Stimmen ist. Von daher versteht sich der anschließend thematisierte Bezug zur »Interlokution«. d Die im dem in diesem Buch sehr häufig verwendeten Begriff der »Bühne« (scena) konnotierte Metaphorik des Theaters ist durchaus nicht unbeabsichtigt. Vgl. dazu insbesondere S. 129 ff. e Der Begriff der »Interlokution« (interlocuzione) bezeichnet in diesem Buch ein Ver-

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Vorwort

faltet. Das Sein ist inter-esse, und jedes Interesse – auch das »Interesse der Vernunft« – ist bereits ontologisch. Ein differentes ergo – eine Verschiebung und Differenzierung des ergo – drängt sich mithin gegenüber demjenigen ergo auf, welches das cogito des modernen Subjektivismus nach sich zieht; ausgehend vom Deponens loquor, d. h. ausgehend vom analogischen f »Ursprung« jeder Logik, zerfällt die Gegenwart g in sum – prae-es – abest. Der Abwesenheit als Form der Gegenwart, der höchst gegenwärtigen Abwesenheit der Gesellschaft, gelten insbesondere die Betrachtungen im ersten Teil des Buchs (das Motiv kehrt in den Anhängen wieder). Der zweite Teil widmet sich der Diskussion der zeitgenössischen Versuche, die transzendentale Apperzeption in ethischem Sinne neu zu überdenken. Der dritte Teil versucht, das vorstellende Denken »aufzuspüren«, d. h. es wieder auf die »rechte« Spur der Vorstellung zu bringen. h M. M. O.

ständnis von sprachlicher Interaktion, welches sich von dem unterscheidet und abgrenzt, was gemeinhin unter den auch im Italienischen sehr viel geläufigeren Begriffen »Gespräch« (colloquio) oder »Dialog« (dialogo) verstanden wird (vgl. hierzu die Erläuterungen im dritten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers). Dementsprechend ist »Interlokution« hier auch nicht etwa als ein Gespräch oder Dialog zu verstehen, der sich infolge der Zweideutigkeit der »Äquivokation« entfaltet, sondern umgekehrt gleichsam als dasjenige, was die »Äquivokation« selbst erzeugt. f Der Begriff der »Analogie« (analogia) wird in diesem Buch auch im Sinne von »Analogisierung« verwendet (vgl. hierzu die Erläuterungen im dritten und vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers). Dementsprechend ist hier auch gemeint, dass der »Ursprung« jeder Logik in der analogisierenden Allokution besteht (vgl. S. 61 f., 69, 133 f.). g Der Begriff der »Gegenwart« wird hier und in diesem Buch in der Regel im Sinne von »Präsenz« (presenza) verwendet. Vgl. hierzu die Erläuterungen im dritten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers. h Dieses »Aufspüren« (rintracciare), welches das vorstellende Denken wieder auf die »›rechte‹ Spur« («giusta» traccia) der »Vorstellung« (rappresentazione) bringen soll, ist vor dem Hintergrund der These von der »Nichtursprünglichkeit der Vo r s t e l l u n g als R e - p r ä s e n t a t i o n « gegenüber der »›ursprüngliche[n]‹ Vo r- s t e l l u n g der re-präsentierten Person«, d. h. gegenüber der zeitlich verstandenen »Vo r- s t e l l u n g und prae-sentia des Gesichts des Anredenden, der mich zum Subjekt gemacht hat« (vgl. S. 170 ff.) zu verstehen. Dementsprechend zielt die Rede von der »›rechten‹« («giusta») Spur hier auch darauf ab, das ethische Motiv der »Gerechtigkeit« (giustizia) anklingen zu lassen.

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Erster Teil Abwesenheit und Gesellschaft

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Erstes Kapitel a Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes b

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c

In der säkularisierten Gesellschaft findet die öffentliche Nennung Gottes (das öffentliche Aussprechen des Namens »Gott« oder des Namens eines Gottes) nicht mehr statt. Diese Nennung fungierte im Leben der uns historisch bekannten Gesellschaften als oberste Legitimation und Garantie der Formen, in denen sich das gesellschaftliche Zusammenleben konfigurierte. Heute sind die feierlichen Definitionen der allgemeinen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens meistens sich selbst begründende Definitionen, und wenn sie als Legitimation und Garantie für die Ordnung, die sie strukturieren wollen, oberste Instanzen nennen, dann beschwört dieses Nennen, mit einer Art Zirkel, gerade das, was diese Ordnung garantieren soll: die Freiheit, die Menschenwürde, die Gerechtigkeit, das Gesetz selbst (»im Namen des Gesetzes«) usw. In den historischen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist die Phänomenologie der Gottesnennung gewiss sehr mannigfaltig. Vergleicht man sie aber mit der die säkularisierte Gesellschaft kennzeichnenden Abwesenheit einer derartigen Phänomenologie, dann wird es möglich, sie einheitlich zu charakterisieren. Die Gottesnennung in der Gesellschaft, die schon aufgrund dieses öffentlichen Sprechakts keine säkularisierte bzw. keine vollständig säkularisierte Gesellschaft ist, gilt als etwas, was die gesellschaftliche a

Dieses Kapitel knüpft an einen Aufsatz an, der 1980 auf Italienisch unter dem Titel Ecclesiologia filosofica e teoria della società (MMO-62) und 1981 in gekürzter Fassung auf Deutsch unter dem Titel Sich in seinem Namen Versammeln: Kirche als Gottesnennung (MMO-68) erschienen ist. Die entsprechenden Textabschnitte sind durch Fußnoten gekennzeichnet. b Der Begriff des »Ganzen« übersetzt hier den italienischen Begriff totalità, der im Folgenden entsprechend dem deutschen Sprachgebrauch auch mit »Gesamtheit« oder »Totalität« übersetzt wird. c Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 9 folgt der Text im Wesentlichen MMO62, S. 430–433, bzw. MMO-68, S. 189–195.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Ordnung und die Gesellschaft selbst, die sich in jener Ordnung definiert und darin ihre Identität findet, begründet. Der beim Namen genannte Gott oder die beim Namen genannten Götter sind gründende Götter, und ihre Nennung erneuert die Begründung und/oder stellt sie selbst her. Das Hendiadyoin bzw. die Alternation, die durch das graphische Behelfsmittel »und/oder« (welches heute endgültig auch auf dem »Kontinent« Einzug gehalten hat) zum Ausdruck gebracht wird, verbirgt nicht mehr und nicht weniger als das Problem von Identität und Wiederholung, mit dem wir – zumal wir in diesem Buch etwas machen, was mit dem zu tun hat, was im Lauf der Geschichte »Philosophie« genannt worden ist – noch Gelegenheit haben werden, uns zu beschäftigen. Für den Augenblick jedoch kann es als irrelevant gelten, ob es sich bei der Gründung wirklich um ein geschichtliches Ereignis gehandelt hat oder ob sie von der Gott nennenden Gesellschaft lediglich als ein solches verstanden wird: die Gottesnennung selbst nämlich verwirklicht das Gründungsereignis geschichtlich. Gewiss kann es auch den Fall geben, dass die Gottesnennung sich in einen Gegensatz zur etablierten gesellschaftlichen Ordnung setzen will, oder zu der Gesellschaft, die sich in dieser Ordnung definiert; 6 auch in diesem Fall jedoch beabsichtigt die Nennung entweder, die kritisierte Gesellschaft zu ihrem wahren Ursprung zurückzuführen, von dem sie abgewichen ist, so dass sich eine illegitime Ordnung etabliert hat, oder aber sie beabsichtigt, eine neue und legitime, weil auf den angerufenen oder beschworenen Gott sich gründende Gesellschaft an die Stelle der illegitimen zu setzen. Die Unnennbarkeit Gottes in Israel steht keineswegs in Widerspruch zu dieser allgemeinen und einheitlichen Charakteristik der öffentlichen Nennung Gottes. Erstens nämlich schließt die Unaussprechlichkeit des offenbarten Namens nicht aus, sondern setzt sogar voraus, dass dieser offenbarte (und mithin eben gerade im Ereignis der Offenbarung ausnahmsweise genannte) Name schriftlich vorhanden ist bzw. bleibt und damit sozusagen eine »Gegenwärtigkeit« von buchstäblich grundlegender Bedeutung in der Gesellschaft hat, die sich auf diesen geschriebenen Text als auf dasjenige bezieht, was sie definiert und konstituiert. Das eigentliche Problem ist in diesem Fall höchstens das nicht nur sozialanthropologische, sondern darüber hinaus auch philosophische Problem des Verhältnisses zwischen Stimme und Schrift. Zweitens schließt die Unaussprechlichkeit des Eigennamens 50 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

nicht aus, dass andere Namen sozusagen denselben »Referenten« (dieser Terminus sei hier wenigstens provisorisch gestattet) denotieren, der nicht direkt bei seinem Eigennamen genannt werden darf. 1 Drittens (und die beiden vorangegangenen Argumente zusammenfassend) ist die Unaussprechlichkeit des Namens Gottes die evidenteste Manifestation der Unmöglichkeit, das »Begründete« auf seinen »Grund« zu reduzieren; 2 sie manifestiert nämlich die Unmöglichkeit, den »Grund« als eine Art Projektion oder Hypostasierung der etablierten gesellschaftlichen Ordnung zu denken. An dieser Stelle sei angemerkt, dass in Wahrheit die in diesem Buch angestellten Überlegungen allesamt eine Aufhebung, Einklammerung, Problematisierung (oder wie anders auch immer der mit diesen Begriffen intendierte Sachverhalt bezeichnet werden soll, zumal diese Begriffe selbst betroffen sind) der Terminologie des Gründen oder Begründens sowie des Denkens, das durch diese Terminologie zum Ausdruck gebracht wird, mit sich bringen werden. Nichtsdestotrotz werden wir uns in erster Näherung dieser Terminologie bedienen, zumal wir uns dessen bewusst sind, dass man auf eine Näherung eben deshalb angewiesen ist, weil man nicht das letzte, aber ebensowenig das erste Wort hat, und dass eben dies es ist, was Wörter verständlich macht bzw. ihnen Bedeutung verleiht, auch denjenigen Wörtern, die vorgeben, ganz neu und unerhört zu sein. Die Möglichkeit, die öffentliche Nennung Gottes im Sinne von Projektion und Hypostasierung zu interpretieren, ist gewiss kein »freigeistiger« Gedanke, der erst im Umfeld der Religionskritik der Neuzeit und der Aufklärung entstanden wäre. Denn zweifellos war außerhalb des jüdischen und christlichen Umfeldes das Denken der klassischen Antike auf diesem Weg schon beachtlich weit fortgeschritten; dies hinderte jedoch nicht daran, das öffentliche Nennen von Götternamen pragmatisch zum Zwecke der Legitimation, der Aufrechterhaltung oder auch der Integration der etablierten Ordnung zu verwenden (das pántheon). Dagegen zeichnet sich das diesbezügliche Denken der Aufklärung eben gerade durch die Ablehnung einer solchen pragmatischen 7 Verwendung und durch die Überzeugung aus, dass die Werthaftigkeit der gesellschaftlichen Ordnung vor allem in deren Autonomie besteht. Für die »Aufklärung« ist der Versuch, die gesellschaftliche Ordnung auf einen anderen Grund als auf den der menschlichen Zusammenlebens zu stellen, an sich negativ und verwerflich, auch dann, wenn die etablierte Ordnung imstande sein sollte, einzelne Werte und 51 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

einzelne Zwecke sicherzustellen, nach denen das gesellschaftliche Zusammenleben strebt; diese Werte und Ziele können nämlich nicht unabhängig von dem letzten Grund betrachtet werden, der ihnen Gültigkeit verleiht und sie erstrebenswert macht. Aus Sicht der Aufklärung besteht dieser Grund eben gerade in der axiologischen Selbstbegründetheit des gesellschaftlichen Zusammenlebens; der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, 3 seine Autonomwerdung ist die Verwirklichung jenes Wertes, nach dem das gesellschaftliche Zusammenleben streben soll, während umgekehrt das Aufrechterhalten und schon allein die bloße Existenz von Unmündigkeit und Abhängigkeit schuldhaft sind, ungeachtet aller vermeintlichen Einzelwerte, die dadurch womöglich verwirklicht werden. In gewissem Sinne also besteht die Kontinuität zwischen aufklärerischer Selbstbegründung und christlich-jüdischer Begründung, welche Gegensätze auch immer zwischen ihnen bestehen mögen, eben gerade in der Ablehnung des Polytheismus und des Pragmatismus, der zunächst unbewusst und später dann bewusst mit dem fehlenden Anspruch auf Absolutheit einhergeht. Nicht zufällig finden die Vertreter der »Postmoderne« heute wieder Sympathie für das Thema des Polytheismus; 4 auch wenn die weberschen Einflüsse, Anklänge oder Widerklänge es unmöglich machen, die Kontinuität zu übersehen, welche ihrerseits die Rationalität (wenigstens als Selbstbegründung) mit dem Motiv des Polytheismus verbindet. Bevor wir uns jedoch kritisch mit der Sicht der Aufklärung auseinandersetzen – welcher unsere Ausführungen noch weitergehend gewidmet sein werden – sollten wir in Betracht ziehen, wie die Gottesnennung vielleicht mehr noch als andere, funktional analoge oder äquivalente öffentliche Handlungen den axiologischen Gründungscharakter verdeutlicht, der ihr gegenüber der Gesellschaft und der Ordnung, in der sich die Gesellschaft als solche konstituiert, zukommt. Gewiss kann der Grund, auf dem eine Gesellschaft beruht, gesellschaftlich auf verschiedene Weisen in Erinnerung gerufen (oder allererst bereitet) werden, z. B. durch das Anbringen von Bildern oder durch den Vollzug von Riten; ein besonderes Problem stellt darüber hinaus der Bau von Tempeln dar. 5 Das Anbringen von Bildern verliert jedoch schnell den Charakter einer Handlung, während er beim Aussprechen des Namens immer gegenwärtig bleibt. Das Aussprechen des Namens geschieht – solange es geschieht – notwendigerweise jedes Mal aufs Neue, während das Bild, wenn es einmal angebracht 52 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

ist, dauerhaft gegenwärtig bleibt (bis es eventuell entfernt wird); dabei verwandelt es sich, so könnte man sagen, von einer Ikone in ein Idol 6 und lässt die Handlung des Anbringens mehr oder weniger 8 schnell in Vergessenheit geraten, durch die es als Bild, d. h. als etwas konstituiert wurde, was seine Funktion nicht durch seine bloße Präsenz, sondern durch den Hinweis auf das erfüllt, was es repräsentiert; dieser Hinweis hatte die Handlung des Anbringens veranlasst, oder besser: die Handlung des Anbringens hatte sich in diesem Hinweis konkretisiert. Der Ritus dagegen bewahrt seiner Natur gemäß immer den Charakter einer Handlung; doch wo bei seinem Vollzug nicht das Aussprechen des Namens vorgesehen ist, wird er ebenso selbstreferenziell wie das zum Idol gewordene Bild. Er erscheint dann nicht mehr als eine privilegierte und in gewisser Weise ursprüngliche Handlung (ursprünglich nicht trotz, sondern wegen ihres Wiederholungscharakters); er erscheint dann nicht mehr als die ursprüngliche Handlung, die, indem sie sich auf den Grund bezieht und sich als dieses Gegründetsein selbst versteht (im gewissen Sinne eine actio passiva), das gesellschaftliche Handeln in den Formen ermöglicht, die es definieren und es zu eben demjenigen werden lassen, worin sich die auf jenem Grund gegründete Gesellschaft aktualisiert. Der Sprechakt des Aussprechens des Namens lässt dagegen aufgrund der Tatsache, dass er nicht nur den Charakter einer Handlung, sondern zugleich auch sprachlichen Charakter besitzt, den Charakter des Verweises auf das darin genannte Andere deutlicher zur Geltung kommen; d. h., der Bezug auf ein Begründendes, das sich mit dem Begründeten weder vermischt noch sich darin erschöpft, geht im Vollzug des Sprechakts naturgemäß weniger leicht verloren bzw. ist darin leichter wiederzufinden. Natürlich bringt die Ritualisierung des Aussprechens des Gottesnamens die Möglichkeit mit sich, dass auch dieses Aussprechen als selbstreferenzielle Handlung missverstanden wird, d. h. dass der Gottesname als ein magisch und/oder performativ wirksames Wort missverstanden wird. Aber solange man über den Namenscharakter nachdenkt, welcher das ausgesprochene Wort auszeichnet, bzw. solange es möglich bleibt, darüber nachzudenken, bleibt der referenzielle Charakter, der dem Namen zu eigen ist, unversehrt, oder bleibt es wenigstens möglich, diesen referenziellen Charakter wiederherzustellen. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheinen Reflexion und Kritik – beides ausgesprochen »aufklärerische« Haltungen – von enormer 53 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Bedeutung für die Analyse des gesellschaftlich konstitutiven Verhaltens zu sein, das sich im öffentlichen Aussprechen des Namens Gottes verwirklicht. Im Übrigen ist offensichtlich, dass auch für die »Referenz« gilt, was wir über den »Grund« gesagt haben, nämlich dass es sich hierbei um eine Terminologie und um eine Begrifflichkeit handelt, derer wir uns hier in erster Näherung bedienen. Tatsächlich bestehen zwischen »Grund« und »Referenz« viele, ja vielleicht zu viele Verbindungen, so dass wir das zuvor Gesagte wiederholen bzw. paraphrasieren können: »Referenz« ist weder das erste noch das letzte Wort, auch wenn eben deshalb die Referenz die Annäherung verwirklicht, und zwar sowohl an dasjenige, worauf referiert wird, als auch an diejenigen, 9 mit denen darüber gesprochen wird. Sehr viel später wird das, worauf diese Beobachtungen hier lediglich anspielen, präziser und artikulierter zum Ausdruck gebracht werden. Einstweilen erklärt das, was wir über den ursprünglich referenziellen Charakter der öffentlichen Nennung Gottes gesagt haben, die beiden fundamentalen Formen, in denen sich – wie behauptet worden ist – diese Nennung artikuliert: die Anrufung (invocatio) und die Beschwörung (evocatio). 7 Die Anrufung wäre demnach ein Ruf, der geschieht, damit die darin genannte Alterität sich einfindet, oder besser, damit sie das gesellschaftliche Geschehen begründet, das ansonsten ohne Legitimation und Sinn bliebe; dagegen wäre die Beschwörung eine Antwort oder besser gesagt ein Entsprechen d (eine Erzählung, eine Verherrlichung, eine Bezeichnung, etc.), das vom Begründeten auf seinen Grund verweist und somit verhindert, das Begründete als selbstreferenziell und als sich selbst begründend zu verstehen. Die öffentliche Anrufung und Beschwörung des Namens Gottes zeigen, gerade insofern sie zu einem Gegenstand der Reflexion gemacht werden, dass ihre Funktion in Bezug auf die Gesellschaft eine Funktion ist, die sich nicht in der Selbstreferenzialität erschöpft, die der Reflexion zu eigen ist. Es muss jedoch gesagt werden, dass die neulateinischen Termini »Invokation« (Anrufung) und »Evokation« (Beschwörung) aufgrund ihrer Etymologie dabei behilflich sind, diesen Sachverhalt oder diese

d

Der Terminus »Entsprechen« (corrispondere) ist hier auch in dem etymologischen Sinne eines Antwortens (rispondere) zu verstehen, welches dem zu entsprechen versucht, worauf es antwortet.

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Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

»religiöse Phänomenologie« zu beschreiben; e wenn man sich in einer anderen Sprache ausdrückt (oder in einer anderen Sprache denkt), könnte es sehr problematisch sein, diese beiden Grundformen der öffentlichen Nennung Gottes zu identifizieren. Die Beziehung zwischen phänomenologischer Analyse und linguistischer Analyse ist ein immenses philosophisches Problem, 8 und es sieht keineswegs so aus, dass die sogenannte »Religionsphänomenologie« dabei behilflich sein könnte, dieses Problem zu klären, zumal sie vielmehr selbst erst noch klären muss, was genau sie selbst eigentlich ist oder zumindest zu sein beansprucht. Im Übrigen ist auch dann, wenn man sich auf die neulateinischen Termini »Invokation« und »Evokation« verlässt, offensichtlich, dass diese Termini keineswegs alternative Sachverhalte bezeichnen, zumal bei der Nennung Gottes unter Umständen auch beide zugleich der Fall sein können. Diese Möglichkeit der Koexistenz und Verschmelzung betrifft jedoch nicht nur die phänomenologischen Sachverhalte, die diese beiden Termini zu identifizieren beanspruchen; denn, wie sich bereits angedeutet hat und wie es nunmehr entschieden zu erläutern gilt, sie betrifft ebenso sehr die »phänomenologischen« Sachverhalte, an die wir kurz zuvor erinnert haben: das Anbringen von Bildern, das Abhalten von Riten, den Bau von Tempeln, die öffentliche Nennung Gottes selbst, etc. Der Rekurs auf die Kategorien der Invokation und der Evokation hat dagegen trotz allem zwei Vorzüge, aufgrund derer es wert war, sich auf sie zu beziehen: zum einen betonen sie, wie bereits angesprochen, den referenziellen und nicht selbstreferenzialisierbaren Charakter des Nennens, und zum anderen betonen sie, wie noch ausführlicher darzustellen sein wird, wiederum mittels ihrer 10 Etymologie den vokativen Charakter dieser Referenzialität. Diese beiden Charakteristiken stehen offensichtlich miteinander in Zusammenhang: die Anrede – der Vokativ oder, wie wir später vorwiegend sagen werden, die Allokution – impliziert eine Alterität, an die sie gerichtet ist, und nur aufgrund dieser Alterität ist die Selbstreferenz möglich, die zum Beispiel bereits auf dem Niveau der interlokutiven Pronominalisierung (»ich«) zum Ausdruck kommt. Ke i n i c h o h n e d u , könnte man sagen, um das Motto Jacobis aufzugreie

Ab hier folgt der Text nicht weiter im Wesentlichen MMO-62 bzw. MMO-68, sondern arbeitet anknüpfend an einzelne Textpassagen dieses Aufsatzes die darin angesprochenen Problemstellungen weiter aus. Die entsprechenden Textpassagen sind durch Fußnoten gekennzeichnet.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

fen. Zu diesem Motto hätte die heutige analytische Philosophie übrigens viel zu sagen (und zwar nicht nur in Form des Widerspruchs, sondern auch in Form der Wiederholung des von Hegel bis Husserl dazu bereits Gesagten). Wir werden aber jetzt diese Problematik nicht vertiefen, sondern uns vorerst damit begnügen, herauszustellen, dass auch die wechselseitige Ergänzung, das Zusammenfließen und das Verschmelzen der Phänomene, die von einer sogenannten »Religionsphänomenologie« (welche sich übrigens nicht sehr darum kümmert, die phänomenologische »Reduktion« zu verwirklichen) identifiziert werden, mit dem vokativen und nicht selbstreferenzialisierbaren Charakter zusammenhängt, den die Kategorien der Invokation und der Evokation so gut anklingen lassen, indem sie mit ihrem Etymon und mit ihren Proklitika nicht so sehr eine bloße Gegenwart zum Ausdruck bringen, die – so behaupten einige – das Privileg der Stimme (vox) ausmacht, als vielmehr so etwas wie eine Abwesenheit (auch dieser letztere Begriff sei hier als eine erste Näherung verstanden). In der Tat sind die vernünftigen Unterscheidungen, die unsere anfänglichen Überlegungen über das Abhalten von Ritualen, das Anbringen von Bildern, den Bau von Tempeln und den Vollzug religiöser Sprechakte zum Ausdruck gebracht haben, viel mehr empirischer und »naturalistischer« Art als das Resultat einer phänomenologischen Reduktion; sie sind das Ergebnis des Sezierens einer phänomenologisch zusammenhängenden Wirklichkeit. Nur mittels analytischer Abstraktion und Extraktion aus der Erfahrung lassen sie sich unabhängig von dem umfassenderen Kontext kosmopoietischer Handlungen benennen, in denen sich eine Gesellschaft als Sinnsystem, d. h. eine Kultur, strukturiert und somit konstituiert: als ob dem Tempel nicht als Maßeinheit die Elle des gesetzgebenden Königs zugrunde läge, als ob der Tempel nicht nach astrologisch-kosmischen Kriterien ausgerichtet wäre, als ob darin nicht Bilder angebracht wären, Riten abgehalten oder »öffentliche« Sprechakte vollzogen würden (der Begriff »öffentlich« ist hier in einem stärkeren und spezifischeren Sinne zu verstehen als in dem Sinne, der in der Behauptung impliziert ist, dass es keine »Privatsprache« geben könne). Aber auch, so können – und müssen – wir fortfahren, als ob das Verhältnis zwischen Innen und Außen, die ursprünglich bzw. »hierarchisch« (im etymologischen Sinne einer arché, die als solche heilig, hierá, ist), durch das témenos unterschieden worden sind, nicht selbst ein (wiederum in einem etymologischen Sinne) »äquivokes« 56 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

Verhältnis zwischen fanum und profanum wäre. Ein »äquivokes« Verhältnis, in dem sich die ursprünglich oder vielmehr ursprünglicherweise unterschiedenen Dimensionen – Zentrum und Horizont, Innen und Außen, fanum und profanum – umso mehr in die jeweils 11 gegensätzliche Dimension verwandeln und ineinander übergehen, je mehr sie sich im Gegensatz zueinander und mittels einander identifizieren. Aber gerade weil »die Dinge so sind« oder besser – um Heideggers treffende Formulierung zu gebrauchen – weil die S a c h e »so« (d. h.: sic et non) nicht ist, sondern zum A u s t r a g kommt, schien es uns opportun zu sein, unsere Überlegungen damit zu beginnen, den Sprechakt der öffentlichen Nennung Gottes zu abstrahieren und zu extrahieren. Der Name ist nämlich das Wort, in dem sich die Referenz konkretisiert. Mit der öffentlichen Nennung Gottes anzufangen, heißt daher, mit derjenigen Handlung anzufangen, die in dem »phänomenologischen« Fächer, der zur Entfaltung käme, wenn man das soziale Handeln in seinen religiösen Erscheinungsformen betrachtete, den höchsten Grad von Referenzialität und den stärksten Verweisungscharakter zu haben scheint. Wenn man daher feststellt, dass die Nennung Gottes nicht mehr stattfindet und durch selbstreferenzielle Formeln – wie z. B. »im Namen des Gesetzes« – ersetzt worden ist, so bedeutet dies, dass diese Transformation nicht extrinsischer Art ist und keineswegs durch den mangelhaften Verweisungscharakter der fraglichen Handlung veranlasst ist (wie dies dagegen bezüglich des Anbringens von Bildern oder des Abhaltens von Ritualen beobachtet werden konnte). Daher erweist sich die Säkularisierung – die wir im Augenblick unter dem Aspekt des Unterbleibens der öffentlichen Nennung Gottes und der Substitution dieser Nennung durch sich selbst begründende Formeln betrachten – nicht so sehr als Verformung bzw. Umformung eines Zustands x in einen Zustand y oder als Ersetzung eines Zustand x durch einen Zustand y, sondern vielmehr als eben die paradoxe Bewegung, aufgrund derer sich das profanum dem fanum entgegensetzt und sich so zwar im Gegensatz dazu identifiziert, aber mittels des wechselseitigen ineinander Übergehens und Einverleibens dieser beiden Dimensionen. Dies zu sagen heißt, die Säkularisierung anders zu betrachten, als dies gewöhnlich und gemeinhin geschieht. In groben Zügen lassen sich die Säkularisierungstheorien nämlich in zwei Arten einteilen: in 57 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Theorien, welche die Säkularisierung als Transformationsprozess betrachten und somit irgendeine Art von Geschichtsphilosophie implizieren, 9 und in Theorien, welche jede Art von Geschichtsphilosophie und die darin gewissermaßen zwangsläufig entwickelten Theorien der Kontinuität zurückweisen und in der Säkularisierung daher schlicht und einfach einen Neubeginn sehen, der sich von selbst »legitimiert«. 10 Was uns dazu veranlasst, uns mit dem Problem der öffentlichen Nennung Gottes auseinanderzusetzen, ist nun aber etwas, was sich von diesen beiden gegensätzlichen Theorien unterscheidet; oder man könnte auch sagen, es ist etwas, was mit beiden Theorien zugleich identisch ist. Das Unterbleiben der öffentlichen Nennung Gottes und das Ersetzen derselben durch sich selbst begründende Formeln ist weder schlicht und einfach eine Transformation, von der eine Geschichtsphilosophie Rechenschaft geben könnte, noch schlicht und einfach ein Neubeginn, ein ab-soluter Anfang; sie ist vielmehr die 12 unbewegte Beweglichkeit, aufgrund derer die Referenz des Namens in ihrem semantischen Verweis und kraft dieses Verweises selbstreferenziell die Handlung des Nennens zum Ausdruck bringt; folglich ist die Profanation nicht von der Konsekration unterscheidbar, von der Einsetzung des fanum mittels jenes Unterschieds, jenes témenos (eines geschichtlich-zeitlichen Unterschieds im Falle der Säkularisierung), welcher fanum und profanum jeweils wechselseitig sowohl voneinander unterscheidet als auch identifiziert. Dieses unerträgliche Diskurrieren (unerträglich ist der vorangegangene Diskurs in seiner Unschlüssigkeit, d. h. in der Unschlüssigkeit, mit der er gegenteilige Behauptungen aufstellt; aber vielleicht ist er dies einfach nur deshalb, weil das in diesem Diskurs zum Ausdruck gebrachte »Diskurrieren« unerträglich ist, bei dem Heiliges und Profanes, Referenz und Selbstreferenz ineinander überlaufen) nimmt seinen Ausgang von dem, was einem hegelschen Verstand als der festeste Punkt erscheinen würde, nämlich von der Referenz des Namens, und es gelangt dabei zu einer Identifikation von Referenz und Grund (des referenziellen Denkens und des begründenden Denkens), welche der Referenz und dem Grund jegliche Festigkeit entzieht. Dies geschieht auf solche Weise, dass das, wobei man »ankommt«, nicht im Sinne einer hegelschen Dialektik, d. h. nicht als das Werk einer Vernunft, die den Verstand in sich aufhebt, verstanden werden kann; denn das »Ankommen« ist illusorisch, da es bereits

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vollständig im Ausgangspunkt (nämlich in der Referenz) enthalten ist, also eben darin, wobei man nicht »stehen« bleibt. Dies ist nicht die hegelsche – aber dann bezeichnenderweise auch heideggersche – Verkehrung von Anfang und Ende (denn was im Laufe des Diskurses zerläuft, sind eben gerade der Anfang und das Ende), aber es ist trotz vieler Ähnlichkeiten ebenso wenig der hegelsche »spekulative Satz«. In der Referenz des angerufenen bzw. beschworenen Namens gibt es nämlich keinerlei Satz, d. h. keinerlei Prädikation. Vielmehr wird der Name eben dann zum »Eigennamen« und zum »starren Designator«, wenn die Referenz sozusagen im Reinzustand besteht und auf keinen anderen Referenten ausgeweitet werden kann; und dies nicht so sehr deswegen, weil der Name eine Menge mit einem Individuum als einzigem Element konnotiert (dies wäre zwar eine Möglichkeit, den Monotheismus zu verstehen, aber gewiss nicht die einzige, geschweige denn die überzeugendste), sondern schlicht und einfach deswegen, weil er überhaupt keine Menge konnotiert – weil er kein »Begriff« ist –, sondern das Individuum »starr« denotiert. Das Individuum wird in diesem Fall weder unter einen Begriff gefasst oder subsumiert, noch wird dem Individuum ein Begriff in irgendeiner Art von Prädikation angetragen, etwa mittels einer Kopula, die im spekulativen Satz als Nexus fungiert, welcher die wechselseitige Umwandlung von Subjekt und Prädikat ermöglicht. Vielleicht würde hierzu jemand anmerken, dass in der Referenz des Eigennamens ein Nexus – bzw. eine »Kopula« – impliziert ist, den man als Nexus zwischen einem rein ostentativen Akt und einer Art »Prädikation« des Eigennamens explizieren könnte, der von dem in jenem ostentativen Akt angezeigten Referenten ausgesagt würde (z. B.: »Das ist Petrus«). Aber abgesehen von der schwerwiegenden Frage, ob die ostentative Identifikation eines Referenten außersprach- 13 lich möglich ist – eine Frage, die immer wiederkehrt, vom Kapitel über die sinnliche Gewissheit in Hegels Phänomenologie bis hin zum husserlschen A n z e i c h e n und der »Dialektik« Lyotards, zum Beispiel 11 – abgesehen also von der Frage, ob die ostentative Identifikation eines Referenten nicht bereits eine Benennung voraussetzt, zeigt der deiktische Charakter des hier unterstellten vermeintlichen Satzes, dass dieser Satz nicht unabhängig von dem Kontext ist, in dem er formuliert wird, und daher eigentlich kein Satz ist: nur in Bezug auf den Kontext kann die Referenz des Namens »prädiziert« werden, oder genauer gesagt: der Referent kann durch die Verknüpfung des 59 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Eigennamens mit dem im ostentativen Akt angezeigten Seienden »getauft« werden – wie eine gewisse Sprachphilosophie heute zu sagen pflegt. Die Identifikation von Referenz und Grund – eine Identifikation, die beide zersetzt und ihnen die extreme Festigkeit nimmt, die sie beide dem Verstand zu geben schienen – darf also keineswegs als eine Art spekulativer Satz verstanden werden, denn hier gibt es keinen Satz, und kein Begriff und keine Universalie wird mit einem individuellen Subjekt identifiziert und vertauscht. Das Fehlen jeglichen Satzcharakters ist – noch vor dem Fehlen jedes eventuell spekulativen Charakters – dasjenige, was dazu veranlasst, die Referenz des Namens – insofern er Eigenname ist – ursprünglich nicht im Nominativ, sondern im Vokativ zu denken. Wie wir in einigen der folgenden Kapitel sehen werden, ist jede Referenz Koreferenz zwischen Interlokutoren f (und dies erklärt, wieso davon die Rede sein kann, dass jeder Gegenstand, auf den sprachlich referiert wird, »getauft« wird); bereits jetzt aber wird deutlich, dass die Situation, in der diese Referenz auf einen Gegenstand stattfinden kann und die wir hier provisorisch als eine zugleich »soziale« und »intersubjektive« Situation bezeichnen, den Vokativ eben genau als Ruf bzw. Aufruf g voraussetzt, der seine Referenz zum ersten Mal in der Antwort seitens des Gerufenen findet. Eine geringfügig vertiefte Analyse wird dann zeigen, dass entgegen der oberflächlichen Auffassung des gesunden Menschenverstands in Wirklichkeit die Antwort selbst dasjenige ist, was dem Vokativ den ihm eigenen Charakter eines Aufrufs verleiht, und dass es daher die Antwort ist, die den Aufruf als Eigennamen konfiguriert und konsolidiert, der auf den Antwortenden referiert. Hiervon jedoch später. Vorerst versetzt uns die Beobachtung, dass der »Ursprung« (ein f

Analog zum Begriff der »Interlokution« (interlocuzione) bezeichnet der Begriff »Interlokutor« (interlocutore) in diesem Buch ein Verständnis von sprachlich Interagierenden, welches sich von dem unterscheidet, was gemeinhin unter einem »Gesprächs« bzw. »Dialogpartner« verstanden wird (Vgl. hierzu die Erläuterungen im dritten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers). g Die Termini »Ruf« und »Aufruf« übersetzen hier die italienischen Termini vocazione und appello, die ähnlich wie die beiden deutschen Termini nicht nur ein Rufen und namentliches Aufrufen, sondern auch ein Berufen und Aufrufen zu etwas zum Ausdruck bringen. Im gegenwärtigen Kontext klingt diese spezifischere Bedeutung im Sinne eines Berufens und Aufrufens zur Antwort mit an.

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Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

weiterer Terminus, der hier nur in erster Näherung zu verstehen ist) der Referenz im Vokativ zu suchen ist, in die Lage, die seltsame, entweder als Profanation oder als Konsekration erscheinende Transformation der Referenz des öffentlich genannten Gottesnamens in Selbstreferenz zu verstehen. Die Antwort, welche die Invokation/ Evokation zu einem Namen macht, ist die Kosmopoiese selbst, die durch die öffentliche Nennung garantiert werden soll; daher ist das, 14 worauf der öffentlich angerufene/beschworene Gottesname referiert, in äqui-voker Weise das Begründete selbst, insofern es sich für begründet hält, d. h. insofern es einen Grund zu haben glaubt. Gewiss lässt man durch das eben Gesagte den Vokativ – zumindest in einem der von ihm in äqui-voker Weise zum Ausdruck gebrachten Sinne – von der intersubjektiven Ebene auf die soziale Ebene rutschen. Auf diese Weise wird dem kulturellen Kosmos (doch jeder Kosmos ist kulturell), d. h. der Gesellschaft als Sinnsystem, eine Verantwortung h zugeschrieben, die allein einem Subjekt oder einer Mehrzahl von Subjekten zuzukommen scheint, die beim Aufruf anwesend (oder abwesend) sind, d. h. auf ihn antworten (oder nicht antworten). Die Zusammensetzung bzw. das Zerfallen der Gegenwart – der anscheinend »einfachen« bzw. »bloßen« Gegenwart, i denn die Einfachheit bzw. Blöße ist dasjenige, was die Gegenwart zur Erscheinung bringt – in erste Person (sum), zweite Person (den Angeredeten) und »dritte Person« (die Gesellschaft als sprachliches Sinnsystem und als abwesendes Subjekt) ist eine These, die dieses gesamte Buch durchzieht. Vorerst jedoch gilt es, von den Problemen der Subjektivität und der Personalität abzusehen, zu denen wir erst am Ende eines langen Weges gelangen werden, und uns dem Problem der Gesellschaft als Sinnsystem zuzuwenden, insbesondere in Zusammenhang mit der Frage der Säkularisierung, der Selbstbegründung und der Aufklärung. Daher wird sich unser Diskurs später in kritischem Dialog mit einigen wichtigen heutigen Denkentwürfen entwickeln, nämlich zum einen mit der luhmannschen Systemtheorie der Gesellschaft und zum anderen mit der habermasschen Variante der kritischen h

Die Rede von »Verantwortung« (responsabilità) ist hier auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der italienische Terminus im buchstäblichen Sinne die Fähigkeit zur Antwort bezeichnet. i In der Rede von »einfacher« bzw. »bloßer« »Gegenwart« (presenza semplice) klingt im Italienischen Heideggers Begriff der »Vorhandenheit« an, der mit denselben Worten (semplice presenza) zum Ausdruck gebracht wird. Vgl. S. 158 sowie die diesbezüglichen Erläuterungen im dritten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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Theorie der Gesellschaft, mit der sich die apelsche Theorie der Kommunikationsgemeinschaft verbrüdert hat. Die kritische Diskussion, die zwischen diesen Theorien selbst stattgefunden hat, 12 scheidet sich übrigens gerade an der Frage Sozialität/Intersubjektivität, ohne dass dieser Scheidepunkt hinreichend geklärt wäre. Die luhmannsche Theorie der Gesellschaft macht aus der Not eine Tugend und unternimmt ungeachtet des reflexiven und – in Luhmanns jüngeren Schriften – autopoietischen Charakters des sozialen Systems den Versuch, die Heterogenität einer personalen und/oder subjektiven Betrachtungsweise gegenüber der sozialsystemischen Betrachtungsweise theoretisch zu untermauern. Eben diese Charakteristik ist es, die es Habermas erlaubt, Luhmanns Auffassung kritisch als Sozialtechnologie zu konnotieren. Wenn es aber, wie bereits das bisher Gesagte zeigt, nicht möglich ist, das Problem der wenngleich eigentümlichen Subjektivität/Personalität der »Gesellschaft«, auf die wir mit dem Ausdruck »dritte Person« angespielt haben, zu übergehen oder zu vermeiden, so ist doch auch der habermassche Kurzschluss nicht überzeugend, demzufolge sich die Analyse der Gesellschaft innerhalb der diskursiven Dimension erschöpft. Zwar soll diese Dimension für Habermas nicht bloß eine intersubjektive, sondern eben gerade auch eine soziale Dimension sein, aber die Frage ist natürlich, ob sie dies auch sein kann, wenn die soziale Dimension ohne Rest in der diskursiven Dimension aufgehen soll. 15 Vorerst werden wir unsere Aufmerksamkeit allein auf die soziale Dimension richten, d. h. auf diejenige Dimension, in der sich die Säkularisierung zugetragen hat: eine Säkularisierung, die wir bisher unter dem emblematischen und privilegierten Aspekt des Unterbleibens der öffentlichen Nennung Gottes untersucht haben. Dass dieser Aspekt aus philosophischer Sicht mehr und etwas anderes ist als eine Synekdoche, haben wir bereits sehen können und werden wir noch weiter sehen. Bei der öffentlichen Nennung Gottes stellt sich das Problem der Konstitution der Gesellschaft aufgrund des sprachlichen Charakters dieser Handlung unmittelbar als Problem der Konstitution von Sinn (Kosmopoiese). Man kann nämlich darüber diskutieren, ob der Sinn eine sprachliche oder vorsprachliche Kategorie ist; eine Auffassung husserlschen Typs würde z. B. dazu neigen, die letztere These zu vertreten. Nicht zufällig hat Luhmann – dessen Auffassung mutatis mutandis auffällige Spuren des Einflusses von Husserl aufweist – in seiner Dis62 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

kussion mit Habermas über die sozialen Aspekte der Kategorie des Sinns die These von der vorsprachlichen Natur des Sinns vertreten. 13 Die These von der Zusammensetzung bzw. dem Zerfallen der Gegenwart überwindet in Wirklichkeit diese Alternative. Vorerst jedoch genügt es zu beachten, dass, wie auch immer dieses Problem verstanden wird, der sprachliche Charakter der Handlung der Nennung Gottes, wenn nicht notwendig, so doch zumindest hinreichend dafür ist, den Zusammenhang zwischen der Konstitution der Gesellschaft und der Konstitution von Sinn deutlich werden zu lassen. j Nun ist es sicherlich eine bemerkenswerte Tatsache, dass die zeitgenössischen Gesellschaftstheorien das Problem des Sinns in den Mittelpunkt der Definition und des Verständnisses der Gesellschaft stellen und dass sie dies gerade in einer Zeit tun, in der die säkularisierte Gesellschaft die öffentliche Nennung Gottes als Bedingung ihrer Begründung und Konstitution eliminiert hat. Der einzige öffentliche Ort, an dem die Nennung Gottes noch buchstäblich stattfindet, d. h. einen Ort findet, und an dem dies mit jener Bedeutung des Verweises auf den Grund geschieht, von der oben die Rede war, sind die Kirchen bzw. ist die Kirche. Das Problem des Singulars oder des Plurals – »Kirche« bzw. »Kirchen« – ist sicherlich ein Problem mit großem philosophischen Impetus, und die klassische deutsche Philosophie hat dies sehr wohl erkannt, indem sie das Thema von sichtbarer und unsichtbarer Kirche aufgegriffen hat (von der kantschen Doktrin, derzufolge die sichtbare Kirche das Schema der unsichtbaren Kirche ist, bis hin zu den Geschichtsphilosophien des S p ä t i d e a l i s m u s , die als solche nur als Philosophien der Kirchengeschichte denkbar sind und auch so gedacht worden sind). 14 Es sollte jedoch klar sein, dass es sich (ganz abgesehen von der Neugier oder dem Interesse, die man eventuell aus theologischer Sicht dafür entwickeln könnte) nicht nur deshalb um ein Problem mit großem philosophischen Impetus handelt, weil in der soeben angesprochenen klassischen deutschen Philosophie die philosophische Kirchenlehre in einer wesentlichen Verbindung mit der Philosophie des Staates und der Geschichtsphilosophie steht, sondern allgemeiner auch deshalb, weil dieses Problem die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Grundlegung einerseits und der Möglichkeit von Pluralität andererseits aufwirft. 16 j

Der Text dieses Absatzes entspricht im Wesentlichen dem Text einer Passage in MMO-62, S. 434, bzw. MMO-68, S. 195 f.

63 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Es ist jedenfalls offensichtlich, dass die Verwendung des Terminus »Ekklesia« k diesbezüglich weder willkürlich noch Ergebnis eines kulturellen Provinzialismus ist, der sich womöglich seines provinziellen Charakters nicht bewusst ist. Der Terminus »Ekklesia« gehört zwar der kulturellen und religiösen Tradition des Christentums an; aber der Gebrauch anderer Termini (wie z. B. »religiöse Gemeinschaft«) in der Illusion, auf diese Weise dessen Umfang zu erweitern, würde nur dazu dienen, die Präzision des philosophischen Problems zu verwischen, das durch den Terminus »Ekklesia« aufgeworfen wird. Nicht ohne Grund ist die »Säkularisierung« nicht nur als Terminus, sondern auch als die durch diesen Terminus bezeichnete geschichtliche Wirklichkeit ein christlich-abendländisches Phänomen. Ja, bekanntlich ist der Terminus »Säkularisierung«, bevor er jene Erweiterung erfahren hat, durch die er nunmehr ein soziokulturelles Phänomen bezeichnet, als ein politisch-juristischer Ausdruck entstanden, um die Übertragung des Eigentums an materiellen Gütern von der Kirche an den Staat anzuzeigen: 15 eine Übertragung, die im Rahmen der Vervielfältigung der christlichen Kirchen hinsichtlich ihres Anspruchs darauf, Kirche zu sein, und im Rahmen der damit einhergehenden Entstehung des Staates im modernen Sinne stattgefunden hat. Der Übergang von den S t ä n d e n (it.: stati, fr.: états) zum Staat im modernen Sinne – ein Übergang, der in gewisser Weise dem von der Kirche zu den Kirchen reziprok ist l – stellt für sich genommen kein philosophisches Problem dar; ein philosophisches Problem ist dagegen die Beziehung des modernen Staates in der Pluralität seiner instantiations mit der Kirche; mit der Kirche – so könnte man fortfahren – und/oder dem Naturrecht als Recht etsi Deus non daretur und daher vor allem als ius belli ac pacis. Dass diese Transformationen zu »Religionskriegen« Anlass gegeben haben, ist zwar skandalös, aber keineswegs überraschend. k

Der lateinisch-griechische Terminus »Ekklesia« übersetzt hier das italienische Wort chiesa (Kirche), das auf diesen Terminus zurückgeht, aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet wird. Anders als das deutsche Wort »Kirche« (von gr.: kuriaké, [Haus] des Herrn) bezeichnet »Ekklesia« ursprünglich die (von einem Herold) zusammengerufene Volksversammlung. Sowohl der Bezug auf die Volksversammlung als auch die Tatsache ihres Gerufenseins sind in diesem Zusammenhang für Olivetti von Bedeutung. l Der Übergang von den »Ständen« zum »Staat« ist im Italienischen ähnlich wie im Französischen ein Übergang vom Plural (ital.: gli stati, frz.: les états) zum Singular (ital.: lo stato, frz.: l’état).

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Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

Da also die Säkularisierung vor allem in der Zurückweisung der politischen Kompetenz der Kirche seitens eines Staates bestanden hat, der – wie die Rechtstheorie bis vor einigen Jahrzehnten behauptete – die »Kompetenz der Kompetenzen« sei, ist es gewissermaßen tautologisch, die Säkularisierung als einen Rückzugsprozess zu beschreiben, bei dem die öffentliche Nennung Gottes sich in das Innere der Kirche zurückzieht und einzig dort noch stattfindet. Man kann sicherlich einwenden, dass der Staat nicht mit der Gesellschaft deckungsgleich ist, die er organisiert, und dass die Dimension der »Öffentlichkeit« nicht nur diejenige Dimension ist, die durch das Recht geregelt wird. Dies aber widerspricht nicht der Tatsache, sondern bestätigt und erläutert sie vielmehr, dass die Säkularisierung der Gesellschaft – Gesellschaft verstanden als eine Dimension, die umfassender ist als die des Staates, der sie organisiert und sich dabei das Privileg der Öffentlichkeit anmaßt – mittels der Entstehung des modernen Staates als eines souveränen und letztlich sich selbst begründenden Staates ausgelöst worden ist. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet stellt das Verständnis des Staates als eines »sittlichen« Staates gegenüber dem Verständnis des Staates als eines »Rechtsstaats« eine weniger radikale Vision dar, die es nicht ohne Grund ermöglicht hat, sei es im Sinne einer Alternative oder sei es im Sinne eines Konkordats, zu theoretisch weniger 17 problematischen Beziehungen mit der Kirche bzw. den Kirchen (mit der bzw. mit denen sie unter anderem den gemeinsamen Nenner der Geschichtsphilosophie teilt) zurückzufinden. Und man könnte auch den Gedanken wagen, dass die wieder erstarkte Fähigkeit zur öffentlichen Einmischung, welche die römische Kirche in letzter Zeit unter Beweis stellt, weniger mit kontingenten Faktoren oder gar mit Personalien zu tun hat als vielmehr mit dem Niedergang des Staates im »modernen« Sinne und mit der Schwächung seiner Souveränität angesichts internationaler Vernetzung und wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeit. Möglicherweise ist es nicht unsinnig, schon die Theorien des sittlichen Staates als einen ersten Schritt in diese Richtung zu verstehen; um ganz zu schweigen von den geschichtsphilosophischen Revolutionstheorien, die das Ende des Staates voraussagten. Aber die Rechtsdoktrin, die heute in Italien von einer öffentlichen Gewalt spricht, welche die private Gewalt »anpasst«, scheint in diesem Sinne nicht weniger bedeutsam zu sein; und vielleicht sehen sich nicht ohne Grund gewisse italienische Politikerkreise heute trotz

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

ihrer sogenannten »laizistischen« Orientierung imstande, mit der römischen Kirche zu harmonisieren. Diese Überlegungen zu Staat, Kirche und Gesellschaft könnten mit ihren Anspielungen auf das aktuelle Zeitgeschehen und die Geschichte so erscheinen, als wichen sie vom Thema ab. Dem ist jedoch nicht so: welcher Art auch immer die Meinungen sein mögen, die jeder Einzelne über das aktuelle Zeitgeschehen unterhalten mag, dient der Bezug auf die Geschichte und auf die Säkularisierung der Gesellschaft durch die Entstehung des modernen Staates dazu, einen wesentlichen, ja es sogar definierenden Aspekt jenes gesellschaftlichen Phänomens ans Licht zu bringen, welches die Säkularisierung ist; nur in Zusammenhang mit diesem soziologischen bzw. gesellschaftstheoretischen Aspekt enthüllt die philosophische Analyse der vom Gesichtspunkt des Unterbleibens der öffentlichen Gottesnennung betrachteten Säkularisierung ihre ganze Bedeutung: die Säkularisierung ist »Differenzierung«. Die Idee einer von der politischen Gemeinschaft verschiedenen Kirche ist selbst das Ergebnis eines Differenzierungsprozesses, auch wenn es den im Laufe der Geschichte von der Kirche erhobenen Hierarchisierungsansprüchen gelungen sein mag, diese Tatsache zu verschleiern bzw. einen beginnenden Prozess der (horizontalen) Differenzierung zeitweilig wirklich auf ein vertikales, sowohl im gewöhnlichen als auch im etymologischen Sinne »hierarchisches« und somit eigentlich nicht differenziertes Modell zurückzuführen. Die Hierarchisierungsansprüche haben gewiss ihren Grund und eventuell ihre Berechtigung in der Tatsache, dass das »Reich Gottes«, das die Kirche anstrebt und dessen Ankunft sie inchoativ selbst darzustellen beansprucht, für die Kirche höherwertiger ist als jedes irdische Reich, so dass das »Reich Gottes« entweder eine Alternative gegenüber jedem irdischen Reich darstellt oder sich jedes irdische Reich unterordnet. Dies verleiht der Kirche und ihrer Geschichte eine wesentliche Doppeldeutigkeit. Die Kirche ist nämlich – ebenso wie der Christ – zwar »in dieser Welt« (cósmos), aber nicht »von dieser 18 Welt«; die beiden cósmoi sind daher einerseits einander beigeordnet (differenziert), andererseits aber auch einander nachgeordnet (entweder in einem hierarchischen Verhältnis oder im Verhältnis von Chaos und Kosmos). Die historischen Ursprünge dieser Situation sind offensichtlich im Urchristentum zu suchen, d. h. genauer gesagt in den Problemen, die durch den Aufschub jenes éschaton entstanden sind, das nach 66 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

Auffassung des Urchristentums unmittelbar bevorstehen sollte. Ein für die abendländische Ideengeschichte so entscheidender Denker wie Augustinus – der nicht zu Unrecht von Löwith als eine der wichtigsten Quellen der Geschichtsphilosophie betrachtet werden konnte 16 – liefert das berühmteste Beispiel für das geschichtsphilosophisch ermöglichte Nebeneinander des Aspektes der differenzierenden Beiordnung und des Aspektes der Unterordnung in der Idee der Kirche. Gleichsam der theoretische Preis, den die Koexistenz der beiden in Gestalt der civitas Dei und der civitas terrena unterschiedenen cósmoi an das geschichtsphilosophisch verbriefte Subordinationsmodell zu entrichten hat, ist die Ununterscheidbarkeit zwischen Gut und Böse im Innern der Kirche selbst, insofern diese sich in statu viae befindet; infolgedessen kann die Kirche, die doch inchoativ die Kosmopoiese darstellt, nicht mit der civitas Dei identifiziert werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Differenzierungsmodell in De civitate grundlegend ist, ein Werk, zu dem dieses Modell überhaupt erst Anlass gegeben hat: dieses Werk wurde nämlich eben deshalb geschrieben, um die gegen das Christentum gerichteten Beschuldigungen zurückzuweisen, den Untergang des weströmischen Reiches und mithin den Untergang Roms, des caput mundi, das in die Hände von Alarichs Goten gefallen war, verschuldet zu haben. In Wirklichkeit wird es nur durch die Untersuchung der Idee der Geschichtsphilosophie möglich, die Bedeutung des Begriffs der Differenzierung in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Als wir oben festgestellt haben, dass das Verständnis der Säkularisierung als Vertauschung von profanum und fanum, als Profanation und Konsekration zugleich, weder dem Verständnis derselben im Sinne einer Geschichtsphilosophie noch dem Verständnis derselben im Sinne eines Neubeginns (welcher nicht so sehr die Kontinuität der Geschichte unterbricht als vielmehr die Geschichte als Kontinuität zur Auflösung bringt, insofern er die beiden alternativen Verständnisweisen zugleich voraussetzt) gleicht, haben wir auf theoretischer Ebene etwas festgestellt, was auf ideengeschichtlicher Ebene seinen Bezugspunkt in den eben erwähnten Fragestellungen hat. Die Ablehnung des geschichtsphilosophischen Verständnisses der Säkularisierung seitens der Theoretiker der L e g i t i m i t ä t d e r N e u z e i t 17 ist ein Nein, das die verneinte (und in der Tat historisch vorausgehende) These voraussetzt, um sich selbst konfigurieren zu können, und das demgemäß gegenüber dieser These parasitär bleibt, wie überzeugend auch immer die ideengeschichtlichen Rekonstruk67 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

tionen sein mögen, mit denen man diese Position geltend zu machen glaubt. Wie es dagegen auch immer um die theoretische Validität des hier vertretenen sic et non bestellt sein mag, so ist es doch zumindest von größerer Radikalität, da es nicht in ein Spiel der Gegensätze ver19 strickt ist. Dass es zudem vom Gesichtspunkt der ideengeschichtlichen Rekonstruktion aus betrachtet den wirklichen Prozess der geschichtlichen Ausbildung dieser Idee getreuer widerspiegelt, ist eben das, was die diesbezüglichen historischen Andeutungen in Erinnerung rufen sollten, wiewohl in dem Bewusstsein, dass jede Geschichtstreue radikal hermeneutischer Art ist: wobei das Wort »radikal« eben die Unmöglichkeit bezeichnet zu behaupten – aber somit auch zu verneinen –, die Geschichte sei ein Kontinuum. Der Begriff der Differenzierung (ein soziologischer und zuvor noch systemtheoretischer Begriff) ist vollkommen angemessen, um eine theoretische Situation dieser Art zum Ausdruck zu bringen, zumal er in doppeldeutiger Weise die ganze Kontinuität der Idee von Geschichte und die ganze Diskontinuität der Idee von Neubeginn in sich enthält (diejenigen, die diesen Begriff auf wissenschaftlicher Ebene gebrauchen, mögen sich dessen bewusst sein oder nicht). Hinsichtlich des letzteren Aspekts (d. h. der Diskontinuität) ist bezeichnend, dass diejenigen Theoretiker, die sich der gesellschaftlichen Differenzierung am meisten bewusst sind (wir denken dabei an Luhmann), den nicht-ontologischen Charakter des Funktionalismus und die allein im Hinblick auf das jeweils zugrunde gelegte »B e z u g s p r o b l e m « gewährleistete Konfigurierbarkeit des Systems unterstreichen. Dies beseitigt natürlich nicht die Doppeldeutigkeit, die darin zum Ausdruck kommt, dass auf die Gesellschaft als auf dasjenige Bezug genommen wird, was sich differenziert, wobei diese Bezugnahme – aufgrund der Ganzheit des sozialen Systems, über die wir nunmehr sprechen werden – den philosophisch-geschichtlichen, ontologischen und gründungsbezogenen Charakter beibehält, der, wie wir gesehen haben, die Referenz charakterisiert. In diesem Sinne ist der »Referent« »Gesellschaft« qualitativ verschieden vom »Bezugsproblem«, auch wenn er sich in ambiguer Weise in dieses verwandelt. All dies betrifft voll und ganz das Problem der Kirche und der Säkularisierung, oder besser gesagt: das Problem der Kirche und der Säkularisierung ist Ausdruck all dessen, nämlich der Problematik, die für die funktionssystemische Theorie der Gesellschaft grundlegend ist.

68 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes m

Im Rahmen einer Systemtheorie verstößt die Definition der Gesellschaft als System der Systeme gegen das im ersten gödelschen Unvollständigkeitssatz aufgestellte Prinzip der Nichtableitbarkeit. 18 Da die Gesellschaft also nicht als das System definiert werden kann, das sich selbst enthält, kann auf das Gesamtsystem nur ausgehend von Subsystemen und in Form einer Verallgemeinerung Bezug genommen werden, aufgrund derer die Gesellschaft als das weiteste System von Kommunikationsbeziehungen verstanden wird. Dieses Verständnis ist – wie Landgrebe in einer Schrift über die philosophischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie zu Recht hervorgehoben hat – »keine Definition im strengen Sinne«, weil wir es in diesem Falle mit einer anomalen Menge zu tun hätten, die sich selbst enthält; es sei daher »nur eine Erklärung des Wortgebrauchs« von »Gesellschaft«. 19 Das Wort »Gesellschaft« ist also der Name für die Gesamtheit aller Funktionen, die als gemeinsame vorausgesetzt werden müssen, wenn Kommunikation ü b e r h a u p t möglich sein soll. Wahrscheinlich verwandelt diese Interpretation Landgrebes das 20 Systemverständnis in einem Sinne, der den Systemtheoretikern nicht ganz genehm ist. Luhmann zum Beispiel, auf den sich Landgrebe in der erwähnten Schrift hauptsächlich bezieht, nimmt in Wirklichkeit eine sehr viel vorsichtigere Position ein (bzw. eine Position, die sich vorsichtiger zu sein vornimmt), indem er die Gesellschaft als das jeweils umfassendste System der wechselseitig erreichbaren Kommunikationsbeziehungen definiert. 20 Gleichwohl obläge es der Systemtheorie der Gesellschaft zu beweisen, dass sie es vermeiden kann, die eigene Bezugnahme auf die Gesellschaft in eine ontologische Bezugnahme zu verwandeln; dieser Beweis ist jedoch nicht möglich, im Gegenteil: schon allein aufgrund der Tatsache, dass er unternommen wird, beweist dieser Beweis genau das Gegenteil, nämlich dass trotz gegenteiliger Absicht die Bezugnahme auf das jeweils umfassendste System jeweils Bezugnahme auf das Ganze ist; denn nur von einem anderen Gesichtspunkt, nämlich vom Gesichtspunkt desjenigen, der seinerseits den Beobachter beobachtet, erscheint dessen Bezugnahme auf das Ganze als Bezugnahme auf das weiteste System der für den beobachteten Beobachter erreichbaren Kommunikationsbeziehungen. Die Beobachtung zweiter Ordnung kann sehr wohl eine reflexive m

Dieser und der folgende Absatz entsprechen im Wesentlichen dem Text einer Passage in MMO-62, S. 435, bzw. MMO-68, S. 197–198.

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Beobachtung sein, d. h. eine Beobachtung, die von »demselben Subjekt« gemacht wird wie die Beobachtung erster Ordnung. Dies darf uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, d. h. es darf uns nicht aus den Augen verlieren lassen, dass die Selbigkeit des »Subjekts« der beiden Beobachtungen eine solche vom Gesichtspunkt der Beobachtung zweiter Ordnung aus ist. Diese reflexive Selbigkeit gibt der subjektiven Selbstheit »statt«, d. h. sie gibt ihr einen Ort und veranlasst sie dadurch, und bezüglich dieses »Orts« hat es keinen Sinn, zwischen einem ontologischen und einem beobachtungsbezogenen Aspekt zu unterscheiden, wie dies die Systemtheorie gern täte; das Subjekt findet nämlich in eben derjenigen nicht thematisierten und bei Verbleib auf derselben Beobachtungsebene nicht thematisierbaren Annahme »statt«, durch die sich das Subjekt als dasselbe Subjekt der Beobachtung erster Ordnung beobachtet. Es hat keinen Sinn und ist unmöglich zu sagen, dass es nicht dasselbe Subjekt ist, denn die Beobachtung zweiter Ordnung findet nur in dieser nicht thematisierten Annahme statt; andernfalls fände sie nicht statt und wäre somit nicht. Zu sagen, dass das Subjekt nicht dasselbe ist, hat nur dann Sinn und ist nur dann möglich, wenn es post festum oder von außen, d. h. vom Gesichtspunkt eines anderen Beobachters aus geschieht, wobei diese Alterität ebenso durch räumliche wie durch zeitliche Differenzierung oder auch durch beide zusammen eingeführt werden kann; das Einführen dieser Differenzierung ist aber nichts anderes als das Stattfinden der Selbigkeit und der Selbstheit des Beobachters letzter Ordnung. Wohlgemerkt handelt es sich bei dieser letzten Ordnung um eine »jeweils« letzte Ordnung, wobei solche differenzierende Betrachtung aber das sich Konstituieren des Subjekts »ist«, welches das sich Differenzieren aller vorausgegangenen bzw. aller anderen Beobachtungen beobachtet. Es ist offensichtlich, dass all das, was mit der nötigen, unerschöpflichen Rekursivität über den Beobachter gesagt worden ist, 21 d. h. über die Beobachtung, die sich kraft der ontologisierenden Indifferenzierung subjektiviert, »wo« die Beobachtung jeweils ihren terminus, d. h. ihren Ausgangs- bzw. Endpunkt hat (der terminus, die Grenze, ist also der wahre Ort), für die Gesellschaft als Ganzes wiederholt werden muss: das »Jeweils«, welches die Gesamtheit der Kommunikationsbeziehungen auf die in dem Moment oder von dem (in seiner Alterität räumlich und/oder zeitlich verschobenen) Gesichtspunkt aus erreichbaren Kommunikationsbeziehungen beschränkt, ist immer ein »Jeweils«, welches von einem Gesichtspunkt 70 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

aus ausgesprochen, gedacht bzw. beobachtet wird, der die (seine) Ganzheit in eins mit seiner Selbstheit annimmt. Der einschränkende Charakter des »Jeweils« ist also mit anderen Worten das Ergebnis des Stattfindens jener Grenze, welche das Subjekt ist; aber eben weil es sich nicht als Grenze wahrnimmt und wahrnehmen kann (weil es sich nicht beobachtet), bezieht es sich auf das Ganze (wir werden gegen Ende dieses Buchs auf diese Frage der Verschiebung der Grenze zurückkommen, dann jedoch nicht mit Blick auf das Problem der Gesellschaft, sondern mit Blick auf das Problem der Intersubjektivität und der Analogisierung des anderen Subjekts). All dies könnte natürlich auch mit den Worten verschiedener anderer zeitgenössischer Philosophien zum Ausdruck gebracht werden: angefangen mit Wittgensteins These, dass es das Subjekt »nicht gibt«, weil es die Grenze der Welt markiert, über die Konzeption der transzendentalen Subjektivität bei Husserl (der in den Cartesianischen Meditationen ähnliche Betrachtungen anstellt), bis hin zu Heideggers Konzeption des D a s e i n s und seiner Kritik am cartesianischen Subjekt, insofern es als Teil der Welt verstanden wird. Aber jede dieser Formulierungen hat natürlich einen ihr spezifischen Problemkontext. Uns jedoch interessiert hier, den Problemkontext geltend zu machen, in dessen Rahmen wir unsere Beobachtungen entwickelt haben; obgleich wir uns darüber bewusst bzw. davon überzeugt sind, dass diese Beobachtungen eng an die Tradition der Transzendentalphilosophie gebunden sind (und mithin auch an die Kritik daran), drängt es uns im Moment dazu, die Bedeutung zu unterstreichen, die diese Beobachtungen für die Systemtheorie der Gesellschaft im allgemeinen, insbesondere aber auch für Luhmanns jüngste Ausarbeitungen derselben haben, die auf second order cybernetics und Autopoiese basieren. Es ist kein Zufall, dass diese Theorie (in den angesprochenen jüngeren Ausarbeitungen derselben) beansprucht, den transzendentalen Ansatz in einen empirischen Ansatz aufgelöst zu haben, indem sie zwar die Problemstellung des ersteren beibehält, diese aber – zumindest dem Anspruch nach – einer wirklichen Lösung zuführt. Es muss sich jedoch erst noch herausstellen, ob dieser Anspruch nicht nur Wunsch bleibt, sondern durch Luhmanns systemischen Ansatz auch wirklich eingelöst wird. Dabei muss man zwischen dem kritisch-polemischen und dem konstruktiven Teil seiner Ausführungen unterscheiden. Der kritisch-polemische Teil ist derjenige, auf dessen Grundlage Luhmann verneint, dass man die gesellschaftliche Di71 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

mension ausgehend von der modernen Subjektivität über den problematischen Begriff der Intersubjektivität erschließen kann. Das Verdienst, die Schwierigkeiten erkannt zu haben, welche auf die Intersubjektivität im Rahmen der husserlschen Sicht zukommen, wird von Luhmann Husserl selbst zugeschrieben, der »ein viel zu strenger 22 Denker [war], um die Schwierigkeiten nicht zu sehen, die er sich mit der Position eines transzendentalen Subjektivismus eingehandelt hatte«. 21 Das Problem der Intersubjektivität stellt sich Luhmann zufolge nämlich nur im Kontext und in der Terminologie der Theorie des Subjekts; es erfordere daher aber implizit, »diese Theorie selbst zu widerrufen«. 22 Aus der Feststellung, dass jedes Subjekt seine eigene Intersubjektivität hat, bzw. aus der Klarheit, mit der die verführerische, aber naive Perspektive zurückgewiesen wird, dass das inter und die gesellschaftliche – ja sogar gesellschaftskritische – Dimension mittels einer Vervielfältigung der Subjektivität, d. h. mittels einer Diskurstheorie, die den Diskurs als herrschaftsfreie intersubjektive Kommunikation konzeptualisiert, erschlossen werden kann, folgt jedoch nicht, dass der Bezug auf das Ganze der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann. Dieser Bezug korrespondiert, wie gesagt, der nicht thematisierten Subjektivität des Beobachters, welche die Objektivität, d. h. die Gegenständlichkeit, der thematisierten gesellschaftlichen Dimension konstituiert (sie »intendiert« sie sozusagen) und den »blinden Fleck« darstellt, der Luhmann zufolge in jedem Beobachtungssystem vorhanden ist. Der Bezug auf das Ganze korrespondiert und ist doch zugleich verschieden von der nicht thematisierten Subjektivität, an die er gebunden ist; das Ganze ist nämlich sozusagen auf der objektiven Seite dessen, was beobachtet wird, als dasjenige angesiedelt, was allein es erlaubt, eine Theorie der Gesellschaft als Kommunikationssystem zu konstruieren, wie es sich die Systemtheorie vornimmt. Die Definition der Gesellschaft als Kommunikationssystem ist die Definition eines Ganzen, einer Totalität, auch wenn diese Totalität als solche nicht empirisch beobachtbar ist, sondern vielmehr den kategorialen Horizont jeder Beobachtung gesellschaftlicher Phänomene darstellt; außerhalb dieses Horizonts wäre eine solche Beobachtung ebenso wenig möglich wie ohne das beobachtende »Subjekt«. In der Tat ist der Kreis, den die hegelsche Dialektik abschließt, gleichsam ein Kreis hinter dem Rücken der Empirie, d. h. ein Kreis, der die beiden empirisch nicht thematisierbaren Grenzen des Bodens der Empirie – die Grenze 72 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

der Subjektivität und die Grenze der Totalität – miteinander verbindet und so die »transzendentale Dialektik« überwindet, die Kant zufolge durch die zwar unvermeidliche, aber illusorische Totalisierung der Empirie entsteht. Was aber ist der Bezug zur Gesellschaft als Kommunikationssystem, wenn nicht eine solche notwendige totalisierende Erweiterung? Es ist daher offensichtlich, dass der Versuch, die Gesellschaft als ein regulatives Prinzip von der Art eines »als ob« zu denken, – ein Versuch, den Landgrebe eine »Erklärung des Wortgebrauchs« von »Gesellschaft« genannt hat – die Systemtheorie viel mehr, als Luhmann glaubt, an die Theorien der »unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft« bzw. der kontrafaktisch antizipierten »idealen Gesprächssituation« annähert: an jene Theorien also, die Luhmann doch, wie erwähnt, nicht ohne Grund kritisiert. Insbesondere die Tatsache, dass wir es hier nicht mit einem entitativen, sondern mit einem 23 regulativen Prinzip zu tun haben – wie sich aus dem unerschöpflichen Übergang der Beobachtung auf die immer jeweils nächste Metaebene ergibt, wodurch der Horizont zum empirisch Beobachteten wird und dabei als das jeweils weiteste System der füreinander erreichbaren Kommunikationsbeziehungen erscheint – eröffnet die Möglichkeit, dass die Gesellschaftstheorie zur Gesellschaftskritik wird. Es handelt sich vielmehr um mehr als nur eine bloße Möglichkeit; eine solche würde sie bleiben, wenn sich nicht faktisch jener Übergang auf die Metaebene ereignete, welcher sich in dem Bewusstseins verwirklicht, das in dem Wort »jeweils« zum Ausdruck kommt: angesichts dieses Bewusstseins und mithin angesichts jenes unerschöpflichen Übergangs impliziert jede Beobachtung des Gegenstands Gesellschaft immer eine praktische Dimension, auch wenn sie dem »interesselosesten« »Interesse«, welches das »rein theoretische« Interesse ist bzw. sein soll, entspricht oder zu entsprechen glaubt. Die Beibehaltung des Gesichtspunkts, die den Übergang zur Metaebene versperrt und das Beobachtete bewahrt, ist trotz des eventuell erhobenen Anspruchs, sie sei »rein theoretischen« Charakters, nicht weniger praktisch als der Bezug auf irgendeinen anderen Horizont oder auf irgendein anderes regulatives Ideal, wie z. B. das einer Kommunikationsgemeinschaft. Für Luhmann ist Kommunikation, insofern es sich dabei um soziale Kommunikation handelt und insofern sie das reflexive Sinnsystem definiert, welches die Gesellschaft ist, ohne Bezug auf Subjektivität zu definieren (daher die luhmannsche Polemik gegen jede 73 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Theorie »sozialen Handels«). Ko m m u n i k a t i o n wird daher als eine autopoietische Operation verstanden, die aus der Synthese von drei Operationen bzw. als »Selektion« von drei »Selektionen« entsteht: Information, M i t t e i l u n g und Verstehen. 23 Auch Habermas – so sei hier angemerkt – geht von diesen drei Komponenten der Kommunikation aus (er übernimmt sie in der Tat genauso wie Luhmann von Bühler) 24. Habermas jedoch führt sie auf eine Version der Sprechakttheorie zurück, in welcher die Sprecher Geltungsansprüche erheben. Und genau dies ist es, was Luhmann kritisiert: nicht allein gründe sich die von Habermas vertretene Position auf den Begriff der Intersubjektivität, der, wie wir gesehen haben, schon an sich sehr problematisch ist, sondern sie erfasse auch nur einen sehr kleinen Teil der Kommunikationsmöglichkeiten, für die eine adäquate Theorie der Gesellschaft aufkomme. Natürlich erkennt auch Luhmann, dass die Selektion der Selektionen des autopoietischen Kommunikationssystems die Funktion des Bewusstseins (und mithin eine weit entwickelte Realität) voraussetzt. In der Systemtheorie der Gesellschaft wird das Bewusstsein jedoch nicht als ein selbstbestimmtes Subjekt verstanden, sondern als Operationsfähigkeit einer Umwelt, die einerseits dem Kommunikationssystem Kontingenz zufügt, sich aber andererseits durch Kommunikation determinieren lässt. Auf diese Weise stellt sich die Einheit des Sozialen – also jene Einheit, die nicht im Sinne von Inter24 subjektivität verstanden werden kann – als die geschlossene Autonomie einer Operationsmodalität dar. Die Zusammenhänge zwischen Bewusstsein und Kommunikation werden daher zwar nicht negiert, aber sozusagen auf »ökologische« Beziehungen reduziert. Man beachte, dass diese strenge Beschränkung auf die Autonomie des autopoietischen Systems die Probleme, die durch die Selbstreferenz bedingt sind, keineswegs verneint, sondern sie vielmehr sogar betont. Ein System, das alle seine Operationen auf Selbstreferenz gründet, verwickelt sich in Tautologien und Paradoxien. Angesichts dieser Tatsache lässt sich Luhmann nicht durch den (von Russell und Whitehead bis hin zu Tarski klassischen) Hinweis zufrieden stellen, dass man, um die paradoxe Situation der Selbstreferenz zu vermeiden, verschiedene Ebenen unterscheiden müsse: wie auch ein erfolgreiches Werk jüngeren Datums gezeigt hat, 25 wird die Hierarchie der Ebenen zu einer »verwickelten Hierarchie«, welche »seltsame Schleifen« erzeugt, durch die sich die Selbstreferenz unbemerkt wieder einschleicht. 74 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

Luhmann ist dagegen der Auffassung, dass die Kybernetik zweiter Ordnung diese Aporien vermeidet. Die Beobachtung von beobachtenden Systemen lässt nämlich entparadoxierende Beschränkungen zu. Hinsichtlich dieser Beschränkungen kann der Beobachter zwischen natürlichen und mithin notwendigen Beschränkungen einerseits und artifiziellen und mithin kontingenten Beschränkungen andererseits unterscheiden (dies jedoch schließt nicht aus, dass sich die Grenze zwischen natürlich n und artifiziell verschieben kann und dass bisherige Notwendigkeiten durch die Konfiguration neuer »inviolate levels« kontingent werden können). Mittels dieser Unterscheidung kann der Beobachter anderer Systeme seine eigene Beobachtung entparadoxieren, indem er nach den für die beobachteten Systeme notwendigen Formen der Entparadoxierung fragt. Mit dieser Unterscheidung verschafft sich der Beobachter Luhmann zufolge die Vorstellung eines zwar selbstreferenziellen, aber »deblockierten« Systems. 26 Der Beobachter kann auch die Funktion der Entparadoxierung erkennen und das, was für das beobachtete System selbst notwendig ist, im Sinne anderer, funktional äquivalenter Möglichkeiten begreifen (dieser Aspekt ist besonders wichtig für die Religion, die zumindest den jüngsten Arbeiten Luhmanns zufolge eben gerade eine entparadoxierende Funktion hat) 27. Der Beobachter kann also mit anderen Worten sehen, dass das System auf »Invisibilisierungen« beruht, und eben dieses Sehen ist seine eigene Invisibilisierung: ein Beobachter kann nämlich »sehen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Und er kann wissen, dass Aufklärung nicht in Richtung auf restlose Selbsttransparenz möglich ist, sondern nur durch Substitution neuer inviolate levels«. 28 Es ist also offensichtlich, dass die Probleme der Selbstreferenz von einer Systemtheorie der Gesellschaft nicht verneint, sondern in gewissem Sinne vorausgesetzt werden; denn die »Invisibilisierung«, die das autopoietische System entparadoxisiert und ihm auf diese 25 Weise erlaubt zu funktionieren, konstituiert sich eben gerade in Bezug auf diese Probleme. In Anbetracht dieser Tatsache können wir uns jetzt fragen, ob die eben erörterten luhmannschen Argumentationen das, was wir über das Subjekt und die Totalität angemerkt haben, hinter sich bzw. haltlos werden lassen. Dabei gilt es zunächst einmal festzustellen, dass Luhmann nicht verneint, dass die Beobachn

Im italienischen Text steht an dieser Stelle statt »natürlich« (naturale) »kontingent« (contingente). Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Wortvertauschung.

75 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

tung selbst eine autopoietische Operation ist. Eben weil dies aber ein wechselseitiges Beobachten von Operationen impliziert, das sich im Sinne einer dialogischen oder – wie Luhmann sagt – »mutualistischen« Theorie behandeln lässt, ist prinzipiell ausgeschlossen, dass es jemals zu vollständiger Verständigung im habermasschen oder apelschen Sinne eines intersubjektiven Konsenses kommen kann. 29 Es muss sich jedoch erst noch herausstellen, ob die Kritik an dem Versuch, Gesellschaft im Sinne von Intersubjektivität zu verstehen, es erlaubt, den Beobachter als die Umwelt des beobachteten Systems zu betrachten. Uns scheint nämlich eben gerade, dass Luhmanns Argumentationen zwar in ihrem kritischen, die Intersubjektivität betreffenden Teil gültig sind, jedoch keineswegs dazu berechtigen, das Problem der Subjektivität des Beobachters zu tilgen. Diese Argumentationen, die wir eben dargestellt haben, lassen nämlich die Betrachtungen unangetastet, die wir über die Grenzhaftigkeit des beobachtenden Subjekts und über seinen Bezug zum Ganzen der Gesellschaft bzw. zur Gesellschaft als Ganzes angestellt haben. Zu behaupten, dass der Beobachter (bzw. die Beobachtung, wie Luhmann bezeichnenderweise zu sagen vorzieht) eine autopoietische Operation ist, die gegenüber dem beobachteten gesellschaftlichen Kommunikationssystem die Umwelt darstellt, bedeutet nicht, etwas zu sagen, was der Beobachter oder, wenn man so will, die Beobachtung auf sich selbst beziehen kann. Diese Behauptung ist nämlich die Behauptung bzw. die Beobachtung eines Dritten gegenüber der Umwelt und dem System, die Gegenstand der Beobachtung sind; dieser Dritte kann daher diese beiden Gegenstände seiner Beobachtung zwar auch im Sinne der oben erwähnten »mutualistischen« Theorie behandeln. Aber dieser dritte Beobachter bzw. diese dritte Beobachtung stellt im Verhältnis zum beobachteten sozialen System nicht die Umwelt, sondern sozusagen die Grenze desselben dar, eine Grenze, die sich in dieser ihrer Grenzhaftigkeit konstituiert und nur als solche besteht. Es ist verständlich, dass dem Sozialwissenschaftler dieser Unterschied zwischen der (von ihm mittels einer Beobachtung dritter Ordnung beobachteten) Beobachtung zweiter Ordnung und seiner eigenen Beobachtung entgehen kann. Er würde wahrscheinlich sogar die Antwort parat haben, dass die Tatsache, dass ihm dieser Unterschied entgehen kann, seiner These von der »Invisibilisierung« entspricht. Wenn aber klar ist, dass sich die Sache nicht so verhält, weil nämlich diese Antwort eben gerade das Ergebnis einer Beobachtung dritter 76 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes

Ordnung ist, dann muss man sich nach den Gründen fragen, die den Sozialwissenschaftler dazu verleiten können, die eigene Beobachtung mit der Beobachtung zweiter Ordnung zu verwechseln. Wir haben gesagt, dass diese Verwechslung verständlich ist; tatsächlich kommt sie eben gerade aufgrund des Anspruchs auf »Wissenschaftlichkeit« nicht unerwartet, den der Sozialwissenschaftler hinsichtlich seiner empirischen Theorien erhebt. Die Objektivität sei- 26 ner Beobachtung erlaubt es ihm, gleichermaßen eine Stammesgesellschaft oder eine komplexe Gesellschaft, eine Gesellschaft, der er nicht angehört, oder die Gesellschaft, der er angehört, zu beobachten; und diese Möglichkeit, das Objekt der eigenen Beobachtung zu variieren, verleitet dazu, dasjenige nicht zu sehen, was in der Tat nicht anders denn als Horizont bzw. als objektive Grenze des eigenen Beobachtens und des eigenen Thematisierens sichtbar ist. Genau dieses »dasjenige« aber ist die Gesellschaft: es handelt sich dabei um einen kategorialen Horizont, der zunächst die eventuell als die eigene e r l e b t e Gesellschaft und dann jede andere, eventuell als eine fremde erlebte Gesellschaft, die eben darum aber auch als eine der als die eigene erlebten analoge Gesellschaft erkannt wird, konfiguriert, ihnen Gestalt verleiht und sie in Erscheinung treten lässt. Die Betonung der bloßen Eventualität und Unwesentlichkeit des hinsichtlich der Gesellschaft Erlebten soll unterstreichen, dass die wesentliche »Eigenschaft« (das »eigentliche« Charakteristikum) nicht auf der Ebene des Erlebten, sondern auf der Ebene des kategorialen Horizonts angesiedelt ist (welcher als Horizont in der Tat der Horizont des beobachtenden und niemals thematisierten Subjekts ist). Dies jedoch erfordert eine »phänomenologische« Vertiefung des Problems.

Anmerkungen Vgl. E. Levinas, Le nom de Dieu d’après quelques textes talmudiques, in Archivio di filosofia, 37 (1969), Nr. 2–3 (Band mit dem Titel L’analisi del linguaggio teologico. Il nome di Dio), S. 155–168 (der gesamte Band, in dem die Akten eines von E. Castelli organisierten Symposiums veröffentlicht sind, ist für das hier diskutierte Thema relevant). Unter den jüngeren Studien zum Problem des Namens »Gott« vgl.: R. Leuze, Gotteslehre, Stuttgart 1988 (die ersten beiden Kapitel widmen sich jeweils der »Lehre von Gott als Reflexion auf das Wort Gott« und dem »Status des Wortes Gott«); I. U. Dalferth, Existenz Gottes und christlicher Glaube, München 1984 (die ersten beiden Kapitel widmen sich jeweils dem Problem einer ontologischen Theologie und der Analyse von Existenzaussagen); auch Pannenberg hat die Bedeutung einer Reflexion über das philosophische Problem des Wortes »Gott« wahrgenommen (vgl. W. Pan-

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

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nenberg, Systematische Theologie, Bd. I, Göttingen 1988, S. 73–83). Über den Unterschied zwischen Konnotation und Bedeutung von Eigennamen und (in Polemik mit Russell einerseits und mit Kripke und Donnellan andererseits) über die Möglichkeit, dass sich koreferenzielle Eigennamen in ihrer Konnotation abhängig von persönlichen Überzeugungen und vom Idiolekt voneinander unterscheiden vgl. D. Ackermann, Proper Names, Propositional Attitudes and Non-descriptive Connotations, in Philosophical Studies, 35 (1979), S. 55–69; wir denken hier an die Bedeutung, die diese Frage für die Sprache des Glaubens hat, also für eine Sprache, welche Sprache einer Gemeinschaft und Ausdruck eines gemeinsamen Glaubens (und somit nicht wirklich Idiolekt) ist und welche zudem mit der Unsagbarkeit Gottes und mit der Pluralität der Namen Gottes zu tun hat, die von der kulturellen Tradition der negativen Theologie betont werden. 2 Dieser Gedanke könnte daher im Wesentlichen mit Pareysons Überlegungen übereinstimmen, denen zufolge das Tetragramm als »ich bin, wer ich will« übersetzt werden kann (L. Pareyson, Filosofia ed esperienza religiosa, in Annuario filosofico, 1 [1985], S. 33). Diese Überlegungen sind unlängst von C. Magris im Zusammenhang seiner These aufgegriffen worden, dass das Tetragramm kein Name sei (Pensiero dell’evento e avvento del divino in Heidegger, in Annuario filosofico, 5 [1989], S. 80). 3 Wir spielen hier natürlich auf die berühmten Anfangsworte von Kants Aufsatz Was ist Aufklärung? an (»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«), den wir aus dem von N. Hinske herausgegebenen Sammelband Was ist Aufklärung. Beiträge aus der Berlinischen Monatschrift, Darmstadt 1973, zitieren möchten, um den weiterreichenden, nämlich nicht allein auf Kant, sondern auf eine ganze Epoche bezogenen Charakter unserer Anspielung zu unterstreichen. 4 Vgl. z. B.: O. Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 91–116; D. Miller u. J. Hillmann, Il nuovo politeismo, [The new polytheism], ital. Übers., Milano 1983; W. Welsch, Religiöse Implikationen und religionsphilosophische Konsequenzen »postmodernen« Denkens, in A. Halder, K. Kienzler, J. Möller (Hrsg.), Religionsphilosophie heute, Düsseldorf 1988, S. 117–129; sowie einige Abschnitte in A. Dal Lago, Il politeismo moderno, Milano 1985. 5 Diesbezüglich sei es uns gestattet, auf unsere Arbeiten Il tempio simbolo cosmico. La trasformazione dell’orizzonte del sacro nell’età della tecnica, Roma 1967, und Spazio-tempo-luogo, in Archivio di Filosofia, 43 (1975), S. 377–404, zu verweisen. 6 Vgl. B. Casper (Hrsg.), Phänomenologie des Idols, Freiburg – München 1981. 7 Vgl. M. Nédoncelle, L’irruption du nom propre dans la prière et dans la réflexion, in Archivio di Filosofia, 37 (1969), Nr. 2–3 (Band mit dem Titel L’analisi etc.), S. 340– 354. 8 Vgl. hierzu den ersten Anhang zu diesem Buch. 9 Vgl. hierzu den zweiten Anhang zu diesem Buch sowie meinen Aufsatz Il problema della secolarizzazione inesauribile, in Archivio di Filosofia, 44 (1976), Nr. 2–3 (Band mit dem Titel Ermeneutica della secolarizzazione), S. 73–86. 10 Vgl. H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1974. Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Situation in Italien im Vergleich zu diesem Panorama erfreulich innovativ ist. Man denke etwa an G. Marramao, Potere e secolarizzazione. Le categorie del tempo, Roma 1983, bei dem sowohl seine These von der »Unangemessenheit des Schemas heilig-profan, um die Problematik des Begriffs

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Gottesnennung, Selbstreferenz, gesellschaftliches Ganzes der Säkularisierung zu bezeichnen« (S. XXIV) als auch seine Verbindung des Problems der Säkularisierung mit dem Problem der Metapher hervorzuheben sind; man denke auch an Vattimo, der bezeichnenderweise die Frage der Säkularisierung mit der Frage der Ve r w i n d u n g der Metaphysik und des Grundes verknüpft (G. Vattimo, Metafisica, violenza, secolarizzazione, in Filosofia ’86, hrsg. v. G. Vattimo, Roma – Bari 1987, S. 71–92) und dadurch unter anderem in der Lage ist, besonders eindringliche Diagnosen der Gegenwart – ja sogar aktueller Tagesnachrichten – zu liefern. 11 J. F. Lyotard, Discours, figure, Paris 19783. Bedenkenswert ist die von P. Kobau vertretene Unterscheidung zwischen einer »kantschen Ostentation« und einer »hegelschen Ostentation«. Vgl. Il «questo» hegelianio: trucchi e fatti storici, in Aut aut, Nr. 236, 1990, S. 94. 12 Ausgehend von J. Habermas und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971. 13 Vgl. das gesamte Kapitel über den »Sinn als Grundbegriff der Soziologie« in dem in der vorangegangenen Anmerkung zitierten Band. 14 Bezüglich dieser Probleme sei es uns gestattet, auf unsere Schrift Filosofia della religione come problema storico. Romanticismo e idealismo tedesco, Padova 1974, zu verweisen. 15 Vgl. H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg – München 1964. 16 Vgl. K. Löwith, Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago 1949. 17 Vgl. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966 (das in Anmerkung 10 zitierte Werk Blumenbergs, Säkularisierung etc., stellt eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage des ersten und zweiten Teils dieses Buchs dar). 18 Vgl. unseren Aufsatz Ecclesiologia filosofica e teoria della società, in Archivio di Filosofia, 48 (1980), VI, Nr. 2–3, S. 429–447, auf den wir zu diesem Punkt teilweise zurückgreifen. 19 Vgl. L. Landgrebe, Der Streit um die philosophischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie, Opladen 1975 (Vorträge d. Rhein.-Westf. Ak. D. Wiss., 204), S. 33. 20 Vgl. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Köln – Opladen 1970, S. 138–141. 21 N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation. Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in Archivio di Filosofia, 54 (1986), Nr. 1–3 (Band mit dem Titel Intersoggettività, socialità, religione), S. 42. 22 Ibid. 23 Ibid., S. 51–52. 24 Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 19632. Zu Luhmanns Kritik an Habermas hinsichtlich der Art und Weise, in welcher Habermas Bühlers Unterscheidung aufgreift, vgl. op. cit., S. 51. 25 D. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, ital. Übers., Milano 1985. 26 N. Luhmann, op. cit., S. 55. 27 Man vergleiche hierzu die leider sehr knappen Ausführungen Luhmanns, op. cit., S. 56–60, sowie in Society, Meaning and Religion. Based on Self-Reference, in Sociological Analysis, 46 (1985), S. 5–20, welche – angesichts der Neuausrichtung, die diese Ausführungen für Luhmanns Religionstheorie gegenüber der in Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, vertretenen Position mit sich bringt – ebenfalls eine weitergehende Ausarbeitung derselben wünschenswert erscheinen lassen. Weniger relevant für diese Problematik erscheint uns dagegen das wenngleich umfangreiche

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft und systematische Kapitel über »Die Ausdifferenzierung der Religion« in N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989. 28 N. Luhmann, Intersubjektivität etc., S. 56. 29 Ibid.

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Zweites Kapitel a Abwesenheit und Analogie

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b

Die Gesellschaft ist nie etwas Anwesendes oder »Vorhandenes« c, sondern immer etwas Abwesendes, das den Horizont bildet, innerhalb dessen ein Komplex von Kommunikationsbeziehungen ins Licht und in Erscheinung tritt, die vom Beobachter als raumzeitliches Teilstück der Gesellschaft im allgemeinen oder einer besonderen Gesellschaft (die als die eigene oder als eine fremde Gesellschaft erlebt wird) aufgefasst werden. Für sich allein genommen – d. h. insofern sie sich in dem erschöpfen, was innerhalb des Wahrnehmungshorizonts erscheint, ohne auf das zu verweisen, was außerhalb dieses Horizonts liegt – sind diese Kommunikationsbeziehungen nicht die Gesellschaft, sondern subjektive Verhaltensformen und/oder intersubjektive Beziehungen. Damit soll natürlich nicht verneint werden, dass diese intersubjektiven Beziehungen immer mit anderen Kommunikationsbeziehungen verknüpft sind, die nicht intersubjektiver, sondern sozusagen »inter-objektiver« Art sind (wie z. B. zwischen den Computern, die a

Dieses Kapitel entspricht in Teilen einem Aufsatz, der 1992 (also im Jahr der Veröffentlichung von Analogia del soggetto) sowohl auf Französisch unter dem Titel L’absence comme forme de la présence: Du «nous» à la «troisième personne» sociale (MMO-152) als auch auf Deutsch unter dem Titel Abwesenheit als Weise der Gegenwart. Vom »Wir« zur gesellschaftlichen »dritten Person« (MMO-151) erschienen ist. Die entsprechenden Textabschnitte sind durch Fußnoten gekennzeichnet. b Bei dem Textabschnitt von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 42 handelt es sich gleichsam um eine Ausarbeitung desjenigen Absatzes von MMO-151, S. 106, bzw. MMO-152, S. 67, mit dem die inhaltlichen Ausführungen dieser beiden Aufsätze anheben. Tatsächlich beginnt dieser Absatz sinngemäß mit demselben Satz (»Die Gesellschaft ist nie etwas Anwesendes: sie ist Abwesenheit und Horizont«), und auch alle weiteren Sätze dieses Absatzes finden sich nahezu wortgleich in dem genannten Textabschnitt wieder (Vgl. S. 30 und 42). c Im italienischen Text wird der Begriff des »Vorhandenen« hier mittels expliziter Bezugnahme auf Heideggers Begriff der »Vorhandenheit« zum Ausdruck gebracht, der im Italienischen mittels der Rede von einer »einfachen« bzw. »bloßen« »Gegenwart« bzw. »Präsenz« (semplice presenza) umschrieben wird.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

das Geschehen an der Börse steuern). Ebenso wenig soll damit verneint werden, dass die intersubjektiven Beziehungen oftmals auch selbst als inter-objektive Beziehungen erscheinen können (insofern sie den Vollzug der Funktionen von Institutionen, d. h. die Ausübung einer Rolle zum Ausdruck bringen). Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass all dies hier verneint werden soll. Aber es wäre auch ein (noch viel größeres) Missverständnis zu glauben, dass die inter-objektiven Aspekte sozialer Beziehungen die Sozialität dieser Beziehungen, d. h. diejenige Charakteristik derselben darstellen, aufgrund derer sie als soziale Beziehungen erscheinen. Tatsächlich sind inter-objektive Beziehungen schon auf empirischer Ebene niemals unabhängig von intersubjektiven Beziehungen, während die letzteren ohne die ersteren sein können. Ganz offensichtlich ist dies im Falle der Systeme von Instrumenten, die zur Kommunikation dienen. Aber auch im Falle von intersubjektiven Beziehungen, die als Vollzug der Funktionen von Institutionen und als Ausübung sozialer Rollen verstanden werden, ist offensichtlich, dass sie nicht all diejenigen Aspekte intersubjektiver Beziehungen erschöpfen, für die sich die Sozialforschung interessiert; diese nämlich betrachtet jede Art von intersubjektiven Beziehungen (also auch 30 nicht institutionalisierte und nicht rollenbestimmte Beziehungen) als soziale Beziehungen und kommt auch nicht darum umhin, sie so zu verstehen. Aber abgesehen von diesen empirischen Überlegungen sind es vor allem prinzipielle Gründe, welche es verbieten, das Merkmal, aufgrund dessen eine intersubjektive Beziehung als eine soziale Beziehung verstanden wird, auf die objektiven, d. h. gegenständlichen Aspekte derselben zu reduzieren bzw. sie darauf zurückzuführen. Subjektivität und Objektivität (d. h. Gegenständlichkeit) sind nämlich keine alternativen, sondern korrelative theoretische Termini. Für die soziologische Untersuchung und für die Theorie der Gesellschaft ist der Versuch, auf die Kategorien der Subjektivität und der Objektivität mit Hilfe des inter zu rekurrieren, lediglich ein Selbstbetrug. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die soziologische Untersuchung nicht objektiviert (vergegenständlicht); aber diese Objektivierung, welche es erlaubt, die beobachteten Phänomene als Sozialbeziehungen zu betrachten, hat nichts mit dem Raum zu tun, in dem sich die Beziehung zwischen den Subjekten, zwischen den Objekten und zwischen den objektivierten Subjekten der soziologischen Betrachtung entfaltet. Tatsächlich sind auch die subjektiven Verhaltensweisen, die nicht in 82 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

Gestalt einer Beziehung zu anderen Subjekten auftreten, Gegenstand soziologischer Untersuchung, und sie sind dies als soziale Phänomene, ja sogar als soziale Beziehungen, weil sie entweder (aus systemtheoretischer Sicht) eine Operation des sozialen Systems oder (aus einer Sicht, die das Subjekt nicht aus dem Bereich soziologischer Betrachtung auszuschließen meint und daher eine Theorie »sozialen Handelns« formuliert) eine Beziehung zwischen den einzelnen beobachteten Verhaltensweisen und der Gesellschaft darstellen. Wenn also subjektive Verhaltensweisen und intersubjektive Beziehungen vom Beobachter als bzw. auch als Sozialbeziehungen interpretiert werden, dann geschieht dies weder deshalb, weil die intersubjektiven Beziehungen eventuell mit inter-objektiven Beziehungen verknüpft wären, noch deshalb, weil sie eventuell selbst inter-objektive Beziehungen (Funktionen von Institutionen und/oder Rollen) wären, noch deshalb, weil die thematisierten Phänomene (seien es subjektive Verhaltensweisen oder intersubjektive Beziehungen) objektiviert würden, zumal ihre Objektivierung ohnehin unvermeidlich ist, insofern sie überhaupt thematisiert werden. Es geschieht vielmehr deshalb, weil sie in einen Horizont eingelassen sind, der sie als solche konfiguriert, indem er ihre Grenzen definiert und zugleich den Zusammenhang zwischen ihnen bis hin zur Totalität des Ganzen erweitert. d Wir haben diesen Horizont einen »kategorialen Horizont« genannt und ihn vom »Wahrnehmungshorizont« unterschieden, innerhalb dessen die Sozialbeziehungen einfach als intersubjektive Beziehungen und/oder als subjektive Verhaltensweisen erscheinen. Aus phänomenologischer Sicht, auf die der Begriff des Horizonts notwendig verweist, ist diese Unterscheidung nicht ohne Bedeutung und wirft verschiedene Fragen auf, denen es nachzugehen gilt. Mit dem husserlschen Terminus »Wahrnehmungshorizont« wollen wir den Horizont dessen bezeichnen, was in der Alltagssprache die leibhaftige Gegenwart genannt werden könnte, d. h. – so könnte man in der Sprache der Phänomenologie sagen – den Horizont des erlebenden Bewusstseins. Es ist klar, dass – so wie immer – auch in diesem Fall die Fachsprache ihre Abhängigkeit von der All- 31 tagssprache erkennen lässt. Diese Abhängigkeit ist in jedem Sinne d

Der folgende Hauptsatz entspricht im Wesentlichen einem Satz aus demjenigen Absatz von MMO-151, S. 106, bzw. MMO-152, S. 67, mit dem die inhaltlichen Ausführungen dieser beiden Aufsätze anheben.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

»reduktiv«: sie kann dies natürlich im Sinne der phänomenologischen Reduktion sein, aber sie ist dies allemal im systemtheoretischen Sinne der Reduktion von Komplexität und auch im alltagssprachlichen Sinne der verarmenden und für das Alltagsverständnis daher in gewisser Weise verfälschenden Vereinfachung. Der Terminus »Horizont« privilegiert bei der Definition der Gegenwart nämlich faktisch die visuelle Dimension, welche die Phänomenologie dann grundsätzlich privilegiert. Dieser Übergang vom Faktischen zum Grundsätzlichen hat beachtliche Konsequenzen, wie man zum einen an den problematischen Beziehungen bemerken kann, die sich unter Husserls Nachfolgern zwischen den beiden Dimensionen etablieren, die wir im etymologischen Sinne die »phänomenologische« und die »phonologische« Dimension nennen könnten, und wie man zum anderen auch daran bemerken kann, dass diese beiden teils miteinander integrierten und teils in Konflikt zueinander stehenden Dimensionen andere Dimensionen sinnlicher Erfahrung ausschließen (zum Beispiel und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Dimension des Tastsinnes, des Geruchssinnes und des Geschmackssinnes; über all dies werden wir aber noch am Schluss des Buches sprechen). Im Übrigen ist die Bedeutung, die der Sprache in der zeitgenössischen Kultur und insbesondere auch in der zeitgenössischen Philosophie zukommt, mittlerweile selbst viel mehr an die visuelle als an die akustische Dimension gebunden. Vor allem nämlich durch die Schrift und durch die dadurch ermöglichte kontext- und praxisentbundene Überlieferung hat die Sprache die philosophische Bedeutung gewonnen, die ihr aktuell zukommt. Und die Schrift ist normalerweise ein visuelles Überlieferungsinstrument; die Möglichkeit, die Schrift an andere Sinne zu binden – zum Beispiel an den Tastsinn wie bei der Blindenschrift – stellt eben gerade nicht den Normalfall der menschlichen Spezies dar. Im Übrigen findet die Tatsache, dass die Dominanz des Gesichtssinns den Normalfall darstellt, in evolutiver Hinsicht ein Pendant und eine Bestätigung zum einen darin, dass der Gesichtssinn der am meisten kortikalisierte Sinn ist, und zum anderen darin, dass andere Sinne und insbesondere der Geruchssinn ganz offensichtlich rezessiv sind. Die Möglichkeiten, welche die neuen Überlieferungstechniken eröffnen, werden offensichtlich die physisch-kulturelle Entwicklung der Spezies verändern können, obgleich die Annahme vernünftig erscheint, dass sich auch auf der Ebene technischer Erfindungen vorwiegend der faktisch bereits dominierende Sinn weiter durchsetzen 84 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

wird: Denkt man z. B. konkret an die aktuellen Technologien, so ist zwar wahr, dass die neuen Überlieferungsinstrumente die rein akustische Überlieferung der gesprochenen Sprache erlauben, aber es ist auch wahr, dass sich die technologische Forschung an die Synästhesie anpasst, die in dem geschichtlichen Moment, in dem diese Forschung selbst durchgeführt wird, faktisch existiert, und daher eine vollständigere Überlieferung mittels der Reintegration der rein akustischen Überlieferung in eine visuelle Überlieferung anstrebt (man denke etwa an die Koppelung der Tonaufnahmetechniken an Videoaufnah- 32 metechniken). In einer solchen evolutiven Perspektive ist es im Übrigen vielleicht sinnvoller, über die Vergangenheit nachzusinnen als über eine nur mutmaßliche Zukunft. So könnte man etwa darüber nachdenken, auf welche Weise die rezessiven Sinne – also sicherlich der Geruchsund Geschmackssinn, aber vielleicht auch der Tastsinn –, wenn sie isoliert betrachtet oder kontrafaktisch als dominant vorgestellt würden, einen »Sinn von Gegenwart« (dieser Ausdruck verdeutlicht die Sinnhaftigkeit dessen, was die Sinne vermitteln) vermitteln würden, der anders ist als derjenige, den der Gesichtssinn bzw. die Dominanz des Gesichtssinnes vermittelt. Der Tast- und der Geschmackssinn sind Zeichen und Sinn (Sinne, die ihrerseits Zeichen werden, insofern das, was sie vermitteln, sinnhaft ist) einer Anwesenheit, d. h. einer gleichsam »anwesenden Gegenwart«, also einer Gegenwart in der Weise der Anwesenheit; e sie stellen nämlich den »Sinn« einer verlorenen Identität wieder her: man denke an das Einverleiben, das sich ereignet, wenn das vom Organismus der Mutter nunmehr räumlich getrennte Kind an der mütterlichen Brust saugt. Der Geruchssinn ist dagegen Zeichen und Sinn einer Gegenwart, die ursprünglich, anfänglich und wesentlich an eine nicht wieder herstellbare Identität geknüpft ist, und somit einer Gegenwart, die eine Abwesenheit in sich birgt (später werden wir mit größerer Genauigkeit von Prä-existenz sprechen, um die notwendige Unterscheidung zwischen der »Präexistenz« des Anderen und der »Abwesenheit« der Gesellschaft zu treffen). Man vergewissert sich der Anwesenheit von etwas (die Anwesenheit ist im Übrigen das Eine

Die Übersetzung interpretiert hier den Ausdruck »präsente Präsenz« (presenza presente), mit dem die »Anwesenheit« als »Weise« der »Gegenwart« gemeint ist. Vgl. dieselbe Redewendung auf S. 158 und die diesbezüglichen Erläuterungen im dritten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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zige, dessen man sich vergewissert, zumal Anwesenheit und Vergewisserung in Wahrheit Synonyme sind), indem man es »mit eigenen Ohren hört«, »mit eigenen Augen sieht«, »mit Händen berührt« oder gar zu »schmecken« bekommt (wenn auch in einem nunmehr unwiederbringlich metaphorischen Sinne, der nicht mehr ans Saugen und Verspeisen gebunden ist), aber nicht, indem man es riecht. Der Geruch ist nämlich immer und unwiederbringlich eine »Spur«, der man zwar nicht vertraut, um sich einer Anwesenheit zu vergewissern, der man sich aber anvertraut, um eine Anwesenheit wiederherzustellen. Der Geruchssinn ist dasjenige, wodurch das zum Sehen noch unfähige Kind auch in dem hypothetischen Fall, dass es in keiner Weise berührt oder angesprochen worden ist, die Anwesenheit der Mutter wahrnimmt: eine Anwesenheit, derer es sich nur in dem Moment vergewissert, wenn der Kon-takt und das einverleibende Saugen an der Brust den Geschmack der für immer verlorenen Identität wiederherstellen und dem »Geschmack« jene semantische Ambiguität verleihen, die ihn zum Synonym derjenigen Anwesenheit macht, derer man am meisten vergewissert ist und die doch zugleich am illusorischsten ist. Ohne diese sukzessiven Vergewisserungen seitens der anderen Sinne, die natürlich alle illusorisch sein können, bleibt der Geruch für sich genommen immer nur Spur. Eher noch denn als visuelle Spur, wie in den aktuellen Beiträgen der Phänomenologie von Heidegger über Levinas bis hin zu Derrida, wäre die Spur daher als olfaktorische Spur zu denken. Die Spur, sofern sie ursprünglich als olfaktorische Spur gedacht wird, impliziert weder die Abwesenheit noch die Anwesenheit von etwas notwendig; beides kann der Fall sein, wenn man von der Vergewisserung seitens anderer 33 Sinne absieht. Dass der Geruchssinn der rezessivste Sinn ist, ist sicherlich ein philosophisch bedeutungsvoller Sachverhalt der Evolution, so wie auch der Sachverhalt philosophisch bedeutungsvoll ist, dass die weniger kortikalisierten – mehr »animalischen« – Sinne diejenigen Sinne sind, die bei Menschen mit Missbildungen weniger häufig fehlen (Blindheit und Taubheit sind bei weitem am häufigsten der Fall): es gibt auch eine Normalität der Anormalität, und dies nicht nur im statistischen Sinne bezüglich der Anormalität selbst, sondern auch im Sinne einer Korrelation der normalen Anormalität f mit der Normalität der Spezies. Auf diese Probleme werden wir am Ende dief Im italienischen Text steht an dieser Stelle statt »Anormalität« (l’anormalità) »Normalität« (la normalità). Dabei handelt es sich offensichtlich um einen Satzfehler.

