Sprachgeschichtsschreibung im Deutschen: Satzsemantische Analysen historischer Aussagen mit der Präposition "für" 9783110699609, 9783110699517

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Sprachgeschichtsschreibung im Deutschen: Satzsemantische Analysen historischer Aussagen mit der Präposition "für"
 9783110699609, 9783110699517

Table of contents :
Dank
Inhalt
Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung
1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für
2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen (Das telische für)
3 Zeichen: Wie man mit der Präpositionalgruppe Ereignisse schafft (Das epistemische für)
4 Typen telisch-historischer Aussagen
5 Interaktionen: Wie der Historiograph für sich und seine Leser spricht (Das historisierende für)
6 Zusammenfassung: Geschichtsschreibung mit dem telischen, epistemischen und historisierenden für, das immer auch ein parteiliches für ist
Literaturverzeichnis
Register Sprachhistoriographen
Sachregister

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Katja Leyhausen-Seibert Sprachgeschichtsschreibung im Deutschen

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt und Oskar Reichmann

Band 138

Katja Leyhausen-Seibert

Sprachgeschichtsschreibung im Deutschen Satzsemantische Analysen historischer Aussagen mit der Präposition „für“

Studia Linguistica Germanica Begründet von Ludwig Erich Schmitt und Stefan Sonderegger Zugl. Dissertation, Universität Heidelberg, 2019

ISBN 978-3-11-069951-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069960-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069965-4 ISSN 1861-5651 Library of Congress Control Number: 2020941244 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Das Buch hat eine lange Entstehungsgeschichte. Denen, die sie begleitet haben, möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank ausdrücken. An erster Stelle steht Oskar Reichmann, der als akademischer Lehrer ein unerschütterliches Zutrauen in die Stärken der Studenten, werdenden Wissenschaftlerinnen und jüngeren Kollegen hat. Sein Anliegen, sprachwissenschaftliche Theorie und Methode mit sprachgeschichtlicher Praxis zu verbinden und das alles wiederum auf gesellschaftlich relevante Fragen zu beziehen, kann er dadurch glaubwürdig weitergeben. Herzlich danken möchte ich Jochen Bär für die anregenden Gespräche und ein ebenfalls nicht abreißendes Interesse. Einen stillen Dank nur kann ich Jörg Riecke zollen; seine aufgeschlossene Haltung gegenüber anderen wissenschaftlichen Ansätzen und sein effektives Vorgehen im Universitätsalltag bleiben unersetzlich. Den Herausgebern Christa Dürscheid und Andreas Gardt sowie auch Anja Lobenstein-Reichmann verdanke ich wertvolle Hinweise zur Textgestaltung. Nicht unüblich ist es, an dieser Stelle noch andere wichtige Personen aufzuführen: Um chronologisch vorzugehen, bedanke ich mich still bei meinem Vater, der einstmals eine womöglich aussichtsreiche Wissenschaftskarriere aufgegeben hat, um für seine Familie da zu sein. Das war eine verantwortungsvolle Entscheidung, die mich bis heute verpflichtet – der Familie und der Wissenschaft gleichermaßen. Zu danken habe ich auch denjenigen Lehrern der damaligen EOS Schulpforte, die in der DDR daran festhielten, die Jugend zu selbständigem Denken zu ermutigen. Die Sprachlehrerinnen haben dafür methodische Grundlagen gelegt. Von ganzem Herzen möchte ich Malte, Dunja und Thilo, Klaus, Regina und Doby berücksichtigen. Der liebste Dank geht an Bruno und Thomas, besonders dafür, dass Theorie und Geschichte am reich gedeckten Tisch immer einen sicheren Platz haben. Gewidmet ist das Buch meinen Großeltern. Die Vergangenheit, die wir heute nur erforschen, mussten sie mit Krieg und schwerer Kriegsverletzung und dann mit ihren enttäuschten Hoffnungen in der DDR selbst durchleben. Ihre geschichtlichen Erfahrungen haben sie großzügig umgewandelt in eine zurückhaltende, geduldige und ernsthafte Freude am Leben und am Lernen, die mir, als allerbedeutendste Voraussetzung, die wissenschaftliche Arbeit ermöglicht.

https://doi.org/10.1515/9783110699609-001

Inhalt Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung  . . . . . . .

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für Eine Geschichte der deutschen Sprache ist eine Geschichte für die deutsche Sprache 1 Die deutsche Sprache ist ein historischer Begriff (unter historischen Begriffen) 5 Wie man eine Deutsche Sprachgeschichte gegen den Strich 7 liest Parteiliche Botschaften und das Benefaktiv in der Geschichte 20 Botschaft des Mediums: Die historische Aussage (Groys 30 2000) Die historische Aussage in einer „verfehlten Wirklichkeit“ (Koselleck 1997/2010) 39 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, „semantisch zentrierte“ Valenzgrammatik (Polenz 21988) 44 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen (Das telische für) 64 Theoretische Begriffe gehören in die Einleitung einer 64 Sprachgeschichte Der historische Begriff in zweistelligen Aussagen: Was für die deutsche Sprache wichtig ist (und für viele andere historische Begriffe) 78 Worüber Historiographen offiziell schreiben: Historische Supposita 87 im Fokus der Aussage (Veyne 1971/1996; 1990) Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext 94 Ereignisse haben keine absolute Relevanz, und alles ist historisch 109 (Veyne 1971/1996; 1990) Praktische Schematisierungen: Die sprachliche Morphologie des historischen Begriffs 112 Für die Geschichte wichtig sein: Historische Begriffe als Reflexionsbegriffe (Koselleck 1972 und später) 127 Magnitudo rerum: Umwege über einen wichtigen Reflexionsbegriff 133 Rollentausch im Kontext: Die Arbeit am Begriff 142

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Inhalt

Die telische Struktur der Geschichtsschreibung 152 Kompakter Satzbau im Nominalstil: Substantivierung von Vorgangs- und Handlungsprädikaten 155 Tempus und Sprechsituation: Eine Sprachgeschichte ist meistenteils kein erzählender Text (Weinrich 62001) 162 Die schwindelerregende Freiheit des Historiographen und ein 169 erstes Fazit Zeichen: Wie man mit der Präpositionalgruppe Ereignisse schafft (Das epistemische für) 178 Das epistemische für und seine Erkenntnisfunktion 178 Supposita, Zeichen und Interpretanten: Wofür die Präpositionalgruppe ein Zeichen ist (Peirce 1868b/1967; 1901 f./ 185 2000) Wie aus einem Detail der Geschichte ein wichtiges Ereignis wird: Abduktive Schlussprozesse und einstellige Wichtigkeitsaussagen 194 (Peirce 1868a/1967; 1868b/1967) Abduktiv-relationierendes statt deduktiv-prädizierendes Bezugnehmen: Relationsadjektive 204 Das Ereignis als „Knotenpunkt von Relationen“ (Veyne 1971/1996; 230 1990) Die historische Aussage mit der (grammatisch weglassbaren Ergänzung einer) Präpositionalgruppe mit für 234 Der vielsagende historische Genitiv: Zwischen Possessivus und 256 Qualitatis Typen telisch-historischer Aussagen 277 Hypostasierungen (im engeren Sinne): Kennzeichen für eine wichtige Sache 279 Spiegelnd-bildgebende Aussagen: Spiegelbilder und Spiegel für 296 ein wichtiges Bild Berichtend-resümierende Aussagen: Wirkungen für eine wichtige veränderbare Größe, für eine Richtung und ein Ziel der Veränderung 324 Idealisierend-dramatisierende Aussagen: Einsatz, Fürsorge und 337 Gefühl für ein großes Ideal Personalisierende Aussagen: Wichtig für eine wichtige Person/ Personengruppe 356 Instrumentalisierend-zwecksetzende Aussagen: Werkzeuge, Mittel und Werkleute für praktische Zwecke 370

Inhalt

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Funktionalisierungen von Bezeichnungen für bekannte Begriffe bzw. von sprachlichen Formen für wichtige Sprachfunktionen 392 401 Ersatz für etwas Ersetzbares, Ersetzenswertes, Störendes Periodisierende und sequenzbildende Aussagen: Epochen für die Sprachgeschichte, Anfänge, Zeiten, Höhepunkte für eine wichtige 411 geschichtsträchtige Größe Plausibilisierend-erklärende Aussagen: Ursachen, Voraussetzungen, Gründe für eine auffällige, erklärungsbedürftige Größe 423 (Metahistorisch) Argumentierende Aussagen für eine wichtige 429 Hypothese oder Spekulation Explizit metahistorische Aussagen: Quellen, Instrumente, Gewinne für die (deutsche) Sprachgeschichte und das Sprachverständnis 433 Vorbilder und Erscheinungen: Starke und schwache Interpretanten 439 in der historischen Aussage Interaktionen: Wie der Historiograph für sich und seine Leser spricht (Das historisierende für) 449 Wie sich der Historiograph in den Text einbettet: Zweistellige 449 Dispositionsprädikate Historische Wechselwirkungen: Das historisierende für 462 Die doppelte Codierung der Präpositionalgruppe: Meinung und 466 Betroffenheit Rationalisierung von Idiosynkrasien 474 Rollen- und Versteckspiele mit der pronominal und/oder lexikalisch ausformulierten Präpositionalgruppe: Sozialisierung der Idiosynkrasie 478 Überlagerung von Stimmen durch die Ellipse der Präpositionalgruppe: Solidarisierung und Abgrenzung, Einfühlung und Spott gegenüber Personen/-gruppen der 485 Vergangenheit Kommunikative Wechselwirkungen: Ansprache und Reaktionsverpflichtung für den Leser (mit Ellipse oder inklusivem wir) 496 Kommunikativ-didaktische Akte der Belehrung: Solidarische Einfühlung des Lehrers mit seinen Schülern, und autoritäre Abgrenzung 505

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Inhalt

Die gemeinschaftsstiftende Rolle der Betroffenen: Was Tacitus uns erzählt, was die Dokumente uns bezeugen und was die Ereignisse für uns bewirken 512 Tempus: Mit Dispositionsprädikaten besprechen, als ob erzählt würde 515 519 Historische Aussagen mit Dispositionsprädikat Betroffenheit und Meinung der (deutschen) Sprachgeschichte in 526 der historischen Aussage Zusammenfassung: Geschichtsschreibung mit dem telischen, epistemischen und historisierenden für, das immer auch ein 532 parteiliches für ist

Literaturverzeichnis 544 Sprachgeschichten des Deutschen Sekundärliteratur 545 Register Sprachhistoriographen Sachregister

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Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung Eine Gesellschaft, die bereit ist, ihre Zukunft aktiv zu gestalten, ist wesentlich auf die Geschichtsschreibung angewiesen. Nachhaltige Veränderungen kommen nämlich nicht zustande durch eine verkrampfte Jagd nach Modernisierung, sondern durch eine stetige und unverkrampfte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Auf diesem Wege ändert sich das Selbstverständnis, und neue Perspektiven für Denken und Handeln eröffnen sich. Das gilt für den Einzelnen, wie für eine Wissenschaft, wie für eine ganze Gesellschaft. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Geschichte der deutschen Sprache. Aber es ist kein Plädoyer für mehr sprachgeschichtliches Wissen in einer vermeintlichen Wissensgesellschaft, sondern eines für eine nicht abreißende Geschichts- und Sprachgeschichtsschreibung. Auf der zweiten Metaebene der Geschichte (Reichmann 1998, 2) werden 25 Sprachgeschichten des Deutschen behandelt, die ihrerseits die deutsche Sprachgeschichte als angeblich gewesenes Geschehen zum Gegenstand haben. Es geht darum zu erläutern, wie die Sprach-/Historiographie in diesen Texten als Medium historischer Erkenntnis, Selbsterkenntnis und gesellschaftlicher Einflussnahme funktioniert. Damit ist zugleich gesagt: Die Aufgabe der Sprach-/Geschichtsschreibung besteht nicht im Wesentlichen darin, über vergangene Geschehnisse zu informieren. Historiker wuchern mit dem Pfund der Information und der Fülle der zugänglichen Überlieferungsdaten. Historiographen hingegen arbeiten – auf dem Wege der Information über die Vergangenheit – an ihren eigenen historischen Begriffen und an den mit diesen Begriffen verbundenen, für sie wichtigen historischen Erfahrungen: an ihrem Verständnis von Krieg und Frieden, von Toleranz und Intoleranz, von guter Sprache und schlechtem Stil, vom Eigenen und vom Andersartigen, von Dialekt und Hochsprache, vom Deutschen in Deutschland und vom Deutschen in Österreich usw. usf. Kluges sprachliches Handeln ist hier gefragt (Hermanns 1987, 76 f.), denn die Geschichtsschreibung ist eine einzige Gratwanderung: Schreiben über die Vergangenheit und zugleich Schreiben dafür, dass wir uns mit unseren Begriffen in der Gegenwart und Zukunft besser zurechtfinden. Insofern ist die historische Aussage keine theoretische oder narrative Aussage, sondern eine kritische Aussage. Die Autoren dieser Aussagen sind keine Theoretiker (wie die begrifflich subsumierenden Historiker und Sprachhistoriker), und sie sind auch keine Künstler (wie ein erzählender Romancier). Sie sind sprachliche Handwerker, die weniger am Ausdruck einer Botschaft arbeiten als an ihrem Medium. https://doi.org/10.1515/9783110699609-002

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Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

Mit der historischen Aussage als zentralem Gegenstand schließt die Untersuchung an die Geschichtswissenschaften an (Veyne 1971/1996; 1990; Koselleck 1997/ 2010; Faber 51982; Rothermund 1994), auch an die (analytische) Geschichtsphilosophie (Danto 1965; 1974; Baumgartner 31975; Ricœur 22007), die Literaturwissenschaft (Schiffer 1980; Jauß 1982) und die Sprachwissenschaft (Stempel 1973a). Im Hintergrund steht das im Ursprung textlinguistische Anliegen zu klären, inwiefern die historische Aussage die Geschichte/Sprachgeschichte als kohärente Texteinheit und Textsorte im Deutschen zusammenhält. Medientheoretisch gewendet betrifft dieses Anliegen aber nicht die Frage nach der Transphrastik, dem Textthema, der Textfunktion bzw. Autorabsicht (Schlieben-Lange 1983, 27 f.; Reichmann 1996; Heinemann 2000b; Brinker 72010; Adamzik 22016), sondern die Frage nach dem Medium, welches die Geschichtsschreibung trägt (Groys 2000). Die zentrale These lautet: Das Medium der Geschichtsschreibung ist die historische Aussage, und deren wichtigstes Spezifikum besteht darin, mit der syntaktisch, semantisch und pragmatisch flexiblen, multifunktionalen Präpositionalgruppe mit für gebildet zu werden. Denn Historiographen sprechen nicht von der Bedeutung vergangener Ereignisse schlechthin, sondern sie sprechen davon, welche Relevanz und Bedeutung die Ereignisse der Vergangenheit für etwas anderes haben (Veyne 1990, 51). In der Präpositionalgruppe erscheinen dabei wertbesetzte begriffliche Größen, die semantisch und pragmatisch der Gegenwart des Historiographen angehören. Das aber heißt: Indem die Historiographen ihre historischen Aussagen systematisch mit der Präpositionalgruppe mit für bilden, sprechen sie über die Vergangenheit und verhandeln zugleich ihre Gegenwart. Als eine der wichtigsten kommunikations- und sprachtheoretischen Vorannahmen der Untersuchung gilt, dass überall dort, wo miteinander und (besonders in Schrifttexten) füreinander gesprochen wird, auch die Bedingungen dieses Mit- und Füreinander-Sprechens mit reflektiert und ausgehandelt werden. Diese (Selbst‐) „Reflexivität“ (Schlieben-Lange 1975, 192 f.) bzw. „rekursive Transkriptivität“ (Jäger 2005, 48) kann man in der Historiographie immer dort beobachten, wo die Präpositionalgruppe mit für im Textverlauf syntaktisch verrückt, semantisch verschoben und pragmatisch immer neuen kommunikativen Kontexten anverwandelt wird. Dadurch wird Geschichte für je andere Lesergruppen und ihre je andere begriffliche Gegenwart in einem jeweils anderen selbstreflexiven Verständnis rekursiv je anders geschrieben – derart, dass sich Strukturen und Funktionen der historischen Aussage im Textverlauf ständig ändern und damit auch die Ereignisbedeutungen. Darin besteht das Handwerk der Historiographen: Durch ihren handwerklichen Umgang mit der Präpositionalgruppe im Aussage-, Text- und Kommunikationszusammenhang schaffen die Historiographen Sprachgeschichte, und sie reflektieren, wie sie das tun. „Die verrückte historische Aussage mit für“ bildet deshalb das Thema und Leitmotiv der Untersu-

Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

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chung, mit der Textlinguisten, Sprachhistoriker, Historiker und Geschichtstheoretiker gleichermaßen angesprochen werden sollen (Blumenthal 2000; Trabant 2005; Langer/Davies/ Vandenbussche 2012; Kansteiner 2018). Für eine Übersicht über die Ergebnisse der Hauptkapitel 1 bis 5 sei auf die Zusammenfassung in Kapitel 6 verwiesen. Eine Methodendiskussion ist in Kapitel 1.7 zu finden; zahlreiche Belege, insbesondere für die Analysen in Kapitel 4 und 5 auf der Internetseite des Verlags (https://www.degruyter.com/view/ title/578691). An dieser Stelle sei es mir erlaubt, ein einführendes Beispiel zu nennen, anhand einer historiographischen Arbeit, die mit der deutschen Sprachgeschichte gar nichts zu tun hat, die zudem auch noch in Französisch verfasst ist, die mir aber in den vergangenen Jahren eine leidige Erfahrung erleichtert hat: Die Begriffe vom Kind, von der Familie und vom Familienleben, die im Alltag für viele zentral und handlungsleitend sind, sind in demselben Alltag kaum reflexionsfähig. Praktische Zwänge und konventionalisierte Berührungsängste bewirken, dass im halböffentlichen Gespräch auf diese Begriffe nur reagiert wird und ein kritischer und souveräner Umgang mit ihnen kaum möglich ist. Die „Geschichte der Kindheit“ von Philippe Ariès (1975; 1988), in der an genau diesen Begriffen gearbeitet wird, ist ein passender Anlass, solche Reflexionen dennoch auch im Alltag in Gang zu bringen. Man spricht über die Vergangenheit und verhandelt trotzdem seine Gegenwart. Dasselbe tut der Historiograph: In einem sehr schwierigen Absatz im Text zitiert Ariès ausführlich aus dem (von Héroard verfassten) leibärztlichen Tagebuch über die Kindheit Ludwigs XIII., und er bemerkt: „Der moderne Leser“ dieses Tagebuchs sei verwirrt von der Freiheit/Freizügigkeit, mit der man die Kinder damals behandelte: Il „est confondu de la liberté avec laquelle on traitait les enfants“ (Ariès 1975, 141). Es handelt sich um einen schwer darstellbaren Ausschnitt aus der Vergangenheit, denn vom ersten bis zum siebten Lebensjahr wurde der Junge „zum Spaß“ fortlaufend im Intimbereich belästigt. (Danach setzte die Erziehung ein, mit 14 Jahren wurde er verheiratet). Indem Ariès sich (mit genau diesem Satz) an „den modernen Leser“ wendet, antizipiert er, in welcher Weise dieser Sachverhalt diesen Leser betrifft und wie der ihn beurteilt, wie der Sachverhalt für den Leser wirkt und was er für ihn bedeutet. Ariès unterlässt es dabei, die Präposition für (pour) auszubuchstabieren. Und doch ist sie in den Hauptprädikaten dieses Satzes impliziert: Es geht bei dem, was er im Kontext „vulgäre Scherze“ und „anstößige/unschickliche“ Handlungen nennt (ebd.), um eine „Freiheit“ bzw. „Freizügigkeit“, die für den Leser „verwirr“end ist. Mit dieser Interpretation bezieht sich der Historiograph auf die überlieferte Vergangenheit, er bezieht sich aber in gleichem Maße auf diesen „modernen Leser“. Auch über ihn und über seine Erfahrungen im Umgang mit Kindern spricht der Historiograph.

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Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

Das Verständnis dieser Aussage wie des ganzen Absatzes hängt nun ganz und gar davon ab, für wen und für was genau der Historiograph diese „verwirrende Freiheit/Freizügigkeit“ geltend macht, worüber er also, während er über das Tagebuch und den kleinen König spricht, zudem noch spricht. „Der moderne Leser“ ist ja nur ein Platzhalter. Sind denn diese „Scherze“ in den Augen des Historiographen eine „Freiheit“, die als naive, ursprüngliche, „natürliche“ Ungezwungenheit den Erwachsenen und Kindern damals zukam (dem modernen Leser aber nicht)? Oder sind sie eine „schockierende, unerträgliche Freizügigkeit“ und eine Frechheit („audace“) für die Vertreter der (erst im 18. Jh. und 19. Jh. kultivierten) „strengen bürgerlichen Moral“? Handelt es sich vielleicht um eine positive Handlungsfreiheit für all diejenigen, die dieses Verhalten so „natürlich“ finden, dass sie sich über die bürgerliche Moral lieber hinwegsetzen und diese Freiheit für sich reklamieren? Oder handelt es sich doch um einen „unerträglichen“ Übergriff, um eine „Freiheit“, die sich die Erwachsenen damals zum Schaden der Kinder herausnahmen? Für all diese historischen Aussagen mit für gibt es bei Ariès Kontextindikatoren; und indem der Historiograph sich an „den modernen Leser“ wendet, entfaltet er eine für einen Geschichtstext beachtliche Vielfalt von Redegegenständen, die lauter Personen- und Interessengruppen aus seiner eigenen Gegenwart umfasst. Bewerkstelligt wird das mit dem überaus ambivalenten Prädikat der liberté, das im Kontext dieses Absatzes nach Maßgabe verschiedener – wenn auch nicht ausgesprochener – Präpositionalgruppen mit für ständig neu und mit neuen Prädikaten interpretiert wird. Auf diese Weise wird die Präposition für wieder und wieder verrückt, in diesem präzisen Fall semantisch verschoben (für die modernen Leser – für die erwachsenen Leser – für die Erwachsenen damals – für die naiven Erwachsenen damals – für die naiven Erwachsenen heute …). Solche Manipulationen sind in der Historiographie unerlässlich, denn sie garantieren beides: dass die Vergangenheit nicht abschließend beurteilt und in einer einzigen Schublade der Erinnerung versenkt wird und dass die kritische Arbeit an den eigenen Erfahrungsbegriffen aufrechterhalten wird. Indem der Historiograph die Präpositionalgruppe mit für dauernd neuplatziert, kann er, im Rahmen dieser Präpositionalgruppe, nach und nach bestimmte Erfahrungen und Interessen der Gegenwart in den Blick nehmen, und er kann die Vergangenheit einmal so und einmal anders beurteilen. Freilich entspricht das Verfahren nicht dem Ideal neutralen, wissenschaftssprachlichen Formulierens, denn die Rede von einer Freiheit/Freizügigkeit impliziert eine Bewertung. Die kommt vor allem dadurch zustande, dass die Freiheit/ Freizügigkeit, die der Historiograph für eine Person/-engruppe geltend macht, für diese immer auch einen Vorteil bedeutet, gegebenenfalls auch einen Nachteil für eine andere. Indem er also genau dieses und kein anderes Prädikat verwendet und indem er es affirmativ (als Freiheit und Ungezwungenheit) oder tadelnd (als

Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

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Freizügigkeit, Frechheit oder Übergriff) verwendet, begünstigt er eine Größe und benachteiligt er eine andere. Historiographen treffen deshalb nicht nur Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart, sondern sie ergreifen zugleich Partei. Mit der (elliptischen) Rede von der liberté allein vollzieht Philippe Ariès verschiedene Sprechakte: Für die naiven Erwachsenen (der Vergangenheit und der Gegenwart) bittet er um Verständnis, für die (Spieß‐) Bürger hält er eine Provokation bereit; denjenigen, die gegen die bürgerliche Norm aufbegehren, gibt er ein legitimierendes Argument an die Hand; und für all diejenigen, die für die Kinder Respekt haben und Respekt einfordern, räumt er ein: An diesem historisch belegten Beispiel sieht man, dass es auch andere Positionen gibt. Er redet über all diese Gruppen von Betroffenen, über ihre Eindrücke, Urteile, Erfahrungen und Interessen, aber er tut das nicht irgendwie, sondern derart, dass er ihnen eine Freiheit/ Freizügigkeit an die Hand gibt, jeder von ihnen zu einem mehr oder weniger großen Gewinn, zu einer mehr oder weniger willkommenen Verfügung, zu einem mehr oder weniger gewichtigen Schaden. Die Präposition für wird dabei zu einem der wichtigsten Bedeutungsträger im Text der Geschichte, denn weil die Historiographen mit dieser Präposition sprachlich arbeiten müssen, müssen sie parteilich sein. Allein das Verfahren der im Textverlauf immer neu verrückten historischen Aussage stellt sicher, dass sie nicht – wie Ideologen, Anwälte, Lobredner – einseitig parteilich sein müssen. So begründet nicht Unparteilichkeit, sondern differenzierte Parteilichkeit ihren Anspruch auf wissenschaftliche Rationalität. Indem Ariès die Präposition für immer wieder neuplatziert, muss er keine unverrückbaren Wahrheiten und Normen verkünden, aber er kann, während er sich adäquat über seine Quelle äußert, zugleich sehr effektiv zu einer kritischen Reflexion bestehender Handlungsnormen herausfordern. Verfolgt man nun die illokutionäre (nicht mehr „nur“ semantische) Neuplatzierung der Präpositionalgruppe, dann liegt es auf der Hand, dass der Historiograph die Naiven und die Mutwilligen viel mehr begünstigt als die Strengen und Kompromisslosen. Für die Kinder tut er überhaupt nichts. Im Gegenteil: Er vertraut seiner Quelle blind. Hier wie da wird so viel „gelacht“ (alles geschah „par plaisanterie“), dass man meinen könnte, für ein Kind bestände die größte Freiheit darin, über körperliche Intimitäten zu lachen. Seine Geschichte der Kindheit, vom „Kind und dem Familienleben im Ancien Régime“ (Ariès 1975; 1988) ist deshalb eine Geschichte, in der sich nur die Erwachsenen einigermaßen vielseitig spiegeln können. Der Begriff vom Kind ist demgegenüber ausgesprochen unterkomplex. Wo es einen solchen blinden Fleck in einem Geschichtsbuch gibt, endet die Geschichtsschreibung, und es beginnt eine Geschichtsideologie. Ariès kann die Interessen der Kinder nicht berücksichtigen, denn er macht sich letztlich doch zum Anwalt einer einzigen Parteisache. Als Historiker hat er eine Mission. Er benutzt seine Quelle, um sich für die historisch-kulturelle Relativität starkzumachen. Er tut

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Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

dies explizit, einseitig und kategorisch. Der moderne Leser ist für ihn einer, der im Gefängnis der Gegenwart (im Frankreich der 60er und Anfang der 70er Jahre) eingeschlossen ist, weil er nichts anderes kennt als den strengen bürgerlichen Umgangskodex mit moral, décence, réserve, discipline, éducation usw. Diesen Leser schockiert er mit der Kindheit des kleinen Königs, und denjenigen Leser, der dafür offen wäre, aus seinem Gefängnis auszubrechen, den verwirrt und überrascht er, um ihm die Gelegenheit zum Ausbruch zu geben. Die Freiheit, die er in dem Tagebuch Héroards findet, widmet er diesen Lesern, damit sie sich befreien. Er verrennt sich dabei, und zwar nicht nur moralisch: Man könne sich schon vorstellen, „was der moderne Psychoanalytiker dazu sagen würde! Doch hätte dieser Psychoanalytiker unrecht. Die Einstellung zur Sexualität und zweifellos auch die Sexualität selbst“ sei „von Milieu zu Milieu und infolgedessen auch von Epoche zu Epoche und von Mentalität zu Mentalität verschieden“ (ebd. 179). Dort, wo der Historiograph diesen Zeigefinger erhebt, scheitert er historiographisch. Der handwerklich gearbeitete und kluge Umgang mit der Präposition für hört an dieser Stelle auf, weil er hier einseitig nur für eine einzige Parteisache eintritt und dabei mindestens einen anderen Gesichtspunkt explizit ins Unrecht setzt und diffamiert. Die historisch-kulturelle Relativität mag ihm wichtig sein, aber auch als guter Historiker mit einem ernsthaften Anliegen muss er sie nicht gegen einen anderen Standpunkt ausspielen. Dass es dabei ausgerechnet um den Standpunkt der Psychoanalytiker geht, die solche „Scherze“ für absolut unangebracht halten, ist mindestens so schwierig wie das Tagebuch von Héroard und müsste selbst (in einer Geschichte der Geschichtsschreibung) zum Gegenstand verrückter historischer Aussagen gemacht werden. Auch in der Sprachgeschichtsschreibung wird die Präposition für gegenwärtig häufig so platziert, dass die Historiographen die Überlieferungsdaten für die Zwecke der Sprachgeschichte allein benutzen und geltend machen. Aussagen über die ganze deutschsprachige Überlieferung sind zugleich Aussagen nur für die professionellen Sprachhistoriker und ihre Anliegen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass die Begriffe von der Sprache, von der deutschen Sprache und der (deutschen) Sprachgeschichte im halböffentlichen Alltag einen ähnlich unaufgeklärten Status haben wie die von Familie und Kind. Sprachreflexion und Sprachgeschichtsreflexion finden hier so gut wie nicht statt (Antos 2003, 471). Dieser unbefriedigenden Situation kann man beikommen, indem man die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Gebrauchsregeln der Präposition für in der Sprachgeschichtsschreibung untersucht und diese dann auch kritisch interpretiert. Durch das Studium der verrückten historischen Aussage mit für können die Historiographen ein Verhältnis zu ihrem parteilichen Umgang mit ihren Gegenständen finden. Nützlich erscheint mir dabei, nicht mit großer Geste nach dem Sinn von Geschichte und Geschichtsschreibung zu fragen (Trabant

Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

XVII

1976b; Harth 1982b; besonders Rüsen 1990), sondern sich auf das sprachliche Material zu konzentrieren und das Identitätsproblem der historischen Zunft auf ein handwerkliches herunterzubrechen. Die Geschichte bedeutet für die Leser in der Gegenwart nicht mehr, aber auch nicht weniger als das, was der Historiograph beim Umgang mit dem für für sich und seine Leser erarbeitet. Gerade weil es sich bei der Präposition für um ein scheinbar unscheinbares und unspektakuläres Zeichen handelt, eignet es sich in besonderer Weise für einen unaufgeregten Zugang zu einem sehr umstrittenen Diskurs. Bei der Kritik der Sprachgeschichten des Deutschen verzichte ich auf jedes vermeintlich sachliche Argument aus dem Bereich des sogenannten Geschichtswissens und verwende stattdessen eine konsequent linguistische Methode: die Methode der „Deutschen Satzsemantik“ (Polenz 21988), die zwischen den Zeilen liest und die das, was ein Autor sagt, mittels Paraphrasierung noch einmal sagt – anders, umständlicher, einfacher. Wo die Präpositionalgruppe explizit im Text geäußert wird, wird sie umformuliert, wo sie (in einem Wort wie Freiheit) impliziert ist, wird sie explizit gemacht, und wo sie ausgespart wird, wird sie hinzugefügt – derart, dass sie dann umformuliert werden kann. Im Grunde schreibe ich damit die behandelten Sprachgeschichten einfach weiter, denn auch sie reformulieren, verschieben, erneuern, ergänzen und erläutern ihre Präpositionalgruppen mit für. Nutzt man dieses Vorgehen systematisch, dann entsteht keine einzige Situation, in der man der Präpositionalgruppe nur eine einzige Paraphrase bzw. nur eine Funktion und Bedeutung zuweisen könnte. Die scheinbar einfache, nicht hypotaktisch gegliederte Struktur der historischen Aussage (Die vulgären/anstößigen Scherze mit dem kleinen Ludwig XIII. sind für den modernen Leser eine verwirrende Freiheit/Freizügigkeit) korrespondiert nämlich mit der Multifunktionalität ihrer einzelnen Elemente überhaupt nicht. Es ist besonders die Präpositionalgruppe mit für, die mehrere Aufgaben – syntaktische, semantische, pragmatische – übernimmt und die, noch wenn sie elliptisch ausgespart wird, vieles aussagen und vieles bewirken kann. Deshalb muss jedes für doppelt und dreifach aus- und um- und neu formuliert werden. Das Zeichen eröffnet dem Autor wie dem Leser Schreib- und Interpretationsspielräume, und deshalb kann man nicht, wie die Satzsemantik das ursprünglich vorsieht, „herausfinden“, was die Autoren „eigentlich“ sagen woll(t)en. „Zur Klärung sprachlicher Missverständnisse oder Unklarheiten, zur Aufdeckung sprachlicher Verschleierungen“ (Polenz 21988, 29) wird das Buch nichts beitragen, denn demjenigen, der dieses Ziel verfolgt, muss jeder Gebrauch der Präpositionalgruppe missverständlich, rätselhaft und vielleicht sogar verlogen erscheinen. Weil sie sich systematisch gegen eindeutige Funktions- und Bedeutungszuweisungen sperrt, bildet sie beim Lesen „eine unwillkürliche Abweichung vom Programm, eine Regung, eine Bewegung, einen Fehler, einen Ausrutscher“ (Groys 2000, 69). Wo sie den syntak-

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Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

tischen Anschluss zu Freiheit in ganz verschiedenen Bedeutungen oder zu einem anderen ambivalenten Prädikat bildet, wo sie unvermittelt ihre syntaktische Position oder ihre pragmatische Funktion ändert (etwa indem die Freiheit plötzlich zu einem Argument für die historische Relativität und gegen die Psychoanalytiker gemacht wird), erscheint sie dem Leser als ein „unpassendes Zeichen“ und als Teil einer „verrückten Aussage“. Ihren theoretischen Platz hat die „verrückte Aussage“ in der Medienontologie von Boris Groys (ebd. 70 f.). Hier steht nicht das kommunikativ handelnde Autorsubjekt im Zentrum, sondern das „medienontologische Subjekt“, das mehr eine Projektion des Lesers ist als eine reale Person. Wer einen Text aufmerksam liest, sieht einen anonymen Handwerker bei der Arbeit und wie der dabei ist, sein sprachliches Medium zu traktieren. Dieser Handwerker hat gegenüber der Sprache keine souveräne Position, die es ihm ermöglichen würde, sich eigentlich und eindeutig auszudrücken. Es ist umgekehrt das Medium, welches ihm Möglichkeiten eröffnet und gleichzeitig Grenzen setzt. Für den, der dieses Handwerkersubjekt arbeiten sehen will, sind die geeignetsten Zeichen die uneindeutigen Zeichen und diejenigen Zeichen, die sich den Vereindeutigungs- und Normalitätserwartungen gerade nicht beugen. Insofern ist eine „verrückte Aussage“ mit der Präposition für nicht nur eine, in der diese Präpositionalgruppe (im Verhältnis zu einer anderen Aussage) neuplatziert und verrückt wird. Es ist auch eine Aussage, die falsch klingt, fou und foolish. Das ist ihr heuristischer Wert: Eine verrückte Aussage „scheint uns zwar meistens falsch zu sein“, aber sie wirkt auch „zugleich aufrichtig, authentisch, offenbarend“ (ebd. 71). Nicht, dass ein Autor damit den „bewussten Entschluss“ verkünden würde, endlich die Wahrheit über sein Inneres zu sagen“ (ebd. 66). Aber dort, wo ein Maler im Überschwang der Inspiration an seinem Farbauftrag arbeitet, kann es passieren, dass er dem Betrachter absichtlich oder unabsichtlich den Blick auf die Leinwand freigibt. Und dort, wo der Historiograph (das submediale Handwerkersubjekt der Historiographie) die Präpositionalgruppe mit für neuplatziert, kann es passieren, dass er dem Leser einen Blick auf sein Medium ermöglicht: auf die historische Aussage. Als empirische Grundlage dieser nicht corpus-, sondern text(sorten)linguistisch ausgerichteten Studie habe ich 25 sogenannte Sprachgeschichten des Deutschen ausgewählt, die aus der Zeit der Weimarer Republik bis 2016 stammen, mit einem Vergleich noch rückwärtig zu Jacob Grimm 1848. Es handelt sich dabei um ein- oder mehrbändige Monographien, auch einige unselbständige Publikationen, die sich selbst Geschichte der deutschen Sprache oder Deutsche Sprachgeschichte nennen oder die erkennbar dasselbe Textthema verfolgen. Die Auswahl sollte die historische Variabilität der Textsorte respektieren, d. h. bezüglich der sogenannten textexternen und textinternen Faktoren ausgewogen und repräsentativ sein: zeitlich / weltanschaulich gestreut und repräsentativ, mit (kur-

Vorbemerkung: Die historische Aussage in der Geschichtsschreibung

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zen) Überblicksdarstellungen und (umfänglichen) ambitionierten Projekten, mit wissenschaftsgeschichtlich relevanten und weniger relevanten Texten, mit völlig vergessenen und aktuell (mutmaßlich) häufig benutzten Texten, wieder bearbeiteten/mehrfach neu aufgelegten Texten, mit individuell oder von einem Autorenkollektiv verantworteten Texten, auch mit mehreren unterschiedlichen Texten ein und desselben Autors, mit Texten von Autoren, die institutionell an der Universität integriert waren/sind oder nicht. Sprachgeschichten der sogenannten Auslandsgermanistik sind leider kaum repräsentiert, auch keine anderssprachlichen Darstellungen. Sprachgeschichten im Internet wurden ebensowenig berücksichtigt (Bär 2013) wie eine geschlechtsspezifische Differenzierung in Texte weiblicher und männlicher Autoren. Das Schriftbild wird wie in dieser Vorbemerkung gehandhabt: Nachgewiesene, wörtliche Einzelzitate sind wie üblich mit doppelten Anführungszeichen markiert. Zusätzlich verwende ich die Kursive, um die von mir jeweils schon einzelfallübergreifend verallgemeinerte und gleichwohl zitierte Metasprache der Sprachhistoriographen hervorzuheben, insbesondere auch das für. Denn eine Untersuchung auf der zweiten Metaebene der Geschichte muss die originale Metasprache der untersuchten Texte kenntlich machen und darf diese mit ihrer eigenen Metasprache nach Möglichkeit nicht verwechseln. Man nehme dieses aufwändige optische Verfahren im Fließtext als Kompensation für fehlende Tabellen, Graphiken, Bilder. Im Ganzen habe ich mich um ein konsequent versprachlichendes (paraphrasierendes und argumentierendes) Darstellungsverfahren bemüht, das Erwartungen von Bildlichkeit, schneller Nachschlagbarkeit, Querlesen und anderem Hypertextbedarf gerade nicht entspricht. Lieber wollte ich den Kopf, der im Computer abgeschlagen vor mir lag, (wie Saint Denis) unter dem Arm noch ein Stück weitertragen (Michel Serres: Petite Poussette. Paris. Le Pommier. 2012). Im Übrigen halte ich mich an die Unterscheidung von grammatischem Genus und biologischem Sexus. Meine Leser in ihrer Geschlechtlichkeit als Frauen und Männer anzusprechen, das erschiene mir viel zu anzüglich. Deshalb werden der Leser, der Autor und der Historiograph als Rollenbegriffe behandelt und mit dem für Rollen üblichen maskulinen Genus versehen, ohne dass damit die Frauen aus dem Text ausgesperrt würden. Frauen wie Männer sollen diese Rollen jederzeit gerne einnehmen.

1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für Eine Theorie, die etwas erklären will, ist übrigens an sich immer schon ein Geschenk an den Gegenstand der Erklärung (Boris Groys 2000, 123).

1.1 Eine Geschichte der deutschen Sprache ist eine Geschichte für die deutsche Sprache Eine Geschichte der deutschen Sprache bzw. eine deutsche Sprachgeschichte zu schreiben heißt nicht, die Geschichte der deutschen Sprache aufzuschreiben oder zu erzählen, mit der Voraussetzung, die deutsche Sprache habe eine Geschichte durchlaufen. Eine Geschichte der deutschen Sprache bzw. eine deutsche Sprachgeschichte zu schreiben heißt vielmehr, eine Geschichte für die deutsche Sprache zu schreiben, ihr als Nutznießer des historiographischen Handelns eine Geschichte zuzuschreiben und sie anderen zum Lesen,Verstehen und Erinnern an die Hand zu geben. Damit ist mehr gemeint als nur das konstruktivistische Bekenntnis, dass die deutsche Sprache an sich keine Geschichte hat, sondern dass der Historiograph ihr eine solche zuschreibt. Eine Geschichte für die deutsche Sprache zu schreiben setzt vielmehr eine spezifisch historiographische Parteinahme für die deutsche Sprache voraus: Nur wenn der Historiograph der deutschen Sprache zubilligt, dass sie eine Geschichte verdient hat, dass sie ihm diesen Aufwand wirklich wert ist, dann wird er ihr eine Geschichte schreiben. Und nur, wenn der Leser diese Auffassung teilt, dann wird er auch die Mühe aufbringen, diese Geschichte verstehend und erinnernd zu verarbeiten. So muss man sich den historischen Kontext der ersten hier behandelten Geschichte der deutschen Sprache von Jacob Grimm (1848) vorstellen. Und so soll man auch die textsortenspezifische Aufgabe verstehen, die ich an die aktuellen Sprachgeschichten herantrage: Eine Sprachgeschichte, die nicht für die deutsche Sprache geschrieben wird – für welche Aspekte der deutschen Sprache man sich dabei auch immer engagiert – muss als historiographischer Text scheitern. Eine Geschichte der deutschen Sprache ist eine Geschichte über die deutsche Sprache und für die deutsche Sprache. Das mag etwas betulich klingen, und deshalb bleiben die Autoren bei der nominalen Komprimierung und Zweideutigkeit. Das Genitivattribut ist ambivalent: Man kann es zum einen als Genitivus https://doi.org/10.1515/9783110699609-003

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

subiectivus verstehen, mit der Bedeutung: Die deutsche Sprache hat eine Geschichte durchlaufen, die deutsche Sprache geschah in der Zeit, und diese Zeit, diese Vergangenheit gehört nun zu ihr (eine Variante des possessiven Genitivs „im weiten Sinn“, die wohl eine lexikalische Präferenz im Umgang mit dem Ausdruck Geschichte bildet, vgl. Duden-Grammatik 92016, § 1266 ff.)¹. Man kann ihn aber auch als Genitivus possessivus im engeren Sinn auffassen: Die deutsche Sprache hat eine Geschichte, so wie manche Leute eine hohe Stirn, ein großes Auto oder politische Macht haben. Der Genitivus possessivus im engeren Sinn wird nicht beschrieben in der Duden-Grammatik (ebd.)². Ich meine: Mit dem Genitivus possessivus im engeren Sinn wird eine Teil-, Besitz- oder Verfügungsrelation ausgedrückt (vgl. Polenz 21988, 171). Eine Geschichte ist ein symbolisches Gut; man schreibt also eine Geschichte der deutschen Sprache so, dass man deutlich macht, inwiefern die deutsche Sprache in dieser Geschichte etwas Wertvolles besitzt, inwiefern die deutsche Sprache über ihre Geschichte wie über ein Machtoder Handlungspotential verfügt, auch inwiefern sie sich durch ihre Geschichte als konstituierenden Teil ihrer selbst definiert oder versteht. Da man aber das Besitzen, das Verfügen und das Sich-Verstehen normalerweise Menschen zuschreibt, eröffnet der Titel zugleich eine Leerstelle: Wer kann, darf oder soll glauben, eine Geschichte zu gewinnen, wenn der deutschen Sprache eine Geschichte geschrieben wird? Der Sprachhistoriograph wendet sich an Rezipienten, die sich, wie er selbst, für die deutsche Sprache interessieren – die deutsche Sprache ist dabei aber immer irgendwie ein Umweg zu den Rezipienten selbst. Ihnen eignet er seine Geschichte der deutschen Sprache zu, als Teil ihres Selbstverständnisses, zum Wissenserwerb und zur theoretisch-praktischen Verfügung. Am Ende sollen sie sagen können: Ja, das ist auch meine Geschichte, das ist eine Geschichte für mich. Eine Geschichte für die deutsche Sprache soll auch eine Geschichte sein über die deutsche Sprache und über die Vergangenheit, welche sie durchlaufen hat. Ein solcher Text soll darstellen, wie sich die deutsche Sprache in der Zeit bis heute  Der Genitivus subiectivus wird hier vom Vorgangsverb abgeleitet (Duden-Grammatik 92016, § 1269). Der morphologische Zusammenhang zwischen beiden ist aber in diesem Fall selbst schon historisch und kann nur auf Kosten der Gegenwartsgrammatik deutlich gemacht werden (Die deutsche Sprache geschah in der Zeit). Vgl. Weinrich (1973, 521).  In den entsprechenden Paragraphen der Duden-Grammatik (92016, § 1268) geht es explizit nur um den possessiven Genitiv im weiten Sinn: „Der eigentliche possessive Genitiv oder genitivus possessivus drückt eine Zugehörigkeit im weitesten Sinne aus; also nicht nur einen Besitz im wörtlichen Sinn“ (ebd.). In dieser Formulierung wird auf den Possessivus im engeren Sinne (als Gegensatz) nur angespielt: Er soll es wohl sein, der „einen Besitz im wörtlichen Sinn“ ausdrückt. Das ist für mein Anliegen zu eng, so wie mir auch der Possessivus im weiten Sinne zu weit ist (ausführlicher dazu Kap. 3.7.).

1.1 Eine Geschichte für die deutsche Sprache

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vollzogen hat derart, dass dieses Geschehen irgendwie zu ihr gehört. (Ich spreche hier über den Genitivus subiectivus bzw. den Possessivus im weiten Sinn). Insofern muss sich der Text auf Sachverhalte beziehen, die datierbar und lokalisierbar sind. Es werden Personen, Handlungen, Vorgänge, (einigermaßen) konkrete Gegenstände und abstrakte Größen aufgeführt, die zeitlich und räumlich einzuordnen und auf diesem Wege für den Leser in die Vergangenheit zurückzuverfolgen sind.Weil das so ist, werden sie als real (als geschichtlich im Sinne von real) angesehen. In einer Sprachgeschichte muss der Historiker nicht den Beweis erbringen, dass Martin Luther wirklich gelebt hat. Es genügt zu sagen, wann er gelebt und wo er gewirkt hat. Überall im Text kommen also historische Realien vor, die der Historiograph mit den historischen Eckdaten und, wenn vorhanden, mit einem Eigennamen aufführt, um sie historisch zu identifizieren. Er schreibt – in chronologischer Reihenfolge – unter anderem über die Germanen, das Lateinische, die zweite Lautverschiebung, über Karl den Großen, über die mittelhochdeutsche Auslautverhärtung, die höfische Dichtung, über Kaiser Karl IV., über die nhd. Diphthongierung und die md. Monophthongierung, die Mentelbibel und die Lutherbibel, die 12 Artikel der Bauern, über die Fruchtbringende Gesellschaft, über das Französische, über das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, über Klopstock und Goethe, über die Romantik, die historischvergleichende Sprachwissenschaft, über die I. und die II. Orthographische Konferenz, über den Allgemeinen Deutschen Sprachverein, die Sprache des Faschismus und die Sprache der Jugend im 20. Jh. usw. usf. Der definite Artikel hat im Rahmen dieser chronologischen Zusammenstellung die gleiche historisch identifizierende Funktion wie ein Eigenname: Wenn über das Lateinische geschrieben wird, dann wird es wie auch Karl der Große oder das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten als (in diesem Falle langwährendes) historisches Individuum aufgefasst. Beim historiographisch-chronologischen Schreiben darüber muss es raum-zeitlich verortet und/oder – zum Zwecke der Identifizierung – mit einer Kennzeichnung versehen werden (Polenz 1978, 122; Veyne 1990, 101). Es kann bei der historiographischen Rede über das Lateinische immer nur um das Lateinische im 1. Jahrhundert nach Christus gehen oder um das humanistische Latein usw. Solche konventionellen „Indices“ (der identifizierende Artikel, der Eigenname, die Einordnung in Raum und Zeit) „halten uns fest mit den Realitäten verbunden“ (Peirce 1893/2000, 201) und sind die Voraussetzung dafür, dass eine Sprachgeschichte informativ sein kann. Als historisch identifiziertes oder identifizierbares Individuum wird auch die deutsche Sprache aufgefasst. Das Motiv, eine Sprachgeschichte (produktiv oder rezeptiv) „in die Hand zu nehmen“, wird in der Regel darin gesehen, dass in Erfahrung zu bringen sei, wann diese individuelle historische Sache wo und wie begann, und wie sie wo und wann sich fortsetzte. Autor wie Leser suchen dabei

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

(im Sinne von Peirce) nach einer Verbindung mit der Realität der deutschen Sprache. Es handelt sich aber bei einer Sprachgeschichte nicht um eine biographische Schrift, in der man die Identität des Protagonisten – einer historischen Person wie Joseph Roth oder Hannah Arendt – einfach voraussetzen kann. In einer Geschichte der deutschen Sprache hat die deutsche Sprache eine viel weiter reichende Funktion: Sie bildet die begriffliche Klammer für die Darstellung all der vielen historischen Einzelheiten und garantiert Textkohärenz. Das sieht man schon an dem zuweilen unpräzisen Titel: Weil eine Biographie Hannah Arendts eine biographische Schrift über (und nicht für) die Person ist, kann sie keine Arendtsche Biographie sein und kann auch nicht den Titel Arendtsche Lebensgeschichte tragen oder Geschichte des Arendtschen Lebens. Die Integrität der Person ist in Text und Titel unbedingt vorausgesetzt. Eine Geschichte der deutschen Sprache hingegen kann jederzeit Deutsche Sprachgeschichte heißen³, weil hier viel weniger über die deutsche Sprache als vielmehr für die deutsche Sprache (auch für die Geschichte, die Sprachgeschichte, die deutsche Sprachgeschichte und für das Deutsche) geschrieben wird, und vor allem für all diejenigen, die sich für diese Begriffe interessieren. Die Frage beispielsweise, seit wann die deutsche Sprache existiert, ist, auch wenn man auf eine Metaphorik von Leben, Blüte und  Für den Leser einer Biographie Joseph Roths wäre es befremdlich, wenn er darin lauter sogenannte Rothsche Sachverhalte dargestellt bekäme. Er könnte aus einer solchen Biographie vielleicht etwas über die Rothsche Familie erfahren, die man mit dieser Ausdrucksweise selbst auf einen Begriff bringen würde. Kurz und bündig könnte man damit eine Vorstellung von den komplexen wechselseitigen Beziehungen der Familie Roth aufrufen. Mit Bezug auf andere Sachverhalte hingegen ist diese Ausdrucksweise (bislang) völlig unangemessen: Dass etwa das (alkoholisierte) Schreiben im Café Rothsches Schreiben wäre, das glaubt ja niemand, weil niemand dafür einen solchen Begriff benötigt. Es reicht sich vorzustellen, wie Joseph Roth da saß und trank und schrieb. In den Sprachgeschichten ist es hingegen üblich, von Luthers Bibelübersetzung als von der „Lutherschen Bibelübersetzung“ zu sprechen (Schmidt 102007, 124), weil wir damit sehr viel mehr verbinden als nur das Bild, dass Luther auf der Wartburg sitzt und übersetzt. Analog dazu soll die deutsche Sprachgeschichte begrifflich mehr umfassen als nur den geschichtlichen Verlauf der deutschen Sprache/des Deutschen in Zeit und Raum, mehr als nur die „deskriptive Sammlung und Aufbereitung aller überlieferten Einzelfakten“ (Polenz I 22000, 9). Für Peter von Polenz bildet sie eine „auswählende und in wirklich komplexen Zusammenhängen erklärende Synthese“ (ebd.). Mir kommt es vor wie eine tragische Ironie, dass der Nationalismuskritiker Peter von Polenz sich dabei ausgerechnet auf die national-chauvinistische „Synthese“ Friedrich Kluges (1920, hier 21925) berufen muss. Kluge war der Erste, der diesen Buchtitel verwendet hat. Unter dem Titel „Deutsche Sprachgeschichte“ hat er allerdings eine Geschichte nicht für die deutsche Sprache geschrieben (und für das Deutsche in diesem Sinne), sondern eine Geschichte für seinen Begriff von einem völkischen Deutschtum und Germanentum. Man muss sich nicht (ohne weiteren Kommentar) in seine Tradition stellen, nur weil man die eigene Sprachgeschichte „Deutsche Sprachgeschichte“ nennt.Vgl. auch die herausgehobene Position von Kluges Sprachgeschichte in Polenz (1984, 2); außerdem zu diesem Begriff Watts (2012).

1.2 Die deutsche Sprache ist ein historischer Begriff

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Verfall verzichtet, in Wirklichkeit immer eine Form verrückten Sprechens. Einen absoluten Beginn der deutschen Sprache, ob (mit Genitivus obiectivus) als Gründungsakt oder (mit Genitivus subiectivus) als Geburt, kann niemand ernstlich erwarten. Jeder postulierte Beginn der deutschen Sprache wäre ein Beginn für sie: Der Historiograph würde damit sagen, ab wann die Gemeinschaft der sprachlich/sprachgeschichtlich Interessierten bei der Rede über die Vergangenheit von der deutschen Sprache sprechen kann, inwiefern sie dies beim Durchgang durch die Jahrhunderte tun kann, ab wann und inwiefern es für diese Gemeinschaft angemessen und gut ist, von der deutschen Sprache zu sprechen. Für die deutsche Sprache zu schreiben und ihr als Historiograph eine Geschichte, einen Anfang und eine Weiterentwicklung zuzuschreiben, läuft darauf hinaus, begriffliche Arbeit zu leisten. So wird in jeder Sprachgeschichte anhand der Rede über die Realien der Vergangenheit ein Begriff von der deutschen Sprache bereitgestellt, der in die Gegenwart von Autor und Leser passt.

1.2 Die deutsche Sprache ist ein historischer Begriff (unter historischen Begriffen) Diese begriffliche Arbeit vollzieht sich nicht im Wesentlichen nach wissenschaftlichen Kriterien, denn ein theoretischer oder fachsprachlicher Terminus kann aus der deutschen Sprache nicht mehr werden. Dafür ist sie dem Historiographen (wie jedem anderen auch) sowieso schon viel zu sehr zum Begriff geworden. Die deutsche Sprache ist ein historischer Begriff. Bei dem französischen Historiker Paul Veyne (1971/1996; 1990), der sich für seine Geschichts- und Begriffskritik Anregungen aus der analytischen Geschichtsphilosophie geholt hat, heißt das: Ein historischer Begriff (er nennt als Beispiele Krieg, Revolution, Religion) ist „ein irdischer Begriff“, also ein Begriff, den wir alle sowieso schon aus vielfältigen lebenspraktischen Bereichen kennen⁴. Er ist mit der Vielfalt lebensweltlicher Erfahrung in einem solchen Maße gesättigt, dass man – selbst wenn man es wollte – gar keine theoriefähige Definition dafür geben könnte. Die For-

 Es geht bei Paul Veyne um Begriffe „der lebensweltlichen Erfahrung“ (Veyne 1990, 94). Auf Französisch heißen sie „les concepts du vécu sublunaire“, Begriffe des irdischen Erlebens also (Veyne 1971/1996, 178). Er bezieht sich auf die Aristotelische Unterscheidung von Himmel und Erde (ebd. 46): Was sich in der Himmelsregion bewegt, bewegt sich wie ein Uhrwerk nach Gesetz und Wissenschaft. Unter den Sternen dagegen ist alles im dauernden Werden begriffen; es herrscht die Kontingenz. Veyne vertritt damit die Position des Nominalismus. Diese Begriffe, die von manchen fälschlich als Universalien angesehen werden, sollen vom platonischen Himmel auf die Erde zurückgeholt werden.

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

schungspraxis, in der Veyne sich als Praktiker der römischen Geschichte gut auskennt, hebt diese Erfahrung nicht auf. „Wir wissen sehr viel mehr“ von der deutschen Sprache (wie von jedem anderen historischen Begriff), „als jede mögliche Definition uns sagen kann, aber wir wissen nicht, was wir wissen […]“ (Veyne 1990, 95). Auch für den Wissenschaftler also sind die vielen und vielfältigen Erfahrungen, die er im Umgang mit der deutschen Sprache gemacht hat, nicht alle bewusst, geschweige denn systematisch abrufbar. Wenn der Historiograph in einer Sprachgeschichte von der deutschen Sprache spricht, dann nimmt er, ob er will oder nicht, immer Bezug auf persönliche und kollektive, gruppenspezifische Erfahrungen, die ihm beim Akt des Schreibens gar nicht alle bewusst sein können. Der definite Artikel trügt: Er ermöglicht ihm hier weder die historische Identifizierung des Redegegenstandes noch eine präzise begriffliche Abgrenzung. Wo der Autor sich auf den Begriff der historischen Erfahrung bezieht, dient der Artikel einzig und allein als anaphorischer Artikel. Mit ihm signalisiert er dem Leser: Wir kennen sie schon, die deutsche Sprache, und wir verbinden mit ihr ähnliche Erfahrungen. Diese Erfahrungen beziehen sich auf viele Erfahrungsbereiche. Sie mögen gegenwärtig Vorstellungen umfassen, die in den Bereich der (deutschen/deutschsprachigen) Kultur hineinreichen, in den Bereich der allgemeinen (deutschen) Geschichte oder der deutschen Gesellschaft, nach wie vor in die Frage nach der deutschen Nation, in verschiedene Wissens- und Fachbereiche und Berufsgruppen, in den Bereich von Öffentlichkeit und Politik oder in den von Literatur und Dichtung, von Bildung und Schule, von Alphabetisierung und Rechtschreibung, von Schrift und Verwaltung, von Wissenschaft und Ökonomie, in den Bereich der digitalen Medien usw. usf. Das alles sind selbstverständlich Bereiche, die mit Interesse und Empathie, mit moralischen Bedenken, mit Ärger oder auch mit historisch geronnenem Desinteresse verbunden sein können. Sie alle werden in einer Sprachgeschichte mitverhandelt. Niemand würde zwar ausgerechnet eine Sprachgeschichte aufschlagen, um sich mit diesen Erfahrungsbereichen auseinanderzusetzen. Aber das ist unrecht: Weil die deutsche Sprache prinzipiell überall zu Hause ist und weil auch die Historiographen dauernd mit ihren vielen Funktionen beschäftigt sind, behandeln sie bei ihrer Rede für die deutsche Sprache und ihre Geschichte prinzipiell alles, was für sie von Belang ist: die deutsche Identität und den deutschen Nationalismus, das Verhältnis zu den Nachbarstaaten und den Platz Deutschlands in Europa und der Welt, sie behandeln das Politische und das Private, die Religion und die Wissenschaft, die Rechtsprechung und die Ökonomie, die Schule für die Kinder, die Bildung für die Frauen, die Pflichten für die Männer⁵ und

 Gemeint ist die Sprachgeschichte von Peter von Polenz (I 22000; II 1994): Die Schule für die

1.3 Wie man eine Deutsche Sprachgeschichte gegen den Strich liest

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alle anderen nur denkbaren Erfahrungsbereiche⁶. Sie tun das nicht wissenschaftlich-neutral, sondern mit allen schmerzhaften und guten historischen Erfahrungen, die für unsere Gesellschaft konstitutiv sind.