86 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

ses Buches im Zusammenhang mit der Frage der intersubjektiven Analogisierung zurückkommen müssen. Einstweilen beschränken wir die Untersuchung dieser Probleme, indem wir sie, sofern dies möglich ist, allein mit Blick auf ihre Bedeutung für das philosophische Problem der Gesellschaft untersuchen. Die Gegenwart, die durch den Wahrnehmungshorizont erschlossen wird, ist also synästhetischer Art und bedarf ständiger Integration; sie ist eine Gegenwart, welche die Abwesenheit nicht ausschließt, oder besser: welche das Vergangensein einiger der Sinnesmodalitäten nicht ausschließt, aus denen sich die Gegenwart zusammensetzt; sie ist eine Gegenwart, die in ihrem verschiedenartig sinnlichen und verschiedenartig rezeptiven Charakter nicht wenig an Husserls vorprädikative Erfahrung erinnert. Tatsächlich hat auch Husserl auf den Begriff des Wahrnehmungshorizonts rekurriert, und er hat dies gerade dann getan, als er – mit Erfahrung und Urteil und mit der Krisis – das Problem der vorprädikativen Erfahrung nunmehr ausgereift hatte. Die Erfahrung, die sich im Wahrnehmungshorizont einstellt, ist vorprädikative Erfahrung. Aus einer in philologischem Sinne husserlschen Perspektive kennzeichnet die Idee eines Wahrnehmungshorizonts daher ein theoretisches Problem von entscheidender Bedeutung für die Phänomenologie und das Verständnis derselben: es geht um den Übergang von einer Sichtweise, in der – wie in den Logischen Untersuchungen – der sinnliche Gegenstand in einfacher und für die nachfolgende Ebene der kategorialen Gegenständlichkeit grundlegender Weise gegeben ist (so dass zweierlei Arten von Gegenständlichkeit und somit auch zweierlei Arten von Evidenz unterschieden werden: eine »assertorische« und eine »apodiktische«, wie es in Ideen I heißt), zu einer Sichtweise, in welcher der Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung ein artikulierter und aus relationalen und assoziativen Akten resultierender Gegenstand ist, so dass er sich in Kontinuität mit den prädikativen Bestimmungen befindet. Was uns betrifft, so bringt die von uns für nötig befundene Unterscheidung zwischen einem Wahrnehmungshorizont und einem kategorialen Horizont Probleme besonderer Art mit sich, wenngleich sie mit der oben erwähnten theoretischen Fragestellung zusammenhängen. Es handelt sich dabei insbesondere um zwei Probleme: 1) die Möglichkeit, den Wahrnehmungshorizont als denjenigen Horizont zu verstehen, in dem subjektive Verhaltensweisen und intersubjektive Beziehungen in Erscheinung treten; 2) die Möglichkeit, die Gesell87 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

schaft nicht bloß als Begriff oder als Kategorie oder als eídos, sondern eben als kategorialen Horizont zu verstehen. Schauen wir also mal. Im Rahmen des hier entwickelten Diskurses ist die Unterschei34 dung zwischen diesen beiden Typen von Horizont – so wird man sich erinnern – deswegen nötig geworden, um die unterschiedliche Art und Weise zu erklären, in der subjektive Verhaltensweisen und/oder intersubjektive Beziehungen je nach dem gegeben sind, ob sie als solche oder als soziale Beziehungen betrachtet werden. Die Gesellschaft ist nämlich – so hatten wir gesagt – nichts Anwesendes, sie ist kein Phänomen; was wirklich erscheint, sind die subjektiven Verhaltensweisen und die intersubjektiven Beziehungen, und diese Verhaltensweisen sowie diese Beziehungen können entweder als solche oder aber als soziale Beziehungen untersucht werden. Gleichwohl wäre es schwer zu behaupten, die subjektiven Verhaltensweisen und die intersubjektiven Beziehungen seien reine vorprädikative Erfahrung. In der Tat haben wir den Wahrnehmungshorizont, innerhalb dessen sie gegenwärtig sind, nicht als Horizont vorprädikativer Erfahrung bezeichnet, sondern als Horizont der »Gegenwart« und – alltagssprachlich gesprochen – der »leibhaftigen Gegenwart« (Objektsgenitiv: der Terminus »Gegenwart« wird also in einem Sinne verstanden, der die Gegenwart des anderen Subjekts privilegiert). Auch wenn man anerkennt, dass die Gegenwart, wie sie im Wahrnehmungshorizont erscheint, Merkmale aufweist, die an die vorprädikative Erfahrung erinnern, ist es doch nicht möglich, die Gegenwart, insofern sie Gegenwart des anderen Subjekts (Objektsgenitiv) ist, mit der vorprädikativen Erfahrung einfach zur Deckung zu bringen. Es scheint nämlich so zu sein, dass die Identifikation von subjektiven Verhaltensweisen und intersubjektiven Beziehungen bereits eine Kategorisierung darstellt. Andererseits jedoch scheint die Möglichkeit, dieselben Phänomene als Sozialbeziehungen zu kategorisieren, eine Beziehung der Kontinuität zwischen diesen Phänomenen und dieser nachfolgenden Kategorisierung herzustellen: eben jene Beziehung der Kontinuität, die Husserls vorprädikative Erfahrung im Verhältnis zu ihren nachfolgenden prädikativen Bestimmungen kennzeichnet. Wir stoßen hier in gewisser Weise wieder auf die Frage, die wir oben als theoretisches Problem von größter Bedeutung für die Phänomenologie und für das Verständnis derselben bezeichnet haben: die Frage nach der Möglichkeit, die Objektivierung von der Kategorisierung zu unterscheiden, bzw. nach der Notwendigkeit, vorprädikative 88 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

Erfahrung und prädikative Erfahrung als ein Kontinuum zu betrachten. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass es, um mit den Mehrdeutigkeiten fertig zu werden, die in der Erfahrung der Gegenwart des anderen Subjekts deutlich geworden sind, nicht ausreichen würde, mit diesem überaus bedeutenden Problem fertig zu werden, das, wie erwähnt, Husserls Denken geplagt und die Entwicklung desselben beeinflusst hat. Es gilt nämlich zu beachten, dass weder die Gesellschaft noch das Subjekt Phänomene, d. h. Gegenständlichkeiten sind. Sie sind vielmehr Horizont bzw. Gesichtspunkt. Die subjektiven Verhaltensweisen und/oder die intersubjektiven Beziehungen dagegen können Gegenständlichkeiten sein und im Gegensatz zu Horizont und Gesichtspunkt daher auch kategorisiert werden; aber die Tatsache, dass 35 diese Gegenständlichkeiten als subjektive Gegenständlichkeiten interpretiert werden, ist keine eigentliche Kategorisierung. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Analogisierung, aufgrund derer man annimmt, dass das, was dem Gesichtspunkt des Subjekts erscheint, seinerseits ein subjektiver Gesichtspunkt ist. Ist es nötig, daran zu erinnern, dass auch hier die husserlsche Phänomenologie auf ein überaus bedeutendes Problem gestoßen ist, das deren Entwicklung wesentlich beeinflusst hat?! Ja, es ist sogar nicht unbegründet zu vermuten, dass diese beiden überaus bedeutenden Probleme miteinander zusammenhängen und dass die Unmöglichkeit, Husserls anfängliche Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Objektivierung beizubehalten, damit zusammenhängt, dass der phänomenologische Ansatz letztlich nicht darum umhin kommt, sich mit dem Problem der Intersubjektivität auseinanderzusetzen, obgleich dieser Ansatz von Anfang an und aus Prinzip die Lösbarkeit dieses Problems strikt ausschließt. Was unsere gegenwärtigen Ausführungen betrifft, so genügt es jedenfalls festzuhalten, dass das Problem der Gegenwart des anderen Subjekts nicht bzw. nicht einfach als ein Problem von Objektivierung und Kategorisierung verstanden werden kann, weil die Identifikation des Subjekts sozusagen immer über die Objektivierung und Kategorisierung hinausgeht. Dies schließt natürlich nicht aus, dass – wie wir in späteren Kapiteln sehen werden und wie wir in Kürze auch hier werden ansprechen müssen – Selbstidentifikation, Identifikation des anderen Subjekts und Identifikation des Objekts eng miteinander zusammenhängende Momente eines einzigen genetischen Differenzierungsprozesses darstellen. 89 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Eine derartige genetische These kann von einem streng phänomenologischen Gesichtspunkt aus als skandalös erscheinen, da sie die »natürliche Einstellung« wiedereinzuführen bzw. Rückstände einer nicht »reduzierten« Betrachtungsweise beizubehalten scheint. Das eigentliche scándalon besteht jedoch nicht in dieser These, sondern in den beiden zentralen Problemen, die wir oben als ungelöste und für die Phänomenologie unlösbare Probleme in Erinnerung gerufen haben. Das eigentliche scándalon ist letztlich immer noch die Subjektivität des Anderen, und unsere These impliziert nicht so sehr deshalb keine »natürliche Thesis«, weil sie eine phänomenologisch bzw. eidetisch reduzierte These wäre, sondern vielmehr deshalb, weil sie eine irreduzible These ist. Der Gesichtspunkt des Anderen kann nicht reduziert werden, weil er nicht erscheint. Die Sprache (insofern sie sprachliche Kommunikation ist) und die Ethik (deren Verbindung mit Sprache im Sinne von Allokution noch deutlich werden wird) werden daher nicht insofern zum Gegenstand der ersten Philosophie, als sie grundlegend wären, sondern insofern, als sie sozusagen unhintergehbar sind. Diese Unhintergehbarkeit ist jedoch selbst abgeleitet, d. h. sie ist eine faktische Unhintergehbarkeit, die aus der prinzipiellen Irreduzibilität der immer schon objektivierten Subjektivität des Anderen folgt, einer Subjektivität, die eben gerade insofern nicht erscheint, als sie erscheint (dies übrigens in Analogie – aber auch nur in Analogie – zum egologischen Gesichtspunkt, insofern er mit einem Eigenleib ausgestattet ist). Aus 36 diesem »Spiel« zwischen der Dimension des Faktischen und der Dimension des Prinzipiellen entsteht das Flimmern zwischen der protologischen Dimension und der immer schon vorgängigen Dimension, so dass wir später je nach Kontext die Ethik mal als »erste Philosophie« und mal als »vorgängige Philosophie« bezeichnen werden. Die eventuelle Behauptung, dass die Erfahrung im Wahrnehmungshorizont einen vorprädikativen Charakter hat, berührt also nicht – oder zumindest nicht direkt – die Frage nach der Wahrnehmung der Gegenwart im Sinne von Gegenwart des anderen Subjekts. Die Gegenwart des anderen Subjekts kündigt sich schon allein darin an, dass es den Horizont und mithin den Wahrnehmenden gibt. Dass die Gegenwart des anderen Subjekts darüber hinaus objektiviert und kategorisiert wird, ist eine in mehrfachem Sinne evolutive Frage: im kulturell-phylogenetischen Sinne, im psychologisch-ontogenetischen Sinne und auch im phänomenologischen Sinne, sofern man glaubt, dem späten Husserl in seiner Ansicht beipflichten zu müssen, 90 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

dass ein Kontinuum zwischen dem Bereich des Vorprädikativen und dem Bereich des Prädikativen besteht. In dieser Entwicklung – bzw. in diesen Entwicklungen – differenzieren sich Objektivierung und Analogisierung immer mehr. Der Animismus primitiver Kulturen und die kindlichen Omnipotenzphantasien, denen zufolge Elternfiguren imstande sind, die Realität zu verändern, liefern auf der kulturellphylogenetischen Ebene bzw. auf der psychologisch-ontogenetischen Ebene eine empirische Bestätigung dessen, was die phänomenologische Forschung nur als ihre Grenze vorfinden kann (so dass die Bestätigung nur empirischer Art und der »natürlichen Einstellung« verhaftet sein kann), nämlich dass sich die Gegenwart des Anderen vor der Objektivierung und auch vor dessen eigener Objektivierung ankündigt. Die Objektivierung der anderen Subjekte ist dagegen notwendig, um die subjektiven Verhaltensweisen und die intersubjektiven Beziehungen als Sozialbeziehungen kategorisieren zu können. Die Gesellschaft, so hatten wir oben gesagt, ist immer nur als etwas Abwesendes gegenwärtig; sie ist kein Gegenstand, sondern ein kategorialer Horizont; Gegenstände sind dagegen die subjektiven Verhaltensweisen und die intersubjektiven Beziehungen, die innerhalb des sozialen Horizonts als Sozialbeziehungen kategorisiert werden. Der Ausdruck »kategorialer Horizont« soll daher zum Ausdruck bringen, dass die Gegenständlichkeiten innerhalb dieses Horizonts zwar im Lichte dieses Horizonts als kategorisiert erscheinen, dass der Horizont als solcher aber nicht durch Begriffe fassbar ist, niemals g ein eídos ist und sich der Thematisierung entzieht. Die Verwendung gesellschaftlicher Kategorien impliziert keine »kategoriale Anschauung« der Gesellschaft, d. h. keine Anschauung eines Begriffs: in diesem Fall wäre die Gesellschaft dem Bewusstsein als eine Art Idee gegenwärtig, sie wäre Gegenstand einer »apodiktischen Evidenz« und einer »adäquaten« Anschauung. Aber die Verwendung gesellschaftlicher Kategorien impliziert ebenso wenig eine Anschauung der Gesellschaft als eines Naturdings, d. h. – um auch weiter die husserlsche Terminologie zu gebrauchen, die es uns hier erlaubt, unser Problem mit bemerkenswerter Genauigkeit zu fokussieren – sie impliziert ebenso wenig eine Anschauung g

Im italienischen Text steht hier statt »niemals« (mai) fälschlicherweise »sondern« (ma). Olivetti selbst hat in einer seiner Vorlesungen auf diesen Satzfehler hingewiesen.

91 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft 37

der Gesellschaft als einer »transzendenten Immanenz«, von der man nur eine »assertorische Evidenz« und eine »abschattende« Wahrnehmung haben kann, die einer unendlichen Folge von »Erfüllungen« bedarf; eine solche transzendente Immanenz sind nämlich die l e i b h a f t i g gegenwärtigen subjektiven Verhaltensweisen und intersubjektiven Beziehungen. Auf diese beiden Aspekte oder vielmehr auf diese beiden Ausschlüsse – die Gesellschaft ist weder ein eídos noch ein Naturding – sollten wir weiter eingehen und dabei in artikulierter Weise nach den Gründen dafür forschen. Wir werden mit dem Ausschluss des eidetischen Charakters der Gesellschaft beginnen; diese Ausführungen werden dann nach und nach dazu führen, auch den anderen Ausschluss zu begründen. Der Ausschluss des eidetischen bzw. begrifflichen Charakters der Gesellschaft steht ganz und gar nicht in Kontrast zu dem, was wir wiederholt, auch in Kontroverse mit Luhmann, über den Bezug behauptet haben, den der Beobachter sozialer Phänomene auf das Ganze nimmt. Im Gegenteil: die Unmöglichkeit, ein eídos von der Gesellschaft zu haben, ergibt sich eben genau aus der Tatsache, dass jeder Versuch, bestimmte Phänomene als Sozialbeziehungen zu verstehen, einen Bezug auf das Ganze impliziert. Eben aus diesem Grund bleibt die Gesellschaft immer nur ein Horizont, der – wie wir oben gesagt haben – die Grenzen dieser Beziehungen definiert und zugleich den Zusammenhang zwischen ihnen erweitert. Der Versuch, die Gegenwart der Gesellschaft zu intendieren – d. h. wohlgemerkt nicht die leibhaftige bzw. wahrnehmungsbezogene Gegenwart, sondern die eidetische, kategoriale Gegenwart –, stößt unvermeidlich auf das Paradox der Menge, die sich selbst enthält. Daher kann auf das Ganze nur als auf einen Horizont Bezug genommen werden, der als solcher niemals selbst thematisiert werden kann, sondern eben gerade die Grenze der Thematisierung darstellt. Oben haben wir behauptet, dass die Voraussetzung der Totalität des Ganzen in eins mit der Voraussetzung der Selbstheit des Beobachters sozialer Phänomene erfolgt. Tatsächlich ist ebenso wie der »eigene« Horizont auch die »eigene« Subjektivität Grenze und kein eídos, denn der reflexive Versuch ihrer Konzeptualisierung stößt eben gerade auf das Paradox der Selbstinklusion des Subjekts. Die Verdoppelung der Grenze in Gesichtspunkt und Horizont eröffnet den Raum der entparadoxierten Beobachtung, und jede reflexive Bewegung an dem einen oder an dem anderen Rand dieses Feldes erzeugt das Paradoxon. Die Dialektik (im hegelschen Sinne) versucht, das Paradoxon 92 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

zu beherrschen: 1 ein Versuch, der nur so unternommen werden kann, dass man die beiden Ränder bzw. die beiden Grenzen, die den Raum der Beobachtung eröffnen, wieder verbindet. Die »eigentliche« Grenze kann in der Tat immer nur verdoppelt bestehen, unendlich verdoppelt, obgleich Grenze eigentlich Synonym von Endlichkeit ist. Die unendliche Verdoppelung kann im Übrigen nicht einmal als ein »schlechtes« Unendliches charakterisiert werden, denn das schlechte Unendliche, das von der Dialektik negiert wird, ist eine Unendlichkeit, die sich im Innern jenes Raums ergibt bzw. ergeben soll, der durch die Verdoppelung der Grenze als der »eigentlichen« Grenze eröffnet wird. Jede quantitative Unendlichkeit setzt bereits die Verdoppelung der Grenze der Beobachtung voraus. Die unendliche Verdoppelung der eigentlichen Grenze ist dagegen der 38 Quell jenes Raumes und jener Zeit, welche von der Beobachtung immer schon vorausgesetzt werden. Es ist offensichtlich, dass wir mit dieser These bereits in den Strudel des Paradoxes geraten sind und uns bereits gleichsam in der Situation des Epimenides befinden. Man kann sich fragen, warum der eigentliche Horizont, als Horizont der Totalität, der Horizont der Gesellschaft und nicht der Horizont der »Welt« ist, auf den die phänomenologisch orientierte Philosophie doch viel häufiger und verbreiteter Bezug zu nehmen gewohnt ist. In Wirklichkeit duldet der Horizont der Totalität keinerlei Bestimmungen; jede Bestimmung, welche die Totalität zur bloßen Gesamtheit irgendeiner Menge von Individuen macht, macht diese Menge dadurch auch, wenn nicht beobachtbar, so doch zumindest denkbar, so dass sie keine Totalität mehr wäre, die dazu verurteilt wäre, am Horizont des Bewusstseins zu bleiben. In diesem Sinne könnte man denken, dass die Totalität der »Welt« sozusagen »totaler« ist als die Totalität der »Gesellschaft«, während die letztere als eine in größerem Maße bestimmte Totalität erscheinen könnte, die bereits innerhalb des Horizonts der Welt angesiedelt ist. Wenn man jedoch darüber nachdenkt, was das zeitgenössische Denken sowohl auf Seiten der Phänomenologie wie auf Seiten der analytischen Philosophie bereits seit seinen Gründervätern (Husserl, Heidegger, Wittgenstein) klar herausgestellt hat, nämlich dass, wie bereits oben erwähnt, das Subjekt nicht in der Welt gegeben ist, weil es die Grenze der Welt ist, dann müsste das Problem in anderer oder zumindest präziserer Weise erscheinen. Zwar ist nämlich so wie der Begriff der »Gesellschaft« auch der 93 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Begriff der »Welt« ein paradoxer Begriff, weil das Subjekt zwar in der Welt, aber nicht von der Welt ist. Aber anders als es einem oberflächlichen Blick erscheinen mag, ist der Begriff der Welt nur weniger streng, d. h. weniger differenziert als der der Gesellschaft. Die Totalität, auf die der Begriff der Welt Bezug nimmt, ist eine objektive bzw. ontische Totalität; sie berücksichtigt daher nicht nur nicht die Ausnahmehaftigkeit des Beobachters – der in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt ist –, sondern sie berücksichtigt ebenso wenig die Tatsache, dass es unter den Seienden, die der Beobachter in dieser Welt antrifft, andere Beobachter gibt, d. h. dass es unter den Objekten besondere Objekte gibt, welche andere Subjekte sind. Gewiss soll das heideggersche D a s e i n kein Subjekt sein; aber solange der transzendentale Rest nicht beseitigt ist (es mag sein, dass die L i c h t u n g ihn beseitigt; aber gewiss nicht das Denken des D a s e i n s , denn andernfalls wäre es nicht nötig gewesen, an die L i c h t u n g zu denken), stellt sich das Problem des Subjekts zumindest als das Problem des Beobachters und stellt somit das Problem der anderen Beobachter. Diesbezüglich ist Husserls hartnäckige Untersuchung des Problems der Intersubjektivität in ihrer Strenge und Geplagtheit schon gar nicht mit den – gewiss nicht begeisternden – Seiten zu vergleichen, die in Sein und Zeit dem M i t s e i n gewidmet sind. Wenn man also berücksichtigt, dass es unter den Objekten der 39 Welt auch andere Subjekte gibt, dann erscheint der Horizont der Sozialität gegenüber dem Horizont der Welt wirklich als der umfassendere, weiter ausdifferenzierte Horizont der Totalität: weiter ausdifferenziert, insofern die Welt noch in konfuser Weise als undifferenzierte Totalität von Subjekten und Objekten verstanden wird; und umfassender, insofern im Begriff der Welt die anderen Subjekte schlicht und einfach nicht berücksichtigt werden, nachdem die Ausnahmehaftigkeit des Beobachters gegenüber der Welt berücksichtigt worden ist. Die Ausnahmehaftigkeit des Subjekts wirklich zu berücksichtigen, heißt, die Subjektivität des Anderen zu berücksichtigen, die jenseits der Objektivierung (nicht) erscheint. Kein Subjekt ohne Objektivierung, gewiss; aber auch kein Subjekt ohne Analogisierung. Auch dann, wenn man auf dem Boden einer Phänomenologie bleibt, in welcher nicht nur die Intersubjektivität monadologisch ist, sondern in welcher eigentlich die monadologische Intersubjektivität einzig und allein diejenige Intersubjektivität ist, die durch das egologische Bewusstsein konstituiert wird, das sich der reduktiven Askese unter94 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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zieht – auch dann also, wenn man auf einem so rigorosen, wenngleich aporetischen Boden bleibt, ist die Konstitution der Gegenständlichkeit einzig als Konstitution der Gegenständlichkeit für die analogisierte Intersubjektivität denkbar. Ohne Subjektanalogisierung gäbe es daher keine Objektivierung. Die leibhaftige Gegenwart des anderen Subjekts ist – so haben wir gesagt – bereits mit dem Wahrnehmungshorizont gegeben, also bereits mit dem Wahrnehmenden. Damit aber kann nicht mehr von Transzendentalität die Rede sein, oder besser gesagt die transzendentale Frage stellt sich in anderer Weise: anders auch im Vergleich zur »Transformation der Philosophie«, welche nahelegt, die kantische Synthese der Apperzeption durch eine »Synthese der Kommunikation« (über die wir noch mehrfach zu sprechen haben werden) zu ersetzen, und anders auch im Vergleich zu der Weise, in der unlängst die kontinental-analytische Debatte über »transzendentale Argumente« geführt worden ist. 2 Diese und andere Beispiele, die sich anführen ließen, sind jedoch Symptome für die Dringlichkeit der Frage und ihrer Neuformulierung: genau so, wie dies zu Zeiten Hegels der Fall war, von dem nicht gesagt ist, dass er, wie einige meinen, ein »toter Hund« ist. Im Übrigen ist eine dialektische Sicht eine evolutive Sicht, wenn auch nicht in einem naiven oder positivistischen oder naturalistischen Sinne; daher steht die Bedeutung, die dem Subjekt gegeben wird, in Zusammenhang mit der Subjektwerdung. Damit wollen wir sagen, dass wir mit unserer Behauptung, die leibhaftige Gegenwart des anderen Subjekts sei mit dem Wahrnehmungshorizont gegeben, keineswegs ein substanzielles oder transzendental-funktionales Subjekt voraussetzen wollen; wir denken vielmehr an ein Subjekt, welches – anfangs – nichts anderes ist als ein Wahrnehmungssystem, das dann abhängig von verschiedenen Umständen, welche die phylogenetische und ontogenetische Konstitution dieses Systems und seiner Umwelt betreffen, zu einem Subjekt werden kann oder auch nicht. Ein Wolfskind wird im Dschungel nicht zu einem Subjekt werden (zumindest nicht im normalen Sinne), und umgekehrt wird sich ein neugeborener Orang-Utan in einer Umwelt mit menschlichen Elternfiguren in einer Form entwickeln, die der 40 »menschlichen« Subjektwerdung näher kommt, als dies bei der Entwicklung eines Orang-Utans normalerweise der Fall ist (und damit soll nichts über die Überschreitbarkeit der Grenzen der Spezies gesagt sein). Vor allem aber gilt es, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu richten, dass sich ebenso wie die Subjektwerdung auch die Subjekt95 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

analogisierung in Formen entwickeln kann, die von der Norm abweichen; die analogisierende Wahrnehmung der Gegenwart des Anderen kann sogar in Formen geschehen, die objektiv falsch sind, wie z. B. dann, wenn der kleine Schimpanse glaubt (wenn man ein bekanntes Experiment so interpretieren darf), an der Brust der Mutter zu saugen, wenn er an eine warme Puppe mit simulierten Brüsten gesetzt wird. Es ist jedoch klar, dass diese Formen nur aus der Sicht eines (subjektiven, menschlichen) Beobachters zweiter Ordnung als »objektiv« falsch erscheinen, aber nicht aus der Sicht des Schimpansen, die vom Beobachter zweiter Ordnung imaginiert h und/oder experimentell rekonstruiert wird. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Analogisierung ursprünglicher ist als die Objektivierung und sie determiniert, auch wenn beide zeitgleich erfolgen. Zweifellos tragen diese Beobachtungen auch dazu bei, den Sinn unserer vorherigen Ausführungen über den Wahrnehmungshorizont und über dessen Unterschied zum kategorialen Horizont der Gesellschaft weiter zu vertiefen. Es sei jedoch daran erinnert, dass diese Beobachtungen an gegenwärtiger Stelle insbesondere erläutern sollen, in welchem Sinne der Horizont der Sozialität, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass es unter den Objekten der »Welt« auch andere Subjekte gibt, als der umfassendere Horizont der Totalität erscheint. Die Analogisierung der anderen Subjekte führt dazu, über den Horizont der Gegenwart hinaus, in dem die anderen Subjekte anwesend oder abwesend sein können, alle Subjekte (diese Subjekte sind in der Welt, aber nicht von der Welt) zu denken, und zwar nicht nur unabhängig von der Tatsache ihrer Anwesenheit oder Abwesenheit, sondern auch unabhängig von der Möglichkeit ihrer Anwesenheit bzw. von der eventuellen Notwendigkeit ihrer Abwesenheit im Horizont des Beobachters. Die Analogisierung wäre keine Analogisierung, wenn sie nicht dazu führen würde, die anderen Subjekte – die im Horizont des Beobachters wirklich anwesend sind, anwesend waren und anwesend sein werden – als Subjekte zu denken bzw. zu imaginieren, die ihrer-

h

Der Begriff der »Imagination« (immaginazione) wird im Italienischen auf dieselbe Weise zum Ausdruck gebracht wie der Begriff der »Ein-bildung« (vgl. S. VII und S. 130 ff.) und steht dazu in diesem Buch in einem besonderen inhaltlichen und genetischen Verhältnis. Vgl. hierzu die diesbezüglichen Erläuterungen im vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

96 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

seits in analogisierenden Beziehungen zu den Subjekten stehen, die in ihren jeweiligen Horizonten anwesend sind. Und so weiter. Einerseits schließt diese totalisierende Ausweitung der Analogisierung die Welt ins Innere des Netzes von subjektiven Horizonten ein, wobei diese sowohl räumliche als auch zeitliche Ausweitung unter dem Aspekt einer gewöhnlichen Zeitlichkeit betrachtet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst und totalisiert. Man muss jedoch anmerken, dass die Metapher des Netzes nicht vollkommen angemessen ist (das thaumastón ist in der Tat, dass es angemessene Metaphern geben soll! Aber hierauf werden wir am Ende zu sprechen kommen). Sie ist nicht angemessen, weil sie die Gesichtspunkte imaginativ synchronisiert; die Welt ist jedoch in eine Totalität von Ge- 41 sichtspunkten eingeschlossen, die auch oder schon einer gewöhnlichen Zeitlichkeit zufolge nicht synchronisierbar ist (wir werden die Zeitlichkeit erst dann in einem nicht-gewöhnlichen Sinne betrachten können, wenn wir sehr viel später über die »Präexistenz« des anderen Subjekts gesprochen haben werden). Jene Totalisierung der Gegenwart durch das Bewusstsein, welche die Welt ist, setzt aufgrund der Subjektanalogisierung eine konstituierende Beziehung zwischen dem Gesichtspunkt und dem Horizont der Gesellschaft voraus: einem Horizont, der nicht weniger als der Gesichtspunkt immer außerhalb der Welt oder besser eine Grenze der Welt ist. Er kann daher auch nicht zum Gegenstand einer Idee werden, wie das Paradox der raumzeitlichen Wiederholung – die Äußerlichkeit, die Grenzhaftigkeit des Horizonts, auf die wir Bezug nehmen mussten – zeigt, welches die Raumzeitlichkeit der Welt zugleich annimmt und negiert. Andererseits kommt die Ausweitung der Analogisierung eben gerade nicht umhin, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Subjekte zwar nicht von der Welt, aber gleichwohl doch paradoxerweise in der Welt sind: die Analogisierung weitet das Paradox der Selbstinklusion der eigenen Subjektivität auf andere Subjekte aus und macht es sogar zum ersten Mal unvermeidlich. Da die anderen Subjekte in der Welt sind, erfolgt die totalisierende Ausweitung zur Gesellschaft auch mit Bezug auf diejenigen Subjekte (und Gruppen von Subjekten), die im Sinne eines gewöhnlichen Verständnisses von Raum und Zeit weder in Beziehung zueinander gestanden haben können noch gegenwärtig oder zukünftig in Beziehung zueinander stehen können. Die Analogisierung verweltlicht und vergegenständlicht nämlich das Subjekt (sowohl das analogisierende als auch das analogisierte), 97 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

indem sie es in die Totalität der Seienden einfügt. Die Analogisierung verweltlicht, und ohne die Analogisierung des anderen Subjekts würde sich das Subjekt nicht verweltlichen und wäre reines Bewusstsein ohne Leib. Wir können hier darauf verzichten, die zwar begründete, aber kontrafaktische, ja sogar kontraphänomenische Frage zu vertiefen, ob ein Bewusstsein ohne Leib nicht vielleicht ein Bewusstsein ohne Welt wäre und ob also nicht gerade ein solches Bewusstsein die dramatische Hypothese bewahrheiten würde, die in Paragraph 49 von I d e e n I zum Vorschein kommt. Gewiss ist die Tatsache, dass sich das Subjekt als Leib oder vor allem als Leib auffasst und wahrnimmt, das Zeichen dafür, dass es in seiner Wahrnehmung die Gegenwart des anderen Leibes immer schon analogisiert hat. Analogisierung heißt, die Welt mit Anderen zu teilen, und dieses Teilen mit Anderen ist Verweltlichung der die Welt mit Anderen Teilenden. i Indem sie die Subjekte verweltlicht, bringt die Analogisierung die Notwendigkeit mit sich, die in der totalisierenden Ausweitung erfassten Subjekte – auch wenn sie darin nur athematisch und virtuell erfasst sind – als Subjekte zu denken, die im Prinzip untereinander in intersubjektive Beziehung hätten treten können, auch wenn sie dies faktisch nicht getan haben und aus raumzeitlichen Gründen vielleicht auch nicht hätten tun können. Daraus ergibt sich bemerkenswerterweise die seltsame Konsequenz, dass die Analogisierung sich selbst, d. h. der Subjektivität des Beobachters, auch solche untereinander in Beziehung stehenden Individuen und Gruppen von Individuen ana42 log macht, die eben gerade durch die Verweltlichung und die daraus resultierende Möglichkeit der empirischen, natürlichen und naturalistischen Beobachtung als mehr, weniger oder anders subjektiviert erscheinen könnten (z. B. weil man auf der Grundlage einer evolutionistischen Sicht der Auffassung ist, dass sie mehr, weniger oder anders entwickelt sind). Kontinuität und Diskontinuität sind somit paradoxerweise – und wiederum in Folge des ursprünglichen Paradoxes – beide zugleich das Ergebnis jener Subjektanalogisierung, welche die

i

Die Rede von »Teilen mit Anderen« (condividere) ist hier im Sinne eines Teilhabenlassens bzw. einer Teilgabe an Andere zu verstehen, die zu einer gemeinsamen Teilhabe mit Anderen führt. Dementsprechend ist die Rede von »die Welt mit Anderen Teilenden« (condividenti) zweideutig. Vgl. dazu auch S. 61 f. und 193 ff., wo das »Teilen mit Anderen« im Sinne eines etymologisch verstandenen Mit-teilens bzw. Kommunizierens thematisiert wird, um den sprachlichen Charakter der »Analogisierung« zu betonen.

98 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

Subjekte verweltlicht und sie somit zum ersten Mal einer empirischen Betrachtung zugänglich macht. Die totalisierende Ausweitung der Subjektanalogisierung nimmt daher zwei Aspekte an, die selbst dem ursprünglichen Paradox korrespondieren (welches, wie man nunmehr sieht, auch ursprungsgebend oder zumindest sehr produktiv ist): den Aspekt, demzufolge der Horizont der Totalität als Horizont der Gesellschaft die Welt einschließt, und den Aspekt, demzufolge die Gesellschaft in der Welt ist und zwar in der einzigen Art und Weise, in der dies möglich ist, nämlich als Mannigfaltigkeit einzelner Gesellschaften, die sowohl in Kontinuität als auch in Diskontinuität zueinander stehen. Auf die Bedeutung dieser gleichzeitigen Kontinuität und Diskontinuität werden wir noch einzugehen haben. Einstweilen jedoch – um ein angemessenes Verständnis dieser Frage selbst besser auf den Weg zu bringen – gilt es zu bemerken, dass erst jetzt der Sinn jenes Ausdrucks angemessen verstanden werden kann, den wir verwendet haben, als wir die Gesellschaft einen »kategorialen Horizont« genannt haben. j Was aus empirischen Gründen nicht erscheint und was aus logischen Gründen nicht gedacht werden kann, weil man dabei auf ein Paradox stößt, – nämlich die Gesellschaft als die Totalität, zu der sich die Subjektanalogisierung ausweitet – stellt einen Horizont dar: die Grenzlinie einer grenzenlosen Analogisierungsbewegung, die sich gleichwohl innerhalb einer Grenze vollzieht, die sich mit ihm verschiebt. Diese Grenzlinie, die sich mit der grenzenlosen Analogisierungsbewegung – dessen Endpunkt allein die Totalität wäre – immer weiter verschiebt, ist nicht das Zeichen eines Versagens oder eines »Scheiterns«, wie eine gewisse, mit dramatischem Pathos auftretende Existenzphilosophie gerade mit Bezug auf Begriffe zu sagen beliebte, die dem des Horizonts analog sind. In weniger emotionalen Worten: die grenzenlose Totalisierungsbewegung und die damit ständig einhergehende Grenze ergeben nicht ihre gegenseitige Annullierung; sie ergeben vielmehr das Licht des Sozialen, in dem die beobachteten intersubjektiven Beziehungen und subjektiven Verhaltensweisen erscheinen. k Die Abwesenheit der Totalität ist im Innern des von ihr umrisj

Der folgende Satzkomplex ist nahezu wortgleich mit dem letzten Satzkomplex desjenigen Absatzes von MMO-151, S. 106, bzw. MMO-152, S. 67, mit dem die inhaltlichen Ausführungen dieser beiden Aufsätze anheben. k Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 46 folgt der Text im Wesentlichen MMO-151, S. 106–110, bzw. MMO-152, S. 67–70.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

senen Horizonts sehr wohl gegenwärtig. Diese Gegenwart der Abwesenheit sind die Pluralität der Gesellschaften, die Organisationen, die Institutionen, die sozialen Systeme bzw. Subsysteme etc. Nicht unpassend könnte diese höchst gegenwärtige Abwesenheit mit Hegels Begriff des »objektiven Geistes« bezeichnet werden. Es handelt sich dabei nämlich um seltsame Gegenständlichkeiten, die wie Subjekte mit Reflexivität bzw. Selbstreferenzialität ausgestattet sind, jedoch im Horizont der Gegenwart, welcher der Wahrneh43 mungshorizont ist, nie vorhanden sind. Um den dynamischen und nicht substanziellen, sondern eben (hegelianisch gesprochen) »geistigen« bzw. (funktionalistisch gesprochen) »systemischen« Charakter besser zu beschreiben, welcher die Gegenständlichkeit dieser eigentümlichen Gegenstände kennzeichnet, könnte man auch sagen, dass diese Gegenständlichkeiten im Wahrnehmungshorizont umso weniger vorhanden und umso mehr abwesend sind, je mehr sie objektiviert und kategorisiert werden. Sie sind nämlich nur auf einer Ebene gegenwärtig, die abstrakter ist als die der Wahrnehmung; gleichwohl darf dies nicht dazu verleiten, von ihnen als von Gegenständlichkeiten bzw. Ideen zu sprechen, die einfach auf höheren Abstraktionsebenen vorhanden wären, denn auch ihre Gegenwart auf diesen abstrakteren Ebenen ist nicht statisch, ist nicht einfach Vorhandenheit, sondern ist dynamisch und sozusagen direkt proportional zu einer fortschreitenden Abstraktion, die in Richtung auf die Totalität, d. h. in Richtung auf jene Kategorie der Gesellschaft fortschreitet, die selbst reiner kategorialer Horizont, Grenze aller Kategorisierbarkeit und aller Idealisierbarkeit l ist. Daher sind diese Gegenständlichkeiten auch auf höheren Ebenen eidetischer Abstraktion umso gegenwärtiger, je abwesender sie sind, bis hin zur Grenze der Idealisierbarkeit selbst, d. h. bis hin zu dem Punkt, an dem sie nicht einmal mehr in Ideen und Gedanken fassbar sind, bis hin zu dem (nunmehr im eigentlichen Sinne zum Horizont der »Gesellschaft« gewordenen) Horizont des (nunmehr im eigentlichen Sinne zum Gesichtspunkt des »Subjekts« gewordenen) Gesichtspunkts.

l

Das Verb »idealisieren« (idealizzare) hat auch im Italienischen eigentlich die auch im Deutschen geläufige Bedeutung, ist aber hier in morphologischer Analogie zu »kategorisieren« (categorizzare) im Sinne von »zum Gegenstand von Ideen machen« bzw. »in Ideen fassen« zu verstehen. Dieser Sinn wird im folgenden Satz mittels des eigentlich ebenfalls in einem etwas anderen Sinne gebräuchlichen Verbs ideare (ausdenken, ersinnen) expliziert.

100 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

Diese überaus wirklichen, aber nicht wahrnehmbaren Gegenständlichkeiten, die umso abwesender sind, je allgegenwärtiger sie sind, und die sich zum Horizont hin verflüchtigen, bezeichnet man in übertragenem Sinne als Subjekte (z. B. als »soziale Subjekte«) und als Personen (z. B. als »juristische Personen«), und dies ist signifikant. 3 Aber im Gegensatz zu Subjekten und Personen im nicht übertragenen Sinne, d. h. im Gegensatz zu den In-dividuen, die nicht kollektiver Art sind (oder im Wahrnehmungshorizont zumindest so erscheinen), sind diese »Subjekte« und diese »Personen« in der Wahrnehmung teilbar, oder genauer: sie sind nicht unteilbar und daher keine In-dividuen im eigentlichen Sinne. Diesbezüglich gilt es, einige dezidiert empirische Betrachtungen anzustellen, die gleichwohl auf das deutlichste bestätigen, was über den nicht substanziellen, sondern vielmehr »geistigen« bzw. »systemfunktionalen« Charakter dieser Gegenständlichkeiten und über die sich daraus ergebende Dynamik gesagt worden ist, durch die sich diese Gegenständlichkeiten auf immer höhere Ebenen objektiver und kategorialer Abstraktion ausweiten, bis sie schließlich den Horizont der Gesellschaft erreichen, sich darin verflüchtigen und eben auf diese Weise, durch dieses definitive Abwesen, die maximale Gegenwart erlangen. Unter empirischem Aspekt muss man vor allem daran erinnern, dass die »modernen«, »entwickelten«, »fortgeschrittenen«, »komplexen« Gesellschaften von heute in wissenschaftlicher Begrifflichkeit als »Organisationsgesellschaften« bezeichnet werden; dementsprechend hat sich mittlerweile eine »Organisationssoziologie« nicht nur als eine spezifische Disziplin des soziologischen Fächerspektrums etabliert, sondern auch als eine Disziplin, die in mehr als einem Fall ziemlich unverhohlen den Anspruch anmeldet, das Wesen der »mo- 44 dernen« Gesellschaft im Vergleich zur »traditionellen« Gesellschaft am adäquatesten zu definieren bzw. zu beschreiben. 4 Im Übrigen ist offensichtlich, dass die gesellschaftlichen Fakten, die von dieser empirischen Soziologie zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden, dieselben sind, die unter dem Aspekt der Theorie der Gesellschaft den systemfunktionalen Ansatz und dessen These von einer progressiven gesellschaftlichen Differenzierung untermauern. Diese empirischen Fakten verdeutlichen nun zum einen das exponentielle Wachstum der reflexiven und autopoietischen Gegenständlichkeit und zum anderen den Umstand, dass sie in der zeitgenössischen Gesellschaft immer mehr im Modus der Abwesenheit 101 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

gegenwärtig ist: einerseits ist die exponentielle Vervielfältigung oder genauer gesagt Differenzierung dieser eigentümlichen Gegenstände Zeichen einer Gegenwart, die sich unterteilt, statt sich in einem »Individuum« zu konkretisieren, die sich differenziert, statt sich zu identifizieren (schon in diesem Sinne also eine Gegenwart als Abwesenheit); andererseits geht dieser abwesend machenden Teilung der Übergang auf immer abstraktere und immer objektivere, d. h. immer weniger subjektive Metaebenen der Organisation einher (Organisationen von Organisationen, Beziehungen zwischen Beziehungen, »Dienste« an »Diensten«), ein Übergang, der auch selbst Zuwachs der Gegenwart in der Weise der Abwesenheit ist: einer Abwesenheit, in der sich letztlich die Allgegenwart der Gesellschaft konkretisiert. Die abwesende Totalität, der Horizont, dem sich die gesellschaftliche Objektivierung asymptotisch annähert, ist in dieser unbegrenzten Ausweitung der autopoietischen, selbstreferenziellen, geistigen Objektivierung gegenwärtig, die den ursprünglich wahrnehmungs- und bewusstseinsbezogenen Sinn der Gegenwart, der Gegenständlichkeit und der Kategorialität mehr und mehr widerruft; diese Ausweitung verwirklicht sich nämlich gerade in dem Maße als Differenzierung, als Ent-in-dividuierung, als Abwesenheit, wie die Reflexivität, der Rückbezug auf sich selbst, die Selbstreferenz, zunimmt und allgegenwärtig wird. Dass aber eben diese Bewahrheitung bzw. dieser Verlust des ursprünglichen (ursprünglich wahrnehmungs- und bewusstseinsbezogenen) Sinnes einer ganzen Reihe von Begriffen, welche die moderne Philosophie bis hin zu ihren äußersten Ausläufern in der husserlschen Phänomenologie geprägt haben (»Gegenwart«, »Gegenständlichkeit«, »Kategorialität«), signifikant für das ist, was wir hier beschreiben, muss noch verdeutlicht werden. Wir werden also mit den empirischen Betrachtungen fortfahren, die anzustellen wir uns vorgenommen hatten. Der Verlust des ursprünglichen Sinns betrifft nicht nur die in Frage stehenden Begriffe, sondern er ist Verlust des Ursprünglichen selbst und dabei insofern Verlust des ursprünglichen Sinns, als der Sinn bei jenen Begriffen, welche die moderne Philosophie geprägt haben, als ein Sinn verstanden wurde, der mit dem Ursprung verbunden bzw. selbst der Ursprung ist. Hierbei kann das, was über die Dynamik sozialer Gegenständlichkeiten gesagt worden ist, darüber hinaus auch unter empirischem und evolutivem Aspekt betrachtet werden. Diese Gegenständlichkeiten sind nämlich nicht bzw. nicht 102 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

mehr (da sie es nie gewesen sind, wenn unsere Ausführungen über die Gegenwart in irgendeiner Weise Gültigkeit besitzt) die ursprünglichen und primitiven sozialen Gegenständlichkeiten, die unter geeigneten Umständen im Horizont der Wahrnehmung und insbeson- 45 dere des Sicht- und Hörbaren versammelt werden konnten. Die pólis konnte sich vielleicht sicht- und hörbar in der agorá versammeln, und wenn nicht die pólis (deren hochgradig entwickelter Charakter keineswegs in Gegensatz zu dem Sinn steht, den die Begriffe »ursprünglich« und »primitiv« im Kontext der gegenwärtigen Ausführungen haben), dann das Dorf, die Horde, kurz die Gemeinschaft, deren Teil man war und der im Gespräch das Pronomen »wir« zukam. Diese Möglichkeit, sich im Horizont der wahrnehmungsbezogenen Gegenwart versammeln zu können, hat selbstverständlich auch einen quantitativen Grund; aber dieser quantitative Aspekt ist nicht der einzige und letzte Aspekt: die Ausweitung der Gemeinschaften über die Grenze der Möglichkeit hinaus, sie im Horizont der Wahrnehmung zu versammeln, ist eben das, was einer nicht bloß rein quantitativen Erklärung bedarf. Man erkennt dies, wenn man bedenkt, dass selbst die quantitativen Aspekte nicht nur in räumlicher Hinsicht betrachtet werden müssen – dies würde das Problem auf naive Weise vereinfachen –, sondern auch in zeitlicher Hinsicht, d. h. in Hinsicht auf die Möglichkeit, die Gemeinschaft, derer man angehört, nicht nur in der »Retention« der Zeit, in der die Gemeinschaft wirklich im Wahrnehmungshorizont versammelt ist, sondern darüber hinaus auch noch in der »Erinnerung« zu versammeln. Diese Beobachtung dementiert nicht die dem Wahrnehmungshorizont zugeschriebene Ursprünglichkeit. Sie führt zwar einen Bezug auf die Erinnerung ein, die – im Unterschied zur Retention – per Definition über den Wahrnehmungshorizont als Horizont der leibhaftigen Gegenwart hinausgeht. Dies aber kann nur dann so scheinen, als dementiere es die Ursprünglichkeit des Horizonts der leibhaftigen Gegenwart, wenn man das, was wir gesagt haben, auf abermals naive und auch empirisch unzutreffende Weise so versteht, als ob das totalisierende Versammeln der Gemeinschaft in der Erinnerung faktisch eine Folge der verwirklichten Möglichkeit wäre, die in der Gesamtheit ihrer Individuen versammelte Gemeinschaft einmal gesehen zu haben. In entwicklungspsychologischer Hinsicht geht die Erinnerung an die Gemeinschaft jedoch notwendig der eventuellen Identifikation der Gemeinschaft im Wahrnehmungshorizont voraus: ohne eine solche Erinnerung wäre es nämlich nicht möglich, die Men103 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

ge der in der Wahrnehmung versammelten Individuen als Gemeinschaft bzw. als »wir« zu erkennen. Tatsächlich ist diese Erinnerung, die der Identifikation in der Wahrnehmung vorausgeht, ihrerseits das Ergebnis eines interlokutiven Aktes, der sich selbst dagegen sehr wohl innerhalb des Wahrnehmungshorizonts vollzieht und mit der analogisierenden Gegenwart identisch ist, die dieser/diesen m Horizont konstituiert. Die letztere Behauptung ist in höchstem Maße zweideutig, und es lohnt sich, innezuhalten und ihren »doppelten« Sinn aufmerksam und analytisch zu betrachten, denn ihr gesamter Sinn, der einzige Sinn, den sie zum Ausdruck bringt, ist in dieser Zweideutigkeit enthalten. Wir haben also gesagt, dass der interlokutive Akt »mit der 46 analogisierenden Gegenwart identisch ist, die dieser/diesen Horizont konstituiert«. Die analogisierende Gegenwart ist – nicht nur im grammatischen Sinne – sowohl als Subjekt als auch als Objekt der Konstitution zu verstehen. Wenn man an den ursprünglichen interlokutiven Akt denkt, der sich zwischen dem Neugeborenen und dem Erwachsenen vollzieht, so wird dieser Rollenwechsel bzw. Rollentausch recht leicht verständlich. Wenn der Erwachsene sich dem neugeborenen Kind zuwendet, das in seinem Horizont der leibhaftigen Gegenwart in Erscheinung tritt, macht er es sich analog, indem er es mit »du« anspricht und sich selbst mit »ich« bezeichnet. Eben indem er sich ihm auf diese Weise zuwendet, wird das Neugeborene mehr und mehr in die Lage versetzt, sich selbst mit »ich« zu bezeichnen und seinerseits durch einen Akt der Analogisierung die leibhaftige Gegenwart des mit ihm sprechenden Erwachsenen in seinem eigenen Horizont als eine Subjektivität zu konstituieren, die es mit »du« anspricht. Beide sagen dann »wir«, wenn sie sich auf beide gemeinsam beziehen, und diese Gemeinschaft weitet sich dann dank sukzessiver Analogisierungen nach und nach immer weiter aus, bis sie schließlich im »unpersönlichen« Gebrauch der »dritten Person« zum Ausdruck kommt (zum Beispiel: »Das tut man nicht!«, »Das macht man so«; der unpersönliche Gebrauch der dritten Person geht jedoch über das Problem der Gemeinschaft hinaus, das wir im Augenblick zu untersuchen haben). n m

Vgl. die nachfolgende Erläuterung des »doppelten« Sinns der hier angestellten Behauptung, der durch dieses graphische Behelfsmittel zum Ausdruck gebracht werden soll. n Von der angegebenen Stelle auf S. 42 bis hier folgt der Text im Wesentlichen MMO-151, S. 106–110, bzw. MMO-152, S. 67–70. Im Folgenden entsprechen nur

104 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

Wir leugnen nicht, sondern müssen vielmehr besonders hervorheben, dass die »Methode«, die wir hier faktisch benutzt haben, um die (buchstäblich) äqui-voke ursprüngliche Gesprächssituation zu beschreiben, alles andere als rein ist: in gewissem Sinne bzw. – wenn es möglich wäre, diese Methode in Komponenten aufzuteilen – zu einem gewissen Teil handelt es sich um eine empirische Methode (nämlich um die Methode des beobachtenden Dritten, der die Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind experimentell beobachtet); in gewissem Sinne handelt es sich um eine reflexiv-phänomenologische Methode (zumindest seitens des mit dem Kind sprechenden und zuerst analogisierenden Erwachsenen, welcher eben deshalb erwachsen ist, weil er zur Reflexion fähig ist); in gewissem Sinne handelt es sich um eine rein imaginative Methode, insofern die subjektivierende Analogisierung eben darin besteht, die Reflexion des Anderen zu imaginieren, d. h. jenes andere Bewusstsein, das nicht erscheint und per Definition auch nicht erscheinen kann, weder empirisch noch reflexiv-phänomenologisch. Daraus kann man gewiss die Schlussfolgerung ziehen, dass all dies schlicht und einfach keine Methode ist; aber angesichts einer derartigen Schlussfolgerung empfiehlt es sich vielleicht nicht so sehr, in der Dialektik oder in den in der heutigen Epistemologie weit verbreiteten anarchischen Theoriebildungen Zuflucht zu suchen, sondern vielmehr die Angemessenheit, ja sogar die Konfusion dieser unreinen Methode mit der ursprünglich äquivoken und äquivok ursprünglichen Situation zu bemerken und diese Kon-fusion dabei als das zu akzeptieren, was sie ist, d. h. sie als das zu akzeptieren, was am Ursprung jeder nachfolgenden Bereinigung steht, sei es im methodischen Sinne, sei es im dialektischen Sinne, oder sei es im anarchischen Sinne. Damit auch die Begriffe »Ursprung« und »Ursprünglichkeit« nicht überbewertet werden und sich also nicht hinterrücks erneut in einen methodischen oder dialektisch-logischen Ausgangspunkt verwandeln, gilt es im Übrigen zu beachten, dass der beobachtende Er- 47 wachsene bei der Beobachtung des in die interlokutive Interaktion verwickelten Kindes eine sich konstituierende Subjektivität imaginiert, ohne bei dieser eigentümlichen Analogisierung introspektiv auf die Erinnerung an vergangene Erlebnisse rekurrieren zu können. Er beobachtet das Kind nämlich in einem Stadium unmittelbar nach einzelne kürzere Textpassagen dem Text dieser beiden Aufsätze. Die entsprechenden Textpassagen sind durch Fußnoten gekennzeichnet.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

der Geburt, von dem der beobachtende Erwachsene, was seine eigene Subjektivität betrifft, keine persönliche Erinnerung bewahrt (zumindest nicht im geläufigen und auch phänomenologischen Sinne des Begriffs, d. h. als Erinnerung des und innerhalb des Bewusstseins), von der die Analogisierung ihren Ausgang nehmen könnte. Zudem muss auch erwähnt werden, dass sich der Beobachter bei dieser imaginativen Rekonstruktion nicht nur der empirischen Daten bedient, die das Verhalten des Kindes liefert, sondern dass er sich eventuell auch der Introspektionen anderer Erwachsener bedienen kann, sofern diese Erwachsenen ihre Introspektionen dem Beobachter mitteilen, der sie selbst und das Kind beobachtet. Eventuell kann sich der Beobachter außerdem eigener Introspektionen bedienen, die analoge Situationen, nämlich Interaktionen zwischen Erwachsenem und Kind betreffen, bei denen der Beobachter selbst der erwachsene Interaktionspartner gewesen ist. Schließlich gilt zu beachten, dass diese beiden Eventualitäten nur dann das sind, was sie sind, nämlich »Eventualitäten«, wenn sie disjunktiv betrachtet werden; denn jede einzelne von ihnen ist hinreichende und nicht notwendige Bedingung für die imaginative Rekonstruktion des »Gesichtspunkts« des Kindes, aber mindestens eine von ihnen ist für diese Rekonstruktion notwendig (wobei sie dann faktisch auch hinreichend ist oder sich faktisch mit der anderen verwirklichten Eventualität verbindet). Eines ist jedenfalls offensichtlich: auch wenn bei der Beobachtung der Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind die Analogisierung der Subjekte zum Zweck der Rekonstruktion des »Gesichtspunkts« des Kindes erfolgt, setzt diese Rekonstruktion in jedem Fall voraus, dass der Gesichtspunkt des Kindes vom Gesichtspunkt des Erwachsenen aus analogisiert wird; dies gilt ebenso in dem Fall, dass es sich bei dem Beobachter um einen Beobachter erster Ordnung handelt (also um den mit dem Kind sprachlich interagierenden Erwachsenen selbst), wie in dem Fall, dass es sich dabei um einen Beobachter zweiter Ordnung handelt (also um einen Wissenschaftler, Phänomenologen etc., d. h. um irgendeine Person, welche die kommunikative Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind beobachtet). Vielleicht wird jemand sagen, dass auch das Kind die Subjektivität des Erwachsenen vom eigenen, infantilen Gesichtspunkt aus analogisiert; es analogisiert nämlich zumindest die Subjektivität des Erwachsenen, der mit ihm kommuniziert und interagiert (der Beobachter zweiter Ordnung dieser Interaktion muss im Horizont der kindlichen Wahrnehmung nicht anwesend sein). Dies ist in gewissem Sinne wahr, sofern 106 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

man berücksichtigt, dass gerade dies der Punkt ist, an dem jede vermeintliche Symmetrie zu Fall kommt. Die Initiative zur Interaktion und Kommunikation geht nämlich ursprünglich vom Erwachsenen aus, der die Verhaltensweisen des Kindes per Analogie interpretiert. Indem er auf die Verhaltensweisen des Kindes entsprechend seiner eigenen Interpretation derselben antwortet und diese Interpretation entsprechend der Reaktionen des Kindes auf diese Antwort korrigiert, 48 subjektiviert der Erwachsene das Kind und befähigt es zur Kommunikation; auf diese Weise erlaubt er es dem Kind, dessen eigene Bedürfnisse entsprechend der Befriedigung zu identifizieren und auszuwählen, die sie seitens des Erwachsenen erfahren, und dies somit entsprechend dem Kommunikationsverhalten zu tun, welches das Kind als adäquates Mittel erlernt, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Hierüber und über alles, was wir hier bezüglich der ursprünglichen Gesprächssituation erwähnt haben, werden wir in späteren Kapiteln noch ausführlich sprechen müssen, wenn wir uns mit der (wenngleich in ethischem und nicht ontologischem Sinne verstandenen) metaphysischen Bedeutung dieser Frage auseinandersetzen werden. Aber das, was wir soeben kurz angesprochen haben, kann genügen, um zu erläutern, dass die anfängliche Gesprächssituation eine Situation der Undifferenziertheit ist (im Folgenden werden wir daher betonen müssen, dass es unangemessen ist, diese Situation tout court als eine Situation zu charakterisieren, in der eine sprachliche »Interaktion« stattfindet). Es handelt sich um eine undifferenzierte Situation sowohl auf Seiten des Kindes als auch auf Seiten des Erwachsenen, aber dies bringt dennoch keine Symmetrie, sondern vielmehr das Gegenteil davon zum Ausdruck: eine (gewisse) Symmetrie ist nämlich vielmehr das Zeichen für eine bereits vollendete Differenzierung. Während aber die »Seite« des Erwachsenen im eigentlichen Sinne ein »Gesichtspunkt« ist, ist diejenige des Kindes dies nur per Analogie und Rekonstruktion. Was das Kind betrifft, ist die Undifferenziertheit – zumindest in der Rekonstruktion, die der Erwachsene davon mittels des oben beschriebenen mehrdeutigen Verfahrens gibt – folglich Synonym eines Bewusstseins bzw. einer Subjektivität, die noch nicht existiert bzw. erst dabei ist zu entstehen. Was dagegen den Erwachsenen betrifft, so ist die Undifferenziertheit keine solche auf der Ebene des Bewusstseins; andernfalls könnte sich das Kind niemals mittels der Analogisierung seitens des Erwachsenen subjektivieren; der Erwachsene weiß darum, »Gesichtspunkt« und Subjekt zu sein, 107 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

und seine Undifferenziertheit gegenüber dem Kind (die psychische Fortsetzung der größeren, physischen bzw. auch physischen Undifferenziertheit vor der Geburt) ist daher nicht auf der Ebene des Bewusstseins zu suchen, sondern auf der Ebene des Unbewussten und der Triebe. Eben in dieser Situation der Undifferenziertheit – der artikulierten und sich entwickelnden subjektiven Undifferenziertheit – werden das Pronomen und die Verbformen des Duals oder der ersten Person Plural zum ersten Mal benutzt (zum ersten Mal für das Kind). Der Sinn von Gemeinschaft, den dieser primitive Sprachgebrauch zum Ausdruck bringt, ist also der Sinn einer organischen Gemeinschaft; auch dann, wenn – wie dies in einigen Sprachen (z. B. im Japanischen) der Fall ist – der Plural bzw. der Dual mit Pronomen zum Ausdruck gebracht werden, die das Pronomen der ersten Person Singular wiederholen, bezeichnen sie nicht die bloße Summe konstituierter Subjektivitäten, denn dies ist vielmehr ein Resultat des Subjektivierungsprozesses und nicht sein Ausgangspunkt. Um dies zu bestätigen, kann man darüber nachdenken, wie der 49 Dual und die erste Person Plural in verschiedenen Sprachen in der Kommunikationsbeziehung zwischen Erwachsenem und Kind faktisch verwendet werden. Es handelt sich dabei nämlich immer um inklusive Verwendungsweisen; die exklusive Verwendungsweise (bei der der Angeredete nicht in den Plural bzw. in den Dual des Anredenden eingeschlossen ist) ist offensichtlich eine chronologisch nachfolgende Verwendungsweise, die bereits eine fortgeschrittene psychische bzw. sprachpragmatische Differenzierung voraussetzt, d. h. eine fortgeschrittene Fähigkeit seitens des Kindes, die ausdifferenzierten Rollen sprachlicher Interaktion, wenn nicht zu verwenden, so doch zumindest zu verstehen. Aber mehr noch: ein in vielen Sprachen anzutreffender Sprachgebrauch besteht darin, das Kind nicht in der zweiten Person Singular, sondern in der ersten Person Plural anzusprechen (zum Beispiel: »Jetzt gehen wir schlafen!«; »Haben wir Hunger?«; »Was machen wir denn da!?« etc.). Die Subjektanalogisierung des Kindes seitens des Erwachsenen erfolgt also mit anderen Worten über die Inklusion und die Herstellung von Gemeinschaft bis hin zur sprachlichen Verschmelzung der beiden Subjektivitäten (der bereits herausgebildeten und der noch herauszubildenden und zu analogisierenden Subjektivität) in einem Plural (bzw. Dual), der sich, was die Objektidentifikation seitens des Beobachters erster Ord-

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Abwesenheit und Analogie

nung, d. h. seitens des mit dem Kind sprechenden Erwachsenen betrifft, nur auf das Kind bezieht. Aufgrund des Spiels reziproker, aber asymmetrischer und evolutiver Analogisierungen ist die Gemeinschaft daher ebenso wesentlich für die Subjektwerdung des Kindes wie die umkehrbare Verteilung der Sprecherrollen (die mit den Pronomen »ich« und »du« zum Ausdruck gebracht werden). Kommt aber die Behauptung, dass die Gemeinschaft wesentlich ist, der Behauptung gleich, dass sie eine Komponente der Gegenwart ist? Gemeint ist eine ursprüngliche, fundamentale Komponente bzw. – da diese beiden Adjektive, wie wir bereits mehrmals festgestellt haben, viele Implikationen haben, die nicht unkritisch akzeptiert werden können – eine Komponente der Gegenwart, die wie das ich und das du, d. h. wie die beiden im Gespräch gegenwärtigen Subjekte, nicht weiter hintergehbar ist. Auf diese Subjekte und darauf, dass sich in ihnen unhintergehbare und irreduzible Komponenten des komplexen Phänomens der Gegenwart konkretisieren, werden wir in den folgenden Kapiteln zu sprechen kommen; einstweilen aber ist die Antwort auf die uns hier – im Kontext eines Diskurses über die philosophische Theorie der Gesellschaft – bedrängende Frage negativ: so sehr auch die Gemeinschaft in pragmatischer Hinsicht für die Subjektwerdung des Kindes wesentlich ist, so ist sie doch keine unhintergehbare Komponente der Gegenwart. Nicht das »wir«, sondern die »dritte Person«, nicht die Gemeinschaft, sondern die Gesellschaft ist – wie die »erste Person« und die »zweite Person« – eine unhintergehbare und in dem irreduzibel komplexen Phänomen der Gegenwart mitgegenwärtige Form. Als wir vor kurzem, nämlich im Zusammenhang unserer Ausführungen über den in vielen natürlichen Sprachen anzutreffenden grammatisch »unpersönlichen«, in Wahrheit aber sozialen und inklusiven Gebrauch der »dritten Person Singular«, gesagt haben, dass dieser Gebrauch über das Problem der Gemeinschaft hinausgeht, das in der 50 ersten Person Plural zum Ausdruck kommt, haben wir bereits auf das angespielt, was jetzt auf angemessenere Weise untersucht werden kann und muss. Tatsächlich signalisiert dieses Hinausgehen, in das wir bei der Untersuchung des interlokutiven Gebrauchs von Sprache verwickelt worden waren, nicht etwa eine Unaufmerksamkeit auf die Grenzen des von uns untersuchten Problems, sondern eine dafür konstitutive Bewegung des Überschreitens und Transzendierens, die 109 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

ihren Ausdruck auch im Sprachgebrauch und in der grammatischen Artikulation der natürlichen Sprachen findet. o Im Übergang von der ersten Person Plural zur im unpersönlichen, gesellschaftlichen Sinne verwendeten dritten Person Singular (m a n , on, si etc.) kommt auf natürliche Weise der Übergang von der leibhaftigen Anwesenheit zur Abwesenheit im Horizont der Wahrnehmung zum Ausdruck, d. h. es kommt darin das unaufhaltsame Abstrahieren zum Ausdruck, durch das sich die im Horizont der Wahrnehmung (insbesondere der visuellen und akustischen Wahrnehmung) versammelbare Gemeinschaft in Richtung auf die Gesellschaft als Horizont und abwesende Totalität verflüchtigt. Es dürfte angebracht sein, die Anmerkung einzuschieben, dass es gewiss nicht unsere Absicht ist, hier eine »spekulative Grammatik« zu unterbreiten. In der Tat beabsichtigen wir nicht, von der Sprache auf die metaphysischen Strukturen des Wirklichen zurückzuschließen, die sich in der Grammatik einfach widerspiegeln würden; wir beabsichtigen vielmehr, aus verschiedenen natürlichen Sprachen, d. h. genauer gesagt aus ihrem interlokutiven Gebrauch, Hinweise darauf zu ziehen, wie die Sprache die Wirklichkeit dadurch determiniert, dass sie Gesichtspunkt und Horizont, d. h. dasjenige determiniert, was zwar auf der Welt, aber gleichwohl nicht von der Welt ist. Damit treffen wir zwar nochmals auf das Paradox der Selbstinklusion, so dass die Sprache ihrerseits durch die Wirklichkeit determiniert zu sein scheint; aber eben diese Zirkularität entzieht jede Möglichkeit einer spekulativen Grammatik. Vielmehr gilt es zu bemerken, dass wir hier zum ersten Mal dem Paradox der Selbstinklusion in sprachlicher Gestalt begegnen. Und wir begegnen ihm nicht deswegen bzw. nicht einfach deswegen in sprachlicher Gestalt, weil wir zu sehen beanspruchen (mit einem »Sehen«, das sprachlicher Art ist, mit einem Sehen, das ein »Sprechen« ist), wie die wirkliche, empirisch beobachtete Sprache die Wirklichkeit determiniert; dies nämlich könnte – zumindest der Auffassung einiger zufolge – immer noch in einem nicht-reflexiven, sondern vielmehr metasprachlichen Sinne erklärt werden. Vielmehr begegnen wir dem Paradox der Selbstinklusion deswegen – vor allem und endgültig deswegen – in sprachlicher Gestalt, weil der Anspruch darauf, sprachlich zu sehen, sich im fraglichen Fall auf die Grenzen der Welt, d. h. auf den Gesichtspunkt und o Von hier bis zum Ende dieses Absatzes folgt der Text wieder nahezu wortgleich MMO-151, S. 110, bzw. MMO-152, S. 70.

110 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

den Horizont bezieht und diese verweltlicht: die Analogisierung pluralisiert den Gesichtspunkt und den Horizont, indem sie das andere Subjekt (das Kind, infans, d. h. im etymologischen Sinne das noch Nichtsprechende) »zur Welt bringt«; und diese Analogisierung, diese pluralisierende Verweltlichung geschieht durch Sprache, Kommunikation, Interlokution, wie man am Gebrauch der interlokutiven Rollen in der kommunikativen Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind »sieht«. Daher ist die unter sprachlichem Aspekt betrachtete Reflexivität, der wir hier zum ersten Mal begegnet sind, keine Refle- 51 xivität auf sich selbst und auf ein vorgebliches Selbst (ein solches Verständnis wäre der metasprachlichen und anti-mentalistischen Kritik an der Reflexivität ausgesetzt), sondern sie ist eine Reflexivität, die auf dem Umweg über den Anderen (alter) erfolgt und nur durch diese Alteration (oder Analogisierung oder Verweltlichung) zum ersten Mal so etwas wie die reflexive Identität des Selbst konstituiert. Im Übrigen würde es den Sinn unserer Beobachtungen verfälschen, wenn man nicht ständig berücksichtigen würde, dass sie sich nicht einfach in der Untersuchung der Beziehung zwischen dem Selbst und der es konstituierenden Alteration erschöpfen lassen; sie implizieren nämlich immer auch die Untersuchung der gesellschaftlichen Dimension. Wir schließen daher die hier eingeschobene Anmerkung ab (zumal sie im Verlauf des gesamten Buches, das in gewissem Sinne ganz auf dem leidigen Problem des Verhältnisses zwischen phänomenologischer Analyse und Sprachanalyse aufbaut, noch ausführlichere und angemessenere Erläuterung erfahren wird) und kehren zu dem Problem zurück, das dazu Anlass gegeben hat: das Problem des Übergangs von der leibhaftigen Anwesenheit der Gemeinschaft zur Abwesenheit der Gesellschaft im Horizont der Wahrnehmung. Bezüglich dieses Übergangs kann nun auch allzu leicht der Einwand erhoben werden, dass wenn dieser Übergang wirklich der Anwesenheit der Gemeinschaft, die im Horizont der Gegenwart versammelt werden kann, zeitlich nachfolgt, dass dann – anders als hier behauptet – nicht die Gesellschaft eine ursprüngliche Komponente der Gegenwart wäre, sondern die Gemeinschaft, auf deren Vorgängigkeit gegenüber der Differenzierung der Subjekte in der Interlokution wir in der Tat so sehr insistiert haben. Ein Verständnis dieser Art verfehlte jedoch den Nerv unseres Diskurses und würde nicht der These gerecht, dass es sich bei der Gegenwart um ein komplexes Phänomen handelt, d. h. der These, dass die Gegenwart in Komponenten 111 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

zerfällt und dass dieses Zerfallen mit der Krise zusammenhängt, die im Rahmen der phänomenologischen Analyse dadurch hervorgerufen wird, dass sich das Problem des anderen Subjekts unausweichlich aufdrängt. p Nur wenn man einem gewöhnlichen Verständnis der Zeitlichkeit anhängt, kann man der Auffassung sein, dass die Nachträglichkeit der Kategorie der Gesellschaft gegenüber der Unmittelbarkeit der Gemeinschaft die Ursprünglichkeit der Gemeinschaft zum Ausdruck bringt. Das Übergehen auf höhere Abstraktionsniveaus und auf Ebenen immer radikalerer Abwesenheit im Horizont der Wahrnehmung als dem Horizont der Gegenwart ist kein Fortschreiten zu nachfolgenden Augenblicken im Sinne einer linearen Zeitlichkeit, sondern ein Fortschreiten zu einer unvordenklichen Vergangenheit, d. h. es ist die differenzierende Art und Weise, in der sich die Abwesenheit vergegenwärtigt bzw. in der sie sich als Komponente der Gegenwart manifestiert. Über diese Abwesenheit, die sich als solche vergegenwärtigt, könnte man das wiederholen, was – von Hegel bis Heidegger – über das Wort »g e w e s e n « als Form eines Z e i t w o r t s (so der Ausdruck in Hegels Logik, aus der zu zitieren wir im letzten Kapitel noch Gelegenheit haben werden) gesagt worden ist, das sich »nur in der Vergangenheit erhalten« 5 hat. q Dieses Fortschreiten zu einer immer schon vergangenen Vergan52 genheit, dieses »Hinübergehen«, das ein Hinübergehen in die »Vorvergangenheit« ist, r kann so erscheinen, als stünde es im Gegensatz zu jenem Fortschreiten zu immer fortschrittlicheren Formen sozialer Organisation, das, wie oben erwähnt, die hochentwickelten zeitgenössischen Gesellschaften charakterisiert und das der obigen Interpretation zufolge eben gerade die differenzierende Gegenwart der Abwesenheit darstellt. Während man aber zum einen beachten muss, dass der Anschein eines Gegensatzes abermals erst durch ein gep

Die folgenden beiden Sätze folgen wieder nahezu wortgleich MMO-151, S. 111, bzw. MMO-152, S. 71. q Olivetti paraphrasiert hier nicht ganz korrekt die angegebene Stelle aus Hegels Logik, an der es eigentlich heißt: »Die Sprache hat im Zeitwort sein das Wesen in der vergangenen Zeit, ›gewesen‹, behalten«. r Olivetti spielt an dieser Stelle explizit auf die Mehrdeutigkeit des hier mit »hinübergehen« übersetzten italienischen Verbs trapassare an, das sowohl ein räumliches »Hinübergehen« als auch ein zeitliches »Vorübergehen« bedeuten kann und dessen substantiviertes Partizip Perfekt (trapassato) das italienische Wort für »Vorvergangenheit« ist.

112 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Abwesenheit und Analogie

wöhnliches Verständnis von Zeitlichkeit entsteht, kann man zum anderen leicht zeigen, dass ein Verständnis von Zeitlichkeit, wie es sich aus dem Zerfallen der phänomenologischen Gegenwart ergibt, ganz und gar nicht im Gegensatz zu dem steht, was bezüglich der Gemeinschaft empirisch gegeben ist. Natürlich kann es sich dabei nicht nur um empirische Gegebenheiten, sondern auch um imaginativ-analogische Schlussfolgerungen und um reflexiv-phänomenologische Befunde handeln, gemäß dem, was wir oben hinsichtlich der Mehrdeutigkeit der Methode angemerkt haben, mittels derer man sich jener in einem radikalen und etymologischen Sinne äquivoken Situation annähert, welche die ursprüngliche Gesprächssituation ist. Aber ganz offensichtlich ist das, was mit diesem Bezug auf die Empirie betont werden soll, nicht die Reinheit und Eindeutigkeit der Methode, die eben an dieser ursprünglichen Gesprächssituation Schiffbruch erleidet und ihren illusionären Charakter offenbart; vielmehr ist damit ein Bezug auf »Gegebenheiten« gemeint, die umso mehr solche sind, als sie in einer Art »passiven Synthesis« gegeben sind, noch bevor irgendein methodisches und konstruktives Instrument zur Anwendung kommt. Nun hatten wir oben, gerade als wir auf diese »Gegebenheiten« Bezug genommen hatten, schon bemerken können, dass es einen offensichtlichen quantitativen Grund dafür gibt, dass sich die Gemeinschaft über eine gewisse Größe hinaus nicht in irgendeiner agorá, d. h. im Horizont der Wahrnehmung und der Gegenwart, versammeln kann; wir hatten aber hinzufügen müssen, dass die quantitative Betrachtungsweise nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern auch und vor allem in zeitlicher Hinsicht erfolgen muss, d. h. in Hinsicht darauf, dass die Gemeinschaft, derer man angehört, auch in der »Erinnerung« versammelt werden können muss und nicht nur in der »Retention« der Zeit, in der die Gemeinschaft gegebenenfalls wirklich im Horizont der Wahrnehmung versammelt sein kann. Ja, wir hatten hinzugefügt, dass die Erinnerung an die Gemeinschaft der eventuellen Identifikation dieser Gemeinschaft im Horizont der Wahrnehmung notwendig vorausgeht und eine Bedingung für diese Identifikation ist. Dieser Diskurs über die Erinnerung muss jetzt vertieft werden. Eben dadurch wird sich zeigen, auf welche Weise und in welchem Ausmaß die vorangegangenen Betrachtungen über die Abwesenheit der Gesellschaft und über den Umstand, dass die Gesellschaft in dem Übergehen der Gemeinschaft in eine unvordenkliche Vergangenheit 113 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

gegenwärtig ist, in den »Gegebenheiten« verankert sind – wobei dieser Begriff hier in einem besonders starken Sinne zu verstehen ist. 53 Tatsächlich ist die ursprüngliche Gesprächssituation – über die wir im Folgenden, nämlich in den explizit dem »ich« und dem »du« gewidmeten Teilen dieses Buchs, noch zu sprechen kommen werden – niemals unvermittelt, sondern immer schon vermittelt; die Erinnerung, die in ihr immer gegenwärtig ist, ist Zeichen dieser Vermittlung. Dennoch ist es nicht unangemessen, von einer »ursprünglichen« Gesprächssituation zu sprechen; es handelt sich dabei nicht nur um eine erste Näherung, die aufgegeben werden muss, wenn eine aufmerksamere Untersuchung die Vermitteltheit herausgestellt hat, in welche diese Situation immer schon eingelassen ist: die »ursprüngliche« Gesprächssituation ist nämlich in jedem Fall insofern ursprünglich, als sie dem Subjekt seinen Ursprung gibt und es zur Welt bringt.

Anmerkungen 1 Unseres Wissens stellt das schöne Buch von H. P. Kainz, Paradox, Dialectic and System. A Contemporary Reconstruction of the Hegelian Problematic, London – Pennsylvania State University 1988, die einzige hinreichend umfassende Untersuchung des Verhältnis zwischen hegelscher Dialektik und dem Paradox dar. Dieser Umstand ist einigermaßen verständlich, da Untersuchungen dieser Art eine nicht bloß angelesene Bekanntschaft mit dem kulturellen Klima der analytischen Philosophie voraussetzen, auch wenn man selbst »kontinental« orientiert ist. 2 Man siehe hierzu unter anderem P. Bieri, R.-P. Horstmann, L. Krüger (Hrsg.), Transcendental Arguments and Science, Dordrecht 1979; P. E. Stüben, Die Struktur und Funktion transzendentaler Argumentationsfiguren, München – Zürich 1981; R. Aschenberg, Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982; E. Schaper, W. Vossenkuhl (Hrsg.), Bedingungen der Möglichkeit. »Transcendental Arguments« und transzendentales Denken, Stuttgart 1984. 3 Zur Genese des Begriffs der »juristischen Person« bleibt – sofern wir dies beurteilen können – der faszinierende Band von R. Orestano, Il «problema delle persone giuridiche» in diritto romano, I, Torino 1968, grundlegend. 4 Vgl. hierzu zuletzt C. Ballé, Sociologie des organisations, Paris 1989. 5 Ausgabe von G. Lasson, Leipzig 1923, Bd. 2, S. 3.

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Drittes Kapitel a Erinnerung, Entwurf b, Selbsterhaltung

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Das Subjekt wird mittels der Analogisierung seitens eines anderen Subjekts zur Welt gebracht, dessen Erinnerung auch Erinnerung für das Kind ist, das als Subjekt ins Leben gerufen wird. Die Geschichten, die von dem – sprechenden und sich erinnernden – Erwachsenen erzählt werden, liefern dem Kind die vermittelte Erinnerung sowohl an das, was es nicht erlebt hat, als auch an das, was es zwar erlebt hat, wovon es aber keine Erinnerung (d. h. keine bewusste Erinnerung in dem oben präzisierten Sinne) bewahren kann, nämlich an seinen Ursprung. In dem letzteren Fall befindet sich das Kind in einer Situation, die derjenigen des Erwachsenen analog ist, zumal dieser seinerseits die Erinnerung an seinen eigenen Ursprung mittels dessen bewahrt, was ihm davon erzählt worden ist. Aber auch im Fall dessen, wovon man keine eigene Erinnerung bewahrt, weil man es nicht persönlich erlebt hat, befinden sich der Erwachsene und das Kind in einer analogen Situation: denn nur ein sehr kleiner Teil der Erinnerung, die dem Kind vermittelt wird, ist Erinnerung an das, was der Vermittelnde persönlich erlebt hat. Wenn es wahr ist, dass alles, was der Vermittelnde übermittelt – a

Ebenso wie das vorangegangene Kapitel knüpft auch dieses Kapitel im ersten Teil an einen Aufsatz an, der 1992 (also im Jahr der Veröffentlichung von Analogia del soggetto) sowohl auf Französisch unter dem Titel L’absence comme forme de la présence: Du «nous» à la «troisième personne» sociale (MMO-152) als auch auf Deutsch unter dem Titel Abwesenheit als Weise der Gegenwart. Vom »Wir« zur gesellschaftlichen »dritten Person« (MMO-151) erschienen ist. Im zweiten Teil greift es dann aber den ein Jahr zuvor auf Französisch erschienenen Aufsatz Autoconservation et autodestruction en tant que projet social (MMO-140) auf. Die entsprechenden Textabschnitte sind durch Fußnoten gekennzeichnet. b Der Terminus »Entwurf« übersetzt hier den italienischen Terminus progetto, der in diesem Kapitel sowohl im Sinne von Daseinsentwurf als auch im Sinne von Gesellschaftsentwurf verwendet wird. Im Folgenden wird es der deutsche Sprachgebrauch allerdings häufig erforderlich machen, den Begriff des Entwerfens durch den des Planens zu übersetzen.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

auch das, was er nicht persönlich erlebt hat – in einer Weise übermittelt wird, die vollständig durch seine – wie man so sagt – »Individualität« bzw. »Persönlichkeit« vermittelt ist, so ist doch auch wahr, dass alles, was er persönlich erlebt, seinerseits vollständig durch die Erinnerung vermittelt ist, die ihm selbst übermittelt worden ist. Diese Erinnerung kann nämlich zwar die verschiedensten Gegenstände und Ereignisse betreffen, aber hier ist vor allem von Interesse, dass sie notwendig den Ursprung des – sprechenden, erwachsenen, subjektivierten – Subjekts und mithin das »wir« betreffen, dem es angehört und das ihm angehört. Obgleich der quantitative Aspekt der Versammelbarkeit der Gemeinschaft, wenn er unter dem zeitlichen Aspekt der Erinnerung betrachtet wird, schon nicht mehr den Horizont der Wahrnehmung als Horizont der Gegenwart betrifft, können wir dennoch die Metapher von einer Ausdehnung verwenden, die sich »so weit das Auge reicht« erstreckt (Metaphern haben nämlich ihren »Ursprung« immer in der Wahrnehmung, auch wenn – wie wir gerade in diesem Moment sehen und wie wir im letzten Kapitel noch deutlicher sehen werden – der »Ursprung« selbst metaphorisch ist); wir können daher mit Bezug auf die Erinnerung des »wir« sagen: der Prozess, durch den sich die Vermittlungen des Ursprungs entlang der interlokutiven Verkettung von noch nicht sprechenden Kindern und spre56 chenden Erwachsenen »so weit das Auge reicht« erstrecken, ist derselbe Prozess, durch den sich die Gemeinschaft bis zum Horizont der als etwas Abwesendes gegenwärtigen Totalität der Gesellschaft erstreckt. Die Erinnerung – die Gemeinschaft, das »wir« – wird konstitutiv begrenzt (wird konstituiert) durch das Unerinnerbare bzw. Unvordenkliche: durch die Gesellschaft, durch die »dritte Person«, die im Gespräch immer abwesend, d. h. immer als abwesend gegenwärtig ist. Im reziproken Spiel der Erinnerungsvermittlung oder besser gesagt in der Tatsache, dass die Vermittlung in zweifacher, reziproker Weise betrachtet werden kann – insofern der Sprecher seine Erinnerung dem Kind vermittelt und seinerseits durch die Erinnerung vermittelt ist –, enthüllt sich die wahre Bedeutung des Bewusstseins der Erinnerung. Wir haben zuvor gesagt, dass die bewusste Erinnerung für die Subjektivität wesentlich ist, da sich die Subjektivität nur aufgrund solcher Erinnerung konstituiert; wenn man jedoch die Tatsache berücksichtigt, dass die Vermittlung in zweifacher, reziproker Weise betrachtet werden kann, dann deckt sich dieses totale Bewusstsein der Erinnerung mit der totalen Erinnerung des Bewusstseins bzw. sie verwandelt sich darin. Es geht hier nicht so sehr um ein Unbewusstes, 116 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

welches das Bewusstsein begleitet oder aus dem das Bewusstsein hervorgeht, sondern vielmehr um eine Konvertibilität von Bewusstsein und Unbewusstsein, von Erinnerung und Vergessen, in der Erinnerung des Bewusstseins: demgegenüber ist jedes Problem eines Unbewussten im geläufigen Sinne des Wortes untergeordnet und abgeleitet. Genauso wie die Welt steht auch die Erinnerung zum Bewusstsein in einem Verhältnis reziproker Inklusion: noch eine Gestalt des Paradoxes der Selbstinklusion, aber eine radikalere Gestalt, weil sie nicht suggeriert, die Fraktur vermeiden zu können, welche die Interlokution sowohl in Hinblick auf das (transzendentale) Subjekt als auch in Hinblick auf die Welt darstellt (nicht ohne Grund haben wir oben festgestellt, dass die Totalität der Gesellschaft »umfassender« ist als diejenige der Welt, zumindest in dem Sinne, dass sie im Vergleich dazu weiter differenziert ist). Wir können daher den redundanten Charakter des oben verwendeten Ausdrucks »Erinnerungsvermittlung« vermerken: Vermittlung ist Erinnerung. Oder auch: wir haben von der »Erinnerung des Bewusstseins« gesprochen, aber es ist opportun anzumerken, dass der Genitiv in diesem Ausdruck abermals ein äquivoker Genitiv, d. h. zugleich ein Subjektsgenitiv und ein Objektsgenitiv ist. Tatsächlich – dies ist eine weitere Art, das Paradox zum Ausdruck zu bringen – ist der äquivoke Genitiv der Genitiv im eigentlichen Sinne, nämlich derjenige Genitiv, welcher generiert, derjenige Genitiv, welcher die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass die Vermittlung im Generieren, d. h. in dem Zur-Welt-bringen des Subjekts seitens des Subjekts, in zweifacher Weise betrachtet werden kann (auch der Titel dieses Buchs, Analogie des Subjekts, soll diesen Genitiv zum Ausdruck bringen: mit Subjekt ist sowohl das analogisierende als auch das analogisierte Subjekt gemeint; und die Gesamtbedeutung des Ausdrucks ist daher, dass das Subjekt, von dem im Buch die Rede ist, dem Subjekt der Tradition nur analog ist – nicht mit ihm identisch, aber auch nicht von ihm verschieden). Als Subjektsgenitiv bringt »Erinnerung des Bewusstseins« die Inklusion der Erinnerung in das Bewusstsein – 57 d. h. die E r- i n n e r u n g im hegelschen und etymologischen Sinne des Wortes – zum Ausdruck, so dass es Sinn hat, von »Subjekt« und »Bewusstsein« zu sprechen; als Objektsgenitiv bringt »Erinnerung des Bewusstseins« die Inklusion des Bewusstseins in die Erinnerung zum Ausdruck, so dass es keinen Sinn hat, von »Subjekt« und »Bewusstsein« zu sprechen, sondern vielleicht nur – mit einem heideggerschen Begriff und im etymologischen Sinne – von A n - d e n k e n : 117 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Erinnerung an eine immer unvordenkliche, immer unerinnerbare Erinnerung, an eine Erinnerung, die – wenn man so sagen dürfte – umso unvordenklicher ist, je größer das A n d e n k e n ist, das sie hinterlässt. c Von einer unerinnerbaren Erinnerung zu sprechen, bedeutet nicht, sich leichtfertig zu widersprechen. Es ist zwar wahr, dass im Rahmen eines Denkens, in dem die Äquivokation das Paradox auszehrt und es so daran hindert, den Diskurs zu sprengen, der Widerspruch durchaus nicht verschmäht werden muss (ohne dabei jedoch die Hoffnung zu erwecken, dass die Dialektik jene Wunde wieder heilen könne, die sie selbst zugefügt habe). Hier jedoch besteht gar kein Widerspruch, denn das Unerinnerbare ist nicht etwa das Gegenteil der Erinnerung, sondern vielmehr eine ganz bestimmte Weise der Erinnerung: genau so, wie die Abwesenheit eine ganz bestimmte Weise der Gegenwart ist. Aber es besteht nicht einmal dann ein Widerspruch, wenn man sagt, dass die unerinnerbare Erinnerung Erinnerung an die Zukunft ist: der Horizont, zu dem sich die Gemeinschaft verflüchtigt, ist nicht nur Terminus in quo, sondern zugleich auch Terminus a quo und ad quem. Mit weniger räumlichen und mehr zeitlichen Worten gesagt: er ist zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: immer schon vergangene Vergangenheit, abwesende Gegenwart und immer noch zukünftige Zukunft. Wenn die »moderne« Gesellschaft im Sinne jenes zuvor angesprochenen exponentiellen Wachstums der reflexiven und autopoietischen Gegenständlichkeit voranschreitet, dann ist dieses Voranschreiten, dieser Verlust des Ursprungs, ein Weg zum Ursprung und zum Sinn als einem ursprünglichen. Aber offensichtlich ist es all dies in einem differenten Sinne, d. h. in einem differenzierenden und zeitlich differierenden Sinne, der sich von demjenigen Sinne unterscheidet, demzufolge der Ursprung einfach als anfängliche Identität gedacht ist, die durch eine Aufhebung der Differenz bzw. durch deren E r- i n n e r u n g wiederherzustellen wäre. Das exponentielle Wachstum der reflexiven Gegenständlichkeit ist ein Voranschreiten zur Zukunft, aber zur Zukunft der Erinnerung. Wobei offensichtlich ist, dass auch der letztere Genitiv als ein äquivoker Genitiv zu verstehen ist. Er ist einerseits als ein Subjektsgenitiv und mithin als ein bec

Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 60 entspricht der Text im Wesentlichen MMO-151, S. 111–117, bzw. MMO-152, S. 71–74.

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Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

wusstseinsbezogener Genitiv zu verstehen, so dass die Zukunft der Erinnerung die vorausschauende und entwerfende Antizipation ist bzw. – mit Heidegger gesprochen – die z u k ü n f t i g e G e w e s e n h e i t , die Verzukünftigung des Gewesenen seitens des »geworfenen Entwurfs«. Aber der Genitiv »Zukunft der Erinnerung« ist andererseits zugleich auch als Objektsgenitiv zu verstehen, als Zukunft der Gesellschaft, als jene differenzierende und zeitlich differierende Abwesenheit, in der sich ein immer schon und für immer objektiver Geist vergegenwärtigt. Dass es hinsichtlich dieser Zukunft des objektiven Geistes keinen Plan d gibt und dass dieser Geist vielmehr umso weniger planbar ist, je 58 weiter sich die Planung erstreckt und je mehr sie von einer individuellen bzw. existentiellen Ebene (als Entwurf des D a s e i n s ) auf eine gesellschaftliche Ebene übergeht, ist einer der auffälligsten Aspekte, unter denen sich der Erinnerungscharakter der »dritten Person« manifestiert. Es ist zwar wahr, dass sich die Planung in der zeitgenössischen Gesellschaft immer weiter erstreckt und immer mehr einen gesellschaftlichen Charakter annimmt, sowohl was den Gegenstand der Planung als auch was ihr Subjekt betrifft (»Subjekt« in jenem antiphrastischen Sinne, in dem man – wie zuvor erwähnt – von gesellschaftlichen »Subjekten« zu sprechen pflegt); aber es ist ebenso wahr, dass die Planung im gleichen Maße zunimmt wie die Unplanbarkeit. Auch hierin begegnen wir nicht einem bloßen Widerspruch, sondern etwas irreduzibel Komplexem und Äquivokem; eben daher aber wäre es reduktiv, diesen Sachverhalt, der sich sowohl aus einer empirischen Beobachtung als auch aus einer theoretischen Überlegung ergibt, bloß als widersprüchlich anzusehen. Aus empirischer Sicht beschränken wir uns darauf, daran zu erinnern, dass die Planung unausweichlich mit der Prognose verbunden ist und daher auf dieselben Paradoxe trifft wie diese und diese Paradoxe sogar noch verstärkt. Wie nicht nur Sozialwissenschaftlern, sondern auch all jenen bekannt ist, die in Systemen tätig sind, welche als soziale Systeme kategorisiert werden, wirkt die Prognose auf die Situation zurück, von der aus sie erfolgt: im sozialen System »Politik« d Der Begriff »Plan« übersetzt hier und im Folgenden ebenso wie der zuvor verwendete Begriff »Entwurf« den italienischen Terminus progetto. Diese Verdoppelung ist nötig, um die unterschiedlichen Konnotationen zu erfassen, die mit diesem Terminus verbunden sind.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

manifestieren sich derartige Phänomene des feed-back zum Beispiel in dem Einfluss, den die Verbreitung von Prognosen zum Wahlverhalten auf das Wahlverhalten selbst hat; im sozialen System »Wirtschaft« manifestieren sich diese Phänomene zum Beispiel in den Veränderungen des Marktes, die durch die Verbreitung von Marktprognosen ausgelöst werden; und so weiter. Wenn es denn nötig wäre, den Erinnerungscharakter der gesellschaftlichen Zukunft durch empirische Beispiele zu veranschaulichen, dann wäre das Paradox der Prognose gewiss eines derjenigen Beispiele, welche die reichhaltigsten Hinweise liefern könnten. Jedenfalls ist offensichtlich, wieso Unerinnerbarkeit und Unplanbarkeit bei einer reflexiven Dynamik wie der eben beschriebenen miteinander zusammenfallen, bei der jede prognostizierte Situation auf die Situation, von der aus die Prognose erfolgt, zurückwirkt und sie verändert, so dass die Prognose zu einer »falschen« Prognose wird, auch wenn sie »anfangs« richtig war. Dass die Rückwirkung in bestimmten Fällen den prognostizierten Effekt bestätigen kann, anstatt ihn zu verändern, ändert offensichtlich nichts an der paradoxen reflexiven Dynamik der Prognose, da es ihr in jedem Fall unmöglich ist, dasjenige zusammenfallen zu lassen, was sie durch ihr eigenes Tun differenziert, nämlich die prognostizierte Situation und die Situation, von der aus sie prognostiziert wird. Die ganze Bedeutung dieser Beobachtungen zeigt sich dann, wenn man von der empirischen Ebene zu einer mehr theoretischen Ebene übergeht, wo das Problem des »Todes« des sozialen Systems, das den Plan entwirft, besonderes Gewicht bekommt. Bekanntlich 59 stößt die Definition des »Todes« sozialer Systeme in funktionalistischer Perspektive auf große theoretische Schwierigkeiten. 1 Wenn wir diesen Umstand unterstreichen, machen wir uns keiner unrechtmäßigen Ontifizierung schuldig, wie vielleicht jemand meinen und einwenden könnte; denn die funktionale Natur, die dem zukommt, was man unter einem »System« versteht, wird hier weder durch eine ontische Natur ersetzt noch damit verwechselt. Es geht hier vielmehr um die allgemeinen Bedingungen der Identifizierbarkeit, sei es von Seienden, von Funktionen oder von irgendetwas anderem. Damit es Identifikation geben kann, muss dasjenige identifiziert werden, was man in der Sprache der Systemtheorie die »Grenzen« dessen nennt, was identifiziert wird. Diese Grenzen können räumlicher und/oder zeitlicher Art sein; im letzteren Falle kann nun in mehr oder weniger weitem Sinne vom »Tod« dessen die Rede sein, was identifiziert worden war. Da der »Tod« des beobachteten sozialen Systems nicht klar 120 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

identifizierbar ist, wäre der Einwand, der eventuell gegen den hier entwickelten Diskurs vorgebracht werden könnte, vielmehr umzukehren; der systemfunktionale Ansatz muss sich nämlich entgegen jeder gegenteiligen Programmatik und Behauptung mehr oder weniger wissentlich mit ontischen Elementen vervollständigen, um das System identifizieren zu können, dessen Funktionen er jeweils zu untersuchen meint. Es ist nicht nötig, sich auf Heidegger zu berufen, um den wesentlichen Zusammenhang zu erkennen, der den Entwurf mit der Antizipation des Todes verbindet, und somit zu erahnen, was in theoretischer Hinsicht von uns noch weiter argumentativ bearbeitet werden muss, nämlich dass die Ausweitung der Planung über den Horizont der leibhaftigen Gegenwart hinaus – innerhalb dessen man gewiss in »eigentlicher« Weise von »Tod« sprechen kann – gleichzeitig und auf paradoxe Weise die Unplanbarkeit ausweitet. Wenn überhaupt, dann kann die Bezugnahme auf Heidegger nützlich sein, um zu unterstreichen, dass der Tod nicht notwendig in einem naiven »personalen« bzw. naturalistischen Sinne verstanden werden muss, zumal er – für den Heidegger des »Entwurfs« – konstitutiv ist für jene Art von noch transzendentaler Offenheit, welche das D a s e i n ist, insofern es sich in den Sterblichen sozusagen inkarniert. Aber das D a s e i n ist eben nicht die Gesellschaft als die Gesamtheit aller Sterblichen (daher bleibt Heideggers Verständnis dieses Themas trotz der »Eigentlichkeit« des Todes im Wesentlichen solipsistisch), einer Gesamtheit, deren Tod weder empirisch noch theoretisch antizipiert werden kann. Wenn der Tod umso weniger identifizierbar wird, je mehr die Gegenwart zur Abwesenheit wird, indem sie sich in Gestalt von reflexiven Objektivierungen zum Horizont der Totalität ausweitet, so ist der Tod in Hinblick auf diesen Horizont selbst, d. h. in Hinblick auf die Gesellschaft, schlicht und einfach undenkbar. In der Tat kann man nicht sagen, dass die Antizipation des Todes der Gesellschaft in Analogie zum Tod von Individuen und/oder zum Aussterben von Tierarten aus der Erfahrung erschlossen werden könnte. Vielmehr ist genau dies der Punkt, an dem die gegenständli- 60 che empirische Analogie – d. h. jener Typ von Analogie, auf der dieser Schluss basiert: die Analogie in dem für den Empirismus normalen Sinne – versagt oder genauer gesagt ihre Grenze, ihr non plus ultra findet. Wie wir seinerzeit festgestellt haben, ist die Subjektanalogisierung – die, wenn sie zur Totalität erweitert wird, den kategorialen Horizont der Gesellschaft definiert – nichts Empirisches, obgleich sie 121 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

oder vielmehr eben weil sie am Ursprung jeder Empirie steht. Infolgedessen hatten wir festgestellt, dass auf recht paradoxe Weise die Subjektanalogisierung Individuen und Gruppen sich selbst analog macht, die aus empirischer Sicht – zum Beispiel aus evolutiver Sicht – für »weniger«, »mehr« oder sogar »anders« subjektiviert gehalten werden. Wir hatten ferner bemerkt, dass die Objektivierung und Kategorisierung des anderen Subjekts, das am Horizont und im Horizont der Gegenwart wahrgenommen wird, ein in mehrfachem Sinne evolutives Problem ist: in empirischem Sinne (und zwar ebenso sehr aus kulturell-phylogenetischer Sicht wie aus psychisch-ontogenetischer Sicht) und in phänomenologischem Sinne (als continuum zwischen Vorprädikativem und Prädikativem). Dieses gleichzeitige Vorhandensein eines naturalistisch-empirischen Sinnes und eines phänomenologischen Sinnes in dieser Problematik ist selbst eine Manifestation jenes paradoxen Verhältnisses der gegenseitigen Implikation und Exklusion von Verweltlichung und Analogisierung, aufgrund dessen die Totalität der Gesellschaft zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt ist. Aus ihr resultiert zudem – so hatten wir des Weiteren festgestellt – die gleichzeitige Annahme sowohl einer Kontinuität als auch einer Diskontinuität zwischen den historischen Gesellschaften innerhalb des Horizonts der Gesellschaft. Wenn aber dieses äquivoke und paradoxe Flimmern ein und dieselbe Problematik des-integriert, dann ist offensichtlich, dass die Gesellschaft als Gesamtheit der analogisierten und analogisierenden Subjekte nicht in naiver Weise mit dem zur Koinzidenz gebracht werden kann, was aus empirischer Sicht als die »menschliche Spezies« definierbar und beschreibbar ist. Und dies ist von Bedeutung mit Blick auf die Vorhersehbarkeit – oder vielmehr Unvorhersehbarkeit und Undenkbarkeit – des »Todes« der Gesellschaft und folglich mit Blick auf die Planbarkeit – oder vielmehr Unplanbarkeit – der Zukunft der Gesellschaft. Man kann zwar planen, die Menschheit zu vernichten oder die Menschheit zu retten, so wie man versuchen kann, irgendeine Tierart zu vernichten oder sie vor ihrer vorhergesehenen Ausrottung zu retten. Aber diese Pläne sind, auch wenn sie im Rahmen gesellschaftlicher Kategorien ausgearbeitet werden können, gleichwohl keineswegs Pläne, die den Tod oder die Rettung der Gesellschaft betreffen. Die Zukunft, welche ein solcher, die empirisch definierte Spezies betreffender Plan anstrebt, setzt die analogisierende Ausweitung der Subjektivität bis zum Horizont der Totalität voraus, also bis zu dem 122 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

Unerinnerbaren selbst, von dem ausgehend sich die Analogisierung ereignet, welche den Plan vorgibt. Unplanbarkeit und Unerinnerbarkeit sind Synonyme. e 61 f In der Allokution des Erwachsenen an das noch nicht sprechende Kind kommt der Entwurf zur Sprache, den der Erwachsene für das Kind bzw. für das »wir« verfolgt – d. h. er wird darin mit-geteilt und somit zu einem gemeinsamen Entwurf. g In der das Kind umsorgenden Allokution entwirft der Erwachsene die Zukunft des Kindes als seine eigene Zukunft. Er entwirft sie als seine eigene Zukunft nicht nur in dem Sinne, dass der den Anderen (das Kind) betreffende Entwurf immer noch sein eigener Entwurf und ein für sich selbst verfolgter Entwurf ist, sondern auch in dem Sinne, dass die darin entworfene Zukunft dem Erwachsenen und dem Kind gemein ist: der Erwachsene entwirft sie, indem er sowohl den eigenen Tod als auch den Tod des Kindes antizipiert (der Erwachsene umsorgt das Kind gerade aufgrund dieser Antizipation, weil er deren Verwirklichung aufschieben will), aber dass der eine den anderen überlebt, wird vom Erwachsenen als eine »objektive« Zukunft gedacht, als eine Zukunft, die ihnen beiden, ja allen Analogisierten und Analogisierenden gemein ist. Wenn die Allokution die Gegenwart mit-teilt (und somit zu einer gemeinsamen Gegenwart werden lässt), indem sie das Kind subjektiviert, dann teilt sie dabei auch die Erinnerung und den Entwurf mit. Hieraus entsteht jeder gewöhnliche (sowohl gemeine als auch gemein machende, d. h. Gemeinsamkeit und Gemeinschaft stiftende, als auch gemein gemachte, d. h. mit-geteilte) h Begriff der Zeit. Dieser gewöhnliche Begriff der Zeit ist nun aber im Spiel, wenn man die Rettung oder die Vernichtung der menschlichen Spezies plant. Dies gilt es zu beachten, wenn wir später jene zeitgenössischen e

Von der angegebenen Stelle auf S. 57 bis hierhin entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem des Aufsatzes MMO-151 bzw. MMO-152, der an dieser Stelle endet. f Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 69 entspricht der Text dieses Kapitels, abgesehen von einer längeren Hinzufügung (vgl. S. 62–64), im Wesentlichen dem des Aufsatzes MMO-140, S. 119–125. g Im Italienischen kommt der Zusammenhang zwischen »mit-teilen« bzw. »kommunizieren« (comunicare) und »gemeinsam« (comune) schon im gemeinsamen Wortstamm zum Ausdruck. h Die Übersetzung versucht hier den Zusammenhang und zugleich auch die Mehrdeutigkeit der Reihung der Attribute comune, accomunante und comunicato wiederzugeben, denen allen die Wortwurzel des Verbs »kommunizieren« (comunicare) gemein ist. Vgl. auch oben auf S. 61 sowie S. 62 und S. 65.

123 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Ansätze untersuchen werden, die in der Ethik das Mittel bzw. den Modus zu sehen glauben, wodurch sich die Erhaltung der Spezies verwirklichen ließe (einige dieser Ansätze sind im höchsten Grade empirisch oder vielmehr ethologisch und biosoziologisch, während andere sich zumindest der Absicht nach entschieden transzendental gerieren). Aber wie die gewöhnliche Zeitlichkeit nicht die ursprüngliche Zeitlichkeit ist, die aus dem Zerfall der Gegenwart hervorgeht, so ist die menschliche Spezies nicht die Gesellschaft. Die Spezies ist im Gegensatz zur Gesellschaft ein empirischer Begriff, der wie alle Empirie per Definition im Intervall zwischen den beiden Grenzen der Welt, dem Subjekt und der Gesellschaft, angesiedelt ist (oder vielmehr im Intervall jener »eigentlichen« Grenze, die, wie wir gesehen haben, immer nur verdoppelt besteht). Der Preis, den die Analogisierung zahlen muss, um sich für univok zu halten, besteht in dem Verzicht auf die Pluralität der Subjekte zugunsten einer Transzendentalität, mit der die empirische Subjektivität des Analogisierenden in privilegierter und unwiederholbarer (d. h. hinsichtlich der anderen analogisierten Subjektivitäten nicht iterierbarer) Beziehung steht, auch wenn sie nicht mit ihr zusammenfällt. Dagegen besteht der Preis, den die Analogisierung zahlen muss, um an der von ihr postulierten oder vielmehr generierten Pluralität von Subjekten festzuhalten, in dem Verzicht auf Transzendentalität und Univozität und mithin in dem Verzicht auf die Kontinuität der empirischen Identifikation oder genauer gesagt in dem Verzicht auf den Anspruch auf eine solche Kontinuität. Wie in der traditionellen Doktrin der »analogia entis« ist die »analogia subiecti« (generierender Genitiv) suspendiert im Spannungsfeld zwischen einem äquivoken Ursprung (die subjektivierende 62 Allokution, das »Wir« von Erwachsenem und Kind) und einem univoken Endpunkt (das transzendentale Subjekt, das denkende »Ich«, d. h. das »Ich«, das nicht mehr Subjekt sprachlicher, alterierender, mit-teilender Handlung ist). Das Ereignis der Sprache ist die im Spannungsfeld zwischen unerinnerbarer Vergangenheit und unplanbarer Zukunft operierende Analogisierung selbst. Innerhalb des (unerinnerbaren und unplanbaren) Horizonts der Gesellschaft sind Erzählung, Referenz und Entwurf die Formen, in denen die Allokution analogisiert und in der gewöhnlichen Zeit gemein macht (d. h. Gemeinsamkeit und Gemeinschaft stiftet), so dass sie zu interlokutiver und intersubjektiver Allo124 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

kution wird, so wie Anwesenheit, Präexistenz und Abwesenheit die Formen sind, in die die nicht-gewöhnliche und nicht-gemeine Gegenwart des Subjekts zerfällt, das ein denkendes Subjekt sein will. Indem der Entwurf, sowohl was dessen (in einem zunehmend antiphrastischen Sinne zu verstehendes) »Subjekt« als auch was dessen Objekt betrifft, immer mehr zu einem gesellschaftlichen Entwurf wird, ist er zugleich Entfernung vom Ursprung und Annäherung an den Ursprung. Im Entwurf finden die theoretische Vernunft und die praktische Vernunft zu ihrer Einheit, die jeder Art ihrer immer schon geschehenen Differenzierung vorangeht (wenn es möglich wäre, würden wir sagen, sie finden darin zu ihrem »Ursprung«). Man macht einen Entwurf, weil man den Tod antizipiert. Unabhängig davon, ob der Entwurf auf Selbsterhaltung oder auf Selbstvernichtung abzielt, ist die Antizipation des Todes dasjenige, was den Entwurf in seinen verschiedenen Ausgestaltungen zu einem Entwurf macht; sie ist die Bedingung dafür, dass etwas überhaupt als Entwurf gedacht werden kann. Ein Seiendes, das sich nicht erhalten muss oder das sich nicht vernichten kann, würde keinen Entwurf machen; die Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen sowie die Möglichkeit, sie über ihre immer vollständigere Befriedigung hinaus immer weiter zu steigern, kann gewiss als Wille zur Macht angesehen werden; aber welches auch immer die zirkulären oder auch sich selbst verstärkenden Elemente sind, in denen sich der Wille zur Macht zur Vorstellung bringt, so kann er sich doch nur dann steigern (und sich durch diese Steigerung selbst erhalten), wenn der eigene Tod und der Tod als der eigene antizipiert werden. i Obgleich nämlich – wie Blumenberg 2, eine Anregung von Hen3 auf seine Weise entwickelnd, herausgearbeitet hat – das moderrich ne Prinzip der Selbsterhaltung seinen Ursprung in der modernen Physik gehabt hat (das Verharren in der Bewegung und das Ende der kosmischen und mithin theologischen Teleologie), konnte es doch nicht darum umhin, sich zu subjektivieren; und dies nicht etwa deshalb, weil die Naturwissenschaften den Problemen der Biologie und der Selbststeuerung von Organismen Aufmerksamkeit gewidmet hätten, sondern deshalb, weil sich der Mensch in einem Universum, dessen Zweckmäßigkeit und Erhalt (oder kontinuierliche Schöpfung) nicht länger durch Gott gewährleistet wurde, auf sich selbst verlassen i

Bei den folgenden Ausführungen bis zur angegebenen Stelle auf S. 64 handelt es sich um eine längere Hinzufügung zum Text von MMO-140.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

musste. Die Konkomitanz von Subjektivierung des Menschen einerseits und Physikalisierung und Mechanisierung des Universums andererseits scheint uns ein ideengeschichtliches Ereignis zu sein, das trotz allem noch unzureichend erforscht ist. Aus dieser Perspektive möchten wir anmerken, dass die subjektivistisch-anthropologische Lesart, die Jüngel dem von Descartes in den Meditationen 4 entwickelten Argument für die Existenz Gottes gege63 ben hat (also jenem »cartesianischen Gottesbeweis«, wie er vor Kant genannt wurde, welcher dann im Anschluss an Kant, d. h. nach geschehener Univokation des Seins, als »ontologischer« Gottesbeweis bezeichnet worden ist), eine Lesart ist, die in ihrem Kern einer überaus richtigen Intuition entspricht, wie sehr auch immer sie philologisch zu kritisieren sein mag. Die These, derzufolge der cartesianische ontologische Gottesbeweis als eine Weise der Selbstversicherung des Subjekts und des Erhalts seiner Identität über die punktuellen Instanzen des cogito hinweg zu verstehen sei, trifft den Geist der Moderne weitaus besser als eine theologische Interpretation wie diejenige Pannenbergs, obgleich dieser seinen Kollegen Jüngel, was den Buchstaben von Descartes Text betrifft, zu Recht kritisiert. 5 Dies gilt zumindest solange, wie man den theoretischen Rahmen unberücksichtigt lässt, der die unterschiedlichen Interpretationen bestimmt und die Textphilologie auf unterschiedliche Weise ausrichtet: tut man dies jedoch, dann wird Pannenberg selbst zu einem Repräsentanten des Geistes der Moderne, d. h. jenes Geistes, für den Descartes und Spinoza (gemeint sind: der als Resultat von Meditationes gewonnene ontologische Gottesbeweis und die ein als Ausgangspunkt jeder philosophischen Abhandlung betrachtetes Traktat de Deo eröffnende causa sui) in Hegel (gemeint ist: in der Philosophie der göttlichen M e n s c h - w e r d u n g ) zur Synthese kommen. Jedenfalls ist die geschichtliche Konkomitanz des Erscheinens des subjektivistischen Prinzips in der Philosophie und des Verschwindens der Teleologie aus der Physik mit Bezug auf einen Zusammenhang von Bedeutung, der in der Moderne dann in verschiedener Weise ausgearbeitet worden ist, bis hin zu den gegensätzlichen reduktionistischen Extremen von Idealismus und Materialismus und bis hin zu dem Versuch ihrer dialektischen Wiederzusammenführung. Diesbezüglich könnte man sagen, dass Henrichs beharrlicher (auch mit kritischem Akzent gegenüber Blumenberg betonter) Hinweis auf die stoischen Wurzeln des Prinzips der Selbsterhaltung entgegen dem durch den Hinweis auf die Antike erweckten Anschein vielmehr von 126 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

der Absicht zeugt, die Moderne in den Rahmen des idealistischen Prinzips zurückzuführen. 6 Es bleibt die Tatsache, dass die weitere Ausarbeitung, welcher Henrich seine ursprünglichen Intuitionen über den S e l b s t e r h a l t u n g s t r i e b unterzogen hat und welche er in der These von der gegenseitigen Implikation von Selbsterhaltung und Selbstbewusstsein weiterentwickelt und präzisiert hat, 7 weitgehend geteilt werden kann (es ist nur schade, dass diese These, auch was ihre Rezeption betrifft, eine Episode geblieben ist) 8. Im hier skizzierten theoretischen Rahmen scheint insbesondere die Tatsache von großem Interesse zu sein, dass die These von der gegenseitigen Implikation von Selbsterhaltung und Selbstbewusstsein es mit sich bringt, die Auffassung zu verwerfen, derzufolge der moderne Subjektivismus als Theoretisierung eines unbedingten und allschaffenden Willens zu verstehen sei. In diesem Punkt kann Henrich diejenige Interpretation zurückweisen, die auch er selbst für die profundeste Interpretation hält, die von der Moderne gegeben worden sei, nämlich die Interpretation Heideggers. In der Tat vertritt er die Auffassung, dass in dieser Interpretation das Selbstbewusstsein derart konzipiert sei, dass die durch das Selbstbewusstsein implizierte 64 Selbsterhaltung entweder vergessen oder einfach mit dem Selbstbewusstsein selbst identifiziert wird, während die Unterscheidung zwischen diesen beiden sich gegenseitig implizierenden Prinzipien zu einem Verständnis führen würde, das umgekehrt gegenüber demjenigen Heideggers wäre: das Selbstbewusstsein entsteht nur in einem Kontext, der sich nicht als Derivat des Waltens des Selbstbewusstseins denken lässt, und es entsteht in diesem Kontext, indem es ursprünglich um die so beschaffene eigene Abhängigkeit weiß. 9 Ob diese These es nicht etwa erforderlich macht, einer Betrachtung über die Sprache und über die Fraktur Platz zu machen, welche die Sprache sowohl in Bezug auf den Horizont des Bewusstseins als auch in Bezug auf einen Diskurs über die Methode mit sich bringt, ist aus unserer Sicht eine Fragestellung, die vor dem Hintergrund der zuvor angestellten Betrachtungen nicht anders als kritisch klingen kann. Gleichwohl ist jeder Hinweis auf die Implikationen, welche die moderne Subjektivität für die Selbsterhaltung hat, als kostbar und bedenkenswert zu erachten. Die Rede von Implikationen, welche die moderne Subjektivität für die Selbsterhaltung hat, meint jedoch genauer gesagt Implikationen von Entwürfen, die auf der Antizipation des eigenen Todes und des Todes als des eigenen basieren. Die Implikationen solcher Entwür127 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

fe sind in der Tat die Voraussetzung jeder Selbsterhaltung, die nicht als bloßer »Instinkt« der Selbsterhaltung, sondern als eine Dimension gedacht wird, die wesentlich mit der Dimension des Selbstbewusstseins einhergeht. j Zudem muss die Selbsterhaltung als nur eine Möglichkeit von Entwürfen verstanden werden, welcher eine andere Möglichkeit, nämlich die der Selbstvernichtung, gegenübersteht; wenn bereits auf der Ebene der »Instinkte« die Selbsterhaltung unter bestimmten Umständen in Selbstvernichtung umschlagen kann (sei es auch nur deshalb, weil man sich nicht mehr darum bemüht, sich selbst zu erhalten), dann kann es nicht sein, dass es eine solche Kehrseite derselben Medaille nicht auch und mit größerem Recht bei der selbstbewussten und geplanten Selbsterhaltung gibt. Dass auf der Ebene der Instinkte, nämlich in derjenigen Phase der Kindheit, in der das Kind noch nicht zum Subjekt geworden ist, das Einstellen der Selbsterhaltung, d. h. deren Transformation in Selbstvernichtung, immer und ausschließlich mit dem Fehlen elterlicher Fürsorge zusammenhängt, ist eine Tatsache, die das »ursprünglich« gemeinschaftliche Wesen der Selbsterhaltung-Selbstvernichtung verdeutlicht. Während aber auf der Ebene der Instinkte die Selbsterhaltung-Selbstvernichtung lediglich das Individuum betrifft – obgleich sie ihren »Ursprung« in der Gemeinschaft bzw. im Fehlen von Gemeinschaft hat –, kann sie auf der Ebene der Entwürfe auch die Gemeinschaft betreffen – obgleich sie nunmehr einen subjektiven und individuellen »Ursprung« hat. Es wäre naiv zu sagen, dass die Selbsterhaltung-Selbstvernichtung deshalb die Gemeinschaft und – in heutiger Zeit – sogar die Spezies betreffen kann, weil die moderne Technik die Möglichkeiten für einen so umfassenden Entwurf bereitstellt; offenbar ist vielmehr das Gegenteil wahr: weil die geplante, d. h. selbstbewusste Selbsterhaltung-Selbstvernichtung die Gemeinschaft betrifft, hat sie eine 65 Technik hervorgebracht, die in der Lage ist, den Entwurf zur Vollendung zu bringen. Die Selbstvernichtung der Gemeinschaft – sei es aufgrund einer kollektiven Entscheidung oder sei es aufgrund der Entscheidung eines einzelnen Mitglieds, das auch sich selbst in die Vernichtung einbezieht, die er für seine Gemeinschaft, für sein »wir«, plant – ist in der »menschlichen« Geschichte ausführlich dokumentiert, und sie ist ein »Faktum« (im etymologischen Sinne), das vielj

Ab hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 69 folgt der Text wieder im Wesentlichen MMO-140, S. 120–125.

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leicht mehr als jedes andere die Menschheitsgeschichte gegenüber der Naturgeschichte auszeichnet. Dieses Faktum zeichnet die Menschheitsgeschichte gewiss mehr aus als die Kriege und auch als die am allgemeinsten todbringenden »Fortsetzungen des Friedens mit anderen Mitteln«, die allesamt als (möglicherweise auch für die jeweiligen Akteure selbst hochgradig riskante) Manifestationen einer auf Selbsterhaltung abzielenden Aggressivität katalogisiert werden können. Die auf Selbsterhaltung abzielende Aggressivität richtet sich gegen das »du« bzw. das »ihr«, wenn die Vergemeinschaftung der Welt den Entwerfenden zu schädigen scheint; zudem – und nicht alternativ zum vorherigen Fall – richtet sich die auf Selbsterhaltung abzielende Aggressivität gegen »sie«, d. h. gegen dritte, als Objekte betrachtete Personen, denen man das Pronomen der Interlokution verweigert und auf die man sich nur mit dem Pronomen der Delokution bezieht: sie richtet sich gegen die bárbaroi, mit denen man nicht kommuniziert und mit denen man nicht kommunizieren will, k weil man aufgrund des Fehlens einer Analogisierung – jener subjektivierenden Analogisierung, die sich allokutiv-interlokutiv als Konstitution in der »zweiten Person« zuträgt – nicht etwa die Vergemeinschaftung der Welt, sondern die Vernichtung der Welt und des Eigentums daran voraussieht; man sieht die Alienation (und nicht die Alteration) jener Grenzen – d. h. des Gesichtspunkts einerseits und des Horizonts der Gesellschaft andererseits – voraus, innerhalb derer die Welt sich sprachlich entfaltet. Daher die Aggressivität des Entwurfs und dessen mehr oder weniger gut kalkuliertes Risiko, bis hin zu dem Versuch, »alles auf eine Karte zu setzen«. Eine andere Totalität intendiert dagegen der auf Selbstvernichtung abzielende Entwurf, der sich auf die Gemeinschaft bezieht. Hier geht es nicht um die Totalität dessen, der sein Leben – notwendigerweise sein »ganzes« Leben – riskiert, um es zu erhalten (bzw. um es zu bereichern; aber diese Bereicherung ist in jedem Fall eine Art und Weise, sein eigenes Leben zu leben, d. h. es als Leben zu erhalten). In dem auf Selbstvernichtung abzielenden Entwurf geht es um die Totalität des »wir«, das die moderne Technik bis hin zur Grenze des Horizonts der Gesellschaft, d. h. bis hin zur »unpersönlichen« dritten k

Ähnlich wie zuvor auf S. 61, ist auch im gegenwärtigen Kontext das Verb »kommunizieren« (comunicare) jeweils auch im etymologischen Sinne, d. h. auch im Sinne von »mit-teilen« zu verstehen. Vgl. dazu auch S. 66 sowie S. 41 und 193 ff.

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Person auszuweiten erlaubt. Die moderne Technik also erlaubt die Auslöschung des Horizonts der Gesellschaft oder wenigstens scheint sie diese zu erlauben: ein extremer Akt, der auf seine Weise das Erreichen und die Inklusion des Horizonts darstellen würde. 10 Die »dritte Person« bezeichnet in diesem Fall nicht einfach den Gegenstand des Pronomens der Delokution, d. h. sie bezeichnet anders als im Fall der auf Selbsterhaltung abzielenden Aggressivität nicht diejenigen, denen es man bewusst und/oder unbewusst verweigert, sie zu Subjekten zu analogisieren, d. h. sie bezeichnet nicht diejenigen, denen man nur den Status von Objekten zuerkennt, weil 66 man mit »denen da«, welche die Welt als solche und das Eigentum daran bedrohen, nicht in Kommunikation treten und die Welt nicht teilen will. Die »dritte Person«, welche der auf Selbstvernichtung abzielende Entwurf in jener Vollständigkeit intendiert, welche die moderne Technik zu erlauben scheint, d. h. die »dritte Person« in dem eigentümlichen Sinne einer dritten Person der Gesellschaft, bezeichnet jene dritte Person, welche die Welt fortbestehen lassen könnte, wenn sie damit fortführe, sie mit-zuteilen: sie ist zwar eine grammatikalisch »unpersönliche« Person, weil sie immer jenseits des Horizonts ist, aber eben deshalb ist sie auch nicht eingeschlossen in die bloße Gegenständlichkeit. Der Umstand, dass sich die dritte Person immer nur als objektiver »Geist«, als »abwesende Gegenwart«, d. h. als Gegenwart in der Weise der Abwesenheit, l »vergegenwärtigt«, ist Zeichen oder vielmehr Spur der immerwährenden Äußerlichkeit der dritten Person der Gesellschaft gegenüber jeder einschließenden Grenze, er ist Spur dessen, dass sie immer schon bzw. immer noch jenseits des Horizonts der leibhaftigen und personalen Gegenwart ist. Eben diese Betrachtungen erlauben es aber, die tiefere Bedeutung jenes scheinbaren Zögerns zu erfassen, das in dem angeklungen ist, was wir zuletzt über die Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht haben, die durch die moderne Technik eröffnet werden: die moderne Technik – so haben wir gesagt – erlaubt die Selbstvernichtung bis hin zur Grenze des Horizonts der Gesellschaft oder »wenigstens scheint sie« diese zu erlauben. Nun lässt aber bereits ein oberflächlicher Blick erkennen, dass es im Hinblick auf den Entwurf keinen Unterschied zwischen dem gibt, was die Technik erlaubt, und dem, was l

Die Übersetzung interpretiert hier die Rede von »absenter Präsenz« (assente presenza), mit der die Abwesenheit als »Weise« der »Gegenwart« gemeint ist. Vgl. hierzu die Erläuterungen im dritten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

sie zu erlauben scheint (auf das Thema Technik und transzendentaler Schein werden wir aber im siebten Kapitel noch zurückkommen müssen): man plant etwas, eben weil der Plan »technisch möglich«, d. h. realisierbar bzw. machbar erscheint; um dann bei einem eventuellen Misserfolg festzustellen, dass man sich geirrt hat, als der noch nicht realisierte Plan möglich »schien«. In der Techno-logie ist die Möglichkeit, insofern sie »technische« Möglichkeit, insofern sie Machbarkeit und Realisierbarkeit ist, nicht bloße Verifikation oder Falsifikation einer Theorie mittels eines Experiments; oder besser gesagt ist sie zwar all dies, aber mit einem immer stärkeren Akzent auf die Tätigkeit bei der Bestimmung des Wahren und des Falschen: jene Tätigkeit, die bei den Experimenten an den Anfängen der modernen Wissenschaft dem Zweck der theoretischen Vergewisserung zu dienen und ihm untergeordnet zu sein schien, erweist sich also, ganz anderer »Natur« zu sein (und es ist klar, dass diese »Natur« nur dann als eine wirklich andere Natur verstanden wird, wenn man das in der Verifikation bzw. Falsifikation involvierte »Tun« nicht paläosubjektivistisch als »Aktivität« eines Handelnden versteht, die der vermeintlichen »Passivität« oder Neutralität eines bloßen Betrachters symmetrisch gegenüberstünde). Aber im Lichte des Plans eines gesellschaftlichen Selbstmords – ein Plan, der für Hegel von immensem Interesse gewesen wäre, wenn die Technologie es zu seiner Zeit erlaubt hätte, daran zu denken – zeigt sich, dass die »technische« Möglichkeit von weitaus tieferer Bedeutung ist, als diese trivialen Oberflächenbetrachtungen erkennen lassen: eine Bedeutung, welche die Wurzeln der »logischen« 67 Möglichkeit de dicto und deren traditionelle Unterscheidung von der realen Möglichkeit de re berührt. Ob in dem Plan eines gesellschaftlichen Selbstmords die anscheinende (und in diesem Sinne etymologisch »apophantische«, nämlich logische, de dicto) Möglichkeit auch eine reale Möglichkeit ist, ist eine unentscheidbare Frage, von der nicht sicher ist, ob sie überhaupt sinnvoll ist. D. h., sie ist nicht »sinnvoll«, wenn dieses Wort im Gegensatz zu »unsinnig« oder »sinnlos« verstanden wird; sie ist weder sinnvoll noch unsinnig; sie ist »nur« äquivok. In der Tat ist die empirische Überprüfung des Plans per Definition unmöglich. Gewiss besteht diese Unmöglichkeit auch für den Plan eines individuellen Selbstmords; aber bei diesem letzteren Plan kann man sich analogisch-inferentieller Antizipationen auf der Grundlage des Todes Anderer bedienen, um sich des »eigenen« Erfolges zu vergewissern, d. h. um sich selbst des Endes seiner selbst 131 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

zu vergewissern; man kann sich nämlich mittels Imagination vorstellen, dass dieser Erfolg von den Analogisierten, mit denen der Planende die (gewöhnliche) Zukunft gemein hat, erfahren werden kann. Dagegen ist im Fall des Plans einer Selbstvernichtung, welche die Gemeinschaft bis hin zur Grenze des Horizonts der Gesellschaft miteinbezieht, die analogische Antizipation bloß empirischer Art nicht möglich, weil die totalisierende Ausweitung des Plans vielmehr die Auslöschung der (in äquivoker Weise zugleich empirischen und transzendentalen) Bedingung der Möglichkeit der gewöhnlichen, d. h. gemeinsamen Zukunft antizipiert. Im Falle der extremen Hypothese eines gesellschaftlichen Selbstmords zeigt sich in äußerst klarer Weise die – in äquivoker Weise sowohl empirische als auch transzendentale – Koinzidenz von allumfassendem Plan und totaler Unplanbarkeit, die wir oben bereits ausführlich untersucht haben. Auf die Totalität der Gesellschaft kann sich jedoch auch ein Plan richten, welcher der Selbsterhaltung dienen soll. Dies ist auch eigentlich der Normalfall. Zwischen dieser Möglichkeit und der Möglichkeit der Selbstvernichtung besteht jedoch keine perfekte Symmetrie. Der Plan der Selbstvernichtung kann über das »Ich« hinaus auch die Gemeinschaft miteinbeziehen; der Plan der Selbsterhaltung kann nicht anders als eine Gemeinschaft miteinzubeziehen (welcher Art auch immer die Herrschaftsverhältnisse innerhalb derselben sein mögen und wie tödlich die Kämpfe zwischen Herren und Knechten auch immer sein mögen); zudem kann der Plan der Erhaltung der Gemeinschaft so weit gehen, dass er die Selbstvernichtung des Planenden (das »Opfer« seiner selbst) als Preis bzw. Mittel der Erhaltung der Gemeinschaft einplant. Auch so weit gehende Pläne scheinen in der Geschichte der Menschheit vielfältig belegt zu sein, so wie wir oben daran erinnert haben, dass auch das gegenteilige Extrem der Selbstvernichtung der Gemeinschaft vielfältig belegt ist. Dem Selbstopfer für die Gemeinschaft ist das historische Gedächtnis jedoch pour cause in besonderer Weise verpflichtet, und dieses Opfer wird immer schon als höchster Beleg für den Unterschied der Menschheitsgeschichte gegenüber der Naturgeschichte angeführt, d. h. genauer gesagt für das »Sich-distinguieren«, durch die sie sich »über« die Naturgeschichte »erhebt«. Man muss sich jedoch nicht sogleich fragen, ob diese Möglichkeit 68 tatsächlich belegt ist, sondern vielmehr, ob sie überhaupt belegbar ist. Kant war der Auffassung, dass unter dem Gesichtspunkt der moralischen Erbauung und der »Geschichten«, die als moralisches Beispiel 132 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

herangezogen werden, kein Unterschied zwischen wahren Geschichten und erfundenen Geschichten bestehe, da es unmöglich sei, die Intention daran zu erkennen, wie sie sich empirisch manifestiert. Aber während diese Möglichkeit von Kant in hinreichend radikaler Weise gedacht wird, um auch die introspektive Vergewisserung darüber auszuschließen – so dass nur der »Herzenskündiger« wirklich beurteilen kann, ob die Absicht gut ist –, ist der nietzscheanische Verdacht durch eine tiefgreifendere und nicht überbietbare Radikalität gekennzeichnet: in der Verbindung zwischen Selbstopfer und Rachegeist ist die Aufhebung einer Theorie des radikalen Bösen, die es erlaubte, die Behauptung der Unergründlichkeit der Absicht mit der moralischen Instanz zusammen bestehen zu lassen, endgültig vollbracht. Wollte man versuchen, im Selbstopfer des Planenden ein Element zu finden, das die Menschheitsgeschichte von der Naturgeschichte unterscheidet, dann wählte man einen unwegsamen Weg, wie erbaulich diese Wahl auch immer sein mag und was auch immer die nützlichen bzw. »guten« Folgen dieser eventuellen Erbauung sein mögen. Ein allemal gangbarerer Weg zu einer solchen Unterscheidung besteht darin, sie in dem Plan der Selbstvernichtung der Gemeinschaft zu suchen. Auch die höheren Tiere opfern sich für »ihresgleichen« und für ihren menschlichen »Herren«. Wollte man daher das Unterscheidungsmerkmal in der selbstbewussten subjektiven Absicht finden, so würde man sich – abgesehen von den unüberwindlichen, sowohl empirischen als auch transzendentalen Problemen bezüglich der Annahme, andere Tierarten hätten überhaupt kein oder ein andersartiges Bewusstsein – niemals von dem Verdacht befreien können, dass diese Absicht einen unbewussten Hintergrund hat. Der Plan der Selbstvernichtung dagegen, was auch immer dessen unbewusste Hintergründe sein mögen, ist als solcher – nämlich als Plan, als Versuchung (wenn nicht schon als Versuch), als technische Möglichkeit, d. h. als »scheinbare« technische Möglichkeit (wenn nicht schon als Versuchung) – hinreichend, um die Menschheitsgeschichte von der Naturgeschichte zu unterscheiden; zumindest in dem Sinne, dass er sie »spezifiziert«, d. h. in dem Sinne, dass sie als die Geschichte einer menschlichen »Spezies« erscheint, deren planerisches Vermögen sich nicht bloß graduell von demjenigen anderer tierischer Spezies unterscheidet, sondern dies in einer Weise tut, die – auch wenn sie quantitativen Ursprungs sein sollte – einen qualitativen Sprung wie denjenigen gestattet, aufgrund dessen der Plan der 133 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft

Selbsterhaltung in einen Plan der Selbstvernichtung umschlagen kann, der die genannte gemeinschaftliche bzw. gesellschaftliche Dimension betrifft. In ethologischer und sozialbiologischer Perspektive wird Ethik bekanntlich als ein Modus der Selbsterhaltung der Spezies angesehen, so dass dieser Perspektive zufolge »ethische« oder »moralische« Verhaltensweisen nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen Tierarten angetroffen werden können. 11 Kollektive Selbstmorde, die man bei einigen Tierarten beobachten kann, lassen sich dann, wenn sie regelmäßig auftreten, auf den Normalfall der Erhaltung 69 der Art zurückführen (wenn sie ausnahmsweise auftreten, sind sie nicht leicht »interpretierbar«; sie ergeben sich aber jedenfalls aus einer spontanen Beziehung zwischen den Selbstmördern und entbehren jener Vermittlung durch technische Mittel, welche eins ist mit der Ausweitung des Horizonts bis hin zur Totalität der dritten Person). Das von uns herausgestellte Fehlen einer Symmetrie zwischen dem Plan der Selbstvernichtung und dem Plan der Selbsterhaltung – d. h. die Tatsache, dass der Plan der Selbstvernichtung über das »Ich« hinaus auch die Gemeinschaft einbeziehen kann, während der Plan der Selbsterhaltung nicht anders kann, als die Gemeinschaft einzubeziehen – erlaubt es nun aber vielleicht, ein Unterscheidungsmerkmal zwischen tierischer Ethik und »menschlicher« Ethik zu gewinnen, und sei es auch nur ein negatives Merkmal, ein »unmoralisches« Merkmal wie das der völligen Vernichtung. Was aber positive Merkmale betrifft, ist die Frage äquivok. Der Verdacht, so haben wir gesehen, lastet auf jeder Absicht, die vorgibt, moralisch zu sein. Dies aber hängt von der Tatsache ab, dass es sich eben um eine Absicht handelt, d. h. um Selbstbewusstsein bzw. um den Anspruch des Selbstbewusstseins (äquivoker Genitiv). Die »anderen« Tiere – d. h. die nicht analogisierten Tiere – opfern sich instinktiv für »ihresgleichen« und für diejenigen, die sie, indem sie sie retten, sich selbst ähnlich machen. Aber das Tier, das durch die Analogisierung, die in der Allokution-Interlokution stattfindet, zu einem selbstbewussten und beabsichtigenden Tier geworden ist, das zôon lógon échon, das Tier, das sich selbst und »alle«, die es sich angeglichen hat, vernichten kann (oder dem es so scheint, dies tun zu können), dieses Tier findet sich, wenn es sich opfert, vor der Unmöglichkeit, das Opfer für die »zweite« Person (im Singular oder im Plural: jene Person, die als derjenige Teil des »wir« zurückbleibt, dessen Überleben durch das persönliche oder gemeinsame Opfer sicherstellt 134 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erinnerung, Entwurf, Selbsterhaltung

wird) und das Opfer für die immer abwesende, immer abwesend gegenwärtige »dritte« Person nahtlos miteinander zu verbinden. Dies ist die Stelle, an welcher sich der Verdacht einschleicht; dies ist die Stelle, an welcher der Verdacht den Boden findet, auf welchem er gedeihen kann. Die paradoxe Kontinuität-Diskontinuität, welche die »dritte Person« als Totalisierung der Analogie und als endgültige Transformation der Ana-logie in Logik kennzeichnet, verhindert die Universalisierung der Absicht und das verantwortungsvolle Kalkül: sie verhindert, um es mit Heidegger zu sagen, das reor der ratio.m In den zeitgenössischen Strömungen, welche die Ethik als »erste Philosophie« denken – Strömungen, deren kritischer Diskussion der nächste Teil dieses Werks gewidmet ist –, kommt diese Aporie zum Vorschein.

Anmerkungen Man siehe hierzu R. Döbert, Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Zur Logik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus, Frankfurt a. M. 1973. 2 H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, Mainz 1969 (Ak. d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. Geistes- u. sozialwiss. Klasse, Nr. 11). 3 D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift f. H. G. Gadamer zum 60. Geburtstag, hrsg. v. D. Henrich, W. Schulz, K.-H. VolkmannSchluck, Tübingen 1960, S. 77–115. 4 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977; vgl. § 9 und passim. 5 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Göttingen 1988, S. 381. 6 Vgl. über die in Anmerkung 3 zitierte Schrift hinaus D. Henrichs Aufsatz The Basic Structure of Modern Philosophy, in Cultural Hermeneutics, 2 (1974), S. 1–18; dieser Aufsatz ist dann auch auf Deutsch (Die Grundstruktur der modernen Philosophie) mit einem wichtigen Ergänzungstext (Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung) erschienen in H. Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a. M. 1976, S. 97–143. 7 Vgl. die Nachschrift über Selbstbewusstsein und Selbsterhaltung, op. cit., S. 122– 143. 1

m

Von der angegebenen Stelle auf S. 64 bis hierhin entspricht der Text dieses Kapitels, abgesehen von einer längeren Hinzufügung (vgl. S. 62–64), im Wesentlichen dem Aufsatz MMO-140, der an dieser Stelle endet.

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Erster Teil: Abwesenheit und Gesellschaft Die wesentlichen Momente dieser Diskussion (Schriften von M. Horkheimer, R. Spaemann, D. Henrich, H. Blumenberg, G. Buck, U. Guzzoni, M. Sommer, H. Ebeling) sind in der genannten Veröffentlichung versammelt. 9 D. Henrich, op. cit., S. 113. 10 Wie die Philosophen ihrerseits nach dem Krieg die theoretische Ausarbeitung der Probleme auf sich nahmen, die sich aus dem Risiko der atomaren Vernichtung ergaben (das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich Jaspers), so begegnen sie dem Problem der totalen Vernichtung heute vor allem unter ökologischem Gesichtspunkt. Es fehlt dabei nicht an Stimmen, die von einem weiten und umfassenden Geist zeugen, wie z. B. die von H. Jonas, der das »Prinzip Verantwortung« eben gerade ausgehend (im biographischen Sinne) von den tragischen Kriegserfahrungen theoretisch ausgearbeitet hat, um im US-amerikanischen Exil dann die Erfahrung der technologischen Hyperentwicklung miteinzubeziehen. Aber das gemeinsame Kennzeichen all dieses Engagements der Philosophen gegenüber dem Risiko der totalen Vernichtung (was auch immer die technischen Modalitäten dieser Vernichtung sein mögen) besteht in dem Versuch, mittels theoretischer Argumentationen die Verantwortung als Modus zu mobilisieren, um das zu vermeiden, was offensichtlich zu meiden ist. Der Ausnahmecharakter Enrico Castellis besteht in dieser Hinsicht darin, dass er die totale Vernichtung als extreme Versuchung gedacht und d a r g e s t e l l t hat (mittels eines paradoxen casus conscientiae, in dem der Wissenschaftler seine Absicht, die Welt mit einer atomaren Explosion zu vernichten, dämonischerweise dem Beichtvater mitteilt, der an das katholische Beichtgeheimnis gebunden ist): vgl. »Il caso definitivo: l’ultimo colloquio« in I presupposti di una teologia della storia, Milano 1952, S. 145–154, sowie die gleich daran anschließende »Conclusione« dieses Werks, S. 155–160 (das kulturelle Klima war natürlich dasjenige des »Existenzialismus« der Nachkriegszeit). 11 Vgl. z. B. E. Menaker & W. Menaker, Psicologia dell’io e teoria dell’evoluzione [Ego in evolution], ital. Übers., Roma 1979, S. 172–192. Zum Altruismus bei Tieren gibt es eine ziemlich reichhaltige Literatur in Gestalt von Büchern und Aufsätzen in Fachzeitschriften zur Soziobiologie; vgl. zuletzt C. J. Cela Conde, Altruismo biológico y altruismo moral, in Taula, Nr. 12 (1991), S. 35–47 (mit den relevanten bibliographischen Hinweisen). Interessant ist bezüglich der hier angesprochenen Probleme außerdem S. R. L. Clark, The Nature of the Beast: Are Animals Moral?, Oxford 1984. 8

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Zweiter Teil Kommunikation und Ethik

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Viertes Kapitel a Umkehrung der transzendentalen Apperzeption

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Autrement qu’être ist ein Titel – und ein Motto –, der die Provokation und die Bedeutung nicht erschöpfend zum Ausdruck bringt, die von Levinas’ Denken für die heutige Philosophie ausgehen; er lässt nämlich einen grundlegenden Aspekt von Levinas’ Denkentwurf, wenn nicht unbeachtet, so doch zumindest implizit bleiben. Denn nicht weniger als von der Ontologie der philosophischen Tradition des Abendlandes distanziert sich Levinas von deren Konzeption der Subjektivität. Es ist offensichtlich, dass diese beiden Aspekte miteinander zusammenhängen; gleichwohl scheint es uns nützlich, die Aufmerksamkeit auf das Problem der Subjektivität zu lenken, sowohl wegen der Bedeutung, die dieses Problem in Levinas’ eigenem Denken hat (unter anderem lassen sich gerade bezüglich des Problems der Subjektivität die signifikantesten Veränderungen identifizieren, die sich von Totalité et infini bis Autrement qu’être vollzogen haben), als auch deswegen, weil wir auf diese Weise die Aporie beleuchten können, die in der Kontinuität-Diskontinuität zwischen zweiter und dritter Person besteht; Letzteres stellt eines der Ziele des zweiten Teils dieses Buchs dar. Für das Denken der Moderne im Allgemeinen und insbesondere auch für Levinas selbst ist charakteristisch, dass man von einer bestimmten Konzeption der Subjektivität aus zum Problem der Ontologie gelangt (sofern man überhaupt dazu gelangt), und nicht umgekehrt. Auch lässt sich der Gang der abendländischen Philosophie a

Der Text dieses Kapitels entspricht im Wesentlichen dem Text eines Aufsatzes, der im Jahr 1985 auf Italienisch unter dem Titel Intersoggettività, alterità, etica. Domande filosofiche a E. Levinas (MMO-98) und bereits im Jahr 1984 in leicht verkürzter Form auf Deutsch unter dem Titel Philosophische Fragen an das Werk von Emmanuel Levinas (MMO-93) erschienen ist. Der mittlere Teil dieses Aufsatzes war bereits im Jahr 1983 an anderer Stelle auf Deutsch unter dem Titel Ethica inter homines: zu den heutigen (westlichen) Versuchen, Ethik neu zu denken erschienen (MMO-85). Der diesem Teil entsprechende Textabschnitt ist durch Fußnoten gekennzeichnet.

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Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

nicht vollständig als Übergang von einer Epoche des Seins zu einer Epoche des Subjekts beschreiben; denn im Anschluss an das, was auch wir als linguistic turn bezeichnen können, ist auf die Epoche des Subjekts ohne Zweifel die Epoche der Sprache gefolgt. In der Tat ist der Gesichtspunkt der Sprache besonders geeignet, um das Denken von Levinas in Augenschein zu nehmen; wie wir sehen werden, ist das levinassche Verständnis der Sprache imstande, sich in suggestiver und nützlicher Weise mit den aktuellen Positionen der Sprachphilosophie und insbesondere der Sprachpragmatik auseinanderzusetzen. Auch um dies darlegen zu können, ist es aber nötig, die levinassche Infragestellung der Subjektivität einer vorläufigen Untersuchung und Interpretation zu unterziehen. Das »Ich denke« als höchste Form des Urteils, unter welcher unsere subjektive Erfahrung möglich wird und sich ordnet, als Bewusstsein, das alle Erfahrung immer begleitet, kurz gesagt: die transzen74 dentale Apperzeption – um Kants Terminus zu gebrauchen – ist die Weise, in der die Subjektivität von der modernen Philosophie gedacht worden ist. Levinas setzt sich nun mit derselben Entschiedenheit, mit der er dafür eintritt, von einer Philosophie des Seins zu einer Philosophie des autrement qu’être überzugehen, dafür ein, von einem Subjektivismus, der in der transzendentalen Einheit der Apperzeption seinen »höchsten Punkt« findet (wir gebrauchen hier erneut eine von Kants berühmten Formulierungen), zu einem autrement des cogito bzw. des »ich denke« überzugehen, d. h.: a) zu einem Subjekt, das ursprünglich durch das Denken weder konstituiert wird noch darin besteht; b) zu einem Subjekt, das ursprünglich durch den Nominativ »ich« weder konstituiert wird noch darin besteht; c) zu einem Subjekt, das ursprünglich weder ontologisch als Substanz und/oder Freiheit konstituiert ist noch ontologisch als Substanz und/oder Freiheit besteht. Bei Levinas ist die Subjektivität vielmehr als »Subjektion« b (sujétion) konstituiert. 1 b

Zur Übersetzung des französischen Terminus sujétion, der auf Italienisch durch den etymologisch analogen Terminus soggezione wiedergegeben wird, findet sich in dem diesem Kapitel zugrundeliegenden Aufsatz MMO-93, S. 43, die folgende Anmerkung, die nicht als Anmerkung des Übersetzers gekennzeichnet ist, sondern als Anmerkung des Autors erscheint: »Mit ›Subjektion‹ statt mit ›Unterwerfung‹ übersetze ich das Levinas’sche sujétion, damit die semantische Beziehung mit ›Subjekt‹ behalten wird. In einer solchen gewagten Übersetzung fühle ich mich dadurch unterstützt, dass der Terminus ›Subjektion‹ schon von Franz Baader benutzt wird (vgl. dessen ›Vor-

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Umkehrung der transzendentalen Apperzeption

a) Das Subjekt ist ursprünglich kein Denken. Es läge daher nahe zu sagen, es sei ein Handeln. Eine derartige Alternative kommt zum einen deshalb wie selbstverständlich in den Sinn, weil abendländische Philosophen – man könnte sagen: von jeher – daran gewöhnt sind, zwischen Denken und Handeln, Logik und Ethik, reiner Vernunft und praktischer Vernunft, oder wie auch immer man diese schicksalsträchtige Dyade zum Ausdruck bringen will, zu unterscheiden; zum anderen kommt diese Alternative deshalb wie selbstverständlich in den Sinn, weil die banalisierende Rezeption des mittlerweile berühmt gewordenen Levinas ihn als einen Philosophen darstellt, für den Ethik die erste Philosophie ist, und dabei die Auffassung suggeriert, er sei ein Moralist. Levinas ist jedoch gerade darum bemüht, die eherne und einheitliche Regel des Spiels der Dyaden, das von den gegensätzlichen Tendenzen des abendländischen Denkens gespielt wird, zu durchbrechen: dieses Spiel ist ein und dasselbe Spiel, es funktioniert nicht trotz, sondern dank der Unterscheidungen, die es unterteilen, und der Gegensätze, die sich in ihm wechselseitig herausfordern. Das Subjekt ist ursprünglich kein Denken, es ist ursprünglich keine praktische Aktivität und es ist ursprünglich auch keine Passivität, wenn man unter Passivität das bloße Gegenteil von Aktivität oder jedenfalls den anderen Pol einer Dyade versteht, die sich genauso im Spiel der wechselseitigen Bestimmung definiert, wie sich Denken und Sein darin definieren. Die Subjektion ist kein Denken, kein Handeln, kein passives Erleiden, sondern eine »Passivität, die passiver ist als jede Passivität«: passiver als jede Passivität, die kraft der negativen Bestimmung seitens der Aktivität gedacht wird. Die absolute Passivität der Subjektion bzw. des Subjekts wird von Levinas mit Begriffen wie »der-Eine-für-den-Anderen« (l’un-pour-l’autre), »Entkernung« c (dénucléation) oder »Stellvertretung« (substitution) zum Ausdruck gebracht. lesungen über spekulative Dogmatik‹, in: Sämtliche Werke, hrsg. von F. Hoffmann u. a., Bd. 8, Aalen 1963, 162, passim; diesen Hinweis verdanke ich Herrn Dr. HeinzJürgen Görtz.« Aufgrund der analogen Etymologie klingt im Terminus »Subjektion« ebenso wie im Terminus sujétion sowohl der Begriff der Unterwerfung, d. h. des Unterwerfens bzw. Unterworfenseins, als auch der Begriff der Subjektwerdung, d. h. des Zum-Subjekt-machens bzw. Zum-Subjekt-gemacht-werdens, an. Vgl. hierzu die Ausführungen auf S. 134 f. c In seiner Übersetzung von Autrement qu’être übersetzt Thomas Wiemer den Begriff der dénucléation meist mit »Auflösung des Kerns«. Die buchstäblichere und auch in der Literatur weiter verbreitete Übersetzung dieses Begriffs wird sich hier jedoch im Folgenden als sprachlich und begrifflich geeigneter erweisen.

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Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

b) Das Subjekt, das ursprünglich kein Denken (logisches Subjekt) ist, ist ursprünglich ebenso wenig der Nominativ »ich« (grammatisches Subjekt), sondern der Akkusativ »mich«, es ist ursprünglich nicht das erste, sondern das zweite Wort, es ist nicht einfach Wort, sondern Antwort. Die Subjektion ist: »hier, sieh mich« (me voici; Levinas denkt dabei sicherlich an die Antwort des biblischen Samuel). d c) Das Subjekt, das ursprünglich weder Denken noch Nominativ 75 ist, ist ursprünglich ebenso wenig ontologisches Subjekt, d. h. es ist nicht als Substanz und daher auch nicht als causa sui und daher auch nicht als Freiheit zu denken. Die ontologische Absolutheit, die Absolutheit der »Ethik« im Sinne Spinozas, die Absolutheit der causa sui, welche die Kategorien der Relation – Substanz, Ursache, Wechselwirkung – in sich einschließt und die eben aufgrund dieses Ein- und Abschließens absolut ist, zumal nichts außerhalb bleibt, macht bei Levinas, indem er das Subjekt als Subjektion versteht, einer anders verstandenen Absolutheit Platz, nämlich einem Prozess der »Ab-solution« und Loslösung (absolution), e der »Entkernung« und Auflösung (dénucléation) jeglicher stance, jeglichen »Standpunkts« f der vorgeblichen Substanz, einem Prozess der unendlichen Veräußerlichung; einem Prozess, der mit dem levinasschen Begriff der »Verunendlichung« (infinition) bezeichnet werden kann. Diese schematische Darstellung, die wir von dem autrement, d. h. von der anderen Art und Weise geben zu können glaubten, in der Levinas das Subjekt im Vergleich zum cogito-»ich denke« konzipiert, wirft offensichtlich eine Reihe von Fragen auf, die unsere Ausführungen anbelangen und die wir erörtern werden, insofern sie von Levinas d Im Gegensatz zu den Worten »Siehe, hier bin ich«, mit denen die Antwort des biblischen Samuel traditionell ins Deutsche übersetzt wird, thematisiert die hier von Thomas Wiemer übernommene Übersetzung des levinasschen »me voici« das Subjekt nicht im Nominativ, sondern – wie von Levinas intendiert – im Akkusativ. e Im etymologischen Sinne von »Absolution«. In seiner Übersetzung von Autrement qu’être übersetzt Wiemer diesen Begriff daher mit »Entbindung« bzw. »Loslösung [absolution]«. f Das Wort »Standpunkt« übersetzt hier das semantisch vielschichtige und in Anführungsstrichen zitierte Substantiv stanza (von lat. stare), das ursprünglich die Tatsache des Stehens, Stehenbleibens und Verweilens bzw. den Ort bezeichnet, an dem man steht, stehenbleibt und verweilt, hier aber erstens an den etymologisch analogen englischen Terminus stance anknüpft, zweitens den Wortstamm des gleich nachfolgend thematisierten Begriffs der »Substanz« (sostanza) vorwegnimmt, und drittens in Verbindung mit dem Begriff der »Entkernung« (dénucléation) an einen geschlossenen Raum denken lässt, der durch dessen »Entkernung« gleichsam ausgehöhlt wird.

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selbst aufgeworfen werden oder an Levinas gerichtet werden können und müssen. Zuvor jedoch möchten wir bezüglich der schematischen Darstellung, die wir geben zu können glaubten, zwei Bemerkungen vorausschicken. Wir möchten erstens präzisieren, dass diese Darstellung den Akzent in markanter Weise auf die Konzeption des Subjekts setzt, wie sie sich in Autrement qu’être darstellt. Diese Akzentsetzung ist deshalb besonders markant und sehr interpretationsbedingt, weil sie Autrement qu’être als einen Ankunftspunkt betrachtet, der nicht einfach eine lineare Entwicklung impliziert, sondern eine Entwicklung, welche gewissermaßen auch einer Umkehrung des Verständnisses von Subjektivität gleichkommt, wie es sich durch Totalité et infini dargestellt. Dass diese Umkehrung keinen Bruch darstellt, sondern sich aus einem Entwicklungsprozess ergibt und daher das vorhergehende Werk nicht nur biographisch, sondern auch logisch voraussetzt, zeigt sich wenn nicht anders daran, dass Levinas in Autrement qu’être verschiedene Themen wieder aufgreift, die er schon vor Totalité et infini bearbeitet hatte. Gleichwohl scheint es uns, dass Levinas im Vergleich zu dem Nachdruck, mit dem er in Totalité et infini das Motiv der »Trennung« (séparation) betont und somit die Bewegung der Interiorisierung als privilegiertes Moment des Sichkonstituierens von Subjektivität beschreibt, in Autrement qu’être die Perspektive umkehrt, indem er eine paradoxe Konstitution der Subjektivität als Veräußerlichung skizziert, und zwar als eine passive Veräußerlichung, die nicht in einem bloßen Sichausdrücken des Subjekts, sondern in einer »Entkernung« seitens des Anderen stattfindet. Es gibt viele Textpassagen, an denen sich eine derartige Tendenz nachweisen ließe. 2 Die zweite Bemerkung bezüglich der schematischen Darstellung, die wir von der in Autrement qu’être vollzogenen Transformation der Subjektivität gegeben haben, soll lediglich etwas unterstreichen, was bereits in dieser Darstellung selbst offensichtlich sein dürfte, was zu betonen aber gleichwohl nicht unnütz ist, weil es sich dabei – wie wir 76 bald zu sehen beginnen werden – um eine Charakteristik handelt, die reich an historischen und theoretischen Implikationen ist. Genauso wie dies für das autrement qu’être der Fall ist, bringt das »nicht so, sondern so«, durch das wir den von Levinas überdachten Begriff der Subjektivität beschrieben hatten, keinen logischen Gegensatz zum Ausdruck, d. h. keinen Gegensatz, der einer wechselseitigen Bestimmung bzw. einer negativen Bestimmung (Spinozas determinatio seu negatio) stattgibt. Wenn dem so wäre, dann hätten wir es mit einer 143 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Differenz zu tun, die einer umfassenderen Homogenität unter- und nachgeordnet wäre, kraft derer sich die fraglichen Begriffe, da sie auf der gleichen Ebene angesiedelt wären, entgegensetzen und wechselseitig bestimmen können. Die Aussage »nicht logisches Subjekt, sondern ethisches Subjekt« zielt dagegen vielmehr darauf ab, ein Übergehen auf eine andere Ebene, ein Transzendieren zu bezeichnen; nur auf Grundlage dieses Transzendierens kann es auf der Ebene, die man hinter sich zurücklässt, den logischen Gegensatz zwischen Aktivität und Passivität geben (vorausgesetzt, dass das logische Subjekt gemäß der Tradition des cogito-»ich denke« als aktiv, das sinnliche Subjekt dagegen als passiv verstanden wird). Dieser Übergang, der den Gegensatz auf der Ebene, über die man hinausgeht, nicht nur bestehen lässt, sondern ihn stiftet oder zumindest ermöglicht, stellt daher keine Ablehnung des logischen Subjekts dar. Die Subjektion ist ein autrement, welches das aktive Subjekt (ebenso wie das passive Subjekt der Sinnlichkeit) ermöglicht. Die Aussage »nicht Nominativ, sondern Akkusativ« bedeutet nicht, auf derselben Ebene einen grammatischen Kasus einem anderen grammatischen Kasus entgegenzusetzen, die sich beide wechselseitig bestimmen, sondern sie bedeutet, auf eine andere Ebene überzugehen: der Akkusativ als das, was den Nominativ derselben Person ermöglicht, als das, was die Selbigkeit, die Identität der Person ermöglicht, wodurch diese Person von anderen Personen verschieden ist, denen gegenüber sich ihre eigene Identität definiert. Die Aussage »nicht Substanz und nicht absolute Freiheit, nicht causa sui« bedeutet nicht, auf derselben Ebene die Substanz der Akzidenz oder die Freiheit der Bestimmtheit entgegenzusetzen, sondern sie bedeutet, auf eine andere Ebene überzugehen, welche auf diese Weise die Identität des Subjekts, sein ontologisches Sichsubstanzialisieren und seine freie Selbstbestimmung als dasjenige ermöglicht, was all jenem entgegengesetzt ist. Mehr noch als das autrement qu’être stellt das auf das Subjekt bezogene »nicht so, sondern so« eine Herausforderung an die logische Struktur des Diskurses dar (Levinas versäumt schon in Totalité et infini nicht zu betonen, dass er auf eine andere Ebene als die der formalen Logik übergeht) 3; ja es stellt ein Übergehen auf eine Ebene dar, die von der des Diskurses verschieden ist. Der levinassche Übergang vom »Gesagten« zum »Sagen« ist sehr viel radikaler als der Übergang, den die zeitgenössische Epistemologie und Sprachphiloso144 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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phie meinen, wenn sie von »Metasprache« reden: es ist ein »metaphysischer« Übergang. Nun gilt es aber anzumerken, dass im Verlauf der Philosophiegeschichte ein in verschiedener Hinsicht dem von Levinas ähnlicher Versuch des Rückstiegs, der Transzendierung, des Wechsels der Ebene 77 – oder wie auch immer man diesen Sachverhalt benennen mag – bereits von Fichte unternommen worden ist. Fichte zählt nicht zu den Philosophen, auf die Levinas häufig Bezug nimmt. Wenn wir hier an Fichtes Denken erinnern, so entbehrt dies dennoch nicht einer konkreten geschichtlichen Grundlage, welche es unter anderem erlaubt, die theoretischen Entsprechungen zu erklären. Es scheint uns hilfreich zu sein, diese Entsprechungen im Folgenden aufzuzeigen. Auch bei Fichte äußert und entfaltet sich der grundlegende Charakter, den die »praktische« Philosophie gegenüber der »theoretischen« Philosophie besitzt, in der These, dass das Sein, da es vermittelt ist und deduziert werden kann, nicht der unmittelbare Gegenstand dessen ist, was wir »erste Philosophie« nennen könnten. Auch bei Fichte konkretisiert sich der Versuch, über das Sein hinaus zurückzusteigen, in dem Versuch, auf eine andere Ebene überzugehen, auf der nicht mehr das Spiel der wechselseitigen Bestimmung der Gegensätze zum Austrag kommt. Auch bei Fichte bringt der Rückstieg auf eine meta-ontologische Ebene einen Rückstieg vom Gesagten zum Sagen mit sich, wie es Levinas ausdrückt, bzw., um Begriffe zu gebrauchen, die auch Fichte verwendet, vom Buchstaben zum Geist; 4 bei Fichte wie bei Levinas kann man daher das nur scheinbar paradoxe Phänomens einer Sprachphilosophie beobachten, die in demselben Moment, in dem sie die grundlegende Bedeutung der Sprache erkennt, das Interesse an der formulierten Sprache verliert, da sie der Auffassung ist, dass das gesamte Interesse auf eine andere Ebene zu richten sei; 5 dies hat die offensichtliche Konsequenz, dass sich beide Denker bei ihren Ausführungen über diese ursprüngliche Ebene eines erstaunlich veränderlichen Wortschatzes bedienen. Diese Analogien zwischen den beiden Denkern wurzeln in zwei Konzeptionen des Subjekts, die zwar selbst einander analog sind, aber in völligem wechselseitigem Gegensatz zueinander stehen: beinahe so, als handelte es sich um Spiegelbilder. Fichtes absolute Aktivität des in der intellektuellen Anschauung begriffenen transzendentalen Ichs, also die Aktivität, die jeder Aktivität, welche in einem Verhältnis des Gegensatzes und der wechselseitigen Bestimmung zur Passivität steht, vorgängig und übergeordnet ist, findet bei Levinas, wie wir 145 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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gesehen haben, ihr Gegenstück in der Passivität, die passiver ist als jede Passivität und als solche das entkernte Ich, das Mich, die Subjektion definiert. Die Frage wird also sein, bis zu welchem Punkt und unter welchen Bedingungen Levinas’ philosophischer Entwurf gegenüber dem, was in der philosophischen Tradition, aus welcher er hervorgeht, bereits gesagt worden ist, einen wirklichen Schritt darüber hinaus (oder wenn man so will, einen wirklichen S c h r i t t z u r ü c k ) darstellt und es somit vermeidet, abermals zu einer wenngleich auch radikalen Umkehrung von Positionen zu führen, die im Rahmen der Subjektivitätsphilosophie bereits formuliert worden sind. Das Risiko, sich im Spiel der wechselseitigen Bestimmungen zu verfangen, zeigt, wie schwierig der entscheidende Schritt ist, der auf die vermeintliche Metaebene transzendieren will. Tatsächlich ist der historische Rahmen, in welchem sich Levinas’ 78 philosophischer Entwurf entfaltet und in Bezug auf welchen das Gelingen des Schritts darüber hinaus zu beurteilen ist, eben derjenige Rahmen, den wir mit unserem Verweis auf Fichte in Erinnerung gerufen haben, denn es ist der Rahmen einer »Transzendentalphilosophie«, die sich in »erste Philosophie« transformiert. Von einem rein terminologischen Gesichtspunkt aus betrachtet geschieht diese Transformation mit Husserl, zumal dieser die »transzendentale« Phänomenologie als E r s t e P h i l o s o p h i e bezeichnet (aller Wahrscheinlichkeit nach hat Levinas sehr viel mehr Husserl als Aristoteles mit kritischer Absicht im Sinn, wenn er die Ethik als »erste Philosophie« bezeichnet; oder, wenn man so will, hat Levinas wahrscheinlich den Descartes der Meditationes de prima philosophia im Sinn, dies jedoch nicht ohne deren Reduplikation in Gestalt von Husserls Cartesianischen Meditationen); in der Sache jedoch kommt es mit Fichte zum ersten Mal zu einer protologischen Transformation der von Kant auf den Weg gebrachten Transzendentalphilosophie: von jenem Kant, auf den sich auch Husserl in eben dem Moment explizit beruft, in dem auch er selbst eine protologische Transformation der transzendentalen Apperzeption herbeiführt. 6 Der Husserl der Cartesianischen Meditationen wird dann das solipsistische Verständnis des reinen Ich kritisieren und ein transzendentales Bewusstsein anvisieren, bei dem der monadologische Charakter den intersubjektiven nicht ausschließt. Intersubjektivität aber wird von Fichte in der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1798 in einer Weise aus dem Ich deduziert, die manche seiner Interpreten zu der These veranlasst hat, 146 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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die Wissenschaftslehre »nova methodo« stelle einen Neuentwurf der leibnizschen Monadologie dar. 7 Natürlich geht es hier nicht darum, zu erörtern, was Husserl über Fichte wusste (oder wissen konnte, zumal die Wissenschaftslehre »nova methodo« zum ersten Mal im Jahr 1937 veröffentlicht worden ist). Es geht vielmehr darum, die gesamte Weite eines historischen Rahmens aufzuzeigen, dessen Horizont durch den Bezug auf die transzendentale Apperzeption umrissen ist. Dass Fichte sich vornahm, der Philosoph der (protologisch verstandenen) transzendentalen Apperzeption zu sein, hat er selbst nicht nur in einer oder in den ersten Fassungen der Wissenschaftslehre, sondern in allen Formulierungen der Wissenschaftslehre zum Ausdruck gebracht, die er im Verlauf seines Schaffens beharrlich immer wieder neu formuliert hat. Dass Husserls Entwurf einer e r s t e n P h i l o s o p h i e sich im Überdenken der transzendentalen Apperzeption verwirklicht, ist ebenso offensichtlich. Vor allem in dem Moment, in dem er mit Autrement qu’être zu einer radikalen Neudefinition der Subjektivität als »Subjektion« und »Substitution« kommt, betont Levinas immer wieder das Hinausgehen über die transzendentale Apperzeption, welches das neue Verständnis des Subjekts mit sich bringt. 8 Beim wiederholten Gebrauch des Begriffs »transzendentale Apperzeption« als desjenigen, worüber hinausgegangen werden müsse, um das autrement des Subjekts zu verstehen, bezieht sich Levinas offensichtlich eher auf Husserl als auf Kant; von Kant zieht Levinas eher, und zwar befürwortend, den 79 ethisch-praktischen Aspekt in Betracht, wie zahlreiche Bezugnahmen bezeugen. 9 Aber eben in diesem Hinausgehen über eine erkenntnismäßig verstandene transzendentale Apperzeption, um eine ethische Ebene zu erreichen, ist das Verhältnis von Levinas zu Husserl nicht unähnlich dem Verhältnis von Fichte zu Kant; dies erklärt die Symmetrie zwischen den sich jeweils daraus ergebenden Positionen: auf der einen Seite eine Aktivität, die aktiver ist als jede Aktivität, und auf der anderen Seite eine Passivität, die passiver ist als jede Passivität; auf der einen Seite die »intellektuelle Anschauung«, die Umkehrung des kantschen Ansatzes, welche Fichte übrigens als dessen Vervollständigung erschien; auf der anderen Seite die »Offenbarung« und die Umkehrung der husserlschen Bewegung der Intentionalität; auf der einen Seite das in der Anschauung erreichte »positive Noumenon« (wie Kant es genannt hatte, der es allerdings für unerreichbar erklärt hatte) 10; auf der anderen Seite gleichsam das negative Phänomen, das »umgekehrte« 147 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Phänomen des »Gesichts« g (das eben aufgrund dieser Umkehrung nach Totalité et infini vor allem zu einem taktilen Phänomen wird, zu runzeliger Haut, welche eine »Spur« offenbart) 11. Diese Symmetrien liefern eine historische Erläuterung und Motivation der von uns bereits gestellten und in theoretischer Hinsicht wieder zu stellenden Frage bezüglich der Gefahr, dass auch der Denkentwurf von Levinas im Spiel der wechselseitigen negativen Bestimmung verfangen bleibt. Doch das historische Panorama wäre nicht vollständig und die theoretische Bewertung somit nicht adäquat zu treffen, wenn man außer Betracht ließe, dass Levinas andererseits wie kein anderer das Erfordernis einer Weiterentwicklung artikuliert, das die von uns beschriebene philosophische Tradition an den Tag legt. Diesem Erfordernis, über das wir jetzt sprechen werden, hat die philosophische Tradition der transzendentalen Apperzeption nicht wirklich zu genügen gewusst. Es ist also letztlich zu klären, worauf sich der levinassche Denkentwurf berufen kann, um seinem Anspruch gerecht zu werden, über die Grenzen dieser Tradition hinauszugehen, so dass er erstmals und endgültig die Tendenz und die Tension befriedigt, die diese Tradition an den Tag gelegt hatte, und dabei gleichsam jede Gefahr eines Rückfalls vermeidet. Bei jedem der von uns erwähnten Autoren findet sich, dass die Tendenz, welche in der Tradition der transzendentalen Apperzeption zu Tage tritt, Tendenz zu einer intersubjektiven Transformation der transzendentalen Apperzeption selbst ist; bei Fichte und Husserl ist dies offensichtlich, aber inspiriert durch Sichtweisen wie die von Apel und Habermas neigt man heute dazu, sogar in Kants Kritik der reinen Vernunft die Anzeichen einer solchen Intersubjektivität aufzuspüren. 12 g

Olivetti übersetzt Levinas’ Begriff visage in diesem Buch hier und an anderen Stellen mit dem Wort volto, an anderen Stellen dagegen mit dem Wort viso. Während das Wort viso ähnlich wie das Wort »Gesicht« etymologisch den Aspekt des Sehens bzw. Gesehenwerdens des Gesichts betont, betont das Wort volto ähnlich wie das Wort »Antlitz« etymologisch den Aspekt der Zu- bzw. Entgegengewandtheit des Gesichts. Da das Wort »Antlitz« jedoch – wie Thomas Wiemer in seiner Übersetzung von Autrement qu’etre zu Recht betont – die Gefahr in sich birgt, die »Materialität« des Gesichts zu verdecken und eine »Aura der Erhabenheit« zu suggerieren, welche Olivettis Intentionen ebenso zuwiderliefe wie denen von Levinas, werden hier und im Folgenden sowohl das Wort viso als auch das Wort volto mit »Gesicht« übersetzt, zumal deren unterschiedliche Bedeutungsnuancen, sofern sie inhaltlich relevant sind, jeweils aus dem Kontext hervorgehen.

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Unseres Erachtens muss man nun aber Folgendes bedenken: wenn man den Solipsismus des cogito vermeiden will, dann kann der Weg dahin nicht darin bestehen, die durch das »ich denke« definierten Subjekte zu iterieren, d. h. den ersten der beiden Termini der Subjekt-Objekt-Struktur im Plural zu betrachten. Man ist nämlich 80 heutzutage umfassend vor den Problemen gewarnt, und man hat umfassend über die Probleme nachgedacht, die es mit sich bringt, wenn der andere Mensch auf einen Gegenstand reduziert wird, indem er im Rahmen des allgemeinen und/oder wissenschaftlichen Wissens betrachtet wird (man denke etwa an das behavioristische und später dann »kognitivistische« Bewusstsein der Experimentalpsychologie und an die problematischen Beziehungen, die sie eben deswegen mit der Tiefenpsychologie unterhält; man denke an die unabgeschlossene Debatte zwischen verstehenden und positivistischen Richtungen in den Sozialwissenschaften). Viel weniger gewarnt ist man davor und viel weniger nachgedacht hat man darüber, dass die verschiedenen, vergangenen oder gegenwärtigen Versuche, die transzendentale Apperzeption intersubjektiv zu transformieren, je mehr sie gelingen, umso mehr zu einer Transformation des Subjektes selbst führen. Die Intersubjektivität ist eben das äquivoke Zeichen dessen, was man in Analogie und in Zusammenhang mit der »ontologischen Differenz« als die »subjektive Differenz« in den Transzendentalphilosophien bezeichnen könnte. Ein »äquivokes« Zeichen im etymologischen Sinne dieses Wortes, d. h. ein Zeichen, in dem die »Amphibologie« 13 empirisches Subjekt-transzendentale Apperzeption zum Ausdruck kommt, bzw. ein Zeichen, das in dem gleichen Maße und in absoluter Unentschiedenheit (wiederum im etymologischen Sinne des letzteren Terminus) sowohl auf das Verständnis der transzendentalen Apperzeption im Sinne von Subjektivität, Bewusstsein und Apperzeption verweist als auch auf das gegenteilige, für das gegenwärtige Denken charakteristische Verständnis derselben, demzufolge das, was gemäß der Tradition des cogito transzendentale »Apperzeption« genannt worden ist, es erst im empirischen Bewusstsein mit dem Bewusstsein zu tun bekommt. Was aber ist es, was über die tradierte Terminologie hinaus auch diejenigen Philosophien, die sich in Bezug auf die transzendentale Apperzeption dem Problem der Intersubjektivität stellen, dazu veranlasst, die transzendentale Apperzeption in einem zwar nicht mehr substanzialistischen, aber immer noch subjektivistischen Sinne zu denken (d. h. so, dass das »ich« des »ich denke« zwar nicht mehr als 149 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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ontologisches, aber immer noch als logisches und grammatisches Subjekt gedacht wird)? Die Antwort ist sowohl in historischer Hinsicht (d. h., wenn man an die von uns bislang erwähnten Autoren der Moderne und der Gegenwart denkt, natürlich mit Ausnahme von Levinas) als auch in theoretischer Hinsicht offensichtlich: es ist die (im wahrsten Sinne des Wortes) thematische Zentralität des Objektproblems als eines Problems, an dem sich die Frage allgemeinen und/ oder wissenschaftlichen Wissens konkretisiert. Diese Antwort ist offensichtlich, ja vielleicht tautologisch, aber dennoch reich an Hinweisen. Husserls Idee eines Bewusstseins ohne Welt, 14 zum Beispiel, würde Zweifel am tautologischen Charakter dieser Antwort schüren; aber eine derartige Idee kann sich nur auf der Grundlage jener – von uns so bezeichneten – subjektiven Differenz zwischen transzendentalem und empirischem Bewusstsein ausbilden, deren strenges Verständnis – wie gesagt – sehr viele Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit aufkommen lässt, die transzendentale Apperzeption als lichtendes Be81 wusstsein zu denken. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Levinas gerade dieser Idee Husserls schon zu Beginn seines Schaffens sehr kritisch gegenüberstand. Seine Vorbehalte bestanden nicht etwa darin, dass er in dieser Idee Husserls eine idealistische Position gesehen hätte, was andere daran kritisiert hatten; sie bestanden vielmehr in der Einsicht, dass dadurch die Bewegung der Intentionalität selbst aufgehoben werde, in welcher das Bewusstsein besteht 15 (dies hat Levinas natürlich dazu veranlasst, dieses Bestehen des Bewusstseins zu kritisieren und auf diese Weise – nämlich durch den Filter des Problems der Subjektivität und, wie wir zu Beginn festgestellt haben, in Abhängigkeit von diesem Problem – das ontologische Problem wiederzuentdecken; und dies wiederum hat Levinas dazu gebracht, das ontologische Anliegen Heideggers in Sein und Zeit als Fortführung der eigentümlichen Ontologie Husserls zu verstehen) 16. h Die Ethik ist derjenige Bereich des Denkens der Moderne im Allgemeinen und der Transzendentalphilosophie im Besonderen, in der sich die Struktur Subjekt-Subjekt wirklich durchgesetzt hat. In der Transzendentalphilosophie ist jedoch die Struktur Subjekt-Subjekt, als ursprüngliche und konstitutive Struktur der Ethik und als h

Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 88 entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen nicht nur dem des Aufsatzes MMO-93 bzw. MMO-98, sondern auch dem des schon zuvor veröffentlichten Aufsatzes MMO-85, S. 117–123.

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eine gegenüber der der Erkenntnis ursprünglichere und übergeordnete Struktur, in eine univoke – und daher verhängnisvolle – Beziehung zur Struktur Subjekt-Objekt gestellt worden. Tatsächlich kann das ethische Handeln nicht nur Objekte mit einbeziehen (insofern sie Werkzeuge des Handeln sind oder insofern sie etwas sind, was als Eigentum oder auf andere Weise auf Subjekte bezogen ist, etc.), sondern es impliziert in jedem Fall auch Selbstbewusstsein (das Subjekt-Objekt) und setzt sich selbst schließlich in objektives und beobachtbares Verhalten um. Gerade diese Einbeziehung der objektiven Dimension als einer untergeordneten und gleichwohl notwendigen Dimension hat aber im Denken der Moderne zur Folge gehabt, dass die Struktur Subjekt-Subjekt selbst, ungeachtet ihres offensichtlich pluralistischen (und dabei nicht notwendig iterativen) Charakters, in einem monadologischen Horizont eingeschlossen geblieben ist; Moralität – um das von Kant privilegierte Beispiel zu gebrauchen (wobei wir jedoch von der späten Thematik des »ethischen Gemeinwesens« in Kants Religion absehen) – ist vor allem Kohärenz des Subjekts mit seiner eigenen Vernunft selbst, auch wenn diese Kohärenz sich in einem »Jeweils« konkretisiert, das durch das Verhältnis zu den Anderen bestimmt wird. Wir können hier davon absehen, dass dieser theoretische status quaestionis eventuell der sozio-ökonomischen Situation in der Epoche Kants entspricht; aber es ist unbezweifelbar, dass der Versuch, das Problem der Ethik heutzutage erneut als ein Problem aufzuwerfen, das philosophische Dignität besitzt, darauf hinausläuft, den Diskurs an dem aporetischen Punkt wieder aufzugreifen, an welchem er zurückgelassen worden ist, und zu versuchen, den unaufgelösten Knoten einer Intersubjektivität aufzulösen, welche durch das rein kognitive und objektivierende Verständnis der transzendentalen Apperzeption erfordert, zugleich aber auch verhindert wird. Nur unter diesen Bedingungen kann man daran denken, die Ethik gegen die 82 ansonsten gerechtfertigten Versuche ihrer Aufhebung zu verteidigen: etwa gegen ihre Aufhebung in der Politik, wie in der marxistisch-hegelianischen Tradition des kollektiven Subjekts, oder gegen ihre Aufhebung in der Metaethik, wie im Fall der sprachanalytischen Tradition, welche die Ethik auf einem rein intuitionistischen und irrationalen Boden belässt; ein Boden, der seinerseits nur schwer auf plausible Weise gegen die extreme Form von Aufhebung zu verteidigen ist, welche in der Herausforderung des Nihilismus angelegt ist. 151 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Zweifellos entspringt auch diese dritte Form der Aufhebung der Ethik – der Nihilismus – ebenso wie die beiden anderen aus der geschichtlichen Aufhebung der beiden kulturellen Termini, die nacheinander als Bezugspunkt oder als Fundament der Ethik gedient haben: das Sein und das Subjekt. Die Aufhebung der Ontoaxiologie (perfectio seu realitas; malum, privatio boni etc.) durch die Philosophie der Subjektivität hat das bonum als Transzendental vom Sein auf das Subjekt als neues Transzendental (die Freiheit) übertragen; aber die heutige Krise des Subjekts impliziert sowohl die Krise des ontologischen und – im Nachhinein betrachtet – objektiven Bezugspunkts der Ethik als auch die Krise des subjektiven Bezugspunkts. Ist der neue transzendentale Bezugspunkt bzw. das neue transzendentale Fundament der Ethik in einem Nachdenken über die Sprache zu suchen? Ist er mithin in der Transformation der Gegenständlichkeit in Sinngegenständlichkeit und in der »semiotischen Transformation« der transzendentalen Apperzeption als Bedingung für eine wirkliche Intersubjektivität zu suchen? Dies ist in der Tat der Weg, den diejenigen Denkentwürfe beschritten haben, welche – so weit sie auch voneinander entfernt sein mögen, was ihren philosophischen Stil, ihren kulturellen Hintergrund und ihre gegenseitige Kenntnisnahme anbelangt – den Versuch unternommen haben, die Ethik erneut als protologisches Problem aufzuwerfen: gemeint sind die »kommunikative Ethik«, d. h. insbesondere deren Begründungsansprüche erhebende Variante, welche die sprachpragmatischen Vorgaben unter einem transzendentalen Gesichtspunkt ausarbeitet, und die levinassche »Ethik als erste Philosophie«, welche sich dagegen vornimmt, jenseits des »Gesagten«, des pragma, des »Werks« bis hin zum »Sagen« selbst zurückzugehen. 17 Die »kommunikative Ethik« – insbesondere diejenige Apels und seiner Schule, die sich in immer betonterer Weise als Transzendentalund Begründungsphilosophie geriert – gibt keine metaphysische Stellungnahme über das Subjekt der kommunikativen Synthesis ab; sie belässt diese Synthesis auf der rein funktionalen Ebene der kantschen Synthesis der Apperzeption (bzw. möchte sie dort belassen) und gestattet es daher, den Diskurs innerhalb des Horizonts zu halten, der durch die neue Form der transzendentalen Einheit von Subjekt – oder vielmehr kommunikativer Intersubjektivität – und Sinnobjekt umgrenzt wird. Auf diese Weise erscheint das einzelne Subjekt als ein sprechendes oder kommunizierendes empirisches Subjekt, welches – als potentiell antwortendes, d. h. argumentierendes Subjekt 152 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Umkehrung der transzendentalen Apperzeption

– eben aufgrund der Tatsache, dass es immer schon und per Definition in den kommunikativen Verkehr einbezogen ist, ein verantwortliches Subjekt ist. 83 Auf dieser Grundlage ist die Ethik sicherlich begründet, d. h. sie ist insofern begründet, als das Faktum der empirischen Verantwortung transzendental begründet ist. Aber diese Begründung mittels des »transzendentalen Sprachspiels der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft« ist, eben insofern sie eine transzendentale Begründung ist, Begründung der Möglichkeit der Tatsache, des Faktums, des Seins und nicht des Sollens. Die Tatsache, die in diesem speziellen Fall begründet wird, ist das Faktum des Sollens, keineswegs aber das Sollen des Faktums; mit anderen Worten: es ist das Faktum, dass in der Kommunikationssituation das Subjekt empirisch als ein verantwortliches Subjekt konstituiert ist. 18 Man kann dieses Ergebnis der transzendentalen Neubegründung sehr wohl schon für sich genommen als sehr wertvoll erachten; aber offensichtlich bejaht oder verneint es nichts in Bezug auf die metaphysische Subjektivität, d. h. in Bezug auf die Subjektivität bzw. Intersubjektivität, insofern sie über die iterative (aber nicht pluralistische) Form hinaus gedacht wird, in welcher sie in dem Kommunikationsprozess erscheint, der durch die transzendentale Synthesis der Kommunikation ermöglicht wird. Die kritische Beschränkung auf die Bedingungen der Möglichkeit des Faktums verpflichtet zum Schweigen über das »metaphysische« Problem (bzw. sie sollte dazu verpflichten); auf der Grundlage der transzendentalen Begründung des Faktums des Sollens lässt sich der These des Nihilismus, welche das Sollen (des Faktums) radikal ausschließt, nicht trotzen. Die durch die »Kommunikationsgemeinschaft« zur Sprache kommende, in Erscheinung tretende und begründete Intersubjektivität ist letztlich kompatibel mit einem heideggerschen »d i e S p r a c h e s p r i c h t «, mit einem wittgensteinschen »das Subjekt gibt es nicht«, mit einem individuellen oder kollektiven »Es« psychoanalytischer Art etc. Gewiss genügt es den reflexiven Bestrebungen und den moralischen Ansprüchen der kommunikativen Ethik nicht, auf eine behavioristische Dimension beschränkt zu bleiben. Aber der Anspruch, das Faktum des Sollens (bzw. dessen Bedingung der Möglichkeit) mit dem Sollen des Faktums zur Koinzidenz zu bringen, ist noch mehr dem Einwand ausgesetzt, es handele sich dabei um einen naturalistischen Fehlschluss, als dies bei der kantschen Ethik der Fall ist, die sich wenigstens auf ein Faktum sui generis, nämlich auf ein me153 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

taphysisches Faktum bezieht, und nicht auf ein empirisches Faktum bzw. auf dessen transzendentale Bedingung. 19 Auch der Verzicht auf einen strengen Transzendentalismus zugunsten einer vorgeblichen Universalpragmatik (wie dies bei Habermas geschieht) würde die Situation nicht verbessern; die Symmetrie und die Transparenz der »idealen Gesprächssituation« stehen in Wirklichkeit in Widerspruch zu dem Prozess des Bedeutens, den sie garantieren sollen: in einer Situation vollkommener Symmetrie und Transparenz gäbe es schlicht und einfach keine Kommunikation und kein Bedeuten. 20 Um dem Behaviorismus zu entkommen, in den die Versuche einer ethisch-philosophischen Verwendung der Sprachpragmatik – wohlgemerkt entgegen ihren eigenen Absichten – münden, und um den Bestrebungen der kommunikativen Ethik Genüge zu leisten, darf 84 man nicht beanspruchen, Sein und Sollen zur Koinzidenz zu bringen, sondern – w e n n s c h o n ! , so möchte man sagen – dann muss man einen Schritt darüber hinaus wagen, einen »metaphysischen« Schritt. Levinas unternimmt diesen Schritt darüber hinaus. Vielleicht hat man den rationalistischen Ansprüchen von Levinas 21 nicht die Beachtung geschenkt, die sie verdienen. Oft zeigt sich dann, wenn sein Denken nicht unter einzelnen technischen Aspekten, sondern vielmehr im Ganzen, d. h. mit Blick auf seinen Geist und seine Gesamtbedeutung betrachtet wird, eine gewisse Tendenz, es als eine erbauliche Philosophie zu preisen (bzw. zu verachten, je nach Geschmack). Uns dagegen scheint, dass sich gerade an den epistemologisch irreduziblen, »metaphysischen« Inhalten dieses Denkens zeigt, dass es sich dabei nicht um das Denken eines Moralisten handelt, sondern um das Denken eines Philosophen, der zu der These gelangt, die Ethik sei die erste Philosophie, indem er aus dem Innern der Transzendentalphilosophie heraus das Ziel verfolgt, den Erfordernissen einer protologischen Transformation derselben gerecht zu werden, die sich an dem (in dem von uns erwähnten, besonderen Sinne) »äquivoken«, aber unabweisbaren Symptom des Erscheinens von Intersubjektivität zeigen. Die Tatsache, dass Levinas – was die Ethik anbelangt – das Erkennen als ein symmetrisches Modell von Intersubjektivität ablehnt, d. h. seine Behauptung, dass das »Von-Angesicht-zu-Angesicht« nicht auf die synthetische Aktivität des Verstandes reduzierbar ist, bzw. seine Behauptung, dass der »Pluralismus« nicht in Gestalt der Mannigfaltigkeit einer Konstellation in Erscheinung tritt, die durch einen möglichen Blick erfasst werden könnte (alles Thesen, die in Totalité et 154 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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infini immer wieder energisch vertreten werden) 22, kulminiert in dem durch Autrement qu’être unterbreiteten Verweis vom »Gesagten« auf das »Sagen« (auch hieran zeigt sich, dass die Umkehrung der Perspektive, die wir oben beim Vergleich dieser beiden Werke angesprochen hatten, keinen Bruch, sondern die Vollendung eines Prozesses darstellt). Der Verweis vom »Gesagten« auf das »Sagen« ist ein metapragmatischer Verweis, und er stellt die ethische Bedeutung der Sprachpragmatik nicht in Abrede, sondern bewahrheitet sie. Es ist bezeichnend, dass der Mythos des Gyges (des Übeltäters, der Nutzen daraus zieht, dass er sieht, ohne gesehen zu werden) – ein Mythos, auf den sich Levinas offenbar unter dem Einfluss von Rosenzweig immer wieder beruft – in der Interpretation, die Levinas davon gibt, in überraschender Weise einem Thema korrespondiert, das auch für Apel von zentraler Bedeutung ist. Apel behauptet nämlich, dass das transzendentale Sprachspiel auch in der strategischen Kommunikation, welche nicht auf Transparenz, sondern auf Verdunkelung abzielt, immer schon vorausgesetzt ist; es ist also mit anderen Worten auch in der Lüge immer schon vorausgesetzt. Das Werk des Teufels setzt das Werk Gottes voraus, sagt Apel mit Worten, die er in metaphorischem Sinne verstanden wissen will und die seinen Diskurs auf traditionelle religiöse Themen zurückverweisen; 23 Gyges bringt die Grundsituation des Menschen zum Ausdruck, welche darin besteht, die Spielregeln zu akzeptieren, aber um zu mogeln, sagt Levinas mit größerem Pessimismus und mit metaphorischen Begriffen, die seinen Diskurs auf die Begrifflichkeiten und die Probleme der gegenwärtigen Sprachphilosophie zurückverweisen. 24 Es handelt sich hierbei nicht um eine zufällige oder extrinsische Koinzidenz; es handelt sich hierbei vielmehr um eine tiefe Nähe zwischen zwei Perspektiven, welche die Geschichte des modernen Den- 85 kens als Zeitalter des Subjekts überdenken und dabei die aporetische Instanz der Intersubjektivität, die in der Philosophie des »ich denke« gegenwärtig ist und zugleich unbefriedigt bleibt, sprachphilosophisch ausformulieren. Die Möglichkeit, dank der Kommunikation zu lügen und dank der Spielregeln zu mogeln: dies ist es, woran sich die ethische Dimension der transzendentalen Apperzeption offenbart, wenn sie sprachphilosophisch überdacht und bis an die Grenze gebracht wird, an der sich zeigt, dass der egologische und subjektivistisch-intersubjektive Horizont unzureichend ist. Angesichts dieses Sachverhalts ist die kommunikative Ethik gezwungen, die »Synthesis der Kommunikation« immer mehr von 155 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

einer kommunikativ-intersubjektiven Ebene auf eine subjektive Ebene zurückzuführen und auf dieser letzteren Ebene immer mehr eine Art von Begründung via negationis (die Unmöglichkeit – oder das Verbot? – des pragmatischen Selbstwiderspruchs) zu entwickeln. Levinas dagegen fällt nicht auf beschwichtigende Positionen zurück, sondern riskiert einen Schritt darüber hinaus. Dass das Hinausgehen über die transzendentale Apperzeption von Levinas gleichwohl als ein Schritt verstanden wird, der das Anliegen der Kritik nicht einfach aufgibt, sondern vollendet, wird von Levinas selbst wiederholt behauptet: »[Die Ethik] setzt das kritische Wesen des Wissens in die Tat um«; »Die Erforschung des Intelligiblen, aber auch die Manifestation der kritischen Natur des Wissens, der Rückgang eines Seienden zu dem, was diesseits der eigenen Bedingung liegt, beginnt in demselben Augenblick«. 25 Auf diesem Weg, über den Begriff des »Gesichts«, gelangt Levinas dazu, den metaphysischen bzw. transzendenten Schritt vom »Gesagten« zum »Sagen« zu formulieren, welcher die – von uns so genannte – behavioristische Beschränkung beim Verständnis des »Phänomens« Sprache vermeidet. Mit diesem weitergehenden Schritt ist die Ethik im antiphrastischen Sinne begründet, als Privation der stance, i und die Kritik vollendet sich als »Offenbarung« des Noumenon: »[D]ie Bedeutung ist keine ideale Wesenheit und keine Beziehung, die sich der intellektuellen Anschauung bietet; als intellektuelle Anschauung wäre sie noch der Empfindung analog, die sich dem Auge bietet […] Die absolute Erfahrung ist nicht Entbergung. Von einem subjektiven Horizont her entbergen, heißt schon, das Noumenon verfehlen. Nur der Gesprächspartner ist Terminus einer reinen Erfahrung; hier tritt der andere Mensch in eine Beziehung, während er doch kat’autó bleibt«. 26 Wie sollte man daher aber nicht meinen, dass zwischen der intellektuellen Anschauung nach Art von Fichte und der »Offenbarung« als Erfahrung des Gesprächspartners, als reiner Erfahrung, in welcher der »Andere« in Beziehung tritt, während er doch kat’autó bleibt, ein logischer Gegensatz und ein Verhältnis der wechselseitigen logischen i

Der englische Begriff stance ist hier vor allem im Sinne von »Standpunkt« zu verstehen (vgl. auch S. 75). In dem diesem Textabschnitt zugrundeliegenden Aufsatz MMO-098 kommt der »antiphrastische« Sinn der hier angesprochenen »Begründung« der Ethik durch die Apposition des Begriffs »Grundlage« (fondamento) zum Begriff stance expliziter zum Ausdruck.

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Bestimmung besteht, das historisch aufgewiesen werden kann? Man denke daran, dass auch Fichte alle Anstrengungen macht, um die intellektuelle Anschauung von jeder Analogie mit der sinnlichen Anschauung zu entbinden. 27 Der unterschiedliche historische Kontext hindert nicht daran zu erkennen, dass diese Anstrengungen in den beiden Philosophien, auf die wir uns hier beziehen, Erfordernissen Rechnung tragen, die hinsichtlich des Transzendentalen gewisser- 86 maßen reziproker und symmetrischer Art sind: bei Fichte ist die nachkantische Debatte über die Vorstellung und das Ding-an-sich gegenwärtig; bei Levinas ist zumindest in dem soeben zitierten Kontext sowie in anderen Kontexten, die angeführt werden könnten, die Kritik am Husserl der fünften Cartesianischen Meditation 28 und am heideggerschen M i t s e i n 29 gegenwärtig. Wir sind uns dessen bewusst, dass nicht völlig sicher ist, ob man von der historischen Ebene auf die theoretische Ebene übergehen und somit in gewisser Weise die wechselseitige Bestimmung und den logischen Gegensatz zwischen Themen, die sich bei verschiedenen Denkern aufweisen lassen, mit dem logischen Gegensatz innerhalb eines und desselben Denkens zur Deckung bringen kann. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich der historisch aufgewiesene Gegensatz ausgehend von einem einheitlichen Ausgangspunkt (der Verwirklichung der Transzendentalphilosophie mittels ihrer Umkehrung) konfiguriert und somit den Charakter einer Alternative annimmt. Zudem könnte man sich auch dann, wenn dies nicht einer wechselseitigen Bestimmung in logischer Hinsicht, sondern »nur« zwei alternativen Weisen gleichkäme, den metaphysischen Schritt zu vollziehen, gleichwohl fragen, warum dieser Schritt im Sinne von Subjektion und nicht im Sinne von Subjektivität und Setzung zu vollziehen wäre. Jemand könnte antworten: aus moralischen Gründen. Eine Antwort dieser Art ist gewiss legitim, aber sie gehört dem Genre des Moralismus und der Erbauung an, das noch der philosophischen Reduktion bedarf. Aber auch dann, wenn man ausschließlich den moralistischen Charakter dieser Option berücksichtigt, kann man sich fragen, ob die Setzung ein nicht weiter definiertes und rationalisiertes moralisches Erfordernis wirklich weniger zufrieden stellt als die Subjektion dies tut. Man beachte, dass man diese Frage nicht einfach mit der Behauptung beiseiteschieben kann, eine Philosophie, welche die Setzung des reinen Ichs vertritt, sei eine Philosophie der Gewalt, der Totalität etc. Dies könnte eventuell von einer Philosophie des absoluten Geistes 157 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

nach Art Hegels behauptet werden, die, indem sie zum ontologischen Denken zurückkehrt, jeden »Pluralismus« (in dem Sinne, den Levinas diesem Begriff gibt) eliminiert und die Individuen wie »unschuldige Blumen« 30 zertritt. Aber das »reine Ich«, das jenseits einer Philosophie des Seins besteht (zum Beispiel dasjenige der Wissenschaftslehre »nova methodo«, das immer nur in der Synthese des endlichen Geistes erfasst wird) begründet eben gerade eine philosophische Lehre des Sollens, der Selbstbeschränkung und der Intersubjektivität. Es ist wahr: ein Denken, in dem das Subjekt als Setzung gedacht wird, oszilliert zwischen der theoretischen Ausarbeitung einer strengen Philosophie des Sollens und dem faktischen Ausufern in Aktivismus und Praxismus, so wie es im Übrigen auch zwischen einer strengen theoretischen Ausarbeitung des Individualismus und dem faktischen Ausufern in eine Art Kollektivismus oszilliert, in dem Sinne, dass die Menschheit als kollektives Subjekt gedacht wird. Und man könnte geneigt sein, hierin ein Motiv zu sehen, das für die Philosophie der »Passivität, die passiver ist als jede Passivität« spricht, wenn man die Frage, welche Art von metaphysischem Schritt vollzogen werden sollte, unter moralischem Gesichtspunkt betrachtet. 87 Man kann sich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich eben diesbezüglich andere Schwierigkeiten ergeben, die dazu führen, eine weitere gewichtige Frage in Betracht zu ziehen. Die Fragestellung könnte etwa so lauten: Läuft dasjenige, was wir berechtigterweise »Anders-als-Subjekt« j nennen zu können glauben, angesichts der zeitgenössischen Krise bzw. des zeitgenössischen »Todes« des Subjekts nicht Gefahr, eine Lösung darzustellen, die das ethische Erfordernis noch weniger zufrieden stellt? Dazu sei gesagt, dass die Frage zumindest in einem ersten Moment eine moralistisch formulierte Frage ist, d. h. eine Frage, die auf ein weder philosophisch definiertes noch legitimiertes ethisches Erfordernis Bezug nimmt: vielleicht handelt es sich um ein Erfordernis, das durch eine Art kultureller Phylogenese ererbt ist, und mithin um ein Erfordernis, das zum Gegenstand einer entmystifizierenden Rekonstruktion bzw. einer »Genealogie der Moral« gemacht werden j

Die Übersetzung versucht hier die auch im Italienischen ungewöhnliche Konstruktion altrimenti-che-soggetto wiederzugeben, welche in Analogie zu Levinas’ Ausdruck autrement qu’être (ital.: altrimenti che essere) gebildet ist, der auf Deutsch mit »anders als sein« bzw. »anders als Sein geschieht« übersetzt wird. Vgl. auch die analog gebildete Konstruktion »Anders-als-Ethik« (altrimenti che etica) auf S. 88.

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kann; vielleicht aber handelt es sich stattdessen um ein Erfordernis, das für die Menschlichkeit des »Menschen« konstitutiv ist: das »du sollst«, die Ethik als Sollensethik. Eine Philosophie, die in der Lage ist, das ethische Erfordernis zufrieden zu stellen – d. h. zumindest dasjenige Erfordernis, das sich im Sinne eines »du sollst« konkretisiert –, muss zeigen, dass der moralische Imperativ keinen kulturellen und »genealogischen« Charakter hat, d. h., dass er für ein metaphysisches Verständnis des Menschen wesentlich ist, welches im Menschen nicht ein bloßes kulturelles Konstrukt sieht. Die Philosophie von Levinas scheint gewiss in einem – zumindest faktischen, wenn nicht auch absichtlichen – Gegensatz zu den Theorien vom Tode des Menschen und des Subjekts zu stehen (Strasser ist zu der These gelangt, dass man Autrement qu’être nicht voll verstehen könne, wenn man es nicht als Reaktion auf den Strukturalismus betrachtet) 31; aber diese Philosophie stellt sich, besonders in der Zeit nach Totalité et infini, auch in einen – diesmal expliziten und absichtlichen – Gegensatz zum S o l l e n . Das Sollen ist nämlich für Levinas noch zu egoistisch: es sei Ausdruck jener Subjektivität, die in einer Perspektive, in der Ethik als erste Philosophie betrachtet wird, stattdessen autrement gedacht werden müsse. Aber gerade wenn man die Entwicklungstendenz betrachtet, die Autrement qu’être zum Abschluss bringt, kann man sich fragen, ob der Nihilismus nicht in gewissem Sinne weniger tragisch und in moralischer oder besser moralistischer Hinsicht weniger anstößig ist als die »Subjektion«. In Totalité et infini ist das Ich, wenn auch in der Symmetrie der intersubjektiven Beziehung, noch Zurechnungssubjekt (man denke an all die Seiten über das Thema des »Urteils«) 32, die Güte spielt für die Definition der Moralität des Verhaltens noch eine zentrale Rolle, das Sollen und der Imperativ bringen, wenn auch in einem besonderen Sinne, noch das Wesen der Moralität zum Ausdruck (in Gestalt des »du sollst nicht töten«). Man hat den Eindruck, dass die darauffolgende Vollendung-Umkehrung des in Totalité et infini umrissenen Subjektivitätsverständnisses das Subjekt, insofern es Zurechnungssubjekt ist, in den Hintergrund drängt und tendenziell auflöst. In Totalité et infini findet sich die Behauptung, dass die eigene Verant- 88 wortung und Schuld umso größer wird, je mehr man gütig ist (und diese Position eliminiert bereits jede Möglichkeit, das Sollen von der Supererogation zu unterscheiden); 33 die »Stellvertretung« aber, die sich im »Der-Eine-für-den-Anderen« vollzieht, bringt eine Verantwortlichkeit ohne Übernahme von Verantwortung zum Ausdruck, 159 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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ein Schuldigsein ohne Güte. 34 Unter diesem Gesichtspunkt könnte die Vollendung durch Umkehrung des in Totalité et infini umrissenen Subjektivitätsbegriffs als Übergang von einem »Je gütiger man ist, desto schuldiger ist man« zu einem »je mehr man Opfer ist, desto mehr ist man auserwählt« beschrieben werden. Auf den Begriff der Erwählung werden wir in Kürze zurückkommen; vorerst jedoch stellen wir fest, dass eine Sichtweise dieser Art eben gerade das moralische Erfordernis brüskiert, das aus kulturellen, natürlichen oder metaphysischen Gründen im »du sollst« wahrgenommen wird; wenn Moral dazu aufruft, verantwortlich zu sein und zu antworten, d. h. eine Wahl zu treffen, dann ist das autrement qu’être als Zeichen des Anders-als-Subjekt auch ein Anders-alsEthik. k Im Vergleich zum Antihumanismus der Philosophien vom Tode des Menschen überwindet auch der »Humanismus des anderen Menschen« das Sollen, insofern es sich an das aktive und zurechnungsfähige Subjekt richtet, aber er läuft Gefahr, es auf noch skandalösere Weise zu überwinden. Wenn dies so wäre, dann würde die »Passivität, die passiver ist als jede Passivität« in einen Passivismus münden, der für das ethische Erfordernis – verstanden als das Erfordernis, das Sollen philosophisch zu legitimieren – ebenso unbefriedigend wäre wie der Aktivismus, in den das reine Ich, die Aktivität, die aktiver ist als jede Aktivität, mündet. Und der Vorzug, den man dem Subjekt als Subjektion gegenüber der setzenden Subjektivität aus moralistischen Gründen geben zu können schien, wäre in diesem Fall illusorisch. Auch hinsichtlich ihrer ethischen Konsequenzen bestünde zwischen diesen beiden Sichtweisen in diesem Fall eine Symmetrie des Gegensatzes. Und im Vergleich zum ethischen Erfordernis als dem Erfordernis, das »du sollst« philosophisch anerkannt und legitimiert zu sehen, wäre die (in zeitgenössischer Weise, mittels der »Letztbegründung« der sprachphilosophisch überdachten Neukonzeption der transzendentalen Apperzeption) »begründete« Ethik trotz ihrer Unzulänglichkeit weniger skandalös und somit eben gerade »ethischer« l als die jeder Grundlage und jeder stance beraubte Ethik. Eben weil der k Wie zuvor (vgl. S. 87) der Ausdruck »Anders-als-Subjekt« (altrimenti-che-soggetto) ist auch der Ausdruck »Anders-als-Ethik« (altrimenti che etica) in Analogie zu Levinas’ Ausdruck autrement qu’être (ital.: altrimenti che essere) gebildet, der auf Deutsch mit »anders als sein« bzw. »anders als Sein geschieht« übersetzt wird. l Das Wort »ethisch« ist hier im etymologischen Sinne, d. h. im Sinne dessen zu verstehen, was den »Sitten und Gebräuchen« entspricht.

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»metaphysische« Schritt darüber hinaus nicht vollzogen wird, behält wenigstens das Faktum des Sollens seine Geltung. Wie wir gesehen haben, wäre es widersprüchlich zu behaupten, dass das Faktum des Sollens mit dem metaphysischen Sollen des Faktums koinzidiert; aber es kann doch die Hoffnung bestehen, dass das Faktum des Sollens wenigsten zuweilen das Phänomen, das Erscheinen des Sollens des Faktums ist. Für den, der im Sinne von Levinas den Schritt darüber hinaus vollzieht, erweist sich diese Hoffnung jedoch notwendigerweise als Illusion. m Schon in Totalité et infini ist das »Gesicht«, der Blick, der »du sollst nicht töten« bedeutet, mithin das »du sollst«, kein Phänomen, kein Thema, keine Gegenständlichkeit, kein Sein, sondern – wie wir es in Analogie zu Kants Begriff des »positiven Noumenon« genannt 89 haben – ein negatives Phänomen, eine Umkehrung des Phänomens. Und es ist bezeichnend, dass sich das Sollen in dieser Umkehrung des Phänomens durch einen negativen Gehalt auszeichnet (»du sollst nicht töten«); d. h.: das Sollen, das sich der Koinzidenz mit einem positiven Phänomen verweigert, gebietet ein rein negatives Sein; »du sollst nicht töten« bedeutet: »du sollst in der Beziehung zum anderen Menschen auf die Gewalt des Seins verzichten« (es muss möglich sein, den Blick des Anderen solchermaßen in Form eines abstrakten Imperativs zu beschreiben, da eine Philosophie des Blicks für möglich gehalten und auch tatsächlich ausgearbeitet wird). Im Übrigen konkretisiert sich das Sein, auf dessen Gewalt zu verzichten der Blick gebietet, nur innerhalb jenes Horizonts, an dessen Grenze mit einer Umkehrung der Bewegung der Intentionalität das »Gesicht« erscheint. In einer solchen Sichtweise ist offensichtlich, dass eine Koinzidenz zwischen dem Faktum des Sollens und dem Sollen des Faktums nicht nur nicht behauptet, sondern nicht einmal erhofft werden kann, da sie aus prinzipiellen Gründen in Abrede gestellt wird. Hieran lässt sich gut die metaontologische Radikalisierung von Totalité et infini zu Autrement qu’être ablesen. Das »du sollst nicht töten« im Sinne eines Verzichts auf Gewalt ist gewiss moralisch erbaulich; wenn aber im Zuge der Radikalisierung der levinasschen Perspektive, d. h. im Zuge der Ausarbeitung m

Von der angegebenen Stelle auf S. 81 bis hierhin entspricht der Text im Wesentlichen nicht nur dem des Aufsatzes MMO-93 bzw. MMO-98, sondern auch dem des schon zuvor veröffentlichten Aufsatzes MMO-85, der an dieser Stelle endet.

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des Motivs der »Substitution«, an die Stelle der Aktivität des Verzichts die Passivität der Erwählung tritt, dann gesellt sich der Erbauung das Ärgernis hinzu. Die Verbindung zwischen Erbauung und Ärgernis ist ein tópos des (jüdischen und dann auch christlichen) messianischen religiösen Denkens. Obgleich aber das Motiv des Leidens und Sterbens des Gerechten als eines stellvertretenden Leidens und Sterbens Gegenstand religiösen Glaubens sein kann, kann es doch nur schwerlich Gegenstand philosophischer Theoriebildung sein; in diesem Bereich nämlich hat es keinerlei Chance, der Genealogie der Moral und der Verdächtigung standzuhalten. Levinas’ eigentümliche Kritik am teleologischen Denken, die jenes Motiv theoretisch untermauert, lässt sich nur schwerlich gegen den Vorwurf verteidigen, eine Rationalisierung des Scheiterns zu sein (im psychologischen Sinne von »Rationalisierung«). Um dies zu vermeiden, ist es offensichtlich nötig, eine Beziehung zwischen dem Faktum des Sollens und dem Sollen des Faktums zu finden, die so beschaffen ist, dass sie nicht notwendigerweise eine Beziehung zwischen Alternativen darstellt. Und da das Faktum des Sollens per Definition ein geschichtliches, kulturelles Faktum ist, ist die Möglichkeit eines solchen Einklangs, welcher Bedingung für eine nicht philosophisch dekonstruierbare und entmystifizierbare Hoffnung ist, auf dem Boden einer Philosophie der Kultur und der Gesellschaft zu suchen. Im Denken von Levinas sind die Prämissen für eine derartige Suche vorhanden: das Motiv des »Dritten« und das Motiv der »Brüderlichkeit«. Der »Andere« ist kein Thema, ist kein Phänomen, aber der »Drit90 te« ist dies sehr wohl. Durch den Dritten wird das, was Levinas »soziale Beziehung« nennt (nämlich die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Anderen), von einer unmittelbaren zu einer mittelbaren Beziehung und verwandelt sich von einem »Von-Angesicht-zu-Angesicht« zur Gesellschaft, im kollektiven und, wenn man so will, systemischen Sinne dieses Begriffs. Obgleich der Dritte Thema und Korrelat des Subjekts und somit eben gerade nicht der Andere, sondern das Objekt des Subjekts ist, bestimmt er – der Dritte – entscheidend das Sagen des Anderen in seiner dem Gesagten vorgängigen Unmittelbarkeit, d. h. den (noch) nicht objektivierten Blick des »Gesichts«. Auf der anderen Seite bestimmt der Dritte auch entscheidend meine Antwort auf das Wort bzw. auf das Sagen des Anderen, denn auch die konkrete Antwort, die meiner konstitutiven Verantwortung 162 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Umkehrung der transzendentalen Apperzeption

entspringt, steht immer in einem – manchmal unbewussten, aber bei moralisch relevanten Antworten stets bewussten und erlittenen – Vergleich mit den Rechten des Dritten, die in dem von ihm »Gesagten« und in seinem nunmehr thematischen und objektivierten Blick erfasst werden. 35 Wie radikal die ethische Passivität auch sein mag, so ist sie dies doch niemals so sehr, dass sie das Opfer bzw. den Erwählten der aktiven Verantwortung für die Rechte des Dritten enthebt. Es ist nicht etwa so, dass die Stellvertretung, die im »der-Eine-für-den-Anderen« stattfindet, notwendig eine Beziehung zwischen mir als dem Opfer und dem Anderen als dem Täter impliziert; auch wenn der Andere, mit dem die Beziehung der Unmittelbarkeit besteht, seine Forderung selbst mit dem Blick eines Opfers erheben würde, impliziert mein Verzicht darauf, mich zum Täter zu machen, den Vergleich mit dem vom Dritten Gesagten. Kurz gesagt ist also in der Unmittelbarkeit der ethischen Beziehung die Vermittlung seitens des Dritten und der abwesenden Gesellschaft paradoxerweise bereits an beiden Polen des asymmetrischen Verhältnisses gegenwärtig. Und wenn nun die dritte Person des Dritten, in dem durch sie konnotierten Verhältnis der Mittelbarkeit, in irgendeiner Beziehung zu jener absoluten dritten Person stünde, die Levinas illéité nennt? 36 Entspricht das Immer-schon-nicht-mehr-Subjekt der objektivierten Gesellschaft vielleicht in irgendeiner Weise der sich immer schon zurückgezogenen Vorgängigkeit jenes Gesichts, das die Spur davon offenbart? Steht die »Anarchie« vielleicht in Beziehung zur Gesellschaft als der immer nur mittelbar erreichten arché? Fragen dieser Art, welche das levinassche Thema des Dritten aufgreifen und dabei neu überdenken, stehen in Zusammenhang mit den Fragen, die das Thema der Brüderlichkeit aufgreifen. Dieser Zusammenhang ist bei Levinas selbst explizit: »Die Beziehung mit dem Gesicht in der Brüderlichkeit, in der der Andere seinerseits als solidarisch mit allen anderen erscheint, konstituiert die soziale Ordnung, den Bezug eines jeden Dialogs zum Dritten« 37. Vielleicht aber lohnt es sich, die »soziale Ordnung«, insofern sie ein Drittes, insofern sie sozusagen synchrones System und objektive arché ist, trotz ihres wechselseitigen Implikationsverhältnisses klar von der »Brüderlichkeit« als einer sozusagen diachronen und nicht auf ein System zurückführbaren, weil »anarchischen« Verbindung zu unterscheiden, welche das Paradox impliziert, dass die Einzigkeit der »Erwählung« 91 jedes Einzelnen Voraussetzung der brüderlichen Verbindung aller ist. Da kommt einem Kants Unterscheidung zwischen »ethischem 163 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

Gemeinwesen« und »politischem Gemeinwesen« (in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft) in den Sinn. Für Kant kann der konstituierende Gesetzgeber des ethischen Gemeinwesens, d. h. des Gemeinwesens, in welchem die intersubjektiven Beziehungen durch das moralische Gesetz als eines öffentlichen Gesetzes geregelt sind, nur als ein »Herzenskündiger« gedacht werden; oder auch: Gott kann nur als Gesetzgeber des (von Kant daher auch als »Kirche« bezeichneten) ethischen Gemeinwesens gedacht werden. Diese beim späten Kant anzutreffende Weise, Gott zu denken, ist etwas anderes gegenüber dem, ihn als das höchste ursprüngliche Gut zu denken, welches garantiert, dass beim einzelnen Individuum Glück und Verdienst einander angemessen sind, und sie führt dazu, den »rechtlich bürgerlichen Zustand« und den »ethisch bürgerlichen Zustand« – d. h. mit Levinas gesprochen: den »Dritten« und die »Brüderlichkeit« – in Analogie und in Parallele zueinander zu setzen, aber eben deswegen auch voneinander zu unterscheiden. Auf dem Boden einer philosophischen Ekklesiologie bzw. (um aus der christlichen Kultur herrührende Begriffe zu gebrauchen, die allerdings Levinas, dem Leser des S t e r n s d e r E r l ö s u n g und Bewunderer Rosenzweigs, nicht fremd erscheinen dürften) einer philosophischen Meditation über das Thema »Volk Gottes«, d. h. auf dem Boden einer philosophischen Theorie der religiösen Gesellschaft in ihrem Verhältnis – und in ihrem Unterschied – zu einer philosophischen Theorie der politischen Gesellschaft kann die protologische Bedeutung der Ethik die Aporien des Anders-als-Subjekt vermeiden. Auf dieser Ebene kann die Ethik den Anregungen im Sinne der Kommunikationsgemeinschaft angemessen Rechnung tragen, nachdem die transzendentalen Formen des Seins und des Subjekts der Vergangenheit angehören. n Andererseits kann die Thematik der Kommunikationsgemeinschaft nur dadurch, dass sie das Motiv einer Diachronie, welche radikaler ist als die Synchronie, bzw. einer Asymmetrie, welche die grundlegende und transzendentale Symmetrie ermöglicht, ernsthaft in Betracht zieht, die ansonsten unvermeidlichen behavioristischen Konsequenzen aufheben und es vermeiden, zur Legitimation von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen herangezogen zu werden. 38 n

Von Beginn dieses Kapitels bis hierhin entspricht der Text im Wesentlichen dem der Aufsätze MMO-93 und MMO-98, die an dieser Stelle bzw. am Ende diese Absatzes enden.

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Umkehrung der transzendentalen Apperzeption

Die Einwände gegen das symmetrische Kommunikationsmodell entstehen im Übrigen bereits im Kontext einer kritischen Reflexion über die Sprachpragmatik. Einerseits nämlich ist angemerkt worden, dass eine homogene Verteilung der Sprechakte einigen fundamentalen Kommunikationssituationen (wie z. B. den Belehrungs- und Erziehungsprozessen) nicht angemessen ist; andererseits ist das Ideal eines sprechenden Subjekts, das in der Lage ist, seine Behauptungen in »Diskursen« vollständig zu erläutern (auch im Sinne von Searles »Postulat der Ausdrückbarkeit«), als Ausdruck der »bürgerlichen« Konzeption autonomer Subjektivität verstanden worden. 39 Was den ersten Punkt betrifft, so wird, wenn man bedenkt, welche Bedeutung das Motiv der maîtrise des Gesichts im Denken von Levinas hat, ver- 92 ständlich, wieso dieses Denken den sprachpragmatischen Denkrichtungen wichtige Denkanstöße geben kann (und zwar insbesondere, aber nicht nur denjenigen Denkrichtungen, die wie die »Erlanger Schule« auch selbst in der Belehrung einen fundamentalen Bezugspunkt für die Ethik sehen). 40 Was den zweiten Punkt betrifft, so ist das gleichsam atheologische religiöse Denken von Levinas imstande, Hinweise darauf zu geben, wie das ontotheologische, d. h. das sich aus den Aporien der substantialistischen und monadologischen Konzeption des Subjekts ergebende Verständnis des »ethischen Gemeinwesens« überwunden werden kann. Schon Kant hatte diesbezüglich Leibniz und dessen Rekurs auf eine »G o t t h e i t z u r Ve r m i t t l u n g « kritisiert: 41 wie man sieht, ist es das Thema der Begründung, das als solches in Frage gestellt wird. Wenden wir uns also jetzt denjenigen Richtungen der kommunikativen Ethik zu, die behaupten, eine Theorie der »Letztbegründung« formulieren zu können.

Anmerkungen In Anbetracht der großen Zahl an Bezugnahmen auf Levinas in diesem Kapitel werden wir die Termini und kurzen Ausdrücke, die in Levinas’ Schriften häufig vorkommen, in Anführungszeichen zitieren, ohne dabei bibliographisch auf die zahlreichen Textstellen zu verweisen, an denen sie verwendet werden. Ein derartiger Verweis würde, wenn er in irgendeiner Weise vollständig zu sein beanspruchte, es nötig machen, ein regelrechtes Repertorium bereitzustellen. Ein erstes »Glossar« von Levinas’ Terminologie hat S. Strasser im Anhang zu seinem Buch Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Denken, Den Haag 1978, veröffentlicht. 2 Wir beschränken uns hier darauf, den Begriff des »Absoluten« und seine Derivate als Beispiel anzuführen: während in Totalité et infini, Den Haag 1961, das »Sichabsolvieren« von dem Verhältnis bei aller Asymmetrie beide Elemente des Verhält1

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nisses betrifft, das sich durch dieses Sich-ablösen ergibt, so ändert sich dies in Autrement qu’être, Den Haag 1974: das eine Mal betrifft es hier nämlich nur den Anderen bzw. den Nächsten (S. 109); ein anderes Mal betrifft es zwar das Ich, aber nur insofern ich seitens des Anderen von meiner eigenen Identität abgelöst und zu einem Selbst geführt werde, das nicht sukzessiv auf meine Identität folgt (wie der Begriff der »Absolution« suggerieren könnte), sondern ursprünglicher ist als meine Identität; noch ein anderes Mal sagt Levinas, ebenfalls in Bezug auf die »Substitution«, in welcher sich die Identität »umkehrt«, dass »das Sich sich von sich selbst ab[löst]« (S. 146). Zur Gleichsetzung von »Ausgesetztheit« (expression) und »Passivität«, vgl. z. B. ibid., S. 117. 3 Vgl. z. B. Totalité et infini, S. 87. 4 Man denke nur etwa an die Vorlesung aus dem Sommer 1794 Über den Geist und den Buchstaben in der Philosophie. 5 Siehe diesbezüglich M. Zahn, Fichtes Sprachproblem und die Darstellung der Wissenschaftslehre, in K. Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 155–168. 6 Vgl. z. B. Ideen I, Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. 3, Den Haag 1950, S. 126– 127. Schon 1930 (in La théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris 19784) wurde Husserls protologische Transformation der transzendentalen Apperzeption von Levinas klar erkannt. Diese Einsicht hing sicherlich davon ab, dass Levinas die Cartesianischen Meditationen kannte (die er selbst zusammen mit G. Pfeiffer im darauf folgenden Jahr durch ihre Veröffentlichung in französischer Übersetzung bekannt gemacht hat), aber sie hing auch von der besonderen ontologischen Interpretation ab, die Levinas dem Denken Husserls gegeben hat. Noch mehrere Jahre später bezeichnete er die »Erneuerung des Begriffs des Transzendentalen«, dank derer Husserl »das fundamentale ontologische Ereignis« erfasst, als einen »wesentlichen Beitrag der Phänomenologie« Husserls (En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 1949, 19672, S. 127–128). Diese auf ihre Art ontologische Interpretation Husserls ist eine wichtige Voraussetzung nicht nur für die Ausführungen in Totalité et infini, sondern auch für die metaontologische Entwicklung, die auf dieses Werk folgt und in Autrement qu’être kulminiert. Zweifellos hat Sein und Zeit Levinas’ Werk aus dem Jahr 1930 und sein auch nachfolgend beibehaltenes HusserlVerständnis beeinflusst. Schon seit der Zeit der Diskussion mit Héring (in welcher Levinas erfolgreich geltend gemacht hat, wie sehr sein eigenes Verständnis im Text gegründet ist: reichhaltiges Zeugnis davon gibt En découvrant etc., op cit.) hat die Konsonanz der Interpretationen, die Levinas von anderen Denkern gegeben hat, mit den fundamental-ontologischen Entwicklungen, welche die Phänomenologie in Sein und Zeit genommen hat, immer Anlass zu Diskussionen gegeben (vgl. hierzu den wichtigen Band von F. P. Ciglia, Un passo fuori dall’uomo. La genesi del pensiero di Levinas, Padova 1989). Das Problem der levinasschen Husserl-Interpretation ist auch für die geschichtliche und theoretische Verortung der »dialogischen« Philosophie von entscheidender Bedeutung. Die Interpretation, die Theunissen davon gibt, indem er den transzendentalen Ansatz und den dialogischen Ansatz in der Theorie der Intersubjektivität einander radikal entgegenstellt, hat gewiss zu dem philosophiegeschichtlichen Verständnis der zeitgenössischen »Sozialontologie« beigetragen; aber eben gerade das Bemühen um eine theoriegeschichtliche Verortung hat Theunissen dazu gebracht, diese beiden Ansätze als alternativ zueinander darzustellen. Wenn es nun aber wahr ist, dass diese Ansätze besonders in einigen ihrer Entwicklungstendenzen

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Umkehrung der transzendentalen Apperzeption in radikalem Gegensatz zueinander zu stehen scheinen, so ist doch auch wahr, dass zwischen den beiden Polen dieser Opposition eine in beständiger Transformation befindliche Spannungslinie verläuft, welche diese Pole eng miteinander verbindet: es ist bezeichnend, dass Theunissen auf derselben Seite, auf der er Levinas kritisiert (es handelt sich dabei übrigens um den Levinas aus der Zeit vor Totalité et infini), die Legitimität seiner Verwendung einer husserlschen Terminologie und eines husserlschen Begriffsapparats zur Analyse der Innerlichkeit des Ich bei Buber dadurch untermauert, dass er sich auf die Buber-Interpretation von Levinas bezieht (M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin – New York 19772, S. 260). Der Fundamentalontologie sehr viel näher steht die Interpretation des dialogischen Denkens,, die B. Casper nahezu zeitgleich mit Theunissen vorgelegt hat (B. Casper, Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg – Basel – Wien 1967); andererseits hat Casper zu Recht betont, dass die Vertreter dieser Denkrichtung »zunächst einmal die Kantische Wende [des transzendentalen Subjekts] in ihrem vollen Umfang mit[vollziehen]« (S. 363). Das Denken von Levinas, so wie es sich mit Totalité et infini und im Anschluss an dieses Werk gestaltet hat, nimmt der »Ontologie des Zwischen«, so scheint es uns, endgültig jeden alternativen Charakter und lässt sie als eine Etappe auf dem Weg einer Kritik an der Intentionalität erscheinen, die mittels einer Kritik an der Reziprozität der Ich-Du-Beziehung und an der vermeintlichen Ursprünglichkeit dieser Beziehung radikalisiert werden muss. Im Übrigen ist auch wahr, dass das levinassche Denken zu einer metaontologischen Aufhebung der Ontologie und zugleich zu einer asymmetrischen Privilegierung des »Anderen« gelangt ist, die – wie wir noch sehen werden – die Züge eines paradoxen, umgekehrten Transzendentalismus erkennen lässt. Auch aus diesem Grund ist der gleich von uns anzustellende Vergleich mit gewissen aktuellen Wiederaufnahmen des Transzendentalismus keineswegs von außen herangetragen. Es scheint uns jedenfalls unbestreitbar zu sein, dass nach Autrement qu’être die Konstellation zwischen Transzendentalismus und dialogischer Ontologie in ihrer geschichtlichen und theoretischen Bedeutung neu überdacht werden muss. 7 So etwa W. Steinbeck, Das Bild des Menschen in der Philosophie Joh. Gottlieb Fichtes. Untersuchungen über Persönlichkeit und Nation, München 1939. Ein auf vor allem systematischer Grundlage basierender Vergleich zwischen Fichte und Husserl findet sich bei J. N. Mohanty, Fichte’s Science of Knowledge and Husserl’s Phenomenology, in Philosophical Quarterly (Calcutta), 25 (1952), S. 113–125; J. Hyppolite, Die Fichte’sche Idee von Wissenschaftslehre und der Entwurf Husserls, in H. L. Van Breda und J. Taminiaux (Hrsg.), Husserl und das Denken der Neuzeit, Den Haag 1959, S. 182–189; P. K. Schneider, Die wissenschaftsbegründende Funktion der Transzendentalphilosophie, Freiburg i. B. – München 1965 (Kap. 6 und 7); T. Rockmore, Fichte, Husserl and Philosophical Science, in International Philosophical Quarterly, 19 (1979), S. 15–27; H. Tietjen, Fichte und Husserl. Letztbegründung, Subjektivität und praktische Vernunft im transzendentalen Idealismus, Frankfurt a. M. 1989 (auf den Seiten 28–38 diskutiert der Autor explizit das Problem der Möglichkeit eines Vergleichs in Anbetracht des negativen Urteils Husserls über Fichte und dessen dürftiger Fichte-Kenntnisse); T. M. Seebohm, Fichte’s and Husserl’s Critique of Kant’s Transcendental Deduction, in Husserl Studies, 2 (1985), S. 53–74 (der Autor vertritt darin die These einer diametralen Opposition zwischen den beiden Interpretationen der transzendentalen Deduktion).