1.3 Wie man eine Deutsche Sprachgeschichte gegen den Strich liest Historiographen informieren über die Vergangenheit, aber indem sie das tun, arbeiten sie an denjenigen Begriffen, die sie (wie auch ihre Leser) in anderen, durchaus praktischen Zusammenhängen für die Kritik der Gegenwart benötigen. Mit der Verwendung eines historischen Begriffes (auch bei der Rede über die Vergangenheit) sind nämlich nicht nur verschiedene Erfahrungen und Stimmungslagen verbunden. Ich bediene mich hier der Überlegungen von Fritz Hermanns zur deontischen Bedeutung von Wörtern (Hermanns 1982; 1986/2012). Wörter für historische Begriffe haben in der Geschichtsschreibung wie im Leben nicht nur eine Sachbedeutung (im Modell der Sprachfunktionen nach Karl Bühler (1934/1982): nicht nur eine darstellungsfunktionale Bedeutung, vgl. Reichmann 21976, 11 ff.); und ihre Widerspenstigkeit gegen alle Versuche der Definition lässt sich auch nicht nur mit der Ausdrucksbedeutung erklären. Theoretisch und praktisch kann man ihnen nur gerecht werden, wenn man ihre Appellfunktion anerkennt: „Du sagst mir mit einem Wort über einen Gegenstand, den du damit bezeichnest, nicht nur was er ist, sondern auch, was, in Bezug auf

Kinder (besonders für die Mädchen) behandelt er wiederholt (I 22000, 125). Allerdings geht es bei ihm seltener um Schulen für die Kinder als um Schulen für höhere Bildung, kirchliche Dienste, post-elementaren Unterricht – um Schulen für bestimmte Bildungsziele also (ebd. 125; II 1994, 26). Die Bildung für die Frauen behandelt er ebenfalls wiederholt (u. a. Polenz I 22000, 119; II 1994, 69), nur punktuell hingegen die Pflichten, Notwendigkeiten und Erfordernisse für die Kaufleute, die Ratsherren und die Geistlichen als Männerberufe (Polenz I 22000, 124, 136). Die frühbürgerliche Schriftlichkeit (ab 1400) bot lauter Chancen und Möglichkeiten für die Laien und für die Frauen mit ihren kulturellen Bedürfnissen (auch explizit für die Kölner Ehefrauen von Kaufleuten, ebd. 125); sie ermöglichte eine „neue Zugänglichkeit für Nicht-Privilegierte“ (ebd. 116). Notwendig war sie hingegen für die Kaufleute, erforderlich für die Ratsherren, und eine Pflicht für die Geistlichen (ebd. 122, 136). Polenz verhandelt dabei seinen eigenen Begriff von Kultur und Bildung (die seiner Ansicht nach nicht für alle ein Bedürfnis sind, insbesondere nicht für die erwerbstätigen Männer) und auch seinen Begriff von den Frauen, demzufolge sie, im Unterschied zu den Männern und wie alle historisch Unterprivilegierten, eher kultur- und bildungshungrig sind.  Zur Einführung in die verschiedenen Bereiche vgl. Felder/Gardt (Hg.) (2015, bes. ab S. 335).

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

diesen Gegenstand, ich soll“ (Hermanns 1986/2012, 185)⁷. Ein Kind muss geschützt und in seiner Entwicklung gefördert werden, auf die Bildung und die Wissenschaft darf man nicht verzichten. Krieg soll nicht sein, nicht unterstützt und nicht angestrebt werden, Sprache und Kommunikation hingegen sind unbedingt erwünscht – und weil sich beides nur in heterogenen Einzelsprachen vollzieht (Coseriu 21992; 31994), kann auch die deutsche Sprache wie jede andere historische Einzelsprache mit ihrer Heterogenität nur erwünscht sein. Da die Historiographen mit solchen (mehr oder weniger lexikalisierten) deontischen Bedeutungen umgehen müssen, dient jedes Stück Geschichtsschreibung auch der Kritik der Gegenwart. Um das zu verstehen, muss man die Sprachgeschichten „gegen den Strich“ lesen, und zwar auf der Ebene von einzelnen Aussagen. In der Tradition der analytischen Geschichtsphilosophie beschäftige ich mich mit Aussagetypen, „deren Vorkommen in der Geschichtsschreibung mir höchst typisch erscheint“ (Danto 1974, 232). Gegenstand der Analyse sind aber nicht die erzählenden/narrativen Sätze/Aussagen (narrative clauses, ebd.) – jedenfalls nicht als erzählende Aussagen, sondern Aussagen mit der Präposition für – die durchaus auch einmal narrativ sein können. Diese Präposition, die syntaktisch nur innerhalb einer ganzen Präpositionalgruppe vorkommt (anaphorisch und kataphorisch auch in dafür, hierfür), ist derjenige linguistisch beschreibbare Ort, an dem Historiographen in der in der Vorbemerkung erläuterten Weise mehrdimensional handeln. Im Kern dieser Präpositionalgruppe sind nämlich die historischen und, aufgrund ihrer Appellbedeutung, unbedingt kritisch zu verwendenden Begriffe angesiedelt. Dort steht nicht immer gleich ein allgemein anerkannter geschichtlicher Grundbegriff (im Sinne von Koselleck 1972), aber immerhin steht dort eine Größe, die für den Historiographen an dieser Stelle durchaus von herausgehobener Bedeutung ist. Aus der Aussagenfülle seien einleitend einige Beispiele herausgegriffen: (1) Typisch für altdeutsche Rechtssprache, und für den Wortgebrauch der frühbürgerlichen Zeit überhaupt, waren die Zwillingsformeln genannten koordinativen Verbin-

 Der Zusammenhang von Appellfunktion und deontischer Bedeutung besteht laut Hermanns darin, dass die deontische Bedeutung eines Wortes manchmal die Voraussetzung für seine appellative Funktion ist. Manchmal kann sich diese Funktion „aber auch aus anderen Bedeutungsmomenten ergeben“ (Hermanns 1986/2012, 182). Bei Unkraut und Verbrecher bspw. (ebd. 184) gibt es eine (lexikalisierte) deontische Bedeutung (Unkraut ist auszumerzen!). Bei Stuhl (Auf mich kannst du dich setzen!) und Geschirrtuch (Ich bin kein Handtuch! Trockne dir deine Hände woanders ab!, ebd.) hingegen ist es die (lexikalisierte) Sachbedeutung, welche die Appellfunktion dieser Wörter bestimmt – die, so muss man Fritz Hermanns verstehen, dabei aber nicht weniger lexikalisiert ist und die deshalb auch in den Wörterbüchern mitbeschrieben werden sollte (ebd. 185).

1.3 Wie man eine Deutsche Sprachgeschichte gegen den Strich liest

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dungen synonymer oder sinnverwandter Wörter […]. Beispiele: sitte und brauch, hab und gut, kind und kegel, mit fug und recht […] (Polenz I 22000, 204). Ein typisches Beispiel für die Umstrukturierung des deutschen Rechtswortschatzes durch das römische Recht sind die Bezeichnungen für einen Rechtskundigen, der zur (berufsmäßigen) Vertretung von Rechtsangelegenheiten vor Gericht befugt ist […]. Um 1500 gab es starke Konkurrenz zwischen […] fürsprech(er), vorsprech(e), (vor)redner, anwalt, dingman, teidingsman, wortholder, wortforer u. a. (Polenz I 22000, 205). Eine für die Zeit um 1700 typische Gattung populärer, praxisbezogener Lektüre waren die Hausväter-Bücher [mit dem Beispiel des „Oeconomus prudens et legalis“ des Pfarrers Florinus, Nürnberg/Frankfurt/Leipzig 1722, K.L.] (Polenz II 1994, 379). Typisch kanzleisprachlich ist die im 17. Jh. beliebte steife Konjunktion allermassen […] (Polenz II 1994, 380). (2) Die Französische Republik diente als Modell für die Neustrukturierung der Weltgesellschaft; insofern war sie nicht (nur) auf Frankreich beschränkt. Bei dieser Neuordnung diente die Volkserziehung zur Republik als Achse. […] das Regime von Napoléon I (1799 – 1814) […] in dem die neue rechtliche Grundlage für die Gesellschaft kodifiziert wurde: im Code civil 1804 (Code Napoléon) […] (Maas 2012, 116). [Das ALR, K.L.] war vor allem ein Modell für eine neue (demotisierte) schriftkulturelle Praxis. Für die Modernisierung der Rechtskodifizierung aber hatte der Code Napoléon Modellcharakter (Maas 2012, 121, runde Klammern dort). (3) Als ein Bewunderer der Franzosen […] stand Thomasius den Sprachgesellschaften und dem Anliegen der Reinerhaltung der deutschen Sprache fern. Doch gelang es ihm, durch seine Vorlesungstätigkeit für seinen Nachfolger Christian Wolff ein tragfähiges Fundament zu errichten (Schmidt-Wiegand 1998, 92). (4) Die Kulturhöhe des Indogermanentums spiegelt sich in manchen Gleichungen für religiöse, rechtliche und kulturelle Begriffe. […]. Für das hochentwickelte Rechtsgefühl sprechen Wortgleichungen für Ehe, Blutrache und Wergeld, aber auch die frühentwickelten Begriffe für Eigentum und Erbgut (Stahlmann 1940, 6 f.). (5) Die Kanzleisprache ist verantwortlich zu machen für die Verdrängung der alten deutschen Monatsnamen (Hornung, Heumond, Brachmond usw.) durch die lat. (Bach 9 1970/1986, 284 f.).

Ich vergleiche diese Aussagen trotz aller syntaktischer Unterschiede: Die Präpositionalgruppe ist einmal Attribut zu einem Nominalprädikat (typisch für), ein andermal zusätzlich ein mitzuverstehendes Attribut noch zu einem weiteren Nominalprädikat (ein typisches Beispiel für), ein wieder anderes Mal eine mehr oder weniger obligatorische Ergänzung zu einem Verbalprädikat (sprechen für, verantwortlich machen für); und schließlich kann man sie als eine fakultative Angabe zu einer ganzen Aussage verstehen (der Code Napoléon hatte Modellcharakter, und zwar für die Modernisierung der Rechtskodifizierung). Dabei ist sie manchmal auch mehrfach interpretierbar. Man kann die Aussagen auch trotz all ihrer inhaltlich-pragmatischen Unterschiede durchaus vergleichen: Das Prädikat typisch ist ein beschreibend-charakterisierendes Prädikat; dass etwas als Modell für etwas diente und dass jemand ein Fundament für jemanden errichtete – das

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sind eher erzählende Aussagen, etwas spricht für etwas anderes im Rahmen einer Argumentation und wenn man etwas für etwas anderes verantwortlich macht, dann erklärt man und klagt an. Verantwortlich machen ist ein besprechendes Prädikat (Weinrich 62001), d. h. ein Prädikat, das man (mit der hiesigen Flexion) in einer gespannten, angespannten Sprechsituation verwendet, wenn man nämlich eine Beschuldigung ausspricht. Das syntaktische Subjekt all dieser Aussagen bildet in der Regel ein individueller, in Raum und Zeit identifizierbarer Sachverhalt der Vergangenheit, der meistens auch identifiziert wird: Bestimmte Zwillingsformeln (1) und Wortgleichungen (4), auch die Konjunktion aus dem 17. Jh. (in 1) werden zitiert mit kind und kegel, mit fug und recht, als Ehe, Blutrache, Wergeld und durch allermaßen. Sie können zum Zwecke der Identifizierung zusätzlich gekennzeichnet werden als altdt. oder idg. Andere Sachverhalte werden zu diesem Zweck mit ihrem Eigennamen aufgeführt – die Französische Revolution, der Code Napoléon, Christian Thomasius (2 und 3) – und wenn nicht, dann wird die Gattungsbezeichnung wenigstens vom bestimmten Artikel begleitet, der hier identifizierende Funktion hat. Es geht (in 5) genau um diese Kanzleisprache, die der Historiograph mit der Kapitelüberschrift auf die Zeit von 1350 bis 1600 datiert. Über jede dieser individuellen Größen der Vergangenheit wird ausgesagt, dass sie irgendetwas ist oder war, dass sie etwas tat oder tut für eine zweite Bezugsgröße (auch: dass sie etwas für sie getan hat): Sie ist oder war typisch, sie war ein Modell oder die Grundlage, schuf/errichtete ein Fundament, spricht oder ist verantwortlich (verantwortlich zu machen), aber sie ist und war all dies, sie tut oder tat all dies immer für eine zweite Bezugsgröße. Mit dieser syntaktischen Struktur sind diese Aussagen über einen individualisierten Sachverhalt der Vergangenheit nicht nur Aussagen über diesen Sachverhalt, sondern es sind gleichermaßen Aussagen über die zweite Bezugsgröße. Zum Vergleich kann man Dantos narrative clauses heranziehen: Mit der Aussage Durch seine Vorlesungstätigkeit konnte Thomasius ein tragfähiges Fundament für Christian Wolff errichten, bezieht sich der Autor, so würde Danto sagen, „auf zwei voneinander unterschiedene und zeitlich getrennte Ereignisse“ (auf das, was Thomasius tat, und auf das, was Christian Wolff tat), aber er „beschreibt nur das frühere Ereignis“ (beschreiben heißt das Sprechaktverb bei Danto (1974, 246)). Methodisch wird hier mit der Prädikatenlogik gearbeitet, die unter anderem als Satzsemantik Eingang in die Linguistik gefunden hat. Aussagen mit der Präpositionalgruppe mit für sind systematisch zweistellige (bzw. zweiwertige) Prädikationen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch einmal dreistellig sein können (j. tut etwas für jemanden) oder vierstellig (etwas dient jemandem als etwas für etwas anderes). Nie aber sind solche Aussagen einstellig. Es geht nicht nur um die Beschreibung bzw. Darstellung des individuellen Sachverhalts in der ersten Be-

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zugsstelle, es geht also nicht darum zu fragen, was Thomasius tat (Er errichtete ein tragfähiges Fundament), was die Konjunktion allermaßen ist (steif und typisch, egal wofür), was die Zwillingsformeln waren, welchen Charakter sie hatten (einen typisch kanzleisprachlichen), ob der Code Napoléon Modellcharakter hatte oder nicht usw. Diese Fragen schließen vielmehr systematisch ein Wofür ein. Dabei garantiert die Präpositionalgruppe mit für aber nicht nur, dass die Historiographen den jeweiligen Sachverhalt in Subjektposition mit Beziehung bzw. mit Blick auf eine weitere Größe darstellen (wie Danto das mit Bezug auf die narrativen Sätze gesagt hatte). Sie garantiert vielmehr auch, dass sie etwas aussagen über diese Größe in der zweiten Bezugsstelle, die dann zwar nicht in der gleichen Weise, aber im selben Maße von der jeweiligen Aussage und dem jeweils verwendeten Prädikat betroffen ist. Die Frage ist, was sie mit Blick auf diese zweite Größe aussagen und was sie mit Blick auf diese Größe tun. In der Theorie der narrativen Aussage heißt es: Die erste Bezugsgröße wird unter Bezugnahme auf die zweite beschrieben, und umgekehrt wird die zweite Bezugsstelle durch Bezugnahme auf die erste erklärt⁸. Das gilt aber nicht für alle zitierten Aussagen: Wohl wird die Verdrängung der altdeutschen Monatsnamen unter Bezugnahme auf die Kanzleisprache des 14 bis. 16. Jhs. irgendwie erklärt und sicher werden auch die Modernisierung der Rechtskodifizierung wie das Handeln von Christian Wolff auf den jeweiligen Sachverhalt in der ersten Bezugsstelle zurückgeführt und insofern erklärt. Die altdeutsche Rechtssprache hingegen wird unter Bezugnahme auf die Zwillingsformeln charakterisiert, die Zeit um 1700 unter Bezugnahme auf die Hausväterbücher ebenso; das hochentwickelte Rechtsgefühl seinerseits wird belegt. Und so, wie die Verdrängung der altdeutschen Monatsnamen mit der Benennung eines Verantwortlichen zugleich bedauert und entschuldigt wird, wird die Modernisierung der Rechtskodifizierung mit dem Code Napoléon als Modell und Autorität legitimiert. Die Theorie der narrativen Aussage genügt also nicht, um alle Aussagen dieses Typs zu erfassen. Man macht nur, wenn man dieses Ergebnis der geschichtstheoretischen Reflexion Dantos zu schnell parat hat, den zweiten Schritt vor dem ersten. Als Linguist kann man sich an die sprachliche Gestalt der Aussagen halten und an eine Vorgehensweise, die aus der Satzsemantik von Peter von Polenz (21988) bekannt ist: Wenn man wissen will, was über die Größe in der zweiten Bezugsstelle gesagt wird und welcher Sprechakt damit ausgeführt wird, dann kann man diese Aussagen einmal systematisch konvers lesen. Es gibt ja konverse Prädikate (z. B. Vater und Sohn, kaufen und verkaufen, Schüler und

 „Der Historiker expliziert seine Erklärung nicht, sie ist in seiner Erzählung impliziert“ (Rothermund 1995, 175).

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

Lehrer), die ein spiegelbildliches Verhältnis zueinander ausdrücken und bei deren Gebrauch man deshalb die Bezugsstellen prinzipiell beibehalten, aber gegeneinander austauschen muss (ebd. 181 ff.). Ein solches konverses Verhältnis ist nicht nur ein lexikalisches Phänomen, sondern auch ein syntaktisches. Bekannt ist die Aktiv-Passiv-Konverse, bei der das Prädikat selbst erhalten bleibt: Zu sagen, dass die Französische Revolution die Neustrukturierung der Weltgesellschaft eingeleitet hat, impliziert die Aussage, dass die Neustrukturierung der Weltgesellschaft durch die Französische Revolution eingeleitet worden ist. Und umgekehrt. Dieses Verfahren der Umkehrung der Aussage – als ein syntaktisches Phänomen nach Möglichkeit unter Beibehaltung des Prädikats – kann man zur Analyse der Aussagen mit für auch nutzen. Denn wenn es so ist, dass in zweistelligen Aussagen etwas über alle zwei Bezugsstellen ausgesagt wird, dann muss es erlaubt sein zu fragen, was über die zweite Bezugsstelle ausgesagt wird, und es muss erlaubt sein, zu diesem Zweck die Aussage umzukehren. Dabei geht es nicht darum, die Thema-Rhema-Struktur zu verändern; dabei würde sich keine wesentliche satzsemantische Veränderung einstellen und keine syntaktische Änderung desselben Prädikats. Liest man die Aussagen mit der Präposition für konvers und gewissermaßen gegen den Strich, dann ändert sich zuallererst die Sprechaktqualität. Sie ändert sich wegen der Präposition für: Man kann die Präposition bei einer Umkehrung der Aussage nämlich nicht einfach weglassen. Sie aber beizubehalten heißt, sie zu einem Illokutionsindikator zu machen für einen deklarativen Sprechakt, der da im Einzelnen heißt: (1a) Paraphrasierung: Für die altdeutsche Rechtssprache, und für den Wortgebrauch der frühbürgerlichen Zeit überhaupt erkläre ich hiermit: Die altdeutsche Rechtssprache und der Wortgebrauch der frühbürgerlichen Zeit überhaupt haben/hatten in den Zwillingsformeln genannten koordinativen Verbindungen synonymer oder sinnverwandter Wörter, mitunter auch Dreierformeln […] [vgl. sitte und brauch, hab und gut, kind und kegel, mit fug und recht] etwas Typisches. Für die Umstrukturierung des deutschen Rechtswortschatzes durch das römische Recht erkläre ich hiermit: Sie hat/hatte in den Bezeichnungen für einen Rechtskundigen, der zur (berufsmäßigen) Vertretung von Rechtsangelegenheiten vor Gericht befugt ist […] [vgl. fürsprech(er), vorsprech(e), (vor)redner, anwalt, dingman, teidingsman, wortholder, wortforer u. a. ein typisches Beispiel. […] (Es gibt/ gab für all das etwas Typisches: typische Merkmale und typische Beispiele). (2a) Paraphrasierung: Für die Neustrukturierung der Weltgesellschaft erkläre ich hiermit: Die Neustrukturierung der Weltgesellschaft hatte/hat in der Französischen Republik ein Modell, sie verfügte über ein Modell, das ihr diente. Für die Gesellschaft erkläre ich hiermit: Die Gesellschaft bekam mit dem Code civil 1804 eine neue rechtliche Grundlage, die für sie kodifiziert wurde. Für die neue (demotisierte) schriftkulturelle Praxis wie für die Modernisierung der Rechtskodifizierung erkläre ich hiermit: Sie bekamen beide ein Modell: die erste mit dem ALR, die zweite im Code Civil. (Es gab/gibt für all das eine Grundlage und ein Modell)

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(3a) Paraphrasierung: Für Christian Wolff erkläre ich hiermit: Dadurch, dass es Thomasius gelang, für seinen Nachfolger ein tragfähiges Fundament zu errichten, bekam Christian Wolff ein tragfähiges Fundament. (Es gab/gibt für ihn ein tragfähiges Fundament) (4a) Paraphrasierung: Für das hochentwickelte Rechtsgefühl (und für die Kulturhöhe des Indogermanentums) erkläre ich hiermit: Indem Wortgleichungen für Ehe, Blutrache und Wergeld, aber auch die frühentwickelten Begriffe für Eigentum und Erbgut für das hochentwickelte Rechtsgefühl (und für die Kulturhöhe des Indogermanentums) sprechen, hat dieses hochentwickelte Rechtsgefühl (sowie auch die Kulturhöhe des Indogermanentums) Beweise oder Zeugnisse. (Es gibt dafür Zeugnisse und Beweise) (5a) Paraphrasierung: Für die Verdrängung der alten deutschen Monatsnamen (Hornung, Heumond, Brachmond usw.) durch die lateinischen erkläre ich hiermit: Indem die Kanzleisprache dafür verantwortlich zu machen ist, hat diese Verdrängung einen Verantwortlichen/Schuldigen. (Es gibt dafür etwas, das man dafür verantwortlich machen kann)

In diesen konversen Formulierungen macht der Historiograph keine Aussagen über den Gegenstand in der zweiten Bezugsstelle: Er macht Aussagen dafür, indem diese Aussagen nämlich Deklarationen dafür sind. Ich vergleiche meine Paraphrasierungen mit einem anderen Aussagentyp, der in den Sprachgeschichten sehr häufig vorkommt: (6) Da es im Rahmen der klassischen Urgesellschaft noch keine Arbeitsteilung und keine soziale Ungleichheit gab, sind für das Urgermanische […] keine soziale oder berufliche Schichtung der Sprache anzunehmen (Moskalskaja 21985, 37). Für den italienischen Lehneinfluss ist über die quellenbedingte Statistik nach dem DFWB hinaus ein noch größeres Ausmaß seit dem 14. Jh. […] und vor allem unterschichtlich regional anzunehmen (Polenz I 22000, 210). Für diese Art des Substantivstils mit Nominalgruppen sind Anfänge schon im 17. Jh. zu beobachten […] (Polenz 1978, 154; zitiert Admoni). Wenn wir nun für das Neuhochdeutsche eine bestimmte bürgerliche Gruppe, nämlich eine Bildungselite, als die weitere tragende Schicht erkennen, so müssen abermals die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse zur Erklärung dienen (Eggers IV 1977, 19). Vielfältige Entlehnungen aus fremden Sprachen lassen sich für die Umgangssprache wie die Schriftsprache im 19./20. Jh. beobachten (Bach 91970/1986, 420).

Solche Aussagen mit solchen verba dicendi, cogitandi oder sentiendi wie annehmen, beobachten, erkennen sind deutlich als Sprechakte indiziert, weil sie nämlich in der 1. Person Plural formuliert sind (wir erkennen) oder in einer äquivalenten unpersönlichen Verbalform (ist zu beobachten/anzunehmen/lassen sich beobachten), die (als modale Infinitivkonstruktion oder mit einem Modalverb) eine modale Bedeutung hat (wir müssen/dürfen/können annehmen, beobachten, erkennen). Diese Sprechakte sehen aus wie Feststellungen, Vermutungen, Behauptungen, wie repräsentative Sprechakte also. Im Rahmen eines Lehrbuchtextes handelt es sich (bezüglich der Perlokution) prinzipiell um sozial bindende

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Sprechakte (Reichmann/Wegera 1988, 1): Der Historiograph äußert sie in der berechtigten Erwartung, dass der (studentische) Leser sich darauf verbindlich festlegen lässt, dass er also die Feststellung, Vermutung, Behauptung für sich übernimmt und (bis auf weiteres) gelten lässt. Durch eine kompakte Formulierung mit der Präpositionalgruppe mit für verleiht er dieser Erwartung Nachdruck: Er äußert nicht irgendeine Feststellung, sondern – dem Wortlaut entsprechend – eine Feststellung (Behauptung, Vermutung) für das Urgermanische / für den italienischen Lehneinfluss / für diesen Substantivstil / für das Neuhochdeutsche / für die Umgangssprache wie die Schriftsprache im 19./20. Jh. Dabei verändert er mithilfe der Präposition für den pragmatischen Status der Größe, denn anstelle dieser komprimierten Aussagen könnten die Autoren ja auch beispielsweise sagen: (6a) Paraphrasierung: Da es im Rahmen der klassischen Urgesellschaft noch keine Arbeitsteilung und keine soziale Ungleichheit gab, ist nicht anzunehmen, dass das Urgermanische eine soziale oder berufliche Schichtung der Sprache hatte/hat. // Es ist (über die quellenbedingte Statistik nach dem DFWB hinaus) anzunehmen, dass der italienische Lehneinfluss seit dem 14. Jh. […] und vor allem unterschichtlich regional (über die quellenbedingte Statistik nach dem DFWB hinaus) ein noch größeres Ausmaß hatte/ hat. // Es ist zu beobachten, dass diese Art des Substantivstils Anfänge schon im 17. Jh. hat/hatte. // Wenn wir nun erkennen, dass das Neuhochdeutsche eine bestimmte bürgerliche Gruppe, nämlich eine Bildungselite, als die weitere tragende Schicht hat/ hatte, so müssen abermals die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse zur Erklärung dienen. // Es lässt sich beobachten, dass die Umgangssprache wie die Schriftsprache im 19./20. Jh. vielfältige Entlehnungen aus fremden Sprachen aufweisen/bekommen haben.

Aber sie formulieren nicht derart hypotaktisch, sie formulieren anders: Sie holen das Urgermanische / den italienischen Lehneinfluss/ das Neuhochdeutsche usw. aus dem syntaktisch und pragmatisch untergeordneten Nebensatz durch subject raising (Polenz 21988, 234) in den einfachen Hauptsatz hinauf und geben ihm auf diese Weise einen anderen Rang, theatermetaphorisch: eine andere Bühne in der syntaktisch-pragmatischen Szenerie. Indem sie so formulieren, machen sie diese Größe zu einem bevorzugten Gegenstand nicht allein ihres eigenen sprachlichen Handelns. Sie sind mit der Autorität des Geschichtsforschers und der institutionellen Wissenschaft im Hintergrund ausgestattet, und deshalb passiert hier dasselbe wie bei einem deklarativen Sprechakt⁹. Wie bei einer Taufe, durch die das Kind zwar äußerlich nicht verändert wird, durch die es aber in den Augen der Ritualgemeinschaft doch ein völlig anderes wird, wird der pragmatische Status

 Den deklarativen Sprechakt kann man definieren mit Brinker (72010, 111): „Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen“, dass die Äußerung „eine neue Realität schafft“.

1.3 Wie man eine Deutsche Sprachgeschichte gegen den Strich liest

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der Bezugsgröße hier verwandelt. Der Historiograph macht ihn qua Autorität zu einem besonders wichtigen Gegenstand; er erklärt indirekt, dass man sich dafür in besonderer Weise zu interessieren habe und dass man deshalb dafür verbindliche Feststellungen/Behauptungen/Vermutungen treffen müsse. Aus einem beliebigen Redegegenstand macht er einen verbindlichen Handlungsfokus¹⁰ für alle sprachhistorisch Interessierten überhaupt. Als direkter Sprechakt formuliert würde das so aussehen: (6b) Hiermit erkläre ich für das Urgermanische: Da es im Rahmen der klassischen Urgesellschaft noch keine Arbeitsteilung und keine soziale Ungleichheit gab, ist nicht anzunehmen, dass das Urgermanische eine soziale oder berufliche Schichtung der Sprache hatte/ hat. // Hiermit erkläre ich für den italienischen Lehneinfluss: Es ist anzunehmen, dass der italienische Lehneinfluss seit dem 14. Jh. […] und vor allem unterschichtlich regional (über die quellenbedingte Statistik nach dem DFWB hinaus) ein noch größeres Ausmaß hatte/hat. // Hiermit erkläre ich für diese Art des Substantivstils: Es ist zu beobachten, dass diese Art des Substantivstils Anfänge schon im 17. Jh. hat/hatte. // Hiermit erkläre ich für das Neuhochdeutsche: Wenn wir nun erkennen, dass das Neuhochdeutsche eine bestimmte bürgerliche Gruppe, nämlich eine Bildungselite, als die weitere tragende Schicht hat/hatte, so müssen abermals die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse zur Erklärung dienen. // Hiermit erkläre ich für die Umgangssprache wie die Schriftsprache im 19./20. Jh.: Es lässt sich beobachten, dass die Umgangssprache wie die Schriftsprache im 19./20. Jh. vielfältige Entlehnungen aus fremden Sprachen aufweisen/bekommen haben.

Im Rahmen dieses deklarativen Sprechakts hat der bestimmte Artikel (in der Präpositionalgruppe) immer anaphorische Funktion: Zum Handlungsfokus wird in der Regel eine Größe gemacht, die früher schon einmal durch die Reflexion von Autor und Leser hindurchgegangen ist. Die komprimierte (syntaktisch eingeebnete) Struktur eines solchen Satzes lässt es zudem angeraten erscheinen, hier eine morphologisch und semantisch fassliche Nominalgruppe einzusetzen. So findet man in dieser Position nicht selten Wortgruppen, die als historischer Begriff verstanden werden: als eben das Urgermanische, das Neuhochdeutsche, die Um Das Wort ist von Rehbein (1977, 146 ff.) entlehnt, wo es im handlungstheoretischen Rahmen der Analyse von „Mittel-Ziel-Verhältnissen“ freilich einen völlig anderen Terminus abgibt: „Der Handlungsfokus ist eine handlungskontextstrukturierende Orientierungsrichtung auf den Sektor der Wirklichkeit, in dem von einem Aktanten, der aufgrund einer Motivation ein bestimmtes Ziel hat, die zieladäquaten Mittel angenommen werden“ (ebd. 150). Durch den Handlungsfokus wird „Aufmerksamkeit gebündelt“ und fest auf ein „Ziel“ gerichtet, so dass bestimmte zielrelevante Handlungsmöglichkeiten eröffnet, aber andere (als irrelevant) ausgeschlossen werden. In der Satzsemantik deutscher Sprachgeschichten bezeichnet Handlungsfokus, neben Aussagenfokus (Kap. 2.3.) und Aussagentelos (Kap. 2.10.), denjenigen begrifflichen Gegenstand, auf den die deklarative Sprechhandlung so gerichtet wird, dass er (unter den vielen anderen Begriffen im Kontext) diesen herausgehobenen pragmatischen Status bekommt.