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Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik Vgl. z. B. die Seiten 60, 72, 73, 96, 103, 107, 147, 179 (»Niederlegung oder Niederlage der transzendentalen Apperzeption«), 194, 218 (siehe den Schlusssatz des Werks: »Es erinnert an das Zerbrechen der Einheit der transzendentalen Apperzeption, ohne das man nicht anders könnte als sein.«). 9 Besonders signifikant sind für unsere Ausführungen die Bezugnahmen auf das Reich der Zwecke und auf die Bedeutung, welche die intersubjektive Beziehung für die »Metaphysik« hat (vgl. z. B. Totalité et infini, ed. cit., S. 51–52, 93–94, 194); hier aber zitieren wir lediglich das Bekenntnis – um es so zu nennen –, mit dem das vierte Kapitel von Autrement qu’être abschließt, welches dem Thema der substitution gewidmet ist und von Levinas selbst als »Kernstück« bzw. »Keimzelle« der Genese des Werks bezeichnet wird (vgl. S. IX und S. 125): »Wäre es erlaubt, von einem philosophischen System nur eine hervorstechende Eigenschaft festzuhalten und darüber alle Details seiner Architektur zu vernachlässigen […], so würden wir hier an die Philosophie Kants denken, die für das Menschliche einen Sinn findet, ohne ihn durch die Ontologie zu bemessen, einen Sinn außerhalb der Frage ›Wie verhält es sich mit?‹, die man gerne für vorgängig hält, außerhalb der Unsterblichkeit und des Todes, an denen die Ontologien sich aufhalten. Daß weder die Unsterblichkeit noch die Theologie den kategorischen Imperativ zu bestimmen vermögen, darin liegt das Neue dieser kopernikanischen Wende: der Sinn bemißt sich nicht durch das Sein oder das Nichtsein, im Gegenteil, das Sein bestimmt sich vom Sinn her« (S. 166). Ebenfalls in Autrement qu’être findet sich jedoch auch: »Die Lehre Kants ist die Grundlage der Philosophie, wenn die Philosophie Ontologie ist« (S. 226), wobei auf essence als auf »Objektivität« Bezug genommen wird. 10 KrV, B 307. 11 Vgl. Autrement qu’être, S. 112 (peau à rides); zum Begriff der »Spur« vgl. S. 14, 15, 112; die Veränderung hatte aber schon mit dem Aufsatz La trace de l’autre aus dem Jahre 1963 eingesetzt (der dann in die zweite Auflage von En découvrant l’existence etc., ed. cit., S. 187–202, aufgenommen worden ist). 12 Vgl. G. Schrader, The »I« and the »We«. Reflections on the Kantian Cogito, in Revue Internationale de Philosophie, 35 (1981), S. 358–382. 13 Wir gebrauchen hier bewusst diesen Begriff anstelle von »Amphibolie«, um auf Levinas’ Rede von der »Amphibologie de l’être et de l’étant« (Autrement qu’être., S. 49–55) anzuspielen. 14 Vgl. Ideen I, § 49. 15 La théorie de l’intuition etc., ed. cit., passim. 16 Vgl. F. P. Ciglia, Un passo fuori dall’uomo, ed. cit., S. 21 ff. 17 Der Rückgang vom »Gesagten« zum »Sagen« wird in Autrement qu’être ausgearbeitet (vgl. insbesondere Kap. 2; aber auch bereits Le Dit et le Dire, in Le nouveau commerce, 18–19 [1971], S. 19–48). Einige Interpreten haben die Ausarbeitung dieses Themas als Levinas’ Reaktion auf die kritische Interpretation seines Denkens gesehen, die J. Derrida, Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas, in Revue de métaphysique et de morale, 82 (1977), S. 63–86, davon gegeben hat. Aber die Notwendigkeit, über die »Werke« hinauszugehen, die »darlegen«, aber nicht »ausdrücken« und die »ihren Autor [bedeuten], aber indirekt, in der dritten Person«, sowie die Behauptung, dass die Sprache kein »Werk« sei etc., sind Themen, die bereits ausführlich in Totalité et infini (vgl. S. 35 ff., S. 44 ff. und passim) ausgearbeitet sind. 18 In einem soeben erschienenen Band betont A. Masullo die »Koinzidenz« von »Faktizität der Norm« und »Normativität des Faktischen« in Apels Denken. Diesen Chi8

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Umkehrung der transzendentalen Apperzeption asmus dort wiederzufinden, bestärkt uns in unserer Interpretation Apels; es scheint uns auch nicht, dass die dort behauptete »Koinzidenz« in Kontrast zu unseren Ausführungen über den Ausschluss des Sollens des Faktums seitens des Faktums des Sollens steht, denn die »Koinzidenz« wird von Masullo als eine »Zirkularität« verstanden, welche eben gerade den Begründungsanspruch des Transzendentalismus in Frage stellt (A. Masullo, Filosofie del soggetto e diritto al senso, Genova 1990, S. 31 ff.). 19 Natürlich ist das Problem artikulierter, als sich dies hier darstellen ließe. Apel hat die Diskussion über den naturalistischen Fehlschluss über das Niveau hinausgeführt, das sie in der analytischen Philosophie erreicht hatte, indem er sich einerseits von Kants ethischen Transzendentalismus distanziert hat (mittels der Übernahme der Thesen von Ilting), andererseits aber zu einem späteren Zeitpunkt auch von Searles Kritik an der klassischen These des naturalistischen Fehlschlusses (Vgl. Sprachtheorie und transzendentale Sprachpragmatik. Zur Frage ethischer Normen, in Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. v. K. O. Apel, Frankfurt a. M., 1976, S. 53–80). Mit der zusammenfassenden und daher unvermeidlich simplifizierenden Formel »Faktum des Sollens vs. Sollen des Faktums« möchten wir uns auf den status quaestionis beziehen, so wie er sich unserer Ansicht zufolge nicht vor, sondern nach dem Fortschritt konfiguriert, den er mit Apels neuem Transzendentalismus gemacht hat. 20 Dieser Hinweis, der offensichtlich erscheint, wenn man das Problem auf der Grundlage der Hinweise betrachtet, die von der philosophischen Hermeneutik gegeben werden, würde auch von Levinas geteilt werden; aber seine Polemik gegen den »aufklärerischen« Anspruch einer universellen Vernunft, die jede Möglichkeit von Kommunikation aufhebe (vgl. z. B. Totalité et infini, S. 44 ff.), basiert nicht auf dem (bereits von Humboldt und Schleiermacher konzipierten) hermeneutischen Thema der Opazität und der semantischen Differenz als Bedingung der Interpretation, sondern in gewisser Weise auf dessen Gegenteil: »Hier beruht der Widerstand eines Terminus gegen einen anderen nicht auf dem finsteren und feindlichen Residuum der Andersheit, sondern umgekehrt auf dem unerschöpflichen Überschuss an Aufmerksamkeit, den mir das Wort, das immer Belehrung ist, bringt« (Totalité et infini, S. 70). Unlängst hat Habermas auf diesen Einwand gegen die kommunikative Ethik in einer Weise zu antworten versucht, auf die wir hier nicht eingehen können, die aber gewiss bestätigt, dass der Einwand alles andere als extrinsischer Art ist, sondern sozusagen im Innern der kommunikativen Ethik selbst entsteht (vgl. J. Habermas, Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in W. Kuhlmann (Hrsg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 16–37.) 21 Besonders in Totalité et infini, schon im Vorwort (»Treue zum Intellektualismus der Vernunft«, S. XVII und passim). 22 Vgl. z. B. S. 9, 35 und 282. 23 Vgl. K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M., 1973, S. 404–405 (mit Bezug auf Kant) und passim. 24 Vgl. Totalité et infini, S. 148 und passim. 25 Totalité et infini, S. 13 und 56. Natürlich handelt es sich dabei um eine Verwirklichung der Kritik, welche sich mittels einer Umkehrung vollzieht (Levinas selbst spricht von einer »Umkehrung der Kritik«: ibid., S. 59), gemäß einer Struktur des levinasschen Denkens, die wir bereits kennen gelernt haben (vgl. die Umkehrung der Intentionalität; vgl. die umkehrende Bewegung, die beginnend mit La trace de l’autre

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und kulminierend in Autrement qu’être den Prozess des Überdenkens des Problems der Subjektivität gegenüber Totalité et infini abschließt). 26 Totalité et infini, S. 39. 27 Vgl. z. B. Wissenschaftslehre nova methodo, in Gesamtausgabe der Bayer. Ak. d. Wissenschaften, Bd. IV-2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 31: »Eine solche Anschauung ist eine intellectuelle. Dies widerspricht dem Kantischen System nicht; Kant läugnet nur eine Sinnliche intellectuelle Anschauung. Und das mit Recht«. 28 Vgl. Totalité et infini, S. 39: »die Beziehung zu diesem ›Ding an sich‹ ist nicht der Grenzpunkt einer Erkenntnis, die als Konstitution eines ›lebendiges Leibes‹ beginnt«. 29 Vgl. ibid.: »ein Wir, das mir und dem Andern vorausgeht, eine neutrale Intersubjektivität«. 30 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, in: Sämtl. Werke, hrsg. v. G. Lasson, Bd. VIII, 1–1, Leipzig 19202, S. 82. 31 S. Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, ed. cit., S. 235. 32 Vgl. die Rede von dem »Richter, der über die Freiheit selbst des Denkens urteilt«, Totalità et infini, S. 73. 33 »Die Unendlichkeit der Verantwortung bedeutet nicht ihre aktuelle Unermeßlichkeit, sondern ein Anwachsen der Verantwortung in dem Maße, in dem sie übernommen wird; die Pflichten erweitern sich in dem Maße, in dem sie erfüllt werden. Je besser ich meine Pflicht erfülle, umso weniger Rechte habe ich; je gerechter ich bin, umso schuldiger bin ich« (Totalità et infini, S. 222; Hervorhebungen von Levinas). Uns scheint, dass das Problem der Supererogation von entscheidender Bedeutung für den Versuch ist, das »Sollen« in einem Sinne neu zu verstehen, der nicht paläosubjektivistischer Art ist; als Beispiel für Perspektiven innerhalb der analytischen Tradition vgl. D. Heyd, Supererogation. Its Status, Cambridge 1982; P. M. McGlodrick, Saints and Heroes: A Plea for Supererogatory, in Philosophy, 59 (1984), S. 523–528; R. M. Adams, Saints, in The Journal of Philosophy, 81 (1984), S. 392–401; F. M. Kamm, Supererogation and Obligation, in The Journal of Philosophy, 82 (1985), S. 118–138. 34 Es ist bezeichnend, dass Positionen, die der in der vorangegangenen Anmerkung zitierten Position aus Totalité et infini sehr ähnlich sind, nunmehr durch die folgende Präzisierung ergänzt werden: »Es handelt sich nicht um ein Sollen« (Autrement etc., S. 14). Vgl. auch: »Niemand ist gütig aus freien Stücken« (S. 13); »Akkusativ und Anklage ohne Grund« (S. 140), etc. Diese neue Ausrichtung ist bereits in Humanisme de l’autre homme, Montpellier 1972, explizit. 35 So zumindest in Autrement qu’être. Um auch bezüglich dieses Motivs die Veränderung gegenüber Totalité et infini zu ermessen, kann man die beiden folgenden Passagen aus diesen beiden Werken gegenüberstellen: »Die Offenbarung des Dritten, der im Gesicht unausweichlich ist, ereignet sich nur durch das Gesicht hindurch« (Totalité et infini, S. 282); »Der Dritte stört [die Nähe] dadurch, dass er in der ›Einheit des transzendentalen Bewusstseins‹ Gerechtigkeit verlangt« (Autrement qu’être, S. 103). 36 Vgl. En découvrant etc, ed. cit., S. 198–199; in Autrement qu’être siehe man z. B., als Kontrast zu dem in der vorangegangenen Anmerkung angeführten Zitat aus demselben Werk: »Spur einer Beziehung zur Illeität, die durch keine Einheit der Apperzeption umfaßt wird« (S. 214). Wir stellen diesen Kontrast nicht nur deshalb heraus, um auch diesbezüglich zu zeigen, wie sich das Motiv der transzendentalen Apperzeption bei Levinas konfiguriert, sondern auch, um zu unterstreichen, dass die im Text

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Umkehrung der transzendentalen Apperzeption angeregte Suche nach einer möglichen Beziehung zwischen dem »Dritten« und der »Illeität« nicht darauf abzielt, eine Koinzidenz oder eine Analogie zwischen diesen beiden Begriffen zu behaupten; diese Suche geht vielmehr von der levinasschen These aus, dass die »Illeität« eine »Tertialität« sei, »die sich unterscheidet von der des dritten Menschen, jenes Dritten, der das ›face à face‹ bei der Aufnahme des anderen Menschen unterbricht« (Autrement qu’être, S. 191). 37 Totalité et infini, S. 257. 38 Zum Verhältnis zwischen Symmetrie und Transzendentalität finden sich sehr scharfsinnige Beobachtungen von Derrida in dem zitierten Aufsatz über Violence et métaphysique; vgl. zu diesem Punkt außerdem die Beobachtungen von R. Bernasconi, Hegel and Levinas: The Possibility of Forgiveness and Reconciliation, in Archivio di Filosofia, 54 (1986), S. 326 ff. 39 Vgl. D. Wunderlich, Die Rolle der Pragmatik in der Linguistik, in Der Deutschunterricht, 22 (1970), S. 5–41, und B. Schlieben Lange, Linguistische Pragmatik, Stuttgart 1975, S. 48 und 126–127. Zur empirischen Asymmetrie zwischen Sprechen und Zuhören vgl. auch R. J. Jarvella, Asymmetrie zwischen Sprachproduktion und Sprachverstehen, in C. F. Graumann und Th. Hermann (Hrsg.), Karl Bühlers Axiomatik, Frankfurt a. M. 1984. Wir möchten schließlich daran erinnern, dass aus phänomenologischer Perspektive all die feinsinnigen Werke von B. Waldenfels, angefangen mit Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluß an E. Husserl, Den Haag 1971 (vgl. insbesondere S. 149–151) bis hin zu Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a. M. 1987, als Versuch verstanden werden können, die Vorgängigkeit der Asymmetrie und ihr Verhältnis zur Symmetrie zu denken (zu den dialogischen Aspekten der Asymmetrie vgl. insbesondere den § »Zwischenereignis und responsive Rationalität«, ibid., S. 46–48). 40 Vgl. P. Lorenzen, O. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim – Wien – Zürich 1973. 41 KrV, B 293. J. Simon hat seinerseits Kants Versuch, das »ethische Gemeinwesen« zu begründen, als »theokratisch« kritisiert, und zwar in einem Kontext, in dem er auch das zeitgenössische Thema der »Kommunikationsgemeinschaft« kritisiert hat: vgl. Wahrheit als Freiheit, Berlin – New York 1978, S. 347 ff.

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Fünftes Kapitel a Kommunikative Transformation der transzendentalen Apperzeption

Die gegenwärtige kommunikative Ethik nimmt bekanntlich Bezug auf die universellen Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation: Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Verständlichkeit; diese Bedingungen definieren die »ideale Sprechsituation« (Habermas) bzw. die »transzendentale Kommunikationsgemeinschaft« (Apel). 1 Die Bezugnahme auf diese Bedingungen ist zugleich deskriptiv und normativ. Sie ist normativ, weil die ideale Kommunikationssituation das volle Menschsein definiert, das der Mensch als sprach- und vernunftbegabtes Tier, als ein Seiendes, welches »argumentierend« sich selbst und seinen realen oder virtuellen Gesprächspartnern Rechenschaft über sein Verhalten ablegen kann, anstreben soll. Wie man sieht, handelt es sich aber auch um eine deskriptive Bezugnahme, insofern sie auf die Erkenntnis dessen, was den Menschen de facto in seiner Natur als zóon lógon échon konstituiert, gegründet ist und gegründet sein soll. In Wirklichkeit ist die Lage, in der sich die kommunikative Ethik befindet, diesbezüglich nicht sehr verschieden von der Lage, in der sich viele Moralphilosophien der Vergangenheit befunden haben, die auf das »Sein« bzw. auf die »Natur« als auf dasjenige Bezug genommen haben, was das Kriterium des Sollens liefern sollte. Nicht umsonst läuft, wie bereits erwähnt, der Einwand, der gegen die kommunikative Ethik sofort erhoben worden ist und den deren Theoretiker mit aller Macht zu beantworten versuchen, darauf hinaus, in einer solchen theoretischen Ausrichtung eine Neuauflage des »naturalistischen Fehlschlusses« zu wittern. Nur dass hier der Verstoß gea

Der Text dieses Kapitels entspricht im Wesentlichen dem Text eines Aufsatzes, der zuerst 1983 auf Spanisch unter dem Titel Antropología, ética, comunicación (MMO87) und dann 1984 sowohl auf Italienisch unter dem Titel Etica comunicativa e asimmetria della comunicazione (MMO-90) als auch auf Deutsch unter dem Titel Anthropologie, Ethik, Kommunikation (MMO-92) erschienen ist.

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Kommunikative Transformation der transzendentalen Apperzeption

gen das, was »Humes Gesetz« genannt worden ist, d. h. der Verstoß gegen das Verbot, vom Sein auf das Sollen zu schließen, eine besondere Form annimmt, weil das »Sein« bzw. die »Natur« in diesem Fall ausschließlich in Bezug auf den Menschen betrachtet werden. Es wird dabei nämlich nicht auf ein Sein bzw. auf eine Natur Bezug genommen, innerhalb derer sich der Mensch befindet und denen die Norm seines Verhaltens zu entnehmen wäre; es wird vielmehr ausschließlich auf den Menschen oder, wenn man so will, auf die sprachliche Kommunikation Bezug genommen, in die er sich eingelassen findet und die ihn in seinem Wesen definiert (auf das Verhältnis zwischen Kommunikation und menschlichem Subjekt werden wir in Kürze zurückkommen müssen). 100 Die Geschichte der modernen Philosophie kann zu gutem Teil als eine Reihe von Versuchen verstanden werden, die Aporie des Verhältnisses von Sein und Sollen dadurch zu überwinden, dass sie immer mehr von einer Normativität des Außen (die Natur, das Sein etc.) zu einer Normativität des Innen (die Freiheit, das Subjekt etc.) übergehen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die kommunikative Ethik in Kontinuität zur Philosophie der Moderne als einer Philosophie der Subjektivität steht. Aber so, wie sich die normative Ethik von der traditionellen Ontoaxiologie und vom traditionellen ethischen Naturalismus durch ihre ausschließliche Bezugnahme auf den Menschen unterscheidet, so unterscheidet sie sich – zumindest der Absicht nach – auch vom Subjektivismus der Philosophie der Moderne durch ihr Vorhaben, den Einschluss der äußeren Natur in die innere Freiheit zu vermeiden, d. h. durch ihr Vorhaben, eine »Philosophie der Geschichte« im idealistischen Sinne dieses Begriffs, also im Sinne einer »philosophischen Weltgeschichte«, zu vermeiden. Darin besteht für die kommunikative Ethik ihre Abkehr von der idealistischen Philosophie und dadurch glaubt sie die Voraussetzungen dafür zu erfüllen, eine »Rekonstruktion des historischen Materialismus« 2 leisten zu können. Die Übertragung des kohlbergschen Schemas von der entwicklungspsychologischen Ebene, für die es ursprünglich gedacht war, auf die gesellschaftliche Ebene ist diesbezüglich bezeichnend. 3 Durch die Herstellung einer Korrespondenz zwischen dem Bereich der Ontogenese, in dem Kohlbergs Entwicklungsschema angesiedelt war, und dem Bereich der Phylogenese, in dem Habermas und Apel dieses Schema anwenden zu können glauben, wird die ethische Entwicklung der Menschheit auf der Grundlage eines naturalisti173 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

schen Modells beschrieben; dabei soll aber der naturalistische Fehlschluss in einer neuartigen Synthese zwischen Sein und Sollen aufgehoben werden. Denn einerseits hat die durch dieses Modell dargestellte Entwicklung nicht den Charakter der Notwendigkeit; so wie es möglich ist, dass ein Kind seine Reifungskrisen nicht adäquat überwindet, so ist es möglich, dass Gesellschaften an den Reifungsproblemen scheitern, denen sie sich im Laufe der Geschichte stellen müssen. Andererseits jedoch soll die Aufreihung der einzelnen Typen moralischer Einstellung in einer Entwicklungslinie das Kriterium für eine wertende und präskriptive Betrachtung derselben bereitstellen: sie können nicht einfach nebeneinander bzw. einander gegenüber stehen und identische ethische Geltungsansprüche stellen, weil die derart rekonstruierte Natur selbst sie nach ihrem »Wert« ordne. Wie verführerisch der Vergleich mit Kindheit und Reife im deskriptiven Sinne dieser Begriffe aber auch sein mag, so ist doch nur allzu offensichtlich, dass diese wertende Betrachtung einer Subjektivität entspringt, die sich nicht empirisch reduzieren lässt. Bleibt man bei dem Vorhaben, mit der evolutiven Betrachtungsweise nicht erneut eine Geschichtsphilosophie zu unterbreiten, bzw. – um die zuvor gebrauchte Metapher zu verwenden – bei dem Vorhaben, nicht erneut eine Normativität des »Innen« auf das »Außen« zu übertragen, so sieht man sich dazu gezwungen, die Schwierigkeiten auf beiden 101 dieser Seiten zu lösen: auf Seiten des Erkenntnissubjekts mittels des Versuchs, den epistemologischen Status des Verfahrens zu bestimmen, mit dem das Entwicklungsschema gewonnen wird; auf Seiten des Erkenntnisobjekts mittels des Versuchs, den anthropologischen Status des Kulturprodukts zu bestimmen, in dem sich die Entwicklung konkretisiert. Im ersteren Fall wird auf den Begriff der »Rekonstruktion« Bezug genommen, im letzteren Fall auf den Begriff der »Institution«. In beiden Fällen aber ist man nicht so sehr Zeuge einer wirklichen Überwindung der modernen Subjektivitätsphilosophie als vielmehr eines In-der-Schwebe-bleibens zwischen Transzendentalismus und Dialektik, das weit davon entfernt ist, die Aporie des Verhältnisses von Sein und Sollen aufzulösen. Die angesprochene Aporie wird mittels des Rekurses auf den Begriff der »Rekonstruktion« nicht wirklich aufgelöst. Es ist zwar wahr, dass durch den Bezug auf diesen Begriff in seinem dialektischen Sinne die unter moralischem Gesichtspunkt dargestellte Entwicklung – oder Geschichte – der Menschheit als revidierbar erscheint. Aber die S e l b s t e i n h o l u n g des rekonstruierenden Subjekts in das verwen174 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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dete Entwicklungsschema hat im Falle der hier untersuchten Theorierichtungen eine genau bestimmte Grenze: die Selbsteinholung wird nämlich von den Theoretikern der kommunikativen Ethik – d. h. genauer gesagt von Apel und seiner Schule – als eine reflexive Bewegung transzendentaler Art gedacht. Jedes Behelfsmittel, das diese Charakteristik abschwächen soll, bleibt vor allem Ausdruck eines Wunschdenkens: entweder ist die Rekonstruktion wirklich dialektisch und unterstellt daher auch die Kommunikationskriterien, die eine Ethik der Kommunikation begründen sollten, der Geschichtlichkeit und der Revidierbarkeit; oder die Dialektik stößt auf die Grenze des Apriori als auf eine Bedingung der Möglichkeit der Rekonstruktion selbst und mithin als auf eine nicht weiter hintergehbare und revidierbare Grenze. In diesem Sinne hat Apel vollkommen Recht, wenn er anregt, die von Habermas auf chomskyscher Grundlage ausgearbeitete Theorie der Rekonstruktion in transzendentaler Richtung zu vervollständigen (oder etwa zu transformieren?). 4 Dies ändert jedoch nichts daran, dass jede Bezugnahme auf die Selbsteinholung einen wesentlich äquivoken Charakter hat, der jeweils geklärt werden muss, damit der Gedankengang radikalisiert und kohärent gemacht werden kann. Entweder Selbsteinholung bedeutet, dass die stattfindende Rekonstruktion die beiden Pole des Rekonstruierenden und des Rekonstruierten miteinander in einem einzigen Prozess verbindet, der nur provisorisch und in gewissem Sinne willkürlich festgelegt werden kann: denn eben dadurch, dass sie stattfindet, zieht die Rekonstruktion den Rekonstruierenden in das Rekonstruierte hinein und stellt ihn somit vor die Aufgabe einer neuerlichen Rekonstruktion, welche die Inklusion – und somit die Transformation – des rekonstruierenden Subjekts, insofern es rekonstruiert worden ist (d. h., mit klassischer moderner Terminologie gesprochen: die Objektivierung des Subjekts), berücksichtigt. Oder aber Selbsteinholung bedeutet, dass jeder Rekonstruktionsprozess bestimmte Merkmale subjektiver Identität beibehält, so dass nicht so sehr von einer Objektivierung des Subjekts, sondern vielmehr von einer Subjektivierung des Objekts die Rede sein kann, insofern nämlich die Identität des Rekonstruierenden bzw. (um Substanzialisie- 102 rungen zu vermeiden, die allerdings ohnehin letztlich unvermeidlich sind) die rekonstruierende Identität im kantschen Sinne die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass sie als Objekt gegeben ist, so sehr dieses Objekt auch geschichtlichen Wandlungen unterliegen mag; und diese Bedingung der Möglichkeit bzw. diese Identität kann ihrer175 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

seits durch die reflexive Bewegung identifiziert werden. Aber das Vorhaben, die kantsche Einheit der transzendentalen Apperzeption in eine »semiotische Synthesis der Kommunikation« zu transformieren, scheint die Möglichkeit auszuschließen, den Transzendentalismus in diesem Sinne zu radikalisieren. Hierin ist die Position von Habermas, wie es auch immer um ihre Kohärenz bestellt sein mag, vorsichtiger als diejenige von Apel: es könnte mehr sein als ein bloßes »Schlagwort«, wenn man – unter Rückgriff auf eine Klassifizierung, welche das Nachdenken über praktische Philosophie heutzutage stark prägt – sagen würde, dass diese beiden Denker im Hinblick auf ihren intellektuellen Stil in gewisser Weise jeweils den Stil der »Pflicht« und den Stil der »Tugend«, den des S o l l e n s und den der phrónesis repräsentieren. In der Tat ist die Transformation der transzendentalen Apperzeption in Synthesis der Kommunikation nur unter der Bedingung vertretbar, dass man die Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation dann nicht wieder im Sinne des klassischen Subjektivismus als Bedingungen denken muss, die endgültig sind und das kommunizierende Subjekt definieren (dies wäre immer noch eine Art und Weise, das »Wesen« des Menschen zu denken). Auf diese Art und Weise würde das Subjekt erneut als etwas gedacht werden, was dem Faktum der Kommunikation vorausginge, zumal das Subjekt selbst dessen Bedingung der Möglichkeit darstellen würde. Eben dies aber geschieht jeder gegenteiligen Absicht und Beteuerung zum Trotz, wenn man mittels kommunikativer »Universalien« (Habermas) oder »Transzendentalien« (Apel) die Bedingungen der Kommunikation definiert. Der Genitiv ist in diesem Fall grammatisch gesehen ein Objektsgenitiv, d. h.: die Kommunikation ist das Objekt, das durch ein so und so konstituiertes Subjekt ermöglicht wird, oder durch mehrere Subjekte, welche die Iteration des Modells bzw. des Wesens des menschlichen Subjekts darstellen. In diesem Fall ist es nicht möglich, den Genitiv in dem Ausdruck »Bedingungen der Kommunikation« grammatisch für einen Subjektsgenitiv zu halten (so dass dieser Ausdruck bedeuten würde, dass die Kommunikation als neues transzendentales Subjekt bzw. als neue transzendentale Funktion diese Bedingungen diktiert, durch welche die empirischen Subjekte allererst möglich werden, die sich innerhalb der Kommunikation oder besser gesagt dank der Kommunikation konstituieren); denn diese These zu vertreten, bedeutet eben gerade zu behaupten, dass das so argumentierende Subjekt sich selbst in eine immer schon geschichtliche dia176 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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lektische Bewegung einholt, und es somit eben gerade aufgrund des Faktums, diese sich selbst einholende Rekonstruktion durchgeführt zu haben, einer andersartigen Rekonstruktion empfänglich zu machen. Auch dann, wenn man das Problem von seiner »äußeren« Seite aus betrachtet, ist nicht weniger evident, dass es einer Radikalisierung 103 bedarf, um die Aporie des Verhältnisses von Sein und Sollen aufzulösen. Denn auch dann, wenn man auf den Begriff der »Institution« rekurriert, in welchem sich das auf phylogenetischer Ebene rekonstruierte moralische Entwicklungsschema konkretisiert, stellt sich das Problem der Reflexivität in analoger Weise dar; auch hier zeigt sich nämlich, dass das Verharren auf einer Zwischenposition zwischen Transzendentalismus und Dialektik bedeutet, auf halber Strecke zwischen den klassischen Positionen der modernen Philosophie stehenzubleiben, ohne wirklich über den substanzialistischen Subjektivismus und essenzialistischen Humanismus hinauszugehen, den jene klassischen Positionen wenigstens den Mut hatten, theoretisch auszuformulieren. Es zu vermeiden, die äußersten Konsequenzen zu ziehen, mag gewiss eine Art und Weise darstellen, sich der drohenden Auflösung des Subjekts und mithin des an es gerichteten S o l l e n s zu entziehen; sich einen Einwand nicht einzugestehen, bedeutet jedoch nicht, ihn überwunden zu haben. Fromme Wünsche auszusprechen, kann ein Mittel sein, Träume wahr werden zu lassen (und wir beabsichtigen damit ganz und gar nicht, dem Sarkasmus beizupflichten, mit dem H. Albert in Bezug auf Apel von »t r a n s z e n d e n t a l e n Tr ä u m e r e i e n « spricht, 5 sondern wir spielen vielmehr in gewisser Weise auf die trotz allem konstruktive These an, die unserem Buch zugrunde liegt); nichtsdestoweniger kommt dem Philosophen jedoch – leider – die »unnütze« Rolle des »Spaßverderbers« zu; und sollte nach Abschluss seiner kritischen Arbeit noch irgendwelcher Spaß oder irgendwelche Möglichkeit zum Spaß oder irgendwelcher Nutzen übrig bleiben, so kann dies nur – um mit Kant zu sprechen – ein finis in consequentiam veniens sein. 6 Die Institution der Sprache ist der Inhalt eines letzten Stadiums, welches die Theoretiker der kommunikativen Ethik glauben, der kohlbergschen Skala der moralischen Entwicklung hinzufügen zu müssen. Es lohnt sich zu beachten, wie die Übertragung dieser Skala auf die phylogenetische Ebene Themen wieder aufleben lässt, die historisch bereits in einem sehr bedeutungsvollen Problemkontext formuliert worden waren. Seit der Zeit, in der sich die moderne Debatte 177 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

über den Ursprung der Sprache lebhaft entwickelte (damals – oder schon damals? – war die Frage, ob die Sprache »menschlichen« oder »göttlichen« Ursprungs sei; eine Fragestellung, die den Gedanken des Ursprungs selbst gerade mit Bezug auf die Sprache schlicht und einfach nicht in Frage stellte), ist die These vertreten worden, dass der menschliche lógos ein Mittel darstelle, um den Mangel an Instinkt zu kompensieren, der den Menschen gegenüber den Tieren charakterisiere. Eben diese These aber (welche unter anderem von Herder vertreten worden ist, der mit seiner Abhandlung bekanntlich den Preis der von der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgeschriebenen Preisaufgabe über den Ursprung der Sprache gewonnen hat), ist heute von den Theoretikern der kommunikativen Ethik wieder aufgegriffen worden, wenn auch ausgehend von anderen und »moderneren« Quellen. Apel hat sich nämlich unlängst sowohl auf die Anthropologie Gehlens und auf dessen Moraltheorie, die in den Institutionen ein Surrogat des Instinkts sieht, als auch auf die Anthropobiologie von Lorenz berufen, und er hat diese Perspektiven sogar noch in evolutio104 nistischer Richtung verstärkt, indem er in Anlehnung an von Uexküll feststellt, dass die Diskrepanz zwischen M e r k w e l t und W i r k w e l t im Verlauf der Entwicklung der technologisch-instrumentellen Kultur immer größer wird (d. h., dass die Konsequenzen des Gebrauchs technischer Instrumente immer weniger kontrollierbar und vorhersehbar sind: eine sehr empirische und verifizierbare Art und Weise, dasjenige zu bezeichnen, was wir oben mit den Begriffen von Plan und Unplanbarkeit theoretisch beschrieben haben). Die kommunikative Institution – oder Metainstitution – der Sprache erscheint in dieser apelschen und gehlenschen Perspektive als letzter E r s a t z des Instinkts und als letzte, nicht weiter hintergehbare Bedingung, auf die zurückgegriffen werden muss, um die Tierart Mensch zu erhalten. 7 Diese Erhaltung ist nun aber eine Erhaltung vor einer unabsichtlichen Selbstzerstörung, sei es, dass diese Selbstzerstörung Folge der unkontrollierbaren und unvorhersehbaren anti-ökologischen Konsequenzen technischen Fortschritts ist (d. h. Folge eines falschen »Subjekt«-»Objekt«-Verhältnisses), sei es, dass sie Folge des unkontrollierbaren und unvorhersehbaren Anwachsens von Aggressivität ist (d. h. Folge eines falschen »Subjekt«-»Subjekt«-Verhältnisses), oder aber sei es, dass diese beiden Aspekte, d. h. der objektive und der intersubjektive Aspekt, letztlich ununterscheidbar sind, weil sie 178 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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ein und dieselbe Wurzel haben. In jedem Fall ist die unabsichtliche Selbstzerstörung das Ergebnis einer Unplanbarkeit, die der apelsche Entwurf planmäßig überwinden zu können glaubt. Durch die Betonung der ethischen Reflexivität der Sprache (ethisch ist diese Reflexivität, insofern sie eine sich selbst erhaltende Reflexivität ist) überwindet die kommunikative Ethik den empirischdeskriptiven Institutionalismus, mit dem man durch eine Vertiefung der Theorie der Sprechakte geglaubt hat, den »naturalistischen Fehlschluss« dadurch auflösen zu können, dass man die Präskriptivität normativer Äußerungen von institutionellen Tatsachen (insbesondere vom institutionalisierten Sprechakt des »Versprechens«) ableitet; eben dies ist der Sinn von Apels Kritik an Searle. 8 Es besteht daher kein Zweifel daran, dass die reflexive Bewegung (aufgrund derer die Sprache sowohl Institution als auch Metainstitution ist) für jene Anthropologie wesentlich ist, die in der Sprache einen Ersatz für den Instinkt sieht. Dies ist im Übrigen offensichtlich und tautologisch, weil sich der »Instinkt« (zumindest im gängigen und gewöhnlichen Sinne dieses Begriffs) von der »Vernunft« (wiederum im gewöhnlichen Sinne dieses Begriffs, der jeder weitergehenden philosophischen Ausarbeitung hinsichtlich einer vom Verstand unterschiedenen Vernunft und einer intellektuellen Anschauung vorausgeht) eben durch den Charakter der Unmittelbarkeit unterscheidet, der die Reflexivität ausschließt; Reflexivität wird dagegen gewöhnlich mit der Vernunft in Verbindung gebracht. Das Charakteristikum des Verständnisses von Vernunft als sprachlicher, kommunikativ argumentierender Vernunft besteht jedoch darin, dass die Vernunft, um solcherart sein zu können, immer schon (geschichtlich) zum Ausdruck gebracht und daher nie »rein« ist. Es muss jedoch gesagt werden, dass auch dies nicht wirklich eine Neuheit ist, die den 105 Theoretikern der kommunikativen Ethik zu verdanken wäre. Es handelt sich vielmehr um eine »Neuheit«, die zum Beispiel in eben dem Moment sofort wahrgenommen worden ist, in dem die Reflexivität der Vernunft von der kritischen Philosophie theoretisch in den Blick genommen worden ist: die Idee, dass durch die Berücksichtigung des Faktums der Sprache eine »Metakritik über den Purismus der Vernunft« nötig werde, ist eine Idee, die unmittelbar im Anschluss an Kants kritischen Entwurf formuliert worden ist (vgl. Hamann und abermals Herder). Wenn man glaubt, dass die reflexive Bewegung in der Lage ist, sich selbst vollständig zum Abschluss zu bringen und zu sich selbst 179 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

zurückzukehren, dann stellt die Äußerlichkeit der Sprache kein Problem dar, weil jede Kritikbewegung von der sich letztlich selbst einholenden Zirkularität aufgehoben wird, die jeder Unterscheidung zwischen »innen« und »außen« nur den Charakter der Vorläufigkeit zugesteht. Aber in dem Maße, in dem diese Sichtweise sich selbst als eine Antizipation begreift – und sie begreift sich als eine solche eben gerade in einer reflexiven Bewegung kritischer und ideologiekritischer Art –, erscheint jede Identifikation und jede Identität – vor allem die Identität des S e l b s t – als eine Bewegung, die unfähig ist, sich selbst vollständig einzuholen, und mithin nicht nur als eine Bewegung, welche sich innerhalb eines Außen vollzieht, das in seiner untilgbaren Differenz zurückbleibt, sondern auch als ein Sicherzeugen der Differenz im Akt ihres Differierens (auch im zeitlichen Sinne dieses Begriffs) b. Letzten Endes ging es bei der Kontroverse über den »menschlichen« oder »göttlichen Ursprung« der Sprache, ungeachtet der kulturbedingten Begrifflichkeiten, in denen die Frage in der Zeit der Aufklärung formuliert wurde (Begrifflichkeiten, die heute als naiv und einer »Entmythologisierung« bedürftig erscheinen), um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer reflexiven und selbstreferenziellen Begründung. Vielleicht wäre es zudem nicht unangebracht, daran zu erinnern, dass auch Kohlberg ein weiteres Stadium seiner Skala der ontogenetischen Entwicklung der Ethik in Betracht gezogen und dieses Metastadium als das »religiöse« Stadium bezeichnet hat. 9 Der Weg dahin, eine R e l i g i o n n a c h d e r A u f k l ä r u n g zu denken, verläuft zweifellos über ein angemessenes Nachdenken über die hier in Frage stehenden Probleme (und es kann auch sein, dass ein angemessenes Nachdenken über die hier in Frage stehenden Probleme in ein philosophisches Religionsdenken n a c h d e r A u f k l ä r u n g mündet). Eines aber ist indessen offensichtlich: die Radikalisierung der in Frage stehenden Probleme, die Beantwortung der mit der Problematik des Verhältnisses von Sein und Sollen verbundenen Herausforderung führt dazu, sich mit dem Thema einer Äußerlichkeit auseinanderzusetzen, die weder in die Zirkularität der transzendentalen Reflexionsbewegung eingeschlossen werden kann noch in den »Kreis der Kreise«, bei dem die Dialektik idealistisch-spiritualistischer und

b

D. h. im Sinn eines zeitlichen Verschiebens bzw. Aufschiebens.

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letzten Endes noch subjektivistischer Prägung die Antizipation mit der Konklusion oder besser gesagt das aktuelle subjektive und innerliche Bild des Wunsches mit der Erfüllung desselben verwechselt hat. Der Anspruch, sich auf Regeln zu beziehen, die ideal (regulative 106 Ideale) und konstitutiv zugleich sind, stellt keine Überwindung dieser klassischen Lösungen der Moderne dar, sondern eine weitere und im Vergleich zu ihnen weniger radikale Art und Weise, dem Wunsch Gestalt zu verleihen: weniger radikal deshalb, weil er – durch die Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen innen und außen und durch das Beharren auf dem Thema der Regel – der Illusion verfällt, jede metaphysische Annahme vermeiden zu können. In der Tat würde die Radikalisierung des durch diesen Anspruch formulierten Wunschdenkens unausweichlich dazu führen, auf die klassischen Lösungen zurückzufallen, die man überwunden zu haben meinte; kurz gesagt: sie würde zurück zu einer Metaphysik der substanzialistischen Subjektivität führen. Wir bestreiten nicht, dass die Entwicklungs- und Evolutionsforschung wichtig ist: dies haben wir bereits im vorangegangenen Kapitel c gesagt und wir werden es auch noch in diesem und in den folgenden Kapiteln sehen. Dass die Entwicklungsund Evolutionsforschung der Weg ist, auf dem Sein und Sollen ebenso wie Empirie und Transzendentalität miteinander in Einklang zu bringen sind, zeigt die gesamte Geschichte der Philosophie der Subjektivität. Es gilt jedoch, diese Forschung in einer Weise zu entwickeln, die sowohl die Geschichte der Philosophie der Subjektivität als auch die Transformationen wirklich berücksichtigt, die der linguistic turn mit sich gebracht hat. Die Tatsache, dass dieser Wende zufolge bei jeder Reflexionsbewegung, insofern sie durch die Sprache und in der Sprache zur Ausübung kommt, prinzipiell ein Rest von Äußerem zurückbleibt, macht es nötig, die kritische Bewegung dahingehend zu radikalisieren, dass man die metaphysische Verallgemeinerung neu überdenkt, die der Begriff des Subjekts darstellt. Genauer gesagt gilt es, diesen Begriff in solcher Weise neu zu überdenken, dass er nicht mehr »ursprünglich« und ausschließlich ontologischer Art ist; gleichzeitig und mit derselben Denkbewegung wird selbstverständlich auch die Intersubjektivität neu überdacht, die den c

Eigentlich wird nicht im »vorangegangenen«, vierten Kapitel auf die »Entwicklungs- und Evolutionsforschung« Bezug genommen, sondern im zweiten und dritten Kapitel, nämlich insbesondere auf S. 36 und 60. Vgl. hierzu die Erläuterungen im zweiten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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unerfüllten Traum der Transzendentalphilosophie in all ihren Anamorphosen dargestellt hat. Das symmetrische Kommunikationsmodell, in dem sich die konstitutiv-ideale Regel der kommunikativen Ethik (die »ideale Sprechsituation«, die »unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft«) konfiguriert, offenbart die eigenen (wohlgemerkt unabsichtlichen und ungewollten) subjektivistisch-substanzialistischen Voraussetzungen bereits an der Art und Weise, in der sie in Kontrast zu den Ergebnissen der empirischen Forschung steht, auf die wir am Schluss des vorangegangenen Kapitels Bezug genommen haben (notwendig asymmetrische Kommunikationssituationen bei Arbeitsteilung, Belehrung etc.). Man könnte auch noch daran erinnern, dass alle entwicklungspsychologischen Untersuchungen den Kommunikationsstimulus seitens des Anderen (der Mutter, der Elternfigur) als die Bedingung identifizieren, welche die Selbstidentifikation des Bewusstseins ermöglicht. Man beachte, dass das asymmetrische Kommunikationsmodell, auf das derartige Hinweise verweisen, keine Verzerrungen der Kommunikationsbedingungen impliziert, sondern ganz im Gegenteil wesentliche Bedingungen für die Kommunikation 107 selbst identifiziert. Natürlich sind diese Hinweise deskriptiver und empirischer Art, und man könnte daher sagen, dass sie die präskriptive Gültigkeit eines ethischen Ideals wie etwa desjenigen der idealen Kommunikationssituation unangetastet lassen. Diese Auffassung jedoch kann man zwar dann vertreten, wenn man Sein und Sollen getrennt hält, nicht aber dann, wenn man wie die derzeitigen Theoretiker der kommunikativen Ethik eben gerade in der empirischen Forschung und in der rekonstruierenden Reflexion die feste Grundlage finden möchte, auf der das Kriterium ethischer Normativität gewonnen werden kann. Es ist jedoch nicht dies der Punkt, auf den wir jetzt weiter eingehen wollen, zumal wir uns mit ihm schon weitläufig auseinandergesetzt haben. Es ist vielmehr nötig, nochmals daran zu erinnern, dass nicht weniger als die empirischen Argumente, die gegenwärtig von verschiedenen Wissenschaften für ein asymmetrisches Kommunikationsmodell geliefert werden und an die wir am Ende des vorangegangenen Kapitels erinnert haben, die Aporien berücksichtigt werden müssen, die im Innern einer zu Ende gedachten Metaphysik der Subjektivität auf die Notwendigkeit verweisen, diese Metaphysik zu überwinden. Die Schwierigkeiten, denen der Versuch begegnet, ausgehend von der modernen Philosophie der Subjektivität die Intersub182 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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jektivität theoretisch zu erfassen, sind während der gesamten Geschichte dieser Philosophie offensichtlich. Das Problem des Verhältnisses zwischen Monaden und göttlicher Monade in der »Republik der Geister«, der »unsichtbaren Kirche« Kants, des Verhältnisses zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt, zwischen empirischem und transzendentalem Bewusstsein, ist in Wirklichkeit nichts anderes als das Problem einer unbefriedigenden Deduktion und Deduzierbarkeit der Intersubjektivität. Wir haben mehrmals darauf hingewiesen, dass sich die Aporien der Philosophie der Subjektivität, die eben jener Intersubjektivität bedarf, der sie sich andererseits prinzipiell verschließt, in extremer Form bei Husserl manifestieren; diesbezüglich lohnt es sich zu anzumerken, dass es sich bei Husserls Denken bezeichnenderweise um ein Denken handelt, bei dem a) das Erkenntnisproblem, d. h. das Problem, auf welche Weise ein Gegenstand im Horizont des Bewusstseins gegenwärtig wird, sich als eine Frage der »S i n n g e b u n g « definiert; b) die Untersuchung der Intersubjektivität sich in entschiedener und paradoxer Weise als ein monadologisches Problem gestaltet; c) eine ebenso paradoxe solipsistische Reduktion des »A u s d r u c k s « vorgenommen wird. 10 Derrida ist gewiss im Recht, wenn er mittels einer subtilen und stringenten Analyse herausarbeitet, dass der »Ausdruck« innerhalb des subjektiv-solipsistischen Bewusstseins den Charakter eines »ursprünglichen Supplements« annimmt; 11 dieser Charakter stellt die beanspruchte Ursprünglichkeit des Sinns in Frage, mit der sich der »Ausdruck« wie mit einer vorausgesetzten ursprünglichen Identität wieder verbinden möchte, und er stellt eben damit auch die beanspruchte und vorausgesetzte Ursprünglichkeit und Identität des Bewusstseins in Frage. Unserer Ansicht nach ist aber ebenso sehr Levinas im Recht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass die Dekonstruktion der Metaphysik, die Derrida folglich unterbreiten zu müssen glaubt, »gleichwohl der erkenntnistheoretischen Bedeutung 108 von Sinn treu bleibt, nämlich genau in dem Maße, in dem die Dekonstruktion der Anschauung und die ständige Vertagung der Gegenwart, die diese Dekonstruktion zeigt, ausschließlich im Ausgang von der als Norm behandelten Gegenwart gedacht wird, und in dem die husserlsche ›Anzeige‹ – sie beinhaltet keinerlei inneres Bedeuten, sondern verbindet ohne irgendeine Vorausdeutung zwei Beziehungsglieder, selbst dann, wenn das Angezeigte im Anzeigenden fehlen würde – sich aus keiner Bedeutung vertreiben lässt und insofern Anstoß erregt (auch wenn solcher Anstoß nicht beängstigen sollte)« 12. 183 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Wenn man wirklich über die Norm der Gegenwart, diese Hinterlassenschaft der alten Philosophie der Subjektivität, hinausgeht, dann gelangt man dazu, den Sinn als etwas zu verstehen, was außen ist und in der vergegenwärtigenden Identität subjektiven Bewusstseins (welches sich eben in dem Versuch, sich den Sinn durch Vorstellungen zu vergegenwärtigen, zeitlich und immer neu in seiner eigenen Identität konstituiert) nicht unmittelbar vergegenwärtigt (»präsentiert«), sondern nur mittels Vorstellungen wiedervergegenwärtigt (»re-präsentiert«) werden kann. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Derrida gerade von Levinas den Begriff der »Spur« als des Ortes eines Sinnes übernimmt, der jenseits jedes bezeichnenden Verweises, jenseits jedes Zugangs zum Ursprünglichen, jenseits jeder Gegenwart gegeben ist. Gleichwohl ist die empirisch feststellbare Tatsache, dass der vom anderen Subjekt ausgehende Kommunikationsstimulus dem Subjekt vorhergeht, das sich mittels dieses Stimulus in seinem eigenen Bewusstsein identifiziert, nicht als eine bloße Umkehrung des klassischen Erkenntnisverhältnisses zu verstehen; damit meinen wir: sie ist nicht als eine bloße Umkehrung derjenigen Sichtweise zu verstehen, die von der Subjektivität des Ich ausging, um von dort aus zur Subjektivität des Anderen zu gelangen. Dies hieße in keiner Weise, die Philosophie der Subjektivität zu verlassen, und die bloße Umkehrung des Verhältnisses zwischen empirischen Subjekten würde nichts an der Notwendigkeit ändern, auf jene transzendentale Subjektivität präkommunikativer Art zu rekurrieren, auf die bereits die moderne Philosophie der Subjektivität rekurriert hatte, ohne damit die Aporien der Intersubjektivität aufzulösen. Das beständige Vorhergehen des kommunizierenden alter gegenüber dem ego, das sich in dieser Kommunikation als solches identifiziert, ist vielmehr Indiz einer in keinem Bewusstsein synchronisierbaren Diachronie, egal ob dieses Bewusstsein als empirisches oder als transzendentales Bewusstsein gedacht wird. Wenn der Versuch, die »Synthesis der Apperzeption« durch die »Synthesis der Kommunikation« zu ersetzen, nicht gerade durch die Bewegung der Selbsteinholung in eine Reflexivität paläosubjektivistischer Art zurückfallen soll, sondern wenn er es vermeiden soll, die kritische Rückkehr zu sich selbst als etwas zu denken, was (sich selbst) begründet – und was mithin im Wesentlichen nicht kommunikativer Art ist –, dann muss sich dieser Versuch dadurch vollziehen, dass er die präintentionale »Ursprünglichkeit« des Sinns behauptet: der Sinn kündigt sich darin an, dass der Andere sich mitteilt, und er ist die Voraussetzung 184 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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dieses Sich-mitteilens; aber insofern dieses Sich-mitteilen intentional ist, ist er eine Voraussetzung, die niemals synchronisiert, niemals 109 unmittelbar vergegenwärtigt (»präsentiert«), sondern nur mittels Vorstellungen wiedervergegenwärtigt (»re-präsentiert«) wird oder werden kann. Diesbezüglich kann man aus dem Denken von Levinas weiterhin grundlegende Lehren ziehen, welches auch immer die Bedeutung sein mag, die man aufgrund der Notwendigkeit, das Zerfallen der Gegenwart auch in der Dimension der dritten Person zu denken, dem Gedanken der Kommunikationsgemeinschaft zugestehen will. Die Asymmetrie und die Diachronie des empirisch bekannten bzw. wiedererkannten Kommunikationsprozesses (empirisch bekannt bzw. wiedererkannt ist er, insofern er in der Ordnung des Seins und des Subjekts entfaltet ist) verweisen mithin auf eine radikale Asymmetrie und Diachronie, in welcher und durch welche jede Kommunikation, jedes Subjekt und jedes Sein konstituiert sind. Das Sollen selbst, also, als Faktum (als Faktum des Sollens, das etwa in geschichtlich beschreibbaren Normen und Imperativen oder auch in konkreten Situationen zum Ausdruck kommt, die nicht durch abstrakte normative Prinzipien beschreibbar sind) findet seine Quelle in der Äußerlichkeit des Sinnes, der sich in Beziehung zum anderen Subjekt als etwas ankündigt, was sich immer schon zurückgezogen hat; eine Quelle, die nicht in die Synchronie des Bewusstseins eingeholt werden kann. Jedes »F a k t u m d e r Ve r n u n f t «, das als Faktum immer noch ein Sein wäre und somit dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt wäre, findet in der Äußerlichkeit des Sinns seinen eigenen abwesenden Ursprung, der das Sollen des »Faktums« gebietet. Dieses »Faktum der Vernunft« kann geschichtlich auch als ein symmetrisches Kommunikationsmodell gedacht werden; aber es konstituiert sich in seiner imperativen Faktizität dank der Äußerlichkeit des Sinns, dessen Spur das »Gesicht« des Anderen trägt – um mit Levinas zu sprechen – und dessen nicht in die Bewusstseinsgegenwart einholbare Abwesenheit es enthüllt. Die Äußerlichkeit des Sinns gegenüber jedem Sein, auch gegenüber dem normativen Sein, das im »Faktum der Vernunft« und in den im Laufe der Geschichte formulierten ethischen Imperativen zum Ausdruck kommt, verleiht dem symmetrischen Kommunikationsmodell (ebenso wie jedem anderem normativen ethischen Kriterium) nicht nur seinen imperativen Charakter, sondern sie stellt auch den wahren kritischen Vorbehalt dar, der es verhindert, dass sich dieses Modell 185 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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in ein ideologisches Herrschaftsinstrument verwandelt. Eine derartige Verwandlung ist nicht bloß eine Möglichkeit bzw. eine Gefahr, die sich aus der schlechten praktischen Umsetzung dieses Modells ergibt; sie ist keine Gefahr, die sich dadurch vermeiden ließe, dass man die Argumentation umfassender und kritischer entwickelt. Eine derartige ideologische Verwandlung wohnt vielmehr der theoretischen Dimension des symmetrischen Kommunikationsmodells selbst inne, insofern es nicht auf einen äußeren Sinn verweist, aus dem sich seine Faktizität als Vernunftvorschrift ableitet, d. h. insofern es nicht über eine Dimension hinausgeht, auf der Gleichheit an Würde (d. h. Symmetrie) zwischen mir und dem Anderen (bzw. den Anderen) eingefordert wird. Die analogia subiecti hat nicht nur einen erkenntnisbezogenen und ontisch-ontologischen Sinn. Wenn sie diesen Sinn hat und wenn sie ü b e r h a u p t Sinn hat, dann nur deshalb, weil sie zuvor einen 110 ethischen Sinn hat: diese »Vorgängigkeit« des Sinns als eines ethischen Sinns bringt auf eine andere Weise die »Äußerlichkeit« desselben zum Ausdruck (oder auch umgekehrt, angesichts des metaphorischen Charakters dieser räumlichen bzw. zeitlichen Ausdrücke, die eben gerade auf die »ursprüngliche« Übertragung – Metapher – des Sinns anspielen). Ungerechtigkeit und Übergriff – um emotionsgeladene ethische Begriffe zu verwenden – liegen schon darin, meine eigene Würde mit der des Anderen (bzw. der Anderen) gleichzusetzen und dabei die empirische Asymmetrie in der Kommunikation zu verkennen, aufgrund derer meine Subjektivität als Selbstbewusstsein durch die Subjektivität des Anderen konstituiert wird, der mich zur Welt bringt. Man kann dieser empirischen Asymmetrie gewiss die transzendentale Asymmetrie gegenüberstellen und anmerken, dass die Analogisierung des Anderen als alter ego die Voraussetzung – die »Bedingung der Möglichkeit« – dafür ist, dem Anderen Würde beizumessen. In logischer Hinsicht hat man es dann nochmals mit einem Zirkel und mit der alten Geschichte von der Henne und dem Ei zu tun. Wir werden hier auch nicht auf das Problem des analogischen »Ursprungs« der Logik und auf die Tatsache zurückkommen, dass, sofern man je bereit ist, Ethik als »Opfer für den Anderen« zu verstehen, die »Äquivokation« zwischen diesen beiden Alternativen nur dann besteht, wenn man den empirischen Ansatz neben dem transzendentalen Ansatz gelten lässt und somit eine Trennung vollzieht, welche die crísis des Phänomenologischen »repräsentiert« (denn – so haben wir 186 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Kommunikative Transformation der transzendentalen Apperzeption

im ersten d Kapitel gezeigt – die Beseitigung der Äquivokation zugunsten eines dieser Ansätze mündet in jedem Fall und unausweichlich in den Solipsismus, so dass eine Ethik zumindest in dem angegebenen Sinne nicht mehr denkbar wäre). An einem bestimmten Punkt der ethischen Entwicklung der Menschheit bringt die Notwendigkeit, allen anderen Subjekten, die mir gegenüber als andere Subjekte allesamt Sinn offenbaren, die gleiche Würde zuzuerkennen, es zweifellos mit sich, dass durch das Instrument des Rechts die Symmetrie und zwar genauer gesagt die kommunikative Symmetrie grundsätzlich verbürgt wird. Dabei handelt es sich jedoch weder um einen utilitaristischen Vertrag (der eventuell durch Erwägungen über die »Maximierung« und »Minimierung« von Vorteilen, Nachteilen und chances sowie durch das Postulat von »Naturzuständen« und »Schleiern des Nichtwissens« verfeinert sein mag) 13, noch um die Beschränkung der Freiheit jedes Einzelnen gemäß der Bedingung der Freiheit aller Anderen, die, indem sie die metaphysische Autonomie des Subjekts, d. h. dessen S e l b s t ä n d i g k e i t , postuliert, noch die Spuren eines sublimierten Egoismus an sich trägt: eines Egoismus, wonach zwar ein jeder »ich« sagen darf, ich »selbst« aber an »erster« Stelle, weil ich es bin, an dem sich exemplarisch – zum ersten, aber vielleicht auch zum letzten Mal – jenes F a k t u m d e r Ve r n u n f t zeigt, das auf alle anderen (Ichs) projiziert wird. Gewiss werde auch ich vom und im Rechtssystem erfasst (ich bin »Rechtssubjekt«, wie es heißt), weil ich für jeden Anderen zu »allen anderen Subjekten« gehöre; aber diese »anscheinende« Symmetrie ist keine letztgültige Symmetrie, und das F a k t u m des von ihr vorgeschriebenen Sollens verweist unendlich weiter auf jenes Sollen, oder Sollen des Faktums, das der asymmetrischen Posi- 111 tion entspringt, in der sich jedes Subjekt (und nicht nur »ich«) in Bezug auf die anderen befindet. In dieser Behauptung findet zwar eine Analogisierung bzw. – um es mit psychologischen Begriffen zu sagen, auf die wir im Folgenden rekurrieren müssen werden – eine Projektion der eigenen Subjektivität statt, aber es handelt sich dabei um eine entsprechend den Erfordernissen der sprachlichen Wende umgewandelte Subjektivität. d Das hier angesprochene Motiv der solipsistischen Konsequenzen der Beseitigung der »Äquivokation« zwischen empirischem und transzendentalem Ansatz taucht im Buch mehrmals auf, aber nicht im ersten Kapitel. Vgl. hierzu die Erläuterungen im zweiten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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In dem Wissen um sich selbst, das in einem bestimmten Stadium der Entwicklung der menschlichen »Spezies« erreicht wird, ist das erste Wort nicht der Nominativ »ich«, sondern der Akkusativ »mich« als Antwort auf den Vokativ, auf die Allokution, die »mich« zur Welt bringt. Wie noch zu sehen sein wird, sind jenes Selbstbewusstsein und jenes Selbstverständnis, welche das primum jedes Bewusstseins und jedes Verständnisses der Welt darstellen, aus der Perspektive der empirischen Entwicklung dasjenige Stadium, das von der reflexiven Bewegung als letztes erreicht wird; dieses primum, das reflexiv von einer Subjektivität erreicht wird, die sich nicht als eine reine Subjektivität versteht, sondern als eine Subjektivität, die bis an die Grenze des Unvordenklichen durch Sprache und Erinnerung vermittelt und konstituiert ist, ist gerade nicht das autoperformative »ich«, das implizit oder explizit jeden Sprechakt begleitet, sondern das, was das nunmehr konstituierte Ich mit dem Akkusativ »mich« bezeichnet. Diese Rückkehr der reflektierenden Bewegung zum ursprünglichen Akkusativ impliziert offensichtlich eine Umwandlung des Subjektbegriffs auch in logischer Hinsicht (die konstituierende Subjektivität der Philosophie der Moderne) und in ontischer Hinsicht (die substanzialistische Subjektivität der Philosophie des Seins, die in der Ontologie der Philosophie der Moderne »aufgehoben«, aber nicht beseitigt ist). Wie das Sein in der konsequent zu Ende gedachten Philosophie der Moderne schließlich als durch die reflexive Bewegung der Subjektivität konstituiert erschien, so erscheint das Subjekt in der Philosophie, die die in jedem Sinne »metakritische« Bewegung der »sprachlichen Wende« vollendet hat, als durch Allokution, d. h. vokativ konstituiert. Der interpellierende Blick des Anderen, in dem sich die Spur des Sinns offenbart, ein Blick, der jeder erkenntnisbezogenen, ontischen Dimension vorgängig und deren Bedingung der Möglichkeit ist, ist der »Ort« einer »ursprünglichen« ethischen Dimension (wie es die Spur sein kann), dem die Rücksicht e korrespondiert, die ich dem Anderen schulde. Um diese »Beziehung« zum Ausdruck zu bringen (die jedoch keine Beziehung im eigentlichen Sinne ist, zumal sie keinen beobachtenden Dritten impliziert, sondern nur eine Beziehung im »metaphorischen« Sinne), eignet sich gut Levinas’ suggestiver Ause

Das Wort »Rücksicht« (riguardo) hat im Italienischen denselben Wortstamm wie das Wort »Blick« (sguardo), so dass hier auch die Idee eines den »Blick« des Anderen erwidernden »Zurückblickens« anklingt.

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druck me voici, bei dem der »ursprüngliche« Akkusativ, welcher der erkenntnisbezogenen, ontischen Dimension vorhergeht, sich als eine »ursprüngliche« Antwort konfiguriert, welche Verantwortung für den Anderen ist, Zurverfügungstellung und Offenheit, die nicht in die reflexive Bewegung der Erkenntnis und des Bewusstseins eingeschlossen werden kann. In der ethischen Beziehung korrespondiert der »Ursprünglichkeit« oder vielmehr Vorgängigkeit des Blickes des Anderen, der die Spur eines jeder absichtlichen Kommunikationsbewegung vorhergehenden Sinnes aufweist, die athematische »Ur- 112 sprünglichkeit« einer Verantwortung, die jeder beabsichtigten und kontrollierten Antwort seitens eines Ichs vorhergeht, das gegenüber sich selbst verantwortlich bzw. – wie man in der Sprache der Jurisprudenz sagt – »einsichts- und steuerungsfähig« ist. Die »Stimme«, die »du sollst« sagt, ist bezeichnenderweise eben gerade eine Stimme; das, was das G e w i s s e n zu etwas macht, was – wenn auch per Antiphrase – g e w i s s ist, ist nicht die S e l b s t ä n d i g k e i t , sondern die Antwort auf die analogisierende und subjektivierende Allokution. Wenn es nötig ist, die autonome Subjektivität und ihre Pflicht – wie der späte Kant gesehen hat – auf das Gemeinwesen auszudehnen, 14 und wenn dieses G e m e i n w e s e n – wiederum dem späten Kant zufolge – sich nicht selbst stiften kann, sondern Gott als ihren Stifter benennen muss, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass die Stimme in das Gewissen und in das B e w u s s t s e i n einbricht. Wäre dem nicht so – wie es zum Beispiel im Woldemar von Jacobi dargestellt wird, der in diesem Punkt Hegels Kapitel über das Gewissen in der Phänomenologie beeinflusst hat –, so gäbe dies Anlass zur »Heuchelei« der »schönen Seele«. 15 Diese – wenn man so sagen will – metaphysische, aber nicht ontologische Offenheit vermag einer evolutiven Sicht der menschlichen »Spezies« unter moralischem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen und darüber Rechenschaft abzulegen. Rechnung zu tragen, was den empirischen, physiologischen, biosoziologischen Aspekt betrifft; Rechenschaft abzulegen, was den offenen Charakter betrifft, der jeder Rekonstruktion zukommt, insofern sie dialektisch ist. Dies also unabhängig davon, ob man mit dieser Rekonstruktion einen Abschluss bzw. ein Endstadium des Entwicklungsprozesses zu identifizieren glaubt oder ob man diesen Prozess dagegen für unendlich offen hält. Die Offenheit, von der hier die Rede ist, stellt ein »Metastadium« dar, dessen theoretische Ausformulierung es verhindert, sich in die Aporien des naturalistischen Fehlschlusses zu verstricken, dabei aber 189 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik

gleichwohl die nötige Verbindung mit der empirischen Tatsachenforschung vollständig beibehält. Die Präskriptivität dieses Metastadiums oder, wenn man so will, dieses letzten rekonstruierbaren Stadiums der ethischen Entwicklung wohnt nicht der Beschreibung desselben inne, sondern die Beschreibung desselben wohnt im Gegenteil einer »ursprünglichen« oder vielmehr jederzeit vorgängigen Präskriptivität sozusagen inne: vorgängig vor jedem Faktum des Sollens, das aus dieser »ursprünglichen« bzw. vorgängigen Präskriptivität seinen normativen Charakter bezieht. Nicht nur die Bewahrung, sondern auch die Kritik und die Substitution der Institutionen seitens der »Metainstitution« Sprache haben in der Äußerlichkeit des Sinnes ihren kritischen Vorbehalt, welcher die Institutionen daran hindert, sich in der reflexiven Bewegung zirkulär in sich selbst abzuschließen und die Argumentation in Selbstbehauptung und Herrschaft zu verwandeln, und welcher auch die Metainstitution Sprache selbst in ihrem geschichtlich determinierten Selbstverständnis daran hindert. Solange man will, dass die Funktion der Kritik einem »D i s k u r s « anvertraut wird, welcher sich 113 auf eine subjektive Identität beruft, die – Apels Theorie zufolge – den »pragmatischen Selbstwiderspruch« zwischen dem perlokutiven und dem illokutiven Aspekt des vertretenen Arguments verbietet, ist die Verwandlung in Herrschaft nicht bloß eine Gefahr, sondern vielmehr ein unausweichliches Schicksal. Das Vertrauen auf eine Reflexivität, welche die Identität als kollektives und soziales S e l b s t zu konstituieren oder vorwegzunehmen vermag, könnte sich der geschichtlichen und dialektischen Asymmetrie in Wirklichkeit nicht entziehen; unter diesen effektiven Bedingungen kann das quia nominor leo der klassischen Fabel in der Kommunikation einen solchen Konsens finden, dass dieser Satz als ein »wahres« »Argument« erscheint: ein Argument, bei dem gerade der eventuelle Konsens, der in dem Passiv nominor zum Ausdruck kommt (die Konstitution subjektiver und institutioneller Identität, insofern sie gesellschaftlich determiniert ist), es verhindert, den Widerspruch zwischen Perlokution und Illokution zu erkennen; aber auch ein Argument, bei dem gerade der eventuelle Dissens zur Gewalt und zum Krieg führt. Ein heiliger Krieg, ohne Zweifel, denn er wird mit dem guten Gewissen geführt, im Namen der Wahrheit, der Richtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Verständlichkeit zu kämpfen und kämpfen zu müssen, d. h. im Namen der vier Universalien bzw. Transzendentalien der Theoretiker der kommunikativen Ethik, welche kontrafaktisch von einer Reflexion vorweg190 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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genommen werden, die glaubt, sich selbst vollständig in Besitz zu haben (und mithin das kontrafaktisch vorweggenommene Faktum bereits selbst zu verwirklichen) und dem Feind, dem bárbaros, gegen den der heilige, transzendentale und der Selbsterhaltung dienende Krieg geführt wird, nicht das eigene geschichtliche Selbstverständnis schuldig zu sein. Die Offenheit der (vom ontologischen »ich« in das ethische »hier, sieh mich«) transformierten Subjektivität vermeidet die »Dialektik der Aufklärung« eben dadurch, dass sie den dialektischen Charakter jeder reflexiven Selbsteinholung erkennt, und indem sie für einen »Humanismus des anderen Menschen« eintritt, bleibt sie immer kritikbereit f. Was wirklich auf dem Spiel steht, ist das Wesen der Kritik und das, was in einem bestimmten Stadium der Entwicklung der Menschheit – und des Begriffs der Menschheit – als die Vollendung der Kritik erscheint. Von dem Moment an, in dem homo sapiens sich als homo loquens versteht, zweigt sich eine neue Entwicklungslinie von der Entwicklungslinie ab, die sich ihrerseits bereits mit dem Prozess der Kortikalisierung von der rein biologischen Entwicklung abgezweigt hatte: eine, wenn man so will, »metaphysische« Entwicklung, die aber nicht oder – wie wir im letzten Kapitel noch sehen werden – in äquivoker Weise zugleich nicht nur in dem Sinne des Abstrakten, des Allgemeinsten, des Letzten metaphysisch ist, sondern die vielmehr insofern metaphysisch ist, als sie zum ersten Mal in der Lage ist, die »physische« Entwicklung, als deren Produkt sie erscheint, in sich einzuschließen und dabei ihrerseits deren Entwicklung zu bestimmen. Das éthos bzw. die Institutionen stellen, solange sie den Mangel an Instinkt im homo sapiens kompensieren, in jedem Fall ein funktionales Äquivalent des Instinkts dar, zumal sie zumindest auf der Ebene der Spezies die Selbsterhaltung durch die Befriedigung der Bedürfnisse gewährleisten (Bedürfnisse, die man eben gerade nicht mehr instinktiv zu befriedigen vermag). Dieser quasi instinktartige Cha- 114 rakter der Institutionen wird in der kritischen Reflexion überwunden, die als eine solche (d. h. als eine Reflexion, die sich nicht selbst abschließt und sich nicht selbst legitimiert) in dem Moment gegeben ist, in dem homo sapiens sich als homo loquens versteht. Hierbei nehme f Das auch im Italienischen zweideutige Attribut »kritikbereit« (disposto alla critica) meint im gegenwärtigen Kontext wohl vor allem die Bereitschaft bzw. Offenheit für Kritik, kann aber auch die Bereitschaft zur Kritik bzw. Selbstkritik bedeuten und soll hier dementsprechend womöglich »äquivok« beides zum Ausdruck bringen.

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ich mich in Verantwortung von der Institution aus, mittels einer Ausnahme, die zwar – wie das Sprichwort sagt – »die Regel bestätigt«, aber doch absolute Ausnahme bleibt und nicht wieder in die »Regel« einverleibt werden kann (im Gegensatz zum Opfer der Iphigenie durch Agamemnon). Die »Regel« gilt zwar für alle Anderen und besitzt dadurch ihre Normativität, aber sie legt mir keine Pflichten auf, die den Rechten der Anderen symmetrisch wären (und umso weniger legt sie den Anderen Pflichten auf, die meinen vermeintlichen Rechten symmetrisch wären), denn meine Verantwortung ist »ursprünglich«, insofern sie im etymologischen Sinne »absolut« ist. Aus dieser Verantwortung werden alle Anderen Vorteile ziehen können, aber das allokutiv und analogisch konstituierte »Mich« ist keine Spezies; die Spezies sind wenn überhaupt die Anderen, d. h. alle Anderen als Gesellschaft der alter ego. Dadurch, dass sich diese asymmetrische Situation allgemein für jeden Einzelnen reproduziert (ein Sich-reproduzieren, welches von dem, der es beobachtet, ein-gebildet g wird bzw. welches von dem, der es ein-bildet, beobachtet wird, indem er sich gegenüber der Beobachtung neutral zu sein einbildet), d. h. dadurch, dass sich die Ausnahme verallgemeinert, wird die Befriedigung der Bedürfnisse – die »Physik« – sozusagen von der »Metaphysik« übernommen, »aufgehoben« und gesteuert. Dem Bedürfnis des Anderen, das befriedigt werden s o l l , geht eine mir aufgegebene Pflicht voraus, die niemals erfüllt werden k a n n : »du sollst, also kannst du nicht«, könnte man sagen und auf diese Weise dasjenige profanieren, was aus kantscher Sicht allein wirklich sakrosankt ist (aber über das Verhältnis zwischen Heiligem und Profanem haben wir bereits zu Beginn der Ausführungen dieses Buches etwas gesagt, wobei diese Ausführungen in jenem anfänglichen Stadium gewiss nicht dasjenige verdeutlichen konnten, was uns deren tiefere Bedeutung zu sein scheint); oder man könnte auch die folgenden, im vorangegangenen Kapitel bedachten Worte von Levinas wiederholen, ohne dabei zu wissen, ob man sie einfach wiederholt oder ob man sie profaniert (das Problem des Zitierens und des Re-zitierens wird immer akuter werden, je mehr sich dieses Buch g Der in einem besonderen Sinne verstandene Begriff der »Einbildung« (immaginazione), der nach dem Vorwort hier zum ersten Mal im Buch erscheint, wird erst im folgenden Kapitel inhaltlich verständlich eingeführt (Vgl. S. 130 ff.). Tatsächlich handelt es sich bei dem Text in Klammern um eine nachträgliche Hinzufügung zum Text des diesem Buchkapitel zugrundeliegenden Aufsatzes.

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seinem »Schluss« nähert und in dem Maße, in dem eine Ethik, die als Tod Gottes gedacht wird, dazu führen wird, die Erzählung über den Gott-Menschen in Betracht zu ziehen, der im Sterben »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« zitiert): »Die Unendlichkeit der Verantwortung bedeutet nicht ihre aktuelle Unermesslichkeit, sondern ein Anwachsen der Verantwortung in dem Maße, in dem sie übernommen wird; die Pflichten erweitern sich in dem Maße, in dem sie erfüllt werden. Je besser ich meine Pflicht erfülle, umso weniger Rechte habe ich; je gerechter ich bin, umso schuldiger bin ich«. 16 Man wird niemals genug betonen können, dass eine solche Sichtweise keinen erbaulichen, sondern einen kritischen Charakter hat: einen Charakter, der eine radikale Kritik impliziert und die kritische Reflexion in einer Bewegung vollzieht, welche sich in der Rückkehr auf sich selbst nicht in sich selbst abschließt, indem sie sich selbst legitimiert. Wollte man auf die Fragen Bezug nehmen, in denen Kant das von ihm betriebene Unternehmen der Kritik zusammengefasst 115 hat – »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?« – so könnte man sagen, dass sie eine clímax darstellen, die in der letzten Frage kulminiert: die Frage, in der sich die Reflexionsbewegung in der Rückkehr auf sich selbst und aufgrund dieser Rückkehr dem öffnet, was außerhalb der Subjektivität liegt, jenseits der Grenze des Wissens/Könnens liegt (denn das »du sollst«, von dem man im »Faktum der Vernunft« weiß, übersetzt sich auch selbst in ein Können: »also kannst du«). Gewiss ist der Gegenstand der Hoffnung nicht gemäß dem nostalgischen h Paradigma der Befriedigung zu denken. Zweifellos ist dies das Paradigma, von dem Kants Antwort auf die Frage »Was darf ich hoffen?« geprägt ist; dies entspricht sowohl dem Empfinden der damaligen Epoche 17 als auch und in noch größerem Maße einer »Kritik«, deren »Purismus« (um Hamanns Terminus aufzugreifen) noch nicht durch die metakritisch-sprachphilosophische Radikalisierung in Frage gestellt worden war. Man darf im Übrigen nicht vergessen, dass Kants Antwort auf h

Der etymologisch und mithin im Sinne von »Heimweh« bzw. »Sehnsucht nach Heimkehr« zu verstehende Begriff der »Nostalgie« (nostalgia), der hier zum ersten Mal im Buch erscheint, wird erst im folgenden Kapitel auf S. 122 ff. inhaltlich verständlich eingeführt. In der Tat handelt es sich bei sämtlichen Verwendungen dieses Begriffs vor S. 122 um nachträgliche Hinzufügungen zum Text der Aufsätze, die den jeweiligen Buchkapiteln zugrunde liegen.

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diese Frage, derzufolge darauf gehofft werden darf, dass das Glück dem Verdienst angemessen sein wird, in dem Moment einer tiefgreifenden Verwandlung unterliegt, in dem der späte Kant das Problem thematisch in Angriff nimmt, das er durch diese Frage identifiziert zu haben glaubte. In der Schrift über Die Religion konfiguriert sich die Antwort auf die Frage »Was darf ich hoffen?« nämlich nicht mehr in einem subjektivistischen und individualistischen Sinne, denn der Gegenstand der Hoffnung ist nunmehr das e t h i s c h e G e m e i n w e s e n , dessen Verwirklichung, welche anzustreben unser aller Pflicht ist, nicht in unserer Macht steht (»Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst«) 18; auch ist es nützlich zu betonen, dass das ethische Gemeinwesen, obwohl Kant noch eine Terminologie des Begründens gebraucht, für Kant ganz offensichtlich eben gerade die Infragestellung des Begründungsdenkens und der Reflexivität als Selbstbegründung darstellt. Die Überwindung des – nostalgischen – Begründungsdenkens geht mit der Überwindung jenes Paradigmas der Befriedigung einher, dessen sublimste und sublimierteste Rationalisierung das Begründungsdenken darstellt; und wir verstehen hierbei den Begriff der »Rationalisierung« sowohl im psychologischen als auch im philosophischen Sinne, wobei diese beiden Sinne wohl niemals so sehr wie in diesem Fall koinzidieren: man denke nur an die reflexive causa sui, die, da sie zu ihrer Existenz nullae aliae rei bedarf, in Ewigkeit sich selbst genießt, nóesis noéseos, und auf diese Weise den Begriff der Ewigkeit als Abwesenheit von Zeit oder besser als unvergängliche, immerwährende, ständige, i substanzielle und »einfache« bzw. »bloße« j Gegenwart liefert. Dass der Gedanke der Überwindung nun aber selbst jene gewöhnliche Zeitlichkeit voraussetzt, die er zumindest in diesem Fall zu überwinden trachtet, ist ein Problem, das, wie wir am i

Das Attribut »ständig« übersetzt hier das italienische Partizip Präsens stante (von stare, stehen), das in attributiver Funktion im Italienischen eigentlich nicht gebräuchlich ist und daher umso deutlicher die Anspielung auf das lateinische Partizip Präsens stans in der Rede vom nunc stans, dem »stehenden Jetzt«, hervortreten lässt, als welches Thomas von Aquin die Ewigkeit charakterisiert hatte. Darüber hinaus spielt dieser Terminus aber auch auf den Wortstamm des nachfolgenden Attributs »substanziell« (sostanziale) an und fungiert somit gleichsam als semantisches Bindeglied zwischen dem vorausgehenden und dem nachfolgenden Attribut. j In der Rede von »einfacher« bzw. »bloßer« »Gegenwart« bzw. »Präsenz« (presenza semplice) klingt im Italienischen Heideggers Begriff der »Vorhandenheit« an, der mit denselben Worten (semplice presenza) zum Ausdruck gebracht wird. Vgl. S. 158.

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»Schluss« sehen werden und wie wir bereits mehrfach angedeutet haben, die gesamte Problematik der »Metaphysik« »äquivok« macht. 116 Einstweilen sagen wir, dass die radikale Diachronie des »ursprünglichen«, immer vorgängigen, nicht in die Gegenwart eines synchronisierenden Bewusstseins einholbaren Sinns darin zum Ausdruck kommt, dass die Frage »Was darf ich hoffen?« sich dem öffnet, was außerhalb der Grenzen liegt, die von und in der reflexiven Rückkehr auf sich selbst umschrieben werden. Bekanntlich hat Kant in seinen Vorlesungen über Logik die These vertreten, dass sich die drei Fragen, in denen sich sein Programm der Kritik artikulierte, in der Frage »Was ist der Mensch?« zusammenfassen lassen. Auch hat sich bekanntlich an dieser Frage die KantDebatte immer wieder neu entzündet; noch heute wird von verschiedener Seite geltend gemacht, dass die Anthropologie im Kontext der praktischen Philosophie Kants eine Alternative zur Ethik darstelle oder wenigsten in Konkurrenz dazu trete. 19 Zweifellos ist die Anthropologie bei Kant ein Kapitel der praktischen Philosophie, aber ein Kapitel, das durch die Moralphilosophie weitgehend absorbiert, wenn auch nicht erschöpft wird; es ist hier jedoch nicht unsere Aufgabe, dieses Problem philologisch zu diskutieren. Wir möchten vielmehr daran erinnern, dass eines der herausragenden Momente der Diskussion, die sich an Kants Frage »Was ist der Mensch?« wiederholt entfacht hat, bekanntlich in Heideggers Kritik an der Anthropologie besteht und dass Heidegger diese Kritik gerade in der Schrift Kant und das Problem der Metaphysik akzentuiert, in der er zunächst in der ersten Kritik die Entdeckung einer ursprüngliche Zeitlichkeit bemerkt, die Kants Suche nach einer »Metaphysik der Metaphysik« hätte zufriedenstellen sollen, und dann in der Art und Weise, in der Kant das Problem der Anthropologie formuliert, ein »Zurückschrecken« Kants vor dem Abgrund erkennt, in den Kant selbst als erster geblickt habe. 20 Heideggers Polemik gegen die Anthropologie erklärt sich gewiss auch aus dem philosophischen Kontext, in dem er zu jenem Zeitpunkt gearbeitet hat; k es ist jedoch zu fragen – und wir werden dies gegen Schluss dieses Buches tun –, ob Heidegger entgegen dem, was man üblicherweise glaubt, nicht selbst bis zum Schluss Anthropologe gek

Von Beginn dieses Kapitels bis hierhin entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem Text der Aufsätze MMO-87, MMO-90, S. 595–611, und MMO-92, S. 119–135.

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blieben ist, eben gerade weil er sein Fragen auf das We s e n d e s M e n s c h e n und auf das G e h ö r gerichtet hat, durch welches dieses We s e n und das Sein zusammengehören. Es ist zu fragen, ob die Überwindung einer essentialistischen Anthropologie es vielleicht nicht so sehr erfordert, die Metaphysik zu ü b e r w i n d e n oder sie zu v e r w i n d e n oder sie sich selbst zu überlassen l, sondern vielmehr auf der Metaphysik zu in-sistieren, sie zu reduplizieren und zu wiederholen in einer Reflexivität (»Metaphysik der Metaphysik«), die zugleich kritisch und äquivok ist. Auch diese Frage werden wir in unseren Schlussbetrachtungen in Angriff nehmen. Und es ist zu fragen, ob die Überwindung (natürlich mit der ganzen unvermeidlichen Zweideutigkeit des Ausdrucks »Überwindung«) der essentialistischen Anthropologie bzw. der anthropologischen Essenz – also des Wesens des Menschen – es nicht vielmehr erfordert, auf der Frage nach dem Subjekt, nach dem Humanismus und nach der Ethik zu insistieren, 117 sie zu wiederholen und zu reduplizieren, indem man die subjektive Reflexion und die Subjektivität als Reflexion verstärkt, die sich in der Rückkehr auf sich selbst dem Außen öffnet. Eben dieser Reflexion werden wir uns gleich anschließend widmen, weil sie uns zu den angedeuteten Schlussbetrachtungen führen wird, d. h. weil sie uns zu dem schwierigen (oder vielleicht lächerlichen?) Versuch führen wird, eine Hoffnung zu denken, die nicht nostalgischer Art ist.

Anmerkungen Vgl. Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. v. K. O. Apel, Frankfurt a. M. 1976. Vgl. J. Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976. 3 Bekanntlich gliedert sich dieses Schema in drei Hauptebenen – präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Moral –, die ihrerseits jeweils in zwei Stufen unterteilt sind. In der präkonventionellen Moral ist das Moralkriterium auf der ersten Stufe durch die Orientierung am Gehorsam zur Vermeidung von Strafe gegeben; auf der zweiten Stufe ist es durch die naive egoistische Orientierung an der Gegenseitigkeit (do ut des) gegeben. Auf der nachfolgenden Ebene, auf der die Moral einen konventionellen Charakter annimmt, besteht die erste Stufe in der Orientierung am Idealtypus des good boy; die zweite Stufe besteht in der Orientierung am Fortbestand von Gesetz und Ordnung (law and order). Auf der letzten, postkonventionellen Ebene geht man dann von einer Stufe, auf der das Moralkriterium durch eine vertragstheo1 2

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Im italienischen Text wird statt des Verbs »überlassen« irrtümlicherweise das Verb »verlassen« auf Deutsch zitiert.

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Kommunikative Transformation der transzendentalen Apperzeption retisch-legalistische Orientierung gegeben ist, zu einer Stufe über, auf der man sich am »Gewissen« bzw. an »Prinzipien« orientiert. Die Neuformulierung dieses Entwicklungsschemas durch Habermas und Apel identifiziert eine siebte Stufe bzw. eine dritte und letzte Stufe der postkonventionellen Ebene: hier erstreckt sich der Geltungsbereich nicht mehr auf alle Menschen, insofern sie Privatpersonen sind (was in etwa der sechsten Stufe des Schemas von Kohlberg entspricht), sondern auf alle Menschen, insofern sie Mitglieder einer »fiktiven«, d. h. vom moralisch Handelnden kontrafaktisch antizipierten Weltgesellschaft sind. Wie vorauszusehen war, hat sich gleich im Anschluss an diesen Theorievorschlag der beiden Frankfurter Dioskuren eine Diskussion über die Zweckmäßigkeit bzw. Notwendigkeit entzündet, weitere Stadien dieses Entwicklungsschemas in Betracht zu ziehen oder es als ein unendlich offenes Schema zu betrachten. Darauf werden wir im Folgenden zurückkommen. Zur »Logik der moralischen Entwicklung« und zu unserer nachfolgenden Diskussion derselben vgl. L. Kohlberg, Essays on Moral Development. Moral Stages and the Idea of Justice, San Francisco 1981; J. Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, ed. cit.; K. O. Apel, Weshalb benötigt der Mensch Ethik? In Funkkolleg praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, hrsg. v. K. O. Apel et al., Frankfurt a. M. 1984, Bd. 1, S. 49–137. Vgl. Sprachpragmatik und Philosophie, ed. cit., S. 174–204. 4 Vgl. Sprachpragmatik und Philosophie, ed. cit., S. 174–204. 5 Vgl. H. Albert, Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, Hamburg 1975. Zu dieser Polemik siehe auch N. Yamawaki, Die Kontroverse zwischen kritischem Rationalismus und transzendentaler Sprachpragmatik, Königstein Ts. 1984. 6 Wir beziehen uns hier auf die Worte Kants im Vorwort zur ersten Auflage der Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, wo er die Idee zurückweist, dass die Moral einen Zweck voraussetzen muss, und gleichwohl behauptet, dass die Moral notwendig die Frage nach sich zieht, welcher Zweck aus ihr folge. 7 Vgl. K. O. Apel, D. Böhler, K. Rebel (Hrsg.), Funkkolleg praktische Philosophie/ Ethik: Dialoge 1, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1984, passim; K. O. Apel, Die Situation des Menschen als ethisches Problem, in G. Frey (Hrsg.), Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen, Innsbruck 1983, S. 31–49. 8 Vgl. Sprachpragmatik und Philosophie, ed. cit., S. 53–80. 9 Vgl. das Kapitel »Moral Stages and Problems beyond Justice« in L. Kohlberg, Essays on Moral Development, ed. cit., S. 311–373. Auf diese Beobachtung, auf die wir Apel aufmerksam gemacht hatten, hat Apel mit der Schrift Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewußtseins, in Intersoggettività, socialità, religione, in Archivio di Filosofia, Bd. 54 (1986), S. 107–158, geantwortet; zur Diskussion dieser Schrift vgl. die Beiträge von J. Simon, Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von K. O. Apel, ibid., S. 159–166, und H. Peukert, Intersubjektivität – Kommunikationsgemeinschaft – Religion. Bemerkungen zur Interpretation einer höchsten Stufe der Entwicklung moralischen Bewusstseins durch K. O. Apel, ibid., S. 167–178. 10 Vgl. die ersten fünf Paragraphen der ersten Logischen Untersuchung. 11 Vgl. J. Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967. 12 E. Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, S. 182. 13 Die Kritik an Rawls, die von M. J. Sandel in Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge/Mass. 1982, S. 183, formuliert und von Habermas in Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in

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Zweiter Teil: Kommunikation und Ethik W. Kuhlmann (Hrsg.), Das Problem Hegel und die Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 23 und 55, aufgegriffen worden ist, ist berechtigt. Andererseits muss betont werden, dass die Asymmetrie, auf die wir hier anspielen, weder »einfach« dialektisiert noch auf ein wie auch immer symmetrisierendes Sozialmodell wie dasjenige Meads zurückgeführt werden kann, das Habermas so sehr inspiriert und auch dank ihm eine Art renaissance erfährt; ebenso wenig kann es auf eine sozialethische Sichtweise wie diejenige Gouldners (siehe A. W. Gouldner, Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze, dt. Übers., Frankfurt a. M. 1984) zurückgeführt werden, die auch das Interesse von Habermas gefunden hat, wobei Gouldner aufgrund dessen, was wir den Blick des Dritten bzw. des gesellschaftlichen Beobachters genannt haben, die Reziprozität mit der Asymmetrie der »Wohltätigkeit« verbinden kann (vgl. die Kapitel »Reziprozität und Autonomie im Funktionalismus«, »Die Norm der Reziprozität. Eine vorläufige Formulierung« und »Etwas gegen nichts: Reziprozität und Asymmetrie«, ibid., S. 38–164, die für viele der in unserem Buch behandelten Probleme bedeutsam sind). Zur symmetrischen Reziprozität als Tugend – wenngleich als »deontischer« Tugend! – vgl. L. C. Becker, Reciprocity, London 1986. 14 Vgl. den dritten Teil der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 15 Was den Einfluss Jacobis auf das Kapitel über das Gewissen in der Phänomenologie des Geistes betrifft, sei es uns gestattet, auf die umfassendere Analyse in unserem Aufsatz Nichilismo e anima bella in Jacobi, in Giornale di Metafisica, Nr. 2 (1980), S. 30–32, zu verweisen. 16 E. Levinas, Totalité et infini, ed. cit., S. 222. 17 Zu diesem Thema möge man den schönen Sammelband von G. Bien, Die Frage nach dem Glück, Stuttgart – Bad Cannstatt 1978, heranziehen und darin insbesondere den Aufsatz von O. Marquard, Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie, S. 93–111. 18 Vgl. Religion, A 127, B 135. 19 Vgl. z. B. J. E. Pleines, Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft, Würzburg – Amsterdam 1983, S. 27–46. 20 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 19734, S. 208.

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Dritter Teil Prä-Existenz und Vorstellung

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Sechstes Kapitel a Transzendentale Vereinigung und Alterität; oder: Das Eine und das Andere b

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Kommunikation, Interlokution und Intersubjektivität sind allesamt Begriffe, welche Einheit und Vielheit bereits voraussetzen. Während die Transzendentalphilosophie traditionell größte Schwierigkeiten dabei hat, die Vielheit zu deduzieren und die Differenz zur Geltung zu bringen, hat der Empirismus traditionell größte Schwierigkeiten dabei, die Einheit abzuleiten und somit die empirische Identifikation zu begründen. Die Dialektik Hegels und das Denken Heideggers sind gewiss radikal, weil sie die Voraussetzung vermeiden und dies natürlich auf die einzige Weise tun, in der dies überhaupt möglich ist, nämlich indem sie sie anerkennen. 1 Aber eben diese Anerkennung ist, wie auch anders nicht möglich, nostalgisch. Es stellt sich daher die Frage, ob Anerkennung auf nicht nostalgische Weise stattfinden kann. Diese paradoxe Frage vermeidet nur dann den Widerspruch und mithin die Notwendigkeit, den Widerspruch zu beherrschen – d. h. die Notwendigkeit von Herrschaft –, wenn sich das Paradox in der Äquivokation erschöpft. Die Dyade Eines-Viele (wobei »Dyade«, »Eines« und »Viele« äquivok aufeinander verweisen und sich gleichsam gegenseitig hervor-rufen, sich »äqui-vozieren«) muss wahrscheinlich äquivok gedacht, äquivok gesagt und äquivok belassen bzw. übersetzt werden: das Eine und das Andere. c Die beiden Hypothesen des platonischen Parmenides – das Eine a

Der Text dieses Kapitels entspricht im Wesentlichen dem Text eines italienischsprachigen Aufsatzes, der 1990 unter dem Titel L’uno e l’altro (MMO-133) erschienen ist. b Der zweite Teil der Überschrift, »DAS EINE UND DAS ANDERE« (L’UNO E L’ALTRO), greift den Titel des diesem Kapitel zugrundeliegenden Aufsatzes MMO-133 auf und bezieht sich hier dementsprechend nicht nur auf »das Eine und das Andere des Bewusstseins« (vgl. S. 130–132), sondern zunächst einmal auf das mit diesem Titel »äquivok« zum Ausdruck gebrachte Verhältnis zwischen dem »Einen« einerseits und der »Dyade« bzw. den »Vielen« andererseits (vgl. den ersten Absatz dieses Kapitels). c Von hier bis zum Ende dieses Kapitels entspricht der Text im Wesentlichen dem Text des Aufsatzes MMO-133.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

ist; das Eine ist nicht – determinieren, indem sie das Problem des Einen an dasjenige des Seins binden, bereits jene Privilegierung des Einen gegenüber den Vielen, welche eins ist – dieser Ausdruck ist hier sehr angebracht – mit der Privilegierung des Problems des Seins und mit dem Versuch, ihm einen protologischen Rang beizumessen. Die Aporien der in Beziehung zum ontologischen Problem bzw. im Horizont des ontologischen Problems gedachten Dyade Eines-Viele durchziehen den gesamten Bogen unserer philosophischen Tradition, wobei besonders mit den Dyaden »Identität-Differenz« und »SeinNichts« Verwicklungen bestehen bzw. Bereiche einer ursprünglichen Fusion erkennbar sind. Zweifellos nimmt der Neuplatonismus innerhalb dieser Tradition eine besondere Stellung ein; insofern hat Beierwaltes Recht, wenn er in einem energischen Aufsatz aus dem Band mit dem signifikanten Titel D e n k e n d e s E i n e n dagegen polemisiert, dass Heidegger die Geschichte der abendländischen Metaphysik schlicht und einfach auf eine Geschichte der Ontotheologie redu122 ziert. 2 Gleichwohl ist auch wahr, dass der Neuplatonismus innerhalb der (unserer) Denktradition steht; nicht nur in dem offensichtlichen Sinne einer geschichtlichen Zugehörigkeit, sondern auch in dem weniger offensichtlichen Sinne einer thematischen oder besser perspektivischen Zugehörigkeit bzw. Übereinstimmung. Es ist gewiss kein Zufall, dass Beierwaltes – um dasselbe Beispiel wieder aufzugreifen – in eben dem von uns angesprochenen Werk, wie übrigens auch in seiner gesamten herausragenden Gelehrtentätigkeit, im Wesentlichen darum bemüht ist, die thematischen Übereinstimmungen und die geschichtliche Abhängigkeit des deutschen Idealismus vom Neuplatonismus aufzuzeigen. Der nicht nur historische, sondern auch theoretische trait-d’union zwischen diesen beiden Termini – Neuplatonismus und Idealismus – ist die Nostalgie, das Heimweh, die Sehnsucht nach Heimkehr. Die Rückkehr zum Ursprung, der Kreis der Ilias und der Odyssee mag dabei sehr wohl in einem zukünftigen Ursprung, in einem »letzten Homer« zum Abschluss kommen – um hier den schellingschen Ausdruck zu gebrauchen, d den Schelling selbst im etymologischen Sinne als den »identischen Letzten« interpretieren zu können glaubte –, 3 in d

Schelling spricht eigentlich nicht wörtlich von einem »letzten Homer« (ultimo Omero), sondern davon, dass »das Epos, der Homeros (nach dem wörtlichen Sinne der Einigende, die Identität), welcher dort das Erste ist, hier das Letzte seyn [wird]«. Vgl. F. W. J. Schelling, Gesammelte Werke, Cotta 1859, Bd. 5, Teil 1, S. 457.

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Transzendentale Vereinigung und Alterität

einem »letzten Homer«, der mehr und ursprünglicher ist als der »erste Homer«; dies aber ändert nichts daran, dass die Nostalgie, und sei es auch die auf die Zukunft gerichtete Nostalgie, das Eine gegenüber den Vielen privilegiert (so wie sie im Übrigen auch die Identität gegenüber der Differenz und das Sein gegenüber dem Nichts bzw. gegenüber dem Nicht-Sein privilegiert). Das Problem Eines-Viele mit der als »primär« gedachten ontologischen Dimension zu verbinden (wobei das kardinale und das ordinale Verständnis des privilegierten Einen bezeichnenderweise koinzidieren), heißt eben gerade, das Eine gegenüber den Vielen zu privilegieren. In diesem Sinne ist die Alternative, ob das Eine ontischen (ontotheologischen) Charakter habe oder ob es stattdessen über jedes Seiende und jede Hypostase absolut hinausgeht, bei der Definition der letztlich ontologischen Dimension, in der das Eine gedacht wird, weniger wichtig als die Tatsache, dass das Eine dabei gegenüber den Vielen privilegiert wird. Ja, man kann sich sogar fragen, ob ein wirklicher Wechsel der Dimension, in der das Eine-Viele letztlich gedacht wird, nicht vielmehr über ein entschiedenes Eintreten für das Ontische und für eine Würde des Ontischen zu erreichen ist, die höher ist als die Würde des Ontologischen und des Seins. Diese Würde, die höher ist als die Wü r d e des Seins als desjenigen, was im Sinne Heideggers f r a g w ü r d i g ist, unterliegt nicht der nihilistischen Wertkritik, denn sie kommt dem Seienden nicht deswegen zu, weil es ein »Seiendes« ist, d. h. in Beziehung zum Sein steht, sondern sie kommt ihm deswegen zu, weil es sozusagen in Beziehung zu einer Dimension jenseits des Seins steht, zu einer Dimension also, die nur ausgehend vom Seienden als eine solche (d. h. als »Dimension«) bezeichnet wird, d. h. die nur insofern eine »Dimension« ist, als sie als eine solche bezeichnet – bzw. gedacht – wird, und deren Bezeichnung als »Dimension« sofort durch das Attribut der Unermesslichkeit widerrufen werden muss; e zu einer Dimension also, deren Bezeichnung als »Dimension« sofort durch das Attribut einer buchstäblichen »Ab-solutheit« widerrufen werden muss. Die Beziehung zu dieser Dimension ist daher eine abgelöste und ablösende Beziehung, die das Sein verlässt, indem sie es sein lässt. Die höhere Würde des Seienden ist die Würde desjenigen, der eine Antwort statt einer Frage verdient, eine Antwort, die Verantwor- 123 e

Denn der Terminus »Dimension« (dimensione) geht etymologisch auf das lateinische Wort für »messen« zurück und bedeutet eigentlich »Maß« bzw. »Ausmaß«.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

tung auferlegt, ja den »Menschen« vor jeder von ihm geäußerten Bitte und vor jeder von ihm gestellten Frage als Antwortenden und Verantwortlichen f konstituiert. Das eben Gesagte evoziert einige wesentliche Aspekte eines Verständnisses von Ethik, wie es diesem Buch zugrunde liegt, nämlich eines Verständnisses von Ethik als erster bzw. vorgängiger Philosophie. Die Dimension der Ethik wird im Unterschied zur Dimension der Ontologie als eine Dimension evoziert, die keinen nostalgischen Charakter hat und mithin die »Vielen« nicht gegenüber dem »Einen« entwürdigt; zudem wird eine interlokutive Dimension (nämlich, wie eben beschrieben, eine der Frage vorausgehende Antwort) evoziert, die – wie noch ausführlich zu sehen sein wird – wesentlich ist für jeden Versuch, Ethik als »erste« Philosophie zu denken, ohne diese »Erstheit« dabei im Sinne einer Privilegierung des Einen und der Vereinigung als Rückkehr zum Ursprung, sei es auch zu einem zukünftigen Ursprung, zu verstehen. Diesen bislang nur evozierten Aspekten müssen wir uns detaillierter zuwenden. Zuvor jedoch möchten wir zwei Beobachtungen historischer Art machen, die uns hilfreich zu sein scheinen, um den Sinn der bisherigen, dieses Kapitel einleitenden Betrachtungen zu erläutern. Die erste Beobachtung bezieht sich auf Heidegger und auf die These, dass er dem nostalgischen Denken bzw. dem Denken als Nostalgie verhaftet bleibe. Dies scheint uns eine fortdauernde Charakteristik von Heideggers Denkens zu sein, die für dieses Denken sowohl vor als auch nach der Ke h r e charakteristisch ist: sowohl die »Vereigentlichung« und »Aneignung« der Existenz im Vorlaufen zum Tode (»d a s E i g e n t l i c h s t e u n d E i g e n s t e «) als auch »d a s Ü b e r k o m m n i s d e s G e w e s e n e n « und das Hinhören auf ein neues Geschick des Seins fallen unter dieses Paradigma des nostalgischen Denkens. Die Abwesenheit einer ethischen Dimension im Denken Heideggers ist in diesem Sinne bezeichnend, und die Tatsache, dass das Sein als endliches Sein gedacht wird, nimmt ihm nichts von seiner vereinnahmenden (gebend-vereinnahmenden) g Macht. f

Die Verknüpfung von »antwortend« (rispondente) und »verantwortlich« (responsabile) lässt im Italienischen anklingen, dass das italienische Wort für »verantwortlich« buchstäblich »zur Antwort fähig« bedeutet, und legt somit sprachlich nahe, dass sich die Verantwortlichkeit gleichsam aus der Fähigkeit zur Antwort ergibt. g Das Attribut »vereinnahmend (gebend-vereinnahmend)« übersetzt hier das terminologisch unklare Attribut fagocitante (donante-fagocitante). Während das hier mit »vereinnahmen« übersetzte Verb fagocitare auf dasselbe Etymon zurückgeht wie »phagozitieren«, bedeutet das hier mit »geben« übersetzte Verb donare im engeren

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Transzendentale Vereinigung und Alterität

Die Frage, die wir zuvor bezüglich der Hoffnung gestellt haben, gilt es nun bezüglich der Philosophie zu stellen (zumal das Wort »Hoffnung«, in nicht-nostalgischem Sinne verstanden, die Möglichkeit, Ethik als »erste« Philosophie zu denken, treffend beschreibt). Ist eine Philosophie möglich, die nicht nostalgisch ist? Oder anders gefragt, wenn wir den Begriff »Philosophie« mit Heidegger nur zur Bezeichnung einer »Metaphysik« verwenden wollen, die mittlerweile ihr Ende bzw. ihre Vollendung gefunden hat, und wenn wir stattdessen von »Denken« sprechen wollen: Ist ein Denken möglich, das nicht nostalgisch ist? Wenn das Andenken und die Andächtigkeit der A n d a c h t der Nostalgie gleichkämen, dann wäre Ethik unmöglich, und das Privileg des Einen würde die Vielen ins Sein einverleiben, eben gerade indem und eben gerade weil es im E r e i g n i s das Sein zueignet und im Sein vereignet. h Die zweite Beobachtung bezieht sich dagegen abermals auf Levinas und mithin auf einen Denker, der für die Ethik insofern einen protologischen Charakter beanspruchen kann, als er –gerade im Gegensatz zu Heidegger – das Primat und den Vorrang des Ontischen gegenüber dem Ontologischen beansprucht. Diese zweite Beobach- 124 tung beschränkt sich darauf, den bedeutungsvollen Übergang hervorzuheben, der zwischen zwei der kühnsten Schriften von Levinas stattgefunden hat. In La trace de l’Autre (1963) 4 ist die Transzendenz des Guten gegenüber dem Sein noch in neuplatonischem Sinne definiert, unter Gleichsetzung des platonischen epékeina tês ousías mit dem plotinischen epékeina noû und des Einen der ersten Hypothese des Parmenides (welches Platon zufolge »weder ähnlich noch unähnlich, weder identisch noch nicht identisch« ist) mit dem Einen Plotins (von dem Levinas den Begriff der »Spur« übernimmt, wie seinem Zitat bzw. seiner Übersetzung aus der fünften Enneade zu entnehmen

Sinne »schenken«, wird aber in der italienischen Heidegger-Rezeption auch dazu verwendet, um das »Geben« im »es gibt« zu übersetzen. Gemeint ist also wohl ein »Geben«, welches Sein gibt und eben dadurch im Sein »vereinnahmt«. Vgl. die analoge Denkfigur bezüglich des »Ereignisses« im folgenden Absatz. h Die Rede von »das Sein zueignen und im Sein vereignen« interpretiert hier die Konjunktion der terminologisch nicht eindeutigen Verben donare und appropriare, von denen das erstere »schenken« bzw. »geben« bedeutet (vgl. die Erläuterungen in der obigen Fußnote) und das letztere das Simplex und verschiedene Komposita des Verbs »eignen« zum Ausdruck bringen kann, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das »Ereignis« für Heidegger sowohl einen »dem Sein vereignenden« als auch einen »das Sein zueignenden« Charakter besitzt.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

ist: »hier lässt die Spur des Einen das Wesen entstehen, und das Sein ist nur die Spur des Einen«) 5. In der zweiten Schrift von Levinas – seinem Beitrag zum Castelli-Kolloquium des Jahres 1982 – wird das platonisch geprägte Verständnis des Monotheismus dagegen als etwas betrachtet, was am Ursprung des »traurigen« Geschehens steht, durch welches »die europäische Philosophie […] sich am Ende von der Religion abgelöst hat, um als autonomes Denken sich selbst zu genügen« 6. Der Titel dieser Schrift von Levinas – De l’Un à l’Autre – hat gewiss nicht nur eine theoretische und inhaltliche, sondern auch eine autobiographische Bedeutung; der Titel markiert nämlich klar den Übergang von der an den Neuplatonismus (und den Platonismus) anknüpfenden Schrift über die Spur – die selbst bereits eine starke metaontologische Radikalisierung gegenüber Totalité et Infini darstellt – zu einer noch radikaler, ja man möchte beinahe sagen definitiv metaontologischen Position. Soweit die beiden Beobachtungen historischer Art. Knüpfen wir jetzt wieder an die Ausführungen an, die uns dazu gebracht haben, eine nicht-nostalgische und interlokutive Dimension zu evozieren. Wir würden also sagen, dass das Merkmal des ontologischen Denkens im Privileg des Einen besteht. Und wir würden sagen, dass das Eine, ungeachtet jeder Unterscheidung zwischen Ontischem und Ontologischem, zwischen dem als höchstes oder allgemeinstes Seiendes gedachten Einen und dem jenseits des Seins und des noûs gedachten Einen, durch das nostalgische Denken privilegiert wird. Die Nostalgie ist die Erkenntnis selbst: die Erkenntnis als Vereinigung, als ein Begreifen, welches vereinigt (zum Beispiel kantisch gesprochen ein »Mannigfaltiges« im Gegenstand) und gegenwärtig hält bzw. in der Gegenwart hält (main-tenant, v o r- h a n d e n : die greifende Hand, die im Begriff erfasst, und die verweisende Hand der »Z e i g e « sind ein und dieselbe Hand!) 7, indem es das zeitliche Differieren vereinigt und jede Diachronie in die Synchronie einschreibt, bis hin zur ewigen Gegenwart, bis hin zum Einswerden mit dem Erkannten, bis hin zur unio mystica, also bis hin zur Überwindung der Erkenntnis, über den Verstand, über die Vernunft, über den noûs hinaus. Diese Rückkehr – welche sehr wohl eine Rückkehr zum zukünftigen Ursprung sein kann und dabei nicht einmal notwendigerweise in Gestalt einer hegelschen Eschatologie gedacht werden muss, zumal die eschatologischen Züge einer »Ü b e r k o m m n i s « im Sinne Heideggers zwar eigentümlicher Art, aber doch offensichtlich sind –, diese Rückkehr ist 125 die Struktur der Erkenntnis selbst. Erkenntnis ist – wie noch ausführ206 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Transzendentale Vereinigung und Alterität

lich zu untersuchen sein wird – immer ein Wiedererkennen, auch und vor allem dann, wenn das Erkannte zum ersten Mal erkannt wird. i Wenn wir nun aber sagen, dass das Merkmal eines ethischen Denkens darin besteht, dass es das Eine nicht gegenüber den Vielen privilegiert (und natürlich auch nicht die Vielen gegenüber dem Einen: dies nämlich liefe in ethischer Hinsicht auf dasselbe Resultat hinaus, wie die von uns oben angesprochenen Aporien der Traditionen der Transzendentalphilosophie und des Empirismus beweisen), bzw. wenn wir sagen, dass das ethische Denken ein Denken ohne Nostalgie ist, dann müssen wir dem Problem der Erkenntnis Rechnung tragen, die Wiedererkennen und Rückkehr, ja womöglich Rückkehr zur Zukunft ist. Die Behauptung, dass die Ethik einen protologischen Charakter habe (wenn auch protologisch im einem antiphrastischen Sinne, der die Koinzidenz von Ordinalität und Kardinalität verneint, welche eben gerade das Privileg des Einen ist), ist alles andere als eine irrationalistische Behauptung. Wenn es zu dieser Behauptung kommen kann, so ganz gewiss nicht aufgrund eines erbaulichen und akritischen Impetus, sondern weil sie der Erkenntnis entspringt (dadurch allein legitimiert sich der antiphrastische Gebrauch des Begriffs »erste Philosophie« bezüglich der Ethik) 8. Die Behauptung entspringt der Erkenntnis und ist eine Erkenntnis; ja sie ist sogar eine Erkenntnis, die trotz des protologischen (oder man könnte – in einem wiederum idiosynkratischen Sinne – auch sagen »transzendentalen«) Charakters, der für sie beansprucht wird, ununterscheidbar an die empirische Erkenntnis angrenzt und mit ihr vertauschbar wird. Besonders das Problem der Erkenntnis als Wiedererkennen und als Rückkehr bzw. Nostalgie stellt sich auf physischer Ebene, und eben darum stellt es sich auch auf metaphysischer Ebene; besonders dieses Problem stellt sich auf empirischer Ebene, und eben darum und darin stellt es sich auch auf transzendentaler Ebene. Das Wiedererkennen – d. h. die »erste« Erkenntnis – ist an »erster« Stelle (bzw. im »ersten« Moment) das Wiedererkennen der Mutter seitens des Kindes; die ersehnte Rückkehr ist an erster Stelle die Rückkehr an die Brust der Mutter bzw., in theologischer Sprache gesagt, in sinum Patris, d. h. jedenfalls an die Brust einer Elternfigur (um in gewisser Weise sowohl Maskui

Vgl. die Ausführungen und Fußnoten zum Begriff des »Erkennens« bzw. »Wiedererkennens« (riconoscimento) auf S. 133 und 148 ff. sowie die diesbezüglichen Erläuterungen im vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

linisten als auch Feministen zufrieden zu stellen, könnte man sagen: »in den Schoß der Heimat«; dann aber handelte es sich dabei nicht mehr um den Bezug zu einer Person: eben dies ist es, was – pour cause – in Heideggers Hölderlin-Nostalgien für die »H e i m a t « und in seinen Klagen über die »H e i m a t l o s i g k e i t « geschieht). Ein Diskurs über die Erkenntnis (wohlgemerkt ein Diskurs, der selbst einen Erkenntniswert zu haben beansprucht) ist ein reflexiver Diskurs: ein Diskurs, der die Erkenntnis der Erkenntnis (äquivoker Genitiv) darlegt. Die reflexive Erkenntnis der Rückkehr zum Einen, d. h. der Erkenntnis als Vereinigung, vollzieht sich selbst als Rückkehr: eine Rückkehr zum Ursprung (der Erkenntnis). So viel zu dem, was die Verwechslung zwischen Empirischem und Transzendentalem, 126 zwischen Physischem und Metaphysischem, zwischen einer Erkenntnis und der Erkenntnis betrifft. Aber nur aus- und fortgehend von dieser Erkenntnis über die Erkenntnis, von dieser vereinigenden und identifizierenden reflexiven Rückkehr, wird ein Diskurs über Ethik als Abschied von der Nostalgie und von der Privilegierung des Einen möglich und notwendig. Sich rückkehrend verabschieden: dies ist gewiss ein Paradox. Aber ein Paradox wird in strengster Weise eben gerade durch die selbsteinschließende Reflexivität definiert, und die Reflexion ist bekanntlich auch in ihren logisch und linguistisch geläutertsten Formen eine Quelle von Paradoxen 9. Die Illusion einer absoluten Reflexion ist eben gerade die Illusion einer Rückkehr ohne Abschied, und man tut gut daran, dieser Illusion jeden Gedanken entgegenzuhalten, der den Exodus in direkte Proportionalität setzt zu jener Rückkehr zu sich selbst, welche das Selbst als Selbst, als Selbigkeit, als S e l b s t h e i t definiert: angefangen mit dem sich öffnenden Sich-schließen und Sich-abschließen der Fragestellung der kantschen Kritik in der Frage »Was darf ich hoffen?«, bis hin zu dem anti-hegelianischen »Sichdurchsichtig-in-der-Macht-gründen,-welche-es-gesetzt-hat« seitens jenes »Sich-verhaltens-des-Verhältnisses-zu-sich-selbst«, das bei Kierkegaard die Überwindung der Krankheit zum Tode definiert; um ganz zu schweigen von Fichte oder, was die Gegenwart betrifft, von den Ergebnissen der Phänomenologie nach Husserl und, ebenfalls was die Gegenwart betrifft, von Gödel, von der Theorie autopoietischer reflexiver Systeme etc. Da sich die Illusion der »absoluten Reflexion« am deutlichsten in den Aporien des »spekulativen Satzes« 10 zeigt, wollen wir noch anmerken, dass der Zusammenhang zwischen Denken und Sprache der 208 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Transzendentale Vereinigung und Alterität

Punkt ist, an dem sich das durch direkte Proportionalität gekennzeichnete Implikationsverhältnis von Rückkehr und Abschied am besten feststellen lässt. Das Verhältnis zwischen Denken und Sprache reproduziert das Paradox von Rückkehr und Abschied und ist in gewissem Sinne dessen Paradigma. Je mehr Reflexivität, desto mehr Sprache, so ließe es sich auf eine Formel bringen, die zwar knapp ist, aber deren polemische Implikationen, einerseits in Bezug auf die absolute Reflexion sowie andererseits in Bezug auf die anti-reflexiven und anti-subjektivistischen Richtungen des gegenwärtigen Sprachdenkens in dessen scheinbar weit voneinander entfernten, wenn nicht gar gegensätzlichen Gestalten des Heideggerismus und der analytischen Philosophie, bereits in dieser einfachen Aussage evident sind. Tatsache ist, dass der absolute Subjektivismus des Denkens der Moderne und der Antisubjektivismus des Denkens der Gegenwart – sowohl in seiner »kontinentalen« als auch in seiner »analytischen« oder auch »post-analytischen« Variante (als »post-analytisch« definieren sich mittlerweile Orientierungen, die eine signifikante convergentia oppositorum aufweisen) – zwei Seiten derselben Medaille sind. Das, was die Vor- und die Rückseite dieser Medaille miteinander verbindet und dabei glauben macht, dass deren Umkehrung so etwas wie einen epochalen Umbruch darstellt, ist jeweils immer noch die Überzeugung, dass sich die Reflexivität in sich selbst abschließen 127 könne bzw. dass, wenn dieses Sich-abschließen nicht stattfindet, die Illusion in der Reflexivität besteht. Mit anderen Worten: das, was die beiden Seiten der Medaille verbindet, besteht eben gerade in dem Umstand, dass sie jenes Verhältnis direkter Proportionalität zwischen Rückkehr und Abschied, zwischen Denken und Sprache, zwischen Reflexion und Öffnung nicht erfassen, wodurch die subjektive Reflexion niemals nur eine, sondern mannigfaltig ist, d. h. wodurch das Eine, zu dem man zurückkehrt, nie ohne das Andere ist. j Diese Formel – »das Eine, zu dem man zurückkehrt, ist nie ohne das Andere« – ist ebenfalls noch zu brachylogisch, um klar zu sein, und bedarf einer ganzen Reihe von Präzisierungen; sie ist jedoch bereits hinreichend explizit in einem Punkt, nämlich darin, dass sie, wenn sie mit der anderen brachylogischen Formel (»Je mehr Reflexi-

j

Vgl. die Erläuterungen in der Fußnote zum Titel dieses Kapitels sowie zu einem möglichen »Missverständnis« der Rede vom »Einen« und »Anderen« unten auf S. 127.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

vität, desto mehr Sprache«) zusammengenommen wird, die interlokutive Natur von Sprache deutlich werden lässt. Wenn schon die Behauptung, dass das Verhältnis zwischen Denken und Sprache für das Paradox von Rückkehr und Abschied einen paradigmatischen Charakter hat, durchblicken ließ, dass der »protologische« Charakter der als Abschied von der Nostalgie verstandenen Ethik in gewisser Weise mit der Sprache zusammenhängt, so verdeutlicht die mit der Formel »das Eine ist nie ohne das Andere« zum Ausdruck gebrachte Präzisierung über die interlokutive Natur der Sprache den Umstand, dass die von uns angesprochene Ethik eine Ethik der Verantwortung ist: gewiss nicht im Sinne von Weber oder von Jonas, sondern im Sinne einer Verantwortung, die umso mehr anwächst, je mehr man davon übernimmt (die Rede von einer »Übernahme« von Verantwortung konnotiert allerdings zu sehr den Aspekt der Aktivität, während hier ebensosehr der Aspekt der Passivität und des Erleidens betont werden müsste). Diese Verantwortung, die umso mehr anwächst, je mehr man ihr entspricht, führt dazu, dass man – um hier den von uns bereits zitierten Levinas zu paraphrasieren – umso schuldiger ist, je gerechter man ist. An diesem Punkt unserer Ausführungen angelangt, mag zu dem Unbehagen, das der »gesunde Menschenverstand« über ein Argumentieren empfindet, welches in der sich selbst widerlegenden Behauptung des Paradoxes Gestalt annimmt, zweifellos der Ekel über deren vermeintlich erbauliche Absicht hinzukommen. Während aber das Unbehagen des gesunden Menschenverstandes unvermeidlich ist, wäre der Ekel über einen vermeintlichen Moralismus hier völlig fehl am Platz; vielmehr glauben wir, dass die letzteren Bemerkungen zusätzlich zu dem Unbehagen des »gesunden Menschenverstandes« eben gerade für dasjenige anstößig sind, was wir in Analogie dazu einen »gesunden Moralismus« nennen möchten. Wir sind uns gleichwohl im Klaren darüber, dass das Missverständnis, wir verträten einen erbaulichen Moralismus, durch die subjektivistische, humanistische und anthropologische Interpretation hervorgerufen wird, welche die Formel »das Eine ist nie ohne das Andere« im Italienischen erfahren kann. k Eine wirklich radikale Kritik am Subjektivismus fink Im Italienischen ist diese Interpretation insofern naheliegend, als die Termini l’uno und l’altro, die hier aus gutem Grund mit »das Eine« und »das Andere« übersetzt worden sind (vgl. die Fußnote zum Titel dieses Kapitels), grammatisch mehrdeutig sind und daher leicht auch im personalen Sinne von »der Eine« bzw. »der Andere«,

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det jedoch nicht dann statt, wenn man die vereinigende und vervielfältigende Einheit des transzendentalen Subjekts durch das »Er-eignen« l des E r e i g n i s s e s ersetzt, denn auch dieses ist eine Ilias mit seiner Odyssee, zumal es das Privileg des Einen wieder einem Sein verleiht, von dem mit den Worten des platonischen Parmenides 128 immer noch und erneut gesagt werden könnte, dass es »weder identisch noch nicht-identisch, weder ähnlich noch unähnlich« ist. Eine wirklich radikale Kritik am Subjektivismus findet aber auch dann nicht statt, wenn man an die Stelle der zuvor privilegierten Einheit das gegenteilig gleiche Privileg der Vielen setzt, indem man das Primat der Stimme zurückweist und für eine Schrift eintritt, die sich unausweichlich in »Urschrift« verwandelt (ein neuer Name für das Primat des Ontologischen und des Einen, insofern es weder identisch noch nicht-identisch, weder ähnlich noch unähnlich, sondern vielmehr différant ist, wie man kritisch oder besser noch ironisch sagen könnte, zumal das Partizipialadjektiv eine Form der »Differenz« darstellt, bei der sich die Differenz zwischen différence und différance nicht einmal in schriftlicher Form erkennen lässt). Eine wirklich radikale Kritik am Subjektivismus findet vielmehr allein dann statt, wenn die vereinigende und vervielfältigende Einheit des transzendentalen Subjekts durch die irreduzible Pluralität der Subjekte ersetzt wird. Wenn diese Pluralität nicht erneut in einem vereinnahmenden Einen versammelt sein soll, dann darf dieses Versammeln selbst kein logisches, sondern ein analogisches, kein univokes, sondern ein äquivokes, kein einziges, sondern ein vielzähliges Versammeln sein: es muss Eines-Viele sein. Es geht hier aber nicht darum, an eine Form des kritischen Ontologismus zu denken (obwohl die italienische Tradition reicher ist als die äußerst bescheidene Rezeption, zu der sie die Sprache verdammt, in der sie ihren Ausdruck findet); denn ein »Bewusst-Sein« (esseredi-coscienza) im Sinne Carabelleses unterliegt noch immer dem Paradigma der Rückkehr (in der Tat ist die Schwierigkeit bezeichnend, d. h. im Sinne von »das eine und das andere [Subjekt]« bzw. »der eine und der andere [Mensch]« verstanden werden könnten. l Der Ausdruck »Er-eignen« übersetzt hier das Substantiv appropriazione, das den verbalen Aspekt und die damit verbundenen semantischen Konnotationen von Heideggers Begriff des »Ereignisses« betonen soll (vgl. die Erläuterungen zum Verb appropriare auf S. 123). Auch das »Er-eignen« des »Ereignisses« hat sowohl einen gleichsam »vereinigenden« (dem Sein vereignenden) als auch einen gleichsam »vervielfältigenden« (das Sein zueignenden, ins Eigene kommen lassenden) Charakter.