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gangssprache usw., das wir aus unserer Erfahrung sowieso schon kennen. Dass dabei komplexere Wortgruppen wie der italienische Lehneinfluss und diese Art des Substantivstils erscheinen, kann man schon als ein weiter verrücktes für auffassen, ist aber prinzipiell noch in der Logik dieses deklarativen Aktes. Unschwer lassen sich nämlich auch hier das Italienische (bzw. der italienische Einfluss) und der Substantivstil als historische Begriffe erkennen. In den Ausgangsformulierungen (1– 4) wird nun dieser Sprechakt mit der Präposition für nur indirekt ausgeführt; es gibt hier keine Sprechaktverben (anders als in Beispiel 5). Einigermaßen direkt ist der Sprechakt formuliert und recht deutlich ist er zu verstehen, wenn die Präpositionalgruppe eine syntaktisch irgendwie herausgehobene Position im Satz hat, wenn sie z. B. als Satzthema im Vorfeld des finiten Verbs auffällig platziert wird (Beispiele in 1, 2 und 4). Bildet die Präpositionalgruppe hingegen ein syntaktisch geschmeidiges Attribut zu einem Nominalprädikat irgendwo im Satz, dann wird der Sprechakt nur sehr indirekt ausgeführt. Das heißt aber nicht, dass er gar nicht vollzogen würde. Genauso nämlich, wie in den eben zitierten Sprechakten mit subject raising, ist die Präpositionalgruppe mit für auch an vielen anderen Stellen syntaktisch prinzipiell viel weniger gut in den Satz integriert als andere Präpositionalgruppen. Die attributive Präpositionalgruppe mit für kann sich jederzeit als eigenes Satzglied „verselbständigen“, und das sogar als loser (adverbialer) Zusatz zu einer ganzen Aussage. Deshalb kann man mit ihr jedem Satz ein besonderes Relief geben und in jedem Satz einen historischen Begriff als Handlungsfokus ausgliedern. Wiederholt geschieht das z. B. in denjenigen Aussagen, in denen die Historiographen die Vergangenheit (oft mit einem verbalen Transformations- oder Vorgangsprädikat und oft im perfektiven Aspekt) aus der Retrospektive narrativ resümieren: (7) Keine der verwandten Sprachen hat für ihre urzeitliche Sonderentwicklung so einschneidende und umfassende Naturkräfte erlebt wie das Germanische mit der Lautverschiebung und der Tonverlegung. Die erdrückende Mehrzahl aller germ. Wörter steht irgendwie unter beiden Gesetzen, nur sehr wenige fallen nicht unter sie. Aber woher stammen diese mächtigen Urkräfte? (Kluge 21925, 62). Mit dem Festwerden des dynamischen Akzents auf der Wurzel- oder Anfangssilbe war für das Sprachsystem langfristig eine Entwicklung vom synthetischen zum analytischen Sprachbau verbunden (Schildt 1976, 38 f.). Die schriftliche Überlieferung der germ. Sprachen setzt für die Ostgermanen (Goten) am frühesten und am günstigsten ein: Ein unschätzbares Werk stellt die dem 4. Jh. angehörige Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila dar […] (Bach 91970/1986, 83, runde Klammer dort). Für den Wortschatz der Sachkultur setzt sich in ahd. Zeit jener Prozess ungebrochen fort, der sich in germ. Frühzeit wie bei der Übernahme der äußeren Formen des Christentums beobachten ließ: mit der Nachahmung des spätlat. Vorbilds im gesamten Zuschnitt des äußeren Lebens geht die Einverleibung der fremden Bezeichnungen Hand in Hand, beherrscht das äußere Lehngut das Feld und vertilgt die meisten der zuvor darauf angesiedelten Erbwörter (Tschirch I 21971, 149). Die Steigerung der Adjektive. Sie erfolgte durch -ir und -ôr für

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den Komparativ und durch -ist, -ôst für den Superlativ (Kleine Enzyklopädie 1983, 594). Die Bezeichnung des Umlauts erfolgte zuerst für umgelautetes /a/ durch bzw. in der eine geschlossene Aussprache verdeutlichenden Schreibung […] (Schmidt 102007, 291). […] für uns Deutsche […] von Dünkirchen bis Memel, vom Alsensund bis Bozen ist es [das nicht belegte Wort diutisk, K.L.] das stolze Wort unserer Volkseinheit, unseres besten Wesens und Wollens geworden (Bojunga 1926, 505). Die Vollbibel folgte dem Septembertestament von 1522 mit innerer Notwendigkeit. Sie wurde für unser Volk das Hausbuch und war zugleich ein Weltbuch. […] […] Nie wieder hat ein deutsches Buch des gleichen Umfangs eine solche Verbreitung erlebt. Und damit erhielt es auch für unsere Sprache und ihre Geschichte eine Stellung, wie sie weder vorher noch nachher je ein deutsches Buch auf die Dauer gehabt hat (Kluge 21925, 315 f.). Für die Literatursprache brachte die Orientierung an den Höfen zunächst mit sich, dass sie jene Qualität, die sie während der Ereignisse der frühbürgerlichen Revolution durch die Bereicherung mit sprechsprachlichen Elementen erhalten hatte, wieder einbüßte. Sie wurde mehr und mehr zu einer elitären Sprachform (Kleine Enzyklopädie 1983, 642). Durch Gottsched […] war die äußere Einheit für das gesamte Sprachgebiet fest gesichert (Eggers IV 1977, 93). Sebastian Sailer schreibt um und nach 1750 seine schwäbischen Komödien, Maler Müller 1775 seine Pfälzer und Joh. Heinrich Voss ebenfalls seit 1775 seine niederdeutschen Idyllen: damit ist die landschaftssprachliche Dichtung auch für die Zukunft fest begründet (Moser 1961, 49 f.). In diesem Zusammenhang vollzieht sich seit der 2. Hälfte des 18. Jh. auch für die Wissenschaftssprache endgültig der Übergang vom Latein zum Deutschen, wie es Leibniz schon zu Beginn des Jahrhunderts gefordert hatte (Schmidt 102007, 140). Die Erfolge unserer klassischen Dichtersprache haben für unser Deutschtum noch Höheres zugleich erzielt, indem sie die geschichtliche Sprachforschung erweckten (Kluge 21925, 340). Die Wiederbelebungsversuche, die das 19. Jahrhundert […] mit dem Stabreim oft gewagt hat, wecken aber die für unsere Dichtung erloschene Triebkraft nicht auf, die in der germ. Erstbetonung wurzelt. Schon auf der Höhe des deutschen Mittelalters wird sie kraftlos und matt (Kluge 21925, 63).Vor allem aber beginnt mit dem hereingebrochenen technischen Zeitalter für das Deutsche wie für alle Kultursprachen eine entscheidende Umgestaltung des Wortschatzes,vgl. Neubildungen wie Dampfmaschine, Dampfschiff, Dampfer, Nähmaschine, Zug. Sie geschieht in Deutschland wie in anderen europäischen Sprachgemeinschaften deutlich auch unter englischem Einfluss (vgl. Lokomotive, Tunnel, Smoking, Sport) (Moser 1960, 49 f.). Für Deutschland brachte der Imperialismus die Verschärfung der reaktionären und aggressiven Politik der herrschenden Klassen und führte zu den beiden Weltkriegen (Schmidt 1969, 136).

Syntaktisch und auch semantisch könnten diese Zusammenfassungen meistens ohne die Präpositionalgruppe auskommen. Aber die Historiographen fügen sie doch als syntaktisch und semantisch losen Zusatz zur Aussage noch hinzu, um anzugeben, wofür sie sich die Mühe der Formulierung überhaupt machen. Folgt man der Theorie der (mündlichen) Erzählung, dann wird in diesen Sätzen ein „Evaluationsteil mit dem Resultat verschmolzen“ (Labov/Waletzky 1967/1973, 116; Gülich/Hausendorf 2000, 371)¹¹. Ein Resultat wird formuliert, und zugleich wird

 Die Evaluation ist nach Labov/Waletzky (1967/1973) diejenige Sequenz im monologischen

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

gesagt, welche wichtige Größe davon betroffen ist und für welche Größe es wichtig ist: für Deutschland, für das Deutsche (als Kultursprache), für unsere Dichtung, für die Wissenschaftssprache usw. Hier wie in den oben zitierten Sätzen mit den verba dicendi/cogitandi/sentiendi und mit subject raising ist die syntaktische Struktur kompakt und irritierend; hier wie dort wird mit ihr ein Handlungsfokus „aus der Taufe gehoben“. Es geht in diesen Sätzen nicht darum festzustellen, wann die schriftliche Überlieferung der Ostgermanen (auch als Goten bekannt) endlich einsetzte oder was der Imperialismus bewirkte. Stattdessen wird mit deutlichem Aplomb für die Ostgermanen deklariert, dass die schriftliche Überlieferung für sie am frühesten und am günstigsten einsetzte und dass sich der Leser das auch merken soll. Nachdrücklich wird für Deutschland deklariert, dass der Imperialismus für Deutschland nichts Gutes brachte, dass Deutschland dem Historiographen als wichtiger Bezugspunkt seines Handelns, Denkens, Meinens wichtig ist und es dem Leser genauso wichtig sein soll. Mit diesem syntaktisch irritierenden für wechselt der Historiograph (hier wie da) unvermittelt auf die Metaebene und kommentiert sein eigenes Tun. Er gibt mit ihm und der ganzen Präpositionalgruppe eine Äußerungsbegründung, d.i. eine Begründung dafür, dass er die jeweilige Aussage und den Sprechakt überhaupt äußert. Man könnte die Sätze deshalb mit einem epistemischen weil, der gesprochenen Sprache gemäß, mit Verbzweitstellung im Nebensatz umformulieren (Duden-Grammatik 92016, § 2022). Damit würde der Satzbruch, den die Autoren in diesen narrativen Zusammenfassungen mit dem syntaktisch losen Zusatz der Präpositionalgruppe selbst provozieren, auch in der Paraphrase wiederaufgenommen. Es folgt indessen die schriftsprachliche Form: (7a) Paraphrasierung: Weil doch die urzeitliche Sonderentwicklung (des Germanischen) so wichtig ist, erkläre ich hiermit dafür: Keine der verwandten Sprachen hat für ihre urzeitliche Sonderentwicklung so einschneidende und umfassende Naturkräfte erlebt wie das Germanische mit der Lautverschiebung und der Tonverlegung. // Weil doch das Sprachsystem außerordentlich wichtig ist, erkläre ich hiermit dafür: Mit dem Festwerden des dynamischen Akzents auf der Wurzel- oder Anfangssilbe war für das Sprachsystem langfristig eine Entwicklung vom synthetischen zum analytischen Sprachbau ver-

(mündlichen) Erzählen, in der „die relative Wichtigkeit bestimmter narrativer Einheiten mit Bezug auf andere hervorgehoben wird“, so dass „die Einstellung des Erzählers gegenüber seiner Erzählung angezeigt“ werden kann. Später sieht Labov die Evaluation dagegen nicht mehr als Sequenz des Erzähltextes an, sondern beobachtet, dass evaluative Elemente überall im Text vorkommen (Gülich/Hausendorf 2000, 371; sie beziehen sich auf W. Labov: The transformation of experience in narrative syntax. In: Ders.: Language in the inner city. Studies in the black English Vernacular. Philadelphia 1972. 354– 396)). In den Sprachgeschichten ist es u. a. die Präpositionalgruppe mit für, die diese „relative Wichtigkeit“ ausdrückt, weil sie nämlich praktisch in jeder Aussage vorkommen kann.

1.3 Wie man eine Deutsche Sprachgeschichte gegen den Strich liest

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bunden. // Weil doch die Ostgermanen (oder Goten) für uns ein wichtiger Begriff sind, erkläre ich hiermit für sie: Die schriftliche Überlieferung setzt für sie am frühesten und am günstigsten ein. // Weil doch der Wortschatz der Sachkultur wichtig ist, erkläre ich hiermit genau dafür: Für den Wortschatz der Sachkultur setzt sich in ahd. Zeit jener Prozess ungebrochen fort, der sich in germ. Frühzeit wie bei der Übernahme der äußeren Formen des Christentums beobachten ließ: Mit der Nachahmung des spätlat. Vorbilds im gesamten Zuschnitt des äußeren Lebens geht die Einverleibung der fremden Bezeichnungen Hand in Hand, beherrscht das äußere Lehngut das Feld und vertilgt die meisten der zuvor darauf angesiedelten Erbwörter. // Weil unser Volk (uns) doch wichtig ist, erkläre ich hiermit dafür: Die Vollbibel wurde für unser Volk das Hausbuch und war zugleich ein Weltbuch. // Weil die Wissenschaftssprache doch wichtig ist, erkläre ich hiermit dafür: Es vollzieht sich seit der 2. Hälfte des 18. Jh. auch für die Wissenschaftssprache endgültig der Übergang vom Latein zum Deutschen, wie es Leibniz schon zu Beginn des Jahrhunderts gefordert hatte. // Weil das Deutsche doch (wie alle Kultursprachen) wichtig ist, erkläre ich hiermit dafür: Vor allem aber beginnt mit dem hereingebrochenen technischen Zeitalter für das Deutsche wie für alle Kultursprachen eine entscheidende Umgestaltung des Wortschatzes, vgl. Neubildungen wie Dampfmaschine, Dampfschiff, Dampfer, Nähmaschine, Zug. Sie geschieht in Deutschland wie in anderen europäischen Sprachgemeinschaften deutlich auch unter englischem Einfluss (vgl. Lokomotive, Tunnel, Smoking, Sport). // Weil Deutschland doch wichtig ist, erkläre ich hiermit für Deutschland: Für Deutschland brachte der Imperialismus die Verschärfung der reaktionären und aggressiven Politik der herrschenden Klassen und führte zu den beiden Weltkriegen.

So gibt der Historiograph mit der Präpositionalgruppe zu verstehen, warum er das sagt, was er sagt: Weil der entsprechende historische Begriff ihm so wichtig ist, dass er ihn – durch das gleiche für als Illokutionsindikator – in einem deklarativen Sprechakt zum Fokus seines sprachlichen Handelns macht, um für ihn eine verbindliche Erklärung abzugeben¹². Ist man mit der Leseerfahrung solcher Sätze ausgestattet, dann gilt einem diese Präposition im Rahmen der Textsorte auch ohne Sprechhandlungsverb und ohne performative Formel schon als leistungsfähiger Illokutionsindikator. Dieses schillernde deklarative für reicht deshalb in viele und in viele verschiedene Sätze/Satztypen hinein, wo es genauso umformuliert werden kann oder muss. Das historiographische Schreiben ist von diesem für umfänglich geprägt. Oft hat man beim Lesen den Eindruck, die Aussagen mit der Präposition für werden nicht zufällig mit für gebildet, etwa weil die Valenz des Prädikats das nun einmal zufällig so vorsieht. Wenn man z. B. sagen will, dass etwas typisch ist mit Blick auf etwas anderes, das man beschreiben und bewerten will, dann muss man schließlich in der deutschen Standardsprache eben typisch

 Bezogen auf die sprechakttheoretische Diskussion ist damit eine konventionalistische Position vertreten (im Sinne Searles 1965/2002), keine intentionalistische (im Sinne von Grice 1979), vgl. Wirth (2002, 10 – 15).

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für sagen und kann nicht sagen typisch mit oder typisch von. Aber das ist nicht alles: Es scheint sogar oft so zu sein, dass genau solche Prädikate mit genau dieser Präposition gewählt werden, damit der textsortenspezifischen Aufgabe entsprochen werden kann, bestimmte begriffliche Größen syntaktisch aus der Reihe aller anderen Aussagengegenstände auszugliedern, ihnen im gleichen Moment eine herausgehobene Dignität zuzusprechen und sie zum Handlungsfokus einer wirkmächtigen Deklaration zu machen.

1.4 Parteiliche Botschaften und das Benefaktiv in der Geschichte Zu den genannten syntaktischen Voraussetzungen dafür, dass die Präposition für als Illokutionsindikator dienen kann, kommt noch eine semantische Voraussetzung hinzu. Die Präposition ist in den zitierten Beispielsätzen ((1– 5) in Kap. 1.3.) kein bloßes Synsemantikon ohne „semantischen Eigenwert“ (Reichmann 21976, 8 f.). Der Illokutionsindikator hat vielmehr durchaus eine eigene Bedeutung: Liest man die Aussage gegen den Strich und konvers, dann muss man nämlich in einem sogenannten Inhaltssatz darstellen, was der Historiograph für den jeweiligen Gegenstand verbindlich sagt. Und dieser Inhaltssatz kann in der Regel und muss sehr oft mit haben gebildet werden. Das liegt am Nominalstil, aber der Nominalstil ist ja selbst nicht zufällig. Häufig deklarieren die Historiographen in solchen Aussagen verbindlich, was der jeweilige, begrifflich und sprachlich gefasste Gegenstand hat oder hatte, was er bekam, bekommen und auch verloren hat: Das Urgermanische hatte keine soziale oder berufliche Schichtung, der italienische Lehneinfluss hatte ein noch größeres Ausmaß, diese Art des Substantivstils hatte Anfänge schon im 17. Jh., das Neuhochdeutsche hat eine bestimmte bürgerliche Gruppe, nämlich eine Bildungselite, als weitere tragende Schicht gehabt usw. (vgl. die Paraphrasierungen in 1a bis 5a). Um zu klären, was es mit dem Verb haben in den Paraphrasierungen wie in vielen Originalsätzen auf sich hat, kann man sich an Harald Weinrich (2012) halten. Haben ist wie sein ein „Elementarverb“. Beide Verben sind keine Prädikate: Die Kopula hat nur die syntaktische Funktion, das Prädikat mit seinem Argument in Subjektposition zu verbinden. Wenn man sagt, was etwas ist, dann wird diese Größe im Aussagenfokus in der Subjektposition „mit einem Mehrwert an Semantik angereichert“ (ebd. 52), nicht durch das Verb, sondern durch das mit diesem Verb an das Subjekt angeschlossene Prädikat. Auch haben ist ein Elementarverb (nicht ein transitives Verb), das, Weinrich zufolge, nur syntaktisch verknüpfende Funktion hat. Als Elementarverb funktioniert es dennoch anders als sein. Im Unterschied zur Kopula wird nämlich der Aussagenfokus in Sub-

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jektposition mit Semantik angereichert von „zugehörigen Personen oder Sachen her“ (ebd. 51). Dieses semantische Merkmal der Zugehörigkeit gehört aber, anders als Weinrich es sieht, zur Semantik von haben selbst durchaus dazu. Es ist kein bloßes, Argument und Prädikat nur syntaktisch verbindendes Funktionswort, sondern besagt auch etwas über die Art der Verbindung, die es herstellt. Dasselbe gilt für die Präposition, und deshalb ist sie als Illokutionsindikator verwendbar. Für die zitierten Aussagen heißt das: Die Sprachhistoriographen gliedern mit ihrer wissenschaftlichen Autorität und mit der Präposition für als Illokutionsindikator einen Begriff als Handlungsfokus aus, um ihn (im Rahmen einer verbindlichen Feststellung, Vermutung usw.) durch etwas, das ihm zugehört, zu charakterisieren. Die Gesellschaft wird dadurch charakterisiert, dass ihr eine rechtliche Grundlage zugehört, die altdeutsche Rechtssprache dadurch, dass ihr typische Beispiele zugehören usw. Sie deklarieren verbindlich für die Zeit um 1700, was zu dieser Zeit gehört (eine typische Gattung), für die Modernisierung der Rechtskodifikation, was zur Modernisierung der Rechtskodifikation gehört (ein Modell), für die idg. Hochkultur, was zur idg. Hochkultur dazugehört (etwas, das dafür spricht: Beweise) und für die altdeutschen Monatsnamen, was zur Verdrängung der altdeutschen Monatsnamen durch die lateinischen dazugehört (etwas, das dafür verantwortlich zu machen ist – ein Verantwortlicher also). Angewendet auf die Beispiele in (7): Auch hier wird gesagt, was zum Sprachsystem und seiner Geschichte, zu den Ostgermanen, zum Wortschatz der Sachkultur, zum Deutschen, zu Deutschland und zur Wissenschaftssprache dazugehört (ein Beginn, eine Entwicklung, ein Prozess, ein Übergang usw.). Historiographen setzen sich (wie dem Leser) mit solchen Aussagen einen historischen Begriff als Handlungsfokus, und sie tun dies, um für diesen Begriff ein historisches Prädikat geltend zu machen, das ihm zugehörig sein soll¹³. Der Handlungscharakter der zitierten Aussagen mit für nimmt derart eine noch konkretere Gestalt an. Auf dem Wege der verbindlichen und mit der Präpositionalgruppe sprachlich sogar ritualisierten Deklaration bekommt der wichtige historische Begriff im Hand Während der Historiograph einerseits bspw. der altdeutschen Rechtssprache typische Merkmale oder der Neustrukturierung der Weltgesellschaft ein Modell zuspricht (und dadurch den jeweiligen Begriff anreichert), erklärt er für andere Größen einen Bedeutungsverlust oder eine Einbuße: „Durch das Auftreten der Volkssprache in den Urkunden erhalten die universale geistige Einheit des Mittelalters und mit ihr die Anwendung der lateinischen Sprache eine Einbuße“ (Schmidt 102007, 111; zitiert Newald). Solche Begriffe können also durch Prädikate des Habens wie auch des Nicht-Habens gleichermaßen angereichert werden, die im Kontext dann positive und negative Prädikate sein können: Man kann für den ausgegliederten Handlungsfokus entweder Verluste, Einbußen und Niederlagen geltend machen oder aber Gewinne und Siege; und Merkmale, Modelle, Grundlagen, Erklärungen sind (als symbolischer Gewinn oder Verlust) hier irgendwie einzuordnen.

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lungsfokus ein historisches Prädikat wie einen Orden verliehen – derart, dass dieses Prädikat bis auf weiteres zu ihm dazugehört. Erst in der (logischen, nicht zeitlichen) Folge einer solchen Prädikatsvergabe kann man (mit einem Genitivus possessivus im weiten Sinne) von typischen Beispielen der altdeutschen Rechtssprache sprechen, von einer typischen Gattung der Zeit um 1700, von einem Modell der Neustrukturierung der Weltgesellschaft, von einem (tragfähigen) Fundament Christian Wolffs usw. Diese Verteilungsakte werden auf einer sehr abstrakten Ebene vollzogen, sie haben aber sehr konkrete sprachliche Rückwirkungen, weil dabei das Prinzip der semantischen Kompatibilität bzw. der lexikalischen Verträglichkeit gilt. Da die Begriffe der altdeutschen Rechtssprache und der Modernisierung von Gesellschaft und Rechtskodifikation, der Begriff von Christian Wolff, von der idg. Hochkultur und von der Verdrängung der altdeutschen Monatsnamen eine Appellbedeutung haben (eine lexikalisierte Anweisung darüber, wie mit ihnen umzugehen ist), deklarieren die Historiographen dafür Prädikate des Habens und des Nicht-Habens, die mit dieser Bedeutung „lexikalisch verträglich“ sind (Ágel 1992, 23): Die Verdrängung der altdt. Monatsnamen durch die lateinischen (Monatsnamen) hätte nicht sein dürfen, sie braucht einen Schuldigen. An die idg. Hochkultur soll man unbedingt glauben, sie braucht Beweise. Christian Wolff hat Großes geleistet und das sollte er auch tun, er brauchte ein Fundament. Die Modernisierung der Weltgesellschaft hat unbedingt stattfinden sollen und Modelle haben ihr nicht geschadet. Mit diesem Prinzip der semantischen Kompatibilität werden die Aussagen so gestaltet, dass nicht irgendein Prädikat (des Habens) für den Begriff als zugehörig erklärt werden kann. Begriffe mit positiver Appellbedeutung (die bspw. als Ereignisse unbedingt haben stattfinden sollen) hatten oder haben in der Regel etwas für sie Gutes oder Nützliches; der Historiker macht für sie positive Prädikate geltend. In genau diesem Sinne ist eine Geschichte der deutschen Sprache nicht nur eine Geschichte über die deutsche Sprache (darüber, was in der Vergangenheit mit ihr geschah bzw. geschehen ist). Es ist auch eine Geschichte für die deutsche Sprache: Weil der Begriff mindestens einen Loyalitätsappell umfasst, macht der Historiograph positive Prädikate für sie geltend und handelt auf diese Weise zu ihren Gunsten. Indem er mit der Präposition für umgeht, macht er die deutsche Sprache zum Benefaktiv seines sprachlichen Handelns, d. h. zu einer Größe, die von seinem wissenschaftlichen, sprachlichen und institutionell verbindlichen Handeln profitiert. Als satzsemantischer Terminus für eine semantische Rolle meint „Benefaktiv“ diejenige Größe, zu deren Gunsten eine Handlung ausgeführt wird (Polenz 21988, 170). Es ist der Historiograph, der der deutschen Sprache (und ihrer Geschichte) durch seine Formulierungen das entsprechende Prädikat als einen gewinnbringenden Teil, einen schmückenden Besitz oder ein

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nützliches Verfügungsobjekt zuerkennt. Aus dem weiten Genitivus possessivus der Geschichte der deutschen Sprache wird der Possessivus im engeren Sinne. Wer eine solche Geschichte schreibt, hat die Aufgabe – auf dem Wege deklarativer Sprechakte – zu sagen, wie wann wo die deutsche Sprache etwas Gutes und Nützliches gewann, gewonnen hat, wo wie wann ihr etwas Gutes widerfahren ist, wie wo wann etwas gut für sie war, wer wie wo wann etwas Gutes für sie tat. Weil außerdem das Verfahren auf Aussagenebene greift, machen die Historiographen neben der deutschen Sprache noch viele andere historische Begriffe ihres Interesses und ihrer Wertschätzung zum Benefaktiv. Anders ist das bei negativen Begriffen, z. B. bei Begriffen von Ereignissen, die lieber nicht hätten stattfinden sollen, oder von Sachverhalten, die der Historiograph für verzichtbar hält: Diese macht er durchaus ebenfalls zum Handlungsfokus, aber ihnen werden – nach dem Prinzip der semantischen Kompatibilität – positive Prädikate vorenthalten. So macht Peter von Polenz (I 22000, 204, 205) – wie viele Sprachhistoriographen vor und nach ihm – für die altdeutsche Rechtssprache allenfalls typische Merkmale und Beispiele geltend. Die damaligen Zwillingsformeln, auf die er sich (ebd.) bezieht, sind dementsprechend nur (umgangssprachlich formuliert) typisch altdeutsche Rechtssprache! – und das gelangt der altdeutschen Rechtssprache nicht zur Ehre, weil sie einer historischen Würde sowieso entbehrt und es nicht verdient hat, dass der Historiograph für sie etwas anderes geltend macht. Sie hat in der Geschichte nichts gewonnen, weil sie nichts zu gewinnen hatte. In sprachhistorischen Texten und in Sprachgeschichten werden die Rechtssprache und die altdeutsche/historische Rechtssprache tendenziell behandelt wie die Karikatur einer Sprache: Eine „typische Urkunde“ (Schmid 2015, 217– 220) ist ein Text oder eine Urkunde, der/die typisch ist für die Urkunde, die wir uns als einen (mehr oder weniger) zeitspezifischen Prototyp vorstellen, als Inbegriff einer Urkunde oder sogar als das Ideal einer Urkunde. (Deshalb erscheint sie im typisierenden Singular mit typisierendem Artikel.) Typische Urkundenmerkmale wären in diesem Sinne prototypische Merkmale für sie; aber vielleicht auch ausgesprochen ideale Merkmale. Es ist deshalb nur ein kleiner Schritt dahin, aus bestimmten Merkmalen (bestimmten Zwillings-, Paarund Doppelformeln, bestimmten hypotaktischen Satzbaustrukturen) typische Merkmale zu machen, die das Ideal, den Inbegriff oder den Prototyp einer Sprache, einer Fachsprache, einer Rechtssprache verfehlen. Der Historiograph erklärt sie kurzerhand zu skurrilen Merkmalen für die (alte/historische) Rechtssprache, die er damit selbst zu einer skurrilen Spezialsprache erklärt – zu einer Karikatur ihrer selbst. Es geht der altdeutschen Rechtssprache damit nicht besser als vielen anderen historischen Begriffen: Typisch Frühneuhochdeutsch, typisch Leseaussprache, typisch früher Zeitungsstil, typisch Absolutismus, typisch Aufsteiger(schichten) liest man, wenn man beispielsweise Peter von Polenz (I 22000, 152;

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II 1994, 141, 293, 371 ff.) konvers liest, sogar typisch deutsch (Polenz II 1994, 240, 250, 269, 272), und typisch Kanzleisprache sowieso (ebd. 380). Das Verfahren zeigt sich überall: Dem Deutschen und der deutschen Sprache ist, laut Aussagen der Historiographen, immer wieder Pflege zuteil geworden; gepflegt wurden mitunter auch bspw. das Lateinische, die Dichtersprache (Polenz 1978, 117), die Rhetorik (Schmidt 102007, 98), bestimmte sprachliche Kunstformen (das klassizistische Jambendrama, vgl. Bach 91970/1986, 442), die deutsche Predigt (Polenz 1978, 63), auch die Dialekte und eine Literatursprache auf omd. Basis (Schildt 1976, 103). Das Französische hingegen ist in Deutschland nur gebraucht worden (vgl. Polenz II 1994, 64) – nicht, weil es nicht gepflegt worden wäre (im 18. Jahrhundert an den Fürstenhöfen, in den bildungsbürgerlichen Familien im 19. Jh., vielleicht schon zur Zeit des Mhd.), sondern weil die Sprachhistoriker bis heute einen historischen Begriff vom Französischen haben, der impliziert: Das Französische ist es gar nicht wert, dass die Deutschen es in Deutschland pflegen, und ich bin bestimmt nicht derjenige, der ihm dieses positive Prädikat zuschreibt¹⁴.

 Die Befangenheit im Umgang mit dem Prädikat zeigt sich beispielsweise bei Peter von Polenz, der – anders als die nationalistischen deutschen Sprachgeschichten (vgl. Kap. 4.1. – 4.12; 6.) – auch anderen Sprachen als nur dem Deutschen (und dem klassischen Latein) positive Prädikate zuschreibt. Mitunter kommt das Prädikat der Pflege und des Pflegens als abgegriffene Metapher (Katachrese) im bloßen Sinne von gebrauchen vor, besonders mit Bezug auf die Dialekte: „das Gebiet des dt. Ritterordens [pflegte] im südwestlichen Ostpreußen […] einen hd. Schreibdialekt“ (und keinen niederdeutschen; Polenz 1978, 68). An anderer Stelle geht es aber um eine „bewusste, gepflegte Gewohnheit“ (Polenz II 1994, 61), also darum, dass die Sprecher/Schreiber sich in eine Gewohnheit bewusst und fürsorglich einübten, dass sie sie pfleglich aufrechterhielten. Peter von Polenz (ebd.) ist beim Gebrauch des Prädikats durchaus innovativ, denn er ist der Erste, der in der „Sprachmischung als lexikalische Interferenz“ und besonders in ihrer Typographie (im 17. Jh.) eine Art Sprachpflege sieht. Das Französische allerdings (das im Munde von Deutschen in Deutschland geführt wurde) bekommt auch von ihm dieses Prädikat nicht. Der Autor weicht auf andere Prädikate aus: auf die Routine und – wie auch in den nationalistischen Sprachgeschichten üblich – auf die Vorliebe für die Fremdsprachen: „Es gab immerhin im späteren 18. Jh. in Deutschland eine in der Oberschicht weitverbreitete Routine im Schreiben französischer Briefe“ (ebd. 67). Und im Zusammenhang mit der „absolutistischen Fremdsprachentendenz“ gab es (bei Karl V.) eine „Vorliebe“ für Spanisch und (allgemein) eine „Neigung zum Französischen (ebd. 63). Nur die französischen, nach Preußen emigrierten Hugenotten „pflegten […] in ihren eigenen Gemeinden ihre französische Sprachkultur noch einige Generationen weiter“ (ebd. 65); „in hugenottisch-reformierten Gemeinden [ist] das Französische […] in einigen Domänen (Familie, Kirche, Schule) erfolgreich weitergepflegt worden“ (ebd. 74). Nicht einmal bei der Rede über Franzosen in Deutschland heißt das vom Historiographen beigebrachte Prädikat pflegen; es heißt weiterpflegen. Er hebt viel weniger darauf ab, dass (in Deutschland) die französische Sprache bewusst und fürsorglich verwendet wurde, sondern darauf, dass die Tradition weitergepflegt wurde. Traditionsbewusst hielten die Hugenotten an ihrer überkommenen Sprache auch unter

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Man könnte nun denken, mit diesem Befund wäre aller Willkür Tür und Tor geöffnet. Aber man muss das Benefaktiv (in seiner positiven und negativen Variante) in den Zusammenhang der ganzen Aussage und des ganzen Sprechakts zurückstellen. Hier gilt: Die Historiographen können für die historischen Begriffe ihres Interesses nur solche (positiven, negativen) Prädikate geltend machen, die sie gleichzeitig und gleichermaßen über einen konkreten, in Zeit und Raum zu verortenden Sachverhalt der Vergangenheit aussagen können. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass der Historiograph ein bestimmtes sprachliches Prädikat wählt, weil ihm dieses für seinen historischen Begriff in der zweiten Bezugsstelle am angemessensten erscheint, und nicht zuerst, weil dieses Prädikat in einer Aussage über die Vergangenheit nach Sachlage am angemessensten wäre. Er wählt es für den historischen Begriff in der zweiten Bezugsstelle, und er wählt es nach Maßgabe dieses Begriffs. Nützliches und Gutes bekäme dann immer nur, was in seinem Begriffsverständnis Nützliches und Gutes auch verdient hat, gepflegt wurde, was Pflege verdient hat, gefördert wurde, was förderungswürdig ist/ war, usw. Aber der Historiograph muss als Historiker diese Deklaration doch auf dem Umweg über eine wahre Aussage über die Überlieferung aus der Vergangenheit tun. Er ist nicht nur dem Erfahrungsbegriff (in der zweiten Bezugsstelle der Aussage) verpflichtet, sondern auch der individuellen Überlieferungsgegebenheit (in ihrer ersten Bezugsstelle). Er muss eine Aussage treffen, die beiden Positionen Genüge tut und die sowohl der Information über die Vergangenheit dient als auch dem kritischen Schreiben für ein Benefaktiv. Historiographen müssen über epistemisch zwei völlig verschiedene Bezugsgrößen ein und dasselbe Prädikat aussagen, und sie müssen dabei zwei völlig verschiedene kognitive und sprachliche Operationen leisten. Das aber ist ein Spagat, der mich dazu veranlasst zu sagen: Die Geschichtsschreibung ist ein schwieriges Handwerk, das sich einerseits nicht mit der Kunst des Erzählens einfach deckt und das sich andererseits nicht in der Subsumtion von historischen Sachverhalten unter wohldefinierte theoretische Begriffe erschöpft. Weil Historiographen mit der Präposition für in der beschriebenen Weise umgehen, ist Geschichtsschreibung viel dynamischer als die wissenschaftliche Subsumtion und auf andere Weise komplex als die Erzählung. Eine subsumierende Aussage braucht einen wohldefinierten, theoretischen Begriff, und in der Erzählung sind solche abstrakten Begriffe wie die Sprache, die Geschichte, die gewandelten Umständen fest, sie konservierten sie, so wie beispielsweise auch Lieselotte von der Pfalz sich „ihre Zweisprachigkeit bewahrt“ hat (ebd. 65). Man muss deshalb auch Peter von Polenz so verstehen: Nach Deutschland gehört das Deutsche; man mag es gerne mit Bestandteilen anderer Sprachen pfleglich bereichern. Die aktive Pflege einer anderen Sprache (durch dauernden Gebrauch in den Wissenschaften z. B.) ist hingegen nicht erwünscht.

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Rechtssprache überhaupt verzichtbar (denn da sollen Handlungen dargestellt werden). Im Unterschied zu diesen beiden brauchen Historiographen flexible historische Begriffe: Begriffe, die aus der Lebenspraxis (und der Berufspraxis) kommen, Begriffe, die in ihrer darstellungsfunktionalen (denotativen) Bedeutung vage, die aber appellfunktional leistungsfähig sind, die also solche Anweisungen beinhalten, die beim Schreiben fruchtbar gemacht werden können. Halten sie dagegen an einem wohldefinierten, vermeintlich festen Begriff von der Sprache, der deutschen Sprache, der Rechtssprache usw. fest und überlassen sie sich dem Irrtum, sie würden nur mit wert- und appellabstinenten Begriffen hantieren (Hermanns 1986/2012, 186) – dann gerät das Reden von Modellen, Grundlagen, Vorbildern, Traditionen, Leistungen, Erfolgen, Verdiensten, Gewinnen und Verlusten zur Farce. Begriffliche Flexibilität brauchen sie vor allem dort, wo sie beim Studium der Quellen das Gegenteil feststellen von dem, was der Begriff erfordern würde, wenn nämlich bspw. der vom Historiographen befürworteten/erwünschten Modernisierung der Gesellschaft keine Modelle zur Verfügung gestanden hätten, wenn der vom Autor genauso befürworteten Erneuerung der Frömmigkeit im Reformationszeitalter (Polenz I 22000, 105 f., 110 f., bes. 112) oder den wiederholten Sprachreinigungsbestrebungen doch kein Erfolg beschieden war, wenn also einer wünschenswerten Sache doch etwas Schlechtes widerfahren ist, wenn sie etwas verloren oder jedenfalls nichts Gutes für sich gewonnen hat. In der Regel ändern und verrücken die Historiographen in solchen Fällen allerdings nicht gleich ihre historischen Begriffe (in der Präpositionalgruppe). Sie arbeiten zunächst einmal mit allerlei rhetorischen Verfahren der Aussagenabschwächung, -kommentierung und -umdeutung. Das Beispiel der Sprachpflege hatte ich schon genannt. Aber es gibt auch andere Umdeutungen, die sich nicht „nur“ im Bereich der Metaphorik abspielen (das Deutsche, das wie ein zartes Pflänzchen gehegt und gepflegt worden ist). Sie betreffen auch narrative Prädikate im engeren Sinne, beispielsweise den Anfang und das Ende von Sachen, die bitte keinen Anfang und/oder kein Ende haben sollen. Die deutsche Sprache sollte in der nationalorientierten (v. a. nationalistischen, z.T. auch in der nationalpädagogischen) Sprachgeschichtsschreibung¹⁵ keinen Anfang haben, sie sollte in Zeit und Raum allgegenwärtig sein und zu jeder Vergangenheit immer schon eine Vorvergangenheit haben. Deshalb sucht man in den betreffenden Sprachgeschichten des Deutschen vergeblich nach einer expliziten Aussage, der zufolge die deutsche Sprache und  Ideologisch-nationalistische Sprachgeschichten sind Hirt (21925), Kluge (21925), Bojunga (1926), Bach (91970/1986), Stahlmann (1940), und in Teilen nationalpädagogisch sind bspw. Sperber (1926), Feist (21933), Moser (1961), Polenz (1978), Polenz (I 22000; II 1994; III 1999). Zum Unterschied zwischen beidem vgl. Kap. 4., bes. Kap. 4.1. und zusammenfassend Kap. 6.

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Sprachgeschichte irgendwo (in der zweiten Lautverschiebung bspw.) ihren Anfang gehabt hätten (vgl. Leyhausen 2006). Wo ein Anfang thematisiert werden muss – weil jedes Buch einen Anfang braucht – winden sich die Historiographen. Sie wollen nicht so „streng“ sein (Sperber 1926, 5; Polenz 1978, 11)¹⁶ oder üben sich in Doppeldeutigkeiten, vor allem mit der doppeldeutigen Rede von der Vorgeschichte der deutschen Sprache, die ja nicht nur verstanden werden kann als Geschichte vor dem (Beginn des) Deutschen, sondern – für diesen Sprachbegriff passender – auch als Geschichte vor der (überlieferten) Geschichte (Reichmann 1998, 4): Das Deutsche war immer schon da, ob es nun historisch überliefert ist oder nicht. Für andere Begriffe von der deutschen Sprache hingegen kann ein Anfang gar nicht früh genug festgestellt werden, nicht für ihre Pflege und nicht für ihre Einheit: „Erst [!] Anfang des 17. Jhs. begann die Reihe der [grammatischen] Werke, die auf Deutsch und um des Deutschen willen […] verfasst wurden (Polenz II 1994, 149; eckige Klammer K.L.). Betroffen sind auch andere Begriffe, die den Historiographen wichtig sind: Die frühbürgerliche Öffentlichkeit sollte für Peter von Polenz kein Ende haben. Deshalb bedeutete seines Erachtens „die politische Wende von 1525¹⁷ […] zwar nicht das Ende der frühbürgerlichen Öffentlichkeit, aber doch eine starke Reduzierung politischer Offenheit in der Publizistik“ (Polenz I 22000, 139 f). „Eine Ekstatik, wie sie der Expressionismus hervorbrachte“, konnte hingegen mit der „von seinen Jüngern ohne Scheu geübten Vergewaltigung und Verhunzung der Sprache […] nur von kurzer Dauer sein“ (Bach 91970/1986, 456), weil der Expressionismus nach Ansicht Adolf Bachs auch ganz hätte ausfallen können und weil er etwas anderes als eine kurze Dauer nicht ertragen würde. (Anderenfalls würde Bach dem Expressionismus womöglich eine literarische Wirkung und damit eine außerordentliche Dauerhaftigkeit bescheinigen). Historiographen arbeiten auch mit Zynismen. Sie ersparen dann der gewünschten Sache nicht das Ende, sondern sie formulieren so, dass das festgestellte Ende den Autor wie den Leser richtig schmerzt. So entgeht einem trotz der sichtbaren wissenschaftssprachlichen Ambitionen der bittere Unterton nicht, wenn Peter von Polenz sagt: „Das Sprachedikt Josephs II.“ im Jahre 1784 (seitdem galt Deutsch als alleinige Reichssprache, das

 Von Polenz (1978) übernimmt den nationalpädagogischen Impetus (an dieser Stelle) von Sperber: „Die Geschichte der deutschen Sprache beginnt strenggenommen erst mit den ältesten uns erhaltenen Literaturdenkmälern, also im 8. Jahrhundert“ (Sperber 1926, 5). „Die Geschichte der deutschen Sprache beginnt strenggenommen erst mit dem Einsetzen schriftlicher Überlieferung in deutscher Sprache im 8. Jahrhundert“ (Polenz 1978, 11).  Es geht im Kontext um „die Niederwerfung der Aufstände von 1525 und die Verschärfung der Zensur“. Von Polenz bezieht sich auf das, was er an anderer Stelle „das blutige Ende der sozialen Unruhen“ nennt (ebd. 112).

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Lateinische wurde als lingua franca „abgeschafft“) „war das Ende der interlingualen und interethnischen Toleranz“ (Polenz II 1994, 51). Herman Hirt (21925) sorgt sich nicht um die Toleranz, sondern um die Mundart; und deshalb verkündet er den ätzenden Befund: „Die Tage der Mundart sind gezählt“ (ebd. 215). „Die Zeit der Mundart ist vorbei“ (ebd. 217). Jörg Riecke zeigt Sympathie mit der alten oberdeutschen Schreib- und Literatursprache, wenn er die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1774 in den Erblanden erwähnt, um pathetisch „das endgültige Aus für die oberdeutsche Schreibsprache“ auszurufen (Riecke 2016, 180). Mit einem Perspektivenwechsel geraten solche sprachlichen Übertreibungen schnell zu einer mehr oder minder subtilen Schadenfreude: „1806 brach das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter den Schlägen der Napoleonischen Heere zusammen. Mit der Besetzung Europas durch Napoleon […] begann die akute Krise der Feudalordnung“, heißt es nachdrücklich in einer Sprachgeschichte aus der DDR (Schildt 31984, 176). Und noch mehr freuen sich Kluge bzw. Hirt, wo sie sagen können: „Die Zeit der modischen Fremdwörter ist dahin“ (Kluge 2 1925, 287), oder: „Es ist mit dem Latein zu Ende“ (Hirt 21925, 186). Zu Zynismus und Häme gehört auch die Ironie. Historiographen sind ironisch überall dort, wo Sachen gefördert worden sind, die gar nicht förderungswürdig sind/waren. „Die Goldene Bulle […] förderte die politische Zersplitterung“ (Schildt 1976, 97). „Durch die offizielle Einführung des römischen Rechts […] wurden die […] sozialen Spannungen gefördert“ (Polenz I 22000, 106). „Die Ansätze frühkapitalistischen Unternehmertums“ mit dem Handelshaus der Fugger in Augsburg, führten zwar „nicht zu einer nationalen Wirtschaftspolitik“, dafür „förderten [sie] jedoch […] den kirchlichen Fiskalismus (Ablass-Handel)“ (ebd. 109). „Die Vermassung unserer Zeit fördert die […] Verwilderung der Sprache“ (Bach 91970/1986, 460). Durch den 30jährigen Krieg wurde „die Sprachverderbnis“ gefördert (Hirt 21925), und die politische Repression der „fahrenden Leute“ (der Roma) im 17. Jh. förderte „die seitdem endemischen Pogrome“ (Maas 2012, 194). Um nicht in dieser Weise dauernd klagen oder drum herum reden zu müssen, suchen die Historiographen offensiv nach anderen Begriffen, die sie in die Präpositionalgruppe rücken können. Wenn die zweite Lautverschiebung schon ein Beginn sein soll, dann nicht für die unursprüngliche deutsche Sprache, sondern für das (für geographische Neuanfänge und Erweiterungen) immer offene deutsche Sprachgebiet (Bach 91970/1986, 97). Oder aber sie ist, mit einem kleinen, aber maßgeblichen Umweg, bedeutend für die deutsche Sprache, weil sie bedeutend ist für die sprachhistorische Forschung. Wo es heißt: „Die zweite Lautverschiebung hat, […] für die deutsche Sprache eine sehr hohe Bedeutung, da hiermit oft der Beginn der deutschen Sprachgeschichte angesetzt wird“ (Roelcke 2009, 20; ähnlich Lerchner 2001, 545), da wissen die Historiographen mit der zweiten

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Lautverschiebung offenbar nichts mehr anzufangen. Sichtlich retten sie sich auf die Metaebene der Geschichte, um über dieses Ereignis überhaupt noch irgendetwas sagen zu können. Wenn Peter von Polenz (I 22000, 139 f.) bei der Rede über 1525 schon so etwas wie ein Ende verkünden muss, dann nur für die politische Offenheit, und nicht gleich für den hohen Wert der (frühbürgerlichen) Öffentlichkeit. Wo die zweistelligen Aussagen in dieser Weise auf einen anderen Begriff hin abgelenkt werden, kann man den Autoren beim Schreiben zusehen. Denn mit der Veränderung des Begriffs verändern sie immer wieder auch das Prädikat im Kern der Aussage, so dass sogar noch eine Entschädigung für sie dabei herausspringt. Wenn beispielsweise Schildt (1976) für die von ihm favorisierten „progressiven Kräfte“ in der frühbürgerlichen Revolution […] eine Niederlage“ feststellen muss, so beeilt er sich, einen anderen Begriff in die zweite Bezugsstelle zu rücken und zu sagen, dass von „den progressiven bürgerlichen Kräften […] die Ausbildung der nationalen Literatursprache vorangetrieben“ wurde (ebd. 156). Nicht für die Revolution also, aber immerhin für die im Keim dennoch revolutionäre nationale Literatursprache waren die progressiven bürgerlichen Kräfte gut – und das kann als Gewinn auch für diese Kräfte selbst durchgehen. Dabei arbeiten manche Historiographen – zugunsten der für sie wichtigsten Begriffe – doch mit Verzerrungen der Beleglage und Verfälschung der Tatsachen. Das fängt scheinbar harmlos an: Als Leser von Sprachgeschichten kennen wir Schottelius weitgehend nur als Sprachtheoretiker und Grammatiker, als Bibliothekar und als Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, nicht aber als Rechtsgelehrten, weil in einer Sprachgeschichte normalerweise für das Recht nichts geltend gemacht werden soll. Extrem verfälschend war aber die nationalistische Sprachgeschichtsschreibung, die ausnahmslos alle Sachverhalte der Vergangenheit – auch etwa die idg. Wortgleichungen, die ja aus dem Sprachvergleich vieler Sprachen stammen und deshalb auch vielen Sprachen als Benefaktiv der Historiographie zugutegehalten werden müssten – immer nur für das Deutsche vereinnahmt haben¹⁸, als Ausweis für unsere große deutsche Vergangenheit (Hirt 21925 und vor allem Kluge 21925). Solche offensichtlichen Verzerrungen sind ein Extremfall. Nichtsdestoweniger gilt: Die Daten der historischen Überlieferung werden in Aussagen mit der Präposition für immer für solche Begriffe in Anspruch genommen, die dem Historiographen wichtig sind. Die Vergangenheit wird nicht immer gleich verzerrt, aber sie wird doch systematisch in Anspruch genommen für etwas anderes. Und weil die Historiographen diese Begriffe dabei zum Bene-

 Oskar Reichmann (2001; 2004) benutzt für diese sprachliche Handlung mit Blick auf Zeit- und Raumforderungen den juristischen Ausdruck des „Vindizierens“. Man kann darin auch eine „Aneignung von“ Raum, Zeit und Geschichte sehen (Leyhausen 2006).

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faktiv ihrer deklarativen Handlungen machen, benötigen sie, auch wenn sie keine Definitionsmacht über sie haben, eine kritische Einstellung zu den historischen Begriffen, die sie in der Präpositionalgruppe aufrufen.

1.5 Botschaft des Mediums: Die historische Aussage (Groys 2000) Bleibt einleitend noch zu klären, was in kritischer Absicht mit der satzsemantischen Lektüre gegen den Strich anzufangen wäre. Schreiben die Sprachhistoriographen ihre Sprachgeschichten absichtlich nach diesem Modell der verschiedenen aufeinander projizierbaren Aussagetypen mit für, um u. a. für die deutsche Sprache und für die sprachliche Toleranz (oder gegen das Französische, gegen die Sprachverderbnis, gegen den Feudalismus u. a. m.) Partei zu ergreifen? Oder wissen sie gar nicht, was sie tun, so dass ihnen in ihren Aussagen mit für Freude, Schadenfreude und Ironie bloß unterlaufen? Sind sie absolut handlungsmächtig oder absolut ohnmächtig im Umgang mit diesem für? Müsste man also das Publikum vor verfälschenden Absichten der Sprachhistoriographen warnen, oder müsste man die Sprachhistoriographen vor sich selbst warnen? Könnte man denn irgendeine Position dazwischen einnehmen? Woran kann man den kritischen Umgang mit Text und Begriff festmachen? Die satzsemantische Sprachkritik folgt in dieser Frage der Rhetorik und vor allem der Kritik an der Rhetorik, denn sie meint, dass in solchen hochkomplexen Texten (wie den Sprachgeschichten) „eigentliche“ Darstellungs- und Handlungsabsichten meistens „uneigentlich“ ausgedrückt werden. Die satzsemantischen Umformulierungen sollen deshalb dazu dienen, absichtlich oder unabsichtlich nur uneigentlich, undeutlich oder verzerrt zum Ausdruck gebrachte eigentliche Bedeutungen und Inhalte regelrecht offenzulegen (Polenz 21988, 298 ff.; vgl. Kap. 1.7.). Satzsemantische Sprachkritik stellt den Autor bloß. Dem ist entgegenzuhalten: Historiographen sind nicht dauernd damit beschäftigt, auf dem Wege ihrer Deklarationen unmissverständliche parteiliche Botschaften zugunsten der von ihnen favorisierten historischen Begriffe zu verkünden. Das ist nicht ihre Absicht, und das tun sie auch nicht dauernd, ohne sich dessen bewusst zu sein. Stattdessen tun sie prinzipiell nichts weiter als zweistellige Aussagen über einen historischen Sachverhalt in der ersten Bezugsstelle und für einen Erfahrungsbegriff in der zweiten Bezugsstelle zu formulieren; und sie entwickeln dabei eine kritische Haltung gegenüber ihren eigenen Formulierungen oder sie tun das nicht. Im Zentrum steht nicht ein durchtriebener oder im Gegenteil unfreiwilliger Agitator, sondern das schreibende Subjekt.

1.5 Botschaft des Mediums: Die historische Aussage

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Über das schreibende Subjekt hat unter anderem der Kunstwissenschaftler und Medientheoretiker Boris Groys (2000) nachgedacht. Da er auch Ausstellungen kuratiert und praktischen Fragestellungen zugewandt ist, wandelt sich für ihn die Frage nach dem eigentlichen Sinn der von einem Autorsubjekt hervorgebrachten Zeichen um in die Frage nach der Dauer dieser Zeichen: Was wird bleiben? Welche Zeichen gelangen „ins Archiv“, welche Zeichen können sich dort auch halten? (Für Sprachhistoriker dürfte diese Frage nicht weniger interessant sein). Auch seine Antwort ist eine praktische: Über Haltbarkeit und Dauer entscheidet die Stabilität des Materials, auf dem die Zeichen angebracht werden. Deshalb ist die Erkenntnis des Mediums, das die Zeichen trägt, für die Kunsttheorie zentral. Allein: Das Medium ist „für die unmittelbare Anschauung unzugänglich“ (ebd. 18). Man kann es kaum bestimmen, weil sich hinter jedem greifbaren Material immer noch ein anderes verbirgt: Unter den medialen Trägern des Archivs versteht man oft die technischen Mittel der Datenspeicherung wie Papier, Film oder Computer. Aber diese technischen Mittel sind ihrerseits Dinge im Archiv – hinter ihnen stecken wiederum bestimmte Produktionsprozesse, Elektrizitätsnetze und wirtschaftliche Vorgänge. Und was verbirgt sich hinter diesen Netzen und Prozessen? Die Antwort wird zunehmend vager: Geschichte, Natur, Substanz, Vernunft, Begehren, Gang der Dinge, Zufall, Subjekt. Hinter der Zeichenoberfläche des Archivs lässt sich also ein dunkler submedialer Raum vermuten, in dem absteigende Hierarchien von Zeichenträgern in dunkle undurchsichtige Tiefen führen“ (Groys 2000, 18).

Es sind insbesondere die Zeichen selbst, die den Blick auf ihr Trägermedium verstellen: Weil jedes Zeichen etwas bezeichnet, bedeutet und bewirkt, verbirgt es zugleich die mediale Oberfläche des Mediums, von dem es getragen wird (ebd. 22). Es soll also ausgerechnet das Medium sein, das über den Wert und Unwert der Zeichen im Archiv entscheidet, denn davon, ob der „mediale Träger etwa Gott, die Natur, das Unbewusste, die Sprache oder das Internet ist, hängt auch die Bestimmung der Dauer des Archivs ab“ (ebd. 18). Aber ausgerechnet dieses Medium ist im Einzelfall für den Betrachter gar nicht erkennbar. Stattdessen tut sich vor ihm ein undurchsichtiger „submedialer Raum“ auf, der ihn auf den Verdacht bringt, „die Dinge sähen in ihrem Inneren anders aus, als sie sich auf der Oberfläche zeigen“ (ebd. 65). Unwillkürlich entsteht „der Wunsch zu erfahren, was sich hinter der medialen Zeichenoberfläche ‚in Wahrheit‘ verbirgt […]. Eine freiwillige oder erzwungene Aufrichtigkeit des submedialen Raums ist das, worauf der Betrachter der medialen Oberfläche wartet“ (ebd. 20 – 22). An dieser Stelle setzt sich Groys mit der (rhetorisch inspirierten) pragmatischen Zeichentheorie vom intentional handelnden Zeichenbenutzer einerseits und mit den „subjektfeindlichen“ Zeichentheorien von Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus andererseits auseinander (ebd. 29 ff.). Zum einen ist es ihm

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

viel zu optimistisch gedacht, dass „sich das Subjekt im […] Zeichenspiel verliert, dass die Zeichen ständig und unendlich fließen, und dass dieser Zeichenfluss weder überblickt noch kontrolliert werden kann“ (ebd. 34)¹⁹. Groys argumentiert einigermaßen psychoanalytisch: Die dekonstruktivistische Zeichentheorie habe ja durchaus eine „aktivistische, propagandistische Schärfe. Der Mensch soll nicht nur anerkennen, dass alles fließt“, sondern er soll sich auch „nicht festlegen […] lassen, im Unbestimmten […] bleiben, für das Andere offen […] werden“ (ebd. 37). Aber „nur derjenige, der sich ständig von einem Subjekt beobachtet, verfolgt und bedroht fühlt, kann es sich zum obersten Ziel setzen, dieser Beobachtung zu entweichen, jede Festlegung zu vermeiden, die eigene Position nicht anzugeben, ständig zu fließen“ (ebd. 41). Der Dekonstruktivismus hat also das Subjekt des Zeichengebrauchs nicht abgeschafft, er hat es nur geleugnet und verdrängt. Ein „aufgeklärtes Subjekt der Sinnproduktion und der Kontrolle“, einen „Sinnproduzenten“, der „kraft seiner Intention den Zeichen Bedeutungen verleiht“, gibt es allerdings auch für Boris Groys nicht mehr (ebd. 45). Den pragmatischen Zeichenbegriff mit dem Zeichenbenutzer in seinem Zentrum stellt er mit der Position „des Verdachts“ geradezu auf den Kopf. Nicht ein autonom handelndes und sinnstiftendes Subjekt interpretiert die Dinge in seiner Umgebung als Zeichen und macht sie als Zeichen zum Denken und Handeln für sich verfügbar. Stattdessen können Menschen gar nicht anders, als in allem überall Zeichen zu sehen, und hinter ihnen etwas Unbekanntes, Unerwartetes, Fremdes zu vermuten – sogar einen Abgrund des Bedrohlichen. Nicht wir interpretieren die Dinge, sondern die Dinge drängen uns einen Verdacht auf. Aus diesem Verdacht heraus entsteht eine „ontologische Unruhe“ (ebd. 37) und der Wunsch nach medialer Aufrichtigkeit, der „ein medientheoretischer, ontologischer, metaphysischer Wunsch“ ist (ebd. 20). Die Frage nach dem Medium, das die Zeichen trägt, bildet deshalb „eine Neuformulierung der alten, ontologischen Frage nach der Substanz, dem Wesen oder dem Subjekt, die sich hinter dem Bild der Welt möglicherweise verbergen“ (ebd.). Groys nennt dieses Wesen „das medienontologische Subjekt“ und den Verdacht „den medienontologischen Verdacht“. Man muss kein Kunstkritiker sein, um den medienontologischen Verdacht nachzuvollziehen: Wer mit Sprache umgeht, nimmt nicht Laute, Morpheme,

 Optimistisch ist diese Theorie, weil man dann nur noch „mit den Zeichen mitfließen“ müsste, um sich in ihrer Gesellschaft frei und richtig wohl zu fühlen (Groys 2000, 34). Das wäre „das ozeanische Gefühl […] bei warmem Gewässer […] in angenehmem, mediterranem Klima […] im subjektlosen, unendlichen, unübersichtlichen Zeichenmeer zu schwimmen“ (ebd. 37 f.). Jede Art von Sprach- und Erkenntniskritik sowie jede Absicht der Aufklärung wäre dann nicht nur eine Zumutung für das Publikum (ebd. 39), sie wäre auch – den Dekonstruktivismus eingeschlossen – überflüssig.