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welcher Carabelleses Versuch entgegengeht, die Religion ebenso wie die Philosophie als ein transzendentales Erfordernis zu denken, nämlich die Schwierigkeit, ein subjektives Versammeln zu denken, das ebenso gerechtfertigt wäre wie das objektive Versammeln). Die Vielfältigkeit des Versammelns, das insofern und nur insofern eins (das Sein) ist, als es vielfältig ist, diese Vielfältigkeit des Versammelns gebietet es, das Versammeln als ein Versammeln auch außerhalb des Bewusstseins zu denken, d. h. als ein nicht nur denkerisches, sondern auch sprachliches Versammeln (in dieser Hinsicht stellt eine Einführung in das Leben der Wörter nach Art Castellis 11 in ihrer Ironie eine Richtung der Entwicklung der anti-solipsistischen und pluralistischen Forderungen Variscos dar, die nicht weniger wichtig ist als die kritizistische Richtung von Carabellese; letzten Endes schließen sich die Strenge der Kritik und das Lächeln der Ironie nicht gegenseitig aus, sondern sie stehen in einem Verhältnis der Kontinuität und der Verstärkung zueinander, wie die unmittelbar auf Kant folgenden kulturellen Ereignisse gezeigt haben und wie in deren Rahmen auch theoretisch ausgearbeitet worden ist) 12. Die Sprache versammelt die Einheiten des Bewusstseins, und die Einheiten des Bewusstseins versammeln die Sprache. In »äquivoker« Weise beides zugleich. Das Sein »ist« die Bühne, die durch die Interlokution entfaltet wird. Dieser Bühne wohnen die Seienden inne, und ihr wohnen auch die Sprechenden selbst inne, Seiende unter Seienden und doch zugleich mehr und anderes als Seiende. Sie sind Seiende, 129 insofern sie der Bühne des Seins innewohnen, die durch ihre Interlokution entfaltet wird, und sie erscheinen dort als »Personen« m bzw. als »Personierende« n, d. h. als »Verlautbarende«. Aber sie sind auch mehr als Seiende und anderes als Seiende, weil das Sein als die Bühne, die durch die Interlokution entfaltet wird, ein Versammeln ist, das außerhalb der »Verlautbarenden«, die diese Bühne entfalten, buchm Explizit sowohl im Sinne von Individuen mit personalem Bewusstsein (persone) als auch im Sinne von auf der »Bühne« dargestellten Figuren (personaggi). n Der Terminus »Personierende« ist ebenso wie der grammatisch analoge italienische Terminus personanti eine Wortschöpfung, die an den Umstand anknüpft, dass das Substantiv »Person« (persona) ursprünglich die Maske bezeichnete, durch die hindurch die Schauspieler im antiken Theater gesprochen haben, und dabei die (etymologisch umstrittene) Annahme nahelegt, dass dieses Substantiv vom lateinischen Verb personare (hindurchertönen) abgeleitet ist. Dementsprechend sind unter »Personierenden« gleichsam »Verlautbarende« zu verstehen, die erst durch dieses »Verlautbaren« »Personen« werden bzw. sind. Vgl. auch die Verwendungen dieses Verbs auf S. 147, 171 und 176.

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stäblich nicht stattfindet, d. h. keinen Ort findet. Es findet keinen Ort und, so ist hinzuzufügen, es findet auch keine Zeit, denn die Zeit »ist« eben gerade die nicht synchronisierbare und nicht messbare Diachronie der Interlokution. Wir müssen näher auf diese Diachronie eingehen, die Sein und Zeit zwar in konstitutiver Weise miteinander verbindet, jedoch so radikal und unvorstellbar o ist, dass sie die ontologische Rückkehr (die vereigentlichende »Aneignung« der Existenz oder das »Er-eignen« p des E r e i g n i s s e s ) definitiv nur dann erlaubt, wenn sie mit dem gleichzeitigen Hinausgehen eines Exodus einhergeht. Dementsprechend hat der Begriff »gleichzeitig« hier sowohl seinen eigentlichen als auch einen uneigentlichen Sinn, ist er sowohl geeignet als auch ungeeignet, weil die Synchronie nur durch das und in dem Hinausgehen über die Zeitlichkeit der Bühne des Seins gegeben ist. Die Formen des Vereinigens – die intersubjektiven und interlokutiven Formen der Erzählung, der Referenz und des Entwurfs, von denen wir bereits im ersten Kapitel q dieses Buchs gesprochen haben und auf die wir im Folgenden zurückkommen werden – sind indes vielfältig. Aber diese Formen des Vereinigens sind insofern vielfältig, als sie einander (d. h. die eine der anderen) innewohnen, und sie wohnen insofern einander inne, als sie Formen eines Vereinigens sind, das immer schon auf der durch die Interlokution entfalteten Bühne des Seins stattfindet, d. h. seinen Ort (und seine Zeit) findet, also auf jener Bühne, die nur zwischen dem Einen und dem Anderen versammelt und die nur als Intervall und interim versammelt. Dieses Intervall bzw. interim der Bühne der Interlokution ist selbst schon wesentlich diachron, ist selbst schon wesentlich eines und vielfältig: es ist eines, insofern es vielfältig ist, und es ist vielfältig, insofern es eines ist; es ist entfaltet und verfaltet. Die Diachronie der Bühne der Interlokution, die Diachronie des Seins selbst – man wird hier den paradoxen Charakter des Versuchs bemerken, das Präo Der Terminus »unvorstellbar« übersetzt hier den italienischen Terminus inimmaginabile, in dem bereits der Begriff der »Einbildung« (immaginazione) anklingt, von dem wenig später, nämlich auf S. 130, in einem besonderen Sinne die Rede sein wird. Vgl. hierzu auch die diesbezüglichen Erläuterungen im vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers. p Vgl. den analogen Ausdruck und die diesbezüglichen Erläuterungen auf S. 127. q Eigentlich nicht im ersten Kapitel, sondern im ersten Teil, nämlich insbesondere im dritten Kapitel und explizit auf S. 62. Vgl. hierzu die Erläuterungen im zweiten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers.

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dikat »selbst« auf das Eine-Viele zu beziehen, ein Prädikat, das sogar die Bühne »selbst«, der die Eines und Viele Seienden innewohnen, zu einem Seienden macht –, diese Diachronie ist »selbst« vielfältig. Zunächst einmal kann und muss diese Diachronie gewiss und geradezu allzu selbstverständlich als die Diachronie von Frage und Antwort beschrieben werden, d. h. als die Diachronie, die sich aus der Tatsache ergibt, dass die Gesprächspartner (mindestens) zwei sind. Diese empirische Diachronie wird durch die Kom-präsenz, durch die Mit-Gegenwart r von (mindestens) zwei Gegenwarten synchronisiert und zu einer gemacht; sie ist nur deshalb gegenwärtig, weil sie zur selben Zeit dem Bewusstsein von zwei Sprechenden gegenwärtig ist. Diese »selbe Zeit« ist insofern eine selbe Zeit, als sie gleichzeitig vom einen und vom anderen zu einer selben Zeit vereinigt wird. Dies alles hat einen Anschein von Reziprozität und Symmetrie. Aber dieser Anschein, dieser entschieden transzendentale S c h e i n , 130 ist der Bedingung der Möglichkeit seines Erscheinens geschuldet, d. h. jeweils disjunktiv dem einen Bewusstsein jedes einzelnen Gesprächspartners und jeweils ihm allein. Diese Asymmetrie, die Bedingung jeder Symmetrisierung ist, diese versetzte Synchronie, die in die eigene Gegenwart eine andere Gegenwart s und ein anderes Bewusstsein ein-bildet (man könnte hier auch den schellingschen Begriff der »I n e i n s b i l d u n g « verwenden) t und das Andere als anderes Eines in das Eine einschließt, kann dazu verleiten, mit einem transzendentalen Subjekt bzw. Bewusstsein zu liebäugeln. Doch eine solche Einbildung des Anderen nach dem eigenen Ebenbilde, eine solche Einbildung des Anderen nach dem Ebenbilde des Einen vernachlässigt die r

Der mehrdeutige Begriff der »Mit-Gegenwart« bzw. »Kom-präsenz« (com-presenza) bezeichnet eine »gemeinsame« »Gegenwart« (presenza): hier vor allem im Sinne der (gemäß einer gewöhnlichen Zeitlichkeit) »gleichzeitigen« Präsenz zweier (oder mehrerer) Bewusstseine, später aber auch im Sinne des verschiedenen Bewusstseinen gemeinsam Gegenwärtigen (vgl. z. B. S. 193 und S. 195 f.). s Das Wort »Gegenwart« übersetzt hier jeweils den Terminus presente und bezeichnet daher hier anders als im vorigen Absatz nicht die »Präsenz« (presenza) des einen oder anderen Bewusstseins, sondern das dem einen bzw. anderen Bewusstsein Gegenwärtige. t Der von Olivetti hier zur Erläuterung des italienischen Verbs immaginare eingeschobene Bezug auf den Begriff der »Ineinsbildung« ist eine Hinzufügung gegenüber dem Text des diesem Kapitel zugrundeliegenden Aufsatzes MMO-133. In diesem Aufsatz selbst wird das Verb immaginare an dieser Stelle ebenso wie im Folgenden auch in diesem Kapitel (vgl. S. 131 f.) durch den ebenfalls auf Deutsch zitierten Begriff der »Ein-bildung« erläutert.

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Tatsache, dass andererseits das Eine nach dem Ebenbilde des Anderen ist. Diese Reziprozität als Symmetrie zu interpretieren, ist nicht möglich, es sei denn mittels der Privilegierung der Asymmetrie selbst, d. h. mittels der Privilegierung des einen Bewusstseins und eines Bewusstseins (nämlich eben gerade bis hin zu dem Extrem des transzendentalen Bewusstseins); diese Privilegierung findet aber – diesmal entgegen dem Anschein – genau dann statt, wenn zwei Gegenwarten u, zwei Bewusstseine, zwei Subjekte gedacht werden. Dass aber die zwei, die im Namen des transzendentalen Subjekts vereint sind, nicht nur im symmetrischen Sinne von »das eine und das andere [Bewusstsein, Subjekt, etc.]«, sondern auch im asymmetrischen Sinne von »Eines und Anderes« (Anderes als Eines) zwei sind, wird dann offensichtlich, wenn man anstelle der Perspektive des Subjekts – eine Perspektive, die zum transzendentalen Subjekt führt – eine Perspektive einnimmt, die wir die Perspektive des Objekts nennen könnten. Gemeint ist eine Perspektive, die keineswegs im Sinne Carabelleses zum transzendentalen Objekt als dem Einem der Vielen (der vielen Subjekte) und als dem Sein führt: der kritische Ontologismus ist gewiss ein bedeutender denkerischer Gegenentwurf zum kantschen Subjektivismus; er ist jedoch noch immer ein Gegenentwurf, der Univozität herstellt und die Rückkehr privilegiert. Wenn wir davon sprechen, die Perspektive des Objekts einzunehmen, dann verwenden wir dagegen einen äquivoken Ausdruck, der paradoxerweise sowohl die Perspektive als auch das Einnehmen derselben in Frage stellt. Gemeint ist daher eine Asymmetrie, die das Subjekt zu einem Objekt macht und es, gerade insofern es Subjekt ist, in der Gegenständlichkeit auflöst, es in eben seiner Einheit ver-ändert und zu Anderem macht: zum »Anderen« eines anderen Subjekts (Subjektsgenitiv), das nur im Nachhinein als Eines, als Vereinigendes und als Subjekt ein-gebildet wird; im Nachhinein: d. h. nachdem das »Andere« eben dadurch, dass es vereinigt und nach dem Ebenbilde des Einen zu einem Bewusstsein gemacht worden ist, in der Lage ist, seinerseits sein Anderes nach seinem Ebenbilde als Eines ein-zubilden. Mit diesem komplizierten Spiel der Chiasmen – das gleichwohl schwer zu vermeiden wäre – wollen wir die Konstitution des Subu

Auch hier übersetzt das Wort »Gegenwart« den Terminus presente und ist daher im Sinne des dem einen bzw. anderen Bewusstsein Gegenwärtigen zu verstehen (vgl. oben).

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jekts, sozusagen seine Geburt, beschreiben. Dass das Bewusstsein eine Welt hat bzw. konstituiert, impliziert, dass das Bewusstsein zur Welt gebracht worden ist. Zur Welt gebracht worden zu sein, ist die irreduzible Alterität der Einheit des Bewusstsein: eine Alterität, wie wir 131 bereits zuvor gesagt haben und wie jetzt vielleicht besser verständlich wird, sowohl im reziproken Sinne, demzufolge das Bewusstsein ein Anderes gegenüber dem anderen Bewusstsein ist, das es zur Welt bringt, als auch im reflexiven Sinne, demzufolge das Bewusstsein gegenüber sich selbst ein Anderes ist und nur aufgrund dieser irreduziblen Alterität ein Selbst und ein Eines ist. Und man wird gut daran tun anzumerken, dass sowohl im reziproken Sinne als auch im reflexiven Sinne das Andere des Bewusstseins (äquivoker Genitiv) seinerseits sowohl im Sinne eines héteron als auch im Sinne eines állon zu verstehen ist. Folglich sind die Asymmetrie und die Diachronie der Bewusstseine, durch welche das eine durch das andere zur Welt gebracht wird, der unaufhebbar objektive Aspekt einer Interlokution, die allzu oft als Gespräch zwischen bereits konstituierten Bewusstseinen gedacht und daher mit einem Gestus synchronisiert wird, der nolens volens den subjektiven Aspekt, d. h. die durch das Ich vollzogene Vereinigung, also meine Vereinigung, welche das Bewusstsein des Anderen im radikalen und etymologischen Sinne »e i n - b i l d e t «, privilegiert. Dieser Privilegierung entzieht sich auch der engagierte Versuch Apels nicht, das »transzendentale Prinzip der Einheit«, das für Kant die »synthetische Einheit der Apperzeption« war, – wie wir gesehen haben – in die »Synthesis der Kommunikation« zu verwandeln. Jede Symmetrie und jede Synchronie sind – auch wenn sie guten Willens als ethisches Prinzip angenommen werden – eben gerade das Zeichen der Privilegierung des Einen, der abgeschlossenen Rückkehr ohne Exodus und daher der Verabsolutierung eines Aspekts der radikalen Diachronie und Asymmetrie, und zwar ebenso dann, wenn dies im Sinne des Seins geschieht, wie dann, wenn dies wie im Falle der kommunikativen Ethik im Sinne des Subjekts geschieht. Die »anscheinende« Synchronie der Bühne der Interlokution erscheint eben gerade erst im Nachhinein; die Mitgegenwart der beiden Gegenwarten des Einen und des anderen Einen setzt »immer schon« – um hier einen klassischen Ausdruck des Transzendentalismus zu verwenden – die Vorgängigkeit des anderen Einen gegenüber dem Einen als anderem voraus, denn ohne auf die Welt bzw. auf die Bühne des Seins gebracht worden zu sein, wäre die Einheit des Bewusstseins 216 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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nicht und hätte nicht die Welt, in die sie die Einheit des Anderen e i n b i l d e n kann. Es ist klar, dass hier die Transzendentalität, mit der der Ausdruck »immer schon« aufgeladen ist, eine Transzendentalität sui generis ist: eine Transzendentalität, bei der die Bedingungen sozusagen vom Empirischen diktiert werden. Sozusagen, denn wenn das Bewusstsein überhaupt die Erfahrung seiner eigenen Geburt macht, dann ist diese Erfahrung, diese Empirie, eben gerade dasjenige, was die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung konstituiert, die das Bewusstsein darstellt; diese Erfahrung ist mithin nicht durch sich selbst bedingt, konstituiert und vereinigt, sondern durch den Anderen, sie ist also ganz und gar bedingt, bis zurück zum Nullpunkt des konstituierenden, bedingenden und vereinigenden Bewusstseins. Der Ausdruck »Erfahrung der eigenen Geburt« ist gleichwohl kein unangemessener, sondern vielmehr ein eigentümlicher Ausdruck, bei dem das Wort »Erfahrung« in einem idiosynkratischen Sinne verwendet wird, nicht mehr und nicht weniger als dann, wenn von der 132 »Erfahrung des eigenen Todes« die Rede ist. Fassen wir zusammen, was wir über die Diachronie gesagt haben: die Interlokution ist, noch bevor sie als empirische Diachronie von Frage und Antwort erscheint (also als eine Diachronie, die im Bewusstsein in Erscheinung tritt und daher durch das Bewusstsein synchronisiert wird), Diachronie und Asymmetrie des ein-bildenden intentionalen Bewusstseins; aber dieses Bevor, das der Ein-bildung zukommt, ist seinerseits umschrieben von einem Vorher-noch, einem Vorher bzw. einem Noch, welches nicht das Vorher oder das Noch der Dauer ist, das in der »Retention« synthetisiert wird (um hier den Begriff zu gebrauchen, den Husserl in seiner Analyse des inneren Zeitbewusstseins verwendet), und welches auch nicht ein Vorher und ein Noch ist, das durch die Erinnerung und in die Erinnerung zurückgerufen wird, sondern welches ein Vorher und ein Noch ist, das jede Dauer und jeden erinnernden Rückruf durchbricht und dabei gleichzeitig ermöglicht, ein Vorher und ein Noch, das nicht erinnerbar und nicht rückrufbar ist, sondern notwendigerweise in einer léthe versunken ist, die vorher noch ist als jede alétheia und jedes Erscheinen. Dieses nicht rückrufbare Vorher-noch bezüglich der Interlokution ist das Vorher-noch des Zur-Welt-berufen-worden-seins durch die umsorgende Allokution seitens des Erwachsenen, es ist die immer schon vergangene Gegenwart des anderen Bewusstseins gegenüber der Gegenwart, dem sum desjenigen Bewusstseins, welches das andere Bewusstsein in die eigene Gegenwart ein-bildet. 217 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Sprache ist Zeitlichkeit in diesem radikalen Sinne, noch bevor sie dies in unzähligen anderen, obschon bedeutungsvollen Sinnen ist, die in diesem uneinbildbaren und uneinschließbaren Sinne nicht etwa ihren Grund, sondern ihren Abgrund finden. Die im interim einund ausgeschlossene Interlokution ist durch zwei absolut nicht miteinander symmetrisierbare und nicht miteinander synchronisierbare Asymmetrien gekennzeichnet, die das Eine und das Andere des Bewusstseins sind: die Asymmetrie der vollständigen E i n - b i l d u n g des Bewusstseins (Objektsgenitiv) des anderen Interlokutors und die Asymmetrie der vollständigen Uneinbildbarkeit, nämlich die Asymmetrie der Konstitution des eigenen Bewusstseins durch die Allokution seitens des Anderen. Zwischen diesen Asymmetrien bzw. Diachronien (in zeitlichem Sinne: die Vorgängigkeit meiner selbst gegenüber dem Anderen und die Vorgängigkeit des Anderen gegenüber meiner selbst) entfaltet und verfaltet sich die Bühne des Seins, in eine Mit-Gegenwart der beiden Bewusstseine, die in Wirklichkeit niemals synchronisiert bzw. synthetisiert ist, wenn nicht in der Vorstellung eines dritten Beobachters, dessen Vereinigungsvermögen jedoch selbst durch die Asymmetrie-Diachronie des Einen und des Anderen bedingt ist: des Einen und des Anderen im Sinne der Reziprozität des einen und des anderen Bewusstseins und im Sinne des Einen und des Anderen des Bewusstseins als Einem und als Anderem. Und so weiter. Oder auch: so sei es, wobei – in wechselseitiger Äqui-vokation – in jedem dieser beiden Ausdrücke zugleich der jeweils andere mitanklingt; v denn gerade das infinite Weiter der Vervielfältigung wird definiert durch einen Akt der Erkenntnis, der die Vereinigung der auswuchernden Vielfalt und die Rückkehr der Odyssee zur Heimat kennzeichnet (ob es sich dabei um das Sein oder das transzendentale Bewusstsein handelt, ist hier indifferent, auch wenn die Differenz zwischen diesen beiden Begriffen durch nichts weniger als durch ein Ja oder ein Nein zur ontologischen Differenz dargestellt 133 wird; was aber hier zählt, ist die Rückkehr, unabhängig davon, ob die Rückkehr zum Anderen oder zum Einen, zum Sein oder zum Bewusstsein führt).

v

Dieses wechselseitige »Mitanklingen« findet im italienischen Text auch klanglich Ausdruck, da die italienischen Ausdrücke für »so weiter« (così via) und für »so sei es« (così sia) fast identisch sind.

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Das odysseische Eine-Viele des »so sei es«-»und so weiter« ruft auf diese Weise das iliadische Eine-Viele des »im Anfang war«-»es war einmal« 13 zurück, denn ob die Rückkehr zur Heimat als Rückkehr zur Zukunft oder als Rückkehr zur Vergangenheit verstanden werden kann, ist im Grunde eine Frage, die nur gemäß der gewöhnlichen Zeitlichkeit entschieden werden kann. Jede weltliche Einheit und Vielheit von Seienden oder von Gegenständen (im neutralen Sinne verstanden, d. h. unabhängig davon, dass zwischen bloßen Gegenständen und mit Subjektivität begabten Gegenständen, d. h. den »Anderen« im humanistischen Sinne, unterschieden wird) wohnt dieser interlokutiv entfalteten-verfalteten Bühne inne. Zwischen dem einen und dem anderen Rückruf, zwischen der einen und der anderen grenzenlosen Grenze, die nur in der Entwurfserzählung – bzw. im Erzählentwurf – 14 einer Ilias-Odyssee sagbar ist, entfaltet-verfaltet sich die Bühne der Interlokution. In der interlokutiven Allokution, bei der man das eigene Gesicht dem infans, d. h. dem (noch) nicht sprechenden Kind zuwendet, in dem intentionalen Sich-zuwenden, das nicht etwa ein Objekt innerhalb des Bewusstseins, sondern ein Subjekt außerhalb des Bewusstseins konstituiert, gibt man dem Kind die Welt, d. h. bringt man es als Subjekt zur Welt. Wie wir noch detailliert betrachten werden, nehmen die Seienden bzw. die Gegenstände auf der interlokutiven Bühne des Seins in ihrer Vielfalt und jeweiligen Einheit immer mehr Kontur an, je mehr das Kind zu einem Subjekt wird und zu sprechen beginnt. Aber dieses Sich-Entfalten des Einen-Vielen der Welt geschieht immer schon innerhalb der Interlokution, und jede benennende Erkenntnis bzw. jedes erkennende Benennen (wobei wir auch schon die bloße Deixis als ein Benennen verstehen, wie wir bereits im ersten Kapitel angemerkt haben) geschieht sozusagen innerhalb von dem bzw. ist (im Sinne eines Transzendentalismus sui generis) bedingt durch das Sich-einander-zuwenden der Gesichter. Ein Transzendentalismus sui generis, weil er, wie wir nunmehr schon wiederholt betont haben, von einem Spiel der Asymmetrien beherrscht wird, das sich darin zusammenfassen lässt, dass die Interlokution ursprünglich Allokution ist. Wenn – wie wir noch ausführlich sehen werden – das Kind schließlich der Person antwortet, die sich ihm zuwendet, bzw. wenn es wiedererkennt (um es mit einem Vers Vergils zu sagen, der ein philosophisches und im antiphrastischen Sinne »protologisches« Motto sein könnte: risu incipit cognos219 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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cere matrem) w, dann ist dieses Wieder-erkennen x eins mit der Geburt der Erkenntnis. In diesem Augenblick entfaltet sich dem Kind die interlokutive Bühne des Seins und differenzieren sich ihm die vielfältigen Einheiten: das Kind unterscheidet zwischen dem anderen Subjekt, sich selbst und den Gegenständen. Die Gegenstände und die Referenz darauf »sind« nicht ohne das interlokutive Sich-einanderzuwenden der Gesichter, die deren Bühne entfalten. Wir betonen jedoch erneut, dass dies kein Subjektivismus ist, 134 weil die Welt und das Sein nicht aufgehoben werden, indem man am festen Punkt des cogito ansetzt, und das Subjekt nur insofern aktiv und konstituierend ist, als es passiv konstituiert ist, als es Subjekt des Deponens loquor ist, als es Subjekt der Sprache und der Sprache unterworfen ist, als es durch die interlokutive Allokution der interlokutiven Allokution unterworfen ist und dadurch, d. h. durch die Allokution des anderen ego, des ego, das diachronisch immer zuvor der Andere ist, zum Subjekt gemacht worden ist. y Dies ist kein Subjektivismus, weil die Immer-Vorgängigkeit des Anderen gegenüber dem apperzeptiven Einen des Bewusstseins, d. h. genauer gesagt die Vorgängigkeit des Anderen als Einen gegenüber dem Einem als Anderem, eine Diachronie und eine Asymmetrie bezeichnet, die nicht endgültig synchronisierbar bzw. symmetrisierbar sind, es sei denn in Gestalt eines »so sei es«-»so weiter« bzw. in Gestalt eines »im Anfang war«-»es war einmal«. Die so beschaffene Diachronie-Asymmetrie verbietet es, die Wechselseitigkeit des Sich-einander-zuwendens der w

Vergils Vers lautet eigentlich: Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem (»Fang an, kleiner Junge, deine Mutter an ihrem Lächeln zu erkennen«, vgl. Ecl. IV, 60). Olivetti gibt diesen Vers statt im Exhortativ (Incipe, »Fang an«) hier im Indikativ (incipit, »es fängt an«) wieder und interpretiert dabei den Ablativ risu anders als üblich. Er interpretiert den Vers nämlich nicht (bzw. nicht nur) im Sinne von »Es fängt an, die Mutter an ihrem Lächeln zu erkennen«, sondern (vor allem) im Sinne von »Mit einem Lächeln fängt es an, die Mutter zu erkennen«. Vgl. hierzu S. 174, wo explizit vom »wieder-erkennenden Lächeln des Kindes« die Rede ist. x Dieses »Wieder-Erkennen« (ri-conoscimento) ist ein »Erkennen« (riconoscimento), welches das vorangehende Erkennen des Kindes seitens der sich ihm zuwendenden Person erwidert und darauf »antwortet«. Es ist also gleichsam ein »Zurück-Erkennen«. Dementsprechend handelt es sich dabei nicht um das Wiedererkennen eines zuvor bereits Erkannten, sondern um ein erstmaliges Erkennen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen auf S. 148 ff. sowie die diesbezüglichen Erläuterungen im vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers. y Der hier angesprochene Zusammenhang wird im italienischen Text durch ein Wortspiel zum Ausdruck gebracht, das auf der Doppeldeutigkeit des Terminus soggetto (»Subjekt«, aber auch »unterworfen«) beruht.

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Gesichter in einem gewöhnlichen Sinne von Intersubjektivität zu denken, sie also so zu denken, als ob die Subjekte schlicht und einfach sein würden – vereinigt im Sein oder aber vereinigt in einer Synthesis des Geistes und der Kommunikation –, als ob die Gemeinsamkeit und Gemeinschaft stiftende »Synthesis« der Kommunikation nicht auch die »Analysis« der Disjunktion zwischen dem Einen und dem Anderen wäre. Daher impliziert jede Transzendentalität, sei es die des Seins oder sei es die des Geistes oder der Kommunikation, nicht nur eine Tr a n s f o r m a t i o n d e r P h i l o s o p h i e (dem Titel Apels zufolge), sondern auch eine Transformation des Transzendentalismus in dem Sinne, dass jede U n h i n t e r g e h b a r k e i t (z. B. die des Seins bei Heidegger ebenso wie die der kommunikativen Sprache bei Apel), jedes unausweichliche »so ist es«, bei dem man schließlich stehen bleibt, immer auch der Entscheid des Imperativs »so sei es« ist, der dem Weiterverweisen des »so weiter« ausweicht und aufgrund dieses unausweichlichen Ausweichens besteht, aufgrund des Weiterverweisens entscheidet. Es wäre ungerecht, diesen imperativen Charakter des Entscheids in subjektivistischem Sinne zu denken, etwa als eine Art Willkür oder als eine Art Freiheit-Notwendigkeit eines sich verabsolutierenden Geistes. Aber es wäre auch ungerecht, diesen Imperativ als einen Imperativ des Seins zu denken, als ob der imperative Charakter des Seins, der das Denken der Unausweichlichkeit der Feststellung und des Indikativs unterwirft, nicht ihrerseits die Indikation seitens des Anderen und die buchstäblich evozierende Allokution voraussetzte (d. h. die Allokution, die dem infans – dem noch nicht sprechenden Kind – Stimme und Subjektivität gibt und es zu einem Sprechenden macht), als ob das Sein nicht Intervall und interim wäre. Ist aber die Verwendung des Worts »ungerecht«, welches eine Gerechtigkeit voraussetzt, der man ausgewichen ist oder gegen die man verstoßen hat, hier »bloß« metaphorisch? Auf diese Frage könnte man gewiss auf reflexive Weise antworten und bemerken, dass Sprache als Interlokution immer metaphorisch ist, insofern sie das metaphérein des Einen in das Andere ist. Doch diese reflexive Antwort würde abermals die Rückkehr privilegieren (wie wir im Folgenden noch in Bezug auf die reflexive Metaphorik Heideggers auszu- 135 führen haben werden) und sie wäre ihrerseits in eben dem Moment ungerecht, in dem sie erkennt, dass jede eigentliche Verwendung von Sprache uneigentlich ist; sie würde beanspruchen, die aneignende Be221 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

wegung der Erkenntnis durch ein Verkennen abzuschließen, nämlich dadurch, dass sie den Exodus verkennt, das enteignende Moment der Sprache. In altmodischen Worten gesagt: es gibt keine Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit (caritas). Nur die Barmherzigkeit ist gerecht. Auf welche Weise aber soll die Barmherzigkeit etwas mit dem Sein zu tun haben, wie die Kopula »ist« in dem Satz »Nur die Barmherzigkeit ist gerecht« anklingen lässt? Ein Anklang, der alles andere als unschuldig ist und nicht verschwiegen, sondern vielmehr verstärkt wird, wenn der Satz durch die Formel Sp (Subjekt-Prädikat) einer formalisierten Sprache ersetzt wird, bei der die Beseitigung der Kopula die Seinsdichte und Substanzialität des Substantivs, von dem etwas ausgesagt bzw. prädiziert wird, vielmehr erhöht. Ein alles andere als unschuldiger Anklang, ein Anklang, der die Gegenwart des Seins in der Sprache anzeigt und der, indem er Gerechtigkeit predigt, gegen sie verstößt, weil er die Zusammengehörigkeit von Barmherzigkeit und Sein voraussetzt: ein neutrales Sein, das jede G a b e im »e s g i b t « auflöst und das selbst die Barmherzigkeit im Sein auflöst. 15 Aber das Sein entfaltet sich nur in der Hingabe z des Barmherzigen, das Sein entfaltet sich nur dadurch, dass dem Subjekt der Liebe (amor), d. h. demjenigen, der der Liebe unterworfen und dadurch Subjekt der Liebe ist, aa das Sein gegeben wird. ab Die Reflexivität, die der Hingabe des Barmherzigen innewohnt ac (eine Reflexivität, die nur in der und durch diese Hingabe gegeben ist), ist alles, was der Barmherzige mit dem Sein zu tun hat; ein Zutun-haben, zu dem es zum ersten Mal in der Gabe kommt, in dem z

Der Begriff der »Hingabe« interpretiert hier die Rede von einem »Sich-enteignen« (espropriarsi), die terminologisch an die zuvor genannte Opposition von »aneigend« vs. »enteignend« etc. anknüpft und dabei eine Implikation des Begriffs der »Hingabe« expliziert, die in den geläufigen italienischen Übersetzungen dieses Begriffs verborgen bliebe. aa Ähnlich wie oben mit Bezug auf die Sprache (vgl. S. 134) versucht die Übersetzung hier mit Bezug auf die Liebe ein Wortspiel wiederzugeben, das auf der Mehrdeutigkeit des Terminus soggetto (»Subjekt«, aber auch »unterworfen«) beruht. ab Implizit ist hier gemeint, dass der »Barmherzige« sich durch seine Hingabe zum »Subjekt der Liebe« macht. Vgl. hierzu im folgenden Absatz die Rede von der »Hingabe, die den Barmherzigen kenotisch ontifiziert«. ac Die hier angesprochene Reflexivität kommt in dem hier mit »Hingabe« übersetzten substantivierten Verb espropriarsi, das wörtlich ein »Sich-enteignen« bezeichnet, expliziter zum Ausdruck, ist aber auch in der »Hingabe des Barmherzigen« impliziert, insofern sie einem »Sich-hingeben« gleichkommt.

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Transzendentale Vereinigung und Alterität

Lassen, welches (das Sein) sein lässt, als etwas, was nicht zu eigen ist, sondern was Eigentum des durch dieses Gabe Gegebenen und Empfängers dieser Gabe ist. Ein Zu-tun-haben, das zwar Gemeinsamkeit stiftet, aber nur in der Ferne eines unendlichen Intervalls und eines unendlichen interim. Ein »schlechtes Unendliches«, weil die Hingabe, die den Barmherzigen kenotisch ontifiziert und ihn durch die Erniedrigung des Verlusts von Eigentum und Wü r d e dazu bringt, mit dem Sein zu tun zu haben, die extreme Form der reflexiven Rückkehr ist, die sich vollzieht, indem sie sich unendlich vollzieht: sie ist ein Sichungerecht-machen, indem sie den Anderen gerecht macht, ihn rechtfertigt; sie ist ein Sich-unendlich-schuldig-machen: ein schlechtes Unendliches, das »sich zur Sünde macht«, indem es alle Sünden der »Welt« auf sich nimmt; sie ist ein Sich-unendlich-verantwortlichmachen, indem sie unendlich auf die Frage antwortet, die der Barmherzige konstituiert, indem er unendlich antwortet.

Anmerkungen Der intelligente Band von D. Sinn, Die Kritik am Identitätsprinzip. Von Heidegger zu Hegel, Bonn 1988, ist – unglaublicherweise – einer der wenigen Versuche, dieses Problem zu vertiefen. Der Autor vertritt die These, dass Heideggers Geviert Hegels Forderung der Einheit neu zur Geltung bringt und zugleich überwindet. 2 Vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 441. Einige schöne Beiträge über das Problem der Einheit im deutschen Idealismus finden sich auch in K. Gloy und D. Schmidig (Hrsg.), Einheitskonzepte in der idealistischen und in der gegenwärtigen Philosophie, Bern 1987. 3 Zu diesen Themen der Kunst- und Religionsphilosophie von Schelling in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts sei es uns gestattet, auf zwei unserer Schriften zu verweisen: Filosofia della Religione come problema storico. Romanticismo e idealismo romantico, Padova 1974, sowie (mit Bezug auf gegenwärtige Probleme und in synthetischerer Darstellungsweise) Arte come azione. Filosofia dell’arte e filosofia della religione nello Schelling romantico, in Studi in onore di G. C. Argan, hrsg. v. S. Macchioni und B. Tavassi La Greca, Roma 1984, Bd. 2, S. 329–336. 4 Später veröffentlicht in E. Levinas, Humanisme de l’autre homme, Montpellier 1972. 5 Enneaden, V,5,5. 6 E. Levinas, De l’Un à l’Autre. Transcendence et Temps, in Archivio di Filosofia, 51 (1983), S. 23. 7 In diesem Sinne wären wir einverstanden mit den Bemerkungen von M. Ferraris (La filosofia e lo spirito vivente, Roma – Bari 1991, S. 217–219) über den berühmten Passus in Heideggers Was heißt denken?, in dem die menschliche Hand von den Greiforganen anderer Tiere unterschieden wird. Zur »Hand« bei Heidegger vgl. den 1

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sehr schönen Aufsatz von J.-F. Courtine, Donner/prendre: la main, der jetzt in Heidegger et la phénoménologie, Paris 1990, S. 283–303, veröffentlicht ist (Der Band enthält auch noch einen anderen Aufsatz, der für die Problematik relevant ist, mit der wir uns in dem vorliegenden Buch insgesamt auseinandersetzen: L’être et l’autre. Analogie et intersubjectivité chez Husserl, S. 355–380). 8 Wir könnten auch sagen: ein protologischer Charakter, der paradoxerweise von der Vorgängigkeit abgeleitet ist, im Gegensatz zu einem vorgängigen Charakter (próteron), der von einem protologischen Charakter (prôton) abgeleitet ist, wie etwa in dem übrigens problematischen und mehrdeutigen Fall der aristotelischen »ersten Philosophie« (vgl. P. Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, Paris 19833, S. 44 ff.). 9 Ein unlängst erschienenes Buch von T. S. Champlin, Reflexive Paradoxes, London 1988, untersucht eine große Zahl reflexiver Paradoxe (Selbstwiderspruch, Selbsterzeugung des Lebens, Selbstreferenz, Selbstmord etc.) und verfolgt dabei eher die Absicht, sie mittels Sprachanalyse aufzulösen, als sie mittels logischer Analyse einer Lösung zuzuführen (dies ist im Übrigen eine geläufige und nicht selten vorschnelle Haltung in der analytischen Philosophie nach Russell). 10 Die Verbindung zwischen »spekulativem Satz« und »absoluter Reflexion« wird im Aufsatz von W. Marx, Absolute Reflexion und Sprache, Frankfurt a. M. 1967, expliziert; vgl. auch G. Wohlfahrt, Hegels spekulativer Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel, Berlin – New York 1981. 11 Vgl. D. Reiter (Pseudonym von E. Castelli), Introduzione alla vita delle parole. Frammenti di un diario, Milano 1938. 12 Zum Verhältnis zwischen Varisco und Carabellese vgl. G. Semerari, Varisco e Carabellese, in Bernardino Varisco e la cultura filosofica italiana tra positivismo e idealismo, hrsg. von M. Ferrari, Chiari 1985, S. 253–278; zur Religionsphilosophie von Carabellese vgl. auch G. Semerari, La sabbia e la roccia. L’ontologia critica di Pantaleo Carabellese, Bari 1982. Zum Verhältnis zwischen Castelli und Varisco sowie zum Problem der Kritik beider am Solipsismus sei es uns gestattet, auf unseren Beitrag Varisco e il teismo in Bernardino Varisco e la cultura etc., ed. cit., S. 279–296, sowie auf das von uns verfasste Kapitel über »Enrico Castelli« in Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. E. Coreth und anderen, Bd. 3, Graz – Wien – Köln 1990, S. 564–576, zu verweisen, das dann auch auf Italienisch in Archivio di Filosofia, 58 (1990), S. 765–778, erschienen ist. 13 Bemerkenswert sind Jakobsons Beobachtungen über die analogische Referenz von Botschaften, bei denen die poetische Funktion dominant ist, wodurch auch der Sender und der Adressat der Botschaft der Verdoppelung unterliegen: »[Dies ist] überzeugend im Vorspann von Märchen verschiedener Völker ausgedrückt […], zum Beispiel im üblichen exordium der Geschichtenerzähler auf Mallorca: ›Això era y no era‹ (›Es war und es war nicht‹). Die Wiederholbarkeit, die aus der Übertragung des Äquivalenzprinzips auf die Sequenz resultiert, macht nicht nur die konstitutiven Sequenzen der poetischen Botschaften, sondern auch die Botschaft als ganzes wiederholbar. Diese Eignung zur unmittelbaren oder aufgeschobenen Wiederholung, diese Verdinglichung der poetischen Botschaft und ihrer Bestandteile, diese Umwandlung der Botschaft in ein dauerhaftes Ding, all dies ist in der Tat eine inhärente und wirkungsvolle Eigenschaft der Dichtung« (R. O. Jakobson, Linguistica e poetica [Linguistics and poetics], in Saggi di linguistica generale, ital. Übers., Milano 1966, S. 181–218). Man siehe außerdem die Passagen, die diesen Beobachtungen in einem sehr schönen Buch gewidmet sind, das auch aus anderen Gründen mit Blick auf die von uns vertretenen

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Transzendentale Vereinigung und Alterität Thesen von Interesse ist: P. Montani, Il debito del linguaggio, Il problema dell’autoriflessività nel segno, nel testo e nel discorso, Venezia 1985, S. 101 ff. Unvermeidlich ist es außerdem noch, auf gewisse Anklänge zwischen dem hinzuweisen, was wir in dem auf diese Anmerkung verweisenden Text gesagt haben, und dem, was Heidegger in den Beiträgen am Schluss des Teils über den »Letzten Gott« sagt: »Das Ende ist das unaufhörliche Und-so-weiter, dem sich das Letzte als das Anfänglichste von Anfang an und längst entzogen hat. Das Ende sieht sich selbst niemals, sondern hält sich für die Vollendung und wird deshalb am wenigsten bereit und bereitet sein, das Letzte weder zu erwarten noch zu erfahren.« (GA, III, 65, S. 416). Zu dem, was uns jenseits dieser Anklänge an Heidegger annähert und was uns von ihm entfernt (Heideggers Beiträge sind veröffentlicht worden, als das vorliegendes Buch bereits in weiten Teilen geschrieben war), siehe man jedoch das, was wir im Folgenden auf den abschließenden Seiten dieses Buchs sagen werden. 14 Diesbezüglich kann es bereichernd sein, über das letzte Kapitel von P. Ricoeur, Temps et récit III. Le temps raconté, Paris 1985, S. 300–346, nachzudenken. 15 Diesbezüglich scheint es uns, dass wir mit den neueren Ergebnissen des Denkens von J. L. Marion (vgl. Prolégomènes à la charité, Paris 1986) besonders in Einklang stehen, trotz der unterschiedlichen Wege, auf denen diese Ergebnisse erreicht werden, und trotz der Tatsache, dass wir den staurologischen Aspekt stärker akzentuieren. Was die vorangegangenen Werke Marions betrifft, sei es uns gestattet, auf unsere Schrift Über J. L. Marions Beitrag zur neueren Religionsphilosophie, in Archivio di Filosofia, 54 (1986), S. 761–778, zu verweisen, in der wir die Bedeutung von Kommunikation und Interlokution geltend machen. Eine Zuspitzung des pluralistischen und antisolipsistischen Anliegens Marions in Zusammenhang mit seiner kritischen Rezeption Heideggers findet sich in der späteren Schrift L’interloqué, in Topoi, 7 (1988), S. 175–180, sowie zuletzt in Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris 1989 (insbesondere am Schluss, S. 294 ff.).

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Siebtes Kapitel a Erzählung und Kindheit b

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Schon bei den Vertreter dessen, was Hegel im Untertitel seines Aufsatzes Glaube und Wissen »die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen« genannt hatte, d. h. schon bei Kant, Jacobi und Fichte, war sehr ausdrücklich die Forderung laut geworden, der Ethik anstelle der Ontologie einen protologischen Rang beizumessen: was Kant und Fichte betrifft, so ist das ethische Neuverständnis der Protologie von Anfang an klar und explizit zutage getreten, zumal es für Fichte sogar das Verständnis seiner selbst und seiner eigenen philosophischen Aufgabe mit Blick auf das darstellt, was er für die epochale Bedeutung des kantschen Kritizismus hält (wenn überhaupt, so wäre anzumerken, dass die epochalen Probleme, die Fichtes Versuch offen gelassen hat, Kants Philosophie im Sinne einer protologischen Ethik zu vollenden, gerade durch Hegels Sicht der Philosophiegeschichte weitgehend in Vergessenheit geraten bzw. – im psychologischen Sinne – einer »Zensur« unterzogen worden sind); um dagegen Jacobi als einen Denker zu verstehen, bei dem sich die Philosophie als solche als Moralphilosophie konfiguriert, war eine vollständige philologische Rekonstruktion seines denkerischen

a

Der erste Teil dieses Kapitels entspricht im Wesentlichen dem Text des 1986 auf Deutsch erschienenen Aufsatzes Ethik und Sprache (MMO-108). Der zweite Teil des Kapitels basiert dagegen auf dem Text eines Vortrags aus dem Jahr 1986, der 1987 sowohl auf Italienisch unter dem Titel L’etica tra tecnica e mito (MMO-111) als auch auf Deutsch unter dem Titel Die Ethik zwischen Technik und Mythos (MMO-112) erschienen ist. Die entsprechenden Textabschnitte sind durch Fußnoten gekennzeichnet. b Der hier mit dem Wort »Kindheit« übersetzte italienische Terminus infanzia geht etymologisch auf lat. infans zurück, was wörtlich eigentlich »nichtsprechend« bedeutet. Dieser Zusammenhang wird in diesem Kapitel auch mehrfach explizit gemacht (vgl. S. 142, 145, 147 und 151). Dementsprechend ist »Kindheit« hier auch im Sinne des Zustands des »Noch-nicht-sprechen-könnens« zu verstehen. c Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 146 entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem Text des Aufsatzes MMO-108.

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Erzählung und Kindheit

Werdegangs nötig, eine Rekonstruktion, die erst in jüngerer Zeit geleistet worden ist, als neue historisch-kritische Methoden bereitstanden und das kulturelle Klima endlich reif dafür war. 1 Aber obgleich diese Forderung nach einer protologischen Transformation der Ethik von den »Reflexionsphilosophen der Subjektivität« klar und artikuliert vorgebracht worden ist, konnte sie doch nicht angemessen zufriedengestellt werden, solange man in den Grenzen des egologischen und substanzialistischen Subjektivismus (Subjekt = S e l b s t s t ä n d i g k e i t als wahrer Name der Freiheit) verblieb. Die wirkliche Radikalisierung der reflexiven Bewegung, in der die Subjektivität besteht, vollzieht sich nicht dann, wenn sich die Selbstreferenz – in noch immer substanzialistischer Weise – in sich selbst abschließt, sondern dann, wenn sich die reflexive Bewegung, indem sie zu sich selbst zurückkehrt und dadurch, dass sie zu sich selbst zurückkehrt, dem Außen und dem Anderen öffnet. Wie wir bereits gesehen haben und jetzt noch eingehender betrachten werden, kann diese Radikalisierung als Übergang vom cogito zum loquor charakterisiert werden. In beiden Fällen gilt die Folgerung ergo sum, aber während sich das cogito in sich selbst abschließt und sich aufgrund der (womöglich auf die praktische Ebene verscho- 140 benen und Freiheit genannten) Selbstreferenz als Selbst substanziiert, öffnet sich das loquor, indem es sich auf das ego bezieht, dem Interlokutor. Das Verb loquor ist – wie wir unter abermaliger Anwendung einer selbstverständlich »ironisch« gemeinten spekulativen Grammatik angemerkt hatten – ein Deponens: wie das Verb morior 2, aber auch wie das Verb nascor, so fügen wir jetzt hinzu, nach dem, was wir über die empirisch nicht erfahrbaren Grenzen der Erfahrung und über die ethisch-kenotischen Aspekte des Zur-Welt-bringens gesagt haben. Der Tonfall, mit dem wir das vorangegangene Kapitel abgeschlossen haben, konnte mehr noch als der Tonfall anderer Passagen den Eindruck erwecken, als habe er erbaulichen Charakter, ja als habe er den Charakter einer Erbaulichkeit, bei der Naturethik und historische Religion miteinander vermischt werden. Um diesen eventuell entstandenen Eindruck werden wir uns nicht kümmern, denn was uns hier interessiert, ist die »philosophische Gültigkeit« unseres Diskurses; nach all dem, was wir anfangs über die Unreinheit der Methode gesagt hatten, und nach all dem, was wir anschließend über die Argumentation und über die Gemeinschaft gesagt haben, die sie teilen sollte, können wir gewiss nicht der Illusion verfallen, die Bedeutung 227 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

eines Ausdrucks wie dem der »philosophischen Validität« anders als in einer Art phrónesis identifizieren zu können. Ohne die Bedeutung dieses (wie übrigens auch jedes anderen) Ausdrucks unendlich erläutern zu wollen, wird es doch opportun sein, jetzt zu Motiven zurückzukehren, die (in äquivoker Weise) zugleich empirischerer und kritischerer Art sind (kritischer im Sinne von »transzendentaler«, in dem Maße und in der Weise, in denen es möglich ist, einen solchen Sinn zu denken), und mehr auf den sprachlichen Aspekt der bewusstseinsbezogenen Ausführungen des vorangegangenen Kapitels einzugehen. In der Interlokution gibt es eine Symmetrie der Rollen: jedes »ich« steht in einem reziproken Verhältnis zu einem »du«. Aber diese Symmetrie setzt voraus, dass sich die Subjektivität der Interlokutoren bereits konstituiert hat. Ursprünglich (im empirischen und gewöhnlichen Sinne dieses Wortes; gewiss kann und muss unser Diskurs, wie wir noch sehen werden, auf eine transzendentale Ebene übertragen werden, wenngleich der »Ursprung« die Krise jedes kritizistischen Ansatzes darstellt), ursprünglich erfolgt die Konstitution des Subjekts (Objektsgenitiv) mittels der (asymmetrischen) Allokution seitens eines anderen, bereits konstituierten Subjekts: indem es das Kind als ein »Du« anspricht, ermöglicht das »Ich«, das »ursprünglich« der Andere ist, die Entwicklung der Subjektivität der »Person«, an die sich das (alter) ego wendet. Nur dadurch, dass es zum Objekt der Allokution gemacht worden ist, wird das Subjekt, d. h. das Denken als Selbstreferenz, als Ich, als cogito, möglich; aus der ursprünglichen Allokution, die das Du als eine zur Antwort fähige Person betrachtet, entwickelt sich die Fähigkeit zur selbstvergegenständlichenden Reflexion. Wenn das Ich nicht als potenzielles Subjekt zum Objekt der Allokution gemacht würde, könnte sich das Subjekt niemals selbst zum Gegenstand machen, d. h. es könnte niemals als Subjekt existieren. Man kann gewiss anmerken, dass eine notwendige Bedingung als solche noch nicht hinreichend ist, sondern eine bloße Bedingung der Möglichkeit sein kann; hier jedoch gelangt der empirische Diskurs 141 abermals an jene transzendentale Grenze, deren Krisis der Gedanke des »Ursprungs« und der »Allokution« darstellt. Es ist eine »Tatsache«, dass sich das Ich nur insofern als Ich, als reflexive Identität, als Denken, als – um kantische Worte zu gebrauchen – »Selbstbewusstsein, das immer das Bewusstsein des Gegenstands begleitet«, d. h. als »transzendentale Apperzeption« setzt, als es als Du gesetzt ist (Jacobis Motto »k e i n I c h o h n e D u « kann also in sprachlicher und nicht rein erkenntnisbezogener Weise interpretiert werden, d. h. in einer 228 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erzählung und Kindheit

Weise, in der sich das »Du« als eine Charakteristik des Ich selbst erweist: »d e r M e n s c h w i r d a n g e r e d e t «) 3. Als »Du« angeredet zu werden, bedeutet, als Anredender angeredet zu werden, als potentieller Umkehrer der Interlokutionsrollen, als potenzieller »Ich«Sager, der sich an den wendet, der ihn mit »du« angeredet hat, und diesen ersten »Ich«-Sager dabei seinerseits mit »du« anredet. Wird die semantische Analyse mit einer pragmatischen Analyse ergänzt, so gibt es keinen Grund, den referenziellen (selbstreferenziellen) Charakter des Pronomens »ich« zu leugnen, wie dies in einer Strömung der analytischen Philosophie geschieht, die Wert darauf legt, eine orthodox wittgensteinsche Sicht zu vertreten (Anscombe, Kenny etc.) 4. Auf diese Weise fällt man nämlich nicht zurück in jenen substanzialistischen Subjektivismus bzw. in jene mentalistisch-spiritualistische Verdoppelung, gegen welche die ursprünglichen, antireflexiven Programme der analytischen Philosophie gerichtet waren; wie wir soeben gesehen haben, zeigt vielmehr gerade die pragmatische Analyse der Interlokution die Unmöglichkeit, die Reflexion in sich selbst abschließen zu lassen, und sie stimmt darin mit den Ergebnissen anderer Arten von Analyse überein, an die wir in den vorangegangenen Kapiteln erinnert haben. Heutzutage erleben wir dagegen gerade in wichtigen Bereichen der analytischen Philosophie (Searle, Grice etc.) die Rückkehr dessen, was wir als einen »naiven Intentionalismus« bezeichnen würden, der paläosubjektivistisch ist, ohne es zu wissen. Dieser antiprogrammatischen Entwicklung, diesem Übergang von der Sprache zur Intention, entspricht eine gleichfalls antiprogrammatische, jedoch gegenteilige Entwicklung – von der Intention zur Sprache – auf Seiten der Phänomenologie (Heidegger, Merleau-Ponty, Ricoeur, Levinas etc.) 5. Die paradoxe Reziprozität dieser Entwicklungen, die jeweils im Gegensatz zu den anfänglichen Programmen der Sprachphilosophie und der reflexiven Philosophie stehen, ist bedeutsam. Es gilt, einen »radikaleren« Ansatz zu finden, einen Ansatz, der wenn möglich zur gemeinsamen Wurzel dieser beiden philosophischen Richtungen zurückgeht und diese paradoxe Situation zu erklären vermag. Die pragmatische Analyse, insbesondere diejenige, die den ursprünglich interlokutiven Gebrauch der Personalpronomen betont, kann sehr wichtig dafür sein, um sich dieser radikaleren Perspektive anzunähern, d. h. um den protologischen Charakter der Ontologie und den begründenden Charakter der Referenz (bzw. den selbstreferenziellen Charakter des Grundes) aufzugeben und statt229 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

dessen zur Ethik als erster oder vielmehr vorgängiger Philosophie zu gelangen. Wir haben eingehend dargestellt, dass der Zusammenhang zwi142 schen Interlokution und Ethik vom gegenwärtigen Denken zwar erkannt worden ist, dass die kommunikative Ethik aber den substanzialistischen Subjektivismus und mithin auch die als erste Philosophie verstandene Ontologie nicht wirklich überwindet, und dass sich dies darin manifestiert, dass das symmetrische Verhältnis zwischen den Subjekten in der Interlokution gleichzeitig als konstitutive Regel und als regulatives Ideal vorausgesetzt wird. Ebenso wie die gesamte von Grice inspirierte analytische Philosophie der Kommunikation ist der von der Kommunikationsethik ausgearbeitete Gedanke der Symmetrie das Anzeichen dafür, dass das Verständnis der Kommunikationssubjekte einen substanzialistischen Rest aufweist. 6 Man darf gewiss nicht die Bedeutung der Symmetrie und den (im »eigentlichen« und mithin unzureichenden Sinne dieser Begriffe) transzendentalen oder ursprünglichen Charakter verkennen, welcher der Interlokution zukommt. Die Tatsache, dass man das Wort an jemanden richtet, beruht ja nicht einfach auf einer willkürlichen Entscheidung des bereits konstituierten Subjekts, als ob es ihm ganz nach eigenem Wohlgefallen freistünde, in der noch nicht subjektivierten physischen Person einen Gesprächspartner zu erkennen oder auch nicht, als ob es ihm ganz nach eigenen Belieben freistünde, diese Person anzusprechen oder auch nicht, als ob nur dem Ansprechenden selbst darüber zu entscheiden obläge, ob das infans, d. h. das Kind bzw. (im etymologischen Sinne des Wortes) das Nichtsprechende, das ihm gegenübersteht, als Subjekt konstituiert werden müsse oder nicht, oder ob der »Barbar« (wiederum im etymologischen Sinne, an den wir im zweiten Kapitel d erinnert haben) als Subjekt erkannt werden müsse oder nicht (auf die paradoxe Koinzidenz zwischen Subjektkonstitution und Erkennen werden wir im Folgenden noch eingehen müssen; was wir über die analogischen »Ursprünge« der Logik bzw. über die analogia subjecti gesagt haben, dürfte jedoch bereits darauf hingedeutet haben). Es gibt nämlich mindestens zwei Typen empirischer Vorgaben, welche den ursprünglichen Akt der Allokution nicht nur der Willkür entziehen, sondern ihn sogar zwingend machen: d

Eigentlich nicht im zweiten Kapitel, sondern im dritten bzw. im fünften Kapitel auf S. 65 bzw. 113. Vgl. hierzu die Erläuterungen im zweiten Abschnitts des Vorworts des Übersetzers.

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Erzählung und Kindheit

physische Vorgaben und kulturelle Vorgaben, und diese beiden Vorgaben stehen derart miteinander in Wechselwirkung, dass es unmöglich wird, sie präzise voneinander abzugrenzen, obgleich sie jeweils an den beiden extremen Polen unmissverständlich identifiziert werden zu können scheinen. Wenngleich aber diese (oder zumindest diese) Vorgaben die Allokution nicht im Nichts schweben lassen, wenngleich sie die Erwartung einer Antwort »begründen«, wenngleich sie der Allokution einen interlokutiven und mithin symmetrischen Charakter verleihen, so bleibt die Allokution doch, kraft einer uneigentlichen und mithin vorgängigen Transzendentalität und Ursprünglichkeit, Allokution, d. h. sie bleibt asymmetrisch, sie bleibt sozusagen »frei«. Obwohl die vor mir stehende (physische) Person mit all jenen physischen und kulturellen Vermögen ausgestattet ist, welche notwendige Voraussetzung für die Subjektivierung sind, ist es doch möglich, sie nicht als Person (in einem noch zu bestimmenden moralischen Sinne) zu behandeln. Umgekehrt ist es möglich, ein Seiendes, das keine phy- 143 sische Person ist, d. h. ein Seiendes, das nicht mit den zur Subjektivierung notwendigen physischen und kulturellen Vermögen ausgestattet ist, als Person (im moralischen Sinne) zu behandeln: z. B. ein schwer fehlgebildetes menschliches Individuum, ein Tier, ein Kunstwerk (bekanntlich diskutiert man heutzutage in den Ländern des angelsächsischen Kulturkreises über die Rechte von Kunstwerken und über deren quasi-personalen Charakter), einen Fetisch, die Natur (ökologische Ethik und »Ökoethik«) 7. Die beiden Extreme des Subjekts ohne Person (der Sklave) und der Person ohne Subjekt (z. B. das Kunstwerk) entfalten sich auf der Bühne einer Welt, welche sich für das Ich in der »ursprünglichen« interlokutiven Allokution seitens des anderen Ichs konstituiert, in der Allokution, durch welche das Ich selbst als Ich konstituiert wird und nicht mehr als Anderes. Diese beiden Extreme sind daher Ausdehnungen, oder vielleicht wäre es besser zu sagen: Spannungen, Vektoren, die von einem einzigen Punkt ausgehen und diametral gegensätzliche Richtungen einschlagen: eine Richtung, die wir ganz einfach als eine moralische Richtung bezeichnen können, die immer moralischer wird, und eine Richtung, die wir ebenso einfach als eine unmoralische Richtung bezeichnen können, die immer unmoralischer wird. Aber der »Ursprungspunkt«, von dem sie ausgehen, bzw. der »Horizont«, in den sie sich einfügen, lässt sich nicht solipsistisch verstehen: es handelt sich dabei um eine absolute und abgelöste 231 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

Beziehung, um die »ursprüngliche« allokutiv-interlokutive Beziehung. Daher kann die unmoralische Einstellung wie folgt beschrieben werden: eine unmoralische Einstellung ist eine Einstellung, die sich in der allokutiv-interlokutiven Beziehung auf das richtet bzw. darauf stürzt, was innerhalb der Welt ist, d. h. auf das Sein: auf das Sein, das e s in der Welt insofern g i b t , als es dem Subjekt in jener »ursprünglichen« interlokutiven Allokution gegeben ist, mittels derer dem Subjekt auch seine eigene Subjektivität gegeben ist, mittels derer das Subjekt selbst im Sein konstituiert ist, mittels derer das Subjekt selbst auf die Welt gebracht worden ist. Im Falle der unmoralischen Einstellung ist die »Person«, die mir »gegenüber« steht, die mir ihre Miene zeigt, die mir ihr Gesicht zuwendet, die mich mit ihrem Blick anschaut und anvisiert, einfach im etymologischen Sinne die Maske, die »äußere« »Erscheinung«, der objektive Aspekt eines Subjekts. Sie ist zwar eine Erscheinung, die es mir erlaubt, das »Innere« des Anderen mittels der Prozesse der Analogie, Projektion und Identifikation zu imaginieren; aber diese Imagination, welche in der Erwartung die Initiative oder die Reaktion des Anderen antizipiert, liefert nichts weiter als das Kriterium dafür, wie ich mich verhalten muss, damit der objektive Aspekt des Subjekts, das mir gegenübersteht, sich so verhält, wie ich möchte, dass sich dieses besondere Objekt verhält, um meiner Subjektivität zum Vorteil zu gereichen. Auch die von Parsons hervorgehobene »doppelte Kontingenz« (der Andere antizipiert in seinem Verhalten mir gegenüber meine Antizipation seines Verhaltens; dieses Modell ist bemerkens144 werterweise dem Interlokutionsmodell von Grice sehr ähnlich) 8 ändert nichts an dem strategischen Charakter der beschriebenen Situation; sie unterstreicht vielmehr die Richtigkeit unserer Darstellung, indem sie ein ausgefeilteres Modell dieser Situation liefert. Ein strategisches Verhalten gegenüber dem Anderen ist mithin ein Verhalten, das darauf abzielt, die Einstellung und das Verhalten des Anderen so zu beeinflussen, dass sie meiner Subjektivität zum Vorteil gereichen. Dieser Gedanke des »Vorteils« kann durch Spinozas Begriff des conatus in suo esse perseverandi veranschaulicht werden, d. h. durch den Begriff des Strebens danach, im eigenen Sein zu verharren, im Sein als dem Eigenen, als dem, was allein und per Definition zu eigen und im eigentlichen Sinne geeignet sein kann. In diesem Fall hat die Allokution keinen im tieferen Sinne interlokutiven Charakter; die Asymmetrie, die sie als Allokution, als kommuni232 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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kative Äußerung meiner Intentionalität und meiner reflexiven Subjektivität kennzeichnet, zielt darauf ab, die Subjektivität zu erhalten und zu stärken, und zwar in jener Bewegung der reflexiven, ontologischen Inklusion, die sich »substanziell« (im Sinne der Substanz causa sui) bzw. »wesentlich« (im verbalen Sinne von We s e n , d. h. im Sinnes des Wesens als Seinsakt – und sei es auch des Menschen –, als Verwirklichung des Seins in der Existenz gemäß dem, was man als »ontologischen Beweis« bezeichnet hat) 9 das Sein einverleibt: die gesamte Bühne der Welt, auf der die Seienden ans Licht treten, die gesamte Bühne der Welt, die mir zusammen mit meinem eigenem Ich in jener »ursprünglichen« Allokution seitens des Anderen gegeben worden ist, welche mich ans Licht und zur Welt gebracht hat. Das Äußere der Person, an die ich mich wende, ist also ein Äußeres innerhalb der Welt, und das subjektive Innere, das diese Maske oder Miene mir zeigt, ist selbst innerhalb der Welt, es verweist nicht auf ein radikales Äußeres jenseits des Seins, hinter der Bühne. Die moralische Einstellung kann dagegen als eine Einstellung beschrieben werden, die sich in der ursprünglichen, allokutiv-interlokutiven Beziehung auf das richtet, was sich außerhalb der Welt und des Seins als der Bühne der Welt befindet. Was aber bedeutet es, sich auf dasjenige zuzubewegen, was sich außerhalb des Seins befindet? Wie ist es möglich, sich auf dasjenige zuzubewegen, was außerhalb des Seins ist, wenn jede unserer Handlungen innerhalb der Welt erfolgt, wenn wir nur insofern handeln, als wir sind, d. h. wenn jede Aktivität aus der Passivität hervorgeht, zur Welt gebracht worden zu sein, und wenn schließlich selbst die interlokutive Allokution, die das konstituierte Ich an die noch nicht subjektivierte Person richtet, das Subjekt dieser Person zu sein veranlasst? In der Tat kann die Beschreibung der moralischen Einstellung an diesem Punkt unserer Ausführungen noch nicht klar sein. Es war leichter, die Beschreibung der unmoralischen Einstellung zu verstehen, weil sie sich auf das Sein, auf die Welt, auf dasjenige bezieht, was in der Welt gegeben ist und erscheint. Gehen wir also schrittweise voran, um auf einem unbegrenzbaren Weg zu jener Grenze des Denkbaren vorzustoßen, jenseits derer sich in einem unerreichbaren oder besser gesagt niemals direkt erreichbaren Äußeren das Jenseits des Seins auftut. Dass der Genitiv des Ausdrucks »das Jenseits des 145 Seins« ein äquivoker Genitiv ist, während die subjektive »Intention« dessen, der diesen Weg geht, ihn als Objektsgenitiv »intendieren« (wie hier zu sagen angebracht ist) möchte, ist bezeichnend. Vielleicht 233 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

aber besteht, wie wir noch sehen werden, der Erfolg dieses Weges, dieses Exodus, eben gerade in diesem Scheitern. Wir sagen jedoch schon jetzt, dass dieses Äußere nicht oder zumindest nicht notwendig und nicht »ursprünglich« »Gegenstand« (wenn man so sagen darf) intellektueller Anschauung oder mystischen Schauens ist; dieses Äußere wird nämlich auf vollkommen rationale Weise eben gerade von der Grenze des Denkens definiert, insofern es Denken des Seins ist. Eine unmittelbarer verständliche, weil noch auf das Sein bezogene Beschreibung der moralischen Einstellung würde wie folgt lauten: das Streben danach, den Anderen im eigenen Sein und im Sein als dem Eigenen dieses Anderen zu erhalten. Wenn wir die interlokutive Allokution an ihrem empirischen Ursprung betrachten, dann erscheint diese Definition ziemlich offensichtlich: für ein Kind zu sorgen, heißt eben gerade, es in seinem Sein erhalten zu wollen. Dass man es im Sein als seinem »Eigenen« erhalten will, könnte weniger offensichtlich erscheinen, aber dies klärt sich, sobald man die Tatsache bedenkt, dass die Fürsorge für das Kind auf sprachliche Weise geschieht. Zu sagen, dass die Fürsorge für das Kind auf sprachliche Weise geschieht, bedeutet nicht, dass sie mittels Sprache geschieht, als ob die Sprache ein bloßes Werkzeug der Fürsorge wäre, und sei es auch ein unverzichtbares und unersetzliches Werkzeug. Vielmehr ist damit gemeint, dass die Fürsorge als Sprache geschieht, mittels der symbolischen Konstitution des Bedürfnisses bzw. – was dasselbe ist – mittels der Konstitution der Subjektivität des Interlokutors, d. h. des anderen Ichs. Dank dieser in konstitutiver Weise sprachlichen Fürsorge wird das Kind, d. h. das Nichtsprechende (infans), zu einem Erwachsenen, d. h. zu einem Sprechenden (fans), und unterscheidet die eigene »Person« (auch im grammatischen und sprachpragmatischen Sinne: das Ich, das den Anderen »du« nennt) von der »Person« des Anderen (das Du, das zu sich selbst »ich« sagt) und vom Objekt (»es« als Koreferenz der Interlokutoren) 10. Man kann den Anderen nicht in seinem Sein erhalten, wenn man ihn nicht im Sein als dem Seinigen konstituiert, d. h. wenn man ihn nicht in der interlokutiven Allokution als Subjekt, als Reflexivität konstituiert. Nur insofern man den Anderen im Sein als dem Seinigen erhält, nur insofern man die Person des Kindes subjektiviert, erhält man sie auch im Sein und nicht umgekehrt. Dies könnte man in einem empirischen (und mithin zwar unmittelbar verständlichen, aber auch unzureichenden) Sinne wie folgt zum Ausdruck bringen: nur insofern ich die kindliche Person in die Lage versetze, selbst für 234 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erzählung und Kindheit

ihre Bedürfnisse und für ihre Selbsterhaltung zu sorgen, ohne das Sein mehr von mir passiv empfangen zu müssen, erhalte ich sie in ihrem Sein. Und dies geschieht auf sprachliche Weise, in der interlokutiven Allokution. Indem es die Subjektivität des Anderen konstituiert, gibt das konstituierte Subjekt dem Interlokutor das Sein: es gibt 146 ihm das Sein, das ihm seinerseits in der interlokutiven Allokution als das Seinige gegeben worden war, durch welche (alter) ego es selbst zur Welt gebracht, es selbst konstituiert und die Welt als die Seinige konstituiert hatte. Man beachte aber, dass die dargestellte These nicht unmittelbar eine metaphysische These ist; sie ist dies auch, und sie ist dies, wie wir sehen werden, sogar so sehr, dass sie es in »äquivoker« Weise ist; sie ist es jedoch nicht unmittelbar, denn unmittelbar ist sie eine empirische These, ja eine These, die auf »gewöhnlicher« Erfahrung basiert; und danach ist sie eine »transzendentale« These, d. h. eine These, welche die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung identifiziert; aber auch die Bedeutung des Begriffs »transzendental« ist in einem theoretischen Rahmen zu verstehen, der nicht mehr durch das cogito, sondern durch das Deponens loquor als Interlokution definiert ist. e Nur zuletzt, oder vielmehr nicht zuletzt, sondern vorgängig ist sie eine metaphysische These (und über die Äquivokation der Metaphysik werden unsere Ausführungen in einer immer intensiver werdenden Auseinandersetzung mit Heidegger zu ihrem »Schluss« kommen). Was wir bisher gesagt haben, sollte aber bereits deutlich gemacht haben, dass f die wirkliche Herausforderung und die wirkliche Gefahr für ein ethisches Verständnis der Sprache gewiss nicht von der analytischen Philosophie ausgeht, da diese – zumindest im Prinzip! – schweigen kann, wo man »schweigen muss«. Die wirkliche Herausforderung und die wirkliche Gefahr für ein ethisches Verständnis der Sprache geht vielmehr von der von Heidegger vertretenen ontologischen Sicht der Sprache aus und von seiner Überwindung bzw. seinem Seinlassen der Metaphysik. Wir haben kein Problem damit, ein interlokutives Verständnis der Sprache als ein ontisches zu bezeichnen. Es geht nämlich eben darum, ein ontisches Verständnis von Ine

Bis hierhin entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem Text des Aufsatzes MMO-108. f Von hier bis zur angegebenen Stelle am Schluss dieses Kapitels auf S. 162 entspricht der Text im Wesentlichen dem Text des Aufsatzes MMO-111 bzw. MMO-112.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

terlokution gegenüber einem ontologischen Verständnis zur Geltung zu bringen, wie es exemplarisch im heideggerisch-hölderlinischen »S e i t e i n G e s p r ä c h w i r s i n d « zum Ausdruck kommt. Subjektivismus? Eine weitere Manifestation der Verelendung der Philosophie in Anthropologie? Sic et non. Die Frage – oder der Vorwurf – muss jedenfalls in Betracht gezogen werden, besonders dann, wenn es zu behaupten gilt, dass die Ethik vorgängige Philosophie ist. Denn es ist offensichtlich, dass der unmittelbar darauf folgende Verdacht oder Vorwurf derjenige des »Nihilismus« sein würde. Subjektivismus also, aber nicht im Sinne eines transzendentalen Subjekts oder Ichs, das zum zentralen Bezugspunkt, zur Referenz der Referenzen, zum Kriterium der Gewissheit und zum letzten Grund wird, sondern im Sinne eines pronominalen »Ichs«, das nicht Subjekt des cogito, sondern des loquor ist, das nicht Subjekt einer konstituierenden Aktivität, sondern einer Deponenz ist, bei der jeder sprachlichen Aktivität und jeder denkerischen Konstitution das Konstituiertsein des Subjekts mittels der Allokution seitens des anderen Subjekts vorausgeht. Zusammengehörigkeit von Sprache und Sein, jedoch in dem Sinne, dass das Sein die Bühne ist, die durch die Interlokution zur Entfaltung gebracht wird. Am Anfang von Sein und Zeit hat Heidegger mit einem Zitat aus Platons Sophistes Folgendes an147 gemahnt: »Der erste philosophische Schritt im Verständnis des Seinsproblems besteht darin, nicht mŷthòn tina diegheîsthai, ›keine Geschichte erzählen‹, d. h. Seiendes als Seiendes nicht durch Rückführung auf ein anderes Seiendes in seiner Herkunft zu bestimmen, gleich als hätte Sein den Charakter eines möglichen Seienden« 11. Sic et non. In der Tat ist die Bühne, die durch die Interlokution entfaltet wird, kein Seiendes unter anderen Seienden, sondern eben gerade die Bühne, in der und auf der die Seienden bestehen; aber die »Personierenden«, g d. h. die »Verlautbarenden«, die diese Bühne zur Entfaltung bringen und ihr dadurch auch selbst innewohnen, indem sie dort als Personen erscheinen und dort auch selbst als Seiende bestehen, sind die Bedingung dieser Bühne und nicht umgekehrt. Subjektivismus; aber die Pluralität der sprechenden Subjekte ist – so können wir mit gutem Recht sagen – der Interlokution insofern »wesentlich«, als diese (nicht bloß auf Iteration, sondern Analogisierung beruhende) Pluralität das Sein als Bühne der Interlokution zur g Vgl. die Erläuterungen zum Terminus »Personierende« in der diesbezüglichen Fußnote auf S. 129.

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Entfaltung bringt. Die Zeitlichkeit – die radikale, nicht anders als durch Re-präsentation, d. h. durch wiedervergegenwärtigende Vorstellung, synchronisierbare Diachronie, aufgrund derer »ich« immer zuerst und schon immer der Andere ist – verbietet es nicht nur, das Sein zum Seienden zu machen, sondern sie verbietet es damit auch, das mŷthòn tina diegheîsthai – den Mythos und die Erzählung – mit dem referenziellen Sprechen und der Synchronie empirischer Vorstellung zu identifizieren. Die Erzählung bringt letztlich jenes Vorangehen des anderen Ichs und des Ichs als des Anderen zum Ausdruck, das auf der Bühne des Seins und im referenzielle Sprechen nicht eingeholt werden kann (in diesem Sinne hat die analytische Diskussion über die Nichtreferenzialität des Pronomens »ich« eine tiefe Bedeutung, auch wenn diese Bedeutung nicht diejenige ist, welche die Diskutierenden dabei im Sinn haben). Mythos und Erzählung werden aber Gegenstand des letzten Teils der Ausführungen dieses Kapitels sein. Zuvor jedoch müssen wir zu diesem Zweck die Thematik des ethischen Charakters der Interlokution in empirischer Hinsicht detaillierter entwickeln; das behauptete Primat des Ontischen gegenüber dem Ontologischen erlaubt es nämlich nicht nur, sondern erfordert es geradezu, dass der empirische Gesichtspunkt in seiner ganzen Breite und mit der ihm gebührenden philosophischen Dignität in Betracht gezogen wird. Die Fürsorge für das Kind, so haben wir gesagt, geschieht auf sprachliche Weise. Da es nicht in der Lage ist, seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, wird das Kind von jemanden versorgt, der in der Lage ist, den in-fantilen h conatus in suo esse perseverandi zu befriedigen. Indem er sich dem Kind zuwendet, um auf dessen Bedürfnisse zu antworten und ihnen zu entsprechen, noch bevor sie sich als Bitten oder Fragen konstituiert haben, indem er sein Gesicht dem Kind zuwendet, um zu erforschen und zu erraten, was dessen Streben nach (Selbst-) Erhaltung befriedigen könnte, werden die Bedürfnisse des Kindes nach und nach als Bitten oder Fragen konstituiert, d. h. das Kind (infans), also das Nichtsprechende, wird zu einem Sprechenden gemacht. Das Erkennen des Bedürfnisses ist ein konstitutiv und wesentlich sprachlicher (oder vielmehr allokutiv-interlokutiver) Vorgang, weil es sich in einem Wechselspiel von Identifikation und Projektion h

Der Bindestrich im Attribut »in-fantil« (in-fantile) betont, dass dieses Attribut hier auch im etymologischen Sinne zu verstehen ist. Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen auf S. 142 und S. 145.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

verwirklicht, bei dem die Intentionalität (sowohl im Sinne der Intentionalität des Denkens als auch im Sinne der Intentionalität des Wollens) in konstitutiver Weise auf etwas gerichtet ist, was außerhalb des intendierenden Bewusstseins des Erwachsenen ist. Es ist klar, dass das 148 Außensein, auf das wir uns hier beziehen, ein solches in einem Sinne ist, der – wie wir anfangs schon gesehen haben – keiner Reduktion und keiner Epoché unterzogen werden kann, d. h. es ist nicht das naturalistisch verstandene Außensein der Welt gegenüber dem intendierenden Bewusstsein, sondern es ist das Außensein eines anderen Bewusstseins. Die Intentionalität der Fürsorge für das Kind, das Zuwenden des eigenen Gesichts zum Kind mitsamt dem Wechselspiel von Identifikation und Projektion (im psychologisch-wissenschaftlichen Sinne dieser Begriffe) 12, welches dieses Sich-zuwenden in Gang setzt, intendiert nicht die Konstitution eines Objekts als Bewusstseinsinneres, sondern eines Subjekts als Bewusstseinsäußeres oder als anderes Bewusstsein. Indem es sich dem Kind zuwendet, ist das Bewusstsein mehr denn je ein konstituierendes Bewusstsein, nämlich ein Bewusstsein, welches Bewusstsein und Subjektivität konstituiert. Denn durch diese interlokutive Allokution bzw. allokutive Interlokution wird das Kind nach und nach zum Subjekt. Wenn die Intentionalität der Erkenntnis als denkerische Intentionalität verstanden werden kann oder hat verstanden werden können, so kann die Intentionalität des Erkennens nur als interlokutive Intentionalität verstanden werden. i Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Wiederholung des Erkennens im Erkennen, auf die das vom lateinischen Verb recognoscere abgeleitete Wort für das »Erkennen« im Italienischen so sachgerecht anspielt, j »ursprünglich« ist, während i

Während der Terminus »Erkenntnis« (conoscenza) hier im Sinne von etwas verwendet wird, was »gewonnen« und dann »weitergegeben« oder »umgesetzt« werden kann, bringt der Terminus »Erkennen« (riconoscimento) das Ergebnis eines Prozesses zum Ausdruck, bei dem etwas (womöglich zum ersten Mal) erkannt wird. Paradigmatisch dafür ist das »Erkennen« des Erwachsenen seitens des Kindes, das gleichsam am »Ursprung« allen weiteren Erkennens und jeder Erkenntnis steht (vgl. S. 125, 133 und 151 ff.). j Das italienische Wort für »Erkennen« (riconoscimento) bringt im Gegensatz zum entsprechenden Wort für »Erkenntnis« (conoscenza) etymologisch eigentlich ein »Wieder-erkennen« (lat. re-cognoscere) zum Ausdruck und kann auch in diesem Sinne verwendet werden (vgl. auch frz. reconnaître vs. connaître, etc.). Paradigmatisch für die Wiederholung des Erkennens im Erkennen ist wiederum das »Wieder-erkennen« des Erwachsenen seitens des Kindes, welches das vorherige Erkennen des Kindes seitens des Erwachsenen erwidert, so dass es eigentlich ein »Zurück-erkennen« ist

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die Identität der Erkenntnis abgeleitet ist. Oder besser gesagt (zumal die Ursprünglichkeit der Identität und die Identität als Ursprünglichkeit hier in Frage steht): die Wiederholung des Erkennens im Erkennen ist einfach ursprünglicher als die Identität der Erkenntnis. Die psychischen »Mechanismen« der Identifikation und der Projektion, die beim Erkennen des Kindes ins Spiel kommen, sind Kennzeichnen dafür, dass Erkenntnis als Wiedererkennen einen sprachlichen Charakter hat. Die Zuwendung k zum Kind (eine Zuwendung, die darauf bedacht ist und darauf abzielt, das Bedürfnis zu erkennen) erzeugt im Kind das Bedürfnis, erkannt zu werden, als ein Bedürfnis unter anderen, wenn auch in gewisser Weise als ein übergeordnetes, umfassendes, transzendentales Bedürfnis. Ja, dieses Bedürfnis, das sich, was seine Genese betrifft, auf Seiten des Kindes als ein Bedürfnis darstellt, welches sich in dem Maße, in dem die Einzelbedürfnisse befriedigt werden, sukzessiv herausdifferenziert, stellt sich auf Seiten des das Kind ansprechenden Erwachsenen als ein anfängliches Bedürfnis dar. Als ein Bedürfnis unter anderen und zugleich als Bedürfnis der Bedürfnisse ist das Bedürfnis, erkannt zu werden, bzw. das Erkanntwerden als Bedürfnis das wahre »Transzendental« der Interlokution. Wenn das Bedürfnis des Kindes sich endlich als sprachlich formulierte Bitte oder Frage konstituiert, so ist dieses Fragen endlich die entsprechende Antwort auf das herausdifferenzierte Bedürfnis, erkannt zu werden, das von Anfang an vom Erwachsenen genährt worden ist, der sich dem Kind zugewandt und für es gesorgt hat. Dieses Fragen ist nun endlich die entsprechende Antwort auf das vorherige Erkennen des Kindes seitens des Erwachsenen: ein vorheriges Erkennen, das für das Kind in gewisser Weise eine dem Fragen vorhergehende Antwort war, für den Erwachsenen dagegen ein Fragen, das mit dem (Wieder) Erkennen seitens des Kindes endlich eine Antwort erhält. Aus diesem Zusammenfallen von Frage und Antwort, Bitte und Erhörung, an jedem der beiden subjektiven Pole der Interlokution 149 (vgl. S. 133 und 151 ff.). Vgl. hierzu auch die diesbezüglichen Erläuterungen im vierten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers. k Die »Zuwendung«, d. h. das fürsorgliche »Sich-Zuwenden« (rivolgersi), das zunächst einmal im fürsorglichen »Zuwenden« (rivolgere) des Gesichts besteht, hat auch dann immer schon einen sprachlichen Charakter, wenn es nicht mit mündlichen Äußerungen einhergeht (vgl. S. 133 f. und S. 147 f.). Im Italienischen klingt der sprachliche Charakter der »Zuwendung« insofern expliziter mit an, als rivolgersi auch im Sinne eines »Ansprechens« verstanden werden kann.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

ergibt sich natürlich, dass dem Bedürfnis in seiner »transzendentalen« Struktur, d. h. als Bedürfnis, erkannt zu werden, niemals Genüge getan wird, sondern dass es umso stärker wird, je mehr es empirisch befriedigt wird. Der conatus in suo esse perseverandi wächst umso mehr an, je mehr er befriedigt wird, und das Verharren im eigenen Sein ist nicht anders denkbar, denn als Zuwachs des eigenen Seins und des Eigentums am Sein. Als wir anfangs von Selbsterhaltungstrieb und bewusster Selbsterhaltung gesprochen haben, hatte uns unser Diskurs an jener Stelle dazu verleitet, das Anwachsen als einen Modus der Selbsterhaltung bzw. – wie wir an jener Stelle gesagt haben – als einen Modus, das Leben zu leben, anzusehen; jetzt dagegen sind wir in der Lage, das Anwachsen als den Modus der Erhaltung und der Selbsterhaltung anzusehen. Im Rahmen dieser universellen Erotik, in der die durch die Interlokution entfaltete Bühne des Seins sich unaufhörlich erweitert, erscheint der conatus in suo esse perseverandi unter dem paradoxen Aspekt, dass sich die unaufhörliche Befriedigung des eigenen Bedürfnisses als Befriedigung des Bedürfnisses des Anderen und als das Streben danach verwirklicht, den Anderen in seinem Sein und im Sein als dem ihm Eigenen und Geeigneten zu erhalten. Ein paradoxer und doch »primärer« und »transzendentaler« Aspekt, der unter Umkehrung des parádoxon den Chiasmus wiederholt, demzufolge das Erkennen des Bedürfnisses dem Bedürfnis, erkannt zu werden, korrespondiert und darauf antwortet. Im Rahmen der universellen Erotik der durch die Interlokution entfalteten Bühne ist jedes Erscheinen von Seiendem immer schon sinnhaft, immer schon auf jener interlokutiven Bühne des Seins angesiedelt, derentwegen das Sein nur als »Interesse« denkbar ist, und zwar im doppelten Sinne dieses Wortes: im etymologischen Sinne des esse als Bühne der Interlokution, als Intervall bzw. – um den temporären Aspekt noch mehr zu betonen, der in der »essentiellen« Asymmetrie der Interlokution impliziert ist – als interim; aber auch im gewöhnlichen Sinne eines hedonistischen Interesses, sei es auch in dessen bis zum Äußersten bzw. zur Akme getriebenen Sinne eines »Interesses der Vernunft« (wie es im klassischen transzendentalen Denken heißt) oder besser noch eines Interesses des lógos, der Sprache, aber der Sprache als Interlokution. Auch bei Tieren hinreichend hoher Spezies befriedigt das erwachsene Tier den conatus in suo esse perseverandi eines Neugeborenen der eigenen oder eventuell sogar einer hinreichend nahestehenden anderen Spezies. In der Tat, wie wir bereits im zweiten 240 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erzählung und Kindheit

Kapitel erwähnt haben, l fehlt es heutzutage nicht an ernsthaften empirischen Forschungen, welche versuchen, das Vorkommen von »ethischen« Verhaltensweisen bei höheren Tieren als Verhaltensweisen zu interpretieren, die objektiv der Erhaltung der Spezies dienen (einige ethologische Forschungsansätze gehen sogar so weit, die Religion in diesem Sinne zu verstehen) 13. Aber das Spezifikum von »Ehen, Satzungen und Opferstätten« m, also das Spezifikum der menschlichen Spezies, des zóon lógon échon, besteht darin, dass das Interesse des lógos als Interlokution reflexiv ist, dass dieses Interesse 150 eben gerade das Sein als Interesse, als transzendentales Interesse ist. Wir können daher provozierend sagen, dass es ein naturalistischer Fehlschluss wäre, die Ethik in einem zoologischen Sinne als etwas zu denken, was bloß der Arterhaltung dient, ohne dabei die interlokutive Reflexivität zu berücksichtigen. Die »Protologie« mit ihrem Charakter einer unerreichbaren Vorgängigkeit ist und ist zugleich auch nicht Zoologie, und obgleich das J a - s a g e n zum Leben, zur zoé, auf empirischer Ebene die Erhaltung und Stärkung der Spezies lógon échon mit sich bringt, so verwirklicht es sich doch auf »transzendentaler« Ebene – die eben deshalb, weil sie an den Grenzen des endlichen Seins angesiedelt ist, mit der empirischen Ebene zugleich identisch und nicht identisch ist – als ein unendliches fürsorgendes Sich-zuwenden, das nicht in der Spezies objektiviert empirisch totalisiert werden kann, sondern unendlich auf die omnitudo der Gesichter gerichtet ist, die durch ihr Sich-zuwenden die Bühne des Seins entfalten: auf eine omnitudo, die mit Kant gesprochen keine omnitudo collectiva, sondern eine omnitudo distributiva ist. 14 Das, worin aus empirischer Sicht die spezifische Differenz zwischen Tier und Mensch besteht, stellt sich aus »transzendentaler« und »protologischer« Sicht als ethische Differenz dar, d. h. als eine Differenz, die nicht das Wesen, sondern die Analogie, die verwesentlichende Analogisierung betrifft. Diese Betrachtungen versetzen uns in die Lage, das Problem der Technik und des Projekts der Selbsterhaltung wieder aufzugreifen, das sich uns anfangs unter »gesellschaftlichem« Aspekt gestellt hatte, l

Eigentlich nicht im zweiten, sondern im dritten Kapitel, nämlich auf S. 68 f. Vgl. hierzu die Erläuterungen im zweiten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers. m Vgl. Ugo Foscolo, Von den Gräbern [Dei sepolcri], Vers 91. »Ehen, Satzungen und Opferstätten« sind dabei diejenigen, die »Das Raubthier, Mensch geheißen, Mitleid lehrten Mit sich und Andern«.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

und es in interlokutiver Hinsicht zu untersuchen, um so zu einem Verständnis desselben zu gelangen, welches der These, dass es sich bei der Gegenwart um ein komplexes Phänomen handelt, wenn nicht vollkommen adäquat, so doch zumindest angemessen ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Technik, insofern sie ein philosophisch relevantes oder besser gesagt ein für die »erste Philosophie« relevantes Problem darstellt, nicht allein durch ihren Werkzeugcharakter definiert werden kann. Auch die Tiere höherer Spezies benutzen Werkzeuge (z. B. Schimpansen, die in einem bekannten Experiment einen Stock benutzen, um an Bananen zu kommen, die mit der bloßen Hand nicht zu erreichen wären). Um den Unterschied zwischen diesem und dem menschlichen Technikniveau zu erklären, würde es auch nicht genügen, ihn auf einen rein quantitativen Unterschied zu reduzieren, z. B. unter Hinweis auf die größere Komplexität der menschlichen Technik. Es ist nicht etwa so, dass eine quantitativempirische Betrachtungsweise nicht notwendig wäre; ohne sie würde man im Leeren denken, ja man würde überhaupt nicht denken; eine solche Betrachtungsweise reicht aber einfach nicht aus. Sie für ausreichend zu halten, würde abermals zu dem führen, was wir provozierend einen naturalistischen Fehlschluss genannt haben, der sich als ein wahrhaftes hýsteron próteron darstellt. Um sich dies klarzumachen, scheint es entscheidend zu sein, den Zusammenhang zwischen 151 Technik und Sprache (im Sinne von Interlokution) zu untersuchen. Schon aus empirischer Sicht ist offensichtlich, dass dasjenige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nicht bloß der Gebrauch von Werkzeugen ist, so wie es auch nicht der Besitz von »Sprache« im Sinne eines Kommunikationsmittels ist: auch Tiere gebrauchen Werkzeuge, und auch Tiere kommunizieren. Die »spezifische« Differenz besteht in dem Besitz des Metawerkzeugs – des Werkzeugs, um Werkzeuge herzustellen –, 15 d. h. in der Technik »im eigentlichen Sinne«, nämlich im Sinne von Techno-logie (auch wenn die Tatsache, dass der den Tod antizipierende Entwurf und die Unplanbarkeit den gleichen Bedeutungsumfang haben, in äquivoker Weise andererseits zugleich jeden eigentlichen Sinn und jede »Aneignung« von Technik, wie wir gesehen haben, verhindert), und sie besteht im Besitz der Sprache »im eigentlichen Sinne«, d. h. im Sinne von Metasprache, im Sinne von Sprache über Sprache (auch wenn Metasprache in äquivoker Weise andererseits zugleich die Unmöglichkeit jedes eigentlichen Sinnes und jedes Eigentums an Sprache, das unendliche metaphérein bedeutet). Dies ist der Punkt, wo das Umschlagen in eine 242 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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reflexive, »transzendentale« Betrachtungsweise von der empirischen Betrachtungsweise selbst gefordert zu werden und ihr als sic et non oder vielmehr als est – non est innezuwohnen scheint. Gerade die Genese der Interlokution (eine Genese, bei der sich das Empirische ins Transzendentale kehrt) ist in der Lage, die »Analogie« zwischen Sprache und Technik zu erklären, die im Kontext unserer Ausführungen über Metasprache und Metawerkzeug zum Vorschein gekommen ist, wobei das Hendiadyoin »Metasprache und Metawerkzeug« – wie wir sehen werden – sehr viel mehr ist als eine Paarung aufgrund von Ähnlichkeit: dieses Hendiadyoin ist die äquivoke Identität der Techno-logie selbst. Aus genetischer Perspektive lassen sich vier Momente oder Stadien der Interlokution unterscheiden: 1) zunächst einmal wird das Kind erkannt; 2) dann erkennt das Kind den Erkennenden (risu incipit cognoscere matrem); 3) daraufhin erkennt es sich als erkannt; 4) und schließlich erkennt es sich (das Erscheinen des ego cogito-sum im Bewusstsein). Bevor wir, wie es nötig ist, diese genetische und diachrone Analyse der Interlokution fortsetzen, möchten wir zwei Anmerkungen vorausschicken. Zunächst einmal ist anzumerken, dass die vier genannten Momente auch in synchroner Hinsicht für die Interlokution konstitutiv sind. Die synchrone Struktur der Interlokution zwischen erwachsenen (nunmehr wirklich »sprechenden« und nicht mehr infantilen) Interlokutoren wird nämlich durch die folgenden Bedingungen definiert, die für jeden der beiden (hier mit I bezeichneten) Interlokutoren gelten: 1) I wird erkannt (als idem und als ipse, objektiv und subjektiv) 16; 2) I erkennt den Erkennenden (als idem und als ipse); 3) I erkennt sich als erkannt; 4) I erkennt sich. Wir werden jetzt nicht auf die Bedeutung dieser Korrespondenz zwischen dem synchronen und dem diachronen Modell der Interlokution eingehen (wie wir im Folgenden sehen werden, erklärt sich diese Korrespondenz dadurch, dass in genetischer Hinsicht jedes neue Stadium der Interlokution das jeweils vorangehende Stadium nicht ersetzt, sondern sich darin fortschreibt. Die andere Anmerkung, die vorauszuschicken uns opportun erscheint, besteht darin, dass es sehr lehrreich und einer aufmerksamen 152 Untersuchung wert wäre, die Genese der »normalen« Interlokution, deren Momente wir hier schematisch definiert haben, mit dem zu vergleichen, was man bei einigen erfolgreichen Versuchen gelernt hat, Interlokution mit taubblinden Kindern herzustellen (diese Ver243 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

suche sind im Rahmen der wenigen experimentalpsychologischen Studien zu diesem Thema gemacht worden) 17; dieser Vergleich bestätigt nämlich in überraschender Weise, dass sich die Bühne des Seins interlokutiv als »Interesse« entfaltet, und zwar auch in Bezug auf Erkenntnis und Ästhetik, d. h. auch in Bezug auf das, was man per Antonomasie als »interesselos« zu definieren pflegt. Jetzt aber gehen wir dazu über, das oben skizzierte Entwicklungsschema detaillierter zu betrachten. Wenn die Wiederholung der identifizierenden Zuwendung (erstes Stadium) schließlich »Erhörung« findet und eine entsprechende Antwort erhält, indem das Kind den Erkennenden erkennt (zweites Stadium), ist es dank der »ursprünglichen« ethischen Differenz zu einer ersten empirische Differenzierung gekommen: wir könnten diese empirische Differenzierung, wenn wir sie der Einfachheit halber aus Sicht des Kindes betrachten, als Differenzierung zwischen Bedürfendem und Bedurftem bezeichnen. Diese beiden Begriffe sind dabei jedoch nicht im grammatischen Sinne eines aktiven und eines passiven Parts zu verstehen, denn mit gleichem und vielleicht größerem Recht ist die Passivität auf Seiten des bedürfenden Neugeborenen und die Aktivität auf Seiten des bedurften Erwachsenen. Auch dürfen diese beiden Begriffe nicht im erkenntnis- bzw. bewusstseinsbezogenen Sinne als Subjekt (das bedürfende Neugeborene) und Objekt (der bedurfte Erwachsene) verstanden werden, denn des Bedurften wird gerade wegen seiner erkennenden Subjektivität bedurft, und der Bedürfende ist nur insofern ein solcher, als er als solcher erkannt wird. Schließlich dürfen die beiden Begriffe auch nicht im Sinne von Zweck und Mittel (bzw. Werkzeug) verstanden werden, denn der Bedurfte ist ja immer noch zugleich Zweck und Mittel der Befriedigung des Bedürfnisses des Bedürfenden. Erst im folgenden Stadium, in dem sich das Kind als erkannt erkennt (d. h. genauer gesagt: in dem es sich nur als erkannt erkennt), ergibt sich eine weitere Differenzierung, die es erlaubt, in einem eigentlicheren, wenn auch noch nicht vollkommen angemessenen Sinne sowohl von Subjekt und Objekt als auch von Werkzeug (oder Mittel) und Zweck zu sprechen. Die Tatsache, dass es sich als erkannt erkennt, versetzt das Kind in die Lage, den Erwachsenen als denjenigen herbeizurufen, der dessen Bedürfnis zu befriedigen vermag. Der Erwachsene kann dann je nach Sachlage und Gesichtspunkt das Werkzeug oder der Zweck der Befriedigung des Bedürfnisses sein: er ist ein Werkzeug, wenn er sich um Bedürfnisse kümmert, welche das 244 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erzählung und Kindheit

Kind nicht von selbst zu befriedigen vermag (und dies unabhängig davon, ob das Kind seine Bedürfnisse als solche zu erkennen weiß oder nicht, zumal diese Bedürfnisse, wie einige experimentalpsychologische Studien der Bruner-Schule zeigen, weitgehend durch die Interpretation definiert werden, die der Erwachsene davon gibt) 18; er ist dagegen ein Zweck, wenn er das Bedürfnis, erkannt zu werden, als solches befriedigt (ein Bedürfnis, das man gemeinhin »Liebesbedürf- 153 nis« nennt). Es ist klar, dass sich diese beiden Möglichkeiten in Wirklichkeit immer gleichzeitig verwirklichen: das Bedürfnis, erkannt zu werden, ist im Grunde nichts anderes als das Bedürfnis, dass das Bedürfnis erkannt werde, d. h. das Bedürfnis, umsorgt zu werden (ohne dies bleibt das Kind nicht in seinem Sein erhalten, weil es ja nicht in der Lage ist, sich selbst zu erhalten). Diese weitere Differenzierung kann daher als eine kontinuierliche Linie gedacht werden, deren beide Pole jedoch klar zu identifizieren sind, da es sich jetzt anders als im vorangegangenen Stadium nicht mehr um ein unscharf umschriebenes Feld handelt, dessen Fokus bzw. Mittelpunkt der Bedurfte darstellt. Man sollte die Dinge hier übrigens nicht allzu sehr vereinfachen; dieser Polarisierung zwischen Zweck und Mittel entspricht nämlich die Selbstreferenz des Kindes als Pendant zu seinem Ruf nach dem Erwachsenen. Diese Selbstreferenz ist wesentlich interlokutiver Art, auch wenn sie sich noch nicht mittels der Beherrschung der personalen Flexionsformen der Verben und Personalpronomen verwirklicht; es kommt vielmehr vor, dass sich das Kind in diesem Stadium nicht mittels des Pronomens der ersten Person auf sich selbst bezieht, sondern mittels seines Eigennamens, also mittels des Namens, mit dem er vom Erwachsenen gerufen und bezeichnet wird (und der in diesem Fall wahrhaft ein rigid designator ist!). Diese Situation ist ganz ähnlich derjenigen Situation, in der das Kind die Augen schließt und glaubt, es werde nicht mehr gesehen. Erst im nachfolgenden Stadium tritt an die Stelle der asymmetrischen Reziprozität die symmetrische Reziprozität, oder besser gesagt: die letztere konstituiert sich innerhalb der ersteren. Diese neue, symmetrische Reziprozität manifestiert sich in der Beherrschung der interlokutiven Rollen und mithin im reziproken Gebrauch der Pronomen, beim dem der, für den ich »du« bin, auch »du« für mich ist; daher sagen wir beide jeder für sich jeweils »ich«, wenn wir uns im Gespräch auf uns selbst beziehen, und beide sagen wir jeder für sich und wechselseitig »du« zum Gesprächspartner, und beide sagen wir 245 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

gemeinsam und gleichzeitig »er«, »sie« oder »es«, zu dem, was nicht am Gespräch teilnimmt, sondern Gegenstand des Gesprächs ist, usw. Das Selbsterkennen geschieht also, wie auch immer es erscheinen mag, dank der immer vorausgehenden Vermittlung seitens des anderen Ichs; eine Vermittlung, die zwar immer schon als vergangen gegenwärtig ist, die aber im dem komplexen Phänomen der Gegenwart immer mit-gegenwärtig ist. In der Tat stellen sich nicht einmal beim Erwachsenen, also nicht einmal bei dem, der sich erkennt, d. h. das letzte Stadium der Interlokution erreicht hat, das Bedürfnis, das auf ein Objekt abzielt, und das Bedürfnis, das auf ein Subjekt abzielt (also das Bedürfnis, erkannt zu werden), anders denn als eine Spannungslinie dar, bei der man nur ihre beiden Extreme als Pole zu unterscheiden vermag. Das »System der Bedürfnisse«, welches die »bürgerliche Gesellschaft« ist, ist dasjenige, als was sich diese polarisierte Kontinuität zwischen der Pluralität der Bedürfnisse und dem Bedürfnis, erkannt zu werden, in der 154 Welt der Erwachsenen konfiguriert. Auch beim Erwachsenen geht übrigens die etwaige Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse von selbst zu erkennen, immer – und wiederum gemäß einer kontinuierlichen Spannungslinie zwischen zwei Polen – nicht nur mit der Unmöglichkeit einher, alle eigenen Bedürfnisse zu identifizieren, sondern mehr noch mit der Unmöglichkeit, die eigenen Bedürfnisse anders als auf jener kontinuierlichen Linie zwischen bewusster Identifizierung und unbewusster Nicht-Identifizierung zu identifizieren, die man Rationalisierung nennt; und dafür, dass der unbewusste Pol erkannt werden bzw. ins Bewusstsein treten kann, bedarf es eben gerade der Interlokution, d. h. des Erkanntwerdens seitens des Anderen. Das letzte Stadium der Interlokution, in welchem das Individuum nunmehr endgültig subjektiviert ist, d. h. sich in seiner psychophysischen Identität (ipse und idem) erkennt, bezeichnet das Erreichen einer Autonomie, die nicht umgekehrt, sondern direkt proportional zur Abhängigkeit vom Erkanntwerden seitens des Anderen ist. Wahre Reife, wahre »M ü n d i g k e i t « (wir spielen hier auf Kants Aufsatz Was ist Aufklärung? an) ist diejenige, welche nicht dem Fehlschluss des hŷsteron próteron verfällt, d. h. welche die Abhängigkeit und die Posteriorität des aktiven cogito gegenüber dem Deponens loquor erkennt. Andernfalls ist die vorgebliche Autonomie nicht Zeichen von Mündigkeit, sondern vielmehr in-fantil, die Autonomie von jemand, der sich zu erkennen glaubt, ohne zu erkennen, dass sich zu erkennen 246 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erzählung und Kindheit

heißt, sich als Sprechenden zu erkennen, und dass man Subjekt bzw. ego nur als Subjekt bzw. ego des loquor ist. Die Errungenschaft der Symmetrie erzeugt jedoch notwendigerweise die Illusion (einen »t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n «), dass die Reziprozität aufgehoben werden kann. Das mittlerweile identifizierte und durch die gemeinsame Bezugnahme und Benennung seitens einer Pluralität von Interlokutoren konsolidierte Objekt kann als etwas verstanden werden, auf das man »interesselos« Bezug nehmen kann; aber es kann so nur aufgrund einer endgültigen Aneignung des Seins (äquivoker Genitiv) verstanden werden. Die Möglichkeit und zugleich auch die Notwendigkeit, sich zur intersubjektiven Konstitution der Objektivität »in die Haut« bzw. »an die Stelle« des Anderen zu versetzen, erzeugt notwendigerweise die Illusion, dass der Andere ersetzt werden kann und dass er »unwesentlich« ist, um die Bühne des Seins zur Entfaltung zu bringen: als ob die »interesselose« Erkenntnis des Objektes nicht immer schon voraussetzte, dass das Subjekt durch das andere Subjekt analogisierend erkannt worden ist; als ob der Name, der das Objekt bezeichnet, nicht immer schon voraussetzte, dass wir als eines unter anderen Objekten von den Erwachsenen benannt worden sind, die miteinander über uns gesprochen haben; als ob uns die Allokution des Erwachsenen, der uns die Dinge gegeben hat, indem er ihnen Namen gegeben hat (eine wahrhafte G a b e ), anders als über die Vermittlung durch jenes vorangegangene Interlokutionsstadium als Subjekte konstituiert hätte, in dem wir nur mit einem Namen auf uns selbst Bezug genommen haben, der zwar schon der »eigene« Name war, aber doch die dritte Person, d. h. ein Objekt des erkennenden Subjekts bezeichnete, und in dem wir noch nicht mit einem der Pronomen auf uns selbst Bezug genommen ha- 155 ben, welche nur die Erwachsenen untereinander und auch mit Bezug auf uns gebrauchten, da sie bereits das nachfolgende Stadium der reziproken Symmetrie erreicht hatten, das es erlaubt, den Namen durch ein Pronomen zu ersetzen; als ob »ich« ursprünglich nicht etwa der Andere, sondern das Selbst wäre! Der transzendentale S c h e i n des letzten Stadiums, der sich nunmehr als dasjenige erweist, was den Schein zum Erscheinen bringt, lässt sich in eine Reihe von Scheinen artikulieren (diese Scheine sind alles andere als unwesentlich, sie sind vielmehr eben gerade das Erscheinen der Seienden auf der Bühne des Seins, sie sind We s e n , sie sind der Seinsakt des Seins selbst): z. B. die scheinbare »Interesselosigkeit« der Objekte, die scheinbare Autonomie, Substantialität 247 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

und S e l b s t ä n d i g k e i t des Subjekts, die scheinbare Möglichkeit des scheinbar autonomen Subjekts, willkürlich eine instrumental-finalistische Haltung gegenüber demjenigen anzunehmen bzw. abzulegen, was es zuvor angeblich nur interesselos kannte, sei dieses nun ein Objekt, das nicht angesprochen werden kann, oder aber ein Objekt, das angesprochen werden kann, d. h. ein anderes Subjekt, ein zum Subjekt analogisiertes Objekt. Indem das sogenannte »autonome« Subjekt sich in und aufgrund seiner scheinbaren Autonomie auf eine Erkenntnis verlässt, die nicht so erscheint, wie sie von ihrer Natur bzw. Entstehung her eigentlich ist, d. h. die nicht als Erkennen erscheint, ist es in der Lage, selbständig die eigenen Bedürfnisse zu stillen, sei es mittels Gegenständen, die diese Bedürfnisse befriedigen und für das Subjekt daher Zwecke darstellen (ein Sonderfall besteht in er Befriedigung durch andere Subjekte), oder sei es mittels Werkzeugen, die zu gebrauchen und herzustellen ihm seine objektive, »wissenschaftliche« Erkenntnis gestattet (auch hier besteht ein Sonderfall in dem Gebrauch anderer Subjekte), wobei es als Werkzeuge zum Herstellen dieser Werkzeuge zunächst einmal seine eigenen Erkenntnisse sowie seinen eigenen, ihm bekannten Leib verwendet und dann Werkzeuge, die immer mehr mittels anderer Werkzeuge hergestellt sind. Aber auch wenn der Werkzeugcharakter des eigenen Leibes (vor allem derjenige der Hand, durch welchen der Werkzeugcharakter aller weiteren Gegenstände den Charakter der Z u h a n d e n h e i t hat) als letztes Metawerkzeug erscheinen mag, so lässt er sich doch in Wirklichkeit nur dann als ein solches verstehen, wenn man abermals einem hŷsteron próteron verfällt, das einer besonderen Modalität des transzendentalen S c h e i n s Gestalt verleiht. Zum Gegenstand und zum Werkzeug wird der Leib nämlich erst dank jenes vorhergehenden Sich-als-erkannt-erkennens, bei dem mir die Subjektivität des Selbstbezugs nur durch das analogisierende Erkennen seitens des Anderen gegeben ist: ein Erkennen, bei dem sich sinnbildlich gesprochen die Mutterbrust, die Babyflasche und der eigene Daumen im Bewusstsein des Kindes differenzieren. Damit aber sind wir in der Lage, das wahre »transzendentale« Metawerkzeug zu identifizieren. Dieses Metawerkzeug ist auch nicht etwa der Andere, der Erwachsene, denn der Umstand, dass er als »Werkzeug« herbeigerufen wird, um die Bedürfnisse zu stillen, die 156 das Kind nicht mittels des eigenen Leibes stillen kann, ist nur das Pendant jener Differenzierung, durch die das Kind mittels des Er248 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Erzählung und Kindheit

kanntwerdens lernt, auch seinen eigenen Leib als Werkzeug und Gegenstand zu betrachten. Gewiss wird der Erwachsene auch als Zweck, d. h. als Erkennender herbeigerufen – wobei zwischen Werkzeug und Zweck eine Kontinuität besteht, bei der sich nur die beiden Pole eindeutig identifizieren lassen. Somit aber ist das Metawerkzeug, das es erlaubt, den Anderen als Zweck und/oder Mittel zu erreichen, eben gerade die Sprache selbst, mit der er zum analogisierenden Erkennen aufgerufen wird: die Sprache als Interlokution. Dieses Verständnis der Sprache als letztes und »transzendentales« Werkzeug, das zu rufen und zu analogisieren erlaubt, weil man selbst gerufen und analogisiert worden ist, versetzt uns in die Lage, die »Natur« der modernen Technik, d. h. der wissenschaftlichen Technik, der Techno-logie zu verstehen. Zugleich ermöglicht es dieses Verständnis der Sprache, dasjenige Verständnis der modernen Technik in Frage zu stellen, das – wie wir bereits viele Seiten zuvor erwähnt hatten – den wichtigsten Bezugspunkt der neueren »Philosophie der Technik« (auch der englischsprachigen) darstellt, nämlich Heideggers Verständnis derselben. Tatsächlich ist Heideggers »G e s t e l l « eine Form des transzendentalen S c h e i n s : die letzte und raffinierteste Form. Das »Sich-entsprechen« der Herausforderungen bei der modernen Technik (jener Technik, welche für Heidegger die Wahrheit unserer Epoche darstellt und welche die Natur herausfordert, weil sie ihrerseits durch das G e s t e l l herausgefordert ist, in welchem sich das ursprüngliche Verhältnis des Menschen mit der phýsis bewahrt), dieses »Sich-entsprechen« ist also ein letzter Schein und ein besonderer Modus des transzendentalen S c h e i n s . Es erscheint so, wie es erscheint, zuletzt, d. h. dem erwachsenen Menschen, der, nachdem er das Stadium der interlokutiven Symmetrie erreicht hat und nunmehr in der Lage ist, sich zu erkennen, in dieser a-létheia die Bedingung derselben notwendigerweise vergisst, nämlich die Allokution, mit der er den Erwachsenen herbeigerufen hat, nachdem er von diesem bereits wie von seiner phýsis angesprochen worden war, die ihn erzeugt und zur Welt gebracht hat. Es ist offensichtlich, dass diese notwendige léthe in erster Linie (daher aber in äquivoker Weise zugleich auch nicht nur) ein empirisch Unerinnerbares bzw. Unvordenkliches ist. Wenn man die »transzendentale« Genese dieses Scheins bedenkt, dann kann man auch verstehen, dass jener Aspekt der heideggerschen Ausführungen über die Technik höchst bedeutsam ist (und gleichwohl der Inversion des hŷsteron próteron unterliegt), demzufolge 249 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

die moderne Technik die wissenschaftliche Objektivität aufgelöst hat, aus der sie doch hervorgegangen ist. Dieser Gedanke ist nur in einem gewissen Sinne wahr: nur dann nämlich, wenn man die fragliche Auflösung im Sinne einer reflexiven Aufhebung versteht, die durch die »transzendentale« Natur der Frage ermöglicht wird; also im Sinne einer Aufhebung, welche die Objektivität nicht einfach erledigt, sondern sie immerfort als ihr empirisches Antezedens voraussetzt, so wie 157 sie auch immerfort (und zwar noch vor der von Heidegger erwähnten orthótes) die adaequatio und die anderen Gestalten voraussetzt, in denen die Wahrheit als a-létheia zum Vorschein gekommen ist. Diese Gestalten, in denen Ontogenese und Phylogenese sich überlagern und einander entsprechen, sind das empirische próteron, das sich beim Fortgang der Reflexion (d. h. bei ihrer Rückkehr zu sich selbst) unendlich an seine in der léthe versunkene »transzendentale« Bedingung annähert und sich selbst unendlich und mithin in äquivoker, niemals endgültiger Weise ins Transzendentale umkehrt. Die Grenze, der sich die reflexive Bewegung asymptotisch annähert, erweist sich an diesem Punkt auch als dasjenige, was im empirisch nicht erinnerbaren próteron immer schon am Werk ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass die heutigen Formen der Technik, die schon sehr verschieden von denen sind, die Heidegger kannte (z. B. die »Welt 3« der Informatik und das großartige work in progress der künstlichen Intelligenz, um ganz zu schweigen vom Bioingenieurwesen), einen weiteren Fortschritt darstellen, der uns in der letzten heute denkbaren Form dem próteron, dem Vorgängigen annähert. Die unendliche reflexive Entfernung vom empirischen Ursprung ist unendliche Annäherung an dessen »transzendentale« Bedingung. Dieses unvordenkliche, ja schon allein physisch unerinnerbare próteron, d. h. das próteron des eigenen phýesthai, des eigenen Erzeugtwerdens, kann uns nun aber nur durch die Erzählung, durch das mŷthòn tina diegheîsthai, dargeboten werden. Es mag sein, dass die (in Heideggers Worten) »eigentliche« und zu »eigen« gemachte Existenz diejenige ist, die sich im Vorlauf zum Tode »entwirft«; aber der nicht als eigene Wirklichkeit erfahrbare Tod ist eine letzte Möglichkeit-Unmöglichkeit, der eine erste Möglichkeit-Unmöglichkeit gegenübersteht, die ebensowenig als eigene Wirklichkeit erfahrbar ist: das Zur-Welt-gebracht-worden-sein. Während der Tod nur im Entwurf antizipiert und zu eigen gemacht werden kann, kann die Geburt nur in der Erzählung rekonstruiert und zu eigen gemacht wer250 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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den. Es ist offensichtlich, dass man sich sowohl bei der Antizipation des Todes als auch bei der Rekonstruktion der Geburt der Erfahrung bedient; aber in der Verallgemeinerung, bei der ich meine Erfahrung in Bezug auf Andere auch auf mich selbst anwende und dabei die beiden nicht erfahrbaren Grenzen der Erfahrbarkeit (die Geburt und den Tod) rekonstruiere bzw. antizipiere, in dieser paradoxen Verallgemeinerung-Analogisierung, in diesem Oxymoron, das all unsere Erfahrung einrahmt, ist der transzendentale S c h e i n der Symmetrie am Werk. Im aneignenden Entwurf des Todes, d. h. im Entwurf eines im Modus der »Eigentlichkeit« gelebten Lebens, ist der »transzendentale« S c h e i n des sich erkennenden erwachsenen Subjekts in der Weise am Werk, dass er die Objektivität der Welt im höchsten Grade mit der eigenen Subjektivität bekleidet. In der aneignenden Rekonstruktion der Geburt dagegen ist der »transzendentale« S c h e i n des erwachsenen Subjekts in der Weise am Werk, dass er die eigene Subjektivität im höchsten Grade mit der Objektivität der Welt bekleidet. 158 Die Erzählung macht uns zu eigen, indem sie uns der Objektivität des Erkannt-worden-seins ausliefert. Diese Zeitlichkeit, diese radikale und »transzendentale« Diachronie, die die Bühne des Seins entfaltetverfaltet, erfordert es, das erkennende Gesicht des Anderen als Spur zu denken. Im ersten Teil dieses Buchs waren wir dazu gekommen, von gesellschaftlicher Objektivierung bzw. vom objektiven »Geist« als einer Spur der Totalität der Gesellschaft bzw. als einer Spur ihrer »gegenwärtigen Abwesenheit«, d. h. ihrer Gegenwart in der Weise der Abwesenheit, n zu sprechen. In der Tat ist es bei einem wahrhaft zeitlichen Verständnis der Zeitlichkeit nicht überraschend, wenn man auf dasselbe »Kon-zept« der Spur zurückgreift, um damit äquivok zugleich die »differierenden« Dimensionen zu benennen, in die die Gegenwart zerfällt bzw. aus denen sie sich zusammensetzt, während sie jene Fährte der (etymologisch verstandenen) E r f a h r u n g hin-

n

Die Übersetzung interpretiert hier die Rede von »präsenter Absenz« (presente assenza), mit der die Abwesenheit als »Weise« der »Gegenwart« gemeint ist. Wie im »Vorwort« dieses Buchs meint der Ausdruck »gegenwärtige Abwesenheit« also nicht etwa eine Abwesenheit, die nur zur gegenwärtigen Zeit eine solche ist, sondern eine Abwesenheit, die jederzeit gegenwärtig ist. Dementsprechend wird der damit zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt an der im Text angesprochenen Stelle im ersten Teils des Buchs auch als »abwesende Gegenwart« bzw. »absente Präsenz« (assente presenza) bezeichnet (vgl. S. 66).