1.5 Botschaft des Mediums: Die historische Aussage

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Wörter und Sätze als materielle Trägerobjekte wahr, sondern Zeichen, die etwas bezeichnen, bedeuten und bewirken. Man versteht immer schon, was der andere sagt, und deshalb verlangt es einen besonderen Akt der Anstrengung, einen Laut, ein Wort oder einen Satz wie ein Stück aus der Rede herauszubrechen und zu fragen: Hoppla, warum hast du das /i/ so spitz ausgesprochen, warum verwendest du ein Substantiv, wo du auch ein Verb verwenden könntest, und warum sprichst du nicht im ganzen Satz? Warum haben sie für gesagt, nicht bei und nicht gegen? Sollten Sie nicht besser ein Sprechaktverb verwenden? Die Frage nach der sprachlichen Materie und nach dem Medium, das die Zeichen mit ihren Funktionen trägt, ist immer ein Übergriff ²⁰. Das Medium steht nicht zur Diskussion; die Frage bleibt immer virulent. In der Folge davon ist auch der Sprachgebrauch von Misstrauen und Argwohn begleitet. Man hat nicht immer gleich den Verdacht, von einem Sprecher oder Autor (von den Sprachhistorikern Hans Eggers, Peter von Polenz und Utz Maas beispielsweise) manipuliert und in die Irre geführt zu werden. Man hat lediglich den untrüglichen Eindruck, dass das, was da steht, auch anders gesagt werden könnte, und dass es irgendeine Instanz gibt, die dafür haftet. Der Verdacht richtet sich dementsprechend auch hier nicht (zuerst) auf ein konkretes Autorsubjekt, sondern auf ein submediales, verborgenes Subjekt, das unterhalb der Zeichenoberfläche mit dem Medium hantiert. Nicht der Autor manipuliert den Leser, sondern ein anonymer Handwerker manipuliert seinen Text. Ich nenne diesen Handwerker den (Sprach‐)Historiographen, und unterscheide ihn damit von den Sprachhistorikern, als die sich die Autoren der Sprachgeschichten selbst mutmaßlich verstehen dürften²¹. Mit den Methoden der Wissenschaft (und der Sprachwissenschaft) kann der medienontologische Verdacht nicht bezähmt werden. Wissenschaftlich satzsemantisch beschreiben lassen sich aber immerhin „die Vorgänge, die sich auf der medialen Oberfläche abspielen“ (ebd. 64), wo die Zeichen mit einer raum-zeitlichen Bewegung fortlaufend neuplatziert werden: Der Verdacht, der vom submedialen Raum ausgeht,verteilt sich […] nicht gleichmäßig auf die Oberfläche, sondern konzentriert sich auf bestimmte Zeichen, die bedrohlicher aussehen als andere. Die Zeichen ändern dabei weder ihre Form noch ihren Sinn, aber sie bekommen eine

 „Jede Kritik stößt auf empfindliche Adressaten, besonders wenn es um die Sprache geht; denn die Sprache ist den Menschen wie eine zweite Haut“ (Wimmer 2003, 418). Insofern braucht „Sprachkritik […] bestimmte Anlässe bzw. auslösende Momente“ (ebd. 423), d. h. hier: den medienontologischen Verdacht.  Das komplexe Verhältnis eines „textimmanenten Erzählers/Texters“ und des Autors diskutiert Kansteiner (2018, 152 ff.): „Die Spannungsverhältnisse zwischen Erzähler und Autor“ seien beträchtlich, sie seien mit „Toleranz für ein gewisses Maß an analytischer Ambivalenz zu sondieren“ (ebd. 155).

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bedrohliche oder beruhigende Aura – und zwar nicht durch die Bewegung der Signifikation oder der Differenz, sondern allein durch ihre physische, räumlich-zeitliche Bewegung und Neu-Platzierung auf der medialen Oberfläche, die durch die Einwirkung der submedialen Übertragungsmechanismen vollzogen werden, und bei denen die Zeichen immer wieder aus dem einen Kontext in den anderen Kontext transportiert werden (Groys 2000, 64).

Die satzsemantische Lektüre gegen den Strich zeigt nun in diesem Sinne: In der Geschichtsschreibung der deutschen Sprache wird auf der Oberfläche vor allem anderen die Präpositionalgruppe mit für immer wieder neuplatziert. Durch ihre „physische, räumlich-zeitliche Bewegung“ gewinnt sie einmal eine „bedrohliche“ und einmal eine „beruhigende Aura“. Der medienontologische Verdacht in der Geschichtsschreibung stellt sich genau hier ein. Mit diesem für kann der Betrachter nicht einfach mitfließen; er kann ihm auch nicht jedes Mal einen Sinn abgewinnen. Wo mit dieser Präposition gesprochen wird, entsteht immer wieder der Verdacht, dass der submediale Raum „unter“ dem Zeichen anders beschaffen ist, als er sich an der Oberfläche darstellt. Dieser Verdacht ist genauso subjektiv wie objektiv, denn er kann „wissenschaftlich weder bestätigt noch widerlegt werden“ (ebd. 53). Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass Historiker und Philosophen wichtige Probleme der Geschichtsschreibung immer wieder mit diesem für formuliert haben. Friedrich Schiller bspw. bezeichnete es (in einem Brief an seinen Freund Christian Körner vom 13. Oktober 1789) als „ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist“ sei „diese Grenze durchaus unerträglich“ (Schiller 1789/2006, 48. Kursiv. dort)²². Schiller zog daraus die Konsequenz, das für semantisch anders zu platzieren und lieber Universalgeschichte zu schreiben. Friedrich Nietzsche verfuhr bei seiner Frage nach dem „Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ (1873/1980) mit der Präpositionalgruppe offensiv, indem er das Leben explizit in seiner Rolle als Benefaktiv diskutierte. Reinhart Koselleck (1997/2010) sprach sich, mit einem Handlungsverb, dafür aus, die Position der Sinnlosigkeit „für die Geschichte stark zu machen“ (ebd. 9). Denn Deutungen der Art, „die toten Helden“ von Stalingrad seien „das Vorbild für die Helden der Arbeit“ und ein Vorzeichen für den kommunistischen Endsieg (ebd. 15), erschienen ihm als Zumutung. Auch er verrückte dabei das für: Histo-

 „Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bey einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bey einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehen. Er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist“ (Schiller 1789/2006, 48).

1.5 Botschaft des Mediums: Die historische Aussage

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riker engagieren sich nicht, auf dem Wege einer logificatio ex post mit kausalgenetischen, zweckrationalen Erklärungen, für ideologische Begriffe (Dunkhase 2015, 19, 35, 49). Mit diesen wird nämlich „die Dialektik des geschichtlichen Prozesses aus dem Erfahrungsraum“ des Denkens „eliminiert“, die Zeit wird verdinglicht (ebd. 32). Historiker engagieren sich stattdessen für die Geschichte, die so dynamisch ist, dass man ihr keine Gerechtigkeit unterstellen und keinen Sinn zumuten kann. Die Wissenschaftler, Philosophen und Historiker sind demnach ihrerseits dem medienontologischen Verdacht ausgeliefert, und das in doppeltem Sinne: Im Umgang mit dem für hegen sie den medienontologischen Verdacht, dass mit ihm manipuliert wird, und indem sie es verrücken, setzen sie sich demselben Verdacht aus. Medienontologisch ist deshalb nicht der Wissenschaftler gefordert. Gefordert ist „ein Betrachter“, der sich dadurch auszeichnet, dass er den Verdacht nicht aktiv ignoriert (etwa, weil dieser ihn in seinem Erkenntnisoptimismus und seiner Sinnsuche nur stört), sondern dadurch, dass er beim Lesen gewissermaßen proaktiv mit diesem Verdacht umgeht. In einem besonderen Moment kann dieser Betrachter das Phänomen der medialen Aufrichtigkeit erfahren. Das wäre ein Moment der Einsicht und „Entbergung“, in dem er einen Einblick ins Innere des Mediums erhält. Denn auch „das Phänomen der Aufrichtigkeit ist nichts anderes als ein bestimmtes Verhältnis der Zeichen zu ihrem Kontext“ (ebd. 79). Die Oberflächenbewegungen des für lösen den medienontologischen Verdacht aus, aber gerade während dieser Bewegung kann es passieren, dass sie dem medienontologischen Wunsch des Betrachters entsprechen. Ihm selbst müsste es gelingen, vom Sinn der Zeichen (zunächst einmal) abzusehen und sie zu deplatzieren: Jedes Zeichen bezeichnet etwas und weist auf etwas hin. Aber gleichzeitig verbirgt jedes Zeichen auch etwas und zwar nicht die Abwesenheit des Gegenstandes, wie es ab und zu behauptet wird, sondern schlicht und einfach ein Stück der medialen Oberfläche, die dieses Zeichen medial, materiell besetzt. Damit verstellt das Zeichen den Blick auf den medialen Träger, der dieses Zeichen trägt. Die mediale Wahrheit des Zeichen zeigt sich daher erst dann, wenn dieses Zeichen eliminiert, entfernt wird – und auf diese Weise ein Einblick in die Beschaffenheit des Trägers möglich wird. Die mediale Wahrheit des Zeichens zu erfahren bedeutet, dieses Zeichen abzuschaffen, es – wie ein Stück Schmutz – von der medialen Oberfläche wegzuwischen (Groys 2000, 22).

Wie es gelingen kann, das für „abzuschaffen“ und „von der Oberfläche wegzuwischen“, das zeigt wiederum die satzsemantische Lesart: Man übersetzt es in eine andere Präposition, man stellt es (mit der ganzen Wortgruppe) an einen anderen Ort im Satz, man stellt es dabei besonders heraus oder besonders in den Hintergrund, man löst es in einer anderen syntaktischen Struktur auf, man ergänzt es durch Zusätze oder macht es (in einer Umformulierung mit haben) sogar

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vollkommen unkenntlich. In einem glücklichen Moment gewinnt man so einen Blick auf das Medium der Sprachgeschichtsschreibung, welches die vielen Aussagen und Formulierungen (mit und ohne für) zusammenhält und welches den Zeichen der Sprachgeschichtsschreibung Dauerhaftigkeit verleiht. Hat man das aber alles getan, dann kann es passieren, dass doch nur eine Präpositionalgruppe übrigbleibt, die sich gut in die satz- und textsyntaktische Struktur einfügt – aber keine tiefere Einsicht, wie der Text gemacht ist. Eine wissenschaftlich begründete Garantie für den Erfolg des Verfahrens gibt es nicht. Der Text der Sprachgeschichte selbst bietet dem Leser solche besonderen Momente der „Entbergung“ und der „medialen Aufrichtigkeit“. Boris Groys (2000, 88) erläutert das (unter Rückgriff auf Marshall McLuhan) anhand der avantgardistischen Kunst: „Die höchste Aufrichtigkeit eines avantgardistischen Künstlers besteht darin, die Zeichen seiner selbst gegen die Zeichen des Mediums auszutauschen, um damit dem verborgenen, submedialen Subjekt eine Stimme zu verleihen. Der Künstler hat sich dadurch zum Medium des Mediums gemacht – und die Botschaft des Mediums zur eigenen Botschaft“ (Groys 2000, 99). So habe beispielsweise „Das Schwarze Quadrat“ von Malewitsch seine Medialität „explizit thematisiert“ (ebd. 267 ff.). Kunstgeschichtlich war das ein Moment der medialen Aufrichtigkeit. Auch der Sprachhistoriograph provoziert solche Effekte der Aufrichtigkeit, indem er die Präpositionalgruppe mit für im Textverlauf immer wieder neuplatziert. Jedes Mal hat er dadurch die eigene Botschaft gegen die Botschaft seines Mediums getauscht. Er äußert sich nicht (als Historiker) parteilich zugunsten seiner eigenen Interessen, sondern er vermittelt dem Leser einen Einblick ins Innere der Geschichtsschreibung. In einem besonderen Moment der medialen Aufrichtigkeit aber bilden die Sprachhistoriographen sogar eine Art Schwarzes Quadrat der Sprach-/Geschichtsschreibung, wenn sie bspw. formulieren: (8) Die hochdeutsche Tenuesverschiebung ist für das festländische Germanentum nach der Völkerwanderungszeit eines der gefährlichsten Naturereignisse geworden (Kluge 21925, 209 f.). Die Entstehung des Frankenreiches ist die wesentliche geschichtliche Voraussetzung und die deutlich spürbare Auswirkung der althochdeutschen Lautverschiebung ist die wesentliche sprachliche Erscheinung für den Übergang der germanischen Stammessprachen zum Deutschen (Schmidt 102007, 213, Kursiv. dort). […] die […] Billigung von Klassenschichtung, Klassenherrschaft und Ausbeutung machten das Christentum für den Feudaladel zu einem wichtigen ideologischen Instrument bei der Festigung seiner Herrschaft (Schildt 1976, 53 f.; 1984, 50). Luthers Sprache ist […] nicht nur für seine Zeit, sondern auch für viele kommende Geschlechter die wichtigste Quelle der Schriftsprache gewesen (Hirt 21925, 167). […] bleibt als wichtigste Voraussetzung für Luthers Erfolg die bereits relativ weit vorangeschrittene Einheitlichkeit und das Ansehen der wettinischen Kanzleischreibe um 1500 (Polenz I 22000, 164). So wurde er [Christian Wolff, K.L.] auch allgemeiner zum wichtigsten Anreger für das bildungsbürgerliche Deutsch des 18. und 19. Jahrhunderts (Polenz II 1994, 360). Man darf diese Zeit [das 18. Jh., K.L.] als das für die neuhochdeutsche Sprachgeschichte

1.5 Botschaft des Mediums: Die historische Aussage

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wichtigste Jahrhundert ansehen (Eggers IV 1977, 77). Das Briefeschreiben war bis ins 19. Jh. ein wichtiges Übungsfeld für das bildungsbürgerliche Deutsch […] (Polenz II 1994, 33).

In diesen Aussagen findet man alles, was das Handwerk der Geschichtsschreibung ausmacht. Hier identifiziert der Historiograph einen Sachverhalt der Vergangenheit; hier spricht er zweistellig. Hier sagt er deutlich, wofür das Ereignis als wichtig zu gelten hat, und welches Ereignis überhaupt (die hochdeutsche Tenuesverschiebung oder die althochdeutsche Lautverschiebung?). Hier zeigt sich der Historiograph deutlich deklarativ und deutlich parteilich (mit der Rede vom gefährlichen Naturereignis, vom ideologischen Instrument). Hier setzt er seine Erfahrungsbegriffe (rhetorisch, sprachmorphologisch) großspurig ins Szene (mit den pathetischen und/oder morphologisch hochkomplexen Wortgruppen das festländische Germanentum, der Feudaladel, Luthers Erfolg, der Übergang der germanischen Stammessprachen zum Deutschen, das bildungsbürgerliche Deutsch, die nhd. Sprachgeschichte). Und hier zeigt er sogar, wie er mit dem für arbeitet, indem er es manchmal syntaktisch schlüssig in den Satzzusammenhang integriert, manchmal aber auch aus diesem Zusammenhang herausbricht. (Bei der Rede von der wesentlichen sprachlichen Erscheinung für den Übergang der germanischen Stammessprachen zum Deutschen geht es um ein Ereignis, das wesentlich für diesen Übergang ist, das aber – syntaktisch korrekt – keine Erscheinung für ihn sein kann). Solche Aussagen ragen wie Inseln aus dem Text heraus. So auffällig wie das Schwarze Quadrat in der Kunstgeschichte thematisieren sie das Medium der Geschichtsschreibung. Deshalb werden sie von Sprachgeschichte zu Sprachgeschichte weitergegeben und immer wieder reformuliert²³: Die zweite Lautverschiebung ist zwar nicht der Beginn für die deutsche Sprache, aber immerhin das wichtigste Kriterium für die Gliederung der deutschen Mundarten. Die Erfindung des Buchdrucks war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, aber die Einführung des Papiers war noch viel wichtiger dafür. Die Sprache der Mystiker und die wettinische Kanzleischreibe waren die wichtigsten Voraussetzungen für Luthers Erfolg. Christian Thomasius gab den entscheidenden Anstoß für den Gebrauch des Deutschen an der Universität. Vorbild für die strenge Form der deutschen Wissenschaftssprache war Christian Wolff; zugleich aber war er der wichtigste Anreger für das bildungsbürgerliche Deutsch usw. usf. Diese Aussagen sind das Medium, auf das alle weiteren Aussagen und Formulierungen im Text der

 In der deutschen Sprachgeschichtsschreibung haben solche Aussagen das „Umerzählen“ abgelöst, mit dem sonst „durch immer neues Sagen eine immer erneuerte Wahrheit der Geschichte gesucht wurde“ (Weinrich 1973, 519).

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

Sprachgeschichte nur aufgetragen sind. Sie verleihen der Sprachgeschichtsschreibung ihre Dauerhaftigkeit. Aus all diesen Gründen spreche ich bei solchen Formulierungen von der historischen Aussage mit für und behaupte: Die historische Aussage mit für bildet das Medium der Sprachgeschichtsschreibung, wahrscheinlich der Geschichtsschreibung überhaupt. Wo nun aber die historische Aussage als Medium der Geschichtsschreibung in dieser Weise selbst thematisiert wird und der Betrachter das Phänomen der medialen Aufrichtigkeit erlebt, da nehme ich den Autor einer Sprachgeschichte dann doch persönlich in die Verantwortung. Der avantgardistische Künstler wird ja in der Öffentlichkeit durchaus namhaft gemacht. Als Künstler hat er einen Zugang zum medienontologischen Subjekt gefunden, und gerade damit begründet er seinen Ruhm als Künstler. Dass das auch im Umgang mit Sprache möglich ist, das erklärt Boris Groys wiederum mit Bezug auf die Psychoanalyse. „Der Mensch ist für sich selbst ebenfalls bloß eine mediale Oberfläche, hinter der ein dunkler, submedialer Raum verborgen bleibt, zu dem er […] selbst keinen privilegierten Zugang hat“ (ebd. 66). Deshalb kann „der Mensch“ auch nicht aus dem Inneren heraus beschließen, endlich einmal aufrichtig zu sein und (mit einem eigentlichen Ausdruck) zu sagen, was er (eigentlich) meint, was er will und was er denkt²⁴. Er weiß meistens gar nicht, was er denkt und was er will. Er tut einfach; er spricht oder schreibt und folgt seinen sprachlichen Routinen. Dabei hat er aber durchaus den medienontologischen Verdacht, dass er auch etwas anderes tun könnte, und dass er vielleicht etwas anderes meint und denkt und will, als er gerade tut. Dieser Verdacht kann für den Historiographen beim Schreiben außerordentlich fruchtbar und produktiv sein, denn in der schreibenden Auseinandersetzung mit dem bedrohlichen submedialen Raum kann ihm ein Moment der medialen Aufrichtigkeit gelingen. Historiker und Historiograph kooperieren da. Allerdings kann bei dieser Auseinandersetzung die rein operationelle, handwerkliche Manipulation der Zeichen (durch das medienontologische Subjekt) jederzeit auch umschlagen in irreführende Manipulation. Im Einzelfall kann es immer sein, dass die Historiographen die Botschaft des Mediums doch wieder gegen die eigene, parteiliche Botschaft des Historikers zurücktauschen. Gerade dort, wo sie mit einer historischen Aussage das Medium ihres Tuns thematisieren, ist für sie die Verführung groß, aus ihrem Schwarzen Quadrat der historischen Aussage doch eine manipulierte Idylle oder eine verzerrte Grimasse herauszumalen. Nicht von ungefähr wird deshalb gerade in solchen Aussagen wiederholt und penetrant Großes und Gutes für einen festgefahrenen Begriff erklärt – für den

 Vgl. auch Linz (2007, 56): „Der Sprecher selber hat keinen privilegierten Zugang zu seinen eigenen Mitteilungen“; Linz bringt neurowissenschaftliche Befunde vor.

1.6 Die historische Aussage in einer „verfehlten Wirklichkeit“

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ideologischen Kampfbegriff vom Deutschtum und Germanentum, für Hochwertbegriffe wie den von der nationalsprachlichen Einheit, der sprachlichen Verständlichkeit, von Luthers Erfolg oder für (und gegen) den Stigmabegriff des undeutschen oder einfach nur hässlichen Fremdworts usw. Mit solchen historischen Aussagen wird das Medium der Geschichtsschreibung aber nicht mehr thematisiert, sondern karikiert, verzerrt und zerstört.

1.6 Die historische Aussage in einer „verfehlten Wirklichkeit“ (Koselleck 1997/2010) Einem Historiker wie Reinhart Koselleck ist die historische Aussage mit für prinzipiell suspekt (Koselleck 1997/2010). Da sie bislang linguistisch nicht untersucht worden ist und als Medium der Historiographie noch kaum bekannt ist, unterliegt sie generell dem Ideologieverdacht. Um seinen Generalverdacht bezüglich dieser Aussageform zu untermauern, zitiert Koselleck (in einer sehr selektiven Beispielsammlung) ausschließlich verzerrte historische Aussagen, die entweder sowieso künstlich aus dem Kontext von Neuplatzierungen herausgehalten oder aber von Koselleck selbst aus diesem Kontext herausgerissen werden: Stalingrad war ein Fanal für den kommunistischen Produktionskampf, hieß es in der sowjetischen Propaganda (ebd. 15). Stalingrad war strategisch wichtig für andere Truppenbewegungen und damit auch für das Kriegsende, heißt es mit zweckrational-autoritärem Unterton von der Seite der Militärhistoriker (ebd. 11). Der 1. Weltkrieg war die Strafe Gottes für menschlichen Übermut, glaubte der strenggläubige Katholik (ebd. 12). Verdun war die Voraussetzung für die deutschfranzösische Verständigung (ebd. 29), träumt der moralisch aufrechte Optimist, oder sogar: Auschwitz war die Voraussetzung für die Gründung des Staates Israel (ebd. 30). Diese Aussagen sind in Kosellecks Augen Paradebeispiele dafür, dass man für die Geschichte einen Sinn in Anspruch nimmt, mit dem sie sich gar nicht verträgt. Er schließt mit ihnen (ohne das zu erwähnen) an Arthur Dantos (1965; 1974) narrative Aussagen an und versetzt sie in die geschichtsphilosophische Diskussion zurück, der sie seit der historischen Sattelzeit um 1770/1780 ausgesetzt waren (Koselleck 2003/2006). Mit der sprachanalytischen Sichtweise hatte Danto es lediglich als zeitliches Paradox aufgefasst, dass narrative Aussagen – über ein Ereignis (im Aussagenfokus) zum Zeitpunkt t1 und mit Blick auf ein anderes Ereignis zu einem späteren Zeitpunkt t2 – nicht einfach die Vergangenheit zum Gegenstand haben, sondern immer nur die Vergangenheit mit Blick auf die Zukunft der Vergangenheit. Weil erst das spätere Ereignis zum Zeitpunkt t2 das frühere (zum Zeitpunkt t1) „in eine Ursache“ oder Ähnliches verwandelt, scheint die „hinreichende Bedingung für das frühere Ereignis später (einzutreten) als das

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

Ereignis selbst“ (Ricœur 22007, I 217 f.). Dieses (bloß scheinbare) logische Paradox²⁵ bindet Koselleck (1997/2010) nun an die geschichtliche Erfahrung und ihre Philosophie zurück. Er fragt (wieder) nach der Möglichkeit und Berechtigung teleologischer oder sogar eschatologischer Aussagen. Er analysiert die von ihm zitierten narrativen Aussagen folgendermaßen: Mit ihnen erhebt sich der Historiker, historische Laie oder historische Agitator zum obersten Richter über alles Geschehen. Gemäß der (auf Schiller beruhenden und von Hegel anverwandelten) Formel, „die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ (Dunkhase 2015, 17 f.), meint dieser Historiker, in der Geschichte läge eine eigene historische Gerechtigkeit. Er sieht sie als eine Art säkulares Heilsgeschehen an, welches auf ein sinnvolles Ende zusteuert. Als seine Aufgabe versteht er es dementsprechend, (mit den zitierten Aussagen) dieser historischen Gerechtigkeit Ausdruck zu verleihen oder nachzuhelfen in dem Falle, dass sie sich noch nicht allen offenbart hat. Er spricht ein unverrückbares Urteil, und dazu muss (in Begleitung der Präpositionalgruppe) eine causa finalis her, für die ein Ereignis wie die Schlacht bei Stalingrad wichtig und gut gewesen sein soll und die dieses Ereignis demzufolge heilsgeschichtlich rechtfertigt²⁶. Anhand der zitierten narrativen Aussagen weist Koselleck diese Rolle der so formulierenden Historiker als absolut unberechtigt zurück (ebd. 19): Auf dem Wege einer logificatio ex post bringen sie die geschichtliche Erfahrung einer ungeordneten Zeitlichkeit – je nach Geschmack – auf einen moralischen, (zweck‐) rationalen, theologischen oder ideologischen Begriff (von der dt.-frz. Verständigung, von einer bestimmten militärisch-taktischen Notwendigkeit, von der menschlichen Superbia, vom kommunistischen Endsieg). Sie bekommen aber damit die Zeit gerade nicht in ihre Verfügung. Mit verdinglichten Begriffen schließen sie sie nur aus ihren Rechtssprüchen aus (ebd. 33). Vorgeblich engagiert sich Koselleck damit für die unergründliche zeitliche Dynamik geschichtlicher Prozesse. Wenn man seine Argumentation (in Koselleck 1997/2010) jedoch verfolgt, dann wird klar: Er spricht gar nicht nur für die Geschichte, und er spricht nicht nur als Historiker. Koselleck war während seiner russischen Kriegsgefangenschaft ab Mai 1945 in Auschwitz und musste dort einen Monat lang am Abbau des Konzentrationslagers und der IG-Farben-Werke mitarbeiten (Dunkhase 2015, 21). Mit seiner eigenen Lebenserfahrung fühlt er sich den Opfern von Stalingrad,Verdun und Auschwitz nahe, und so verrückt er das für (ein weiteres Mal), um für die Zeitgenossen und Opfer von Stalingrad,Verdun und  Das sogenannte Paradox ist durch die Unterscheidung von Objekt- und Metaebene unschwer aufzulösen (Ricœur I 22007, 217 f.; vgl. auch Kap. 2.12.).  Solche Richter sieht Koselleck nicht nur in der Sowjetunion, sondern, mit Anspielungen in einem Vortrag auf dem 26. Deutschen Rechtshistorikertag 1987, auch etwa auf beiden Seiten des damaligen Historikerstreits (Dunkhase 2015, 19).

1.6 Die historische Aussage in einer „verfehlten Wirklichkeit“

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Auschwitz zu sprechen. Sie sind nicht für einen höheren Zweck gestorben, getötet und abgeschlachtet worden. Anhand einer politischen Analyse von Träumen im Kontext von Nationalsozialismus und KZ schien es ihm wahrscheinlich, dass nicht einmal die Überlebenden im Sinne des Überlebens überlebten, denn es war nicht die Idee zu leben, die sie gerettet hat (ebd. 27 f.). Bei der Rede über diese Ereignisse kann der Historiker keine Gerechtigkeit ausgießen, weil er damit den Opfern nicht gerecht werden würde. Für sie sind und bleiben diese Ereignisse absurd und sinnlos (Koselleck 1997/2010, 15). Koselleck folgt damit der Auschwitzüberlebenden und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, der zufolge „das Bewusstsein der Absurdität des Ganzen“ bei den Opfern „noch tiefer sitzt als die Empörung über das große Verbrechen“ (Dunkhase 2015, 50 f.). Nicht der Geschichte also, sondern den Zeitgenossen der Vergangenheit darf man keine ideologischen, moralischen oder scheinbar rationalen Urteile ex post zumuten²⁷. In einer tour de force verallgemeinert Koselleck den Befund, den er anhand der historiographischen Rede über die größten Verbrechen gewonnen hat. Wenn schon die Zeitgenossen ihre eigene geschichtliche Realität, nicht (mit dem teleologischen, heilsgeschichtlichen Blick auf einen höheren Zweck) verstehen, erklären und akzeptieren können, dann sollten auch die Historiker nicht so tun, als ob. „In actu“ und für die Zeitgenossen besteht die Realität der Ereignisse aus „Unsinnigkeiten und Widersinnigkeiten“ (Koselleck 1997/2010, 17). Deshalb muss auch der Historiker der Geschichte und sich selbst die Position der Sinnlosigkeit zumuten. Die von ihm zitierten narrativen (historischen) Aussagen lehnt er allesamt kategorisch ab, und man könnte meinen, er ist gegen die historische Aussage mit für überhaupt. Man muss ihm aber entgegenhalten: Die von ihm angeführten Aussagen eignen sich nicht zur Verallgemeinerung, denn nicht alle historischen Aussagen haben ein monströses Verbrechen in ihrer ersten Bezugsstelle. Deshalb muten sich die Zeitgenossen auch fortlaufend selbst solche Aussagen zu und verstummen nicht wie die traumatisierten Opfer der Verbrechen von Verdun, Stalingrad und Auschwitz. Historische Aussagen mit für (und mit der von Koselleck problematisierten Struktur) zu formulieren – das ist ja kein Privileg der Historio-

 Mit dieser Idee, der Historiker müsse der Wahrnehmung der Zeitgenossen entsprechen, tendiert Koselleck dazu, einen Satz wie Stalingrad war wichtig und gut für die Befreiung der Russen von den deutschen Invasoren als gerechtfertigt anzusehen, weil er der Wahrnehmung der russischen Zeitgenossen noch am ehesten entspricht (Koselleck 1997/2010, 15). Es gibt allerdings für die Zeitgenossen „keine gemeinsame Wirklichkeit, die von den verschiedenen Beteiligten auf dieselbe Art wahrgenommen werden könnte. Die Wahrnehmungsgeschichte ist immer pluralistisch gebrochen“ (ebd. 17). Deshalb sind selbst solche einfühlenden narrativen Aussagen immer eine Zumutung für irgendeine Gruppe von Zeitgenossen und daher falsch.

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

graphen, die sich aus der Retrospektive und aus der Distanz über historische Ereignisse der Vergangenheit äußern. Auch die Zeitgenossen äußern sich unverdrossen darüber, wofür der Ausgang einer Landtagswahl wichtig werden könnte, für wen ein Fußballspiel oder ein öffentlichkeitswirksamer Prozess in einer Beleidigungssache gut ausgehen wird und was das dann für die Gemeinschaft bedeutet, oder was eine womöglich überholte Rechtschreibung und eine halbherzige Rechtschreibreform für die Schulkinder oder die Verständlichkeit komplexer Texte bedeutet usw. usf. Regelmäßig täuschen sie sich dabei, denn „die Wirklichkeiten, wie sie wahrgenommen werden, sind immer schon verfehlte oder gar falsche Wirklichkeiten“ (Koselleck 1997/2010, 17). Offenbar entsteht daraus aber, weder bei den Zeitgenossen noch bei den Historikern, eine Sprachlosigkeit: Es entstehen fortlaufend neu- und reformulierte, verrückte historische Aussagen mit für. In diesem Erfahrungsraum der verfehlten Wirklichkeit hat das Medium der verrückten historischen Aussage mit für seinen geschichtlichen Ort. Sie bildet die von Koselleck beschriebene Erfahrung ab, dass die Geschichte eine „Differenz“ ist (ebd. 20)²⁸. Obwohl nämlich jede historische Aussage (von den sorgfältigen Zeitzeugen wie von den Historikern/ Sprachhistorikern) mit einer genauen historischen Einordnung in der Realität der überlieferten Tatsachen immer verankert wird, verfehlt sie doch jedes Mal, das sie geäußert wird, die Identität mit sich selbst. Die verrückte historische Aussage ist – als Medium der Geschichtsschreibung – nur dafür gut, dass unbegrenzt viele verfehlte Wirklichkeiten zur Sprache gebracht werden können. Die im Prinzip ganz offene Frage, wofür man, wenn man über die Vergangenheit spricht, zugleich auch noch sprechen kann, treibt die Historiographie voran. So versteht es sich auch, dass die historische Aussage an die narrative, teleologische, heilsgeschichtliche Struktur gar nicht gebunden, sondern einer großen Freiheit überlassen ist. Die medienontologisch begründete, satzsemantische Kritik der verrückten historischen Aussage mit für stellt daher (auch im Sinne von Kosellek) weder einen (sprach‐) historischen Sinn heraus, noch stellt sie die Unfähigkeit der (Sprach‐) Historiker zur geschichtlichen Gerechtigkeit bloß. Sie legt nur das Medium frei, damit sich die Historiker beim Schreiben auf den medienontologischen Verdacht einstellen können²⁹.

 „Die Differenz zwischen den Wahrnehmungsmustern im Vollzug des Handelns und den Erklärungskategorien, die das Handeln ex post analysieren, erzwingt […] schleichende und gleitende Verschiebungen, die methodisch nur schwer zu beherrschen sind“ (Koselleck 1997/2010, 20).  In diesem Sinne verzichtet auch Koselleck nicht auf ein (im finalen Nebensatz) umformuliertes für: „Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig.Vernünftig ist höchstens ihre Analyse. Das Absurde, das Aporetische, das Unlösbare, die Unsinnigkeiten und Widersinnigkeiten“ müssen

1.6 Die historische Aussage in einer „verfehlten Wirklichkeit“

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Obwohl sich also jeder Historiograph mit der Präpositionalgruppe punktuell parteilich für den einen oder anderen Begriff der historischen Erfahrung äußert, legt er sich doch – auf das Textganze gesehen – nicht auf eine eindeutige Parteisache fest. Erfolgreich mit dem Medium arbeitet der, der irritiert und der auch irritierend bleibt, indem er sich fortlaufend selbst korrigiert und die Parteisache in der Schwebe hält. Gutgemeinte Aufklärung führt genauso wenig zu einem angemessenen Umgang mit der historischen Aussage und den historischen Begriffen wie selbstüberschätzende Ideologie. Dem Medium angemessen ist allein der gleichermaßen skeptische wie offensive und produktive Umgang mit dem medienontologischen Verdacht. Die Historiographen der deutschen Sprache haben dafür die besten Voraussetzungen, denn dafür sind die Daten der Überlieferung (für sie als sehr gut informierte Historiker) heterogen und inkohärent genug. Zudem ist der historische Begriff von der deutschen Sprache auch vage genug, damit die eigene Botschaft immer wieder gegen die Botschaft des Mediums und die Botschaft des Mediums immer wieder gegen die eigene parteiliche Botschaft zugunsten der einen oder anderen deutschen Sprache ausgetauscht werden kann. Anders als man es von der Wissenschaft der Sprachgeschichte erwartet, braucht der Sprachhistoriograph nicht den einen, sachlich korrekten Sprach-, Geschichtsoder Sprachgeschichtsbegriff. Derjenige, der über einen jeweils „richtigen“ Begriff von der deutschen Sprache/Sprachgeschichte verfügen und ihn im Text rigoros anwenden wollte, könnte gar keine Sprachgeschichte schreiben, weil er die Präpositionalgruppe mit für nicht mehr verrücken und er dem Medium überhaupt nicht gerecht werden könnte. Vielmehr schadet es gar nicht, wenn der Sprachhistoriker beim zweistelligen Schreiben über die Vergangenheit der deutschen Sprache immer mal wieder in die krisenhafte, kritische Situation gerät, seinen eigenen Begriff von der deutschen Sprache und der deutschen Geschichte, von Tradition und Wandel gar nicht mehr wiederzuerkennen – und ihn deshalb im weiteren Verlauf des Textes zu verschieben, zu ändern, zu ergänzen, zu ersetzen. So ist zwar auch er im Umgang mit der historischen Aussage und dem medienontologischen Verdacht alles andere als souverän. Aber er kann immerhin, wie die avantgardistischen Künstler, vor seinem Publikum bestehen.

analysiert und dargestellt werden „um unsere Urteilskraft zu schärfen, um überhaupt […] mit der Sinnlosigkeit umgehen zu lernen“ (Koselleck 1997/2010, 16).

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, „semantisch zentrierte“ Valenzgrammatik (Polenz 21988) Für die Untersuchung der historischen Aussage nutze ich ausgewählte Instrumente und Verfahren der „Deutschen Satzsemantik“. Unter diesem Titel liegt bislang nur eine einzige Arbeit vor (Polenz 21988; vorbereitend Polenz 1980a). Sie hat aber vielfältige Beziehungen zu anderen linguistischen Disziplinen, welche das Ziel haben, die Bauweise syntaktischer und morphologischer Elemente im Satzbau der deutschen Sprache derart zu bestimmen, dass man Einsicht gewinnt in deren semantische und pragmatische Zeichenfunktionen. In der deutschen Grammatikschreibung, wie auch in der (nicht einzelsprachbezogenen) Prädikatenlogik, in der generativen Grammatik (im Gefolge der amerikanischen „case grammar“ Charles Fillmores) und in der Valenzgrammatik hat die Satzsemantik ihre Voraussetzungen (Polenz 21988, 60 ff.). Von der deutschen Grammatik unterscheidet sie sich, weil deren Zielsetzung prinzipiell eine andere ist. Wo sich nämlich die Grammatik mit dem Satz in der deutschen Sprache beschäftigt, geht es ihr eher um die regelhafte Anordnung seiner Elemente und um deren syntaktische Funktionen. Semantische und pragmatische Funktionen thematisiert sie zwar auch, aber nicht systematisch, sondern nur, wenn sie auf diesem Umweg die syntaktischen Funktionen besser ausdifferenzieren kann³⁰, z. B. die Rektionsbeziehungen (die syntaktischen Abhängigkeiten der Satzglieder und Satzgliedteile untereinander). Anders die Satzsemantik: Ihr Schöpfer und Namensgeber Peter von Polenz, der Jahre zuvor eine Übersetzung des Cours de linguistique générale herausgegeben und kommentiert hatte und nun dessen bilaterales Zeichenmodell bedient (Saussure 1916/21967), geht von zwei konsubstantiell zusammenhängenden Seiten des Satzzeichens aus, einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite. Wegen der Konsubstantialitätshypothese werden sie in dem zugrunde gelegten

 Peter von Polenz (21988, 51) reklamiert, unter Berufung auf Johannes Erben, auch die Grammatikschreibung würde von „der Priorität der Semantik“ ausgehen und die onomasiologische Perspektive vom Sprecher her einnehmen, der sich fragt: „Wie drücke ich meine Inhalte aus?“. Die verschiedenen Ansätze zu semantisch-pragmatisch ausgerichteter Grammatik stellt Ros (2011) dar. Allerdings lassen die dort zitierten Beispiele, insbesondere aus der Valenztheorie und der Funktionalen Grammatik (Du sollst nicht Esmeralda töten/Du sollst nicht töten; Hans liest das Buch/Das Buch wird (von Hans) gelesen; „Pass auf, ich schlag Dir gleich’n paar Dinger auf die Fresse/Pass auf, ein paar Dinger werden dir gleich auf die Fresse geschlagen“) auf eine sehr gebrauchsferne Semantik und Pragmatik schließen (ebd. 145 – 149; zitiert u. a. Ágel, Dürscheid, Schlobinski).

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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Satzbaumodell analog und umkehrbar, wie die zwei Seiten eines Blattes Papier, aufeinander bezogen (ebd. 134; Reichmann 21976, 15). In Theorie und Methode der Satzsemantik werden diese zwei Seiten des Zeichens besonders in eine Richtung gewendet: Die grammatischen (syntaktischen, morphologischen) Einheiten im Satz, welche die Ausdrucksebene darstellen, werden nach Maßgabe der Inhaltsebene strukturiert. Polenz (21988, 49) spricht von einer „Umkehrung der Syntax zur Satzsemantik“ und beruft sich dabei auf die lexikalische Bezeichnungslehre, die Onomasiologie. Weil die Satzsemantik quasi-onomasiologisch von den semantischen und pragmatischen Funktionen ausgeht und nach deren Realisierungs- und Ausdrucksmöglichkeiten auf der Satzebene fragt, wird an grammatischen Unterscheidungen weggelassen, was auf der Inhaltsebene (einzelsprachlich) nicht einigermaßen regelmäßig repräsentiert ist. Prinzipiell sei aus diesem Vorgehen ein anwendungsorientiertes „sehr einfaches Satzbau-Modell, mit einem nicht-formalisierten Satzgliedersystem“ hervorgegangen, das unter anderem „Bezüge zu traditionellen Satzgliedbegriffen“ aufweist (ebd. 81, 83). Der Inhalt eines Satzes (Elementar- oder Einfachsatzes) besteht (in Anlehnung an die Prädikatenlogik) aus mindestens einer Prädikation/Aussage, die ein Prädikat in ihrem Kern hat sowie eine bis mehrere Bezugsstelle(n), über die das Prädikat ausgesagt wird³¹. Mit ihnen nimmt der Sprecher auf Sachverhalte Bezug (er referiert auf sie), die, wie das Prädikat, „nicht von vornherein in der Wirklichkeit gegeben“ sind, sondern von ihm „im Zusammenhang mit der Aussage satzsemantisch konstituiert werden“ (Polenz 21988, 91 ff., 116 ff.)³². Analog dazu hat, auf der Ausdrucksebene, der (elementare) Satz, welcher einer (einfachen) Aussage entspricht, in seinem Kern einen Prädikatsausdruck mit mehreren Bezugsstellen-Ausdrücken (ebd. 81 ff.). Den deutschen Satzbau satzsemantisch darzustellen, heißt vor allem, dieses Verhältnis von Satz und Aussage/von Satzausdruck und Satzinhalt zu untersuchen: zu sehen, dass Prädikate nicht allein durch verbale Prädikatsausdrücke und nicht nur im syntaktischen Kern des Satzes realisiert werden; zu problematisie-

 Mit diesem Satzbaumodell beruft sich von Polenz (21988, 81) auf Hans Jürgen Heringer; und zuvor auf Gottlob Freges „Begriffsschrift“ 1879 (ebd. 55) wie auf Franz Schmidts „Logik der Syntax“ 1957 (ebd. 61). (Vgl. auch Polenz 1980a, 139).  Immer wieder findet man bei von Polenz (21988) solche konstruktivistischen Bemerkungen zum Verhältnis von Sprache, Denken, Wirklichkeit. Aber theoretisch versichert er sich dieses Verhältnisses nicht, so dass gerade die Referenz und das Referieren auf Bezugsobjekte (durch Bezugsstellen und Bezugsstellen-Ausdrücke) sehr widersprüchlich behandelt werden, einmal mit sprachrealistischen Implikationen als bloß abbildende Bezugnahme auf eine vorgegebene außersprachliche Wirklichkeit, und ein anderes Mal (wie hier) als Konstitution von (begrifflicher, sachlicher) Wirklichkeit (Reichmann 1998, 2).

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

ren, dass sogar die Hauptaussage eines Satzes oft nicht in seinem Kernprädikat steht und die Hauptaussage eines Satzgefüges oft nicht im Hauptsatz, dass Vorgangs- und Handlungsprädikate oft (wie ein Ding) in Gestalt eines Substantivs in irgendeiner Bezugsstelle ausgedrückt werden. Es wird thematisiert, dass die syntaktische Valenz/Wertigkeit eines Prädikatsausdruckes oft nicht übereinstimmt mit der Bezugsstellenzahl des entsprechenden Prädikats, und vor allem auch umgekehrt, dass nämlich Bezugsstellen auf der Ausdrucksebene gar nicht realisiert, sondern nur „hintergründig“ mitgegeben werden (ebd. 130 ff.). Indem sie, unter Berufung auf die Onomasiologie, von der Inhaltsebene des Satzes ausgeht, klassifiziert und systematisiert die Satzsemantik (an Anlehnung an Fillmores Tiefenkasus/Kasusrollen) die semantischen Rollen, welche von den Bezugsstellen des Prädikats repräsentiert werden. Sie greift dabei wiederum auf die Grammatik zurück, die solche semantischen Rollen (bspw. Agens, Patiens) auch schon thematisiert hat, ergänzt sie aber durch weitere Rollen wie bspw. durch das Benefaktiv (ebd. 167 ff.), das als „Benefizient/Nutznießer/Geschädigter“ auch in die Duden-Grammatik (92016, §§ 522, 1450 u. ö.) aufgenommen worden ist. In einem Punkt allerdings unterscheidet sich das satzsemantische Anliegen deutlich von dem der Grammatik, denn hier wird die Sprachbeschreibung zugleich in eine dezidierte Richtung der Sprachkritik umgemünzt³³. Peter von Polenz (ebd. 23 – 48) geht von einer sprachhistorischen Beobachtung aus: Der moderne deutsche Satzbau, den von Polenz in der Zeitung, in der Politik, in der breiter rezipierten Wissenschaft wie überhaupt in den (konzeptionell) schriftlichen Texten des öffentlichen Sprachgebrauchs repräsentiert sieht, orientiert sich am Prinzip des Einfachsatzes und der Parataxe. Er liest sich viel einfacher und flüssiger als dort, wo noch die Hypotaxe verwendet wird, also flüssiger als beispielsweise in juristisch, bürokratisch oder wissenschaftlich sehr spezialisierten Texten, wie auch in den meisten (schriftlichen, öffentlichen) Texten aus der Zeit vor 1850³⁴. Die modernen parataktischen Strukturen wirken geschmeidig, während komplizierte hypotaktische Satzstrukturen oft schwer überschaubar sind.

 Das diesbezügliche Verhältnis von Satzsemantik und Grammatik diskutiert Zifonun (1993): Satzsemantik als Sprachkritik setzt die grammatische Analyse voraus; sie ist eine „pointierte Form der Beschäftigung mit Grammatik“ (ebd. 266). Unter satzsemantischem Einfluss habe aber auch die Grammatik „das sprachkritische Potential“ ihrer Beschreibungsgegenstände mitzubehandeln (ebd. 268). Ebenso sieht Ros (2011) vielfältige Verflechtungen von Sprachkritik und Grammatik. Schon wenn Grammatiker die Sprachverwendung beschreiben, ziehen sie eine „Grenze des Grammatischen“. Dabei fällen sie Urteile, die denen der Sprachkritik ähnlich sind (ebd. 141; zitiert Meyer).  Genaueres zu dieser syntaktischen Entwicklung bei Blackall (1966) und Admoni (1987, bes. 166 – 176).

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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Aus der sprachkritischen Sicht der Satzsemantik ist diese smarte Parataxe allerdings genauso ein Ärgernis, denn hier haben einzelne Satzglieder und Bezugsstellen-Ausdrücke (einzelne Wortgruppen und Wörter) meistens die gleichen komplexen Satzinhalts-Funktionen wie bei hypotaktischen Strukturen die zahlreichen Nebensätze. Das Prinzip eines klassischen Satzgefüges, dem zufolge tendenziell jedem Teilsatz eine Aussage entspricht und jeder Aussage ein Teilsatz, gilt für den Einfachsatz des modernen parataktischen Satzbaus nicht. In einem solchen Satz werden meistens nicht weniger Aussagen getroffen; es werden nur viel weniger Raum und Mittel aufgewendet als im Satzgefüge, um die inhaltliche Komplexität für den Leser nachvollziehbar zu machen. Dem Elementarsatz fehlen die verschiedenen verbalen Prädikatsausdrücke, die man sonst im Kern der einzelnen Teilsätze findet. Weil Verben oft nominalisiert vorkommen (z. B. Verben für Handlungen), werden auch systematisch die Bezugsstellen-Ausdrücke dieser Verben gestrichen (der Handelnde und das von der Handlung betroffene Objekt), damit die Nominalgruppen nicht zu lang werden. Und schließlich fehlen die Satzverknüpfungsmittel, also die kausalen, finalen, temporalen Konnektoren zur Verbindung der verschiedenen Teilsätze, welche den inhaltlichen Bezug der verschiedenen (Teil‐)Aussagen verdeutlichen (des Warum und Wofür einer Handlung z. B.). So gehen auf der Ausdrucksebene Satzinhalte regelrecht verloren, die auch im Kontext nicht nachgereicht oder vorweggenommen werden, sondern ausgesprochen unausgesprochen, hintergründig und untergründig bleiben. Prädikate, Prädikationen/Aussagen und Aussagenverknüpfungen werden weggelassen, mehrfach codiert bzw. mit Implikationen und Andeutungen überfrachtet. Und umgekehrt hat ein verbaler Prädikatsausdruck, der vielleicht im Kern des Einfachsatzes noch verbleibt und vielleicht den inhaltlichen Kern der Aussage ausmachen könnte, oft gar keine andere Funktion mehr als lange Nominalgruppen miteinander zu verbinden. Als bloße Relationsverben/Abstraktverben (ebd. 242 ff.) überlassen sie es ihren Bezugsstellen-Ausdrücken – den langen und/oder komplexen Nominalgruppen – die Inhalte und Aussagen darzustellen. Der Leser leistet den ganzen Rest, denn diese (kaum verbalen) parataktischen Strukturen führen zu einer extremen Verdichtung und Komprimierung des Satzinhalts schon in einem einzigen Elementarsatz. Eine Folge solcher Sätze wird für den Leser erst recht zu einer Knobelaufgabe. In diesem Sinne ist der „einfache“ Satzbau im öffentlichen Sprachgebrauch nichts als schöner Schein. In Wirklichkeit ist er alles andere als leicht zu verstehen. Die moderne Parataxe ist nicht einfach (wie die Sätze einer Lesefibel), und sie ist nicht einfach komplex (wie der hypotaktische Satzbau der klassischen deutschen Literatur). Sie ist kompakt und, wie ein

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

Kompaktmotor oder das Innere eines Computers, für unvorbereitete Sprecher und Sprachbenutzer außerordentlich schwer „durchschaubar“³⁵. Die satzsemantische Sprachkritik hat deshalb eine präzise Stoßrichtung. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die vorgefundenen Formulierungen in den Texten des öffentlichen Sprachgebrauchs zu paraphrasieren, indem, mit den Worten von Peter von Polenz, „komplexer Inhalt weitgehend durch komplexe sprachliche Ausdrucksmittel dargestellt wird“ (ebd. 25). Insbesondere sollen die komprimierten Einfachsätze jeweils in ein hypotaktisches Satzgefüge, mit Nebensätzen und Satzverknüpfungen konvertiert werden, so dass im Ergebnis „ein hoher Grad von Entsprechung zwischen Inhalts- und Ausdrucksstruktur“ vorliegt (ebd.). Von Polenz korreliert dabei, ohne das explizit zu erwähnen, das bilaterale Zeichenmodell der Strukturlinguistik mit der rhetorischen Unterscheidung von res und verba. Er kritisiert die in seinen Beispieltexten vorgefundenen Formulierungen (den Satzausdruck/die verba) als uneigentliche Formulierungen, um zu zeigen, wie man „ausdrücklich“ formulieren müsste, um einen expliziten Zugriff auf die res/den Satzinhalt zu bekommen (z. B. ebd. 34). Die eigentliche bzw. „ausdrückliche Bedeutung“ dessen, was öffentlich gesagt wird, soll mit der Äußerungsintention der Sprecher übereinstimmen³⁶. Der satzsemantisch vorgehende Sprachkritiker ist sich seines Wissens um das, was der Autor sagt und sagen will, sehr sicher. Auch dieser Erkenntnisoptimismus ist eine wichtige Voraussetzung und Konstante der satzsemantischen Sprachkritik. Obwohl nun die Satzsemantik in Titel, Theorie und Kritik den Anspruch formuliert, „Deutsche Satzsemantik“ zu sein, richtet sie sich doch in der Praxis weder auf das Sprachsystem des Deutschen, noch (als Sprachgebrauchskritik) auf prinzipiell alle Texte und Textsorten, die auf Deutsch artikuliert werden. Sie richtet sich nur auf eine bestimmte Gruppe von deutsch formulierten Texten: auf

 Wie bei einem Kompaktmotor sind diese Nominalgruppen „so komprimiert angeordnet, dass sie unüberschaubar und schwer zugänglich sind“ und dass „die Beziehungen zwischen den Teilen und ihren Funktionen nicht mehr so offen[liegen] wie bei nichtkompakten komplexen Werkzeugen“, also wie bei komplexen hypotaktischen Satzstrukturen (Polenz 21988, 25; vgl. auch ebd. 268 – 273). Syntaktische „Kompaktformen sind Sparformen. […] In unserer heutigen öffentlichen Sprachkultur werden komplexe Inhalte meist verkürzt und ungenau ausgedrückt, um Zeit und Raum zu sparen oder um die Hörer/Leser nicht zu langweilen oder sie zu provozieren oder um etwas zu verschleiern“ (ebd. 24 f.).  Zu verschiedenen Forderungen nach „Eigentlichkeit“ im Kontext von Sprachkritik vgl. Bär (2015), wo nicht nur der ontologische Bezug der verba auf die res behandelt wird, sondern auch der auf Sprecherintentionen.

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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schriftlich verfasste, öffentliche Texte – und das am Beispiel von 10 ausgewählten Textbeispielen (ebd. 10 – 22). Insofern sie die Sätze und Aussagen in diesen Texten als token im Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Textumgebung behandelt, überschneidet sie sich nicht nur mit der Grammatik, sondern auch mit der (pragmalinguistisch ausgerichteten) Textlinguistik. Primär werden gar nicht die einzelsprachlichen Funktionen der syntaktischen und morphologischen Ausdruckselemente untersucht und nicht einzelsprachliche (deutsche) Satzinhalte; es werden individuelle Funktionen in individuellen Texten bzw. Textsorten untersucht und kritisiert. Einzelsprachliche und individuelle Satz-Inhalts-Strukturen geben freilich unterschiedliche Untersuchungsbereiche ab. Aus textlinguistischer Sicht hat Eugenio Coseriu (31994) vor einer Verwechslung dieser beiden Bereiche gewarnt. Als Beispiel führt er die (zum Deutschen gehörigen) Abtönungspartikeln an, die in Kafkas Erzählung „Der Bau“ vom Ich-Erzähler verwendet werden – einem anonymen Tier, das unablässig an seinem Bau gräbt, sich dabei immer wieder gestört und aufgeschreckt fühlt und deshalb fortwährend auf einen noch besseren Bau bedacht ist. Coseriu spitzt zu: In diesem Text drücken diese Abtönungspartikeln (gewiss, zwar, schon, doch usw.) die Unsicherheit dieses fabulösen Tieres aus. Das heißt aber nicht, „die Funktion der deutschen (!) Partikeln sei es, die Unsicherheit eines meisterhaft grabenden und von seltsamen Geräuschen beunruhigten Tieres auszudrücken“ oder auch nur „die Unsicherheit in der Argumentation“ (ebd. 40). Er räumt ein: Zwar geht man auch bei der (grammatischen) Analyse der einzelsprachlichen Funktionen „immer von Texten aus […]. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man die festgestellte Textfunktion einfach mit der erst festzustellenden einzelsprachlichen Funktion identifizieren darf“ (ebd. 39). Vielmehr beläuft sich die einzelsprachliche Funktion der Abtönungspartikeln, die auch in allen deutschsprachigen Texten gilt, allgemein auf „Präzisierung und Einschränkung“. In jedem Text und in jeder Textsorte wird sie individuell angewendet und aufgefasst. Einzelsprachliche Funktionen sind in individuellen Textfunktionen dialektisch aufgehoben, und die „eigentliche Textlinguistik“ besteht darin, dieses dialektische Verhältnis zu beschreiben. Dass Harald Weinrich (62001) zuerst anhand einiger vieler, aber sehr ausgewählter Text- und Tempusvorkommen „besprechende und erzählende Tempora“ unterscheidet, um diese Unterscheidung dann für die Einzelsprache insgesamt geltend zu machen (und sogar für mehrere Einzelsprachen), das ist für Coseriu „ein Irrweg der Textlinguistik“ (Coseriu 31994, 36 – 44). Peter von Polenz weist in der Satzsemantik zwar immer wieder auf Unterschiede zwischen dem allgemeinen (einzelsprachbezogenen) satzsemantischen Modell und seinen kontextsemantischen Variationen hin, bspw. bei der Darstellung der semantischen Rollen (Polenz 21988, 131). Aber dennoch bleibt auch bei

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

ihm das Verhältnis von Satzsemantik und Textlinguistik prinzipiell ungeklärt. Ungeklärt bleibt deshalb auch, wo wann wie das spezifisch satzsemantische Verfahren des hypotaktischen „Genauersagens“ und Zwischen-den-Zeilen-Lesens (das Gleiche anders zu sagen, indem man aus einer langen Nominalgruppe einen Nebensatz macht), angemessen ist: für alle Texte der deutschen Sprache und für den deutschen Satzbau überhaupt, oder nur für einige Texte, Textteile, Textsorten, für welche Texte und Textsorten, für welche Äußerungen und Äußerungsteile … Noch bevor man einen textsortenspezifischen Nominalstil verbal umformuliert, sollte man sich um ein Verständnis seiner – wiederum textsortenspezifischen – Funktion/en bemühen. Dabei ist nach Möglichkeit text(sorten)linguistisch induktiv zu verfahren (Adamzik 2001, 18); die Zielrichtung der Kritik bleibt damit vorerst offen³⁷. Um also die Satzsemantik für eine textsortenspezifische Sprachkritik der deutschen Sprachgeschichten zu verwenden, sind einige grundlegende Änderungen und Ergänzungen nötig. Zunächst einmal benötigt man dafür nicht nur ein anwendungsorientiertes Satzbaumodell, sondern auch eine anwendungsorientierte Zeichentheorie. Den Sprach- und Zeichengebrauch in konkreten Texten zu untersuchen kann nicht bedeuten, von vornherein genauer zu wissen und dann ausdrücklicher zu sagen, was der Autor selbst meint. Es kann nur bedeuten, mit der Analyse und Kritik immer wieder an denjenigen Zeichengebrauch anzuknüpfen, der in diesen Texten selbst einigermaßen regelmäßig vorgefunden wird. Auch die Autoren knüpfen ja mit ihren eigenen Aussagen immer schon an frühere Aussagen und Aussagenteile an (oder nehmen spätere vorweg); fortwährend  Dem Sprachhistoriker Peter von Polenz hat die „Deutsche Satzsemantik“ die Richtung der Kritik an der Sprache seiner eigenen Disziplin vorgegeben: In anderen Publikationen (Polenz 1980b; 1981; 1998) hat er gefordert, die deutsche Sprachgeschichtsschreibung solle für ihre Aussagen regelmäßig verbale Handlungsprädikate verwenden. Er wendet sich damit vor allem gegen die Verwendung von verbalen Vorgangsprädikaten und den sog. „Subjektschub“ (Polenz 2 1988, 186 ff.). Zu sagen, dass „die Sprache Wörter (aus einer anderen Sprache) entlehnt habe“, käme einer „Verschleierung des eigentlichen Agens/Handelnden“ und einer „Deagentivierung“ von Ausdruck und Inhalt gleich. Das Agens solle als Subjekt genannt und deutlich versprachlicht werden; thematisiert werden sollten „Sprecher, die Wörter in ihre Sprache entlehnt haben“. Von Polenz entspricht damit einerseits dem seinerzeit gerade angesagten Paradigmenwechsel mit der Forderung, die Sprachgeschichtsschreibung solle sich von ihrem „pragmatikfernen Formulierungsstil“ lösen. Andererseits steht er mit dieser Kritik in der Tradition der platonischen Rhetorikkritik, die in solchen „übertragenen“ Verwendungen eine Gefahr für die Erkenntnis der Wahrheit sieht. Die Historiker sollen nicht „die konkrete Wirklichkeit menschlichen Handelns“ verfremden, womöglich „systematisch verfremden“ (ebd. 117, 187). Dass die Sprachgeschichten und sogar seine eigene Sprachgeschichte (Polenz I 22000; II 1994; III 1999) viel mehr noch als vom Subjektschub von einem ausgeprägten Nominalstil geprägt sind, das übergeht er allerdings, sowie auch die Frage, wo er wie umzuformulieren sei.

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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wiederholen und reformulieren sie sich (Polenz 1980a, 145; Gülich/Kotschi 1987)³⁸. Dabei stoßen aber der Autor und sein Kritiker gar nicht (von den verba) vor bis zu den res; sie bleiben bei den verba und „zeigen“ Bezüge zwischen ihnen auf. Ich ersetze daher die Dichotomie von Satz-Ausdruck und Satz-Inhalt durch die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce: Zeichen. Alles, was etwas anderes (seinen Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum (Peirce 1901 f./ 2000, 375; dort).

Peirce bestimmt das Zeichen nicht durch das, was es ist, welche Materialität (sprachlich, begrifflich, bildlich) oder welche (z. B. bilaterale oder monolaterale) Struktur es hat. Zeichen ist für ihn „alles, was“ eine bestimmte Funktion hat – und zwar nicht die Funktion, als Stellvertreter, Bezeichnung, Ausdruck für etwas Abwesendes, Beinhaltetes, Eigentliches zu stehen. Am besten lässt sich diese Funktion mit der Rolle eines einzelnen Gedankens im Prozess der Assoziation veranschaulichen. Die gerade zitierte Zeichendefinition ist von Peirce zwar erst spät publiziert worden (in Baldwin’s Dictionary of Philosophy and Psychology von 1901/1902); sie bezieht sich aber deutlich auf seine Theorie vom Gedankenzeichen aus frühen Jahren (Peirce 1868a/1967). Dieser Theorie zufolge kann jeder

 Im Anschluss an die gesprächsanalytischen Forschungen der Ethnomethodologie hat Ludwig Jäger (für sprech- und schriftsprachliche Äußerungen) dargestellt, dass solche Reformulierungen beim Zeichengebrauch keine „korrektive Funktion“ haben, sondern die „konstruktive Funktion“ der „transkriptiven Weiterbearbeitung der Äußerung“ (Jäger 2004, 46). „Die Fähigkeit […] der Sprecher […], sprachliche Zeichen zu paraphrasieren, zu explizieren und zu erläutern, um auf diese Weise den Verwendungssinn von Zeichen transformierend oder affirmierend fortzuschreiben, muss als ein für das sprachliche Wissen konstitutives Vermögen angesehen werden, […] in dem die […] transkriptive Logik der Sprache zur Erscheinung kommt“ (Jäger 2005, 59). Nach Jäger (2012, 14) handelt es sich dabei um die „metaleptische Form der Iteration […], in deren Vollzug das Wiederholte im Akt der Wiederholung erst hervorgebracht wird“. D. h.: „Für alle […] Medien- und Zeichensysteme […] für mündliche Sprache und Schrift […] ist es charakteristisch, dass sie ihre Sinn generierenden und transformierenden Leistungen wesentlich in semiologischen Prozeduren der inter- und intramedialen Bezugnahme organisieren – in Prozeduren, unter denen die Bezugnahmeformen des Überschreibens, Übersetzens, Maskierens und Löschens sicher eine nicht unwesentliche Rolle spielen“ (ebd. 16; Kursiv. dort). Zuvor hatten Gülich/Kotschi (1987, 254 ff.) im Reformulieren durch „Paraphrasen, Korrekturen, Redebewertungen“ eine „Textkonstitutionshandlung“ erkannt (ebd. 207 ff.), die sie, ebenfalls im Anschluss an die Ethnomethodologie, als „Reparatur“-Verfahren untersuchen (ebd. 230 f., 256). Vor allem sehen sie, dass „Reformulierungshandlungen […] weitgehend texttypisch sind“; sie können „zur Erstellung einer Teyttypologie“ dienen (ebd. 257 f.).