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

terlässt, welcher jeder erbauliche (rekonstruierend-entwerfende) Bewusstseinsroman, jede Phänomenologie des Geistes oder jedes iliadisch-odysseische Epos nachgeht. Nicht nur der objektive »Geist«, die Gegenwart als Abwesenheit, ist Spur, sondern auch jeder Gegenstand, jeder feste, greifbare, begreifbare, begründende »Referent«: d. h., Spur ist auch die »anwesende Gegenwart«, d. h. die Gegenwart in der Weise der Anwesenheit, o oder, wenn man so will, die Vo r h a n d e n h e i t im Sinne Heideggers, die im Italienischen durch den unglücklichen, aber mittlerweile geläufigen Begriff der »einfachen« bzw. »bloßen« Gegenwart (semplice presenza) zum Ausdruck gebracht wird. Jeder in seiner Bedeutung konstituierte und intendierte Gegenstand verweist nämlich gemäß einer nicht synchronierbaren Diachronie, gemäß einer unendlichen und niemals erfüllbaren eidetischen Variation, auf die erkennende Allokution, die mich konstituiert hat. Spur ist daher auch das Gesicht, das sich mir zuwendet und mir das Ich gibt, indem es sich »ich« nennt und »du« zu mir sagt: es ist die Spur, in der sich die Totalität der erkennenden Allokutionen synthetisiert und in einer eigentümlichen Form von Gegenwart vergegenwärtigt, die Totalität der erkennenden Allokutionen, die mittlerweile dritte Person, mittlerweile Sprache geworden sind: Sprache, die von dem zu Wort gebracht wird, der das Wort an mich richtet. Das Gesicht bedeutet, ohne auf etwas zu referieren. Zwar bringt es, wenn es sich mir in der Erfahrung zuwendet, d. h. wenn es sich mir als etwas zuwendet, was v o r h a n d e n ist, die Bühne jeder möglichen Referenz zur Entfaltung und referiert dabei sowohl auf sich selbst als auch auf mich, so dass es mir die Möglichkeit gibt, auf die Seienden zu referieren, auf es selbst zu referieren, indem ich mich ihm meinerseits zuwende, und somit auch auf mich selbst zu referieren. Aber in dieser interlokutiven Allokution ist das Gesicht immer Spur seiner Präexistenz. Die Spur als Spur der Präexistenz ist eine weitere Bedeutung von »Spur«, und dieser Begriff wäre auch nicht wirklich »äquivok«, wenn er sich – auf den dyadischen Gegensatz von Anwesenheit und Abwesenheit reduziert – im Netz des Spiels der gegenseitigen Bestimmung einfangen ließe. Die Gegenwart als Prä-senz im Sinne

o

Die Übersetzung interpretiert hier die Rede von »präsenter Präsenz« (presenza presente), mit der die Anwesenheit als »Weise« der »Gegenwart« gemeint ist. Vgl. dieselbe Redewendung auf S. 32.

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Erzählung und Kindheit

von Prä-existenz ist ein weiterer Modus, in den die Gegenwart als Mitgegenwart und Diachronie zerfällt bzw. aus dem sie sich zusammensetzt. Das Gesicht ist auch dann Spur seiner Präexistenz, wenn das Gesicht, dem ich mich zuwende (und das eben durch diese Zuwendung konstituiert, ontifiziert, analogisiert, seinerseits zum Gesicht gemacht wird), das Gesicht eines Kindes ist. Es handelt sich nämlich um keine Präexistenz empirischer Art (obwohl man durch Erfahrung 159 zu ihr gelangt), sondern um eine Prä-existenz, die buchstäblich vor der Existenz ist: vor der Existenz, die zum ersten Mal und nur auf der Bühne des Seins gegeben ist, die von der Interlokution zur Entfaltung gebracht wird. Diese Präexistenz kann nur im mýthòn tina diegheîsthai, mittels einer im engeren Sinne mythischen Erzählung zur Sprache kommen. Im weiteren Sinne ist jede Erzählung mýthòs, insofern sie als Erzählung durch die Abwesenheit dessen gekennzeichnet ist, worauf sie referiert, d. h. durch die Abwesenheit der Gegenwart; und dies gilt sowohl in dem Fall, dass die Gegenwart deswegen abwesend ist, weil das, worauf referiert wird, vergangen ist, als auch in dem Fall, dass die Gegenwart deswegen abwesend ist, weil das, worauf referiert wird, imaginär ist (die Semantik der durch Erzählung erschlossenen »möglichen Welten«). Der mýthòs der Präexistenz ist aber weder historisch noch fiktiv, weil er weder auf die wirkliche Welt, noch auf mögliche Welten, noch ü b e r h a u p t auf Welt referiert, oder besser gesagt: weil er nicht davon erzählt. Er bringt die »ethische« Differenz zur Sprache, indem er sie re-präsentiert, d. h. mittels Vorstellungen wiedervergegenwärtigt, gemäß dem, was wir mit Kants Worten als »Schematismus der Analogie« (im Unterschied zum »Schematismus der Objektbestimmung«) 19 bezeichnen könnten. Der ethische Mythos erzählt in allokutiv-interlokutiver Weise die Entfaltung der Bühne der Interlokution. Da diese Erzählung auf der interlokutiven Bühne erklingt bzw. Gestalt annimmt, deren Entfaltung sie erzählt, kann sie nicht darum umhin, ontisch Gestalt anzunehmen; aber indem sie dies tut, verweist sie auf das éthos, das nicht erscheint, sondern notwendig in der léthe versunken ist, und dessen Spur die alétheia des Gesichts ist: ein éthos jenseits des Seins. Der reflexive Bezug auf das Transzendental der Interlokution liefert zwar das Kriterium für jede Ideologiekritik, da jede Erzählung aufgrund der Tatsache, dass sie auf der Bühne der Interlokution und des Seins erklingt und Gestalt annimmt, immer ideologisch und 253 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

a u s w e r t e n d p ist. Hierin liegt das Richtige an der heutigen »Kommunikationsethik«. Aber es ist auch richtig anzumerken, dass der reflexive Bezug auf das Transzendental der Interlokution dann dem transzendentalen S c h e i n verfällt (und sich somit, entgegen der eigenen, »gutgemeinten« Absicht, der Ontologie und deren »anscheinendem« protologischem Rang unterordnet), wenn dieses Transzendental, wie es heutzutage geschieht, im symmetrischen Sinne gedacht wird. Dann nämlich verallgemeinert man den Subjektivismus des Selbsterkennens und vergisst dabei – durch ein Vergessen, das sehr wohl die a-létheia erlaubt – die Bedingung, die dieses Selbsterkennen ermöglicht und unter der es – und mithin auch dessen Verallgemeinerung – immer schon steht. Die symmetrische Verallgemeinerung ist lediglich eine Objektivierung dieser Bedingung und hat dadurch und damit kognitiven Charakter, d. h. sie erhebt Anspruch auf Wahrheit (wobei jedoch die Betonung auf das Wort Anspruch zu legen ist). 160 Es handelt sich also um eine Objektivierung, die – weil man dem transzendentalen S c h e i n verfällt – an die Stelle der analogischen und analogisierenden Schematisierung des mŷthos tritt. Das »Interesse der Vernunft«, das man auf diese Weise zu verfolgen und theoretisch auszuformulieren glaubt, kann nichts anderes als die sublimste und sublimierteste (auch im psychologischen Sinne dieses Begriffs) Form des Willens zur Macht darstellen. Und es besteht auch kein Zweifel daran, dass diese Ideologie wie maßgeschneidert zur technischen Zivilisation passt, zumal sie die theoretische Formulierung dessen darstellt, worin deren wahre G e f a h r besteht. Es ist die Frage, ob und wie die Gefahr, dass der Werkzeugcharakter der Technik in die Zerstörung der »Natur« und/oder der Tierart lógon échon umschlägt und somit (sowohl im umgangssprachlichen als auch im etymologischen Sinne) zur »Katastrophe« wird, tatsächlich mittels der Vernunft, insofern sie sublimiertes Interesse ist, ferngehalten werden kann. Die Berechnung, das reor der ratio, welches das Interesse der Spezies kalkuliert, impliziert die »scheinbare« Symmetrie der universellen Objektivierung, während die ethische und analogisierende Verantwortung der Bitte oder, allgemeiner, der Frage zuvorkommt, d. h. Antwort ist, welche die Frage konstituiert und da-

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Im italienischen Text in Klammern auf Deutsch zur Erläuterung von zwei umschreibenden Partizipien, mit denen eher das Partizip »verwertend« gemeint sein könnte.

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Erzählung und Kindheit

bei die Prä-existenz der Frage auf der Bühne des Seins zur Existenz bringt. Diesen Ausführungen, die beanspruchen (und wie könnte man es vermeiden, in seinen Ausführungen etwas zu beanspruchen?!), im höchsten Grade und wahrhaft kritisch zu sein, liegt jeder Irrationalismus und jede »Abwertung« des Kalküls der ratio fern, das nur den Wert dessen erkennt, was es kennt und an wem es ihn wiedererkennt. Aber das verantwortliche Kalkül der ratio, welches vorschreibt, die Menschheit nicht als Mittel, sondern als Zweck zu betrachten, dieses Kalkül, das im Zeitalter der Technik etwas physisch und metaphysisch als »Menschheit« betrachten muss und soll (physisch: die menschliche Spezies, metaphysisch: das menschliche Wesen), unterliegt der Krise und der Ideologiekritik seitens der Ethik als interlokutiver Asymmetrie. Die Technik, die ein Stadium erreicht hat, auf dem deren reflexives, techno-logisches Wesen und daher auch deren wesentliche, verwesentlichende Analogie mit der Sprache deutlich wird, wird in ihrer reflexiven Bewegung nur dann keine anábasis des análogon auf den logos und damit – um das ironische, aber ernst gemeinte Wortspiel fortzusetzen (das für einige gewiss im höchsten Grade lästig sein dürfte) – auch nur dann kein hé téchne technátai als Wahrheit des »d i e S p r a c h e s p r i c h t « erzeugen, wenn man sich auf die Metawerkzeughaftigkeit von Sprache als Interlokution beruft. »Metawerkzeughaftigkeit« in äquivokem Sinne: im Sinne von etwas, was jenseits der Werkzeughaftigkeit ist, aber auch im Sinne von etwas, dessen Werkzeughaftigkeit über jede andere hinausgeht, immer die letzte ist. Diese »transzendentale« Metawerkzeughaftigkeit, die eins ist mit dem »ethischen« Charakter des Interlokutors, verlangt, dass das empirische Kalkül, das dem Imperativ untersteht, die Menschheit nicht als Mittel, sondern als Zweck zu betrachten, dem transzendentalen Schein Rechnung trägt, in dem allein es sich dennoch verwirk161 licht, erfüllt und zustande kommt (»Faktum der Vernunft«). »Betrachte die Menschheit in den Anderen als Zweck und in dir selbst als Mittel zu diesem Zweck« könnte eine Formulierung des »kategorischen Imperativs« sein, welche der wesentlichen und verwesentlichenden Asymmetrie der Interlokution als »protologischer« Ethik Rechnung trägt. Sie könnte dies sein. Gewiss würde eine Formulierung dieser Art den Hiatus zwischen Pflicht und Supererogation beseitigen, aufgrund dessen allein das »Gebot« der Liebe für widersprüchlich gehalten werden kann. Eine Formulierung dieser Art 255 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

würde auch den Hiatus zwischen »Verantwortungsethik« und »Gesinnungsethik« (um hier Webers Begriffe zu gebrauchen) beseitigen; dieser Hiatus entsteht nämlich deswegen, weil das Verbot, den Menschen (d. h. jeden beliebigen Menschen, den Menschen »als solchen«, also jedes Seiende, das aufgrund seines menschlichen »Wesens« als Mensch identifiziert wird) als Mittel zu betrachten, mit sich bringt, dass die Konsequenzen von Handlungen, bei denen das »moralische Gesetz« als oberster Beweggrund in die »Maxime« aufgenommen ist, nicht berücksichtigt werden müssen. Wenn aber das menschliche Wesen Ergebnis eines Analogisierens, Erzeugens, Zur-Welt-bringens ist, dann ist eine Differenz (nämlich eben gerade eine ethische Differenz) innerhalb dessen »gegenwärtig«, was erkenntnismäßig in seinem Wesen identifiziert wird. Gegenwärtig ist sie wohlgemerkt nicht im Sinne einer Vo r h a n d e n h e i t und auch nicht im Sinne eines A n w e s e n s , das – wie wir im Verlauf einer immer eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Denken Heideggers noch detailliert sehen werden – das Sein und den Menschen in einer ethisch »tödlichen« Zusammengehörigkeit verbindet. Vielmehr ist die ethische Differenz gegenwärtig in dem bereits erwähnten Sinne einer »Prä-senz«, eines »vor dem Sein«, in dem alle Züge des »vorstellenden« Denkens klar »erkennbar« sind, und sie gebietet es daher, hieran anschließend im letzten Kapitel dieses Buchs, das Problem der Vorstellung und der Nachträglichkeit der erkenntnismäßigen Identifikation (also eben gerade der Vorstellung bzw. Repräsentation) gegenüber der Analogisierung der ethischen Differenz anzugehen. q Doch auch dieser letztere Genitiv, die »Analogisierung der ethischen Differenz«, ist wesentlich ein äquivoker Genitiv; dies spiegelt sich in dem kantisch gedacht widersprüchlichen Imperativ der Liebe wieder. In der äquivoken Analogisierung der ethischen Differenz bin ich »nur« das Mittel, um die Bedürfnisse der Anderen, auch der noch nicht konstituierten Anderen, womöglich mittels Projektion zu identifizieren und zu befriedigen, nachdem sie miteinander auch mittels Projektion verglichen worden sind. Die Verwirklichung des Interesses der Vernunft entzieht sich nur dann der Ideologie und dem Willen q Die hier angesprochenen Zusammenhänge sind auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der Begriff des »Vorstellens« im Italienischen mit dem Begriff des »Repräsentierens« (rappresentare) zum Ausdruck gebracht wird und dass im Begriff des »Repräsentierens« eine Wiederholung der Präsentation bzw. der »Präsenz« anklingt. Vgl. auch S. 108 f., 147, 159, 170 sowie insbesondere 173 ff.

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Erzählung und Kindheit

zur Macht, wenn diese Verwirklichung unter dem Zeichen der radikalen und »transzendentalen« Asymmetrie steht, bei der das Sicherkennen – das Erwachsensein – nicht zu der am weitesten entwickelten Form des In-fantilismus gerinnt, sondern das »ursprüngliche« Erkanntwerden des nicht erkennenden r Kindes umkehrt und es in 162 die Zuwendung des Erwachsenen verwandelt, der für den Anderen sorgt, ohne erkannt zu werden. Der ethische Mythos – der als Mythos oder Erzählung von der Geburt davon berichtet, erkannt zu werden, ohne zu erkennen – findet seine Vollendung im Mythos eines nicht zu eigen machenden, sondern kenotischen Todes, eines Todes, bei dem der Entwurf, der jenseits des Seins in der Erwählung zu eigen macht, eventuell der Entwurf des Anderen ist. Man könnte den christlichen Mythos bzw. die christliche Erzählung von einer Existenz, die den Tod antizipiert, mit den folgenden Worten interpretieren: usque ad mortem, ad mortem autem crucis; dabei ist das autem crucis alles andere als irrelevant, denn es bezeichnet das Verlöschen des Erkanntwerdens seitens des Anderen: das Verlöschen, das auf der Bühne des Seins in dem Schrei »mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« mit alttestamentarischen Worten zum Ausdruck kommt, die vom Sterbenden zitiert, d. h. belebt werden. s Dieses Zitat aber eröffnet offensichtlich verschiedene Probleme: angefangen mit dem Problem des Zitierens und Re-zitierens, über das Problem der »Vorstellung« bzw. »Repräsentation«, das in der von uns zitierten, zitierenden Erzählung impliziert ist, bis hin zum Problem der Invokation des Namens Gottes, in der sich der zitierte Schrei der Gottverlassenheit konkretisiert. Wir stoßen somit wieder auf die Frage der Gottesnennung, von der unsere Ausführungen ihren Ausgang genommen hatten. Zum einen hat diese Frage inzwischen eine Vertiefung in jener vokativen Dimension erfahren, von der wir bereits anfangs gesagt hatten, dass sie für die Referenz konstitutiv sei; zum anderen aber hat sie auf eine Weise Vertiefung erfahren, welche insofern die Brücken zum Begründungsdenken abbricht (nicht umsonst ertönt im Vokativ der Schrei der Verlassenheit), als sie es nicht gestattet, abermals an eine r

Das hier mit »erkennend« übersetzte Partizip Präsens riconoscente kann auch im Sinne von »erkenntlich« verwendet werden. Diese Bedeutung klingt auch hier mit an: das Kind »erkennt« noch nicht und zeigt sich daher auch noch nicht »erkenntlich«. Vgl. dazu auch S. 174 f. s Von der angegebenen Stelle auf S. 146 bis hierhin entspricht der Text im Wesentlichen dem Text des Aufsatzes MMO-111 bzw. MMO-112.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

gesellschaftliche und selbstreferenzielle Konstitution der Invokation/ Evokation zu denken. Letztere erscheint nunmehr wieder dem komplexen Spiel der intersubjektiven Allokution anvertraut zu sein, über deren Vermittlung allein die Dimension der Gemeinschaft und dann eventuell auch der Gesellschaft aufgefunden werden kann: mit all dem, was dies mit Blick auf die (im soziologischen Sinne verstandene) Differenzierung zwischen »Gesellschaft« und »Kirche« impliziert.

Anmerkungen Vgl. V. Verra, F. H. Jacobi. Dall’illuminismo all’idealismo. Torino 1962. Mathieu merkt in seiner (ebenso synthetischen wie tiefgründigen) Einleitung zum Castelli-Symposium über das Thema »Philosophie und Religion angesichts des Todes« das Folgende an: »Morior ist dasjenige Verb, das am meisten Deponens ist; nicht mehr ›man stirbt‹, sondern gleichsam ›ich sterbe mich‹ […] Zwischen dem Ich und dem Tod gibt es eine perfekte Reziprozität […] Es gibt eine stärkere Evidenz als diejenige Descartes: ›ich sterbe, also bin ich‹« (V. Mathieu, Philosophie et religion face à la mort. Introduction, in Archivio di Filosofia, 49 [1981], S. 13–14). 3 Jacobi, Werke, III, S. 209. Vor einigen Jahren hatten wir dieses Zitat unserem Buch L’esito teologico della filosofia del linguaggio di Jacobi, Padua 1970, vorangestellt. Später haben uns unsere Jacobi-Studien dazu gebracht, in anderen Schriften den metaontologischen Charakter von Jacobis Denken herauszustellen. Heute stellt sich uns die Frage, ob und in welchem Maße der Zusammenhang zwischen Ethik, Sprache und Metaontologie, den wir damals in Jacobi zu erkennen glaubten, den im vorliegenden Buch herausgearbeiteten Zusammenhang vorgebildet hat. 4 Einige wichtige Beiträge hierzu sind versammelt im ersten Teil von C. Diamond und J. Teichman (Hrsg.), Intention and Intentionality. Essays in Honour of G. E. M. Anscombe, Brighton 1979, S. 3–65. Die Diskussion ist jedoch weitergegangen und kehrt vor allem in anglophonen Philosophiezeitschriften immer wieder. Unter den jüngeren Beiträgen sind besonders von Bedeutung die Aufsätze von R. Chisholm, The First Person, Sussex 1981, und von H.-N. Castañeda, The Self and the I-Guises, Empirical and Transcendental, in C. Cramer, H.-F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Potthast (Hrsg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt a. M. 1987, S. 105–140. Natürlich kann der »kontinentale« Philosoph nicht darum umhin, diese Literatur mit den Augen von jemandem zu lesen, der über Hume und Wittgenstein hinaus auch bereits wenigstens Hegels Ausführungen über »dies« und über »ich« in der Phänomenologie des Geistes sowie Husserls Ausführungen über das eigenartige System der Bedeutung von »ich« in der ersten Logischen Untersuchung bedacht hat (die Interpretation, die Derrida diesen letzteren Ausführungen in La voix et le phénomène, Paris 19834, S. 107 ff., gegeben hat, ist unlängst von J. L. Marion, Réduction et donation, ed. cit., S. 45–47, einer scharfsinnigen Kritik unterzogen worden). Einen phänomenologischen Ansatz, der die Sprachanalyse benutzt und dem wir in verschiedener Hinsicht nicht fernstehen, vertritt E. Holenstein, Die eigenartige Grammatik des Wortes »Ich«, in Zeitschrift f. philos. Forschung, 36 (1982), S. 327–343. Ausgehend von der analytischen Tradition, aber mit Strawson über Strawson hinausgehend gelangt da1 2

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Erzählung und Kindheit gegen F. Berenson in dem schönen Band Understanding Persons. Personal and Interpersonal Relationships, Brighton 1981, dahin, sich den phänomenologischen Anregungen Merleau-Pontys zu öffnen (die schließliche Weigerung, das Problem der anderen Person analytically zu behandeln, hat jedoch offensichtlich ihre Entsprechung in dem Verzicht auf die Zentralität der sprachlichen Analyse der Pronomen). Unser vorliegendes Buch war bereits vollendet, als die bedeutsame Arbeit von P. Mühlhäusler und R. Harre, Pronouns and People. The Linguistic Construction of Social and Personal Identity, Oxford 1990, erschienen ist. 5 Eine ausführlichere Behandlung der hier angesprochenen Probleme findet sich im ersten Anhang des vorliegenden Buchs. Die verschiedenen sprachlichen und bewusstseinsbezogenen Bedeutungen von »Intentionalität« werden in dem von A. Marras herausgegebenen Band Intentionality, Mind and Language, Urbana/Ill., Chicago, London 1972, durch einige der bedeutendsten gegenwärtigen Beiträge zum Thema illustriert. 6 Diesbezüglich scheint uns die Kritik an der Intentionalität »dritter Ordnung« vollkommen angebracht zu sein, die F. Jacques gegen das bekannte Interlokutionsmodell von Grice richtet (H. P. Grice, Utterer’s Meaning and Intentions, in Philosophical Review, 78 [1969], S. 144–177); von den verschiedenen diesbezüglich relevanten Aufsätzen dieses Autors führen wir den folgenden als Beispiel an: Du dialogisme à la forme dialoguée: sur les fondements de l’approche pragmatique, in M. Dascal (Hrsg.), Dialogue. An Interdisciplinary Approach, Amsterdam – Philadelphia 1985, S. 27–56. 7 Im Hinblick auf eine Erweiterung, aber auch auf eine philosophisch bedeutsame Transformation des Problems der ökologischen Ethik innerhalb eines Rahmens, der nur unangemessen mit abendländischen Begriffen tout court als »humanistisch« und »intersubjektiv« bezeichnet werden könnte, sind die von T. Imamichi initiierten und inspirierten »Symposien« der Taniguchi Foundation über »Ökoethik« zu erwähnen (vgl. die bisher zehn Bände der Akten, die vom »Centre International pour l’Étude Comparée de la Philosophie et de l’Esthétique« in Tokyo veröffentlicht worden sind); es ist bezeichnend, dass Tugendlehre und Sollensethik – ebenso wie ethica ad homines und ethica ad res – im Denken des Initiators dieser Treffen zum Thema Ethik keine alternativen Ansätze darstellen. 8 Vgl. Anmerkung 6. Dass Habermas Parsons Thema der reziproken Reflexivität der Erwartungen aufgreift, ist offensichtlich. Es ist aber interessant festzustellen, dass Luhmann selbst in seinem Entwurf einer soziologischen Theorie der Moral von Parsons doppelter Kontingenz und von der Notwendigkeit ausgeht, sie zu enttautologisieren, auch wenn er diese Motive selbstverständlich im Kontext eines systemtheoretischen Entwurfs entwickelt, der die Differenzierung zwischen Rolle und Person als ein Produkt der Differenzierung nunmehr komplexer Gesellschaften interpretiert: vgl. N. Luhmann, Soziologie der Moral, in N. Luhmann und S. H. Pfürtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt a. M. 1978, S. 8–116, sowie Etica e società, in Mondoperaio, 35 (1982), Dezember, S. 87–92. 9 Was den ontologische Beweis und dessen Relevanz für die hier behandelten Probleme betrifft, sei es uns gestattet, auf den zweiten Anhang zu diesem Buch sowie auf unsere Einleitung zur Castelli-Tagung über dieses Thema zu verweisen: L’argomento ontologico, Padua 1990, S. 11–18. 10 Bei dem Begriff »Koreferenz« denken wir insbesondere an F. Jacques, dessen zwischen der »kontinentalen«, d. h. vor allem phänomenologischen Tradition und der logisch-analytischen Tradition angesiedelten Interlokutionstheorien besondere Auf-

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

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merksamkeit verdienen (vgl. F. Jacques, Dialogiques. Recherches logiques sur le dialogue, Paris 1979; Différence et subjectivité. Anthropologie d’un point de vue relationnel, Paris 1982; L’espace logique de l’interlocution. Dialogiques II, Paris 1985). 11 Sein und Zeit, GA I,2, S. 8. 12 Zu diesen Prozessen vgl. M. Olivetti Belardinelli, Identificazione e proiezione. Natura e caratteristiche, Bologna 19672. 13 Siehe hierzu die Zeitschrift Zygon. Journal of Religion and Science und auch außerhalb derselben die verschiedenen Beiträge ihres Direktors R. W. Burhoe und von dessen Mitarbeitern. Es ist nicht ohne Bedeutung (was auch immer diese Bedeutung letztlich sein mag), dass die Ethologie von Anfang an (nicht erst bei K. Lorenz, sondern schon bei J. S. Huxley) hinsichtlich bestimmter tierischer Verhaltensweisen, bei denen die Instinkthandlung ihre unmittelbare Funktion »verliert«, um eine andere Funktion zu »gewinnen«, von »Ritualisierung« gesprochen hat. Was den evolutionsbiologischen und ethologischen Ansatz zum Verständnis von Religion betrifft, so siehe man außerdem einige Aufsätze in B. Gladigow und H. G. Kippenberg (Hrsg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983. 14 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Viertes Stück, 1. Teil, 1. Abschnitt. 15 Vgl. A. Leroi-Gourhan, Il gesto e la parola [Le geste et la parole], ital. Übers., Torino 1977. 16 Zur Identität als idem und ipse vgl. jetzt (nach Abschluss der Arbeit an diesem Kapitel) von P. Ricoeur, Soi-même comme un autre, Paris 1990. Zu Recht untersucht F. Ciaramelli (Ipseità, alterità e pluralità. Nota sull’ultimo Ricoeur, in Aut aut, Nr. 242 [1991], S. 91–103) dieses jüngste Werk von Ricoeur und dessen jüngeres Schaffen überhaupt im Hinblick auf die »Problematik des Subjekts kollektiven Handelns«. Das ricoeursche Problem eines auf verschiedene Personen verteilten Selbst erlaubt es in der Tat nicht, das Problem der Identifikation und des Erkennens allein in Bezug auf die Personen in der Interlokution zu lösen (wovon hier jetzt die Rede ist), sondern macht es erforderlich, die dritte Person der Gesellschaft in Betracht zu ziehen, von der im ersten Teil unserer Arbeit die Rede war. 17 Vgl. die sehr interessante Arbeit von L. Baldini, Rappresentazione sociale del reale e sviluppo della comunicazione nel bambino pluriminorato sensoriale, in Studi di psicologia dell’educazione, 1982, Nr. 1, S. 28–48. 18 Am Ursprung dieser Studien: J. S. Bruner, Learning how to do Things with Words (die Tatsache, dass der Experimentalpsychologe Bruner im Titel seiner Studie Austin anklingen lässt, ist bedeutsam), in J. S. Bruner und A. Garton (Hrsg.), Human Growth and Development, Oxford 1978, und J. S. Bruner, The Organization of Action and the Nature of Adult-Infant Transaction, in G. d’Ydewalle und W. Lens (Hrsg.), Cognition in Human Motivation and Learning, Leuven 1981, S. 1–13. 19 Im Übrigen muss man sagen, dass Kants Anwendung der Theorie des Schematismus der Analogie auf die menschliche Person und auf die Moral hochgradig problematisch ist; und zwar eben deshalb, weil Kant im Sinne von Symmetrie und Verallgemeinerung der Maxime denkt: siehe die Fußnote zum Schematismus der Analogie in der Religion, zweites Stück, 1. Abschnitt, b), wo die Behauptung der Notwendigkeit, die moralische Person zu schematisieren, indem man sie als Mensch darstellt, am Beispiel der Schematisierung verdeutlicht wird, zu der sich die Heilige Schrift »bequemt«, um »selbst Unwürdigen« die Liebe Gottes »fassbar« zu machen (hier sind wir aber im Bereich der Supererogation, nicht in dem der kantschen Moral und Sym-

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Erzählung und Kindheit metrie!), obgleich wir uns durch die Vernunft »keinen Begriff davon machen können«, wie ein »allgenugsames Wesen« sich seines Besitzes »berauben« könne (dies hat aber mit einem wiederum anderen Diskurs zu tun, nämlich mit der rationalen Theologie oder vielmehr mit der »Ontotheologie« auch im kantschen Sinne dieses Begriffs, nicht aber mit der Moral!). Über diese Fußnote Kants und über den Strudel, der darin durch das Zusammenfließen verschiedener Motive erzeugt wird, lohnte es sich, ein Buch zu schreiben, und sei es nur aus Gründen der Kant-Philologie. Dieserart Fragestellungen legitimieren jedenfalls voll und ganz die Möglichkeit, von einer »philosophischen Christologie« zu sprechen, wie X. Tilliette dies tut; die Kant gewidmeten Seiten in La christologie idéaliste, Paris 1986, und in Le Christ de la philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique, Paris 1990, gehören zu den besten Darstellungen der kantschen Christologie. Darüberhinaus lassen sich dieserart Fragestellungen schwerlich in der Alternative zwischen Schematismus der Objektbestimmung und Schematismus der Analogie erschöpfen, zumal sie die Problematisierung dessen implizieren, was V. Melchiorre den »historischen Schematismus« in Kant genannt hat (vgl. den gleichnamigen Aufsatz in V. Melchiorre, Ideologia, utopia, religione, Milano 1980, S. 101–148).

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Achtes Kapitel a Metaphysische Äquivokation

b

Die Unaufhebbarkeit der »Vorstellung« und daher – ohne Widerspruch oder Paradox – die Unvorstellbarkeit Gottes ist die Antwort auf die Fragen, die sich eröffnet haben. Isoliert betrachtet könnte die Behauptung der Unaufhebbarkeit der Vorstellung an so etwas denken lassen, was man mit Heidegger als eine »metaphysische« Anschauung bestimmen müsste. Denn Metaphysik ist für Heidegger ja Vo r s t e l l u n g ; die Behauptung, die Vorstellung sei unaufhebbar, könnte danach durchaus im Sinne dessen verstanden werden, was Heidegger selbst mit Bezug auf Hegel geltend gemacht hat, in dessen Denken er nämlich den Höhepunkt der zu ihrer Vollendung gelangten Metaphysik zu gewahren meinte. All dies ist in gewissem Sinne wahr, und in gewissem Sinne entspricht es dem, was wir »abschließend« sagen wollen. Nur, dass es bei einem solchen Verständnis der These von der Unaufhebbarkeit der Vorstellung offensichtlich unmöglich wäre, gleichzeitig auch das zu behaupten, was wir, wenn auch nur vorläufig, als die Unvorstellbarkeit Gottes bezeichnet haben; oder besser gesagt: ein solches Verständnis würde es nicht erlauben, dieselbe und einzige These von der Unaufhebbarkeit der Vorstellung auch als These von

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Der Text dieses Kapitels setzt sich im Wesentlichen aus dem Text dreier Aufsätze aus den Jahren 1988–1991 zusammen, die sowohl auf Italienisch als auch auf Deutsch erschienen sind und in leicht überarbeiteter und ergänzter Form in dieses Kapitel eingearbeitet worden sind (vgl. die Tabelle im zweiten Abschnitt des Vorworts des Übersetzers). Die diesen Aufsätzen entsprechenden Abschnitte sind durch Fußnoten gekennzeichnet. b Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 176 entspricht der Text im Wesentlichen dem Text eines 1987 auf dem Internationalen Hegel-Kongress in Stuttgart gehaltenen deutschsprachigen Vortrags, der 1988 sowohl auf Deutsch unter dem Titel Religion zwischen Ethik und Ontologie (MMO-117) als auch auf Italienisch unter dem Titel Religione tra etica e ontologia (MMO-118) erschienen ist. Ein Teil dieses Aufsatzes ist zudem 1989 auf Deutsch unter dem Titel Vorstellung und Ethik (MMO-128) erschienen. Der entsprechende Textabschnitt ist durch Fußnoten gekennzeichnet.

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Metaphysische Äquivokation

der Unvorstellbarkeit Gottes auszusprechen: für Heidegger geschieht es nämlich gerade bei Hegel, dass die als Logik zu ihrer Erfüllung gelangende Metaphysik endgültig ihren onto-theo-logischen Charakter offenbart. Hier möchten wir nun aber, ganz im Gegenteil, zum Ausdruck bringen, dass der nicht aufhebbare vorstellungshafte »Ü b e r s t i e g «, der Heidegger zufolge von der ontologischen Metaphysik vollzogen wird, in äquivoker Weise immer zugleich von einem ethischem Ü b e r s t i e g begleitet ist. Diese kantisch anmutende These (die jedoch jenseits der »Reflexionsphilosophie der Subjektivität« vorsprachphilosophischer Art angesiedelt ist) möchte also die nichtkognitive H i n t e r g e h b a r k e i t der Logik und des Seins zum Ausdruck bringen, die Hintergehbarkeit also des »Kreises von Kreisen« 168 der hegelschen Logik 1 und des »umkreisenden«, von nichts anderem »eingekreisten Kreises« der heideggerschen Einführung in die Metaphysik 2. Kurzum: die Hintergehbarkeit der Ontologie. Gott, bzw. der Unvorstellbare, bzw. der Unnennbare, gehört nicht zum Sein, und das Sein ist weder ein Eigentum noch eine Eigenschaft Gottes. Gewiss, jedes Eigentum und jede Eigenschaft gehört zum Sein und ereignet sich auf der Bühne des Seins (wir möchten hier die Anklänge eines mit heideggerschem »G e h ö r « vernommenen »S i c h e r e i g n e n s « anklingen lassen). Aber der Unnennbare macht sich das Sein, dem Sein, im Sein weder zu eigen (vielmehr lässt er das Sein sein), noch ereignet er sich auch auf der Bühne des Seins, d. h. er »ist« nicht. Zweifellos ist damit schon vieles – vielleicht allzu vieles – über den Unnennbaren und Unvorstellbaren ausgesagt worden, ohne dass dabei klar wäre, ob das Gesagte wirklich einen Sinn hat bzw. haben könnte. Vieles ist bis jetzt bereits von »Ihm« (ein Pro-nomen, das sowohl »deiktischen« als auch »personalen« Charakter hat und hier »großgeschrieben« wurde, ganz davon zu schweigen, dass es sich um ein »männliches« Pronomen handelt!) gesagt worden, dem ja doch ganz positiv der Name »Gott« beigelegt wurde. Aber ist dieses Wort – »Gott« – wirklich oder immer noch wirklich ein Name? Hat dieses Wort wirklich oder immer noch wirklich eine Referenz bzw. Bedeutung? Jede Bedeutung bezieht sich auf ein hic et nunc (und sei es auch ein nunc et semper, das sich auf den »Anfang« beruft, um ihn mittels eines »so sei es« abzuschließen, welches das »und so weiter«, von Ewigkeit zu Ewigkeit, widerruft); jede Bedeutung bezieht sich also auf ein E r e i g n i s oder auf irgend263 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

etwas, das sich ereignet. Ein Gott oder der Gott kann sich ereignen; wenn sich Gott aber nicht ereignet und wenn das Wort »Gott« nicht das E r e i g n i s nennt, dann verzeichnet jene indoeuropäische Wurzel, die dereinst Zeus seinen Namen (seinen »Eigennamen«) gegeben hat, ihren semantischen Tod. c Dass dieser Karfreitag der Vorstellung eben die Erlösung des Sinnes und der Bedeutung ausmachen soll, mag schon »sein«; einstweilen ist aber klar, dass, wenn »Gott« nicht oder nicht mehr ein Eigenname ist, dies dann vor allem in Hinblick auf jenes höchste Wesen zu gelten hat, das man mithilfe dieses Namens denotieren oder konnotieren möchte – bzw. hätte denotieren oder konnotieren wollen, und das man mit dem Unnennbaren der monotheistischen Religionen identifizieren möchte – bzw. hätte identifizieren wollen. Denotieren oder konnotieren sagten wir; in der Tat, in Bezug auf das als Namen verwendete Wort »Gott« gehört das Oszillieren oder die »Äquivokation« – im etymologischen Sinne – zwischen Konnotation und Denotation ganz wesentlich der Metaphysik an, deren in jeder Hinsicht letztes Wort der Name »Gott« ist. 169 Die Möglichkeit, dass es das letzte Wort – etwa Hegels »spekulativen Satz« – gibt, ist gewiss eine Weise, das Wesen der Metaphysik zum Ausdruck zu bringen. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass die Letztheit dieses Worts eine eigentümliche ist, da sie ja besteht und ent-steht (ein Entstehen, das jegliches Bestehen in Frage stellt) in und mit der Äquivokation zwischen Denotation und Konnotation, zwischen Bedeutung und Sinn, zwischen Extension und Intension: allesamt semantische Modi, um jenen ontologischen Beweis zum Ausdruck zu bringen, der, insofern er Beweis ist, die Stimmen des Wissenden und des Unwissenden zur Einstimmigkeit und die Analogie logisch auslöschen will. Aber obwohl es den logos als gesprochene Sprache und als Stimme auslöschen will, »hinterlässt« das letzte Wort gleichwohl die Äquivokation. Von einem heideggerischen Gesichtspunkt aus findet dies seinen Ausdruck in der – von Heidegger übrigens öfters betonten – Äquivokation zwischen dem »A l l g e m e i n s t e n « und dem »H ö c h s t e n «: in jener – immer streng etymologisch aufzufassenden – Äquic Hier ist zu beachten, dass das italienische Wort für »Gott« (Dio) anders als das deutsche Wort »Gott« auf dieselbe indoeuropäische Wurzel wie das Wort »Zeus« zurückgeht und dass diese Wurzel (anders als die Wurzel des deutschen Worts »Gott«) semantisch mit der Metaphorik des »Erscheinens« von Seienden zusammenhängt.

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Metaphysische Äquivokation

vokation, die das We s e n d der Onto-theo-logie, d. h. der Metaphysik, d. h. der Vorstellung ausmacht. Von einem hegelschen Gesichtspunkt aus – und zwar zeigt sich hier eine nicht philologische, sondern tatsächliche und sachliche Kontinuität zwischen den durch Hegels Ausdruck »Vorstellung« und den durch Heideggers Verwendung desselben Ausdrucks angezeigten Problemen –, von einem hegelschen Gesichtspunkt aus also bringt die Äquivokation zwischen Denotation und Konnotation, Extension und Intension im nominellen Gebrauch des Wortes »Gott« den letzten Sinn der Philosophie Hegels zum Ausdruck: insbesondere seiner Religionsphilosophie, aber im weiteren Sinne auch seiner Philosophie überhaupt, insofern diese Philosophie letztlich in eine als Vollendung der Philosophie verstandene Religionsphilosophie mündet. Nachdem er in der »Einleitung« zu seiner religionsphilosophischen Vorlesung aus dem Jahr 1824 angemerkt hat, dass »das Absolute in der neueren Philosophie« »nicht bloß ein solches ens, […] nicht so voller Abstraktion« sei wie in der Philosophie Wolffs, unternimmt Hegel es, zu erklären, wieso das, was das »Absolute« oder die »Idee« genannt wird, trotzdem noch nicht gleichbedeutend mit dem ist, was »Gott« genannt wird. 3 Diese Erklärung erfordert, nach Hegel, dass man die Frage nach der »B e d e u t u n g d e r B e d e u t u n g « untersuche (eine Frage, die noch in unserer Zeit erklingt und vielen, die Englisch gelernt haben und daher nunmehr die Bedeutung von the meaning of meaning verstehen, als große Neuigkeit erscheint). »So wird nach zweierlei gefragt«, fährt Hegel fort. Denn entweder können wir die Vorstellung haben und fragen, was diese bedeutet. Dies heißt dann, auf die Suche gehen nach dem »S i n n « dieser Vorstellung, nach ihrem »Zweck«, nach ihrem »Begriff«. Oder wir können den Begriff haben und fragen, was dieser bedeute. Das heißt, in diesem Fall, auf die Suche gehen nach einer Vorstellung oder nach einem 170 »B e i s p i e l «. 4 In einer solchen Äquivokation oder gegenseitigen Hervorrufung von Vorstellung und Begriff also besteht und ent-steht das »S p i e l « des Sinns bzw. – in äquivoker gegenseitiger Hervorrufung der Ausdrücke – der Bedeutung. »Gott«, das letzte Wort, ist – wie sich Hegel in der angeführten d

Im italienischen Text auf Deutsch hinter zwei Begriffen, die die Doppeldeutigkeit des Terminus »Wesen« explizit machen und ihn einerseits als Nomen und andererseits als substantiviertes Verb deuten.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

Vorlesung ausdrückt – 5 »e i n B e i s p i e l , e i n B e i h e r s p i e l e n d e s « (das letztere ist ein Wort, das wir nicht ins Italienische zu übersetzen wüssten, insofern in ihm das Motiv des Hinzukommens in seinem Zuviel- und Zuwenigsein und das Motiv des Vorbeigehens anklingen, das angefangen mit Ex. 33, 20–23, zunächst einmal ein biblisches Motiv ist, noch bevor es ein hölderlinisch-heideggerisches Motiv ist: »d e r l e t z t e G o t t i s t n u r i m Vo r b e i g a n g «). Aber eben dieses Äquivozieren, dieses gegenseitige Hervorrufen bedeutet, »daß er nicht nur das im Gedanken sich haltende Wesen ist, sondern auch das Erscheinende, das sich Offenbarung, das sich Gegenständlichkeit Gebende ist« 6. Wenn diese konstitutiv äquivoke Struktur der Metaphysik es aber nicht erlaubt, die Bewegung der »absoluten Reflexion« ein für alle Mal abzuschließen, erlaubt es dann vielleicht der »Schritt zurück«, ein reines und einfaches Anwesen, eine Präsenz, die nicht mehr G e g e n - w a r t und Vo r- s t e l l u n g ist, zu erreichen? »Was b l e i b e t aber, stiften die Dichter«, wiederholt Heidegger uns mit einem Zitat. Was aber bleibt, wenn nicht die Äquivokation und das Intervall zwischen Sinn und Bedeutung? Die Hoffnung auf einen reinen (ob nun deutlichen oder anspielenden) Sinn haftet an den Ü b e r b l e i b s e l n der allen »gemeinen«, gesprochenen, gewöhnlichen Sprache, d. h. der vorstellungshaften und referentiellen Sprache, Überbleibseln, die über dem schweben, was dank der (sei es dichterischen oder spekulativen) Stiftung b l e i b e t . 7 e Die Nichtursprünglichkeit der Vo r s t e l l u n g als R e - p r ä s e n t a t i o n (Heidegger selbst unterstreicht die Äquivalenz dieser beiden Begriffe), als Wieder-vergegenwärtigung, stellt die nie endgültig »aufgehobene« und nie endgültig epochisierte (im phänomenologischen, aber auch geschichtsphilosophischen Sinne dieses Ausdrucks) Bedingung der spekulativ oder dichterisch ersehnten Rückkehr zum Ursprünglichen dar. Wenn das Intervall oder das interim der Äqui-vokation es einer jeden Stimme (vox) erlaubt, als solche laut zu werden, dann muss man gewiss an das Sein als an die Bühne denken, auf der jede entifizierende und vorstellende Nennung stattfindet (d. h. ihren Ort und ihre Zeit findet), besteht und zugleich entsteht; aber – wie wir schon wiederholt erläutert haben und auch weie

Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 176 entspricht der Text im Wesentlichen nicht nur dem des Aufsatzes MMO-117 bzw. MMO-118, sondern zudem auch noch dem des Aufsatzes MMO-128.

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Metaphysische Äquivokation

ter noch werden erläutern müssen – dieses Intervall oder interim, diese E n t z w e i u n g , diese am Ende einer jeden Odyssee, eines jeglichen épos (lat.: vox) als die Nichtursprünglichkeit aufgefundene Ilias ist in Wirklichkeit nichts anderes als die durch die Interlokution entfaltete Bühne. Eine jede vermeintliche Odyssee kann nur gesagt werden, z. B. durch einen »spekulativen Satz« oder durch eine »S a g e «. Und dieses 171 Sagen erschließt das Intervall oder überliefert es vielmehr weiter, indem es von der Verschließung der Rückkehr erzählt. Die Schauspieler dieser interlokutiven Bühne sind – im etymologischen Sinne – die Personen. Aber das, was jenseits der persona, was jenseits der »personierenden« f, d. h. verlautbarenden und die Person darstellenden Maske steht, die gesehen und gehört wird, ist nicht die Bühne des Seins. Der Ü b e r s t i e g über das hinaus, was da sagt und äqui-voker Weise seinerseits gesagt wird, d. h. der Überstieg über das Gesicht hinaus, welches das Wort an uns richtet und es »verlautbaren« lässt, ist nicht nur der Überstieg der ontologischen Metaphysik. Gewiss ist die Gegen-wart des Gesichts, welches das Wort an mich richtet, Vo r- s t e l l u n g , ja sogar sozusagen die »ursprüngliche« Vo r- s t e l l u n g (wobei aber immer zu bedenken ist, dass hier gerade die Ursprünglichkeit als solche in Frage steht). Aber eben indem diese Vorstellung einen onto-logischen Überstieg in Bewegung setzt, setzt sie zugleich auch einen Ü b e r s t i e g anderer Art in Bewegung: einen nicht kognitiven, sondern, sagen wir, ethischen Überstieg. Während der logisch-ontologische Überstieg die odysseische Rückkehr zum Ursprünglichen – welches in Wahrheit Ilias, E n t z w e i u n g ist – markiert, markiert der ethische Überstieg den Exodus und Auszug über die Bühne des Seins, über das Intervall und das interim, über die Nostalgie hinaus. Und, wenn die ontologische Rückkehr eine zueignende ist – etwa in der Gestalt des »Selbst« oder in der des »E r e i g n i s s e s « –, so ist der Auszug ein ausgesprochen enteignender; denn jedes Eigentum und jede Eigenschaft ist des Seins (äquivoker Genitiv), während der Abschied vom Sein nehmende ethische Überstieg die Bühne selbst der zueignenden Rückkehr verlässt. Dieser im Gegensatz zu jeglichem von Heidegger herausgestellten metaphysischen »Ü b e r s t i e g « überhaupt nicht nostalgische f

Vgl. die Erläuterungen zum Begriff des »Personierens« (personare) in der diesbezüglichen Fußnote auf S. 129.

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Überstieg kann, obwohl er gesagt (von Sängern besungen oder von Erzählern erzählt) werden kann, selbstverständlich nicht gekannt werden. Denn die Erkenntnis ist die Rückkehr selbst, die sich reflexiv auf der Bühne des Seins, in dem durch die Interlokution erschlossenen Intervall, verwirklicht und eben dieses Intervall zueignet. Die unaufhebbare Vo r- s t e l l u n g der »Person«, des anredenden »Gesichts«, die jede neuerliche univoke und univozierende begriffliche Rückkehr äquivok bleiben lässt, ist also der Angelpunkt, der Begegnungs- und zugleich der Scheidepunkt zwischen dem ontologischen »Überstieg« und dem »ethischen« Überstieg. Sie ist, wie man sagen könnte, der Terminus; nur, dass dieser Terminus – im Unterschied zu jedem anderen deus Terminus bzw. Janus – gar nicht durch einen doppelgesichtigen Gott vorgestellt wird. Der doppelgesichtige Gott ist abermals der Gott der ontologischen Metaphysik, der Gott, der durch die äquivoke Betrachtung (eine immer weiter verweisende Be-rück-sichtigung g) des univoken und univozierenden begrifflichen Gesichts und des bereits in seinem Aufruf zur Univokation äquivoken und äquivozierenden vorstellungshaften Gesichts Gestalt annimmt. Dieser Aufruf erschöpft nämlich keineswegs die durch die allokutive Gegenwart der »Person« in Bewegung gesetzte übersteigende Bewegung. Der ethische Ü b e r s t i e g über die »Per172 son« des Anderen hinaus ist ein Überstieg über das Sein, über das durch die Allokution erschlossene interlokutive Intervall hinaus. Diesen Terminus zu übersteigen, heißt nicht nur, eine unvermeidliche ontotheologische Metaphysik zu begründen, sondern es heißt auch, eine ethische Metaphysik (wenn man sie denn noch Metaphysik nennen möchte) zu begründen, oder besser gesagt, es heißt, die Ethik als den Bereich einer wirklichen, radikalen, nicht ontologischen Metaphysik aufzufassen. Gewiss wird auch die radikalste Formulierung des ethischen Überstiegs über das Gesicht hinaus, das sich mir zuwendet, mit der Äquivokation zu rechnen haben: sie wird nicht anders als äquivok sein können, weil sie ja auf der interlokutiven Bühne des Seins erklingt. Und trotzdem: nur wenn die Äquivokation der »Vorstellung« endgültig »aufgehoben« werden könnte (oder wenn man mit einem »Schritt zurück« von ihr zurücktreten könnte), nur dann wäre der ethische Hinweis über die Person hinaus von vornherein ausgeschlosg Im italienischen Text wird dieser Begriff mittels des auf Deutsch zitierten Begriffs der »Rück-sicht« umschrieben.

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sen, bzw. wieder eingeschlossen, sei es nun im »absoluten Wissen« oder in der »Andacht«. Bleibt aber die Äquivokation, dann geht mit der Odyssee, die bei ihrem Abschluss wieder die Ilias eröffnet, der Exodus einher. Dieser Überstieg über das Gesicht bzw. die Person hinaus nach dem Unnennbaren-Unvorstellbaren hin ist keine Rückkehr in die Heimat, keine Heimkehr ins Vaterland – auch wenn man ihn nur auf diese Weise vorzustellen vermag –, sondern er findet seinen Ausdruck vielmehr in dem Wort »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!«. Wie werden wir nun aber – natürlich ohne damit die wesentliche und verwesentlichende Äquivokation des épos zu verlassen – diesen Abschied zu sagen vermögen? Diesen Abschied, dem nicht einmal der Tod wesentlich ist, da dieser ja als vorgestellter gerade verwesentlichend ist, während das, was er – äquivok – besagt, die Abhandenheit des Entwurfs und die Enteignung ist; während das, was er besagt, das E r e i g n i s eines Willens ist, der den eigenen Willen nicht will, das E r e i g n i s eines Willens, der das Sein sein lässt und so das Sein in eben dem Moment verlässt, in dem er es sein lässt. Wie also den Abschied sagen, wenn nicht als Advent, und die Enteignung, wenn nicht als »E r e i g n i s «, und wie das Sich-verlassen sagen, wenn nicht als »G e l a s s e n h e i t «? Aber »Gott sei Dank« ist die Vo r s t e l l u n g unaufhebbar, und gerade aufgrund der Doppelgesichtigkeit des Gottes, dem Dank gesagt wird, ist es möglich, den Überstieg über das Gesicht und über das Erkennen hinaus zu vollziehen. Die Klage darüber, von Gott verlassen zu sein, ist die äußerste Form der Danksagung, die sich im Verkennen jeglichen Erkennens »ereignet«: der Sterbende erkennt den Gott nicht, von dem verlassen zu sein er sich beklagt, und er erkennt ihn nicht, weil er von den Interlokutoren nicht als Gott erkannt wird. Aber dieser Tod, oder besser: diese nicht entworfene Enteignung lässt den Gott der ontologischen Metaphysik bestehen und ent-stehen, indem sie ihn verlässt und sich selbst verlässt. Es dürfte opportun sein, etwas näher auf das sich hier abzeichnende Verhältnis zwischen Vorstellung und Erkennen einzugehen und es mit dem in Verbindung zu bringen, was wir in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet haben. Dies sollte es ferner gestatten, den zutiefst »empirischen« – und auch »transzendentalen« 173 – Aspekt eines Gedankengangs zu verdeutlichen, der so scheinen könnte, als sei er bloß rhetorisch und auf unkritische Weise kulturell bedingt. 269 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

Wir haben gelegentlich bereits das Begriffspaar »Repräsentation«-»Präsentation« verwendet und dabei die etymologische Wiederholung der Vo r- s t e l l u n g als R e - p r ä s e n t a t i o n gegen die vermeintliche Ursprünglichkeit einer ersehnten Präsentation (ob nun Idee oder etwa vom Dichter gestiftetes Wort des Seins) spielen lassen. Die Tatsache, dass die Vo r s t e l l u n g als R e - p r ä s e n t a t i o n nicht ursprünglich, sondern »immer schon« wiederholt ist, ist nun aber nicht mit wer weiß welcher verwickelten philosophischen Spekulation oder mit wer weiß welchem mehr oder weniger barocken, ja arcimboldischen Wortspiel zu verknüpfen, sondern abermals mit der Situation, in der das Kind zum ersten Mal das Gesicht wiedererkennt, das sich ihm zuwendet und es anspricht. Dieses Wieder-Erkennen ist die »erste« Erkenntnis, obwohl sie eben gerade nicht ursprünglich ist. In diesem Wiedererkennen – in der Antwort, welche die vom Gesicht des Sprechenden wiederholt entgegengebrachte Allokution schließlich pro-voziert bzw. hervorruft – »ereignet« sich die Welt als Welt des Kindes; das Kind ist jetzt kein in-fans mehr, sondern ein Sprechender. Durch die Allokution wird der Nichtsprechende subjektiviert, d. h. er wird, wie wir seinerseits gesagt haben, zur Welt gebracht, und die Welt wird ihm gegeben als seine eigene Welt und als G a b e . Zu sagen, dass die Vo r s t e l l u n g niemals ursprünglich, sondern immer schon wiederholt, immer schon R e - p r ä s e n t a t i o n ist, bedeutet abermals, den komplexen Charakter der Gegenwart – die nie bloßes Anwesen ist – zum Ausdruck zu bringen, und es bedeutet, dies unter Bezug auf eine empirische Tatsache zu tun, wie die an das Kind gerichtete Allokution eine ist. Das Vorkommen eines klassischen Ausdrucks aus dem transzendentalphilosophischen Wortschatz wie »immer schon« zieht jedoch die Aufmerksamkeit auf die einmalige Besonderheit des empirischen Faktums, auf das hier Bezug genommen wird. Die an das Kind gerichtete Allokution kann zwar auch Gegenstand der Beobachtung seitens eines Dritten sein, aber in diesem Fall ist das »immer schon« nicht im eigentlichen Sinne zu verstehen; hier hat man es in der Tat mit einem gewöhnlichen empirischen Faktum zu tun, dessen erstmaliges E r e i g n i s beobachtet bzw. erfahren werden kann. Es ist jedoch offensichtlich, dass diese Beobachtung voraussetzt, dass der Beobachter seinerseits angesprochen und dadurch überhaupt in die Lage versetzt worden ist, beobachten und erfahren zu können. Diese empirische Bedingung der Möglichkeit, die alle weitere Erfahrung des Beobachters bedingt und die in 270 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

einer empirisch unerinnerbaren léthe versunken ist, aus der jede alétheia hervorgeht, löst das Transzendentale im Nichtursprünglichen und in der Wiederholung auf (die Wiederholung der Allokutionen, die schließlich das Erkennen als Erkenntnis erzeugen). Wir können somit die mittlerweile mehrmals zutage getretene These dieses Buchs über die Gegenwart und deren Zusammensetzung bzw. Zerfall »endgültig« präzisieren: noch bevor sie Synthesis der symmetrisch gedachten Kommunikation zwischen bereits konstitu- 174 ierten Subjekten ist, ist die Gegenwart als Mitgegenwart die Vo rs t e l l u n g und prae-sentia des Gesichts des Anredenden, der mich zum Subjekt gemacht hat. Das Präfix dieser beiden Ausdrücke (Vo r bzw. prae-) ist daher eher in seiner zeitlichen als in seiner räumlichem Valenz zu verstehen: es bringt das »immer schon« einer unerinnerbaren Wiederholung zum Ausdruck. Jedes sum, das in der Apperzeption das Bewusstsein des Gegenstands begleitet, setzt sich zusammen mit dem allokutiven prae-es und mit dem ab-est der Gesellschaft, d. h. der nicht mehr bzw. noch nicht im Horizont der Wahrnehmungsgegenwart versammelten und zur Sprache gewordenen Gemeinschaft. Während aber das abest der zur Sprache gewordenen Gesellschaft – die Abwesenheit als Komponente der Gegenwart, von der unsere Ausführungen ihren Ausgang genommen haben – nunmehr leicht mit der Bühne des Seins, also mit der Bühne der Interlokution identifiziert werden kann, auf der die Seienden bestehen und ent-stehen, hat das prae-es dagegen eine besondere und äquivoke Bedeutung. Die Vorherigkeit, auf die es anspielt – und auf die es auch nicht mehr als a n - s p i e l e n kann –, ist gewiss eine ontische Vorherigkeit, sie ist jedoch gleichwohl auch eine onto-logische Vorherigkeit, d. h. eine Vorherigkeit gegenüber der Bühne des Seins und der Sprache: eine Prä-existenz, so haben wir weiter oben gesagt; ein prae-esse, so können wir jetzt radikaler sagen, solange klar ist, dass dabei die personale Flexion der »zweiten Person« weder aus den Augen verloren noch verschwiegen werden kann. Es handelt sich um eine Vorherigkeit, die nicht »aufgehoben« werden kann und vor die man nicht mit einem »Schritt zurück« zurückgehen kann, die aber im B e i h e rs p i e l e n der Vorstellung an der Seite des Begriffs unaufhörlich äquivok widerhallt. Die Entfaltung der Bühne der Interlokution bzw. des Intervalls des Seins mittels der Allokution ist daher auch Z w i e f a l t und ein Sichzurückziehen dessen, der da v o r- g e s t e l l t wird. Was auf eine 271 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

radikale und uneinholbare Z w i e f a l t anspielt, ist also nicht so sehr die höchst gegenwärtige Abwesenheit des Intervalls und des interim, sondern vielmehr der Umstand, dass sich das prae-es bei dessen Repräsentation in der Vorstellung immer schon zurückgezogen hat, immer schon vergangen und vorbeigegangen ist. Dies ist der Ort, oder vielmehr der Nicht-Ort – die Utopie, wenn man so will – der Ethik, das »Darüberhinaus« des nicht ontotheologisch-metaphysischen Ü b e r- s t i e g s . Wir haben gesagt, dass Vergils Vers risu incipit cognoscere matrem in gewisser Weise sinnbildlich für unsere Ausführungen ist. h Das wieder-erkennende i Lächeln des Kindes, das eben dadurch nicht mehr infans ist, ist die Antwort, welche endlich auf die Frage antwortet, die darauf abzielt, dessen Bedürfnisse, dessen Streben nach Selbsterhaltung zu befriedigen. Wenn aber schon die Geburt mit der Präexistenz oder vielmehr mit dem prae-es verbunden werden muss, wie können wir dann so naiv den Ausdruck »nicht mehr infans« gebrauchen? Wie kann man bestimmen, wann die Person schließlich wirklich spricht und sich nicht »einfach« narzisstisch und infantil im 175 Medium der Sprache reflektiert? Dazu kann man nur sagen: je mehr die Antwort auf die Frage antwortet, je mehr sich die Person subjektiviert, desto mehr wird das Wieder-erkennen Erkenntlichkeit und A n e r k e n n u n g , desto mehr zielt das Lächeln auf die Befriedigung des Bedürfnisses des Anderen und zwar vor allem auf die Befriedigung von dessen Bedürfnis danach, wiedererkannt zu werden: »wieder-erkannt«, weil auf die Prä-existenz bezogen; »Bedürfnis«, weil dessen Befriedigung es erlaubt, im Sein zu bestehen und zu verharren: ein Bedürfnis, dem nie völlig Genüge getan wird, sondern das umso mehr anwächst, je mehr es befriedigt wird. Aber ist dieses Dem-prae-es-nachgeben, dieses Nach-geben, welches dem in der Vorstellung Re-präsentierten nachträglich das Sein gewährt, vielleicht nicht etwa auch selbst noch Bitte darum, (wiederbzw. an-)erkannt zu werden? Ist dieses Nachgeben, auch wenn es bis zum Äußersten des mors mea vita tua, bis zum Äußersten des Zeugens und Zur-Welt-bringens durch den »eigenen« Tod geht, etwa kein zueignender Entwurf, für den es sich zu leben und zu sterben h

Vgl. S. 133 und die dortigen Erläuterungen in der diesbezüglichen Fußnote. »Wieder-erkennend« (ri-conoscente) und infolgedessen letztlich auch »erkenntlich« (riconoscente): vgl. die gleich hieran anschließenden Ausführungen auf S. 175 sowie die analogen Ausführungen auf S. 161 f.

i

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lohnt, für den es sich lohnt, das Bedürfnis des Anderen und, besser, den Anderen als Bedürfnis zu entwerfen und ihm als solchem zuvorzukommen? Durch diese »List der Vernunft« erhält sich die Art, erhält sich das menschliche »Wesen«, erhält sich das Wesen – der Akt des Seins –, erhält sich der »Wille zur Macht«, das interim immer weiter erschließend, die Bühne der Interlokution immer weiter entfaltend. Das zeugende Erkennen, das den Gezeugten, der vor dem Sein ist, im Intervall entstehen und bestehen lässt, ist äquivok sowohl Idee bzw. Begriff bzw. Sinn (der »Geist«, der »Wille zur Macht«, das »E r e i g n i s « etc.) einerseits und als auch Vorstellung bzw. Bedeutung bzw. empirische Referenz (die Eltern, der Sohn, der Nächste etc.) andererseits. Dieses zeugende Erkennen gibt dem eigenen und zueignenden Entwurf wechselseitig und äquivok zugleich Sinn und Bedeutung. Gerade deswegen kann die Ethik, als nicht einholbare Anteriorität hinsichtlich des Seins, nur als Tod Gottes ausgesagt werden. Dieser Satz: »Ethik kann nur als Tod Gottes ausgesagt werden« ist in mehrfachem Sinne gesagt, oder vielmehr nicht nur in einem Sinne, aber auch nicht in mehrfachem Sinne, denn hier, darin, dass der Tod Gottes gesagt wird, »realisiert« sich das Ein-Viele. Ein erster (referenzieller) Sinn: die Ethik kann nur mittels der (noch nicht begrifflichen) Vorstellung, d. h. nur mittels des Erzählens einer Geschichte (mŷthòn tina diegheîsthai) von Gott gesagt werden, der Mensch wird bis zum Tod, bis zu einem Tod jedoch, der kein zueignender Entwurf ist und nicht den eigenen Willen ausführt. Ein zweiter (begrifflicher) Sinn: die Ethik kann nur als jenes »philosophische«, »humanistische«, »metaphysische« Geschehen gesagt werden, das sich mit dem »Tod Gottes« als dem Ende der Ontotheologie vollendet (wo auch immer man diese Vollendung festmachen mag: bei Hegel, bei Nietzsche oder bei anderen). Wenn es nun aber nur zwei Sinne gäbe, dann wäre es leicht bzw. notwendig, der hegelschen Versuchung nachzugeben, den 176 ersteren Sinn als »Beispiel« des letzteren Sinnes zu betrachten und somit den letzteren Sinn als den letzten Sinn zu privilegieren. Daher ein dritter (im Sinne der Sprachpragmatik pragmatischer und daher äquivoker, nicht logisch reduzierbarer) Sinn: die Ethik – der Tod Gottes – kann nur gesagt werden. Das äquivoke Widerhallen des épos auf der Bühne des Seins wird diese tolle Botschaft, diese törichte gute Nachricht immer wieder zur Ontotheologie führen, aber zugleich wird es auch immer wieder den 273 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

Raum – oder vielmehr die Utopie – zu einem anderen Ü b e r s t i e g befreien: dieser ist nicht der Überstieg von der Vorstellung zum Begriff, sondern der Überstieg über die Vorstellung, über die »ursprüngliche« Vo r- s t e l l u n g der re-präsentierten Person hinaus zu dem Unvorstellbaren und Unnennbaren. In der Tat, das Seinlassen (in äquivokem Sinne: zum einen das Entstehen- bzw. Fortbestehenlassen und zum anderen das Ablassen, Überlassen bzw. Verlassen) seitens desjenigen, der auf der Bühne des Seins, d. h. im Intervall, vorgestellt wird, ist – mit der ganzen Äquivozität dieser Kopula – die Vorstellung des Unvorstellbaren. j Dieses Ergebnis aber zeigt deutlicher, in welchem Sinne wir bereits im vorangegangenen Kapitel behaupten konnten, dass die wirkliche Herausforderung für ein ethisches Verständnis von Sprache (in der ganzen Tragweite einer ersten bzw. vorgängigen Philosophie, die dieses Verständnis mit sich bringt) heute vom Denken Heideggers ausgeht. Die verschiedenen Sinne, in die wir den einzigen Sinn des Satzes »Die Ethik kann nur als Tod Gottes gesagt werden« artikuliert haben, sind allesamt und jeder für sich Ausdruck eines Verständnisses von Philosophie, das die Philosophie eben genau als mŷthòn tina diegheîsthai versteht: ausgehend vom vorstellungshaften und referenziellen Sinn (der sich auf eine wirklich erzählte und als wirklich geschehen erzählte Geschichte bezieht), über den begrifflichen und metaphysischen Sinn (im heideggerschen Sinn des Worts »metaphysisch«, durch den die Geschichte sozusagen ins Quadrat erhoben wird, als Geschichte der Philosophie und als heideggersches »G e s c h i c k « des Seins), bis hin zum sprachpragmatischen Sinne, der gegen ein Verständnis von Sprache aneckt, welches Sprache als Sprache des Seins versteht, und – mit extremer Naivität? – ein Verständnis von Sprache wagt, demzufolge die Sprechenden vor der Sprache »sind«, der sie ihre Stimme geben und die sie sozusagen »personieren«, d. h. durch die Maske ihrer Person hindurch verlautbaren lassen, k indem sie deren Intervall entfalten. Die Frage, die sich stellt, ist daher weniger die nach der Ethik als erster bzw. vorgängiger Philosophie, sondern vielmehr die nach der j

Vom Beginn dieses Kapitels bis hierhin entspricht der Text im Wesentlichen dem Text der Aufsätze MMO-117 und MMO-118, und von der angegebenen Stelle auf S. 170 bis hierin entspricht er zudem im Wesentlichen dem Text des Aufsatzes MMO-128. k Vgl. die Erläuterungen zum Begriff des »Personierens« (personare) in der diesbezüglichen Fußnote auf S. 129.

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Metaphysische Äquivokation

tatsächlichen Möglichkeit eines Denkens ohne Vorstellung. Auch Heidegger nämlich spricht im Humanismusbrief von »ursprünglicher Ethik« (GA I, 9, 356), aber offensichtlich hängt alles davon ab, sich darüber zu verständigen, was êthos und was »Ursprung« bedeutet, d. h. alles hängt davon ab, sich darüber zu verständigen, ob der êthos das Sein oder das Andere ist (d. h. alles hängt davon ab, sich zu verständigen): der Andere nicht als das Andere des Seins, sondern als andere Person, welche das Sein gibt, indem sie dessen Bühne mittels der interlokutiven Analogisierung entfaltet. Wenn man nicht dasjenige in Frage stellt, was wirklich fraglich ist, nämlich die Möglichkeit, ohne Vo r s t e l l u n g zu denken, dann läuft man offensichtlich Ge- 177 fahr, die Fragestellung zu wiederholen, auf die Heidegger eben gerade mit seinem Humanismusbrief bereits Antwort gegeben hat; ja schlimmer noch läuft man dann Gefahr, abermals die – sowohl mit Bezug auf Heidegger als auch mit Bezug auf alle anderen herausragenden Denker häufig unternommenen – Versuche zu wiederholen, aus jedem Denkentwurf die Ethik als »Anwendung« eines bestimmten Gedanken oder auch als einen daraus folgenden (und somit nicht ersten oder vielmehr vorgängigen) »Gedanken« herauszuarbeiten. Andererseits darf die scheinbare Alternative, die wir mit der Frage zum Ausdruck gebracht haben, ob das éthos das Sein oder der Andere sei, nicht im Sinne einer Kontraposition missverstanden werden, die abermals zu einer wechselseitigen Bestimmung zurückführen würde (tatsächlich haben wir auch präzisiert, dass die Rede vom »Anderen« bei dem, was oberflächlich betrachtet als eine Kontraposition erscheinen könnte, nicht im Sinne von »das Andere des Seins« zu verstehen ist). Es geht vielmehr darum, Heideggers Text aufmerksam zuzuhören, um zu sehen – also eben um zu hören –, ob nicht eventuell (oder notwendigerweise) auch darin dasjenige anklingt, was wir im etymologischen Sinne als »Äquivokation« bezeichnet haben; es geht also vielmehr darum, abschließend etwas zu versuchen, was wir – mit Heideggers eigenen Worten – als ein »denkendes Gespräch« 8 mit dem Denken Heideggers bezeichnen könnten. l Die Frage, die uns diesbezüglich als die entscheidende Frage erscheint, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben, d. h. die Frage l

Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 188 entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem Text eines Aufsatzes, der 1989 auf Italienisch unter dem Titel Pensare senza rappresentazione? (MMO-124) und 1990 auf Deutsch unter dem Titel

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

nach der Möglichkeit eines Denkens ohne Vorstellung, ist eine Frage reflexiver Art. Wenn ein nicht vorstellendes, »denkendes Denken« ein Denken ist, welches das wirklich Denkwürdige denkt bzw. welches das wirklich F r a g w ü r d i g e in Frage stellt, dann bedeutet die Infragestellung der Nicht-Vorstellungshaftigkeit des denkenden Denkens paradoxerweise – mit all der Paradoxität, welche die sich selbst einholende Reflexivität immer erzeugt – die Infragestellung der Würde selbst. Gefahr und Rettung wachsen hier wirklich zugleich; einerseits gefährdet die Infragestellung der Würde die Würde selbst und lässt den Rückfall in das Unwürdige erahnen; andererseits leuchtet nur in dieser Infragestellung die Möglichkeit auf, der Würde und ihrem Anspruch zu entsprechen. Heidegger selbst hat gewarnt: das Denken kommt nicht voran, indem es die Metaphysik übersteigt. Denn der über alles Maß hinaussteigende und zum Höchsten hinaufsteigende Ü b e r s t i e g ist die Bewegung selbst der Vorstellung; die B e - w e g u n g des Denkens auf die Würde zu sollte dann eher ein R ü c k s t i e g und ein A b s t i e g , gewissermaßen eine Erniedrigung sein, die zur »Armut der Ek-sistenz des homo humanus« (GA I, 9, 352) und zur Nähe des N ä c h s t e n hinabführt. Findet aber eine solche sich bis zur humus 178 erniedrigende Herabsetzung »auf Erden ein Maß«? Sollte nicht die Armut des Denkens – um nicht zu übersteigen, um nicht über das Maß hinauszusteigen – sich zu einer beharrenden Ausdauer – D a u e r u n d A u s d a u e r (ID 47) – anschicken, die verhindert, die Metaphysik zu beenden, sie zu suspendieren, sie zu epochisieren? Wie wir bereits gesehen haben, kann diese zugleich würdige und unwürdige Frage, die unsere »abschließenden« Betrachtungen anstimmt, auch als die Frage nach einem nicht-nostalgischen Denken formuliert werden: Ist ein Denken, ja A n d e n k e n , möglich, das nicht nostalgisch ist? In der Tat ist Vorstellung Nostalgie, Odyssee, Heimweh, Sehnsucht nach der Heimat, nach der patria, oder, psychologisch verstanden, nach der Mutter, also – wie bereits gesagt – nach dem êthos, von dem her wir gezeugt und zur Welt gebracht sind, nach der G a b e , von der her uns die Welt und unsere Ek-sistenz in der Welt gegeben wird. Dieser ethischen Frage – dieser Infragestellung der Ethik und des H a l t s f ü r a l l e s Ve r h a l t e n (GA I, 9, 361) – sollen daher unsere

Denken ohne Vorstellung? (MMO-134) bzw. (in leicht veränderter Fassung) unter dem Titel Die ursprüngliche Ethik und das Fragwürdige (MMO-135) erschienen ist.

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Metaphysische Äquivokation

»abschließenden« Betrachtungen über ein nicht-nostalgisches Denken gewidmet sein. Das skizzierte paradoxe Verhältnis zwischen Ü b e r s t i e g und A b s t i e g stellt ein wesentliches Moment des »denkenden Gesprächs« dar, das wir mit Heideggers Denken führen möchten. Wie ist ein »Schritt zurück« gegenüber einem Denken im Sinne von A n d e n k e n möglich? Denn dies ist die paradoxe Frage, mit der man sich konfrontiert sieht, sobald man das Denken ohne Vorstellung, das »denkerische Denken« in Frage stellt. Wenn der »Schritt zurück« eine »Be-wegung« des Denkens ist, das von der Metaphysik als geschichtlich und geschicklich gedachter Metaphysik her auf das Ungedachte zugeht, dann wird sich das Zurückgehen vor das Wagnis eines zurückgehenden und andenkenden Denkens nicht anders denn als eine Wiederholung der Metaphysik gestalten können, und zwar als eine Wiederholung, die sich nicht so sehr in der die Metaphysik selbst verfestigenden und übersteigenden A u f h e b u n g der Metaphysik ereignet, sondern vielmehr in der »dauernden« Erniedrigung durch ihre ewige Wiederkehr, eine Wiederkehr, die eben gerade in der Bewegung auf das Ungedachte zu und in der das Zurückgehen beseelenden Nostalgie geschieht. Heideggers tiefes und ernüchtertes Bewusstsein um die Risikohaftigkeit des Schrittes zurück kann niemals genug Beachtung finden. Heideggers wiederholte Beteuerungen bezüglich der Schwierigkeit und vielleicht der Unmöglichkeit, von der vorstellenden Sprache abzusehen, die uns geschickt ist und uns bestimmt, seine wiederholten Beteuerungen bezüglich der Vergeblichkeit des (abermals subjektivistischen, humanistischen, willenhaften) Versuchs, sich des Erfolgs des Schrittes zurück und einer von der des Logos (eben gerade auch als Sprache) verschiedenen P r ä g u n g des Seins zu versichern, sind Beteuerungen, die ernst zu nehmen sind. Eine Rückbesinnung auf die phänomenologischen Ursprünge der Bewegung des Zurückgehens kann dabei helfen, die nostalgische – 179 und darin noch metaphysische –Bestimmung des Schritts zurück zu erfassen und zu erkennen, dass er den Charakter eines Versuchs, aber auch einer Versuchung besitzt, und dass es Ausdruck von Bescheidenheit, aber auch von Hochmut ist, ihn zu wagen. In Heideggers Marburger Vorlesungen vom Wintersemester 1925–26 über L o g i k . D i e F r a g e n a c h d e r W a h r h e i t sah die phänomenologische Untersuchung des apophantischen Logos im Z u r ü c k k o m m e n dasjenige, »was aufschließt das Begegnende« 277 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

(GA II, 21, 148). Die A l s - S t r u k t u r des Verstehens wurde daher als eine »Seinsweise« verstanden, die folgendermaßen definiert wurde: »Ein je schon im Woher des Bedeutens und Verstehens sich aufhaltendes Zurückkommen auf ein Begegnendes« (GA II, 21, 148). Inwieweit nun aber modifiziert der Übergang vom Logos und seinen »Seinsweisen« zum Andenken an das noch aufgesparte und überflüssige G e w e s e n e die Bewegung des Denkens, so dass er es dem Schritt zurück erlaubt, die metaphysische »Prägung« im »Ganzen« ihres Geschicks zu erfassen? Eine Auflistung der »Verschiedenheiten« zwischen dem »Hier« und dem »Dort« – d. h. zwischen dem Denken des Wesens der Metaphysik und der phänomenologischen Analyse 9 – ist gewiss möglich, ja unerlässlich, wenn man sozusagen ein »denkendes Gespräch« herstellen will, das die verschiedenen Momente des heideggerschen Denkwegs verbindet: hier die Geschichte der Philosophie, d. h. die Metaphysik als Geschick, dort das Seiende als Begegnendes; hier das D e n k e n , dort das D a s e i n (ein D a s e i n , dessen Zeitlichkeit noch deutlich die protentive und retentive Struktur des husserlschen inneren Zeitbewusstseins erkennen lässt); hier die Zeit des Seins, dort die Zeitlichkeit des D a s e i n s , etc. Vor allem aber ist es das verschiedene Aussehen dessen, was wir provisorisch und umgangssprachlich die »Zukunft« nennen könnten, worauf wir die Aufmerksamkeit richten müssen, um die »Verschiedenheit« des »Hier« im Vergleich mit dem »Dort« der heideggerschen Sichtweise vor der Ke h r e zu erfassen: eine »Verschiedenheit«, die es erst gestattet, die S a g e des Seins anklingen zu lassen und im Logos eine »Prägung« desselben zu erfassen. An die Stelle der Protention des apophantischen Logos, kraft derer ich »immer schon weiter« (GA II, 21, 147) bin, wenn ich das erfasse, was mir innerweltlich in seinem A l s - W a s und in seinem Wo z u begegnet, tritt »hier« ein Rückzug vom schon Gedachten zum noch Zudenkenden. Wenn daher das »schon verstehende Sichbewegen in diesen Weisen des Seins«, welches mein »Sein in der Welt« ist, sich von meinem M i r- s e l b s t v o r w e g - s e i n her bewegt, um zum »Begegnenden« zurückzukommen, dann bewegt sich der Schritt zurück von dem schon Geschickten und geschichtlich Gedachten her in eine Richtung und auf ein Ziel zu, 180 die trotz der Hoffnung, dass das »Zudenkende« den »Ü b e r f l u ß « 10 seines »noch aufgesparten G e w e s e n e n « (ID 44) fließen lässt, buchstäblich unbestimmbar sind. Die B e s t i m m u n g wäre nämlich abermals ein Werk der Logik, da sie ja ein konstitutives Moment der Apophansis darstellt (wie Heidegger in der erwähnten Marburger 278 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

Vorlesung gezeigt hatte: »Aufzeigung«, »Bestimmung« und »Mitteilung« als Artikulation des Logos; vgl. GA II, 21, 133–134). Das ist der Grund, weshalb man nur durch einen umgangssprachlichen Gebrauch der Worte dazu verleitet werden könnte, die Richtung, in die sich der Schritt zurück bewegt, als »Zukunft« zu charakterisieren. Zu denken ist vielmehr das We s e n (der Seinsakt bzw. das Im-Akt-sein) des »schon Gedachten«, um sich so auf den Weg zum Andenken an das immer noch aufgesparte G e w e s e n e zu machen. Diese Aufgabe ist eben gerade die Aufgabe der Epochisierung (auch im Sinne von Beendung und Suspendierung) der Metaphysik. Heideggers »denkendes Gespräch« mit Hegel und mit dessen Logik 11 gestattet es, die »Verschiedenheit« zwischen dem »Hier« und dem »Dort« nicht nur in Bezug auf Heidegger und Hegel, sondern auch in Bezug auf Heidegger selbst als Phänomeno-logen und als Denker, der den Schritt zurück wagt, am besten zu erfassen. In Hegels Logik wird nämlich Heidegger zufolge eben gerade das Sein, das Sein selbst, »vom absoluten Begriff her und deshalb auf diesen hin« (ID 39) gedacht. Dies ist gut zu verstehen, da der Logiker Hegel – und somit der Onto-theo-logiker Hegel – das Sein als ein Seiendes und daher als ein Begegnendes und in gewissem Sinne phänomeno-logisch denkt. Hegel denkt daher in der Weise eines logisch bestimmenden Denkens (»Darauf zielt Hegel ab […] Sein ist hier gesehen [!] aus dem bestimmenden Vermitteln«: ID 39; Ausrufezeichen und Kursivschreibung von uns). Das Zurückgehen seines Denkens ist daher noch vollständig durch die b e s t i m m e n d e Protention des Ü b e r s t i e g s gekennzeichnet. In der Tat, nicht nur die Metaphysik vollendet sich in der Technik als Techno-logik, sondern erst in der totalen logischen Bestimmung des Seienden als A l s - W a s und als Wo z u , also im G e s t e l l , wird es möglich, den Schritt zurück zu versuchen. Ohne diese Vollendung der logischen Bestimmung wäre das We s e n (der Seinsakt bzw. das Im-Akt-sein) der Metaphysik nicht denkbar, und erst von der Totalisierung der Vo r s t e l l u n g im G e s t e l l , erst von der Vo l l e n d u n g des Ü b e r s t i e g s her kann sich das Andenken an die vergessene Differenz ereignen. Vorstellendes Denken und denkendes Denken fallen auf dieser dimensionslosen »Linie« 12 zusammen, auf diesem discrimen, auf dem sich jedes »Über« als ein »Zurück« vorstellt. Auf dieser unüber- 181 steigbaren Linie fallen apóphansis und Z e i g e , A u s s a g e und S a g e zusammen, auf dieser Linie bleiben Ü b e r s t i e g auf die Ferne zu 279 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

und R ü c k s t i e g zum Nächsten hin in der fibrillierenden Wiederholung, in der weglosen Bewegung dessen blockiert, was Heidegger nicht ohne Grund E n t - F e r n u n g nennt (wobei dieser durch den Bindestrich getrennte und verbundene Terminus auf eine Weise zu verstehen ist, die in dem von uns so sehr betonten, etymologischen Sinne als »äquivok« bezeichnet werden kann; vgl. z. B. ID 61). Die Ke h r e vom phänomenologischen zum denkenden Zurückgehen erzeugt ein Spiegelspiel, bei dem gleichzeitig d a s s e l b e und d a s S e l b e gedacht wird, bei dem jedes Wort, das zum Ausdruck gebracht bzw. im etymologischen Sinne »zitiert«, d. h. gleichsam sprachlich in Bewegung gesetzt und herbeigerufen wird (wir verwenden das Verb »zitieren« hier im etymologischen Sinne mit der Absicht, die zeitliche Valenz dieses Worts zu betonen), – also Heideggers eigenes Wort – re-zitiert und zu einer äquivoken Paralogie wird. Dies ist die Nostalgie – etymologisch: der »Rückkehrschmerz«, das Heimweh –, die Krankheit zum Tode, die man nicht verwindet. »Die Jähe des Augenblicks eines A n d e n k e n s « ist gleichzeitig die Unmittelbarkeit des G e g e n s t o ß e s 13, der Reflexion des Wesens. »Gleichzeitig« bedeutet, dass die Zeit selbst zu derselben Zeit im Gleichen – und in dessen Wiederkehr – verschwindet, in der das denkende Gespräch mit dem metaphysischen Denken die Verschiedenheit erscheinen lässt, indem es re-zitiert bzw. – wie Heidegger sagt – indem es »von derselben Sache in derselben Weise« spricht (ID 41). Das Zitat fährt dann bekanntlich fort: »Allein das Selbe ist nicht das Gleiche. Im Gleichen verschwindet die Verschiedenheit. Im Selben erscheint die Verschiedenheit« 14; dass aber das Re-zitieren das, was es sagt, gleichzeitig auch umkehrt, resultiert gerade aus der Gleichheit von Zeit und Zeitlosigkeit im G e w e s e n e n . Hegel hatte am Anfang der »Logik des Wesens« gesagt: »Die Sprache hat im Z e i t w o r t sein das We s e n in der vergangenen Zeit, ›g e w e s e n ‹, behalten; denn das Wesen ist das vergangene, aber zeitlos vergangene Sein« 15. Die »Resultanz« m der Zeit im Schritt zurück lässt das hegelsche G e w e s e n e mit dem in seiner Ganzheit gedachten Wesen der Metaphysik und mit der »Freilassung des überlieferten Denkens in sein noch aufgespartes G e w e s e n e s « (ID 44) äquivok zusammenfallen; sie lässt m

Der auch im Italienischen ungewöhnliche Terminus »Resultanz« (risultanza) soll hier wohl ein auch im etymologischen Sinne verstandenes »Re-sultieren« zum Ausdruck bringen, das an die Metaphorik der Ausdrücke »Schritt zurück« und »Gegenstoß« anknüpft (»Re-sultieren« bedeutet wörtlich eigentlich »zurück-springen«).

280 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

Zeit und Zeitlosigkeit äquivok zusammenfallen. Die Zeitlichkeit des e r- d a c h t e n , g e d i c h t e t e n , gezeitigten (also im etymologischen Sinne »zitierten«, zeitlich sollizitierten) Worts ist die ewige Wiederkehr der Re-zitierung. Auf der unübersteigbaren Linie der Vollendung der Metaphysik kehren sich A n d a c h t und E r i n n e r u n g äquivok ineinander um. Denn die Vollendung der Metaphysik in der Technik beendet den Überstieg, indem sie ihn vollendet, und ermöglicht es somit, reflexiv an die Vergessenheit der Vergessenheit der Differenz zu denken, ermöglicht es, sich zum ersten Mal zwar nicht an die Vergessenheit, aber an die reflexiv gewordene Vergessenheit zu erinnern, aus der die Unmittelbarkeit des A n d e n k e n s »resultiert«. Wenn es auch 182 stimmt, dass »das noch aufgesparte G e w e s e n e [des überlieferten Denkens] […] die Überlieferung anfänglich [durchwaltet], […] ihr stets voraus [west], ohne doch eigens und als das A n f a n g e n d e gedacht zu sein« (ID 44–45), so ändert dies doch nichts daran, dass man erst von der Beendung des Überstiegs und von der Vollendung der Metaphysik her an die Vergessenheit zu denken vermag. Diese Vergessenheit – das »Zudenkende« selbst – resultiert nachträglich aus der E r i n n e r u n g an die Vergessenheit der Vergessenheit als dessen, was »nicht erst die Differenz n a c h t r ä g l i c h zufolge einer Vergeßlichkeit des menschlichen Denkens [befällt]« (ID 47). Übrigens ist sich Heidegger selbst, wie schon erwähnt, dessen bewusst, dass die Technik eine äquivoke Herausforderung darstellt. Einerseits: »Der Schritt [zurück] bedarf einer Vorbereitung, die jetzt und hier gewagt werden muß; […]. Was jetzt ist, wird durch die Herrschaft des Wesens der modernen Technik geprägt« (ID 47–48). Andererseits aber: »Niemand kann wissen, ob und wann und wo und wie dieser Schritt des Denkens zu einem eigentlichen (im Ereignis gebrauchten) Weg und Gang und Wegebau sich entfaltet. Es könnte sein, daß die Herrschaft der Metaphysik sich eher verfestigt und zwar in der Gestalt der modernen Technik und deren unabsehbaren rasenden Entwicklungen. Es könnte auch sein, daß alles, was sich auf dem Weg des Schrittes zurück ergibt, von der fortbestehenden Metaphysik auf ihre Weise als Ergebnis eines vorstellenden Denkens nur genützt und verarbeitet wird« (ID 71). Warum sollte die äquivoke Resonanz des Zitats nicht ernst genommen werden, da es eben gerade die Unmöglichkeit besagt, sich dessen zu versichern, dass es als Ode statt als Parodie erklingt bzw. widerhallt? 16 Entsteht nicht das W a g n i s aus dem Bewusstsein, dass 281 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

»das Schwierige […] in der Sprache [liegt]« (ID 72)? Genügt es, die Worte emotiv mit Wert zu beladen – jeweils mit positivem bzw. negativem Wert: B e n ü t z u n g vs. B r a u c h etc. –, um die wertende und somit nihilistische Resonanz der positiv wertbeladenen Worte zu vermeiden? Gibt es überhaupt unempfindliche, unhörbare Worte? Und ist die Bewahrung der parodistischen – und das heißt der tragischen – Resonanz in der Ode selbst nicht jedenfalls ernster als die vorschnelle »Ummünzung« der »Sprache des Denkens« (des von Heidegger »versuchten« Denkens) in eine univoke »Terminologie« (vgl. ID 72)? Die tragische Möglichkeit ist (abstrakterweise) und war (in der konkreten Wirklichkeit als verwirklichte Möglichkeit) die der technischen Umkehrung des homo humanus in den homo inhumanus. Technisch ist diese Umkehrung, weil sie ja einer metaphysischen Vollendung entspringt, von der aus dank der technischen Vollendung-Erschöpfung des Ü b e r s t i e g s selbst das Zurückschreiten 183 möglich wird; technisch ist diese Verkehrung, weil der homo inhumanus der ist, der zum B e s t a n d eines nicht weiter übersteigbaren G e s t e l l s wird (Mechanisierung des Ackerbaus = programmierte Benützung der Sterblichen) 17. Gleichwohl ist diese Umkehrung eine Möglichkeit, die im äquivoken Widerhallen der Sprache impliziert ist, also darin, dass sie zugleich Sage und Aussage, Ode und Parodie ist. Zu Recht bemerkt Heidegger: »Sich in die Zwietracht wagen, um das Selbe zu sagen, ist die Gefahr. Die Zweideutigkeit droht« (GA I, 9, 363). Es ist dann aber zu beachten, dass jede Hoffnung auf die Beseitigung der Zweideutigkeit und auf Univokation Nostalgie ist und dass das »rechte Schweigen« (GA I, 9, 344) nicht weniger univok und nostalgisch ist als ein Sagen, das sich wie dasjenige Heideggers »aufspart« und darauf hofft, dass seine Aristokratie über jede (metaphysische) Äquivokation erhaben sei und so den Charakter eines Sagens annehme, das dem heilenden Zuspruch entspricht und Verantwortung ist. Es geht in der Tat darum, an eine ursprüngliche Ethik zu denken, an eine Ethik, die gegenüber der Ontologie nicht nachträglich ist und die auch nicht mit der Ontologie zusammenfällt, d. h. mit dem, was wir Ontoaxiologie nennen könnten, deren nihilistische und metaphysische Bedeutung von Heidegger vielleicht noch radikaler aufgezeigt worden ist als von Nietzsche. Es geht darum, die Aufmerksamkeit für das Ärgernis der Metaphysik und für ihre unerschöpfliche Äquivoka282 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

tion wach zu halten; es geht darum, »die Metaphysik«, anders als von Heidegger gefordert, nicht »sich selbst zu überlassen« (ZSD 25) und nicht einmal den Schmerz für ihre Unüberwindbarkeit zu lindern. Diesen Schmerz v e r w i n d e n zu wollen, ist die Nostalgie selbst, ist das Sehnen nach einer Heimat, ein Sehnen, das den Anderen verbannt. Die ersehnte »Überwindung der Heimatlosigkeit« (GA I, 9, 339) ist als solche »verfestigende Umkehrung« der Metaphysik, ist als solche »höchst vergeistigter Geist der Rache« (GA II, 21, 117), wie Heidegger selbst mit Bezug auf Nietzsche angemerkt hat. Der Schmerz, den man nicht verwinden muss, sondern den es vielmehr zu verschärfen gilt, ist der Schmerz über die Unausweichlichkeit der Vo r s t e l l u n g , als Vor-stellung des Anderen (des anderen Menschen). Darauf und nicht auf das Sein muss man a c h t e n , angesichts der Gefahr, in den Geist der Rache und in den »Widerwillen gegen das bloße Vergehen« zurückzufallen (GA II, 21, 117). Es geht hier gewiss keineswegs darum, die Problematik auf die von Heidegger zu Recht immer kritisierte moralistische und psychologistische Ebene zurückzuführen. Dies wäre keine »ursprüngliche Ethik«, sondern der naive nochmalige Vorschlag dessen, was schon Nietzsche entlarvt hatte (»Ich empfehle allen Märtyrern zu überlegen, ob nicht die Rachsucht sie zum Äußersten trieb«: man beachte, dass Nietzsche hier von Heidegger zitiert wird: GA II, 21, 109). Vielmehr geht es darum, zu verstehen, wie viel unerschöpflich Metaphy- 184 sisches in dem Denken fortbesteht, das den Schritt zurück versucht, insbesondere in der »Armut« des homo humanus, wieviel Nostalgie das »A n d e n k e n « und das Denken des »zueignend« und »vereignend« »übereignenden« »E r e i g n i s s e s « beseelt, das Denken des »A u s t r a g s « von »Ü b e r k o m m n i s « und »A n k u n f t «, das Denken des »s i c h b e r g e n in der U n v e r b o r g e n h e i t «, das Denken der »H e i m k u n f t « (dem Titel von Hölderlin zufolge) und der »E n t - F e r n u n g « zur »Nähe«, die »als die Sprache selbst [w e s t ]« und die sich als das épos ereignet, welches »das ungesprochene Wort des Seins« zur Sprache bringt (GA I, 9, 361): das épos einer immer wiederkehrenden, sich immer wieder neu schließenden und erschließenden, immer wieder neu re-zitierten Ilias-Odyssee. Die Nostalgie zeigt sich daher am deutlichsten – nicht trotz, sondern wegen der Äquivozität der Ausdrücke, die ihr Re-sonanz verleihen – im Verständnis der Sprache als »Monolog«, in welchem »[d]ie Sprache a l l e i n […] es [ist], die e i g e n t l i c h spricht. Und sie spricht e i n s a m « (GA I, 12, 254); doch gleichzeitig zeigen sich die Nostalgie 283 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

und der Geist der Rache in der äquivoken – und daher auch metaphysisch deutlichen – Terminierung eines geschichtlichen und höchst ungeschichtlichen »Seit«, wie dasjenige, das in dem Zitat »Seit ein Gespräch wir sind« widerhallt. 18 Gerade wegen dieser äquivoken Resonanz kann der hölderlinsche Vers mit einem monologischen Verständnis von Sprache und mit einem Verständnis von A n w e s e n einhergehen, wie z. B. in dem folgenden Zitat: »Anwesen (›Sein‹) ist als Anwesen j e u n d j e Anwesen zum M e n s c h e n w e s e n , insofern Anwesen G e h e i ß ist, das jeweils das Menschenwesen ruft. Das Menschenwesen ist als solches h ö r e n d , weil es ins rufende Geheiß, ins A n - w e s e n g e h ö r t . Dieses jedes Mal Selbe, das Z u s a m m e n g e h ö r e n von Ruf und G e h ö r, wäre dann ›das Sein‹ ?« (GA I, 9, 408). Die letztere Frage ist gar nicht rhetorisch, und anstatt sie univok zu beantworten, lohnt es sich vielmehr, unsererseits zu fragen: gibt es ü b e r h a u p t ein »Menschenwesen«? Auf welche Weise kann die Bestimmung, d. h. die »Auslegung des Wesens des Menschen aus dem Bezug dieses Wesens zur Wahrheit des Seins« (GA I, 9, 350–351), die Äquivokation vermeiden und hinter sie zurückgehen? Es gilt also, das Anwesen selbst als ein »je und je Anwesen zum Menschenwesen« in Frage zu stellen. Daher können und müssen wir unsererseits sagen, dass die Frage 185 einer Umkehrung und einer Wiederkehr des Rachegeistes und der Nostalgie keine moralistische bzw. psychologistische und anthropologische Frage ist; sie ist vielmehr eine metaphysische Frage, denn sie betrifft »das Wesen des Menschen«, den homo humanus: sie betrifft dasjenige, was wir, indem wir Heideggers Ausführungen zur Ontotheo-logie in geeigneter Weise uminterpretieren, ja sie uns zu eigen machen, sehr wohl das »A l l g e m e i n s t e « und das – wenn auch »arme« – »H ö c h s t e « nennen könnten (vgl. z. B. ID 55), in dem das onto-anthropo-logische Wesen der Metaphysik widerhallt. Der Schritt zurück, den man gegenüber dem heideggerschen »schon Gedachten« versuchen kann und muss, wird daher nicht den Charakter einer Entgegensetzung und einer Widerlegung haben: »Alles Widerlegen im Felde des wesentlichen Denkens ist töricht« (GA I, 9, 336) und das »Zurückbleiben hinter dem Gedachten kennzeichnet das Schöpferische eines Denkens. Wo gar ein Denken die Metaphysik zur Vollendung bringt, zeigt es in einem ausnehmenden Sinne auf Ungedachtes, deutlich und verworren zugleich« (GA II, 21, 118). Vielmehr wird der Schritt zurück gegenüber demjenigen, der 284 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

von der Metaphysik zurückzuschreiten versucht, eine Wiederholung der Metaphysik sein, eine Wiederholung, welche die Metaphysik in ihrem äquivoken Anwesen bei den Metaphern denkt, welche sie gern verlassen möchten. Es ist zwar wahr, dass »[es] das Metaphorische […] nur innerhalb der Metaphysik [gibt]« (SG, 86), aber der Sinn dieses Ausdrucks ist eben gerade äquivok. Ohne den Paralogismus der Äquivokation würde die Metapher nicht funktionieren, und es geht eben genau darum, an die Resonanz zu denken, ohne die – ohne deren B e i s p i e l 19 – die Sprache und auch das »rechte Schweigen« nicht laut werden würde. Es geht also darum, Heideggers Metaphorik, d. h. die bis zu ihrer äquivok reflexiven Struktur getriebene Metapher in Frage zu stellen, die Struktur, durch die die Metapher sich selbst sagt (die Sprache selbst als Sagen), indem sie anderes sagt, d. h. durch die sie sagt, indem sie sich widerspricht und absagt. Es geht darum, auch diese letztlich äquivok reflexive Struktur in Frage zu stellen, indem man sie mit der onto-anthropo-logischen Struktur der Metaphysik verbindet, vor der man zurückschreitet und die man doch wiederholt. Eine solche Infragestellung ist eben gerade die Infragestellung des »Anwesens« als eines »je und je Anwesens zum Menschenwesen«, d. h. es ist die Infragestellung des »Geheißes«, »das jeweils das Menschenwesen ruft«. Entweder besagt das »We s e n « des Menschen – mit dem vereinheitlichenden und v o r l i e g e n l a s s e n d e n Versammeln, das dem Logos eigen ist – in einer begreifenden Vorstellung die menschlichen Seienden, d. h. »das Allgemeinste«; oder aber das »We s e n « des Menschen besagt nicht abstrakterweise, sondern wirklich das D a s e i n , die E k - s i s t e n z , d. h. »das Höchste«, und sei es auch in der Armut dessen, worauf es als solches nicht ankommt (»das We s e n des Menschen ist für die Wahrheit des Seins w e s e n t l i c h , so zwar, daß es demzufolge gerade nicht auf den Menschen, lediglich als sol- 186 chen, ankommt«: GA I, 9, 345). Es ändert nichts daran zu sagen: »Dann müssten wir das vereinzelnde und trennende Wort: ›das Sein‹ ebenso entschieden fahren lassen wie den Namen: ›der Mensch‹ […] In Wahrheit können wir dann nicht einmal mehr sagen, ›das Sein‹ und ›der Mensch‹ ›seien‹ das Selbe in dem Sinne, daß sie zusammengehören; denn so sagend, lassen wir immer noch beide für sich sein« (GA I, 9, 408–409). Es ändert nichts, denn die »Mehrdeutigkeit« der Worte, die »wie Blumen entstehen« (GA I, 9, 423; auch hier zitiert Heidegger Hölderlin), ist eben das, was in Frage steht. Die äußerste Entmächtigung, die selbst den Versuch der Ü b e r w i n d u n g - Ve r 285 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

w i n d u n g der Metaphysik zugunsten des Denkens des E r e i g n i s s e s »überlässt«, entgeht nicht der »Umkehrung«, sondern gibt zu einer erfüllenden und im Ü b e r e i g n e n eignenden Kenose Anlass. Was immer auch die Rede vom »Menschenwesen« bzw. vom »Wesen des Menschen« als homo humanus bezeichnen mag – sei es, dass sie das Allgemeinste, oder sei es, dass sie das Höchste bezeichnet –, so bringt sie doch jeweils immer die äquivoke onto-anthropologische Verfassung der Metaphysik zum Ausdruck. Die bis an die Grenze der autologischen und mithin selbstwidersprüchlichen Reflexivität gelangte Metapher (das metaphórein als Ü b e r e i g n e n , als A u s t r a g , als E n t - F e r n u n g etc.) stellt – sich selbst in Frage stellend – die Frage nach dem Begegnenden, welches anredet, d. h. nach dem Seienden, welches wir physisch und metaphysisch »Mensch« nennen, dessen somit vorgestelltes Wesen aber nur metaphorischer Art, ja sogar nur in gewisser Weise metaphorischer Art ist: nämlich ein Wesen, das die immer schon abgesagte Metapher, d. h. die begreifende (und sich aneignende) Vo r s t e l l u n g des anredenden Anwesenden ist. Die Vergessenheit der Differenz ist nicht erst die Vergessenheit der ontologischen Differenz, sondern diese metaphysische B e s t i m m u n g (im doppelten Sinne) der Vergessenheit ist selbst – nicht mehr und nicht weniger als alle anderen reflexiven Metaphern – eine (sagend sich selbst absagende) Metapher einer unwiderruflichen Vergessenheit: derjenigen Vergessenheit, die implizit ist in dem »je schon im Woher des Bedeutens und Verstehens sich aufhaltenden Zurückkommen auf ein Begegnendes [wir würden sagen: auf ein anredendes Begegnendes]«. In dieser für die Phänomenologie – und nicht nur für die Phänomenologie – entscheidenden Frage verdichtet sich die ganze Fraglichkeit und Fragwürde des Infragegestelltwerdens. Einerseits ermöglicht erst die begreifende Vorstellung des Begegnenden-Anredenden als Menschen, die Frage nach dem Wesen dieses Begegnenden-Anredenden zu stellen: könnte diese Frage nicht gestellt werden, so wäre das denkende Denken an die L i c h t u n g und an die Wahrheit des Seins von vornherein aus187 geschlossen. Andererseits entgeht diese begreifende und (im Sinne des Begriffs) verwesentlichende Vorstellung nicht der objektivierenden Logik des »Als-was« und des »Wozu« (»wozu es dient«: GA, II, 21, 147); so, dass die technische Vollendung der Metaphysik gerade in der Transformation des (verwesentlichten) Menschen zu einem B e s t a n d des G e s t e l l s seinen äußersten und »geeignetsten« Ausdruck findet. 286 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

Wie kommt man denn dazu, sich etwas wie das »Menschenwesen« bzw. das »Wesen des Menschen« vorzustellen und/oder daran zu denken? Gibt es hier nicht eine immer schon abgesagte Metapher, ja eine abgeleitete, aber nicht mehr auf ihren Ursprung zurückführbare und immer schon in eine Vorstellung absorbierte Analogie, dank derer der Anredende mir von meinem ihm selbst »Vorwegsein« her begegnet? Die analogische – und dialogische – Paarung findet gerade in dem Vorwegsein statt, das es mir ermöglicht, zum Anredenden »als solchen« zurückzukehren: der Ausdruck »als solcher« ist jedoch in diesem und nur in diesem Fall analogisch, und zwar analogisch gemäß einer Analogie, die in diesem und nur in diesem Fall – trotz des Oxymorons – begrifflich, d. h. verwesentlichend und ein und dasselbe Wesen konstituierend ist. Die Analogie w e s t als Dialog und Gespräch: »Seit ein Gespräch wir sind«. Dennoch hat Heidegger recht damit, auf dem monologischen Charakter der Sprache zu bestehen bzw. mit Bezug auf Sein und Zeit zu sagen: »[D]ie Existenz ist hier nicht die Wirklichkeit des ego cogito. Sie ist auch nicht nur die Wirklichkeit der mit- und für-einander wirkenden und so zu sich selbst kommenden Subjekte« (GA I, 9, 343). Nur, dass die Fortsetzung dieser Stelle höchst fraglich ist, nach der das Wesen des Menschen die »›Ek-sistenz‹ […] das ek-statische Wohnen in der Nähe des Seins […] Wächterschaft, das heißt die Sorge für das Sein« sein soll. Die dieser Behauptung und dieser Vorstellung zugrundeliegende Analogie lässt die Identität des von ihr selbst durch die Paarung von Anredenden und begreifenden Angeredeten gestifteten Begriffs fibrillieren, und sie schiebt in die versammelnde und vorliegenlassende Identität des dialogischen Logos, des Gesprächs, das wir sind, des Wesens des Menschen, eine äquivoke Resonanz ein, die Spur einer immer schon vergessenen Differenz, eines immer schon vergessenen U n t e rs c h i e d s zwischen Anredendem und Angeredetem. Nur dank dieser Vergessenheit kann man – analogisch – sagen: »Das Menschenwesen ist als solches hörend, weil es ins rufende Geheiß, ins An-wesen gehört.« Die darauffolgende Frage – »Dieses jedes Mal Selbe, das Zusammengehören von Ruf und Gehör, wäre dann ›das Sein‹ ?« – ist keine rhetorische Frage; und doch erhält sie ihre ganze F r a g w ü r d e von einer vergessenen, weder hinter- noch weiter-fragbaren Würde, von einer ursprungslosen, verwischten Metapher, von einer Metapher, die unvorstellbar und unbegreifbar ist, da jede S a g e von ihr schon in der vorstellenden Analogie des menschlichen Wesens und somit des Seins als des »E s g i b t « dieses Wesens 188 287 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

eingeholt ist. Diese Metapher hallt äquivok in dieser und durch diese Analogie wider, dank derer jede S a g e laut wird und widerhallt. Die reflexive, autologische und selbstwidersprüchliche, ihre eigene Sage sagende und absagende Metapher (z. B. das »Sich-in-Unverborgenheit-bergen«, die »Ent-fernung« usw.) ist (?) die immer schon verwischte Spur einer nicht nur immer schon vergessenen, sondern auch etymologisch ab-soluten »Würde«: einer Würde, die nicht in Frage gestellt werden kann und die sich auch der äquivoken – reflektiert-unmittelbaren – »Jähe« des A n d e n k e n s entzieht. Eine unwürdige Würde. »Würdig« ist die »Sorge für das Sein«; unwürdig und metaphysisch und der Sorge für das Sein nicht eingedenk ist die Sorge für das Seiende, welches anredet: die Sorge für den Anredenden, der immer schon vorgestellt, gewertet und a u s g e w e r t e t , immer schon in seinem dienlichen »Wozu« begriffen worden ist, zu dem man dank des »Zurückkommens« vom eigenen »Vorwegsein« in demselben Moment kommt, in dem man an ihn als an den Anredenden in der verwesentlichenden und analogisierenden Sorge für den Anderen als anderen Menschen denkt. »Würdig« ist das abwesende »Anwesen«, das »jeweils das Menschenwesen ruft« und das »je und je Anwesen zum Menschenwesen [ist], insofern Anwesen Geheiß ist, das jeweils das Menschenwesen ruft«. Unwürdig, metaphysisch und der ontologischen Differenz nicht eingedenk ist das sich immer schon zurückgezogen habende Anwesende, welches ruft, anredet, geheißt: der Rufende, Anredende, Geheißende, dessen Sorge – in äquivokem Sinne: die Sorge für ihn und seine Sorge für mich – immer Wille zur Macht ist; eine liebevolle, subjektivierende, und zwar subjektivistisch subjektivierende, d. h. analogisierende und dadurch vermenschlichende, verwesentlichende, dadurch jedoch sich der Differenz bemächtigen wollende Sorge. n Aber vielleicht eben deswegen kann Ethik – die ethische S a g e – nur als Tod Gottes gesagt werden, ja als Tod des menschgewordenen Gottes. Gewiss, des so unwürdig, metaphysisch und physisch v o rg e s t e l l t e n Gottes. Denn was vermenschlicht, wenn nicht die Analogie der Vorstellung? 20 Und außerdem, wo ist denn wirklich die ben

Die Übersetzung folgt hier der berechtigten Interpretation, welche die Reihung der Attribute zum Begriff der »Sorge« in der deutschen Version (MMO-134) des diesem Textabschnitts zugrundeliegenden Aufsatzes MMO-124 erfährt. Im italienischen Text sind diese Attribute eigentlich ohne die erläuternden Einschübe »und zwar«, »d. h.«, »und dadurch« und »dadurch jedoch« aufgelistet.

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Metaphysische Äquivokation

greifende, vermenschlichende und verwesentlichende Analogie, die Analogie, die sein lässt? »Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet« (Ps. 22, 7). o Das Paradox ist also dasjenige einer Vo r- s t e l l u n g , die nach dem Ebenbild des Unvorstellbaren und Unnennbaren analogisiert. Das Paradox?! Vielmehr die Äquivokation: die Äquivokation ohne bzw. vor dem Widerspruch. Immer vor jeder Identität und jeder Differenz (gibt es) die Ähnlichkeit. Aber was »ist« Ähnlichkeit? Das logische, ontologische, metaphysische Erkennen von Identität und Differenz, das Erkennen, das 189 diese ontische Frage stellt und zu beantworten beansprucht, beansprucht, den Raum und die Zeit – das interim – der Ähnlichkeit in der Erkenntnis – in der Gnosis – aufzuheben: jenes interim, in dem anderer-seits – zum anderen hin bzw. vom anderen her – jede Identität fortdauert und jede Differenz differiert. Wer ist »wirklich« der Ein-bildende p und wer der Ein-gebildete? Wer ist »wirklich« der Ebenbildende und wer der Ebengebildete? »Dies« lässt sich nicht anders sagen als mit dem Todeswort Gottes. Dieser äquivoke Genitiv bedeutet gewiss zum einen das Wort, das den Tod Gottes zum Ausdruck bringt, aber er bedeutet zum anderen auch, dass das Wort der Tod Gottes ist. Das Wort »ist« Tod Gottes. So sehr es auch ein flatus vocis ist, so »ist« das Wort doch nicht Geist, und es ereignet sich daher auf der Bühne des Seins als (belebender) Tod. Das Wort »ist« nicht Geist, insofern es auf der Bühne des Seins widerhallt; insofern es ist, ist das Wort Zeichen, d. h. es ist (nicht), sondern es vergeht, indem es ist, indem es sich zum Zeichen macht und bezeichnet, d. h. indem es sich streicht q und verweist. Die Streichung bzw. der Strich ist das, was bleibt. D. h.: die Schrift, der Buchstabe ist das, was bleibt. Das Wort hinterlässt kein Zeichen, denn es ist (hinterlassenes) Zeichen. W a s b l e i b e t , a b e r, stiftet die Dichter, könnte man mit der ernsten Ironie des Chiasmus sagen. Das Zeichen, die Streichung bzw. der Strich, die

o Von der angegebenen Stelle auf S. 177 bis hierhin entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem Text der Aufsätze MMO-124, MMO-134 und MMO-135, die an dieser Stelle bzw. nach der ersten Hälfte dieses Absatzes enden. p Vgl. die Ausführungen zum Begriff der »Ein-bildung« (immaginazione) auf S. 130 ff. sowie die diesbezüglichen Erläuterungen im vierten Teil des Vorworts des Übersetzers. q Gemeint ist ein Streichen, das auslöscht (cancellare).

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

Schrift, das Fleisch des Worts enthüllt die Äquivokation und verhüllt sie zugleich wieder. r s Das fortwährende »anarchische« Frühersein des Buchstabens oder des Fleisches (oder des A n z e i c h e n s , um es mit einem Begriff aus Husserls erster Logischer Untersuchung zu sagen) im Vergleich mit dem Geist ist ein erscheinendes, wenn nicht scheinbares Frühersein. Aber dieses Frühersein, das, insofern es ist, erscheint und auf die Welt und ans Licht (der Welt) kommt, hat eine Ergänzung, die nicht erscheint und nicht sichtbar ist (bzw. die nicht erscheint, wenn nicht entstellt und selbst ver-ändert): den Blick, der den Buchstaben anschaut und ihn belebt, indem er ihm (dadurch, dass er ihn assimiliert,) den Geist gibt oder zurückgibt, und zwar deswegen, weil der Blick (die theoría) selbst geistig ist, insofern er nicht erscheint. Ohne solche Gleich-zeitigkeit von Buchstaben und Lektüre, von Zeichen und Blick, ohne diese Ergänzung, wobei die Gegenwart immer zusammengesetzt, zweifach und nie einfach ist, spricht der Buchstabe nicht an. Ein Zeichen, das nicht anspricht, das nicht bezeichnet, ist kein Zeichen bzw. es »ist« einfach nicht; aber kein Zeichen »ist« Zeichen, wenn nicht für den geistigen Blick, der es erneut und gleichzeitig zum ersten Mal zum Wort, zum Logos werden lässt. Das Verlassen des Logozentrismus ist die Umstellung-Entstellung »selbst«, die es ermöglicht, das Zeichen und seine Allokution (wieder-)zu(–) erkennen. Die Gleichzeitigkeit ist Äqui-vokation: Wer ruft, wer antwortet? In der Tat verlautet die vox, d. h. die Stimme, die vocat und clamat, nie in der Wüste, sondern immer erst in dem Zwischenraum und in der Zwischenzeit, in und zu einer Zeit also, die läuft und deswegen nicht »bleibt«, weil sie »selbst« zusammengesetzt, d. h. Mitgegenwart »ist«. Es gibt verbum, das Wort geschieht, e r e i g n e t s i c h nur als solche Zusammensetzung. Das Wort ist kom-plex, kom-pliziert; Die Z w i e f a l t der Mitgegenwart »ist« Vervielfältir

Im Sinne von lat. re-velatio: das Zeichen »enthüllt« (rivela) und »verhüllt wieder« (ri-vela). s Von hier bis zu der angegebenen Stelle auf S. 196 entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen dem Text des zentralen Teils eines Aufsatzes, der 1991 auf Italienisch unter dem Titel Intorno alla »Filosofia del segno« di J. Simon: parola, scrittura, religione (MMO-138) und 1992 auf Deutsch unter dem Titel Wort, Schrift, Religion (MMO-150) erschienen ist. Der diesem Textabschnitt im Wesentlichen entsprechende zentrale Teil dieses Aufsatzes ist 1992 in leicht erweiterter Fassung auch noch einmal separat auf Deutsch unter dem Titel Unser täglich Brot: Wort und Schrift (MMO-149) erschienen.

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Metaphysische Äquivokation

gung und Kommunikation, Komm-union. Aber solche Kommunikation und Kommunion, solche Einheit aus Duplizität, aus Zwiefalt also, und aus Gemeinschaft »ist« nie ein-fach geistig; als ob sie sinnvoll 190 sein könnte, ohne sinnlich und leiblich zu »sein«. Ganz im Gegenteil. Die Sprache – wie dies von Herder angemerkt wurde und wie es heutzutage, von Gehlen bis Apel etwa, wiederholt wird – die Sprache ermöglicht, bei der Befriedigung des Bedürfnisses und bei der Selbsterhaltung, den Mangel an Instinkt zu kompensieren, der jenes besondere Tier be-zeichnet, das das zóon lógon échon »ist«; andererseits aber, und eben deswegen, stellt die Sprache nichts anderes dar als die Fortsetzung jenes primären Instinkts, der das einverleibende und wiedervereinigende Saugen des (noch) nicht sprechenden Säuglings (in-fans) ist. Die Sprache ist die Fortsetzung dieser ernährenden Einverleibung, bzw. Inkorporation, bzw. Kommunion, also dieser leiblichen Ein-Zwei-Vielheit. Wenn wir sagen, das Wort sei eine in der Zusammenfügung von Geist und Buchstaben, von Blick und Zeichen geschehende Einheit, so bedeutet das auf keine Weise, gegenüber der Vielfalt der Sinne gleichgültig zu sein oder sie als gleich gelten zu lassen. Denn die Ernährung, ja die instinktive Ernährung durch Saugen und, allgemeiner, die Befriedigung der primären Bedürfnisse setzen vor allem und notwendigerweise den Tastsinn, sodann den Geschmacks- und Geruchssinn voraus (die beiden letzteren sind evolutionär und kulturell rezessive Sinne). Erst nachher und nicht notwendigerweise verlangt die Befriedigung des Ernährungsbedürfnisses und der anderen primären Bedürfnisse den Gehörsinn und den Gesichtssinn, die bei tauben und blinden Menschen auch fehlen können. Trotzdem sind Geist und Buchstabe zwei Namen, die geschichtlich den beiden Grenzen dessen gegeben wurden, was im Intervall bzw. im interim statt-findet t; diese geschichtliche Tatsache entspricht dem Vorrang, der in der Kultur des Abendlandes (d. h. in der Kultur der idéa bzw. der Eule der Minerva) dem Gesichtssinn zugeschrieben wird. Die Theorie kann verschiedene Erklärungen eines solchen Vorrangs, von den spekulativsten bis zu den empirischsten, angeben und im letzteren Falle etwa die Tatsache anführen, der Gesichtssinn sei t

Das Verb »statt-finden« übersetzt hier den Ausdruck »ha-luogo«, bei dem durch den Bindestrich der Umstand betont wird, dass er nicht nur im geläufigen Sinne von »stattfinden«, sondern auch im wörtlichen Sinne von »eine Statt bzw. einen Ort haben« zu verstehen ist. Vgl. auch die analoge Verwendung dieses Verbs auf S. 15.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

(wie wir bereits angemerkt haben) der am meisten kortikalisierte Sinn. Nachdem die Befriedigung des Bedürfnisses und die Art und Weise, wie es befriedigt wird, zum Logos geworden ist, d. h. nachdem die Befriedigung des Bedürfnisses sowohl in evolutionstheoretischer und phylogenetischer Hinsicht wie auch in entwicklungstheoretischer und ontogenetischer Hinsicht erst einmal rational und sprachlich geworden ist (lógos, légein, lingua, d. h. Zunge, langue, oder Bewegung der Zunge, langage), wird das orale Saugen vergessen. Dann kommt zunächst dem Gehörsinn der Vorrang zu – jedes Glauben und jedes Sich-anvertrauen geschieht ex auditu –, sodann dem Gesichtssinn: nicht mehr also dem Vertrauen und dem Sich-anvertrauen des Glaubens, sondern der Sicherheit des Sehens. Diese wiederum ermöglicht bzw. setzt imstande, zu b e - g r e i f e n und mit der Hand zu greifen, immer aber nach dem nunmehr vom Auge abgeschätzten und berechneten Abstand (die Rechnung als reor, also als ratio, nach der zuvor erwähnten, von Heidegger hervorgehobenen Etymologie). So findet sich der Logos im Zwischenraum und in der Zwischenzeit, im Intervall zwischen Blick und Zeichen eingeschrieben. Er wird zum Fleisch, d. h. er findet sich einfach hineingeschrieben. u Er wird v 191 selbst zum Zeichen. Ja, dieses Zum-Zeichen-werden ist immer schon Vergangenheit, ist immer schon ein Faktum. Factum infectum fieri nequit. Man kann nur verdrängen und vergessen mit der Folge, dass das Verdrängte umso mächtiger wirkt, als es nicht erkannt ist. Dies geschieht – wie uns scheint – im Fall der gegenwärtigen Grammatologen. Suchen wir unsererseits aber nun ein besseres Verständnis. Es ist zweifellos wahr, dass der Stimme, im Unterschied zum Gesichtssinn, die Eigenschaft zukommt, »autophonisch« zu sein, insofern sie den Sprechenden zur gleichen Zeit affiziert wie den Hörenden. Dies ist wiederholt bemerkt worden, zuerst von Mead und später auch von Derrida und Sini. Die Selbstverortung oder genauer gesagt die Bestimmung des »eigenen« S t a n d p u n k t s – die deutsche Sprache erlaubt es, das Wort »Gesichtspunkt« zu vermeiden, das bereits den Gesichtssinn privilegiert – erfolgt also anders, je nachdem ob sie u

Im italienischen Text heißt es eigentlich nur: »Er wird zum Fleisch«. Der erläuternde Satz ist eine Hinzufügung in den deutschen Versionen des diesem Textabschnitt zugrundeliegenden Aufsatzes. v Im italienischen Text heißt es wörtlich eigentlich nicht »Er wird zum Zeichen«, sondern »Er macht (sich zum) Zeichen« ((si) fa segno). Vgl. die terminologisch analogen, aber kontextbedingt jeweils etwas anders übersetzten Formeln auf S. 189 und 196.

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Metaphysische Äquivokation

mit Rücksicht auf den Gehörsinn oder auf den Gesichtssinn erfolgt. Während im ersten Fall der Sprechende sich hört und sich also als S t a n d p u n k t von außen her erkennt, d. h. vom Intervall her, in dem seine Stimme lautet, stellt im Falle des S t a n d p u n k t s als Gesichtspunkt die Lokalisierung den Nullpunkt des Raumes dar, 21 und eben deswegen kann sie nur durch die verändernde, entstellende Umstellung reflexiv werden. Dies gilt übrigens auch, mutatis mutandis, für den S t a n d p u n k t des Anderen. Denn auch im Fall, in dem das alter ego als solches, d. h. als S t a n d p u n k t verstanden wird, geschieht das nur unter der Bedingung, dass es als ein anderer Nullpunkt analogisiert und somit selbst umgestellt und bis zur (anderen) Grenze des Intervalls verschoben wird. Wir werden darauf zurückkommen. Dank der sogenannten »Autophonie« kommt dem Gehörsinn eine Art Reflexivität zu. Eine solche Eigenschaft ist unter sämtlichen Sinnen nur dem Gehörsinn und dem Tastsinn gemeinsam. Denn der Geschmackssinn kommt nicht in Frage, weil man sich nicht von sich selbst ernährt. Jede Autophagie widerspricht der Selbsterhaltung und dem conatus in suo esse perseverandi. Der Geruchssinn ist »blind« in Bezug auf einen selbst. Das Sprichwort sagt: unicuique suum bene redolet. Das ist eine Redeweise, die sagen will, dass der Geruchssinn in Bezug auf einen selbst keine bzw. wenig Unterscheidungsgabe besitzt, so wie übrigens im Fall von all dem, woran man gewöhnt ist und worin man wohnt; der Geruchssinn erfüllt also nicht bzw. wenig die selektive und deswegen sinnhafte Funktion (hier könnte jemandem der Luhmann des Sinns als Komplexitätsreduktion einfallen), dank welcher man sich bei dem aufhält, was befriedigt, und sich von dem entfernt, was nicht befriedigt. Man kann nicht nicht bei sich selbst bleiben, insofern wenigstens, als man sich erhalten will, und das ist der wahre Sinn des bene redolere des lateinischen Sprichworts. Der Gesichtssinn schließlich ermöglicht es zwar, einen Teil des eigenen Leibes zu sehen, aber nicht das eigene Gesicht, d. h. nicht das, was sieht, den Gesichtspunkt. Die Reflexion – die das Selbst einsetzt und ihm statt-gibt w – kann dann nur durch den Reflex von anderem gew

Der Ausdruck »statt-geben« übersetzt hier den Ausdruck »dare-luogo«, bei dem durch den Bindestrich der Umstand betont wird, dass er hier nicht nur im geläufigen Sinne von »veranlassen«, sondern auch im wörtlichen Sinne von »eine Statt bzw. einen Ort geben« zu verstehen ist. Vgl. auch die analoge Verwendung dieses Verbs auf S. 20.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung 192 schehen, dem Spiegel etwa, aber das nur im Nachhinein. Zuerst ist es

notwendig, von dem anderen Sehenden, vom anderen Gesicht erkannt und anerkannt worden zu sein. Nur der Gehör- und der Tastsinn sind eigentlich selbstreflexiv; so, dass man sich fühlt, im Grenzfall auch ohne sich berühren und ohne zu berühren, nämlich kinästhetisch, und dass man sich hört, im Grenzfall auch ohne zu sprechen, nämlich durch den inneren Monolog, die »Stimme des Gewissens« – die übrigens gerade zufolge dem, was man so sagt, nicht univok »ich muss«, sondern äquivok »du sollst« sagt – etc., d. h. durch keine wirklich gehörte, sondern nur »eingebildete« Stimme, wie man nochmals mit einer Sehmetapher zu sagen pflegt. Warum aber diese wiederkehrende Sehmetaphorik, dieser alle anderen Empfindungen umgreifende Gipfel, von dem her sämtliche darauffolgende sinnliche und sinnhafte Metaphorik wiederholt wird, dann aber immer im Lichte oder – wenn man so will – innerhalb der L i c h t u n g einer vorausgesetzten Sehmetaphorik? Die Antwort »leuchtet ein«, sie ist »evident« und ermöglicht eine Kritik jeder angeblichen Phänomenologie des Sinnlichen, welche die Sinne gegeneinander absondern würde. Dies geschieht dagegen allzu oft und ist bei einer ersten Analyse wohl auch notwendig. Eine erste Analyse – im etymologischen Sinne des Wortes »Analyse« – ist zweifellos unumgänglich, wenn man in der Phänomenologie des Sinnlichen klar und »deutlich« (distincte) sehen will. Aber eine solche Analyse ist nur das Messer des eine Leiche zerlegenden Anatomen, wenn sie nicht zur ursprünglichen Synästhesie des lebendigen Leibes zurückkehrt. Es ist gerade solche Synästhesie, solches Mitspielen der Sinne, was in der umgreifenden und wiedereinholenden Eigenschaft der Sehmetaphorik Ausdruck findet. Dieses Mitspielen bestätigt somit nochmals und höchst bedeutungsvoll den Vorrang des Gesichtssinns – der idéa, der theoría – in jener Sprache bzw. in jener Kultur, die sich eben durch solche Metaphorik ausdrückt. Der Verweis auf die Synästhesie und auf die Rolle des Gesichtssinns in ihr stellt aber nur dann keine Banalität dar, wenn man sich auf die Bedingungen ihrer Aktivierung besinnt: schließlich sind die Sinne – der Überlieferung nach – rezeptiv und passiv, und sie »fühlen« sich als solche. Die Reflexivität, durch die sie sich als solche »fühlen«, ist eine Grenzsinnlichkeit und stellt somit die Grenze der Reflexivität dar, wie es sich aus dem paradoxen Ausdruck »sich rezeptiv fühlen bzw. passiv fühlen« ergibt. In der Tat, bei der De-finition der Sinne als passiv greift nochmals die ratio bzw. der Logos ein: eine 294 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

ratio, welche über die Empirie hinaus und an der Grenze der Empirie arbeitet. Von der sinnlichen Grenze her kommt der Logos auf sich selbst zurück mit einer kreishaften Bewegung, die ihn als Selbst definiert und nicht als anderes – ohne welch anderes bzw. ohne Begrenzung hinsichtlich dieses anderen der Logos sich dennoch nicht als Selbst de-finieren könnte. Diese Reflexivität nun, welche die synästhetische Grenze voraussetzt und von der her allein sie zu ihrer Rückkehr auszieht, diese Reflexivität des Logos also ist die Reflexivität des zwischen Buchstaben und Lektüre eingeschriebenen Wortes. Denn – um es noch einmal zu wiederholen – die synästhetische Aktivierung der Sinne geschieht durch die Allokution des Erwachsenen an das Kind. Nur durch diese Aktivierung werden die beiden reflexiven Sin- 193 ne, der Tastsinn und der Gehörsinn, wirklich reflexiv. Würde das Kind nicht zum Adressaten des Wortes des Anderen gemacht, würde es nicht dadurch als Grenze, als die andere Grenze des Intervalls zwischen Frage und Antwort konstituiert – d. h. im etymologischen Sinne b e - s t i m m t –, käme das Kind nie dazu, sich selbst zu identifizieren (auch wenn – wie wir im ersten Teil des Buchs angemerkt haben x – ein sich in einer solchen Lage befindendes Subjekt, in bedeutungsvoller Ironie der Worte, »autistisch« genannt wird). Wenn aber die zugleich in der Mit-gegenwart ego und alter ego affizierende Stimme schließlich geteilt – mit-geteilt – werden kann, wenn sie schließlich wechselseitig auf den einen und auf den anderen, als meine und deine Stimme, als Frage und Antwort bezogen werden kann, so ergibt sich das (im artspezifischen Normalfall) aus dem Gesicht, welches das andere Gesicht sieht, das sich mir zuwendet und mich anspricht. Das Wort, das insofern geteilt ist, als es mitgeteilt ist, das insofern Kommunikation ist, als es sozusagen Kommunion und Gemeinschaft ist, das insofern reflexiv ist, als es ego und alter ego gemeinsam ist, als es gleichzeitig Selbst und anderer, Mitgegenwart ist, ist also die zeitliche und g e z e i t i g t e Fortsetzung der Reflexivität des Tastsinns, ja des Kon-takts des sich an der Brust ernährenden Mundes. Auf diese Weise wird die Sprache zur Kompensation des Mangels an Instinkt und ermöglicht es, mit dem Logos die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, nachdem sie von dem sprechenden Erwachsenen befriedigt wurden, der dem Kind sein Gesicht zuwandte und es ansprach und für es sorgte und es, indem er es stillte, von einem Nichtsprex In Wahrheit ist weder im ersten noch in anderen Teilen des Buchs von einem »autistischen« Subjekt die Rede.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

chenden – in-fans – zu einem Sprechenden werden ließ, d. h. zu jemandem, der seinerseits in der Lage ist, sein Gesicht zuzuwenden und anzusprechen. Auf diese Weise aber – d. h. durch solche Interaktion zwischen Erwachsenem und Säugling – nimmt auch der Gesichtssinn seine hinsichtlich der anderen Sinne umgreifende Rolle an. Wenn das Wort im Intervall und im interim, innerhalb der Mitgegenwart von ego und alter ego lautet, dann geschieht und – mit Heidegger gesprochen – e r e i g n e t s i c h dies deswegen, weil das Gesicht im Gesicht des anredenden und mit-teilenden und sich mit-teilenden Anderen eben das Zeichen von all dem erblickt. Der Gesichtspunkt, der sich selbst nicht sieht, stellt den gesehenen Anderen in einen Abstand in Bezug auf sich selbst und ermöglicht dadurch, die draußen lautende Stimme als im Intervall der Mitgegenwart lautende Stimme zu begreifen, d. h. als wechselseitig eigene und des Anderen Stimme, je nachdem ob die sie bezeichnende Gemeinschaft von dem sich auf den Gesichtspunkt richtenden Gesicht des Anderen, oder aber von dem sich auf das Gesicht des Anderen richtenden Gesichtspunkt herkommt. Dass das Gesicht des Anderen ein solches sei, wird natürlich empirisch gefolgert, etwa daraus, dass der Gesichtspunkt sieht, dass der Andere sein Gesicht dem Anredenden zuwendet, wenn er angesprochen wird, d. h. daraus, dass er sieht, dass der Andere antwortet. Aber diese Empirie ist eine einmalige Empirie; sie überschreitet die Grenzen der Erfahrung zu gleicher Zeit bzw. in dem gleichen Augen-blick, in dem sie jede Erfahrung ermöglicht und jeder wirklichen Erfahrung statt-gibt, d. h. sie zustande kommen lässt, und alles Notwendige bzw. alles not194 wendig bestimmt. Solche einmalige Empirie ist – um es mit kantschen Worten und im Anschluss an den vorhin gehörten Widerhall der »Postulate des empirischen Denkens überhaupt« zu sagen – eine »Analogie der Erfahrung«, wobei der Genitiv nicht nur subjektiv, wie im kantschen Ausdruck, sondern auch – nochmals äqui-vok und gleich-zeitig – objektiv verstanden werden muss, d. h. auch als etwas, das nur analog »Erfahrung« genannt werden kann; denn das Sehen des anderen wird so wenig gesehen wie der eigene Gesichtspunkt. Es geht also um eine »anarchische« Analogie, d. h. es geht um keine eigentliche Analogie, die angeeignet und zugeeignet werden kann; es geht vielmehr um eine »Analogie«, die nur analog bzw. metaphorisch als eine solche verstanden und gesagt werden kann; aber nicht deswegen, weil sie von der eigentlichen Analogie her abgeleitet wäre, sondern – umgekehrt und im Sinne einer Umkehrung, die nicht mehr 296 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

ihrerseits Umkehrung ist – deswegen, weil sie ursprünglicher ist als jedwede Analogie und daher der uneinholbare, anarchische, antiphrastische »Ursprung« des Logos »ist«. Von der Einschreibung des Wortes zwischen Gesichtspunkt und Zeichen, zwischen Lektüre und Buchstaben her geschieht sämtliche synästhetische Wiederholung der anderen Sinne, insbesondere des ursprünglichen Tastsinnes, sowohl beim Ausstrecken der Hand, um zu zeigen oder um zu greifen, als auch im Be-greifen des Zeichens seitens des interiorisierten und zu eigenem bzw. allgemein gemachten Logos (insofern eigen als all-gemein und insofern allgemein als eigen). Wenn aber die Schrift bzw. das Zeichen nur in dem Maß solches ist, als es »abgelesen« wird, dann stellt jede weitere, den Logozentrismus zu dekonstruieren beanspruchende, also entstellende Umstellung des Logos nichts anderes dar, als eine weitere Teilung und Mitteilung der Ernährung des eingeschriebenen, fleisch- bzw. zeichengewordenen Worts. Dessen ist sich Derrida sehr wohl bewusst: Man denke nur an das fiktive Gespräch zwischen Heidegger und den Theologen am Ende von De l’esprit, 22 wo die Theologen sprechen, ohne dass die Widerrede Heideggers anderes als eine Erwiderung darstellen kann. y Dennoch, wenn auch das espacement der Stimme von Derrida selbst ausdrücklich behauptet wird, auch wenn die Grammatologie prinzipiell nicht darauf abzielt, einen Graphozentrismus an die Stelle des Logozentrismus zu setzen, so bleibt es doch dabei, dass der Versuch, den Buchstaben als das mortuum zu verstehen, das der Geist belebt, tatsächlich und gegen alle Absicht eine Art von unbewusstem, verdrängtem und desto wirksameren Spiritualismus darstellt. Die Schrift bzw. das Zeichen als solche zu erkennen, ist schlechthin die Handlung des Geistes, d. h. des unsichtbaren Gesichtspunkts, und nicht des Fleisches und Blutes: eine Handlung, die für immer den Vorrang des Geistes gegenüber jeder Leiblichkeit festschreibt, zumal sie allein dank dieser Handlung belebt erscheint. Zu unterstellen, dass der Buchstabe tot sei und dass er nur im Augenblick der An-schauung ins Leben zurückgerufen werden kann – zu einem Leben, hinsichtlich dessen es auf keine Weise möglich ist, zu behaupten, es sei sein ursprüngliches Leben (auch in dem Sinne, dass es auf keine Weise mögy

Im italienischen Text endet der Satz eigentlich nach dem Hauptsatz. Der erläuternde Nebensatz ist eine Hinzufügung in den deutschen Versionen des diesem Textabschnitt zugrundeliegenden Aufsatzes.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

lich ist, zu behaupten, der Buchstabe sei »ursprünglich« Buchstabe 195 gewesen), denn der Ursprung ist immer schon in der Spur ver-

wischt –, das also zu unterstellen heißt, die leibliche Ernährung des Geistes (genitivus obiectivus) zu verkennen (oder vielmehr zu ü b e rs e h e n , weil man sie von oben herab und herablassend als etwas »Niederes« und daher unzureichend betrachtet); es heißt, die leibliche Ernährung des Gesichts durch das Opfer des sich im Intervall verteilenden und mit-teilenden Wortes zu verkennen. Solches Verkennen und Übersehen ist aufs Äußerste geistig und phänomeno-logisch (auch in dem strengen Sinne, dass es den Logos zur Sehdimension zurückführt und auf sie »reduziert«); d. h. es ergibt sich bloß aus der Irreflexivität des Gesichts, das sich selbst nicht sieht und sich eben dadurch anmaßt, sich als Selbst und als Identität zum Unterschied von den empirischen Erscheinungen festzusetzen. Die empirischen Erscheinungen sind in allen Sinnen unterschieden bzw. differenziert: Sie sind von der geistigen und sehenden Identität unterschieden. Sie sind unter sich unterschieden. Sie unterscheiden »sich in sich selbst« – wie man antiphrastisch sagen muss –, weil sie keine sub-stantia sind bzw. haben und eben deswegen auf andere Zeichen bzw. auf andere Sinne hinweisen. Gerade gegen solche Unterscheidung in allen Sinnen zielt die phänomenologische Reduktion: die phänomeno-logische Zurückführung und Reduktion möchte die sich unterscheidende Erscheinung in die sehende Identität einholen. Aber die Vielheit der fortschreitenden Reduktionen ist bedeutungsvoll: die »phänomenologische« Reduktion im engen Sinne, die »eidetische« Reduktion und so weiter mit »Reduktionen in den Reduktionen« 23, auf einem Weg, der selbst Zeichen einer Unbeständigkeit ist, die sich bewegt von dem Traum geleitet, die Erscheinung endlich festzusetzen und sie in der Identität des Gesichtspunkts zu verankern. Am Ende des Traums führt diese Bewegung vielmehr zur Fluktuation des Gesichtspunkt auf die Undurchsichtigkeit der Lebenswelt oder – so könnte man auch sagen – zum Versuch eines »Schrittes zurück« in das »Ungedachte im Gedachten« 24. Wir kennen eigentlich keinen Geist ohne die Vermittlung des Fleisches bzw. des eingeschriebenen und geschriebenen, sich teilend und sich mit-teilend ernährenden Wortes. Wird es dann nicht radikaler sein, zu erkennen, dass jedes espacement des Worts und jede ihm zukommende graphische Eigenschaft immer schon vorausgesetzt hat, dass man sich durch Analogie den »anderen« Gesichtspunkt ein-gebildet hat?! Es geht darum, zu erkennen, dass der Logos eben im 298 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation

analogen, einverleibten, zeitlichen, geschichtlichen, sprachlichen, worthaften Sinn be-zeichnet ist; es geht darum, seinen unvordenklichen, uneinholbaren analogen Ursprung zu »erkennen« (wobei das Wort »Ursprung« offensichtlich antiphrastisch, d. h. im analogischen Sinne verwendet ist), statt seine ihm unterstellte, vermeintlich wohlbekannte Geistigkeit und Geistlichkeit anzuführen. Deswegen sprachen wir vorhin von der analogen Umstellung des Gesichtspunkt des Anderen an die andere Grenze des zeitlichen Intervalls, d. h. des interim, das durch die Mitgegenwart zweier Gesichter erschlossen wird. Es ist klar, dass eine solche zusammengesetzte 196 Gegenwart radikal und konstitutiv diachron ist. Sie ist ein interim zwischen zwei durch die Allokution (ja durch die Äqui-vokation) analogisierten Gesichtern. Die Gesichter werden analogisiert, metaphorisiert, ineinander übersetzt, obwohl das eine Gesicht Gesichtspunkt und das andere Gesicht Zeichen ist: ein Zeichen, das vom Gesichtspunkt als jenes Zeichen gelesen wird, das selbst Gesichtspunkt ist. Das Wort setzt die geteilte und mit-geteilte Identität fort, die vor der Zeitigung des infans vom Tastsinn ausgemacht wurde. Durch die als solche verstandene Allokution wieder-holt die unsichtbare Hand des Gesichtspunkts den mündlichen, oralen Kon-takt 25. z Die Katastrophe der Transzendentalphilosophie in die Philosophie des Zeichens hinein, der analoge Ursprung jedweder Logik, die Umkehrung des Identifizierenden und Definierenden und End-gültigen in die Verschiebung und in das Verlassen der nostalgischen Rückkehr (äquivoker Genitiv) hinein, dies ist der »Mühe« wert, dass man es weiter bedenkt. Die Spur der Transzendentalphilosophie an der Philosophie des Zeichens zeigt sich und löscht sich zugleich aus in einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die be-stimmte Zeichen analogisiert, indem sie sie als Gesichter, als menschliche Wesen ausdeutet. Das Ende der vorstellungshaften Metaphysik, das Ende der Ontotheologie, hört nicht auf, sich in eine analoge und interimistische Anthropo-logie hinein zu vollenden: eine Anthropologie ad interim, eine Anthropologie der Zwischenzeit, innerhalb derer die Stimme des Imperativs ertönt, welche im Sein zu Verantwortlichen, d. h. zu Ernährern der Anderen, d. h. zur Ernährung der Anderen z

Von der angegebenen Stelle auf S. 189 bis hierhin entspricht der Text im Wesentlichen dem Text des zentralen Teils des Aufsatzes MMO-138 bzw. MMO-150. Der nachfolgende, letzte Absatz dieses Kapitels entspricht dem ersten Absatz der Erweiterung, die dieser zentrale Teil im Aufsatz MMO-149 erfahren hat.

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung

macht. Natürlich ertönt diese den Menschen bestimmende Stimme erst bei der (An)erkennung der Anderen als Zeichen, als gleiche Zeichen, als Gleiche, die Zeichen geben und sich als Zeichen hingeben aa und dadurch – durch diese letzte Hingabe und durch diese Hingabe des Letzten – jeder Antwort das Leben schenken.

Anmerkungen Jubiläumsausg., Band V, S. 351. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 19662, S. 156. Da wir in diesem letzten Kapitel sehr häufig Heidegger zitieren werden, werden wir, um allzu viele Endnoten zu vermeiden, die Stellenangaben in Klammern in den Text einfügen und dabei die folgenden Abkürzungen verwenden: GA für Gesamtausgabe, Frankfurt, seit 1975, gefolgt von der Angabe der »Abteilung« (in römischen Ziffern), des »Bands« (in arabischen Ziffern) und der Seite; ID für Identität und Differenz, Pfullingen 1957; SG für Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957; ZSD für Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969. Besonders hellsichtige Ausführungen über die »Unhintergehbarkeit« des Seins bei Heidegger finden sich bei P. De Vitiis, Heidegger e la fine della filosofia, Firenze 1974, S. 34 ff. 3 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil I, Einleitung. Der Begriff der Religion, hrsg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1983, S. 34. 4 Vgl. ibid., verbatim. 5 Ibid., S. 35. 6 Ibid. Die Äquivokation ist allumfassend: man vergleiche den Chiasmus, den gegenüber der zitierten Passage diejenige Passage aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte darstellt, in der Hegel zunächst sagt, dass »die Natur Gottes« »das erhabenste Beispiel [des Geistes]« ist, und dann wie folgt fortfährt: »eigentlich ist sie nicht ein B e i s p i e l ( B e i - h e r- s p i e l ) , sondern das Allgemeine, das Wahre selbst, von dem alles Andere ein Beispiel ist« (Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 19555, S. 59). Uns scheint, dass sich Hegel nicht fernstehende Motive bei P. Prini, L’ambiguità dell’essere, Genova 1989, ausmachen lassen. 7 P. Montani (Il debito del linguaggio, ed. cit.) hat faszinierende Seiten über den Kontrast geschrieben, in dem Jakobson sich gegenüber Heidegger bezüglich des Verhältnisses zwischen Gespräch und Dichtung zu befinden glaubt: bei Heidegger, der Höl1 2

197

aa

Im italienischen Text ist eigentlich nicht wörtlich von »Zeichen geben und sich als Zeichen hingeben« die Rede, sondern von »Zeichen machen und sich zu Zeichen machen« (fare segno e fare di sé segno, vgl. die terminologisch analogen, aber kontextbedingt jeweils etwas anders übersetzten Ausdrücke auf S. 189 und 190). Dementsprechend ist im Folgenden auch eigentlich nicht wörtlich von »Hingabe«, sondern von »Streichung« (cancellazione, vgl. S. 189) die Rede. Dennoch folgt die Übersetzung hier der Interpretation, die dieser Passage in MMO-149 gegeben wird, da sie im gegenwärtigen Kontext das Gemeinte eleganter und unmissverständlicher zum Ausdruck bringt.

300 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation derlins Vers W a s b l e i b e t a b e r, s t i f t e n d i e D i c h t e r mit dem Vers S e i t e i n G e s p r ä c h w i r s i n d verbindet, ist dieses Verhältnis ein direktes Verhältnis; bei Jakobson, der den ersteren Vers vielmehr mit der letzten A u s s i c h t von HölderlinScardanelli und mit der dadurch dargestellten Auflösung der »Gesprächskompetenz« verbindet, ist dieses Verhältnis dagegen ein umgekehrtes Verhältnis. 8 Heidegger verwendet den Ausdruck »d e n k e n d e s G e s p r ä c h « zum Beispiel für seine Auseinandersetzung mit Hegel in seiner Schrift Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (ID 41, passim). Bei Heidegger handelt es sich dabei selbstverständlich um einen Ausdruck, der ein bestimmtes Verhältnis zwischen Denken oder vielmehr zwischen »wesentlichem« Denken einerseits und Sprache sowie Geschichte andererseits impliziert. Was unsere Verwendung dieses Ausdrucks in der vorliegenden Schrift betrifft, so möge der Umstand genügen, dass wir uns hier mit dem Denken Heideggers auseinandersetzen, auch wenn diese Auseinandersetzung dann Auswirkungen auf Heideggers Verständnis des Geflechts von Denken, Sprache und Geschichte haben sollte. 9 Auch bezüglich der Ve r s c h i e d e n h e i t und bezüglich dem »Hier« bzw. »Dort« als Begriffen, die ein nicht personalistisches (bzw. humanistisches), denkendes Gespräch bezeichnen sollen, vgl. man Heideggers »denkendes Gespräch« mit Hegels Logik in dem Aufsatz über die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik. Die Verwendung dieser Begriffe erscheint umso angemessener, als auch die in Frage stehenden Betrachtungen Heideggers Betrachtungen über die Logik sind: »dort« – in Logik. Die Frage nach der Wahrheit – besonders über die klassische aristotelische Logik, »hier« – in Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik – besonders über die Logik in ihrem Höhepunkt bei Hegel und, wie man durch einen genauen Textvergleich zeigen könnte, ganz besonders über die Einleitungen zur »Lehre vom Sein« und zur »Lehre vom Wesen«: wir glauben – auch wenn dies selbstverständlich ist bzw. sein sollte –, dass man das, was Heidegger in seinem Aufsatz schreibt, nicht tiefgehend verstehen kann, wenn man sich nicht die – auch wörtlichen – Entsprechungen mit den genannten Einleitungen Hegels und die Ke h r e vor Augen hält, die in diesen Entsprechungen beständig stattfindet (Ke h r e ist hierbei in gewisser Weise in dem Sinne zu verstehen, der diesem Begriff in den unlängst veröffentlichten Beiträgen zur Philosophie gegeben wird). 10 Zum nicht bloß quantitativen und metrischen Sinn von »Überfluß« vgl. man dasjenige, was in den Beiträgen über das Ü b e r- m a ß gesagt wird (GA III, 65, 249). 11 Vgl., wie gesagt, den zweiten Teil von ID. 12 Wir spielen hier offensichtlich auf die Ausdrucksweisen und Probleme von Heideggers Schrift Zur Seinsfrage an, die auf Über die Linie von E. Jünger Bezug nimmt. 13 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, »Die Lehre vom Wesen«, § »Die setzende Reflexion«. 14 Vgl. auch »Darum sagen die wesentlichen Denker stets das Selbe. Das heißt aber nicht: das Gleiche« (GA I, 9, 363; passim). In Anbetracht dessen, was wir über das We s e n schon gesagt haben und noch sagen werden, scheint es uns wichtig, zu betonen, dass hier von w e s e n t l i c h e n Denkern die Rede ist. 15 Ed. Lasson, Leipzig 1923, Bd. 2, S. 3. Es ist klar, dass sowohl Hegel als auch Heidegger von We s e n als von der »Wahrheit des Seins« sprechen, obwohl sich – wie Heidegger in den B e i t r ä g e n mit einer Behauptung anmerkt, die uns in unseren Thesen in höchstem Grade bestätigt – »[a]uch in der Wahrheitsfrage […] die Ke h r e auf [drängt]: We s e n der Wahrheit und Wahrheit des Wesens« (GA III, 65, 288). Für

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Dritter Teil: Prä-Existenz und Vorstellung einen theoretischen Dialog zwischen Hegel und Heidegger auf Grundlage des Wesens als Vergangenen ist die Interpretation von V. Vitiello (vgl. Dialectica ed ermeneutica: Hegel e Heidegger, Napoli 1979) weiterhin bedenkenswert. 16 Vgl. jetzt in den Beiträgen: »Jedes Sagen des Seyns hält sich in Worten und Nennungen, die, in der Richtung des alltäglichen Meinens des Seienden verständlich und in dieser Richtung ausschließlich gedacht, als A u s s p r u c h des Seyns mißdeutbar sind […] Diese Schwierigkeit ist durch nichts zu beheben, ja der Versuch dazu bedeutet schon die Verkennung alles Sagens vom Seyn. Diese Schwierigkeit muß übernommen und in ihrer We s e n s z u g e h ö r i g k e i t (zum Denken des Seyns) begriffen werden« (GA III, 65, 83). 17 Vgl. Heideggers Worte aus dem unveröffentlichten Vortrag Die Gefahr, die in W. Schirmacher, Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg i. B. 1983, S. 23–25, wiedergegeben werden; zum Beispiel: »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und das Aushungern von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben« (S. 25). Diese Worte haben Widerhall gefunden: vgl. den Artikel im Spiegel vom 18. August 1986 (R. Ringguth, Führer der Führer), der dann von Habermas ohne weitere Verweise in seiner Einleitung zum Buch von Farias verwendet worden ist (diese Einleitung ist zunächst auf Italienisch erschienen in Micromega, 1988, Nr. 3: vgl. S. 117). 18 In der Tat präzisiert Heidegger die eben zitierte Passage auf folgende Weise: »Doch einsam kann nur sein, wer nicht allein ist« (GA I, 12, 254). 19 In dem Aufsatz über die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik schließt Heidegger aus, dass es wirklich ein B e i s p i e l davon gibt, wie die S a c h e des Denkens s i c h v e r h ä l t , insofern dies ein e i n z i g a r t i g e r S a c h v e r h a l t ist und das We s e n des Seins d a s S p i e l s e l b e r i s t . Doch Heidegger sagt dies genau in dem Moment, in dem er ein Beispiel anführt, und dieses Beispiel ist ein Beispiel, das von Hegel stammt und die Frage betrifft, welchen Sinn es hat, ein Beispiel zu geben. Heideggers Schlussfolgerung hinsichtlich der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, einem Diskurs durch ein Beispiel eine Präzision zu verleihen, wie sie der analytischen Philosophie genehm wäre (Beispiel als Spezifikation eines Genus, Beispiel als Fall einer Regel), ist auch noch mit Hegel gedacht (die Regel wird nämlich von Heidegger als »dialektisches Gesetz« gedacht bzw. exemplifiziert: vgl. ID 64–66). All dies überzeugt uns von der Möglichkeit und Angemessenheit, das Wort B e i s p i e l in dem Sinn zu gebrauchen, der in dessen Etymologie anklingt, zumal wir – da wir hier von nichts anderem als von Vo r s t e l l u n g handeln – auch gegenwärtig haben, was Hegel selbst, wie wir gesehen haben, über die Vo r s t e l l u n g als B e i s p i e l im etymologischen Sinne gesagt hat. Eben dieser etymologische Anklang ist im Falle Heideggers hinsichtlich der Sprache geltend zu machen, die sich anklingen lässt (vgl. nicht zuletzt das, was man jetzt über das Z u s p i e l lesen kann: GA III, 65, drittes Kapitel) 20 Einen – bedenkenswerten – Versuch, das klassische Thema der Analogie auf der Grundlage der Zeitlichkeit der Interlokution zu denken, findet man bei B. Casper, Analogie. Ein Hinweis auf die Möglichkeit, sie zeitlich zu denken, in R. Mosis und L. Ruppert (Hrsg.), Der Weg zum Menschen, Festschrift f. Alfons Deissler, Freiburg – Basel – Wien 1989, S. 219–233. 21 Vgl. C. Sini, La destrutturazione del discorso, in Archivio di Filosofia, 55 (1987), S. 39–55, und E. Holenstein, Die eigenartige Grammatik des Wortes »Ich«, ed. cit. 22 J. Derrida, De l’esprit. Heidegger et la question. Paris 1987.

302 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Metaphysische Äquivokation Es mag sein, dass die »Reduktion in der Reduktion« zu einer »inneren Fremdheit« führt, wie A. Rigobello (Autenticità nella differenza, Roma 1989) behauptet. Rigobello spricht jedoch auch von einem »methodologischen Bruch« gegenüber der Phänomenologie Husserls und von »komplexer Subjektivität«. 24 Eine problematische Verbindung der epoché Husserls und der epoché Heideggers auf der Grundlage eines Verständnisses von epoché als einer Bewegung der Rückkehr findet man bei P. A. Rovatti, La posta in gioco. Heidegger, Husserl, il soggetto. Milano 1987, S. 75–84. Tatsächlich bewertet auch Rovatti – so wie wir dies in diesem Kapitel getan haben – die Bewegung der Rückkehr als das, was Heideggers Verständnis und Praxis der Phänomenologie von Beginn an in überaus wesentlicher Weise kennzeichnet. 25 Ganz mit Recht hebt Josef Simon die Bedeutung des gegenwärtigen Auftauchens einer Metaphorik der Berührung (besonders bei Levinas) hervor, von welcher Metaphorik her »auch die des Lichts als solche bewußt [wird]« (J. Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin – New York 1989, S. 267). 23

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Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie a

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Das Problem der Religion stellt eine privilegierte Perspektive dar, um die Möglichkeit einer fruchtbaren Beziehung zwischen der phänomenologischen Tradition und der analytischen Tradition auszuloten. Wir werden zunächst einmal untersuchen, wie sich das Problem der Religion in der phänomenologischen Tradition ausgebildet hat (I); eben diese Untersuchung wird es aber nötig machen, unsere Betrachtungen auszuweiten und zu zeigen, dass die reflexive Analyse der Phänomenologie eine zusammengesetzte Reflexivität berücksichtigen muss, welche die Sinnlogik charakterisiert (II). Diese zusammengesetzte reflexive Struktur, deren gesamte Tragweite am religiösen Sinn offenbar wird, verdeutlicht die Notwendigkeit, dass die Phänomenologie die intentionale Sinnanalyse von der Analyse der Alltagssprache her angeht. Wir werden die zusammengesetzte Reflexivität zunächst unter dem Aspekt der Reflexivität von ego (III) und dann unter dem Aspekt der Reflexivität von alter (IV) betrachten. Die Analogien mit einigen wichtigen Motiven der analytischen Philosophie, die wir unter beiden Aspekten aufzeigen können werden, finden ihre Erklärung in der zusammengesetzten Reflexivität und laden a

Im italienischen Text findet sich die folgende Fußnote zum Titel: »Text eines Vortrags, der im Jahre 1984 an der Universität Chicago bei einem von S. Toulmin organisierten Zusammentreffen von ›analytischen‹ und ›kontinentalen‹ Philosophen zum Thema Continental and Anglo-American Philosophy: A New Relationship? gehalten worden ist. Wir danken D. Tracy für seine Kommentare zum Vortrag, die er nicht nur in seiner Funktion als respondent gegeben hat. Der zuerst in Archivio di Filosofia, 54 (1986), veröffentlichte Vortrag ist hier mit Präzisierungen und mit bibliographischen Ergänzungen in Bezug auf Werke neu versehen, die nach der ersten Veröffentlichung desselben erschienen sind.« – Bei der genannten Veröffentlichung handelt es sich um den Aufsatz Fenomenologia e filosofia analitica: una nuova relazione? Questioni di filosofia della religione (MMO-107). Der zentrale Teil dieses Aufsatzes entspricht im Wesentlichen dem Text des englischsprachigen Aufsatzes Ethics and Language: Ecoethics (MMO-100). Der entsprechende Textabschnitt ist durch Fußnoten gekennzeichnet.

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dazu ein, die semantische Analyse in eine pragmatische Analyse zu entwickeln (V).

I Eine Analogie, welche von denjenigen, die um eine Gegenüberstellung und um eine Annäherung zwischen den beiden philosophischen Traditionen beflissen sind, häufig genannt wird, ist die Analogie zwischen den in den Sprachspielen zum Ausdruck gebrachten »Lebensformen« und der »L e b e n s w e l t «. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine Analogie, die große Unterschiede nicht ausschließt und die mit äußerster Vorsicht genossen werden sollte. Insbesondere 204 bewahrt die husserlsche L e b e n s w e l t einen konstitutiven Charakter, der sie von der unvereinigten Vielfalt der in den Sprachspielen zum Ausdruck gebrachten Lebensformen enorm unterscheidet. Diese Distanz verkürzt sich jedoch im Zusammenhang mit dem Problem der Religion; die Phänomenologen, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, haben nämlich mit Nachdruck das Prinzip der Regionalität des Bewusstseins vertreten: Manche sind dabei so weit gegangen, die transzendentale Subjektivität zu leugnen (Rombach). Scheler hat als Erster einen subjektivistischen und rationalistischen Bewusstseinsbegriff beseitigt, indem er jedem Phänomenbereich eine eigene Bewusstseinsform zugeschrieben hat. 1 Einer derartigen Position zufolge kann man sich Gott daher nicht zunächst einmal denken und vorstellen, um dann zu entscheiden, ob man an ihn glaubt; denn nur wenn an ihn geglaubt wird, nur wenn er in der Bewusstseinsform gegeben ist, die der Konstitution dieses Phänomens eigentlich ist, ist das Phänomen auf angemessene Weise gegeben. Rombach hat diesbezüglich von einem »phänomenologischen Argument« gesprochen, das dem »ontologischen Argument« analog sei: Man kann Gott nicht »leugnen«, da »leugnen eine Bewußtseinsform ist, zu der der Glaubensgott als noematisches Korrelat überhaupt nicht gehören kann« 2. Es ist offensichtlich, dass eine derartige Position eine ungemeine Analogie mit den Positionen aufweist, die von mehr als einem analytischen Philosophen in der Meinung vertreten worden sind, die Weisungen des späten Wittgensteins und der Analyse der normalen Sprache auf das philosophische Problem der Religion anzuwenden. Tatsächlich hat es auch nicht an Philosophen gefehlt, welche die Ähn308 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

lichkeit zwischen der Theorie des religiösen Sprachspiels und dem ontologischen Beweis bemerkt haben. Um zu einer konstruktiven Arbeitshypothese zu werden, muss die Ähnlichkeit dieser beiden Aspekte der analytischen und der phänomenologischen Religionsphilosophie vor dem Hintergrund des zentralen Problems der Differenz gesehen werden, die zwischen den beiden Perspektiven besteht: In einem Fall wird der Sinn innerhalb des intentionalen Bewusstseins ausgemacht, im anderen Fall dagegen innerhalb des Sprachspiels, das gegenüber dem Bewusstsein äußerlich und öffentlich ist. Wenn man sich dieses Problems nicht klar macht, bleibt die Analogie extrinsisch und unfruchtbar. Einstweilen müssen wir jedoch feststellen, dass in beiden Richtungen – nämlich im phänomenologischen Denken und im analytischen Denken – die große Distanz, die sie von dem ontologischen Beweis trennt, dem man sie doch annähern zu können glaubte, durch die Tatsache gekennzeichnet ist, dass beide das eigentliche Charakteristikum dieses Beweises ignorieren bzw. auflösen, nämlich eben gerade dessen ontologischen Aspekt. Auf Seiten der Phänomenologie wird dies dadurch möglich oder vielmehr notwendig, dass die »n a t ü r l i c h e E i n s t e l l u n g « aufgegeben wird; auf Seiten der Sprachanalyse wird dies dagegen dadurch notwendig, dass das Problem der Semantik auf den Sprachgebrauch statt auf die Referenz zurück205 geführt wird. In Wirklichkeit jedoch ist es im Bereich der Religionsphilosophie nicht so einfach, dem Problem der Referenz auszuweichen; dieses Problem neigt unausweichlich dazu, immer wieder neu aufzutreten, wenn auch mit Besonderheiten, die es schwer machen können, es wiederzuerkennen. Der auch in der Phänomenologie weit verbreitete Gebrauch der Rede vom »ganz Anderen« (ein Ausdruck, der anfangs von Rudolf Otto vorgeschlagen worden ist, um den Gegenstand religiöser Erfahrung zu bezeichnen), kann uns zur ganz besonderen S i n n l o g i k des intentionalen Gegenstands der Religion hinführen. Es handelt sich nämlich um einen Gegenstand, zu dessen Wesen ein Verweis über das Bewusstsein hinaus gehört, welcher anders ist als der Verweis jedes anderen Gegenstands. Das phänomenologisch reduzierte Bewusstsein klammert jeden vermeintlichen Bezug des Phänomens auf eine äußere Realität ein; der Fall des religiösen Gegenstands ist dagegen ein Grenzfall, weil der Verweis über das Bewusstsein hinaus zum Wesen des Noemas gehört; es ist daher angemessen, ihn als etwas »ganz Anderes« zu bezeichnen. Diese beson309 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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dere Konstitution, die schon von Scheler skizziert worden war, ist von anderen Denkern aufgegriffen worden: Henry Duméry spricht von dem Paradox, demzufolge eben gerade die Unerreichbarkeit des religiösen Gegenstands dasjenige ist, was ihn vorstellbar macht; 3 Louis Dupré stellt fest, dass der religiöse Akt seinen intentionalen Gegenstand allein dadurch immanent macht, dass er ihn als vollkommen transzendent konstituiert: »das Paradox des Glaubensaktes besteht darin, dass er eine Brücke über den Abgrund baut, den er für unüberbrückbar erklärt«. 4 Trotz der Nähe zwischen diesen beiden Thesen scheint uns Dupré aber radikaler und kohärenter zu sein, wenn er seinen Dissens gegenüber Dumérys Behauptung zum Ausdruck bringt, derzufolge die Modalität des Glaubens zum credo (zur wirklichen Erfahrung) und nicht zum creditum (zum idealen Element der Erfahrung, zum Noema, das allein dazu ausgewiesen ist, vom Phänomenologen in Betracht gezogen zu werden) gehört. »Die Modalität des Glaubens« – so argumentiert nämlich Dupré – »ist Teil einer idealen Noesis: als solche beeinflusst sie tiefgreifend das Noema und kann nicht in den existentiellen Teil des Urteils relegiert werden, der in der phänomenologischen Analyse eingeklammert wird« 5. Wenn dem aber so ist, dann sind die Konsequenzen für die Phänomenologie unausweichlich; einerseits verweist der Gegenstand eben gerade in seinem immanenten Gegebensein auf eine Transzendenz, welche die phänomenologische Methode aus ihrem eigenen Innern heraus in Frage stellt; andererseits wird man, aufgrund derselben inneren Anforderung, von der Behauptung der unauflöslichen Korrelation zwischen Noesis und Noema auf eine Konstitutivität verwiesen, die dem konstituierenden Bewusstsein vorausgeht. Die Konstitution des religiösen Gegenstands in der Konstitutivität des Bewusstseins aufgehen zu lassen, wird der Gegebenheitsweise des noematischen Korrelats und der besonderen Transzendenz, auf das es verweist, ebenso wenig gerecht wie der Noesis des konstituierenden Bewusstseins. Derselbe paradoxe Status, der dem Gegenstand zukommt, ist auch dem Subjekt zuzuerkennen: Eben gerade die Be206 hauptung der völligen Implikation der Noesis in dem besonderen Korrelat, welches der religiöse Gegenstand ist, stürzen die Behauptung einer idealistischen Konstitutivität des Subjekts hinsichtlich des Gegenstands in eine Krise. Diesbezüglich ist bedeutsam, dass eine Auffassung, die mit dem oben beschriebenen Verständnis von Religion konvergiert, bei einem Denker wie Luhmann anzutreffen ist, d. h. bei einem Denker, der die 310 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

Theorie vertritt, dass der Sinn dem Subjekt vorhergeht und unabhängig vom Subjekt definiert werden kann. Seine Theorie der Gesellschaft als eines Sinnsystems ist tiefgreifend von Husserl beeinflusst und betrachtet dennoch Sinn ausschließlich im Rahmen der Systemtheorie. Jedes System konstituiert sich aufgrund eines Unterschieds an Komplexität gegenüber der Umwelt; auch Sinn ist »Reduktion von Komplexität« (dabei denkt man sofort an Husserls »A b s c h a t t u n g «), aber was das Sinnsystem charakterisiert, ist die Tatsache, dass die negierte Komplexität hier einfach virtualisiert ist und vom System jederzeit abgerufen werden kann. Die Möglichkeit einer solchen beweglichen Bestimmung der Komplexität ist durch eine unbestimmte und unbestimmbare Komplexität gegeben, die in allem, was erscheint, immer nur »appräsentiert« ist (Luhmann benutzt auch hier die Terminologie Husserls), und diese unbestimmte und unbestimmbare Komplexität wird (mittels einer Erscheinung sui generis) durch die Religion »chiffriert«, die auf diese Weise ihre »Funktion« für das Sinnsystem erfüllt. 6 Wir treffen hier also auf eine Situation, die der von den oben erwähnten phänomenologisch-philosophischen Theorien beschriebenen Situation analog ist; es handelt sich um die Grenzsituation, in der das Gegebensein des Sinns den Punkt erreicht, an dem sich seine eigene Struktur umkehrt. Aber diese Umkehrung widerruft die S i n n l o g i k nicht, sondern konstituiert sie vielmehr, indem sie die Grenze auf die einzige Weise markiert, in der sie vom Innern des Systems her gezogen werden kann, nämlich indem sie sie als »transzendente Immanenz« markiert (um hier die Umkehrung des Ausdrucks »immanente Transzendenz« zu verwenden, den Husserl denjenigen innerweltlichen Gegenständen vorbehält, die in keiner Weise einen Bezug über die »Sphäre« der einzelnen Subjektivität hinaus implizieren). b Luhmann glaubte, wie gesagt, den soziologischen Begriff des »Sinns« unabhängig vom Subjekt definieren zu können; daher auch die These von der vorsprachlichen Natur des Sinns. Dieser Aspekt (der bekanntlich von Habermas kritisiert worden ist) muss jedoch angemessen verstanden werden: Es handelt sich unserer Ansicht nach um eine radikal anti-idealistische Einstellung (in der Tat ist Habermas seinerseits von Luhmann als Idealist kritisiert worden), die sich vor b

Von hier bis zur angegebenen Stelle auf S. 216 entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen nicht nur dem des Aufsatzes MMO-107, sondern auch dem des Aufsatzes MMO-100.

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allem in einer Polemik gegen das transzendentale Subjekt entfaltet; aber gerade in Verbindung mit dem Versuch, die Unfähigkeit zur Erfahrung zu verdeutlichen, die für das transzendentale Subjekt charakteristisch sein soll, gerade in Verbindung mit dem Versuch zu verdeutlichen, dass das transzendentale Subjekt dazu neigt, die Subjekti207 vität zu verlieren und sich folglich auf einen »Zusammenhang von Regeln« zu reduzieren, hat Luhmann anerkannt, dass »für diesen Prozeß der intersubjektiven Konstitution einer sinnhaft-gegenständlichen Welt […] die Nichtidentität der erlebenden Subjekte wesentliche Voraussetzung [ist]« 7. Diese These ist in Wahrheit ziemlich husserlianisch (und auf jeden Fall in größerem Maße husserlianisch als Luhmann zuzugeben bereit wäre), und sie ist trotz des Verzichts auf transzendentale Subjektivität nicht fern von der »intentionalen Gemeinschaft«, von der Husserl selbst gesprochen hatte. 8

II Tatsächlich gibt es so, wie es soziale Sinnsysteme gibt, auch psychische Sinnsysteme (auch Luhmann erkennt dies an); außerdem ist ein Sinnsystem per Definition ein reflexives System; schließlich ist jedes Subsystem gegenüber den anderen Subsystemen, in denen sich das ideale Gesamtsystem artikuliert, zugleich Umwelt. Wenn man all dies berücksichtigt, dann kann man sagen, dass das intersubjektive Sinnsystem zwei ideale Grenzen hat, die nicht »gegeben« sind, die aber beide durch Reflexivität charakterisiert sind: das Subjekt und die Gesellschaft. Jede derselben stellt ein Subsystem dar, in das sich das ideale Gesamtsinnsystem artikuliert, aber jede derselben tendiert als äußerste reflexive Grenze dazu, sich als Gesamtsystem darzustellen, demgegenüber das jeweils andere Subsystem bloß Umwelt darstellt. Diese Tendenz kann nicht anders, als eine solche zu bleiben, d. h. sie kann nie zum Abschluss kommen (die Grenze »gibt es nicht«) 9. Die Unaufhebbarkeit der Sprache und die Unerreichbarkeit einer reinen Reflexion sind die Konsequenz dieser komplexen Reflexivität. Der Einfachheit halber werden wir in diesem Artikel weitgehend vom Problem der (nur per Analogie erschlossenen) Reflexivität des anderen Subjekts absehen und von »doppelter Reflexivität« sprechen: von subjektiver (introspektiver) Reflexivität und von sozialer (empirischer) Reflexivität. Aufgrund dieser »doppelten Reflexivität« kann 312 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

keine Reflexion rein werden, d. h. keine Reflexion ist in der Lage, sich die Grenze zu vergegenwärtigen bzw. vorzustellen, ohne sie zu appräsentieren. c Der metakritisch-sprachphilosophische Einwand, der schon von Hamann und Herder gegenüber dem kantschen Purismus erhoben worden ist, hat in der doppelten Reflexivität seinen wahren Ursprung. Später wird es gleichwohl nötig sein, unsere Ausführungen zumindest in einem gewissen Grade zu verkomplizieren und daran zu erinnern, dass das Subsystem Gesellschaft mit dem Subjekt (ego) ursprünglich immer nur durch das andere Subjekt (alter ego) kommuniziert. Jetzt aber wollen wir lediglich anmerken, dass die Sprache das Produkt der doppelten Reflexivität ist: Die natürliche und normale Sprache (wovon die verbale Sprache ein makroskopischer, aber nicht isolierbarer Sonderfall ist) ist die Weise, in der sich eine reflexiv gewordene Kommunikation verwirklicht; reflexiv geworden natürlich seitens beider nicht in »reiner« Gestalt thematisier- 208 barer Grenzen des Systems: seitens des Subsystems Gesellschaft (welches für das Subjekt Umwelt ist) und seitens des Subsystems Subjekt (welches für die Gesellschaft Umwelt ist). Der unaufhörlich dynamische Gleichgewichtszustand, in der sich jede Untersuchung der Kommunikation, insofern sie sprachlicher Art ist, befindet (wobei die Untersuchung jeweils im Sinne einer Rückführung der langue auf die parole, des »Kontexts« auf den »Inhalt«, der »Konvention« auf die »Intention« etc. akzentuiert werden kann oder umgekehrt), – dieser Gleichgewichtszustand findet in der doppelten Reflexivität, durch die die Kommunikation zur sprachlichen Kommunikation wird, seinen Grund. Wenn wir die komplexe bzw. (wie wir sie in erster Näherung bezeichnet haben) doppelte Reflexivität, ohne die sich die Kommunikation nicht als sprachliche Kommunikation, d. h. als Kommunikation von Sinn, ausbildet, angemessen berücksichtigen, gelangen wir zu einer dialektischen Transzendentalität; d. h., wir gelangen zu einer Transzendentalität, bei der die Behauptung, dass die Grenze konstitutiven Charakter hat, mit der Behauptung zusammenfällt, dass diese Grenze eben aufgrund der Tatsache, dass sie konstitutive Funktion hat, selbst konstituiert ist. Wir treffen hier daher abermals auf jene c

Im italienischen Text kommt der Zusammenhang zwischen »vergegenwärtigen« (presentare, »präsentieren«), »vorstellen« (rappresentare, »repräsentieren«) und »appräsentieren« (appresentare) terminologisch prägnanter zum Ausdruck, da es sich bei den letzteren beiden Verben um Komposita des ersteren Verbs handelt.

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Umkehrung der Sinnlogik, die wir oben bei der Beschreibung des religiösen Noemas in ihrem objektiven Aspekt betrachten konnten. Jetzt aber stellen wir diese Umkehrung mit Bezug auf die Subjektivität des Bewusstseins im Allgemeinen fest, also nicht bloß mit Bezug auf ein Noema bzw. auf jene besondere Form des Bewusstseins, die einem bestimmten Noema eigentlich wäre. Der dialektische Charakter der doppelten Reflexivität schützt vor dem befürchteten »Fundamentalismus« des Subjekts an sich. Zugleich jedoch vermeidet es der Bezug auf das Bewusstsein im Allgemeinen, vom Prinzip einer absoluten Regionalität des Bewusstseins Gebrauch zu machen, um dadurch legitimen Einwänden eine Art von fin de non recevoir entgegenzustellen. Man könnte in der Tat einwenden, dass der als etwas »ganz Anderes«, als »transzendente Immanenz«, als »Chiffre« etc. beschriebene religiöse Gegenstand nicht wirklich das Noema eines eigentümlichen E r l e b n i s s e s ist, sondern vielmehr eine Art trojanisches Pferd, das dazu dienen soll, die Mauern des phänomenologisch reduzierten Bewusstseins zum Einsturz zu bringen (und so dem wahren, bewusst oder unbewusst maskierten Zweck zum Triumph zu verhelfen: dem politischen Konservatismus, der religiösen Apologetik, oder irgendeinem anderen Zweck). Der Verdacht ist umso berechtigter, als die »Religionsphänomenologie« eine Geschichte hat, die weitgehend unabhängig von der philosophischen Phänomenologie ist und sogar – eben gerade unter dem Namen »Religionsphänomenologie« – der Phänomenologie Husserls vorausgeht, von der sie dann einige Begriffe und einige methodische Forderungen übernommen hat. 10 Angesichts dessen, was wir hier als den »Einwand des trojanischen Pferds« bezeichnen wollen, macht die Behauptung einer absoluten und unaufhebbaren Regionalität des Bewusstseins nichts anderes, als dass 209 sie ein Gespräch zwischen Tauben herstellt: Sie führt den Einwand selbst auf einen Mangel an E r l e b n i s zurück. Wie bereits gesagt, entspricht dieses antiargumentative Argument genau jenem Verweis auf ein eigentümliches Sprachspiel, mit dem weite Teile der analytischen Religionsphilosophie ab einem bestimmten Moment die verifikationistischen und falsifikationistischen Einwände umgehen zu können glaubten. 11 Diese Entsprechung ist nicht ohne Grund. Auch um diesen Grund verstehen zu können, müssen wir unsere Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Reflexivität fortsetzen, indem wir die reflexive Bewegung der Phänomenologie bis zu der Grenze vertiefen und radikalisieren, an der das Be314 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

wusstsein an die Undurchsichtigkeit grenzt und an der das konstituierende Fungieren an das eigene Konstituiertsein grenzt.

III Die Phänomenologie nach Husserl, vor allem die französische, hat aufgrund der Tatsache, dass sie sich der reflexiven Analyse des Leibes gewidmet hat, genau diese Bewegung der reflexiven Radikalisierung vollzogen. Hier ist vor allem an Ricoeurs Übergang vom »ich denke« zum »ich kann« zu erinnern. Ausgehend von einer Vertiefung des phänomenologisch verstandenen cogito hat Ricoeur seit Le volontaire et l’involontaire 12 die Unangemessenheit eines transzendentalen Verständnisses der Phänomenologie hervorgehoben, mittels dessen man glaubt, das Bewusstsein mit dem Bewusstsein zu verstehen. Das »ich kann« hat als »ich kann« des »ich denke« einen Vorrang vor der kognitiven Intentionalität des Bewusstseins; dieser Vorrang schreibt den Geist in einen Eigenleib ein, der nicht auf die Gegenständlichkeit reduzierbar ist, als die der Leib selbst dem Bewusstsein und im Bewusstsein gegeben ist; der Leib ist vor allem dann nicht auf diese Gegenständlichkeit reduzierbar, wenn man die phänomenologische Reduktion vollzogen und die n a t ü r l i c h e E i n s t e l l u n g verlassen hat. Diese Irreduzibilität auf einen Gegenstand markiert zusammen mit der gleichzeitigen Irreduzibilität auf das Subjekt bzw. auf das Bewusstsein eine Grenze, die wir als eine transzendentale Grenze bezeichnen können (weil sie nicht weiter überwindbar ist und in jeder Konstitution von Gegenständen wirksam ist), die aber eine Grenze ist, die auch die Nichtkonstitutivität des konstitutiven Bewusstseins repräsentiert (oder, wenn man so will, »appräsentiert«), eine Grenze, welche die Unmöglichkeit einer vollkommen im Innern des intentionalen Bewusstseins beschlossenen phänomenologischen Ontologie bezeichnet. Die phänomenologische Analyse des »ich kann« als etwas, was dem »ich denke« vorausgeht, macht es möglich, eine Begegnung mit der analytischen Handlungsphilosophie zu suchen (in der Tat hat Ricoeur die Bedingungen dieses Problems ausführlich diskutiert) 13. Wir möchten hierzu anmerken, dass die mögliche Begegnung auf dem besonderen Gebiet der Handlungsphilosophie gleichwohl eine alles 210 andere als besondere Bedeutung annimmt und eine umfassende Betrachtung der beiden philosophischen Traditionen impliziert. Bei 315 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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einer Analyse, welche die pragmatische Dimension der Sprache privilegiert, erlangt die Handlungsphilosophie auf inhaltlicher Ebene (als Analyse des Sprechens über Handlungen), aber auch auf formaler Ebene (als Analyse eines Sprechens, das zunächst immer als Sprechakt betrachtet wird) Bedeutung. Andererseits existiert auch auf dem Gebiet der Phänomenologie des Willkürlichen und des Unwillkürlichen diese doppelte Ebene, insofern das intentional-pragmatische Moment als Noema, aber auch (im oben präzisierten Sinne) als transzendentale Bedingung oder Grenze des Sichkonstituierens des theoretischen Bewusstseins betrachtet werden kann. Trotz dieser Entsprechung ist jedoch offensichtlich, dass diese beiden Ansätze nicht vollkommen übereinstimmen, solange man sich seitens der analytischen Philosophie darauf beschränkt, eine immer engere Verbindung zwischen Bedeutung und Intention zu unterstellen, d. h. die Sprachphilosophie immer mehr als ein Kapitel der philosophy of mind anzusehen (eine Tendenz, die man gegenwärtig beobachten kann). Wenn man die seitens der analytischen Philosophie begonnene reflexive Bewegung vollenden will, dann muss man die Sprachphilosophie wenigstens als ein Kapitel des mind-body problem konzipieren. Der Zugang zur Äußerlichkeit der Sprache ist der phänomenologischen Tradition dadurch ermöglicht worden, dass sie die reflexive Bewegung bis an die Grenze des Leibes radikalisiert hat; der Zugang zur reflexiven Innerlichkeit seitens der analytischen Philosophie kommt nicht darum umhin, die reflexive Bewegung auf analoge Weise zu radikalisieren, wenn man sowohl die Herausforderung der rein referenziellen Bedeutungstheorien als auch die Herausforderung derjenigen Sprachtheorien angemessen beantworten will, welche die Verbindung zwischen Bedeutung und Intention als die »Ursünde« der Sprechakttheorie betrachten und die Untersuchung der pragmatischen Dimension in die semantische Dimension zurückführen. 14 Sprache und Intentionen lediglich parallel zu setzen und zu behaupten, dass der illokutiven Kraft und dem propositionalen Gehalt ein intentionaler Zustand und ein intentionaler Gehalt korrespondieren, 15 bedeutet, die picture-theory der Sprache auf Seiten des Subjekts statt auf Seiten des Objekts bzw. auch auf Seiten des Subjekts statt nur auf Seiten des Objekts zu reproduzieren. Allerdings eröffnet sich durch die Berücksichtigung der Intention ein Forschungsfeld, das reflexiver und zugleich kommunikativer Art ist: Die Intention, etwas zum Ausdruck zu bringen (bzw. sich zum Ausdruck zu bringen) ist nur insofern reflexiv, als sie kommunikativ ist, und sie ist nur inso316 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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fern kommunikativ, als sie reflexiv ist. Damit aber lässt sich die reflexive Bewegung nicht auf den rein kognitiven Aspekt beschränken, als ob dieser die Willkürlichkeit-Unwillkürlichkeit ohne Rest in sich einschließen und absorbieren könnte, statt darin eingeschrieben zu sein; man kann die reflexive Bewegung nicht auf das Innere der Subjektivität beschränken, als ob die kommunikative Intention nicht 211 ihrer Natur nach Intersubjektivität und Interpretation, d. h. komplexe und (mindestens) doppelte Reflexivität, implizieren würde. In dem Moment, in dem die Theorie der Bedeutung nicht nur eine Ebene umfasst, d. h. die Reflexivität berücksichtigt, veranlasst sie eine Vervielfältigung der Ebenen, die es verhindert, einfach eine picture-theory auf Seiten des Subjekts zu reproduzieren; die Reflexivität ist, insofern sie an Sprache gebunden ist, niemals einfach, sondern ursprünglich komplex und mindestens doppelt; dies kommt der These gleich, dass der Geist immer verkörpert ist. Das »Prinzip der Ausdrückbarkeit«, demzufolge ich sagen kann, was ich meine, impliziert ein »ich will sagen«, das an der Grenze zwischen der konstitutiven Klarheit des Bewusstseins und der nur appräsentierten Dunkelheit des Eigenleibs angesiedelt ist. Diese Implikation verhindert es, die Bedeutung mit dem zusammenfallen zu lassen, was ich bewusst bezeichnet bzw. gemeint habe; eben deshalb erfordert die Kommunikation der Intention nicht ein bloßes spiegelbildliches Erkennen, sondern die Interpretation seitens des Anderen. 16 In dieser Situation hat die Hermeneutik ihren Ursprung. Die »Horizontverschmelzung«, von der Gadamer spricht, 17 die identityin-difference, von der Tracy spricht, 18 werden aufgrund dieser Situation möglich. Der Übergang von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache ist kein Sprung; es handelt sich vielmehr um eine graduelle Differenz, weil eben gerade die doppelte Reflexivität, in welche die Sprache eingeschrieben ist (bzw. welcher sie sich öffnet), veranlasst, dass die Sprache selbst Objektivität und Autonomie besitzt. Objektivität im Allgemeinen – nicht nur diejenige der Sprache – ist abhängig von der komplexen Reflexivität, und sie ist in keiner Weise von ihr getrennt. Wir sagen Objektivität im Allgemeinen, weil das Objekt als solches, d. h. als Sinnobjekt, im Sinnsystem nicht ohne kommunikativ-sprachliche Vermittlung gegeben ist. Die intersubjektive Übereinstimmung der Bedeutung (sich dieser Übereinstimmung zu vergewissern, ist problematisch; aber dies würde es nötig machen, uns dem analogischen Verhältnis zum anderen Interlokutor zuzuwenden, worauf wir hier aber nicht eingehen werden) ist dasjenige, was die 317 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Objektivität des Referenten begründet, und nicht umgekehrt; die Übereinstimmung des Sinns ist dasjenige, was jene besondere Objektivität zweiten Grades begründet, welche die Objektivität der Sprache ist (eben deshalb kann die Sprache zum Objekt der Analyse gemacht werden), und nicht umgekehrt. Diese beiden Übereinstimmungen (die sich mehr oder weniger stark überlagern können) ermöglichen also die Autonomie der Aussage und des Textes gegenüber dem sprachlich Handelnden; dennoch sind sie Sonderfälle eines Kommunikationsprozesses, der sich durch die komplexe Reflexivität verwirklicht: Sonderfälle einer prinzipiellen Nicht-Übereinstimmung, die eben deshalb dazu tendiert, mittels des kommunikativ-sprachlichen Prozesses Übereinstimmung herzustellen (die Objektivität, die in der konstatierenden Aussage in der dritten Person zum Ausdruck kommt), in einer kontinuierlichen kommunikativen Arbeit, 212 durch die das Sinnsystem als solches gegeben ist, in einem niemals statischen, sondern immer dynamischen (immer kommunikativen) Gleichgewicht. Vor dem Hintergrund des Gesagten stellt sich nicht nur heraus, dass die konstatierende Sprache ein Sonderfall der Elokution ist und dass die Lokution (d. h. das Sprechen) untrennbar an die Illokution und an die Perlokution gebunden ist, sondern es stellt sich auch – und infolgedessen – heraus, dass die Univozität des Worts und/oder der Aussage ein Sonderfall eines symbolischen oder besser metaphorischen Werts ist, welcher die allgemeine und alles einverleibende Situation – die Grenzsituation – der Sprache als Modus, in dem sich die Kommunikation in einem reflexiven Sinnsystem verwirklicht, repräsentiert. Hierin besteht die Nahtstelle zwischen der philosophischen Phänomenologie (als Phänomenologie des »integralen« cogito) und der »Religionsphänomenologie« beschreibender Art. Hierin liegt auch die Möglichkeit begründet, die Grenzen der bloßen phänomenologischen Beschreibung zu einer »teleologischen« und »archäologischen« Kritik zu erweitern (um hier Begriffe Ricoeurs aufzugreifen) 19, ohne dass jedoch die genetische Rekonstruktion des Sinns oder dessen Konzeptualisierung das appräsentierte Äußere jeweils in die archäologische bzw. in die teleologische Dimension einschließen könnten. Die Bedingung der Möglichkeit des Sinns ist so gewahrt. Anstatt den Weg einzuschlagen, den Ricoeur als den »kurzen Weg« Heideggers charakterisiert hat, und die Sprache auf das Sein zurückzuführen, geht es vielmehr darum, den »langen Weg« ein318 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

zuschlagen, der über eine kritische Hermeneutik des Symbolismus und der religiösen Metaphorik führt, und also vielmehr das Sein auf die Sprache, auf die Kommunikation von Sinn zurückzuführen, die vom und im reflexiven System vollzogen wird. Hat man aber erst einmal anerkannt, dass das Sein auf die Sprache zurückzuführen ist und nicht etwa umgekehrt die Sprache auf das Sein, ist es dann überhaupt noch nötig, das »Heilige« dem Sein und der Ontologie zu überlassen? Implizieren das »Durchbrechen der ontologischen Ebene«, von dem die Religionsphänomenologie (insbesondere M. Eliade) spricht, und die von Ricoeur 20 herausgestellte Tatsache, dass die Kopula in der Metapher – und, so können wir mit gutem Recht sagen, im religiösen Symbol – zugleich »ist« und »ist nicht« bedeutet, nicht vielmehr eine Überwindung jeder Art von »Fundamentalontologie«, die gerade auf dem Boden der Religionsphilosophie stattfindet? Das religiöse Symbol ist und ist nicht referenzieller Art. Es ist nicht referenzieller Art, wenn man unter Referenz den direkten Bezug von Namen auf Gegenstände versteht, der nur einen Sonderfall des Kommunikationsverkehrs darstellt, der sich im Sinnsystem vollzieht, nämlich den sozusagen zentralen oder fokalen Fall, bei dem die Perspektiven der beiden Subsysteme (Subjekt und Gesellschaft) in einem Fokus konvergieren, dem man den Namen Objektivität gibt. Das religiöse Symbol ist jedoch auch referenzieller Art, weil es auf ein radikales Äußeres verweist, das (im Gegensatz zum »Äußeren« der Realität) nicht vergegenwärtigt, sondern immer diachron appräsentiert d wird durch das Konvergieren und Synchronisieren von Gehalt und Kontext, von Sonderfall und konstitutiver Regel, von Intention 213 und Interpretation, etc. Die Konvergenz der beiden reflexiven Subsysteme objektiviert und fokussiert sich in der realistisch und ontologisch verstandenen Referenz: In dem empirischen und intrasystemischen Äußeren, das durch diese Konvergenz entsteht, identifizieren die Perspektiven sich (im reflexiven und zugleich reziproken Sinne dieses Ausdrucks) und die »Realität«. Aber die Bedingung der Möglichkeit dieser Konvergenz ist die Divergenz dieser Perspektiven selbst in Richtung auf das dem Sinnsystem Äußere: ein vom empirischen verschiedenes Äußeres, ein nicht identifizierbares, radikal differierendes Äußeres. Dieses Differieren, das die »Geburt« des Sinns vom und im Kommunikationssystem veranlasst, wird im religiösen d

Vgl. die Erläuterungen zum Verhältnis von »vergegenwärtigen« (presentare, »präsentieren«) und »appräsentieren« (appresentare) in der Fußnote auf S. 207.

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Symbol denotiert – oder vielmehr angedeutet und exemplifiziert. Es handelt sich um eine indirekte und sozusagen gebrochene Referenz, die immer nur durch die Antwort auf die Frage-Gabe erreicht wird, die vom Anderen und über den Anderen von der Gesellschaft an mich herangetragen wird (aber auch der Begriff des Erreichens bedarf hier sofort einer Brechung). Dieses Geflecht zwischen dem Anderem und der Gesellschaft, von dem wir schon gesagt hatten, dass es nötig sein würde, es wenigstens beiläufig zu erwähnen, kann jetzt nicht länger beschwiegen werden. Wir werden so neues Licht auf das Problem des religiösen Symbols werfen und einige abschließende Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Sprachanalyse anstellen können.

IV Das Erlernen von Sprache erfolgt in einem diachronen und intersubjektiven Verhältnis, bei dem das erste Wort von ego immer erst dann gesprochen wird, wenn von alter das Wort an ego gerichtet worden ist. Das Kind – lateinisch infans, d. h. etymologisch der noch nicht Sprechende – lernt sprechen dank des Kommunikationsakts seitens des Anderen, der in der Erwartung einer Antwort seitens des Kindes, d. h. seitens des noch nicht Sprechenden, eben dieses Kind als sprechendes Subjekt konstituiert; normalerweise besteht die erwartete Antwort in der Manifestation eines Bedürfnisses, so dass diese Manifestation selbst als Frage konstituiert wird. Kontext und Konvention wohnen dem interpellierenden Leib des Anderen inne. Bekanntlich bezeichnet Levinas dieses Interpellieren mit dem Wort »Gesicht«; 21 wir würden jedoch mehr als Levinas die Tatsache betonen, dass das »Gesicht« des Anderen das Subsystem Gesellschaft verkörpert; es verkörpert es in dem Sinne, dass der vom Leib des Anderen ausgehende Kommunikationsakt nicht nur nicht rein objektiv ist (zumal er eine Subjektivität offenbart), sondern auch nicht rein subjektiv ist, weil alter über die Undurchsichtigkeit seines Leibes das gesellschaftliche Sinnsystem in sich aufnimmt und in sich zusammenfasst – und zwar seinerseits sowohl bewusst als auch unbewusst, sowohl willkürlich als auch unwillkürlich. Apel hat zu Recht von »transzendentaler Synthesis der Kommunikation« gesprochen und dabei die Notwendigkeit behauptet, die214 se Synthesis an die Stelle der kantischen und nicht sprachlich vermit320 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

telten »Synthesis der Apperzeption« zu setzen. 22 Es gilt dabei jedoch zu beachten, dass sich diese Synthesis sowohl aus empirischer Perspektive als auch aus phänomenologisch reduzierter Perspektive ursprünglich immer nur in dem asymmetrischen intersubjektiven Verhältnis zwischen alter und ego vollzieht, wobei alter das ursprüngliche Noema, das ursprüngliche Wort, der ursprüngliche Referent ist, der in dem Interpellieren, das mich als ego konstituiert, die Regeln und den Kontext des Sinnsystems aufnimmt, zusammenfasst und wahrhaft synthetisiert. Die Reflexivität des Systems ist zum ersten Mal in der Reflexivität des alter ego gegeben, das mich interpelliert, und nur insofern sie von ihm sozusagen in Gang gesetzt wird, d. h. nur insofern sie meine Reflexivität appelliert, sie also auf- und hervorruft, ist die Reflexivität des Systems Gesellschaft gegeben. Der Soziologe kann das System Gesellschaft zwar gewiss als empirischen Gegenstand erforschen, indem er einen Teil davon räumlich und zeitlich isoliert; aber die Möglichkeit einer derartigen empirischen Forschung ist auch dann, wenn es sich dabei um eine diachrone Forschung handelt, durch eine konstitutive Diachronie gegeben, welche in dem intersubjektiven Kommunikationsverhältnis zwischen alter und ego besteht. Es handelt sich um eine Diachronie, die selbst empirisch erforscht werden kann (z. B. von der Lernpsychologie) oder aber auch phänomenologisch reduziert werden kann; im letzteren Fall zeigt sie sich als das (nicht fundamentalistische) sinnkonstituierende Transzendental. Apel hat auch zu Recht die ethische Bedeutung der Synthesis der Kommunikation betont; diese Synthesis bewahrt jedoch bei diachroner Betrachtungsweise einen subjektivistischen Begründungscharakter, der unseres Erachtens in den jüngeren Entwicklungen von Apels Denken daran deutlich wird, dass er die Bedingung der Aufrichtigkeit auf ein Postulat subjektivistischer Art zurückführt, welches den »pragmatischen Selbstwiderspruch« zwischen dem perlokutiven und dem illokutiven Aspekt eines Sprechakts verbietet. 23 Der nicht-symmetrische Charakter jeder Synthesis der Kommunikation, d. h. die Diachronie, die das Kommunikationsverhältnis der komplexen Reflexivität charakterisiert, verleiht der Ethik die Bedeutung einer »ersten Philosophie« in einem nicht fundierenden Sinne, d. h. in einem Sinne, der es verhindert, die reflexive Bewegung letztlich in sich selbst abzuschließen, und zwar sowohl im subjektivistischen Sinne (bezogen auf das einzelne kommunizierende Subjekt) wie auch im objektivistischen Sinne (bezogen auf das System 321 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Gesellschaft). Der A n f a n g der Ethik – ein Anfang, der zunächst einmal analogischer Art ist, bevor er logischer Art ist –, d. h. der Anfang der (in einem nicht mehr fundierenden Sinne) »ersten« Philosophie ist mein »Immer-zu-spät-sein« gegenüber dem Anderen (um nochmals einen Ausdruck von Levinas aufzugreifen). Diese Asymmetrie des intersubjektiven Verhältnisses verhindert es, Ethik und Epistemologie, Verantwortung im allgemeinen Sinne und Verantwortung des Wissens (sowohl im Sinne eines Objekts- als auch im Sinne eines Subjektsgenitivs) einfach zusammenfallen zu lassen, als ob die 215 letztere die erstere erschöpfen würde. In dem Verhältnis zwischen den beiden Grenzreflexivitäten des Kommunikationssystems ist das sinnhafte Handeln des Subjekts ursprünglich immer Antwort in einem bereits bestehenden Sinnverkehr, es ist Antwort auf eine Frage nach Sinn, die Angebot von Sinn ist. Wir haben gesehen: Die Frage nach Sinn seitens alter, der ursprünglich den intentionalen Kommunikationsakt an ego richtet, ist ein Angebot, weil sie die bloße Manifestation des Bedürfnisses seitens des (noch nicht sprechenden) Kindes in einen intentionalen und sprachlich formulierten Ausdruck verwandelt. Diese Manifestation ist eine Antwort und zugleich eine Frage: Als solche können wir sie bezeichnen, weil sie sprachlicher Ausdruck und daher Ausdruck (Antwort und Frage) von Sinn ist: »Sinn haben« ist ein Ausdruck der Alltagssprache, der in verschiedenen Sprachen gebraucht wird, um etwas auszudrücken, was das Bedürfnis, die Triebe und im Allgemeinen die (bewussten oder unbewussten) Motivationen befriedigt; umgekehrt besteht der Skandal jeder W a r u m - F r a g e und jeder Theodizee nicht so sehr im Bösen als einem »negativen« Sinn, sondern im Bösen als einem »Mangel« an Sinn. Der Ausdruck »Sinn haben« kann in der Alltagssprache gebraucht werden, weil die Erfüllung und die Befriedigung des Bedürfnisses an ihrem in-fantilen Ursprung durch den ursprünglichen Kommunikationsakt seitens des Anderen, der die Regeln und den Kontext des Systems (der Gesellschaft als Sinnsystem) vermittelt, sprachlich verwandelt werden (und zu etwas gemacht werden, was »für mich« geschieht). Jedes sinnhafte Handeln von ego ist daher Antwort, die in der Verantwortung e ihre eigene Bedingung der Möglichkeit hat: eine e

Der Begriff der »Verantwortung« (responsabilità) ist hier auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der entsprechende italienische Terminus buchstäblich die Fähigkeit zur Antwort bezeichnet.

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Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

transzendentale, aber konstituierte (als konstituierend konstituierte), leibliche Bedingung. Diese Verantwortung hat eine ethische Bedeutung, die dem Begriff, durch den diese asymmetrische Synthesis der Kommunikation zum Ausdruck gebracht wird, d. h. dem Begriff »Verantwortung«, seine alltagssprachliche Bedeutung verleiht und so den eigentümlichen Gebrauch legitimiert, den wir davon machen. Sehen wir nun, wie dies geschieht. In der Frage nach Sinn, die ursprünglich alter an ego richtet, so dass alter dabei ego konstituiert und das Spiel des Sinns in Gang setzt, ist der Sinn, nach dem gefragt wird, sowohl Sinn für alter also auch Sinn für ego: ein einziges Für sich, das asymmetrisch und diachron auf zwei Bewusstseine bzw. auf zwei »An sich« bezogen ist. Die Antwort von ego – sein um Befriedigung bittendes Fragen – befriedigt zunächst einmal die Frage nach Sinn seitens alter; noch bevor alter das Bedürfnis befriedigen kann, das nunmehr sprachlich durch die Frage nach Sinn seitens ego zum Ausdruck kommt, antwortet ego mit seiner Frage nach Sinn auf die Frage nach Sinn seitens alter. Eine Antwort, die immer unzureichend ist, eine Antwort, die niemals die Verantwortlichkeit erschöpft, in der ego konstituiert ist. Je mehr die Antworten zunehmen, desto mehr wächst die Verantwortlichkeit (das Ich identifiziert sich immer mehr). Die Verantwortlichkeit wächst vor allem dann, wenn das Ich die Regeln des Sinnsystems verinnerlicht hat und zu einem moralischen Bewusstsein reift, d. h. wenn sein sinnhaftes Handeln absichtlich darauf abzielt, die Frage nach Sinn seitens alter (und der Gesellschaft, die sich durch ihn zum Ausdruck gebracht hat und bringt) zu befriedigen, und darin die Motivation für sein 216 eigenes Handeln findet. Vor allem dann, wenn ego die Rolle von alter verinnerlicht, vor allem dann, wenn ego beabsichtigt, der Frage seitens alter zuvorzukommen, und er dessen Bedürfnis errät, noch bevor es zum Ausdruck kommt, noch bevor es in das Bewusstsein von alter tritt, noch bevor es überhaupt entsteht: Vor allem dann, wenn die Frage nach Sinn seitens ego diese neue Form annimmt, reicht jede Antwort, die alter zufriedenstellt, nicht dazu aus, der Verantwortlichkeit zu genügen, sondern sie lässt sie vielmehr unendlich anwachsen. Dies ist die ethische Bedeutung des transzendentalen »Immer-zuspät-seins«. f f

Von der angegebenen Stelle auf S. 206 bis hierhin entspricht der Text dieses Kapitels im Wesentlichen nicht nur dem des Aufsatzes MMO-107, sondern auch dem des Aufsatzes MMO-100, der kurz darauf endet.

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Schon vor einigen Jahren ist im nordamerikanischen Kulturkreis (wenn auch nur kursorisch) auf die Möglichkeit hingewiesen worden, die Vorgaben Austins mit denjenigen von Levinas auf der Grundlage des ethical setting zusammenfließen zu lassen, das für Austin den Sprechakt immer charakterisiert. 24 Die notwendige Vertiefung dieses Problems kann jetzt auf die neuen Forschungen zurückgreifen, welche sich dem Problem der Intentionalität durch die Untersuchung sprachlichen Bedeutens annähern (Føllesdal) 25. Uns jedoch obliegt es hier vor allem herauszustellen, dass die oben angestellten Beobachtungen für das Problem der Religion unmittelbar relevant sind. Es ist gewiss kein Zufall, dass der religiöse Symbolismus, dessen Untersuchung Ricoeur anknüpfend an den in Le volontaire et l’involontaire begonnenen Diskurs fortentwickelt hat, ein Symbolismus der Schuld ist; das radikale Ungenügen jeder Antwort auf die Frage, durch die sie als verantwortlich konstituiert wird, g vergegenständlicht sich kulturell in diesem Symbolismus. Die »Umwelt« des Sinnsystems besteht in derselben Diachronie, durch die alter dem ego vorangeht. Eine Diachronie, die nicht synchronisierbar ist; nur in illusorischer Weise ist sie in einem Gesellschaftsobjekt oder in einem Ichsubjekt synchronisierbar, wobei jedoch sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall das alter ego verschwände; es verschwände also das, was das Sinnspiel, in dem das System als Ganzes besteht, überhaupt in Gang setzt. Das religiöse Symbol vergegenständlicht diese »Umwelt« kulturell und ontologisiert sie (gemäß einer Ontologie der Grenze und der Differenz). Wenn aber das religiöse Symbol dasjenige vergegenwärtigt, was im Sinnsystem immer nur appräsentiert wird, h dann verfehlt jeder bloß referenzielle Anspruch, der ihm gegenüber geltend gemacht wird, dessen ursprünglichen Sinn und verwandelt es sozusagen in ein Idol. 26 Nur durch das ethische Verhältnis zum Anderen (oder zu den Anderen) offenbart das religiöse Symbol seinen authentischen Sinn bzw. seine authentische Bedeutung; nur auf diese Weise bleibt es »Symbol« – bzw. »Metapher« – und bewahrt dabei seine »spannungshafte Wahrheit« (vérité tensionnelle) i zwischen »ist« g Vgl. die Erläuterungen zum Begriff der »Verantwortung« (responsabilità) in der diesbezüglichen Fußnote auf S. 215. h Vgl. die Erläuterungen zum Verhältnis von »vergegenwärtigen« (presentare, »präsentieren«) und »appräsentieren« (appresentare) in der Fußnote auf S. 207. i Der Begriff ist von Ricoeur, La métaphore vive, Seuil, 1975.

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Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

und »ist nicht«. Es geht also nicht darum, den religiösen Symbolismus einer reduktiven Interpretation zu unterziehen oder ihn zu rationalisieren; es geht vielmehr darum, seinen ursprünglichen Sinn bzw. seine ursprüngliche Bedeutung zu bewahren. Das Risiko des Missverständnisses, das die »Religionsphänomenologie« beschreibender Art unterminiert, besteht in der vorsprachlichen Verabsolutierung des religiösen E r l e b n i s s e s , als ob Religion in erster Linie und direkt Erfahrung wäre. Die Religionsphä- 217 nomenologie neigt daher dazu, der Hierophanie einen anfänglichen und gesellschaftlich grundlegenden Wert zuzuschreiben, anstatt sie als kulturelle Vergegenständlichung des ethischen Verhältnisses zu verstehen, in dem sich das Sinnsystem strukturiert. Aber ebenso unzureichend wie der Subjektivismus der Religionsphänomenologie ist der (in welchem Maße auch immer ontologisierte) Objektivismus der funktionalistischen Theorien, die nur den gesellschaftlichen Referenten des religiösen Symbols in Betracht ziehen und nicht das ursprüngliche ethische Verhältnis, das durch komplexe Reflexivität charakterisiert ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass die gegenständliche, kulturelle Darstellung des Sinnsystems, die vom religiösen Symbolismus erbracht wird, auch historische Herrschaftsund Unterdrückungsverhältnisse zum Ausdruck bringen kann, die eben gerade von einem ethischen Gesichtspunkt aus einer Kritik und einer »Genealogie der Moral« unterzogen werden müssen. Aber in dieser Bedeutung die Bedeutungskraft des religiösen Symbols erschöpfen zu wollen, hieße, es nur in seinem derivativen und vergegenständlichten Aspekt in Betracht zu ziehen; es hieße, den Referenten des religiösen Symbols mit der Gesellschaft identifizieren zu wollen, in der es sich ausgeformt hat. Dass der religiöse Symbolismus als Vergegenwärtigung j der Appräsentation auch diese Bedeutung hat, ist außer Zweifel; aber es handelt sich hierbei eben um eine derivative Bedeutung, die durch den gegenständlichen Charakter ermöglicht wird, den jedes Kulturprodukt besitzt. Die Bedeutung des religiösen Symbols in seiner gegenständlichen und referenziellen Bedeutung erschöpfen zu wollen, heißt, zu vergessen, dass das Sinnsystem nur kraft eines Komplexitätsunterschieds gegenüber einer Umwelt als solches funktioniert; es heißt zu vergessen, dass die Referenz des religiösen Symbols auf die Gesellschaft eine Referenz auf die j

Vgl. die Erläuterungen zum Verhältnis von »vergegenwärtigen« (presentare, »präsentieren«) und »appräsentieren« (appresentare) in der Fußnote auf S. 207.

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»Umwelt« voraussetzt und dass diese Referenz auf die Umwelt nicht direkt ist (direkt ist die Referenz auf die Gesellschaft), sondern – so haben wir gesagt – gebrochen (nicht ikonoklastisch, aber gewiss idoloklastisch), d. h. nicht gegenständlich, sondern vermittelt durch das ursprüngliche intersubjektive Verhältnis, durch das ethische Verhältnis. Erinnernd an den von Husserls gegen Descartes vorgebrachten Vorwurf, aus dem cogito die Seele, d. h. einen Teil der Welt gemacht zu haben, wo das cogito doch die Welt bedingt, hat Levinas sich gefragt, ob man nicht analog den Versuch anfechten müsste, das Gottesproblem auf das Problem der Ontologie zu reduzieren, »als ob die Ontologie und das Wissen der letztendliche Bereich des Sinns wären […] Daß aber das Wissen jeden Sinn in sich einholen kann, bedeutet nicht die Reduktion jeden Sinns auf Strukturen, die seine Zurschaustellung erzwingt« 27.

V Das, was die Phänomenologie und die analytische Philosophie zu konvergenten und komplementären Ansätzen macht, ist zweifellos die pragmatisch-sprachliche Dimension, die beide im Verlauf ihrer 218 Entwicklung immer mehr charakterisiert hat. Wie die Phänomenologie den Eigenleib und den Leib des Anderen (d. h. die komplexe Reflexivität, in der sich das Sinnsystem sprachlich konstituiert) miteinbeziehen und so in der Sprache den Ausgangspunkt ihrer Analyse erkennen musste und muss, so kann die analytische Philosophie allenfalls provisorisch auf einer pragmatischen Betrachtungsweise beharren, deren zwei Pole einerseits Intention und konstitutive Regeln und andererseits Gehalt und Kontext wären; Regeln und Kontext müssen in das ursprüngliche Kommunikationsverhältnis einverleibt werden, das interpersonaler und asymmetrischer Art ist. Auf diese Weise bekommt die aktuelle pragmatische Wende der analytischen Philosophie – zumindest in den Augen des kontinentalen Philosophen, der der Autor dieses Buchs ist – eine neue Bedeutung, die vielleicht die Probleme glätten kann, mit denen sich die Referenztheorien konfrontiert sehen. Die Schwierigkeiten, welche die Betrachtung singulärer Termini und die Versuche der Quantifikation in opaken Kontexten bereiten, könnten in einem pragmatischen Ansatz, der die komplexe Reflexivität berücksichtigt, vielleicht weni326 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie

ger reduktive Lösungen finden. Namen sind bloße Etiketten für bereits identifizierte Objekte, während die Regeln, die den referenziellen Sprechakten zugrundeliegen, die deren Identifikation erlauben, abhängig vom Kontext sind, der sich im intersubjektiven Kommunikationsverhältnis verwirklicht. Wie C. McGinn schreibt: »Referenz ist im Grunde die Sache einer Art von Handlung, die in Einklang mit konventionellen Regeln vollzogen wird, um einen bestimmten Zweck zu erreichen; am besten stellt man sie sich als eine Beziehung zu Gegenständen vor, in welche die Sprecher dadurch treten, dass sie in einem bestimmten Kontext handeln, und nicht als einen Zustand, in dem sie sich in Folge eines Aufpralls von Energie (wie es die Wahrnehmung ist) befinden« 28. Die Referenz der symbolischen – oder metaphorischen – Sprache der Religion lässt sich weniger als jede andere Referenz von dieser pragmatischen Dimension der Intersubjektivität trennen. In einem ersten Moment hat der Rekurs auf die Theorie der Lebensformen und auf die Theorie der Sprechakte seitens der analytischen Religionsphilosophie das Problem der Referenz ausgeschlossen oder umgangen, indem der nicht-propositionale Charakter religiöser Sprache betont wurde. Die Unzulänglichkeit einer Position dieser Art besteht in der Tatsache, dass sie dem referenziellen Charakter nicht gerecht wird, der die religiöse Sprache im Verständnis des Akteurs und der Gemeinschaft, die an diesem Sprachspiel teilnimmt, auch charakterisiert; sie wird dem (in diesem Sprachspiel impliziten) Anspruch nicht gerecht, dass die religiöse Sprache kraft der Referenz auch für diejenigen Bedeutung haben kann, die nicht an diesem Sprachspiel teilnehmen. Das Panorama ist jedoch dabei, sich zu verändern (zumindest scheint dies so in den Augen des kontinentalen Philosophen, der der Autor dieses Buchs ist). Zum einen haben einige jüngere Entwicklungen in der Religionsphilosophie – gegen die Theorieentwürfe des 219 »Skeptizismus« – den teilweise bzw. auf ihre Art kognitiven Charakter religiöser Ausdrücke aufgewiesen, indem sie das wechselseitige Implikationsverhältnis und die Zirkularität zwischen Kultsprache und Theologie betont haben (z. B. T. Penelhum) 29. Zum anderen haben andere jüngere Studien, sei es zur kultischen Sprache (z. B. G. Wainwright) 30 oder sei es zur theologischen Sprache (z. B. I. U. Dalferth) 31, gezeigt, dass pragmatische und semantische Betrachtungsweisen, performative Absicht und Wahrheitsanspruch, für die Erforschung der religiösen Sprache keine Alternativen darstellen, 327 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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weil der spezifische Charakter der religiösen Sprache eben in der Interdependenz dieser beiden Aspekte in derselben Aussage besteht. Diese einzigartige Situation, welche die religiöse Sprache von den anderen Sprachformen unterscheidet, markiert die Grenze (die doppelte oder vielmehr verdoppelte und durch komplexe Reflexivität charakterisierte Grenze), innerhalb derer sich jede pragmatische Betrachtungsweise der Referenz einschreibt, insofern die Referenz selbst durch und in der komplexen kommunikativen Reflexivität konstituiert ist. Der Zirkel von pragmatischem und semantischem Moment in der religiösen Sprache ist das Zeichen jener unaufhebbaren Grenze, aufgrund derer der religiöse Referent nur als etwas Äußeres (Extrasystemisches) gegenüber dem Kommunikationsverhältnis gedacht werden kann, das ihn als etwas Inneres (Intrasystemisches) und als direkt referenziell darstellt; er muss als »Umwelt« jeder bedeutungsvollen Referenz gedacht werden. Daher kann das religiöse Symbol seine »ursprüngliche« Bedeutung nur indirekt zeigen, d. h. in der brechenden und idoloklastischen Aktualisierung des intersubjektiven Verhältnisses als eines ethischen Verhältnisses, jenseits jeder Ontologie und jeder Intentionalität.

Anmerkungen Vgl. M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen, Leipzig 1921. H. Rombach, Die Religionsphänomenologie. Ansatz und Wirkung von M. Scheler bis H. Kessler, in Theologie und Philosophie, 48 (1973), S. 479. 3 Vgl. H. Duméry, Phénoménologie et religion, Paris 1958, und man betrachte »dieses strenge Paradox: religiöse Erfahrung ist Erfahrung des Unsichtbaren; darum gibt es Vorstellungen von ihr. Sie ist Erfahrung des Unausdrückbaren; darum gibt es Ausdrücke von ihr« (S. 11–12, Hervorhebungen von Duméry). 4 L. Dupré, The Other Dimension: A Search for the Meaning of Religious Attitudes, New York 1972, S. 108. 5 Ibid., S. 107. 6 Vgl. N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977. 7 Vgl. J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung, Frankfurt a. M. 1971, S. 51–52 (Hervorhebungen von Luhmann). Habermas meint, dass Luhmann, wenn er von einem »Zusammenhang von Regeln« spricht, auf Wittgenstein anspielen könnte (vgl. ibid., S. 176). 8 Vgl. Cartesianische Meditationen, Husserliana, I (siehe S. 150–159). 9 Diese Anspielung auf Wittgenstein (Tractatus 5.631 und 5.632) sollte in enge Verbindung mit Husserls Kritik am cartesianischen cogito gesetzt werden, auf die wir hier anschließend im Zusammenhang mit dem theologischen Problem Bezug nehmen werden. 1 2

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Phänomenologie und Sprachanalyse in der Religionsphilosophie Einer der ersten, die von »Religionsphänomenologie« als einem besonderen Zweig des wissenschaftlichen Studiums der Religion gesprochen haben, war P. D. Chantepie de la Saussaye in der ersten Auflage seines Lehrbuchs der Religionsgeschichte, Freiburg 1887. G. van der Leeuw, der in seinen Werken viele Forderungen Husserls übernommen hat, hat an der Universität Leiden studiert, an der Chantepie bis 1916, dem Jahr in dem van der Leeuw sein Doktorat in Theologie abgeschlossen hat, Professor war. 11 Als Embleme der beiden Stadien in der Entwicklung der analytischen Religionsphilosophie könnten zum einen die berühmte, von A. Flew und A. MacIntyre herausgegebene (und vor allem durch die Herausforderung des logischen Positivismus inspirierte) Anthologie New Essays in Philosophical Theology, London 1955, angeführt werden, und zum anderen der Sammelband mit den Beiträgen zu dem zwanzig Jahre später abgehaltenen Kongress in Lancaster, der eindeutig vor allem von der Philosophie des späten Wittgenstein inspiriert war (Reason and Religion, hrsg. von S. C. Brown, Ithaca – London 1977). 12 Philosophie de la volonté, I. Le volontaire et l’involontaire, Paris 1950; vgl. aber jetzt auch Ricoeurs Buch Soi-même comme un autre, Paris 1990, das erschienen ist, als die Redaktion des vorliegenden Buchs bereits abgeschlossen war. 13 Vgl. P. Ricoeur et al., La sémantique de l’action, Paris 1977, und jetzt auch Soimême comme un autre, ed. cit. 14 Siehe z. B. M. Bierwisch, Semantic Structure and Illocutionary Force, in Speech Act Theory and Pragmatics, hrsg. v. J. Searle, F. Kiefer, M. Bierwisch, Dordrecht 1980, und L. J. Cohen, Searle’s Theory of Speech Acts, in The Philosophical Review, 79 (1970), S. 545–557. 15 Vgl. J. Searle, Intentionality: An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass., 1983. 16 Dies ist der Grund, aus dem ein Großteil der aktuellen Diskussion der Philosophie der Kommunikation, die auf dem Kommunikationsmodell von Grice basiert (angefangen mit H. P. Grices berühmten Aufsatz Meaning, in The Philosophical Review, 66 [1957], S. 377–388), neu überdacht werden müsste. 17 Vgl. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 19652. 18 D. Tracy, The Analogical Imagination, New York 1981 (vgl. S. 136). 19 P. Ricoeur, De l’interprétation. Essai sur Freud, Paris 1965, und Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique, Paris 1969. 20 P. Ricoeur, La métaphore vive, Paris 1975. 21 E. Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, La Haye 1961. 22 K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973. 23 Unseres Erachtens behält dieses Postulat trotz Apels Polemik gegen Grice und die intentionalistische Kommunikationstheorie einen subjektivistischen Charakter; vgl. K. O. Apel, Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden? Zum Problem sozialer Kommunikation und Interaktion, in Archivio di Filosofia, 51 (1983), S. 385 ff. 24 H. A. Durfee, Austin and Phenomenology, in Journal of the British Society for Phenomenology, 2 (1971), jetzt in Analytic Philosophy and Phenomenology, hrsg. v. H. A. Durfee, The Hague 1976 (vgl. S. 173–174). Die Möglichkeit einer Annäherung zwischen Austin und Levinas ist dann von Lyotard bemerkt (J. F. Lyotard, Il dissidio [Le différend], ital. Übers., Milano 1985, S. 184–185) und von M. Ferraris, Postille a Derrida, Torino 1990, S. 141, aufgegriffen worden. Bedeutsam ist auch T. Wiemer, 10

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Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei Emmanuel Levinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs, Freiburg i. B. 1988. 25 Unter den Beiträgen von D. Føllesdal wollen wir hier erinnern an An Introduction to Phenomenology for Analytic Philosophers, in Contemporary Philosophy in Scandinavia, hrsg. v. R. E. Olson und A. M. Paul, Baltimore & London 1972, S. 417–429, wo er behauptet, dass der Phänomenologe Quines Theorie der Unbestimmtheit der Bedeutung (vgl. W. V. O. Quine, Word and Object, Cambridge – New York 1960) durch eine Theorie der Bedeutung überwinden müsste, die ebenso gut oder besser ist als die von Quine selbst (S. 428). Eine Ausarbeitung des von Føllesdal angeregten Wegs findet man bei D. Woodruff und R. MacIntyre, Husserl and Intentionality: A Study of Mind, Meaning and Language, Dordrecht – Boston – Lancaster 1982. 26 Zum »Phänomen des Idolischen« siehe man den Band Phänomenologie des Idols, hrsg. v. B. Casper, Freiburg i. B. 1981, sowie vom selben Herausgeber, Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg i. B. 1981. Siehe auch J. L. Marion, Dieu sans l’être, Paris 1982. 27 E. Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, S. 11 und 102. 28 The Mechanism of Reference, in Synthese, 49 (1981), S. 168. 29 T. Penelhum, God and Skepticism. A Study in Skepticism and Fideism, Dordrecht – Boston – Lancaster 1983, vgl. insbesondere S. 164–165. 30 G. Wainwright, Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine and Life, London – New York 1980. 31 I. U. Dalferth, Existenz und Identifikation. Erwägungen zum Problem der Existenz Gottes im Gespräch mit der analytischen Philosophie, in Neue Zeitschrift f. syst. Theologie und Religionsphilosophie, 25 (1983), S. 178–202; zudem vom selben Autor, Existenz Gottes und christlicher Glaube. Skizzen zu einer eschatologischen Ontologie, München 1984.

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Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft: Noch ein Kapitel der Geschichte des ontologischen Beweises a

Wenn die Philosophie das Problem der Religion angeht, trifft sie immer auch auf das Phänomen der Gesellschaft. Dabei darf sie das Problem der Gesellschaft nicht nur unter irgendeinem besonderen, wenngleich wichtigen, Aspekt in Betracht ziehen, sondern im Allgemeinen: eine Philosophie, die das Problem der Religion »als solche« angeht, befindet sich stets in der Situation, über das Problem der Gesellschaft »als solche« Rechenschaft geben zu müssen. Das bedeutet natürlich, dass auch die umgekehrte Behauptung gilt, wonach eine Theorie, die das Problem der Gesellschaft erörtert, sich ebenso vor die Aufgabe gestellt sieht, das Problem der Religion erörtern zu müssen. Eine solche Behauptung könnte leicht allzu anmaßend erscheinen, als ob sie es etwa dem (einer gewissen Auffassung zufolge mit metaphysischen Problemen oder mit Problemen der Innerlichkeit beschäftigten) Religionsphilosophen aufdrängen möchte, eine im Grunde weltliche, wenn nicht sogar empirische Dimension in Betracht zu ziehen; oder umgekehrt: als ob sie dem (mit weltlichen Fragen oder mit empirischen Problemen beschäftigten) Gesellschaftstheoretiker verordnen wolle, visionär in die Wolken zu greifen oder mit geheimnisvollen Dämpfen seinen Forschungsbereich zu verdunkeln. Es scheint in der Tat so, dass die eingangs so überzeugt vorgetragene Behauptung einer wechselseitigen Implikation von Religionsa

Im italienischen Text findet sich die folgende Fußnote zum Titel: »Geschrieben für den von A. Halder, K. Kienzler und J. Möller herausgegebenen Band Religionsphilosophie heute, Düsseldorf 1988, in dem der Aufsatz in leicht gekürzter Fassung unter dem Titel Soziologische Implikationen religionsphilosophischer Ansätze heute erschienen ist.« – Bei der genannten Veröffentlichung handelt es sich um den Aufsatz MMO-121, der 1991 auch auf Französisch unter dem Titel Implications sociologiques des approches contemporaines en philosophie de la religion (MMO-139) erschienen ist. Der ungekürzte Text ist 1989 auf Italienisch unter dem Titel Filosofia della religione e teoria della società: La crisi dell’argomento ontologico (MMO-125) erschienen.

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philosophie und Gesellschaftstheorie den Beweis der Tatsachen gegen sich hätte. Während die Gesellschaftstheorie nunmehr vollständig »säkularisiert« ist, scheint die gegenwärtige Religionsphilosophie im Problem der Gesellschaft nicht wirklich ein grundlegendes Thema für ihre eigenen Überlegungen und für ihre Ausgestaltung als philosophische Disziplin zu erkennen. 1 Man könnte natürlich einwenden, es gäbe in der gegenwärtigen Religionsphilosophie gelegentlich Überlegungen zur Frage der reli224 giösen Gemeinschaft. Aber diese Überlegungen sind selten und weit davon entfernt, die Dimensionen zu erreichen, welche man angesichts der Wichtigkeit des gemeinschaftlichen Moments historischer Religionen wohl erwarten dürfte. Auch die besten unter den wenigen Abhandlungen, die diese Frage erörtern, beschäftigen sich damit primär deswegen, um der Forderung nach systematischer Vollständigkeit oder nach erschöpfender lehrbuchhafter Behandlung gerecht zu werden, d. h. sie beschäftigen sich damit sehr viel mehr wie mit einem speziellen Unterpunkt als wie mit einem Thema, dessen Tragweite bis zu den Grenzen der Disziplin reicht und das somit für deren Ausgestaltung selbst wesentlich ist. 2 Es stimmt wohl, dass einige Ansätze der gegenwärtigen Religionsphilosophie äußerst wichtige Implikationen auf dem gesellschaftsphilosophischen Boden mit sich bringen. Was die angelsächsische Philosophie analytischer Tradition betrifft, ist das der Fall bei einer Religionsphilosophie, die sich die Hinweise des späten Wittgenstein über Sprachspiele zu eigen gemacht hat: Wenn das Sprachspiel immer öffentlich ist, dann muss auch das religiöse Sprachspiel einen wesentlich öffentlichen Charakter voraussetzen und wenigstens in diesem Sinne eine konstitutiv gesellschaftliche Dimension implizieren. 3 Auf dem Boden der Philosophie, die die analytische Tradition »kontinental« zu nennen pflegt, dürfte eine analoge Implikation bei Religionsphilosophien hermeneutischer und etwa auch »narratalogischer« Richtung festzustellen sein. Es scheint außerdem so zu sein, dass beide Ansätze, obwohl sie Ausläufer zweier verschiedener, ja kulturell divergierender Traditionen darstellen, dennoch auch Ausläufer darstellen, die ein Zusammenfließen der beiden verschiedenen und auseinandergewachsenen philosophischen Traditionen, die von ihnen fortgeführt werden, möglich und vielleicht auch wirklich und notwendig machen. Bedeutungsvolle Symptome innerhalb der gegenwärtigen philosophischen Landschaft scheinen gerade in diese Richtung zu weisen. 4 Jedenfalls wird der Umstand, dass die gegenwärtige 332 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft

Religionsphilosophie kein Interesse an dem philosophischen Problem der Gesellschaft hat, durch die Tatsache, dass bestimmte Ansätze dieses Problem zwar streifen oder implizieren, ohne es dabei aber radikal thematisch in Frage zu stellen, keineswegs dementiert, sondern im Gegenteil aufs deutlichste bestätigt. Wenn das die Situation ist, dann muss man sagen, dass sie überraschend ist und, um es in psychologisierenden Begriffen zu sagen, ganz nach Verdrängung aussieht. Zumindest zwei auffallende Tatsachen nötigen zu einer derartigen Betrachtung. Es handelt sich dabei um zwei zusammenhängende Tatsachen, deren tiefen historischen und systematischen Zusammenhang zu rekonstruieren, sich lohnen wird. Erstens: seit mehreren Jahren hat die Religionssoziologie die engen Grenzen einer Teildisziplin überschritten, in die sie sich früher eingesperrt hatte, und energisch wieder angefangen, sich für theoretische Fragen zu interessieren. Dieses Phänomen geht einher mit 225 einem neuen bzw. erneuten Interesse für Gesellschaftstheorie, das die gegenwärtige soziologische Landschaft charakterisiert. 5 Ja, einfach von einem bloßen Einhergehen zu sprechen, ist zweifellos reduktiv, da in besonders wichtigen Fällen gerade das Interesse für Gesellschaftstheorie Anlass zu einer Religionssoziologie in dem eben erwähnten theoretischen und allgemeinen Sinne gegeben hat. Das ist der Fall bei Luckmann und Berger, die das Erbe von Schütz wiederaufnehmen und es zu einer Theorie der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« weiterentwickeln, die nicht mehr und nicht weniger als eine soziologische Religionstheorie ist. 6 Das ist auch der Fall bei Luhmann, dessen systemische Theorie der Gesellschaft – nicht nur in F u n k t i o n d e r R e l i g i o n , 7 sondern auch und mehr noch in einigen weniger bekannten und sehr bedeutsamen darauffolgenden Beiträgen, die an die Theorie der autopoetischen Systeme anknüpfen 8 – die Religion sozusagen mit einer Grenzfunktion in Bezug auf die Begreifbarkeit jenes reflexiven Sinnsystems identifiziert, welches nach der luhmannschen Theorie die Gesellschaft ist. Und das ist in gewisser Weise auch noch der Fall bei der »Theorie des kommunikativen Handelns« von Habermas, 9 bei welcher der Religion eine im negativen Sinne privilegierte Stellung zukommt, indem sie die äußerste Form des Anti-Diskurses, sozusagen den Anti-Diskurs im reinen Zustand darstellt. 10 Wie man aus diesen Beispielen ersieht, ist das Sich-verflechten 333 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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von soziologischer Religionstheorie und Theorie der Gesellschaft keine Angelegenheit, die nur auf einen zwar wichtigen, aber doch besonderen soziologischen Ansatz zurückzuführen wäre. Die eben erwähnten Beispiele stehen nämlich für verschiedene und sogar gegensätzliche theoretische Ansätze: für einen intentionalistischen Ansatz bei Luckmann und Berger und auf andere Weise bei Habermas, und für einen systemischen Ansatz, der sich radikal gegen jede intentionalistische Auffassung und gegen jede Behauptung der Theoretisierbarkeit von so etwas wie einer »gesellschaftlichen Handlung« nach Art von Parson wendet, bei Luhmann. Man könnte also sagen, dass die Religionssoziologie und die Theorie der Gesellschaft ihre gegenseitige Beziehung wiedergefunden haben, wie es für die klassische Soziologie von Durkheim bis Weber kennzeichnend war. (Ja, man könnte sogar noch weiter zurückgehen bis zu einer von der Philosophie weniger differenzierten Soziologie, wie dies bei Comte und Marx der Fall ist). Gerade an diesem Punkt ist es deshalb angebracht, auf die zweite Tatsache aufmerksam zu machen, die mit der Abwesenheit der gesellschaftlichen Dimension in der gegenwärtigen Religionsphilosophie in signifikanter Weise kontrastiert. Es handelt sich um die geradezu allzu offensichtliche Tatsache, dass die Religionsphilosophie, als sie als philosophische Spezialdisziplin entstand und sich als solche entwickelte, sich genau und wesentlich als eine Theorie der Gesellschaft ausgestaltete: als Theorie der religiösen Gesellschaft – bzw. der religiösen Gemeinschaft – und/oder als Theorie der Gesellschaft ü b e rhaupt. Das gilt für alle klassischen Formen, in denen sich die Religions226 philosophie ausgestaltet hat. Es gilt für Kant, dessen Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine Theorie des »ethischen Gemeinwesens« bzw. der »Kirche« ist, und zwar nicht nur als Lösung der Probleme, die von der Frage des radikal Bösen aufgeworfen werden (welches ohnehin selbst eine tief, ja sogar wesentlich gesellschaftliche Konnotation hat), sondern auch als Reformulierung der von der zweiten Kritik umrissenen moralischen und metaphysischen Perspektiven individualistischer Natur. Es gilt für den Schleiermacher der Reden, der sich um den Versuch einer Vermittlung zwischen dem strengen Individualismus seiner Auffassung von Religion als Anschauung des Unendlichen und dem Erfordernis bemüht, von der gesellschaftlichen Dimension der Religion Rechenschaft abzulegen 334 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft

(man beachte, dass dieses Erfordernis sich nicht aus äußerlichen Gründen aufdrängt, sondern sich unvermeidlich aufgrund der Tatsache einstellt, dass Schleiermachers Konzeption der Anschauung des Unendlichen wesentlich durch das »Priestertum« charakterisiert ist). Es gilt für Hegel, vom Hegel der sogenannten »theologischen Jugendschriften« bis zum Hegel der späten Berliner Vorlesungen. An dieser Stelle mögen wir anhalten, ohne Weiteres hinzuzufügen. Es ist klar, dass es ungenügend wäre, wenn man das alles nur durch den Hinweis auf die Bedeutung erklären wollte, die dem ekklesiologischen Motiv und dem Problem der zwei civitates im Christentum zukommt. Eine befriedigende Erklärung dessen, wie eine Disziplin sich herausgebildet hat, kann gewiss nicht gegeben werden, ohne dass zugleich die Tatsache, dass sie sich an einem bestimmten Punkt herausgebildet hat, in Betracht gezogen wird. So wie niemand den Versuch unternehmen würde, die Bedeutung, die die klassische Soziologie der Religion (und nicht nur dem Christentum!) zugeschrieben hat, dadurch zu erklären, dass er diese Frage von der radikaleren Frage danach abkoppelt, warum sich an einem bestimmten Punkt das Erfordernis einer Wissenschaft der Gesellschaft herausgebildet hat, so wenig wäre es möglich, der Tatsache, dass sich die klassische Religionsphilosophie als Sozialphilosophie herausgebildet hat, dadurch Rechnung zu tragen, dass man diese Frage von der Frage nach der Entstehung der Religionsphilosophie abkoppelt. Historisch gesehen entsteht die Religionsphilosophie (und selbst der Name »Religionsphilosophie«) infolge der Krise der ontologischen Metaphysik und wird sodann zur eigenständigen Disziplin. Das ist nicht nur in Bezug auf die »kontinentale«, kantsche und nachkantsche Tradition wahr, sondern auch und zuvor noch in Bezug auf die angelsächsische empiristische Tradition (man denke z. B. an Humes Dialogues Concerning Natural Religion). Wenn nachfolgend auch im kirchlich-konfessionellen Bereich von »Religionsphilosophie« statt von »natürlicher Theologie« gesprochen worden ist, um damit den ersten der drei Teile zu bezeichnen, in die man (ohnehin erst seit dem 17. Jahrhundert!) die »Apologetik« einzuteilen pflegte (demonstratio religiosa, demonstratio christiana, demonstratio catholica) 11, so setzt dieser Gebrauch eben das philosophische Ereignis der Infragestellung der ontologischen Metaphysik voraus. Die Krise der ontologischen Metaphysik und desjenigen Teilbereichs derselben, den die rationale Theologie repräsentierte, zwang dazu, die Aufmerksamkeit auf jene menschliche Wirklichkeit zu rich- 227 335 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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ten, von der die rationale (bzw. »natürliche«) Theologie gemeint hatte, sie zu erklären und zu legitimieren: nämlich auf die Religion. Aber eben dieser Umstand, der zur Disziplin der »Religionsphilosophie« führte, determinierte auch ihre prekäre Verfassung: wie kürzlich zu Recht angemerkt wurde, »verdankte [die Religionsphilosophie] ihren Aufschwung dem Niedergang eben der Disziplin, deren sie bedurfte, um dem Anspruch gerecht zu werden, dem sie zu unterwerfen war: Aussagen über das Ganze der Religion zu machen und dabei auch die wichtigste Frage der Religion, die Frage nach der Art und der Wirklichkeit des Göttlichen, nicht auszuklammern«. 12 Dieser Umstand könnte einfach widersprüchlich erscheinen, so dass es so scheinen könnte, als besiegele er von Anfang an das Schicksal der Religionsphilosophie. In diesem Sinne wäre dann die Religionsphilosophie nichts weiter gewesen als der äußerste, inkonsistente Versuch, eine kulturelle Wirklichkeit zu legitimieren, die von der Kritik ihres Gegenstandes zum Verschwinden bestimmt gewesen war. Dabei stellte die philosophische Infragestellung der natürlichen Theologie eine Art »Pendant« zu den empirischen und »aufklärerischen« Kritiken der Religion dar, welche »die Krise des europäischen Bewußtseins« 13 weithin geprägt hatten: die Hervorhebung der psychosozialen Genese der Religion; die auf den anthropologisch-vergleichenden Ansatz folgende Relativierung des Christentums; die Pointe der politischen Funktion des »Priesterbetrugs«; die kritische Lektüre der Texte, die sich bislang der historisch-philologischen Methode aufgrund ihrer vermeintlichen Heiligkeit entzogen hatten. In der Tat hatten das Gesamt dieser empirischen Forschungen und die Infragestellung des kognitiven bzw. »wissenschaftlichen« Charakters der natürlichen Theologie eine kumulative und sich gegenseitig verstärkende Wirkung. Indem der Stand der empirischen Forschungen auch von außen Anlass zu Zweifeln an der natürlichen Theologie gab, verstärkte er noch die Verlagerung der Aufmerksamkeit, welche die Krise der natürlichen Theologie bereits innerhalb der philosophischen Betrachtung hervorgerufen hatte, nämlich die Verlagerung der Aufmerksamkeit weg von dem bezweifelbar gewordenen theologischen Gegenstand und hin zur menschlichen Wirklichkeit bzw. ihrer kulturellen Ausformung, die dessen Existenz annahm, also zur Religion. Auch wenn diese Verlagerung vorübergehend die tröstliche Täuschung fördern konnte, man habe auf einer anderen Ebene die theoretische Konsistenz der Religion wiedererlangt, welche durch die ko336 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft

gnitive Auflösung des theologischen Gegenstandes auf der Ebene direkter Erkennbarkeit verloren gegangen war, so war die Verfassung der so entstandenen Religionsphilosophie deswegen nicht weniger problematisch. Zwar hatte sich diese neue Disziplin einen ihr eigenen Erkenntnisgegenstand – womöglich sine die – zugesichert, an dessen empirischem Dasein man hätte schwerlich zweifeln können und an dem sich die philosophische Reflexion gut abarbeiten konnte (we- 228 nigstens solange, wie die Legitimität der Philosophie und ihre Zuständigkeit, sich erkenntnismäßig bzw. »wissenschaftlich« mit menschlichen Gegenständen zu beschäftigen, nicht selbst in Frage gestellt wurde). Aber diese Zusicherung und diese Sicherheit erstreckten sich natürlich keineswegs auch auf den theologischen Gegenstand, den man mittels der Transformation bzw. Substitution der natürlichen Theologie durch die Religionsphilosophie hätte bewahren wollen. Die Religionsphilosophie hat sich also auf der Grundlage eines paradoxen Verhältnisses mit der philosophischen Theologie als Disziplin herausgebildet, das man gut mit dem catullischen »nec cum te nec sine te vivere possum« zum Ausdruck bringen könnte. Eine paradoxe, aber deswegen nicht einfach widersprüchliche Lage. Denn es handelte sich dabei – und handelt sich dabei auch weiterhin – um keinen statischen Widerspruch, der zur gegenseitigen Vernichtung seiner sich widersprechenden Momente führt, sondern um einen dynamischen Widerspruch, bei dem jedes Moment aufgrund seiner eigenen inneren Krise die Bildung des anderen hervorruft: Die Krise der natürlichen Theologie führt zu einer philosophischen Betrachtung der Religion, die ihrerseits wiederum die philosophische Erkennbarkeit Gottes verlangt. Es konnte – und kann – sehr einfach erscheinen, sich dieses Paradoxes zu entledigen; ja, es kann sogar gekünstelt erscheinen, ihm eine theoretische Legitimität zuzugestehen, zumal dieses Paradox, obwohl es sich geschichtlich herausgebildet hat, einfach mit dem Widerstand dagegen erklärt werden könnte, dasjenige aufzugeben, was die Erkenntniskritik nunmehr aufzugeben gebot. Tatsächlich lassen sich die vermeintlichen Auswege aus dem paradoxen Zirkel nicht nur abstrakt, sondern auch historisch identifizieren. Ein erster Ausweg besteht darin, die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Religion zu akzeptieren und sie zum Gegenstand kognitiver – und nicht notwendig »philosophischer« – Betrachtung zu machen, ohne sich dabei über die Gültigkeit der von der Religion 337 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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geltend gemachten kognitiven Ansprüche äußern zu wollen. Diese Lösung lässt vielleicht so etwas wie einer »Philosophie« der Religion nicht sehr viel Raum – wie sich schon am klassischen Beispiel von Hume zeigt, bei dem der skeptische und/oder fideistische Schluss der Dialoge flankiert wird von der empirischen Rekonstruktion der psycho-sozialen Genese der Religion in der Naturgeschichte der Religion –, aber sie ist aus logischer Perspektive zweifellos kohärent und hat darüber hinaus den nicht geringfügigen Vorteil, unter den kulturellen Phänomenen, die man als »Religionen« bezeichnet, nicht diejenigen Religionen zu privilegieren, die die Existenz von »Gott« behaupten. Es gibt jedoch nicht nur diesen gleichsam äußeren Ausweg, um sich dem paradoxen Zirkel zu entziehen, sondern auch noch einen Ausweg, den wir als inneren Ausweg bezeichnen könnten: es gibt keine natürliche Erkenntnis von Gott, und alles, was der Mensch über Gott sagen kann, ist das, was Gott selbst dem Menschen über sich gesagt hat. Auch dieser Ausweg, den die Theologie – sowohl die evangelische als auch die reformierte – wiederholt vorgeschlagen hat, lässt 229 der Philosophie nicht sehr viel Raum, und gewiss lässt er keinen Raum für die Religionsphilosophie, welche vielmehr zur Akme der hýbris wird (die Religion selbst kann diesem Ausweg zufolge in einem negativen Licht als menschliche Dimension aufgefasst werden, der die Heterogenität der christlichen Offenbarung angeglichen werden soll). Er hat jedoch eine innere Kohärenz, zumal jede Paradoxität in einen Bereich abgeschoben wird, der äußerlich gegenüber dem ist, woran sich der in diesem Sinne entfaltete Diskurs halten zu müssen glaubt. Es handelt sich zweifellos in beiden Fällen um gangbare und historisch auch tatsächlich begangene Auswege. Allerdings erfassen sie in keiner Weise die Natur des Problems, das sich mit dem paradoxen Zirkel zwischen »natürlicher Theologie« und »Religionsphilosophie« gestellt hat. In Wirklichkeit ist dieser Zirkel nichts anderes als die äußerste – negative oder eben besser gesagt paradoxe – Gestalt, die der ontologische Beweis – Gipfel und Grund der rationalen Theologie – nach der Infragestellung der Metaphysik als Ontologie angenommen hat. Niemand hat dies besser als Hegel wahrgenommen, wie sich an seiner Neuformulierung und Neubewertung des ontologischen Beweises zeigt (der vom systematischen Gesichtspunkt aus der neuen Gestalt und dem neuen Titel angehört, den die Metaphysik bei Hegel annimmt, nämlich der »Logik«), die mit der Ausarbeitung einer als 338 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft

Höhepunkt und Abschluss der philosophischen Arbeit gedachten »Philosophie der Religion« einhergehen. Der Zirkel zwischen Religionsphilosophie und philosophischer Theologie ist nicht einfach widersprüchlich, sondern ist von einem vitalen und konstituierenden Widerspruch beseelt, wenn die Existenz des Gegenstands der alten natürlichen Theologie nicht als unabhängig von dem darauf bezogenen menschlichen Handeln gedacht wird. Die Religionsphilosophie bezeichnet so für Hegel die Wiedererlangung der Möglichkeit einer philosophischen Theologie nach dem »Tod Gottes« und dem »spekulativen Karfreitag«. Da sich die Religionsphilosophie in ihrer ursprünglichen und paradoxen Gestalt als eine Philosophie der Gesellschaft dargestellt hat, stellt sich nun aber die Frage, welches der theoretische Zusammenhang zwischen der Krise des ontologischen Beweises – bzw., wenn man es vorzieht, der »Metaphysik« oder der »Ontotheologie« – und der religionsphilosophischen Relevanz der Gesellschaft sei. Einstweilen können wir aber schon die Hypothese aufstellen, dass die Unaufmerksamkeit der gegenwärtigen Religionsphilosophie für das Problem der Gesellschaft (sei es für das Problem der religiösen Gesellschaft oder sei es für das Problem eines etwaigen religiösen Sinnes von Gesellschaft) wohl darin ihre tiefe Bedeutung haben dürfte, dass sich die gegenwärtige Religionsphilosophie im Wesentlichen diesseits oder jenseits der Krise des ontologischen Beweises stellt: diesseits – bei den zumeist analytischen Ausformungen, die noch dem Versuch einer logischen Analyse des ontologischen Beweises nachgehen oder sich auf ein radikal empirisches Erkenntnisstreben begrenzen; jenseits – bei den zumeist »kontinentalen« Ausformungen, welche die Kritik der Ontotheologie für endgültig und abge230 schlossen halten. 14 Wir müssen uns also fragen, welches der Zusammenhang zwischen ontologischem Beweis und philosophischer Theorie der Gesellschaft ist; genauer gesagt müssen wir uns fragen, warum die Krise der Ontotheologie Anlass zu einer philosophischen Theorie der Gesellschaft gibt. Es geht daher darum, nicht nur einfach die bezüglich dieser Frage relevanten Charakteristiken des ontologischen Beweises, sondern genauer gesagt die Charakteristiken seiner Krise zu identifizieren. Wäre man nämlich außerhalb des durch diese Krise ausgebildeten Problembereiches, dann wäre man auch außerhalb des Erfordernisses einer Theorie der Gesellschaft, genauso wie man außerhalb des Erfordernisses einer Religionsphilosophie wäre, deren historische 339 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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und systematische Genese wir in der Krise der Metaphysik erkannt haben. Das aber bedeutet umgekehrt, dass man dann, wenn man das Problem einer Theorie der Gesellschaft oder einer Religionsphilosophie stellt, auch das Problem der Krise des ontologischen Beweises in Angriff nehmen muss. Wie man wohl schon ahnen kann und wie im Folgenden noch zu erläutern sein wird, so lautet die meinen Betrachtungen zugrunde liegende These, dass die Krise des ontologischen Beweises kein Moment seiner Auflösung ist, sondern ihm wesentlich zugehört. Das aber hat zwei Folgen. Die erste und offensichtlichere Folge ist, dass weder die Theorie der Gesellschaft noch die Religionsphilosophie im Verhältnis zur Ontotheologie sozusagen episodisch bzw. akzidentell sind, sondern dass sie ihr wesentlich zugehörig sind, wie auch immer es um die Kontingenz ihrer wirklichen geschichtlichen Ausbildung bestellt sei. Die zweite und weniger offensichtliche Folge aber ist, dass es, wenn die Krise des ontologischen Beweises zum Wesen desselben gehört, dann nicht möglich ist, sich ihr zu entziehen, es sei denn, man ignorierte sie: eben dies geschieht, so behaupten wir, in der gegenwärtigen Religionsphilosophie, welche die gesellschaftliche Dimension ihrer eigenen Probleme zumeist ignoriert, so dass wir diesbezüglich den psychologisierenden Begriff der »Verdrängung« gebraucht haben. Die »Rückkehr des Verdrängten« würde dann also noch eine negative Figur der in Frage stehenden ontologischen Zirkelhaftigkeit darstellen. Angesichts der Tatsache, dass das Problem in der gegenwärtigen Religionsphilosophie überwiegend ignoriert wird, könnte man gewiss einwenden, diese Figur sei ein rein mentales Konstrukt, das jedweder Entsprechung mit der Wirklichkeit entbehrt und zur Stützung einer phantasierenden theoretischen Sicht ausgedacht worden ist. Im Übrigen ist die Religionsphilosophie, zumindest unter einem rein quantitativen Gesichtspunkt, in der gegenwärtigen philosophischen Landschaft selbst eher ziemlich marginal. Diese Randdisziplin, die nicht selten genötigt ist, ihre eigene Legitimität zu verteidigen, ja nicht einmal sie selbst, sondern das von ihr Ignorierte und Verdrängte mit so weitreichender und umfassender Bedeutung zu beladen, könnte daher lächerlich übertrieben erscheinen. Aber eine solche allzu leichtfertige Erledigung trägt nicht der unumgänglichen und offensichtlichen Feststellung Rechnung, mit der 231 unsere Betrachtungen eingesetzt haben: dass es nämlich zwar für die 340 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft

gegenwärtige Religionsphilosophie charakteristisch zu sein scheint, die gesellschaftliche Dimension zu ignorieren, dass aber umgekehrt die Soziologie im Zuge ihres wiederentdeckten Interesses für die Theorie der Gesellschaft das religiöse Problem als ein Problem wiederfindet, das wesentlich mit der Ausarbeitung einer solchen Theorie verbunden ist. 15 Und dieses Wiederfinden – so sollte man nach all dem hinzufügen, was zur Zirkelhaftigkeit gesagt worden ist – ist eng mit dem reflexiven Charakter verbunden, der für eine soziologische Theorie der Gesellschaft charakteristisch ist. Dieser Zusammenhang zwischen Zirkularität und Reflexivität kann expliziert werden, indem man erklärt, wie und warum die Krise zum Wesen des ontologischen Beweises gehört und warum diese Krise Anlass zu einer philosophischen Theorie der Gesellschaft gibt. Der ontologische Beweis folgert aus dem Wesen die Existenz. Gewiss sind die Weisen dieser Schlussfolgerung in den verschiedenen Formulierungen des Beweises unterschiedlich (letztlich können sie entweder auf die Schlussfolgerung aus »Notwendigkeit« oder auf die aus »Vollkommenheit« zurückgeführt werden; diese beiden Weisen verflechten sich bekanntlich in der Geschichte des Beweises miteinander). Jedenfalls gilt, dass das Charakteristikum dessen, was Kant den »ontologischen« Beweis genannt hat, darin besteht, aus dem Wesen auf die Existenz zu schließen bzw. schließen zu wollen. Die Krise des ontologischen Beweises findet demnach dann statt, wenn diese Schlussfolgerung nicht gelingt. Dann gewinnt die Existenz, über welche die Vernunft herrschen wollte, indem sie sie sozusagen in das Wesen zurückführen wollte, die Oberhand über das Wesen und über die vom Herrschaftswillen beseelte Vernunft. Doch wie die Verneinung der Deduzierbarkeit der Existenz aus dem Wesen nicht so weit gehen kann – und historisch auch nicht so weit gegangen ist –, das Wesen b selbst zu bezweifeln, so kann die Behauptung, dass die Existenz die Oberhand gewonnen hat, sich nicht über eine äußerste Grenze hinwegsetzen, an der doch wenigstens die Gültigkeit der Gründe anerkannt wird, die zu dieser Behauptung angeführt werden. Dieses Sich-verwesentlichen und Sich-rationalisieb Sowohl in der gekürzten deutschsprachigen Version (MMO-121) als auch in der französischsprachigen Version (MMO-139), aber nicht in der italienischsprachigen Version (MMO-125) des diesem Anhang zugrundeliegenden Aufsatzes ist an dieser Stelle statt von »Wesen« (essenza) von »Existenz« die Rede.

341 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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ren der Behauptung reiner Existenz, dieses Oxymoron von existierenden oder jedenfalls irgendwie aus der Existenz folgenden Gründen gibt dem Argumentieren jene Rechte zurück, welche die Behauptung der reinen Existenz verschluckt zu haben schien. Diese Tatsache ist alles andere als überraschend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Infragestellung des ontologischen Beweises doch in einer Behauptung bestanden hatte, nämlich in der Behauptung der reinen Existenz und des Vorangehens der reinen Existenz vor jeder Behauptung (vor jedem Wesen oder vor jeder logischen Möglichkeit). Anders gesagt: die Anerkennung der Grenzen der Vernunft ist immer Sache der Vernunft. 16 Und eben dieser Sachverhalt lässt die Ansprüche des ontologischen Beweises in demselben Augenblick wieder aufleben, in dem man ihn infrage stellt. Es ist offensichtlich, dass die hier abstrakt dargestellten Denkbe232 wegungen dem Übergang von der wolffschen Metaphysik bzw. von der »Schulmetaphysik« zur kantschen Kritik an dieser Metaphysik und danach zur hegelschen Wiederbelebung des ontologischen Beweises entsprechen. Tatsächlich sind die angeführten Gründe so aufeinander gefolgt. Aber eben diese Tatsache beschreibt eine Zirkelhaftigkeit, aus der auszubrechen nicht mehr möglich ist: eine Zirkelhaftigkeit, welche mithin die Reflexivität der causa sui auf die Bewegung der Krise des ontologischen Beweises bzw. auf den ontologischen Beweis als Krise seiner selbst überträgt. Gewiss, die heideggersche Ve r w i n d u n g der Metaphysik möchte das Ende der Ontotheologie besiegeln. Wenn es aber wahr ist, dass die Ve r w i n d u n g dem Wort »Ende« eine besondere Konnotation gibt, 17 dann ist es jedoch auch wahr, dass kein anderes Wort mehr als das Wort »Ende« der Metaphysik zuzugehören scheint. Es ist sicher kein Zufall, dass Heidegger wie Hegel so sehr auf der Konvertibilität von Anfang und Ende insistiert haben. Diese Konvertibilität stellt aber eben gerade die zirkuläre Bewegung des ontologischen Beweises selbst dar, für den letztendlich kein Weg zu Gott führt, wenn er seinen Anfang nicht schon von Gott selbst nimmt. Es wäre gerade allzu selbstverständlich zu bemerken, dass bei der heideggerschen Ve r w i n d u n g der Metaphysik Gott, oder vielmehr »der Gott«, sich nur noch innerhalb einer durch den Rückzug des Seins erschlossenen Lichtung ankündigen kann – falls er sich überhaupt noch ankündigen sollte –, wobei es sich bei diesem Rückzug mehr noch um einen Rückzug handeln muss, der nicht der Vergessenheit anheimgefallen ist, wie es im Gegensatz dazu in der Epoche der Metaphysik bzw. der 342 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft

Ontotheologie der Fall ist. Der in Frage stehende Punkt ist aber vielmehr, ob diese Epoche, die sich als solche als epoché des Seins zeigt, zum Abschluss gebracht werden kann und ob ihr dabei das Wort »Ende« mit einer Denkbewegung zugeschrieben werden kann, die nicht »E r i n n e r u n g a n d e n e r s t e n A n f a n g d e s a b e n d l ä n d i s c h e n D e n k e n s « 18 ist, d. h. die nicht »A n d a c h t « an das Gewesene als an das »f e r n h e r n o c h We s e n d e « 19 ist. Wir glauben, dass Derrida es richtig getroffen hat, als er von dem »lächerlichen« Charakter eines Anspruches gesprochen hat, sich außerhalb einer Epoche stellen zu wollen. 20 Die Zirkelhaftigkeit der W i e d e r h o l u n g ist das Zeichen dafür, dass die Rückkehr der Odyssee, je mehr sie stattfindet und s i c h e re i g n e t , umso mehr den Raum der Ilias erschließt. Hier steht kein Subjektivismus in Frage – auch wenn der Subjektivismus gewiss eine Figur der ontologischen Zirkelhaftigkeit ist, wie es auch das E r e i g n i s ist –, sondern die Unmöglichkeit des Denkens, sich anders zu gestalten als in der zirkulären Bewegung einer E r i n n e r u n g oder einer sich nach Rückkehr sehnenden Nostalgie. Das Sein reicht über seine epoché nicht hinaus, und die Wiederholung seines Rückzugs ist die Suche nach einem Hinausreichen, welche die epochale Zirkelhaftigkeit erneuert. Übrigens hat nicht einmal der ontologische Beweis – die Quintessenz der Ontotheologie – jemals beansprucht, das Hinausreichen des Gedachten über den Gedanken, d. h. über das, was wirklich vorgestellt wird, zu beseitigen, da ganz im Gegenteil gerade dieses Hinausreichen die Bedingung für das 233 Funktionieren des Beweises selbst und der Motor seiner Zirkelhaftigkeit ist. Und in dem Moment, in dem dieses Hinausreichen sich nicht mehr als das Hinausreichen des Gedachten über den Gedanken, sondern mittels einer Umkehrung als das Hinausreichen der Existenz über das Wesen zeigt, aus welchem die Existenz deduziert werden sollte, bildet sich die Zirkelhaftigkeit paradoxerweise als Reflexion und Rückkehr aus, die den Raum der E r f a h r u n g 21 umso mehr erschließen, je mehr sie sich vollenden. Diese Betrachtungen möchten mithin die Unausweichlichkeit des ontologischen Zirkels hervorheben, mit der Konsequenz, dass ein Entweichen mittels des Denkens nicht stattfinden kann; oder einfacher gesagt: es kann überhaupt nicht statt-finden, es kann sich nicht e r e i g n e n , sondern bleibt im etymologischen Sinne Utopie und mithin auf ein »anders als Denken« angewiesen, dem wir mit Levinas – auf den die letztere Wendung anspielt 22 – den Namen »Ethik« geben 343 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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wollen. Die Krise des ontologischen Beweises ist also nicht dessen Schluss und Ende, sondern die äquivoke Umbildung des Genitivs »Krise des ontologischen Beweises« in einen Subjektsgenitiv, die sich gerade dank dessen vollzieht, was er als Objektsgenitiv bedeutet. Der ontologische Beweis als Krise – und als Krise seiner selbst – ist ein Das-Ende-beenden, eine Krankheit zum Tode. Man kann also verstehen, warum sich die aus der Krise der ontologischen Metaphysik geborene Religionsphilosophie anfangs als eine philosophische Theorie der Gesellschaft ausgebildet hat, und auch, warum diese ursprüngliche Gestalt hat später vergessen werden können. Wie wir schon gesehen haben, aber wie man jetzt vielleicht besser einsehen wird, ist die Religionsphilosophie, insofern sie wieder der Metaphysik zuneigt, deren Ende sie ihre eigene Existenz verdankt, noch eine Figur des ontologischen Beweises als Krise. Sie wiederholt genau jene Krise des Übergangs vom Wesen zur Existenz, wonach sich die Existenz (in diesem Falle die Religion, insofern sie eine nicht-philosophische und noch nicht rational verwesentlichte, sondern historisch gegebene Tatsache ist) als etwas zeigt, was dem Wesen (in diesem Fall der rationalen Theologie) vorangeht und es begründet. Nun ist die existierende Religion ein wesentlich soziales Phänomen. Und das ist sicher ein erster Grund, der die klassische Religionsphilosophie dazu nötigte, die soziale Dimension als wesentlich in Betracht zu ziehen, sei es im spezifischen Sinn einer philosophischen Theorie der religiösen Gemeinschaft, sei es im allgemeinen Sinn einer philosophischen Theorie der Gesellschaft, sofern davon ausgegangen wird, dass die Gesellschaft immer eine religiöse Dimension besitzt. Diese letztere Auffassung, derzufolge der Gesellschaft eine religiöse Dimension wesentlich sei, ist selbstverständlich auf eine Kultur zu beziehen, die (wie diejenige Kultur, in der sich die klassische Religionsphilosophie herausgebildet hat) noch nicht radikal säkulari234 siert war und in welcher sich daher die gegenteilige Auffassung, derzufolge der Gesellschaft die religiöse Dimension nicht wesentlich sei, nur als polemische Alternative herausbildete, die den »Priesterbetrug« verdeutlichen sollte. Man muss dazu aber bemerken, dass das Theorem der Säkularisierung ein evolutives Verständnis der Gesellschaft impliziert und sich also sehr gut mit der Annahme einer der Gesellschaft wenigstens ursprünglich wesentlichen religiösen Di344 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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mension verträgt. Das Theorem der Säkularisierung steht daher trotz des gegenteiligen Ausgangs in Kontinuität mit der klassischen Religionsphilosophie. Allgemeiner gesagt steht selbst die klassische Soziologie trotz aller Änderungen hinsichtlich Methoden und Inhalten in Kontinuität mit der klassischen Religionsphilosophie, weil sie – auch und mehr noch in den Fällen, in denen sie keine evolutive Theorie der Gesellschaft formuliert hat! – die religiöse Dimension als konstitutiv für die Gesellschaft angenommen hat. Man kann nämlich sagen, dass sich die Soziologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht in religiöse und irreligiöse Theorien der Gesellschaft unterteilt, sondern in nicht- bzw. schwach-evolutive Theorien, bei denen die Religion als Grundnorm der gesellschaftlichen Integration betrachtet wird (vgl. z. B. den Funktionalismus à la Durkheim), und evolutive bzw. stark-evolutive Theorien, bei denen die Religion als eine der Gesellschaft ursprünglich wesentliche Dimension erachtet wird (vgl. z. B. Weber; es ist aber offensichtlich, dass man noch weiter zurückgehen kann). Eben gerade diese Überlegungen verdeutlichen die Unzulänglichkeit des ersten Grunds, den wir angeführt haben, um der Ausbildung der klassischen Religionsphilosophie als Theorie der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Gewiss hat, wie gesagt, die Verlagerung des theoretischen Blicks von der Vernunftwahrheit (von der rationalen Theologie) auf die geschichtliche Tatsache (die Religion als geschichtlich gegebenes Phänomen) dazu geführt, die offensichtlich gesellschaftliche Dimension des in Frage stehenden geschichtlichen Phänomens zu berücksichtigen. Obwohl dieser Grund an sich schon genügen könnte, um eine Religionsphilosophie zu determinieren, in welcher die gesellschaftliche Dimension ein wesentliches theoretisches Moment darstellt, erschöpft er die in Frage stehende Denkbewegung jedoch nicht und ist nicht einmal deren wichtigster Grund. In Wirklichkeit versteht man diese Denkbewegung nur dann in ihrer Wurzel, wenn man berücksichtigt, wie sich eine Wissenschaft von der Gesellschaft – die »Soziologie« – herausbildet. Durkheim hat bemerkt, dass die Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft der Abhängigkeit des religiösen Bewusstseins von Gott analog sei; ja, in seiner soziologischen Interpretation war die Abhängigkeit von Gott der religiöse Ausdruck für die gesellschaftliche Tatsache, dass die Individuen vom umfassenderen Kollektiv der Gesellschaft abhängen. 23 Wenn man diese Bemerkung aus dem empirischen Sinne, in dem sie formuliert worden ist, in einen phi345 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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losophischen Sinn zurückübersetzt, dann kann man daran nochmals die Zirkelhaftigkeit des ontologischen Beweises erkennen. Die Existenz – in diesem Fall der Gesellschaft – wird dabei an235 fänglich durch einen Akt des seinen Grund und seine eigene Bedingung denkenden Denkens behauptet. Sowohl der Weg aus den perfectiones als auch der Weg aus dem necessarium werden von diesem die Gesellschaft denkenden Denkakt begangen, ja sie sind in einem einzigen Weg synthetisiert, der nur nachträglich, aufgrund der Notwendigkeit seiner analytischen Bestimmung, in der einen oder anderen Richtung ausgearbeitet werden kann und muss. Die Bestimmung wird nötig – und sie wird nötig als analytische Bestimmung –, damit das Denken in seinem höchsten reflexiven Akt, mit dem es, während es zu sich zurückkehrt und weil es zu sich zurückkehrt, paradoxerweise aus sich herausgehen will, nicht rein tautologisch wird. Also: ein synthetischer Akt der Noesis, der sich nur analytisch verwirklichen kann. Das Individuum kann die Klasse, in der es enthalten ist, nur dadurch begrifflich umgreifen und zusammenhalten, dass es in diesem Akt des Begreifens und Einschließens ein Moment dieses Begreifens und Einschließens ausgliedert: das »Was« (die »Vollkommenheiten« oder genauer die Existenz als eine Vollkommenheit) oder das »Wie« (die Modalität des Gedachten, d. h. die Notwendigkeit). Um ein Beispiel anzuführen: obwohl im hegelschen Denken – und insbesondere im hegelschen Denken des ontologischen Beweises – die Notwendigkeit (als Freiheit) vorherrscht, konnte sich Feuerbach doch nichtsdestoweniger, ja vielmehr mit vollem Recht, als Kritiker Hegels gerieren, indem er in der Religion das Selbstbewusstsein als Bewusstsein der G a t t u n g , also als Summe der perfectiones des Individuums, hervorhob.24 Diese Probleme einer Bestimmung auf analytischem Weg mit synthetischen Ergebnissen sind also kurzum die Probleme, die sich aus der paradoxen Bewegung einer Reflexivität ergeben, die, indem sie sich selbst denkt, mehr als sich selbst denkt bzw. zu denken beansprucht; oder umgekehrt: es sind Probleme einer Reflexivität, die, indem sie mehr als sich selbst denkt, sich selbst denkt bzw. zu denken beansprucht. Es sind die Probleme eines Individuums, das seine Klasse in sich begreift. Die Substitution der Wissenschaft von Gott (der Theologie als rationaler Theologie) durch eine Wissenschaft von der Gesellschaft (die Soziologie in ihrem gesellschaftstheoretischen Moment) verändert in keiner Weise die Grundstruktur des Problems. Denn im Unterschied zu jedem anderen Wissen ist die Wissenschaft von der 346 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Gesellschaft das Wissen von der wissenden Totalität, das heißt, sie ist nochmals durch jene ganz besondere Reflexivität gekennzeichnet, 25 durch die sie nicht nur sich selbst, sondern sich selbst und mehr als sich selbst, nämlich Individuum und Klasse zugleich denkt und das eine nur insofern denkt, als sie auch das andere denkt, und umgekehrt. Nicht ohne Grund – dies sei zur empirischen und faktischen Bestätigung eines Gedankenganges gesagt, der allzu abstrakt klingen mag – hat sich die Soziologie in dem Moment, in dem sie wieder damit angefangen hat, über sich selbst als Theorie der Gesellschaft zu reflektieren, als eine solche in zweierlei Gestalt herausgebildet: als Wissenssoziologie und zugleich als Religionssoziologie (man denke z. B. an Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Luckmann und Berger und an all die ausdrücklichen Bezüge auf Feuerbach, die – pour cause – dieses Werk durchziehen). 26 236 Heißt dies aber, dass mutato nomine de eadem re fabula narratur? Sind also rationale Theologie und Theorie der Gesellschaft zwei verschiedene Namen für ein und dasselbe Denkunternehmen? In gewissem Sinne ja. Aber nur in gewissem Sinne, d. h. nur, wenn man darauf beharrt, den – sozusagen – metaphorischen Charakter der rationalen Theologie nicht anzuerkennen, d. h. den Umstand, dass sie etwas anderes sagen will, als was sie wirklich – und notwendigerweise bzw. unausweichlich – sagt. Also nur, wenn man darauf beharrt, den Diskurs der Ontotheologie für univok und nicht für radikal äquivok zu halten: äquivok – so beachte man – gerade aufgrund ihrer radikalen und programmatischen Univozität. Es handelt sich also nicht darum, wieder eine analogische Auffassung des Seins zu vertreten und sie der radikalen Univokation des Seins entgegenzusetzen, die vom ontologischen Beweis (als Quintessenz der Ontotheologie) unternommen wird. Im Gegenteil handelt es sich darum, die vom ontologischen Beweis geltend gemachte univoke Auffassung des Seins in extremer Weise hervorzuheben. Das heißt, es handelt sich darum, mit größter Energie zu behaupten, dass das Sein nicht über seine epoché hinausgeht; denn nur so erschließt sich der Raum – oder vielmehr die Utopie – eines autrement qu’être. Diese Utopie wird immer – aequi-voce – in der vox mitanklingen, die univok und ohne Illusion möglicher Mittelwege das Sein aussagt und so, in den Seienden, dem Sein eine Stimme verleiht. Aber hat denn der Wechsel des Namens in fabula etwa keine Bedeutung? Zweifellos hat er eine Bedeutung! Auf eine etwas banale, aber doch ganz genaue Weise könnte man sagen, dass der Wechsel des 347 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

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Namens – von »Theologie« zu »Soziologie« – die Bedeutung einer Säkularisierung hat. Aber auch über das Wort »Säkularisierung« muss man sich verständigen. Es muss gewiss im Sinne einer Krise der Ontotheologie verstanden werden – der Wechsel des Namens ist ja gerade das Zeichen einer solchen Krise –, aber man muss sich dabei dessen bewusst sein, dass man aus dieser Krise nicht entkommen kann und dass infolgedessen die »Krise der Ontotheologie« zu einem äquivoken Genitiv wird: zu einem Genitiv, der zugleich Objekts- und Subjektsgenitiv ist, wie es der Reflexivität der Ontotheologie angemessen ist. Aus der epoché des Seins kommt man nicht heraus, und die Krise der Ontotheologie ist eine sich selbst nährende Krise, ein unaufhörliches Das-Ende-beenden, bei dem sich das wesentliche Wort der ontologischen Metaphysik – »Ende« – als das Wort der Metaphysik zeigt, als das Wort, das die Metaphysik ist. Der Genitiv »Ende der Metaphysik« ist nochmals ein äquivoker Genitiv, ein u n ü b e rw i n d b a r und u n v e r w i n d b a r äquivoker Genitiv. Das Ende der Metaphysik kann nicht überwunden werden: das Ende der Metaphysik verwindet man nicht. Was kann also heute Sinn und Aufgabe einer Religionsphilosophie sein? Den eigenen Ursprung (die Krise der Ontotheologie, dank derer allein sie im Übrigen weiterhin bestehen kann) nicht zu vergessen und mithin zu zeigen, dass die unvermeidliche »Säkularisie237 rung« der Theorie der Gesellschaft keine Ve r w i n d u n g ist, die es ermöglichen würde, über die Epoche – die epoché – des Seins hinauszugehen bzw. ihr gegenüber einen »Schritt zurück« zu vollziehen. Auf diese Weise wird die Religionsphilosophie zu einer Art Propädeutik zur Ethik als erster Philosophie oder besser – da die Ontologie sich von ihrem protologischen Rang nicht entheben lässt und »Protologie« der Eigenname für Ontologie ist – zur Ethik als »vorgängiger« Philosophie. Nur indem man anerkennt, dass man den Willen zur Macht nicht überwinden kann und dass jeder Anspruch darauf, den Willen zur Macht verwunden zu haben, die Krankheit zum Tode verstärkt, kann man Gott und das Heil, jenseits des Seins, in dem Sterbenden erkennen, der ausruft: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Nur so wird die »törichte Botschaft« gleichwohl – äqui-vok – als eine »gute Nachricht« erklingen.

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Anmerkungen Eine Ausnahme ist in gewisser Weise H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz – Wien – Köln 1986 (Endergebnis verschiedener früherer Forschungen). Wir wären geneigt, auch F. Wagner, Was ist Religion?, Gütersloh 1986, als Ausnahme zu betrachten, und zwar nicht so sehr deswegen, weil darin ein besonderes Kapitel der soziologischen Auffassung der Religion gewidmet ist, sondern wegen der philosophischen Gesamtauffassung, die dem ganzen Werk zugrunde liegt. In Italien ist besonders A. Caracciolo sensibel für das Problem der philosophischen Ekklesiologie gewesen (vgl. Religione ed eticità, Napoli 1971, S. 97–115, und Pensiero contemporaneo e nichilismo, Napoli 1976, S. 123–149). Zudem hat G. Moretti einen gehaltvollen historischen und theoretischen Aufsatz veröffentlicht (L’ecclesiologia filosofica nell’età di Goethe, in Ispirazione e libertà, Napoli 1986, S. 147–179), der X. Tilliette zu einer bedeutsamen A u s e i n a n d e r s e t z u n g damit veranlasst hat (L’idea di chiesa e la filosofia, in Teologia e secolarizzazione, hrsg. v. S. Sorrentino, Napoli 1991, S. 47–73). Persönlich haben wir den Zusammenhang zwischen Religionsphilosophie und »philosophischer Ekklesiologie« schon in unserem Buch Filosofia della religione come problema storico, Padova 1974, hervorgehoben. Noch davor hatte bereits M. Theunissen den Zusammenhang zwischen Sozial- und Religionsphilosophie mittels der Hegel-Interpretation in Hegels Lehre des absoluten Geistes als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, betont. Theologisch-positiv – wenngleich stark »liberal« und basierend auf Husserls Phänomenologie – E. Farley, Ecclesial man. A Phenomenology of Faith and Reality, Philadelphia 1974. Später werden wir ausführlich sehen, dass sich die Dimension der Religionsphilosophie auch nicht mit derjenigen der rationalen Theologie identifizieren lässt, wenngleich sie zu ihr in einem ganz besonderen Verhältnis steht; auch werden wir später Gelegenheit haben, die Frage der Säkularisierung an ihrem angemessenen systematischen Ort zu untersuchen. Schon jetzt jedoch lässt sich verstehen, dass Elemente zu einer Wiederentdeckung des Zusammenhangs zwischen Sozialphilosophie und Religionsphilosophie zu finden sind bei der sogenannten »politischen Theologie« (wohlgemerkt bei der philosophischen »politischen Theologie«; unter den bedeutendsten Sammelbänden vgl. J. Taubes [Hrsg.], Der Fürst dieser Welt, München 1983), bei einigen philosophischen Ansätzen zur Frage der »Zivilreligion« (vgl. einige der Aufsätze, die in dem von H. Kleger und A. Müller herausgegebenen Band Religion des Bürgers, München 1986, versammelt sind, sowie von denselben Autoren den Aufsatz Der politische Philosoph in der Rolle des Ziviltheologen, in Studia philosophica, 45 [1986], S. 86–111) und im Allgemeinen bei denjenigen Ansätzen, bei denen sich die (philosophische oder theologische) Reflexion über Religion im Grenzbereich oder in Interaktion mit der Soziologie vollzieht (vgl. P. Koslowski [Hrsg.], Die religiöse Dimension der Gesellschaft, Tübingen 1985). Mit dem Castelli-Kolloquium über Intersubjektivität, Sozialität, Religion (Intersoggettività, socialità, religione, Rom, 3.–7. Januar 1986; in Archivio di Filosofia, 54, 1986) sollte der Versuch unternommen werden, einige der im heutigen Panorama bedeutendsten philosophischen Richtungen dazu herauszufordern, den Zusammenhang zwischen Religionsphilosophie und Gesellschaftstheorie nicht als ein Sonderthema, sondern als ein in der philosophischen Gesamtbedeutung dieser Richtungen impliziertes Thema systematisch zu untersuchen. Interessante Elemente finden sich auch in den noch unveröffentlichten Akten der Tagung »Individuum und Institution: 1

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Anhänge Individualismus als Produkt und als Problem religiöser Kultur« (Bayreuth, 8.–10. Oktober 1987). 2 Siehe z. B. die feinsinnige Abhandlung von W. Trillhaas, Religionsphilosophie, Berlin – New York 1972, S. 194–219. 3 In diesem Sinne, so könnte man sagen, orientiert sich K. Wuchterl, Philosophie und Religion. Zur Aktualität der Religionsphilosophie, Bern – Stuttgart 1982. 4 Zur religiös-gesellschaftlichen Relevanz der pragmatischen Dimension der Sprache (wenngleich mit eher theologischer als philosophischer Zielsetzung) vgl. P. Hünermann und R. Schäffler (Hrsg.), Theorie der Sprachhandlungen und heutige Theologie, Freiburg i. B. 1987. 5 Vgl. diesbezüglich die Anmerkungen von N. Luhmann in Die Allgemeingültigkeit der Religion, in Evangelische Kommentare, 11, 1978, S. 350, und R. Robertson, Individualism, Societalism, Worldliness, Universalism: Thematizing Theoretical Sociology of Religion, in Sociological Analysis, 38 (1977), S. 281–308. 6 T. Luckmann und P. L. Berger, The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, New York 1966. 7 N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977. Unter den zahlreichen von diesem Werk hervorgerufenen theologischen Reaktionen sei hier als Beispiel nur der von M. Welke herausgegebene Sammelband Theologie und funktionale Systemtheorie, Frankfurt a. M. 1987, erwähnt. Die Diskussion wäre jedoch auf den neuesten Stand zu bringen, indem man die neue Gestalt berücksichtigt, welche die luhmannsche Theorie der Religion annimmt, nachdem sie die Paradigmen der Theorie autopoietischer Systeme assimiliert hat. Vgl. diesbezüglich D. Pollack, Religiöse Chiffrierung und soziologische Aufklärung. Die Religionstheorie Niklas Luhmanns im Rahmen ihrer systemtheoretischen Voraussetzungen, Frankfurt a. M. 1988. 8 Society, Meaning, Religion. Based on Self-Reference, in Sociological Analysis, 46 (1985), S. 5–20; Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in Archivio di Filosofia, 54 (1986), S. 41–60; Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989 (vgl. das Kap. »Die Ausdifferenzierung der Religion«). 9 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981. 10 Vgl. diesbezüglich F. T. Gottwald, Religion oder Diskurs? Zur Kritik des Habermasschen Religionsverständnisses, in Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 37 (1985), S. 193–202; K. M. Kodalle, Versprachlichung des Sakralen? Zur religionsphilosophischen Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«, in Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 12 (1987), S. 39–66. Trotz all der tiefgreifenden Differenzen zwischen habermasschem »Diskurs« und rortyscher »Konversation« ist das anti-konversationelle Religionsverständnis von Rorty in Habermas, Lyotard et la postmodernité, in Critique, März 1984, Nr. 442, S. 181–197 (vgl. S. 190–195), doch dem anti-diskursivem Religionsverständnis affin. Positive Anwendungen der »Theorie des kommunikativen Handelns« finden sich dagegen bei R. J. Siebert, The Critical Theory of Religion, Berlin – New York – Amsterdam 1985, bei K. Bauer, Der Denkweg von J. Habermas zur Theorie des kommunikativen Handelns. Grundlagen einer Fundamentaltheologie?, Regensburg 1987, in den Aufsätzen im Sammelband von E. Arens (Hrsg.), Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik einer Theorie kommunikativen Handelns, Düsseldorf 1989, und insgesamt auch in dem vorausgehenden bekannten Band von H. Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie

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Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt a. M. 1978. 11 Vgl. unter anderem K. Lehmann, Apologetik und Fundamentaltheologie, in Communio, 7 (1978), S. 283–294; M. Eckert, Gott – Glauben und Wissen, Berlin 1987, S. 2–3. 12 W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, Stuttgart – Bad Cannstatt 1986, S. 12. Auch F. Feiereis hatte in seinem Werk Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie, Leipzig 1965, wenngleich mit weniger Radikalität (was Jaeschke kritisiert), das Aufeinanderfolgen der beiden Disziplinen hervorgehoben. 13 Wir lassen hier natürlich den Titel von P. Hazards klassischem Werk La crise de la conscience européenne, Paris 19672, anklingen. 14 Es ist sehr bezeichnend, dass diejenigen Richtungen, bei denen die Zirkelhaftigkeit des alten ontologischen Beweises noch oder wieder zum Vorschein kommt, eben gerade diejenigen Richtungen sind, bei denen die gesellschaftliche Dimension, wenn auch nicht thematisch, so doch klar implizit präsent ist und es erforderlich macht, sie zu thematisieren. Dies ist etwa, wie wir schon wiederholt gesehen haben, bei der sprachanalytischen Religionsphilosophie der Fall, die in der religiösen Sprache ein besonderes Sprachspiel erkennt (über eine darin implizierte Erneuerung des ontologischen Beweises, vgl. T. M. O’Keeffe, Comprendre la religion. Remarques sur la philosophie anglophone contemporaine de la religion, in Revue des sciences philosophiques et théologiques, 64 [1980], S. 537–546 [vgl. S. 540]; es ist gewiss kein Zufall, dass sich N. Malcolm mit dem ontologischen Beweis beschäftigt hat: vgl. seinen Beitrag Anselm’s Ontological Argument, in D. Z. Phillips [Hrsg.], Religion and Understanding, Oxford 1967, S. 43–61); dies ist, wie wir anfangs angemerkt haben, auch bei der humanistisch geneigten hermeneutischen Philosophie der Fall: wir meinen die Hermeneutik, deren »Zirkel« noch Valenzen einer »Philosophie des Geistes« besitzt bzw. sie wiedererlangt und so erkennen lässt, dass sie Heideggers Verdikt vom Ende der Metaphysik nicht für definitiv hält. Man könnte noch hinzufügen, dass gerade diese, sei es analytischen, sei es kontinentalen Richtungen, die für die Problematik der Gesellschaftstheorie empfänglich erscheinen, auch diejenigen Richtungen sind, welche – wie wir anfangs angedeutet haben – die Möglichkeit erkennen lassen, die beiden auseinandergewachsenen philosophischen Traditionen wieder zusammenzuführen. Man denke etwa an Ricoeur, dessen hermeneutische Sensibilität einhergeht mit einer regen Aufmerksamkeit nicht nur für die Handlungssemantik, sondern auch für die Sprachpragmatik; man denke an die Analysen der religiösen Sprache, die das für diese Sprache charakteristische performative Moment zur Geltung kommen lassen und die Sprechaktanalyse in der Theorie des religiösen Sprachspiels aufgehen lassen (wobei die Sprechaktanalyse übrigens von Anfang an nicht unabhängig vom Denken des späten Wittgensteins war und schon in Austins Beispielen für performative Sprachakte umfassend auf die religiöse Sprache unter deren Aspekt als gesellschaftliche Institution zurückgegriffen hat); man denke ferner an Apel, in dessen »Synthesis der Kommunikation« transzendentale, pragmatische und analytische Elemente zusammenfließen (und die von mehr als einem Interpreten ausgemachte Möglichkeit eines religiösen Verständnisses des Themas der Synthesis der Kommunikation sollte ferner nicht so extravagant erscheinen, wenn man bedenkt, dass schon ein anderer Philosoph, der wie Apel »kontinentale« Anliegen mit Peirces »logischem Sozialismus« verschmolzen hatte, nämlich Royce, zu einer sozial-religiösen Philosophie gekommen war).

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Anhänge Die Feststellung dementiert die voreilige Erledigung auf der Ebene der Tatsachen. Auf der Ebene der Prinzipien sollte man bemerken, dass die Größe der theoretischen Ansprüche – selbstverständlich nur, wenn sie fähig sind, sich theoretisch selbst zu bewähren – selbst das Maß ihrer Legitimität darstellt. Diese Legitimität ist also sozusagen nicht außerhalb, sondern im Gegenteil innerhalb dieser Ansprüche selbst zu suchen. Denn ihre Fähigkeit, sich selbst zu bewähren, besteht eben gerade in der Fähigkeit, demjenigen Rechnung zu tragen, was außerhalb sein soll, und Argumente anzuführen, welche das vermeinte Äußere für gültig halten muss, so dass es sich – womöglich gegen die eigenen Absichten und Wünsche – als Äußeres verneint. Man beachte, dass in dieser Betrachtung keine theoretische Arroganz, sondern im Gegenteil die Anerkennung der wirklichen empirischen Funktion des Wissens waltet, insofern es pragmatisch an eine wissenschaftliche oder kulturelle Gemeinschaft gebunden ist. Es handelt sich hierbei abermals um eine zirkelhafte Verbindung, bei der die wohlbekannte Frage, ob das Ei oder die Henne, das Wissen oder die es als gültig anerkennende Gemeinschaft, zuerst da war, nicht gelöst werden kann (d. h. die Zirkelhaftigkeit lässt sich nicht beseitigen). 16 Vgl. in diesem Sinne D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960, S. IX. 17 Vgl. R. Piepmaier, Die Frage nach dem »Ende«, in W. Oelmüller (Hrsg.), Metaphysik heute?, Paderborn 1987, S. 53–69, sowie J. Sallis, Delimitations. Phenomenology and the End of Metaphysics, Bloomington (Ind.) 1986. 18 M. Heidegger, Grundbegriffe, Gesamtausgabe, 2. Abt., Bd. 51, Frankfurt a. M. 1981, S. 87. 19 M. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M. 19714, S. 84. 20 J. Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 41; vgl. R. Piepmaier, op. cit., S. 63– 64. 21 Wir denken hier an Heideggers Interpretation von Hegels Begriff der Erfahrung in Holzwege. 22 E. Levinas, Autrement qu’être, La Haye 1974. Auch unsere Rede von der »Unausweichlichkeit des ontologischen Zirkels« spielt in gewisser Weise – aber auch nur in gewisser Weise – auf das Werk De l’évasion von Levinas an (neu herausgegeben von J. Rolland, Montpellier 1982). 23 E. Durkheim, Sociologie et philosophie, Paris 19632; vgl. F. Wagner, op. cit., S. 172. 24 Übrigens hat sich Feuerbach in besonders bezeichnender Weise für den ontologischen Beweis interessiert; dieses Interesse hat jetzt die ihm gebührende Beachtung erhalten in dem schönen Aufsatz von W. Jaeschke, Die göttliche und die menschliche Vernunft. Zu Feuerbachs Kritik des ontologischen Beweises, in L’argomento ontologico, hrsg. v. Marco M. Olivetti, Padova 1990, S. 371–385. 25 Diese Beobachtungen dürften die Zustimmung von Denkern verschiedener Denkrichtungen finden; man denke z. B. an Searle, für den sich die Sozialwissenschaften dadurch von den Naturwissenschaften unterscheiden, dass die Begriffe, welche die sozialen Phänomene beschreiben, in deren Konstitution eingehen und daher »a peculiar kind of self-reference« besitzen (J. Searle, Mind, Brains, and Science, Cambridge [Mass.] 1984, S. 78 ff.); man denke an den neueren Luhmann, für den die Wissenschaft von der Gesellschaft als eines autopoietischen Systems Probleme der »Entparadoxierung« der Reflexivität aufwirft; man denke auch an verschiedene Werke von J. Heinrichs (Reflexion als soziales System, Bonn 1976; Freiheit, Sozialismus, Chris15

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Religionsphilosophie und Theorie der Gesellschaft tentum. Um eine kommunikative Gesellschaft, Bonn 1978; Reflexionstheoretische Semiotik, 2 Bde, Bonn 1980–1981). 26 Zur Konvertibilität von Religions- und Wissenssoziologie vgl. auch W. Fischer und W. Marhold (Hrsg.), Religionssoziologie als Wissenssoziologie, Stuttgart 1978.

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Personenregister a

Ackermann, D., 26 Adams, R. M., 96 Agamemnon, 114 Augustinus, 18 Alarich, 18 Albert, H., 103, 117 Anscombe, G. E. M., 141, 163 Anselm von Canterbury, 239 Apel, K. O., 14, 79, 82–85, 95, 99–104, 113, 117–118, 131, 134, 190, 213– 214, 220, 239 Arens, E., 238 Argan, G. C., 136 Aristoteles, 78, 136 Aschenberg, R., 53 Aubenque, P., 136 Austin, J. L., 216, 220 Baldini, L., 164 Ballé, C., 53 Bauer, K., 238 Becker, L. C., 118 Beierwaltes, W., 121–122, 136 Berenson, F., 163 Berger, P. L., 225, 235, 238 Bernasconi, R., 96 Bien, G., 118 Bieri, P., 53 Bierwisch, M., 220 Blumenberg, H., 27, 62–63, 70 Böhler, D., 117 Brown, S. C., 220

Bruner, J. S., 152, 164 Buber, M., 93 Buck, G., 70 Bühler, K., 23, 28, 96 Burhoe, R. W., 164 Carabellese, P., 128, 136 Caracciolo, A., 237 Cartesius, s. Descartes, R. Casper, B., 27, 93, 198, 216 Castelli, E., 26, 70, 124, 128, 136, 162, 164, 238 Casteñeda, H. N., 163 Cela Conde, C. J., 70 Champlin, T. S., 136 Chantepie de la Saussaye, P. D., 221 Chisholm, R., 136 Ciaramelli, F., 164 Ciglia, F. P., 93–94 Clark, S. R. L., 70 Cohen, L. J., 220 Comte, A., 225 Coreth, E., 136 Courtine, J. F., 136 Cramer, C., 163 Dalferth, I. U., 26, 219, 221 Dal Lago, A., 27 Dascal, M., 163 Deissler, A., 198 Derrida, J., 32, 94, 96, 107, 108, 118, 163, 191, 194, 198, 220, 232, 240

a

Die Seitenangaben beziehen sich auf die in der Übersetzung als Marginalien angegebenen Seitenzahlen der italienischen Ausgabe.

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Personenregister Descartes, R., 62–63, 78, 162, 217 Diamond, C., 163 Döbert, R., 69 Donnellan, K. S., 26 Duméry, H., 205, 219 Dupré, L., 205, 219 Durfee, H. A., 220 Durkheim, E., 225, 234, 240 d’Hydewalle, G., 164 Ebeling, H., 70 Ebner, F., 93 Eckert, M., 239 Eliade, M., 212 Farias, V., 198 Farley, E., 237 Feiereis, K., 239 Ferrari, M., 136 Ferraris, M., 136, 220 Feuerbach, L., 235, 240 Fichte, J. G., 77–79, 85–86, 92–94, 126, 139 Fischer, W., 240 Flew, A., 220 Føllesdal, D., 216, 220 Freud, S., 220 Frey, G., 118 Fulda, H. F., 163 Gadamer, H. G., 70, 211, 220 Garton, A., 164 Gehlen, A., 103, 190 Gladigow, B., 164 Gloy, K., 136 Gödel, K., 19, 126 Goether, J. W., 237 Gottwald, F. T., 238 Gouldner, A. W., 118 Graumann, C. F., 96 Grice, H. P., 141, 144, 163, 220 Guzzoni, U., 70 Gyges, 84 Habermas, J., 14–15, 23, 27, 79, 83, 95, 99–102, 117–118, 163, 198, 206, 219, 225, 238

Halder, A., 27, 223 Hamann, J. G., 105, 115, 207 Hammacher, K., 92 Harre, R., 163 Hazard, P., 239 Hegel, G. W. F., 10, 12, 39, 51, 63, 66, 95–96, 118, 135–136, 139, 167, 169–170, 175, 180–181, 196–198, 226, 229, 232, 235, 237, 240 Heidegger, M., 27, 32, 38, 51, 59, 64, 81, 93, 116, 118, 123–125, 135–137, 141, 146, 156–157, 167, 169–171, 176–187, 194, 197–199, 212, 232, 240 Heinrichs, J., 240 Henrich, D., 62–64, 70, 240 Herder, J. G., 103, 105, 190, 207 Héring, J., 93 Hermann, T., 96 Heyd, D., 96 Hillmann, J., 27 Hinske, N., 27 Hoffmeister, J., 197 Hofstadter, D., 28 Hölderlin, F., 197, 240 Holenstein, E., 163, 198 Homer, 122 Horkheimer, M., 70 Horstmann, R. P., 53, 163 Hume, D., 99, 163, 226, 228 Hünermann, P., 238 Husserl, E., 10, 21, 31, 33–34, 36, 38, 78–81, 86, 92–94, 96, 107, 132, 136–137, 189, 198, 206–207, 216– 217 Huxley, J. S., 164 Hyppolite, J., 94 Iphigenie, 114 Ilting, K. H., 95 Imamichi, T., 163 Jacobi, F. H., 10, 112, 118, 139, 162– 163 Jacques, F., 163–164 Jaeschke, W., 196, 239–240 Jakobson, R. O., 136–137, 197

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Personenregister Janus, 171 Jarvella, R. J., 96 Jaspers, K., 70 Jonas, H., 70, 127 Jüngel, E., 62, 70 Jünger, E., 197 Kainz, H. P., 53 Kamm, F. M., 96 Kant, I., 63, 68, 78–79, 81, 91–92, 95, 103, 105, 112, 114–118, 128, 131, 139, 164–165, 226, 231 Kenny, A., 141 Kessler, H., 219 Kiefer, F., 220 Kienzler, K., 27, 223 Kierkegaard, S., 126 Kippenberg, H. G., 164 Kleger, H., 237 Kobau, P., 27 Kodalle, K. M., 238 Kohlberg, L., 100, 103, 105, 117–118 Koslowski, P., 237 Kripke, S., 26 Krüger, L., 53 Kuhlmann, W., 95, 118 Landgrebe, L., 19–20, 22, 28 Lasson, G., 53, 86, 197 Lehmann, K., 239 Leibniz, G. W., 92 Lens, W., 164 Leroi-Gouran, A., 164 Leuze, R., 26 Levinas, E., 26, 32, 73–97, 107–109, 118, 123–124, 127, 136, 141, 199, 213–214, 216–217, 220–221, 233, 240 Lorenz, K., 103, 164 Lorenzen, P., 97 Löwith, K., 18, 27 Lübbe, H., 27, 237 Luckmann, T., 225, 235, 238 Luhmann, N., 15, 19–25, 27–28, 37, 163–164, 191, 206–207, 219, 225, 238, 240 Lyotard, J. F., 13, 27, 220, 238

Macchioni, S., 136 McGinn, C., 218 McGlodrick, P. M., 96 MacIntyre, A., 220 MacIntyre, R., 221 Magris, C., 26 Malcolm, N., 239 Marhold, W., 240 Marion, J. L., 137, 163, 221 Marramao, G., 27 Marquard, O., 27, 118 Marx, K., 225 Marx, W., 136 Masullo, A., 95 Mathieu, V., 162 Mead, G. H., 118, 191 Melchiorre, V., 165 Menaker, E., 70 Menaker, W., 70 Merleau-Ponty, M., 141, 163 Miller, D., 27 Minerva, 190 Mohanty, J. N., 93 Möller, J., 27, 223 Montani, P., 137, 197 Moretto, G., 237 Mosis, R., 198 Mühlhäusler, P., 163 Müller, A., 237 Nédoncelle, M., 27 Nietzsche, F., 175, 183 Oelmüller, W., 240 O’Keefe, T. M., 239 Olivetti Belardinelli, M., 164 Olson, R. E., 220 Orestano, F., 53 Otto, R., 205 Pannenberg, W., 26, 63, 70 Pareyson, L., 26 Parsons, T., 143 Paul, A. M., 220 Penelhum, T., 219, 221 Peukert, H., 118, 238 Pfeiffer, G., 92

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Personenregister Pfürtner, S. H., 164 Phillips, D. Z., 239 Piepmaier, R., 240 Pleines, J. E., 118 Plotin, 124 Pollack, D., 238 Pothast, U., 163 Prini, P., 197 Quine, W. V. O., 220 Rawls, J., 118 Rebel, K., 117 Reiter, D., 136 Ricoeur, P., 137, 141, 164, 209, 212, 216, 220, 239 Rigobello, A., 198 Ringguth, R., 198 Robertson, R., 238 Rockmore, T., 94 Rolland, J., 240 Rombach, H., 204, 219 Rorty, R., 238 Rosenzweig, F., 84, 91, 93 Rovatti, P. A., 198–199 Royce, J., 239 Ruppert, L., 198 Russell, B., 24, 26, 136

Seebohm, T. M., 94 Semerari, G., 136 Siebert, R. J., 238 Simon, J., 97, 118, 199 Sini, C., 191, 198 Sinn, D., 135 Sommer, M., 70 Sorrentino, S. 237 Spaemann, R., 70 Spinoza, B., 63 Steinbeck, W., 93 Strasser, S., 87, 92, 96 Strawson, P., 163 Stüben, P. E., 53 Taminiaux, J., 94 Taniguchi, T., 163 Tarski, A., 24 Taubes, J., 237 Tavassi La Greca, B., 136 Teichmann, J., 163 Theunissen, M., 93, 237 Tietjen, H., 94 Tilliette, X., 165, 237 Toulmin, S., 203 Tracy, D., 203, 211, 220 Trillhaas, W., 238 Uexküll, J. J. von, 104

Sallis, J., 240 Samuel, 74 Sandel, M. J., 118 Scardanelli, 197 Schäffler, R., 238 Schaper, E., 53 Scheler, M., 204, 205, 219 Schelling, F. W. J., 122, 136 Schirmacher, W., 198 Schleiermacher, F. D. E., 226 Schlieben Lange, B., 96 Schmidig, D., 136 Schneider, P. K., 94 Schrader, G., 94 Schulz, W., 70 Schutz, A., 225 Schwemmer, O., 97 Searle, J., 91, 95, 104, 141, 220, 240

Van Breda, H. L., 94 Van der Leeuw, G., 220 Varisco, B., 136 Vattimo, G., 27 Verra, V., 162 Vitiello, V., 198 Volkmann-Schluck, K. H., 70 Wagner, F., 237, 240 Wainwright, G., 219, 221 Waldenfels, B., 96 Weber, M., 127, 161, 225, 234 Welker, M., 238 Welsch, W., 27 Whitehead, A. N., 24 Wiemer, T., 220 Wittgenstein, L., 38, 163, 204, 220, 224, 239

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Personenregister Wohlfart, G., 136 Wolff, C., 169 Woodruff, G., 221 Wuchterl, K., 238 Wunderlich, D., 96

Yamawaki, N., 117 Zahn, M., 92 Zeus, 168

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti a

Durch Fettdruck hervorgehoben sind diejenigen Werke, die inhaltlich ganz oder in Teilen bestimmten Kapiteln oder einzelnen Passagen des vorliegenden Werks entsprechen (vgl. hierzu den Abschnitt »Zum Entstehungshintergrund« im Vorwort des Übersetzers). Durch Unterstreichen sind dagegen diejenigen Werke gekennzeichnet, die in die unlängst erschienene italienische Ausgabe der Werke Olivettis (Marco Maria Olivetti. Opere I–III, Pisa – Roma: Fabrizio Serra Editore, 2013) aufgenommen worden sind. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Simbolismo cosmico: il tempio, in Surrealismo e simbolismo, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xxxiii, 3, 1965, S. 121–141. La crisi modernista, «Studi cattolici», ix, 51, 1965, S. 58. Congressi. Demitizzazione e morale, «Studi cattolici», ix, 54, 1965, S. 61– 62. Demitizzazione e morale, «Il pensiero», xi, 3, 1966, S. 264–267. Demitizzazione e morale, «Giornale critico della filosofia italiana», xlv, 1966, S. 593–597. Simbolismo e surrealismo, «Studi cattolici», x, 1966, S. 62–63.

a

Das hier abgedruckte Verzeichnis basiert auf der im Band Marco Maria Olivetti. Un filosofo della religione, «Archivio di filosofia», LXXVI, 3, 2008, S. 273–286, von Stefano Bancalari veröffentlichten »Bibliografia«. Um Redundanzen zu vermeiden und das Auffinden zu erleichtern, sind darin die in «Archivio di filosofia» erschienenen Beiträge nur mit den bibliographischen Angaben zu ihrem Erscheinen in dieser Zeitschrift aufgelistet. Dabei ist jedoch viererlei zu beachten: 1) Bis 1988 (Band mit dem Titel Teodicea oggi?) sind diejenigen Bände, in denen die Acta der vom »Istituto di Studi Filosofici« organisierten Konferenzen veröffentlicht sind, immer auch separat in den »Edizioni dell’Istituto di Studi Filosofici« erschienen; 2) Ab 1989 werden die Bände der Zeitschrift auch als Bände der Reihe «Biblioteca dell’Archivio di filosofia» veröffentlicht; 3) Zwischen 1965 und 1978 sind die französischen Übersetzungen der Konferenzakten und somit der Werke mit den Nummern 18, 29, 37, 39, 42, 46, 47, 48, 52, 53 bei Aubier, Paris, erschienen; 4) Die Werke mit den Nummern 42, 46, 47, 48, 53, sind auch auf Deutsch in der von Franz Theunis herausgegeben Sektion «Kerygma und Mythos» der Reihe «Theologische Forschung» im Reich Verlag, Hamburg, erschienen.

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti 7. 8. 9.

10. 11. 12. 13. 14. 15.

16.

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19. 20. 21.

22. 23. 24. 25. 26.

27.

Il senso del futuro nel pensiero filosofico italiano, «Futuribili», 1, 1967, S. 80–89. Il tempio simbolo cosmico. La trasformazione dell’orizzonte del sacro nell’età della tecnica, Roma: Abete, 1967. I Colloqui internazionali sulla demitizzazione promossi dall’Istituto di Studi Filosofici e dal Centro Internazionale di Studi Umanistici, «Rivista di storia e letteratura religiosa», iv, 1967, S. 218–222. Le mythe de la peine. Compte rendu, «La table ronde», 3, 1967. Demythisation et morale, «Revue internationale de philosophie», lxxxii, 4, 1967, S. 524–527. L’istanza critica nella domanda ontologica, in Il problema della domanda, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xxxvi, 1, 1968, S. 103–121. La domanda sul futuro del cristianesimo, siehe Nr. 12, S. 133–142. Comprensione dell’esistenza ed ermeneutica religiosa. Rassegna di pubblicazioni tedesche di filosofia della religione, siehe Nr. 12, S. 172–174. Il tempio nella società di domani, in Il cristianesimo nella società di domani. Atti del IV. Incontro Internazionale «Il mondo di domani» (Perugia, 3.–7. Mai 1967), hrsg. v. Pietro Prini, Roma: Abete, 1968, S. 445–458. Riforma cattolica e filosofia moderna nel pensiero di Augusto Del Noce, Roma: Istituto di Studi Filosofici, 1968 – Gekürzte Ausgabe in «Archivio di Filosofia» xxxvii, 1, 1969, S. 153–187. Rezension von I. Höllhuber, Geschichte der italienischen Philosophie von den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, «Archivio di filosofia», xxxvii, 1, 1969, S. 192–194. Gli inizi della filosofia del linguaggio di Jacobi: le Considerazioni del 1773 e la corrispondenza con Hamann, in L’analisi del linguaggio teologico. Il nome di Dio, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xxxvii, 2–3, 1969, S. 501–528. La «Jacobi-Tagung» a Düsseldorf, «Bollettino filosofico», iii, 1969, S. 221– 223. Il sacro e il cemento armato, «Coscienza», 1969, S. 85–88. Per una antropologia dei nuovi edifici di culto, in Il deserto di Dio nella città degli uomini, hrsg. v. Pina Ciampani, Assisi: Cittadella, 1969, S. 137– 153. Il tempo invertebrato, «Coscienza», 1969, S. 128–129. Il cristianesimo nella società di domani, «Futuribili», 8, 1969, S. 74–81. Per una teologia del linguaggio dello spazio sacro, «Coscienza», 1969, S. 85–88. L’assolutezza del cristianesimo e la storia delle religioni, «Il pensiero», xiv, 1969, S. 175–179. La préparation de la décision communautaire au niveau international italien, in La décision dans les communautés européennes, hrsg. v. P. Gerbet und D. Pepy, Bruxelles: Presses Universitaires de Bruxelles, 1969, S. 209– 227. Rezension von A. Rigobello, Legge morale e mondo della vita, «Archivio di filosofia», xxxviii, 1, 1970, S. 183–185.

362 https://doi.org/10.5771/9783495816110 .

Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti 28. 29.

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41. 42. 43. 44. 45. 46.

47.

L’esito teologico della filosofia del linguaggio di Jacobi, Padova, Cedam, 1970. Error e Kairós. La funzione periodizzativa dell’idea di cristianesimo e la storia della filosofia, in La teologia della storia. Rivelazione e storia, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xxxix, 2, 1971, S. 87–105. Il significato della filosofia jacobiana nelle recenti interpretazioni della »Jacobi-Renaissance«, in «Archivio di filosofia», xxxix, 3, 1971, S. 167– 183. Rezension von M. Bonicatti, Studi sull’umanesimo, siehe Nr. 30, S. 185– 188. Rezension von K. Jaspers, Ragione ed esistenza, italienische Übersetzung von A. Lamacchia, siehe Nr. 30, S. 202–203. La teologia della storia, «IDOC internazionale», ii, 11, 1971, S. 16–26. Terricidio e amministrazione dell’habitat, «Futuribili», v, 36, 1971, S. 33– 43. Der Einfluss Hamanns auf die Religionsphilosophie Jacobis, in Friedrich Heinrich Jacobi, Philosoph und Literat der Goethe-Zeit, Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16.–19. 10. 1969) aus Anlass seines 150. Todestages, hrsg. v. V. K. Hammacher, Frankfurt/M.: Klostermann, 1971, S. 85–117. La philosophie de la religion et le développement de la philsophie italienne, «Les Études philosophiques», 1971, S. 193–208. Testimonianza e apologetica, in La testimonianza, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xl, 1–2, 1972, S. 389–426. Ermeneutica e storia: un pericolo latente, in «IDOC internazionale», iii, 11, 1972, S. 20–22. Chiesa e ideologia: un problema di filosofia della storia, in Demitizzazione e ideologia, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xli, 2–3, 1973, S. 103–133. Filosofia della religione e storia della filosofia, in La filosofia della storia della filosofia, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xlii, 1, 1974, S. 169–204. Filosofia della religione come problema storico. Romanticismo e idealismo romantico, Padova: Cedam, 1974. Spazio – Tempio – Luogo, in Temporalità e alienazione, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xliii, 2–3, 1975, S. 377–404. Instaurazione della coscienza e rappresentazione architettonica, «Rivista di psicologia analitica», vi, 2, 1975, S. 381–424. La filosofia negli Stati Uniti d’America. Il problema religioso, in La filosofia dal’45 ad oggi, hrsg. v. Valerio Verra, Torino: ERI, 1976, S. 401–418. Il tempo inqualificabile, in «Rassegna dell’Istituto Accademico di Roma», 4, 1976, S. 37–41. Il problema della secolarizzazione inesauribile, in Ermeneutica della secolarizzazione, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xliv, 2–3, 1976, S. 73–86. Enrico Castelli. Un Maestro, in L’ermeneutica della filosofia della religione, hrsg. v. Enrico Castelli, «Archivio di filosofia», xlv, 2–3, 1977, S. 7–10.

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti 48. 49.

50. 51. 52. 53. 54.

55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63.

64.

65. 66.

Filosofia della religione e significato della storia in prospettiva ermeneutica, siehe Nr. 47, S. 37–54. Conclusione del dibattito, Seminar zum Thema Società e valori nella Scuola di Francoforte (Avezzano-Tagliacozzo, 11–12 settembre 1976), «Il cannocchiale», nuova serie, 2, 1977, S. 88–90. Lo spinozismo ieri e oggi, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», xlvi, 1, 1978. Da Leibniz a Bayle: alle radici degli Spinozabriefe, siehe Nr. 50, S. 147– 199. Religione e politica, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», xlvi, 2–3, 1978. Il senso »comune« tra colloquio e paradosso. Linee per una interpretazione del pensiero e dell’opera di Enrico Castelli, siehe Nr. 52, S. 17–24. Vernunft, Verstehen und Sprache im Verhältnis Hamanns zu Jacobi, in Johann Georg Hamann, Acta des Internationalen Hamann-Colloquium in Lüneburg 1976, Frankfurt/M. 1979, S. 169–193 (und Diskussion, S. 211–213). Sociologia della religione, in Lessico universale italiano, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1979, ad vocem. I convegni romani sulla demitizzazione e l’ermeneutica (1961–1977), «Archivio di filosofia», xlvii, 1, 1979, S. vii-xxx. Lévinas Emmanuel, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 2., Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1979, ad vocem. Pannenberg Wohlfahrt, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 2., Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1979, ad vocem. Pareyson Luigi, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 2., Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1979, ad vocem. Piovani Pietro, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 2., Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1979, ad vocem. Esistenza, Mito, Ermeneutica. Scritti per Enrico Castelli, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lxviii, 1 und 2–3, 1980. Ecclesiologia filosofica e teoria della società, siehe Nr. 61, 2–3, S. 429– 447. Immanuel Kant, La religione entro i limiti della sola ragione [Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft], hrsg. v. Marco M. Olivetti, Roma-Bari: Laterza, 1980 (Introduzione [Einleitung] des Herausgebers, S. v-xlv). Weitere Auflagen: 1985; 19932; 19943; 19954; 20005; 20016; 2004 (erste Ausgabe in der «collana economica Laterza»), 20072. Gli influssi della tematica teologica, dell’esistenzialismo e dell’ermeneutica, in Il pensiero cristiano nella filosofia italiana del Novecento. Atti del convegno della »Società Filosofica Italiana« (Perugia, September 1979), hrsg. v. Evandro Agazzi, Lecce: Milella, 1980, S. 119–147. Nichilismo e anima bella in Jacobi, «Giornale di metafisica», nuova serie, 2, 1980, S. 11–36. Filosofia e religione di fronte alla morte, hrsg. v. Marco M. Olivetti e Vittorio Mathieu, «Archivio di filosofia», xlix, 1–3, 1981.

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti 67. 68.

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82.

83. 84.

Philosophie et religion face à la mort. Remarques préliminaires, siehe Nr. 66, S. 15–17. Sich in seinem Namen versammeln: Kirche als Gottesnennung, in Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, hrsg. v. B. Casper, Freiburg i. B. – München, Alber, 1981, S. 189–217. Comunità etica e chiesa in Kant, in Kant oggi nel bicentenario della Critica della ragion pura, Acta der Konferenz in Saint-Vincent (25.–27. März 1981), Saint Vincent: Edizioni Centro Culturale e Congressi, 1981, S. 19– 22. The Problem of the Ethical Community, in Ethica et eco-ethica, Proceedings of the first philosophical symposium of the Taniguchi Foundation (Kyûze-so, November 8–14 1981), hrsg. v. Tomonobu Imamichi, «Journal of the Faculty of Letters, University of Tokyo, Aestethics», vi, 1981, S. 13– 24. Przywara Erich, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Rahner Karl, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Ratzinger Joseph, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Ricoeur Paul, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Sociologia della religione, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Tillich Paul in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Weil Erik, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Zubiri Apalategui José Xavier, in Enciclopedia italiana, iv appendice, vol. 3, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1981, ad vocem. Nuovi studi di filosofia della religione, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», l, 1–2, 1982. Presentazione degli Indici 1931–1981, «Archivio di filosofia», l, 3, 1982, p. ix. Le problème de la communauté éthique, in Qu’est-ce que l’homme? Philosophie – Psychanalyse. Hommage à A. De Waelhens (1911–1981), Bruxelles: Facultés Universitaires Saint-Louis, 1982, S. 325–343 [Übersetzung von Nr. 70]. Il tempio nella cultura contemporanea, in Actas del tercer congresso nacional de filosofía (Buenos Aires, 13.–18. Oktober 1980), Buenos Aires: Universidad de Buenos Aires – Facultad de Filosofía y Letras, 1982, vol. 1, S. 444–452. Neoplatonismo e religione, hrsg. v. Marco M. Olivetti und Vittorio Mathieu, «Archivio di filosofia», li, 1–3, 1983. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Remarques préliminaires, siehe Nr. 82, S. 15–16.

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86. 87. 88. 89. 90. 91.

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96. 97. 98. 99. 100. 101.

Ethica inter homines: zu den heutigen (westlichen) Versuchen, Ethik neu zu denken, in Eco-ethica et valor, Actes du deuxième symposium philosophique de la Fondation Taniguchi (Kyûze-sô, 31 octobre – 5 novembre 1982) hrsg. v. Tomonobu Imamichi, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», Tokyo: Centre Internationale pour l’étude comparéé de philosophie et d’esthétique, i, 1983, S. 117– 124. Cosa posso sperare? La dimensione comunitaria di una domanda postilluministica, «Ricerca», xxxix, 1983, S. 43–47. Antropología, ética, comunicación, «Escritos de Filosofía» (Buenos Aires), vi, luglio-dicembre, 1983, S. 67–81. Schleiermacher, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lii, 1– 3, 1984. Introduzione, siehe Nr. 87, S. 13–17. Etica comunicativa e asimmetria della comunicazione, siehe Nr. 87, S. 595–612. Arte come azione: Filosofia dell’arte e filosofia della religione nello Schelling romantico, in Studi in onore di G. C. Argan, hrsg. v. Silvana Macchioni e Bianca Tavassi Lagreca, Roma: Multigrafica, 1984, vol. 2, S. 329–336. Anthropologie, Ethik, Kommunikation, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», ii, 1984, S. 119– 136 [Übersetzung von Nr. 90]. Philosophische Fragen an das Werk von Emmanuel Levinas, in Hans Hermann Henrix (Hrsg.), Verantwortung für den Anderen und die Frage nach Gott. Zum Werk von Emmanuel Levinas, Aachen, Einhard Verlag, 1984, S. 42–70. Verschiedene Beiträge in Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes in der modernen Kultur, hrsg. v. Wohlfart Pannenberg, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1984, p. 127 e passim. El problema de la comunidad ética, in Sabiduría popular, símbolo y filosofía. Diálogo internacionale en torno de una interpretación latinoamericana, hrsg. v. Juan Carlos Scannone, Buenos Aires: Editorial Guadalupe, 1984, S. 209–222 [Übersetzung von Nr. 70]. Ebraismo, Ellenismo, Cristianesimo, hrsg. v. Marco M. Olivetti e Vittorio Mathieu, «Archivio di filosofia», liii, 1 und 2–3, 1985. Judaïsme, Hellénisme, Christianisme. Remarques préliminaires, siehe Nr. 96, 1, S. 17–18. Intersoggettività, alterità, etica. Domande filosofiche a E. Levinas, siehe Nr. 96, 2–3, S. 265–287 [erweiterte italienische Version von Nr. 93]. Il problema della comunità etica, «Paradigmi», iii, 1985, S. 201–216. Ethics and Language: Eco-ethics, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», iii, 1985, S. 125–133. Varisco e il teismo, in Bernardino Varisco e la cultura filosofica italiana tra positivismo e idealismo. Atti del convegno a Chiari (Brescia), 8–10 dicembre 1983, hrsg. v. Massimo Ferrari, Chiari: Edizioni Fondazione MorcelliRepossi, 1985, S. 279–295.

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti 102. Intersoggettività, socialità, religione, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», liv, 1–3, 1986. 103. Avant-propos, siehe Nr. 102, S. 11–12. 104. Introduction au colloque: Intersubjectivité, Socialité, Religion, siehe Nr. 102, S. 13–15. 105. Reponse à l’exposé de Paul Ricoeur (su Ipséité, Altérité, Socialité), siehe Nr. 102, S. 35–40. 106. Über J.-L. Marions Beitrag zur neueren Religionsphilosophie, siehe Nr. 102, S. 625–636. 107. Fenomenologia e filosofia analitica: una nuova relazione? Questioni di filosofia della religione, siehe Nr. 102, S. 761–778. 108. Ethik und Sprache, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», iv, 1986, S. 157–163. 109. Etica e pragmatica, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lv, 1–3, 1987. 110. Premessa, siehe Nr. 109, S. 11–12. 111. L’etica tra tecnica e mito, in La filosofia tra tecnica e mito, atti del XXIX Congresso Nazionale della Società Filosofica Italiana, hrsg. v. Roberto Gatti, Perugia: Porziuncola, 1987, S. 96–110. Mit einigen Änderungen in «Archivio di filosofia», lv, 1–3, 1987, S. 167–181. 112. Die Ethik zwischen Technik und Mythos, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», v, 1987, S. 161– 175 [Übersetzung von Nr. 111]. 113. La spada a doppio taglio. Errore e menzogna nel dialogo Hamann-Jacobi, in Alberto Caracciolo (hrsg. v.), Il problema dell’errore nelle concezioni pluriprospettivistiche della verità, Genova: Il melangolo, 1987, S. 91–104. 114. Teodicea oggi?, hrsg. v. Marco M. Olivetti, Roma, «Archivio di filosofia», lvi, 1–3, 1988. 115. Avant-propos, siehe Nr. 114, S. 11–12. 116. Théodicée aujourd’hui?, siehe Nr. 114, S. 15–18. 117. Religion zwischen Ethik und Ontologie, in Metaphysik nach Kant?, Berichte des Internationalen Hegel-Kongresses, Stuttgart, 18.–21. Juni 1987, hrsg. v. Dieter Henrich u. Rolf Peter Horstmann, Stuttgart: KlettCotta, 1988, S. 703–712. 118. Religione tra etica e ontologia, in Filosofia, religione, nichilismo. Studi in onore di Alberto Caracciolo, hrsg. v. Giovanni Moretto und Domenico Venturelli, Napoli: Morano, 1988, S. 245–254 [Italienische Version von Nr. 117]. 119. Una nuova edizione italiana delle Briciole kierkegaardiane, in Uomini e donne nella Chiesa, atti della VII Primavera di S. Chiara 1987, hrsg. v. Salvatore Spera, Roma, Edizioni Vivere in, 1988, S. 245–251. 120. Teodicea e modernità. A proposito del volume di P. Miccoli sulla Secolarizzazione della teodicea, «Euntes docete», xli, 1988, S. 304–310. 121. Soziologische Implikationen religionsphilosophischer Ansätze heute, in Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, hrsg. v. Alois Halder, Klaus Kienzler, Joseph Möller, Düsseldorf: Patmos, 1988, S. 38–55.

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti 122. La recezione italiana di Heidegger, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lvii, 1–3, 1989. 123. Premessa, siehe Nr. 122, S. xi-xiii. 124. Pensare senza rappresentazione?, siehe Nr. 122, S. 531–543. 125. Filosofia della religione e teoria della società: La crisi dell’argomento ontologico, siehe Nr. 122, S. 531–543 [Erweiterte italienische Version von Nr. 121]. 126. I laici, i credenti, il sapere, in Crisi e fede, hrsg. v. Jader Jacobelli, RomaBari, Laterza, 1989, S. 123–129. 127. Tempio e immagine nella cultura contemporanea, «Stauròs», xv, 4, 1989, S. 12–20. 128. Vorstellung und Ethik, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», vii, 1989, S. 43–50. 129. Trasmettere ed elaborare cultura. I fondamenti etici della professione docente, «Roma IERRE», iii, 12, 1989, S. 24–34. 130. L’argomento ontologico, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lviii, 1–3, 1990. 131. Enrico Castelli (1900–1977), in Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Emerich Corteh, Walter M. Neidl, Georg Pfligersdorfer, vol. 3, Moderne Strömungen im 20. Jahrhundert, Gras-Wien-Köln: Styria, 1990, S. 564–575. 132. Enrico Castelli (1900–1977), siehe Nr. 130, S. 765–778 [leicht erweiterte italienische Version von Nr. 131]. 133. L’uno e l’altro, in L’uno e i molti, hrsg. v. Virgilio Melchiorre, Milano: Vita e Pensiero, 1990, S. 63–79. 134. Denken ohne Vorstellung?, in Martin Heidegger weiterdenken, hrsg. v. Albert Raffelt, München-Zürich: Schnell & Steiner, 1990, S. 89–104 [Übersetzung von Nr. 124]. 135. Die ursprüngliche Ethik und das fragwürdige Wesen des Menschen. Das Zweideutige am Heideggerschen Verständnis der sich in die Technik vollendenden Metaphysik, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», viii, 1990, S. 121–132 [leicht veränderte Version von Nr. 134]; dann auch erschienen in Eco-ethica et Philosophia generalis, Festschrift fur Tomonobu Imamichi, hrsg. v. Nukab Damnhanovic u. a., Tokyo: Editorial Committee for Tomonobu Imamichi, 1992, S. 53–67. 136. Studi di filosofia tedesca, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lix, 1–3, 1991. 137. Premessa, siehe Nr. 136, S. 11. 138. Intorno alla Filosofia del segno di J. Simon: parola, scrittura, religione, siehe Nr. 136, S. 293–304. 139. Implications sociologiques des approches contemporaines en philosophie de la religion, in Penser la religion. Recherches en Philosophie de la religion, hrsg. v. Jean Greisch, Paris: Beauschesne, 1991, S. 157–179 [französische Version von Nr. 121]. 140. Autoconservation et autodestruction en tant que projet social, in

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Verzeichnis der Werke von Marco M. Olivetti

141. 142. 143. 144. 145. 146.

147. 148.

149.

150. 151.

152.

153. 154. 155. 156.

157. 158.

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rico Castelli, vol. ii: Senso comune e demitizzazione, Roma: Leonardo da Vinci, 2002, S. 175–176. Zum Religions- und Offenbarungsverständnis beim jungen Fichte und bei Kant, «Fichte-Studien», xxiii, 2003, S. 192–201. «Via» dalla «religione»? «Paradigmi», lxi, 2003, S. 21–31. Naturalizzazione della religione: l’esito nach der Aufklärung di un’impresa moderna, «Protestantesimo», lviii, 2003, S. 216–225. Transcendantal sans illusion ou: l’absence de la troisième personne, in Du dialogue au texte. Autour de Francis Jacques, hrsg. v. Françoise Armengaud, Marie-Dominique Popelard u. Denis Vernant, Paris: Kimé, 2003, S. 235–247 [Übersetzung v. Nr. 211]. Ermeneutica dell’esperienza religiosa e ontologia nel pensiero di Giuseppe Riconda, in Scritti in onore di G. Riconda, hrsg. v. Andrea Poma u. Gianluca Cuozzo, 2003, S. 213–224. Enrico Castelli: senso comune e filosofia dell’esistenza, «Sensus communis», iv, 2003, S. 89–98. Incarnation of the ought, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», Special Issue 2003, S. 11–20 [siehe Nr. 186]. Ethischer Imperativ und Interpersonalität, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», xxi, 2003, S. 97– 106. Il dono e il debito, hrsg. v. Marco M. Olivetti, «Archivio di filosofia», lxxii, 1–3, 2004. Avant-propos, siehe Nr. 222, S. 11–12. Introduction aux travaux, siehe Nr. 222, S. 13–15. Philosophie en Europe. Approches, rétrospective et prospective, in Raison philosophique et christianisme à l’aube du troisième millénaire, hrsg. v. Philippe Capelle u. Jean Greisch, Paris: Cerf, 2004, S. 77–89. Teologia filosofica e filosofia della religione: una vicenda moderna, «Humanitas», lix, 2004, S. 493–497. Religione e rivelazione nel giovane Fichte e in Kant, in La filosofia come santità della ragione. Scritti in onore di Xavier Tilliette, hrsg. v. Antonio Russo u. Jean-Louis Vieillard Baron, Trieste: Edizioni Universitaria Trieste, 2004, S. 77–89. Des droits humaines aux biodroits, in Les discours bioéthiques, hrsg. v. Peter Kemp, Paris: Cerf, 2004, S. 87–98 [Übersetzung v. Nr. 195]. Religion und Intersubjektivitaet, in Phänomenologie der Religion. Zugänge und Grundfragen, hrsg. v. Markus Enders u. Holger Zaborowski, Freiburg-München: Alber, 2004, S. 123–132. The Problem of the Other and Italian Philosophy, «Revue Internationale de Philosophie. Acta Institutionis Philosophiae et Aestheticae», xxii, 2004 (in Wirklichkeit 2006), S. 173–180. La comunità delle menti come problema della filosofia moderna, in Per una storia del concetto di mente, hrsg. v. Eugenio Canone, Firenze: Olschki, 2005, S. 343–362. The Kantian Ethical Community and the Aporias of Intersubjectivity in

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