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Gedanke zum Zeichen werden, sofern er einen weiteren Gedanken auslöst, der ihn selbst (in etwas anderer Weise) wiederholt, übersetzt oder interpretiert. Das Gedankenzeichen löst einen weiteren Gedanken aus (Peirce nennt ihn Interpretant) und zwar derart, dass es diesen (diesen Interpretanten) dazu „bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum“. Im Prozess der Assoziation löst ein Gedanke einen weiteren Gedanken aus unter der Voraussetzung, dass er (der auslösende Gedanke) an einen noch früheren Gedanken anknüpft, und indem er dies alles tut, bewirkt er, dass der ihm folgende Gedanke den ihm vorausgehenden repräsentieren kann wie er selbst.Weil er das tut, kann er auch selbst wieder einen Interpretanten auslösen und somit die gleichen Funktionen übernehmen wie das Gedankenzeichen, das am Anfang der Definition steht. Der Assoziations- und Denkprozess reißt auf diese Weise nie ab. Man kann nicht aufhören mit dem Denken, und es gibt auch keine Chance auf einen Neubeginn, weil jeder neue Gedanke stets von dem vorbereitet und angeleitet wird, was früher einmal gedacht wurde (Leyhausen-Seibert 2012). Dieses Modell soll auf die satzsemantische Analyse der sprachlichen Aussage übertragen werden. Zwei Zeichenseiten werden nicht unterschieden; die Rede ist deshalb nur von Aussagen/Prädikationen, Prädikaten und Bezugsstellen, aber nicht von deren Ausdrücken (oder von den Inhalten der Prädikatsausdrücke). Ihnen sind, im Sinne der Zeichendefinition von Peirce, syntaktische, morphologische, semantische, pragmatische Interpretanten und Objekte zuzuordnen. (Von einem Satz ist nur dann zu sprechen, wenn sich die Analyse einmal ausschließlich mit der syntaktischen Gestalt und Gliederung, mit den Satzgliedern, Satzgliedteilen, Satzgliedpositionen usw. beschäftigt). Solche Beziehungen aufzuzeigen heißt, an die Praxis der Autoren selbst anzuknüpfen. So, wie man beim Sprachgebrauch immer schon an bereits Gesagtes und Formuliertes anschließt, vielleicht auch an gedanklich (mit unausgesprochenen Gedankenzeichen) Formuliertes, so kann sich auch die Analyse und Sprachkritik immer nur (mehr oder weniger vermittelt) auf Früheres zurückbeziehen. Damit sich der Kritiker dabei aber nicht immer nur auf seine eigenen Gedankenzeichen bezieht, muss er auch die Textumgebung in einem fortlaufenden Rekurs mit einbeziehen. Diese Arbeit ist einigermaßen unbequem, weil sie auf die kommode Konsubstantialitätsrelation verzichtet: Gut verstandene begriffliche Inhalte können nicht fraglos dazu dienen, dem variablen und gegebenenfalls unübersichtlichen sprachlichen Ausdruck eine Struktur zu geben; und bereits bekannte sprachliche Ausdrücke legen ihrerseits keine klaren Grenzen in den komplexen begrifflichen Inhalt hinein³⁹. Legt

 Im Grunde hat die Satzsemantik (wohl als methodische Vereinfachung) Saussures Cours

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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man der kritischen Textanalyse das Zeichenmodell von Peirce zugrunde, dann wird der Anspruch des „Durchleuchtens und Durchschauens, Zwischen-denZeilen-Lesens, Genauersagens“ (Polenz 21988, 4) heruntergebrochen auf ein Anders-Sagen, das dem Erkenntnisoptimismus der Satzsemantik die Grundlage entzieht. Einen sachlichen Grund, diesen Prozess abreißen zu lassen, gibt es nicht. Das Vergehen von Zeit wird also, wie Peirce (1868a/1967, 175) das beschrieben hat, zur wichtigsten Ressource auch der sprachkritischen Einsichtnahme. Aus darstellungstechnischen Gründen kann aber dieser Prozess nicht unendlich verlaufen. Deshalb typisiere ich diejenigen Aussagen, Prädikate, Bezugsstellen, die sich im Rahmen der Textsorte wiederholen. Auch ich sehe also, wie es die Satzsemantik tut, gewissermaßen durch die jeweils aktuellen Zeichen- bzw. Aussagevorkommen (token) hindurch – aber (nach Möglichkeit) nur, um auf andere Formulierungen zu treffen, die an anderen Textstellen sowieso vorkommen. Mit dieser Maßnahme kann man die historische Aussage einerseits zitieren und belegen, hat man sie andererseits aber immer schon, unter Bezug auf andere Zitate und Belege, typisiert und in ihren grammatischen, syntaktischen und pragmatischen Bezügen und Funktionen deutlich vereinfacht⁴⁰. (Darauf bezieht sich die kursive Schreibweise, wie in der Vorbemerkung erwähnt). Da die Satzsemantik nicht textsortenspezifisch vorgeht, müssen ihr auch grammatische, semantische und pragmatische Unterscheidungen entgehen, die für eine Kritik der deutschen Sprachgeschichten unverzichtbar sind.Wie Peter von Polenz es kritisiert hat, tritt die Sprachgeschichtsschreibung mit einem ausgeprägten Nominalstil auf. Sie ist Teil „unserer schwierig gewordenen Sprachkultur“

missverstanden, denn auch dort wurde die Konsubstantialität von Inhalt und Ausdruck bzw. Ausdruck und Inhalt gerade nicht als „Verstofflichung der Gedanken“ bzw. „Vergeistigung der Laute“ angesehen. Denn im Kapitel über den sprachlichen Wert heißt es: „Die Sprache hat […] dem Denken gegenüber nicht die Rolle vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, dass deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt. Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren; es findet also weder eine Verstofflichung der Gedanken noch eine Vergeistigung der Laute statt, sondern es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, dass der ‚Laut-Gedanke‘ Einheiten mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet“ (Saussure 1916/21967, 133). Mit diesem mysteriösen „Laut-Gedanken“ kann man zwischen dem Cours de linguistique générale und Peirce vermitteln.  Eine Typisierung von Aussagen wird, unter den genannten, abweichenden theoretischen Voraussetzungen, auch von Peter von Polenz vorgenommen (in Gestalt von Prädikationsrahmen und Satzbauplänen, vgl. Polenz 21988, 174 ff.).

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

(Polenz 21988, 4). Konstitutiv für die Sprachgeschichten sind allerdings nicht allein die (komprimiert und kompakt formulierten) Nominalgruppen, sondern vor allem die vielen, in ihrem Kontext jeweils verschieden funktionierenden Präpositionalgruppen mit für. Für den syntaktischen und funktionalen Status dieser Präpositionalgruppen interessiert sich die Satzsemantik kaum. Allgemein (gesamteinzelsprachlich) würde sie in ihnen eine zwar kompakt formulierte, aber doch ganze Prädikation sehen, die durch die Präposition für final, d. h. zum Ausdruck eines Zweckes/Zieles, mit ihrem Kontext verknüpft wird (Polenz 21988, 265 ff., bes. 278). Anders als die Grammatik, der man ähnliche Informationen auch schon entnehmen kann (Duden-Grammatik 92016, § 1791), verlangt die Satzsemantik die verbale Auflösung: Ein „Modell für die Neustrukturierung der Weltgesellschaft“ (Maas 2012, 116) wäre umzuformulieren als Modell dafür, dass die Weltgesellschaft neu strukturiert werden konnte, mit der selbstständigen Aussage die Weltgesellschaft wurde neu strukturiert. Größere semantische Differenzierungen werden allerdings nicht vorgenommen. Dass die Prädikate Beispiel (für), typisches Merkmal (für), Verantwortung (für) keine finale Ergänzung/Angabe mit sich bringen, das kann die Satzsemantik nicht sehen. Weil sie hauptsächlich mit ihrer Methode der verbalen Um- und Ausformulierung beschäftigt ist, lässt sie sich auch auf eine differenziertere syntaktische Diskussion dieser und anderer Präpositionalgruppen nicht ein. Ich beziehe mich auf die Beispiele (1– 5) in Kap. 1.3. und verallgemeinere, mit Blick auf alle diese Sätze in ihrer (losen) Gesamtheit: Ganz so, wie die deutsche Grammatik die syntaktische Funktion von Präpositionalgruppen beschreibt (Eisenberg 32006, 191 f.; Duden-Grammatik 9 2016, § 1301 ff.), bilden auch all diese Präpositionalgruppen in den Sprachgeschichten syntaktisch a) ein Satzadverbial bei solchen Aussagen wie: Jemand habe ein tragfähiges Fundament errichtet (und zwar) für oder wäre ein leuchtendes Vorbild gewesen (und zwar) für; etwas wäre eine einzigartige Entdeckung gewesen (und zwar) für oder die wichtigste Schaltstelle (und zwar) für ⁴¹. Das sind im Kontext Aussagen mit syntaktisch zusammengesetzten Handlungs-, Ereignis-, Vorgangs-, Transformations- und Zustandsprädikaten, die sich oft in eine einfache verbale Grundstruktur übersetzen lassen, um bspw. zu sagen, dass etwas geschah/ erfolgte, sich ereignete (und zwar für), dass jemand (etwas) tat/ bewirkte (und zwar für), dass etwas etwas anderes mit sich brachte/ sich besonders auswirkte (und zwar für), dass etwas besteht/ bestand (und zwar für)

 Satzadverbiale sind „ganz freie, d. h. von der Wahl eines Prädikatsausdrucks“ bzw. Prädikats „völlig unabhängige Angaben“ (Polenz 21988, 131). Insofern haben diese Beispiele rein illustrativen Wert.

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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… Die Präpositionalgruppe bildet hier ein eigenständiges Satzglied und kann im Einzelfall auch als präpositionale Ergänzung zu diesem komplexen oder einfach verbalen Prädikat aufgefasst werden. Beispiele finden sich besonders in den Beispielsammlungen (7) in Kap. 1.3., (16) in Kap. 2.4.; angewandt u. a. in den Kap. 4.6.–4.8. und besonders ausführlich diskutiert in Kap. 5.3. (81). b) ebenfalls bei einfachen verbalen oder aber komplexen, mit einem Nomen zusammengesetzten Prädikaten (insbesondere bei Handlungs- und Einstellungsprädikaten) einigermaßen zweifelsfrei die Ergänzung eines präpositionalen Objekts zu diesem (ganzen) Prädikat, angewandt v. a. in Kap. 4.4. mit Beispielen wie kämpfen für, sorgen für, sich einsetzen für, sich interessieren für, Interesse zeigen für, eine Vorliebe haben für … oder c) eine attributive Präpositionalgruppe zu einem Adjektiv (Partizip) oder Substantiv als Nominalprädikat, z. B. bei typisch für, Kennzeichen für, Antrieb/ Modell/Muster für, Bezeichnung für, Argument/Beleg/Zeugnis für (Beispiele in Kap. 4.1.–4.12; Beispiele (81) in Kap. 5.3.). Als Attribut kann sie wiederum eher einem Adverbial ähneln, z. B. wenn etwas erfreulich/prägend/hervorstechend genannt wird (und zwar für), oder eine Erscheinung/ ein Faktor (und zwar für; vgl. die Beispiele für schwache Interpretanten in Kap. 4.13.). Oder das präpositionale Attribut ähnelt eher einer Ergänzung, z. B. bei charakteristisch für/ Charakteristikum für (vgl. dazu Eisenberg 32006, 192). Mit Grammatik und Valenztheorie müsste man an die (allgemeine und besondere) Satzgliedbestimmung die Frage anschließen, ob es sich jeweils (im Allgemeinen und im Besonderen) um eine (obligatorische / fakultative) Ergänzung oder eine (fakultative) Angabe handelt. So könnte man vielleicht eine Funktionsanalyse solcher Präpositionalgruppen auf den Weg bringen, denn die Valenz stellt, anders als andere „syntaktische Regelmäßigkeiten“, welche prinzipiell „theoriegeleitet“ und theorieabhängig sind, „eine unmittelbare Funktion ‚sprachlicher Gegebenheiten‘“ dar (Zifonun 2003, 355). Deshalb sei an dieser Stelle die Satzsemantik durch valenzgrammatische Erwägungen ergänzt: Im Mittelpunkt der Valenzgrammatik steht uneingeschränkt die Valenz der (Voll‐)Verben, d.i. ihre Fähigkeit (ihre „Valenzpotenz“; Ágel 2000, 113 f.), mögliche Satzbaupläne mit ihrer syntaktischen Stellenzahl und Stellenart so festzulegen, dass jeder Sprecher des Deutschen (in jeder Äußerung) fest darauf verpflichtet ist, wenn er sich grammatisch korrekt ausdrücken will⁴². Präpositionalgruppen  „Die Grundannahme“ der Valenztheorie ist, „dass Verben (und andere Wortarten) die syntaktischen Strukturen, in denen sie realisiert werden, dadurch prädeterminieren, dass sie eine bestimmte Zahl und eine bestimmte Art von syntaktischen Ergänzungen (Komplementen) verlangen“ (Welke 2003, 475 f.)

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

spielen dabei eine nebensächliche Rolle, denn ihre „Rektionsbindung“ gilt bei „manchen Verben“ als „unsicher“ (Eisenberg 32006, 268) oder überhaupt bei allen Verben (Zifonun 2003, 361 f.). Die Valenztheorie kann (aus theoretischen und operationalen Gründen, ebd.) nicht zweifelsfrei entscheiden, ob die Präpositionalgruppe bspw. bei kämpfen/kämpfen um/kämpfen für/kämpfen gegen syntaktisch eine Ergänzung oder eine Angabe darstellt, ob sie obligatorisch oder fakultativ ist. Auch wenn sie einräumt, dass solche Präpositionalgruppen (als präpositionale Ergänzungen) durchaus vom Verb „regiert werden“ (Eisenberg 3 2006, 191), streicht sie sie doch aus der Liste ihrer Gegenstände, weil diese Rektionsbeziehung vielleicht nur „ganz an einem Endpunkt“ nur ganz wenige Verben betrifft (Zifonun 2003, 362). Bei Substantiven und deren Attributen sind die theoretischen und methodischen Zweifel noch größer. Obwohl „viele Präpositionalattribute […] dem Verhalten valenzgebundener Einheiten […] scheinbar ziemlich nahekommen (Eisenberg 32006, 263), gehen Grammatik und Valenztheorie deshalb so weit, den Substantiven eine Valenz überhaupt abzusprechen. Weil jedes Substantiv einen Genitiv mit sich bringen könne und weil so ein Genitiv oft variiert werden kann durch eine Präpositionalgruppe (das Geschenk Marias z. B. durch das Geschenk für Maria, ein Erbe der Deutschen durch ein Erbe für die Deutschen, vgl. DudenGrammatik 92016, § 1278; vgl. Kap. 3.7.), weil sogar eine Präposition durch eine andere variiert werden kann (aus einem Einfluss auf kann ein Einfluss für werden usw.), seien „Substantive nicht syntaktisch nach der Stellenzahl subkategorisierbar“ und auch nicht nach der Stellenart (Eisenberg 32006, 268). Zudem handele es sich bei ihnen oft um deverbale Substantivierungen, deren „Valenz“ sowieso nur vom Verb „ererbt“ sei: Aus sorgen für wird die (Für‐) Sorge für, aus sich interessieren für wird das Interesse für usw. (Ágel 2000, 61)⁴³. Die Quantität derjenigen Substantive, die „einen Präpositionalstatus regieren“ und die nicht deverbal abgeleitet sind, sei dagegen zu vernachlässigen (ebd. 60 f.). Aus all diesen Gründen gäbe es bei Substantiven keine Valenz. (Beim adnominalen Genitiv bspw. könne man höchstens von „kategorialer Rektion“ sprechen; Zifonun 2003, 374). Allgemein seien präpositionale Attribute nicht Ergänzungen oder Angaben (Peter Eisenberg spricht von „Komplementen und Adjunkten“), sondern „Modi-

 Ágel (2000, 61) zitiert Herbert Ernst Wiegand (1996): „Durch die Nominalisierung geht […] die Valenz verloren […]. Wer Substantive korrekt verwenden will, […] kann prä- und postponierte Attribute setzen und weglassen; denn eine systemverankerte Eigenschaft von Substantiven, die ihm in dem Sinne strukturelle Korrektheitsauflagen macht, dass er Attribute setzen muss oder nicht, gibt es nicht“. Der Sprecher sei „Sklave der Verben“ und „Herr der Substantivgruppe“ (ebd.). Ágel (2000, 63 f.) diskutiert dieses apodiktische Ergebnis und schwächt es ab, schenkt dann aber der Valenz der Nomen kaum noch Beachtung.

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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fikatoren“, die spezielle, sehr komplexe syntaktische Beziehungen eingehen (Eisenberg 32006, 267). Dieses Ergebnis sollte nun die Satzsemantik vielleicht überzeugen, denn damit wäre immerhin der satzsemantische Befund syntaktisch erläutert, dass mit dem kompakten Nominalstil oft diejenigen Informationen (Bezugsstellen bspw.) verloren gehen, die bei dem entsprechenden verbalen Prädikatsausdruck ausgedrückt werden/ausgedrückt werden müssen (z. B. die finale Ergänzung zu einem substantivierten Handlungsprädikat). Aber weil die Satzsemantik doch gerade diesen Abgrund zwischen „Ausdruck und Inhalt“ beim Nominalstil sprachkritisch behandeln will, ist es ihr viel zu beliebig zu sagen, dass alles, was man einem Substantiv (an Attributen) hinzufügen kann, dieses Substantiv (in seiner prädizierenden Funktion) lediglich „modifizieren“ würde, dass man deshalb die Attribute in Satz und Aussage völlig frei handhaben könne. Von Polenz (21988) fordert eine semantische Zentrierung der Valenztheorie. Seine Begründung ist so kontextsemantisch wie onomasiologisch und ließe sich etwa so zusammenfassen: Jede Bezugsstelle zu einem bestimmten Prädikat, die explizit ausgedrückt werden kann (ob es sich nun um ein Verb, Adjektiv oder Substantiv handelt), wird in irgendeinem Kontext auch einmal (als wichtige Information) notwendig ausgedrückt und darf deshalb von der Valenztheorie auch für die syntaktische Analyse nicht ignoriert werden. „Kontextlos aufgestellte Valenzregeln“ seien „willkürlich“ (ebd. 130 f.). Die Satzsemantik geht deshalb von der entgegengesetzten Vorannahme aus: Substantive gelten ihr prinzipiell als „Valenzträger“ (ebd. 85 u. ö.), und dass das einmal nicht so wäre, das müsste mit dem Kontext belegt werden. Als paradigmatisches Beispiel für diese Argumentation werden die Verwandtschaftsbezeichnungen herangezogen, die in der Valenztheorie zu den sogenannten „relationalen“ Substantiven gezählt werden (z. B. Schwester oder Freund; Ágel 2000, 59; Frosch 2006). Hier zeigt sich, dass das eindeutig negative Urteil der grammatischen Valenztheorie über die Valenz der Substantive nur zustande kommt, weil sie die semantischen Gegenargumente vernachlässigt. Relationale Substantive verhielten sich wie absolute Substantive (wie Haus bspw.): Man könne ihnen einen Genitiv und/oder eine Präpositionalgruppe attributiv zuordnen, man könne es aber auch lassen. Eine Valenz als Fähigkeit, „Leerstellen […] obligatorisch zu eröffnen“ (Ágel 2000, 61), hätten deshalb auch diese Substantive nicht⁴⁴. Dem hält die Satzsemantik entgegen: Unter semantischem Aspekt sind diese Substantive, darunter Verwandtschaftsbezeichnungen und Bezeich-

 Ágel (2000, 64) sieht bei ihnen keine „Valenzrelation“ der „Notwendigkeit“, nur eine der „inhaltlichen Spezifizität“.

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nungen für soziale Rollen, zweifelsfrei „zweistellig“. „Ein Sohn ist immer ein Sohn von jemandem […] Man bezieht sich auf zwei Referenzobjekte, und sagt darüber das Prädikat aus“ (Polenz 21988, 111 ff.). Selbst wenn in einem konkreten Kontext (bei der „Valenzrealisierung“) die zweite Bezugsstelle vielleicht syntaktisch ausgespart und nicht explizit ausformuliert wird, dann ist ein „sprachimpliziter“ Bezug auf die zweite Bezugsstelle doch immer mitgegeben (ebd. 132). So oder so wäre die zweite Bezugsstelle (neben dem Subjekt) deshalb als notwendige Ergänzung zu bewerten, die vom Prädikat regiert wird. Solche Prädikate sind semantisch zweistellig und syntaktisch zweiwertig.Wer bspw. unbestimmt über alle Söhne dieser Welt sprechen würde, der würde sprachimplizit auch über alle Eltern dieser Welt sprechen⁴⁵. In so einem Kontext müsste freilich die zweite Bezugsstelle zum Prädikat gar nicht ausformuliert, sondern könnte (wiederum aus kontextsemantischen Gründen) weggelassen werden. Deshalb ist auch der satzsemantische Rigorismus in Bezug auf die relationalen Substantive zu modifizieren. Deren zweite Bezugsstelle ist nicht nur eine notwendige Ergänzung, sondern zugleich auch eine „weglassbare Ergänzung“: Sie ist für den intellektuellen Umgang mit der Äußerung prinzipiell notwendig, kann aber weggelassen werden, ohne dass die Äußerung dadurch „ungrammatisch“ wird (Duden-Grammatik 92016, § 1172) bzw. im jeweiligen Kontext inakzeptabel (Nikula 2003, 500). Solche weglassbaren Ergänzungen, die seit einiger Zeit schon als „Gretchenfrage der Valenztheorie“ gelten (ebd. 499; Ros 2011, 145), die aber in der Satzsemantik (Polenz 21988) nur kurz erwähnt wurden⁴⁶, scheinen mir die Schnittstelle zwischen der syntaktisch und der semantisch „zentrierten“ Valenztheorie zu sein. Wo nämlich die Voraussetzungen diskutiert werden, die diese Weglassbarkeit (bei Verben) begünstigen, da werden syntaktische und semantische Voraussetzungen der jeweiligen Lexeme genannt (Nikula 2003, 500). Gesamteinzelsprachlich allerdings sind die Voraussetzungen und Funktionen der notwendigen, weglassbaren Ergänzungen nicht festzulegen. Angelika Storrer (2003) hat semantisch-pragmatische Kontextbedingungen dafür untersucht, aber

 Aus der Sicht eines Logikers wird die Zweistelligkeit von Frosch (2006) bestritten: Eine „Verwandtschaftsbezeichnung“ wie Tochter habe (als Musterbeispiel für relationale Nomina) als kontextunabhängige Bedeutung ein nur „einstelliges Kernprädikat“ (ebd. 137), welches Frosch allerdings nicht darstellen kann, außer mit dem völlig unzureichenden Merkmal ‚weiblich‘. Die relationale Bedeutung sei dagegen nur in einem bestimmten Kontext gegeben, wenn nämlich „das Nomen in einer Possessivkonstruktion steht“ (ebd.). Diese Bedeutung kann Frosch aber ebenso wenig erläutern, weil er (mit der logischen Herangehensweise) gegebene Kontexte gar nicht heranzieht.  „Man muss mit fakultativen/weglassbaren Ergänzungen (Helbig) oder mit mehreren Valenzen eines Lexems rechnen“ (Polenz 21988, 56, vgl. auch ebd. 90).

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bei derartigen Untersuchungen stellt sich immer das Problem der Vergleichbarkeit einzelner Äußerungen in einzelnen Kontexten. Einigermaßen invariante Kontextbedingungen sind mit der Textsortenzugehörigkeit gegeben, die freilich von Grammatik und Valenztheorie bislang viel zu wenig beachtet wird. Würde man diesen Schritt gehen und die Textsortenzugehörigkeit von Valenzträgern berücksichtigen, dann wäre Valenz nicht mehr allgemein seine „Disposition für eine bestimmte Rektion […] in beliebigen Sätzen seiner Umgebung“ (Zifonun 2003, 355, mit Eisenberg). Valenz wäre die Disposition eines Valenzträgers für eine bestimmte Rektion in beliebigen Sätzen der textsortenspezifischen Umgebung textsortenspezifischer Aussage- und Handlungstypen⁴⁷. Mit der satzsemantischen Voraussetzung, dass Substantive wie Adjektive und Vollverben eine Valenz haben, und mit einer textsortenspezifischen Ausrichtung nehme ich deshalb an: In den Sprachgeschichten des Deutschen bildet die Präpositionalgruppe mit für – nicht in jedem Einzelfall ihres Vorkommens, aber doch in sehr vielen Fällen – eine notwendige und zugleich weglassbare Ergänzung. Man berücksichtige dazu die folgenden syntaktischen Beobachtungen: 1. In den Sprachgeschichten werden viele (deverbale und nicht deverbale) „relationale“ Substantive/Substantivierungen regelmäßig verwendet, deren Valenzpotenz die Präpositionalgruppe mit für als attributive Ergänzung uneingeschränkt zuzurechnen ist, beispielsweise Merkmal/Kennzeichen für, Beispiel/Anzeichen für, Grundlage/Voraussetzung/Bedingung für, Gefahr/Nutzen für, Erfolg/Sieg für, Vorliebe für, Bewusstsein für, Instrument für, Zeichen für, Ursache für, Argument/Beweis für, Zeugnis/Dokument für, Quelle für u. a. m. Zwar kann das präpositionale Attribut häufig durch ein Genitivattribut variiert werden. Semantisch ändert sich aber dadurch nicht viel: Wenn die Historiographen etwa davon reden, dass der Ablaut, die zweite Lautverschiebung, bestimmte Wortbildungsmöglichkeiten, die Satzklammer oder das erweiterte Attribut ein (typisches) Merkmal oder (wichtiges) Kennzeichen sind, dann müssen sie die Präpositionalgruppe mit für (oder ein Genitivattribut als Variante) früher oder später setzen, damit der Text als Satz-, Aussage- und Handlungsfolge semantisch und auch grammatisch akzeptabel bleibt. Zudem

 Vielleicht schlägt sich in der negativen Bewertung der Substantivvalenz die Textsortenblindheit der Valenztheorie nieder, welche entweder isolierte, kontextlose Einzelsätze als Beispiele diskutiert oder Sätze aus einem ausgefallenen (oft literarischen) Text und Kontext. Textsortenspezifische Valenzen, Valenzpotenzen und Valenzrealisierungen (zudem in textsortenspezifischen syntagmatischen Mustern) werden m.W. nicht thematisiert, auch nicht bspw. bei Vilmos Ágel (2017): Grammatische Textanalyse. Berlin/Boston. Pragmatische Ansätze der Valenztheorie beziehen sich auf Situation, Intention, kommunikative Inhaltsbereiche, aber nicht auf (komplexe) Textsorten (Ros 2011).

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lässt sich dieser Anschluss mit für, soweit es sich um deverbale Nominalisierungen handelt (Voraussetzung aus voraussetzen, Bedingung aus bedingen), oft gar nicht auf die Valenz des zugrundeliegenden Verbs zurückführen; er ist nicht von ihr „ererbt“ (Ágel 2000, 59). Im Rahmen der Textsorte werden diese relationalen Substantive (mit der Ergänzung mit für) sehr häufig in Kopulasätzen verwendet, und hier erkennen sogar Grammatiker an: In einem Kopulasatz ist das prädikative Substantiv (wie das prädikative Adjektiv) als Prädikatsnomen nicht nur selbst syntaktische Ergänzung (zum Kopulaverb), sondern „es hat auch Einfluss auf andere Ergänzungen und verhält sich in dieser Hinsicht ähnlich wie ein Vollverb“ (Eisenberg 32006, 88). Der Gebrauch der Substantive entspricht dabei dem der Adjektive. Als Prädikatsnomen in einem Nominalverbgefüge (in diesen Kopulasätzen) ersetzen sie beide mit ihren Begleitern systematisch die Vollverben und deren Bezugsstellen. Indem die Historiographen im Nominalstil schreiben, verzichten sie (beispielsweise) weitläufig auf transitive Handlungsprädikate und gleichzeitig auf die von Handlungen betroffenen/berührten/affizierten Objekte (Polenz 2 1988, 170 f.) als deren notwendige Ergänzung im Akkusativ. Obwohl doch die Darstellung von Handlungen und Handlungsobjekten für eine erzählende Geschichtsschreibung besonders wichtig wäre, verwenden die Historiographen lieber Nominalisierungen. Sie sagen nicht, dass eine historische Person (wie Otfried, Luther, Schottelius) etwas vorbereitete, bewirkte, beeinflusste, förderte, bestimmte oder verantwortete, wobei die Akkusativergänzung syntaktisch und semantisch absolut notwendig wäre (bei be-Verben oder bei Verben mit „terminativer“ Aktionsart; vgl. Nikula 2003, 500). Stattdessen formulieren sie, dass die historische Person (vorbereitend) wirksam, einflussreich, förderlich, bestimmend, verantwortlich war – und unterschlagen dabei systematisch das davon jeweils betroffene Objekt. Durch diese Nominalprädikate wird aus einem eher narrativen Verbalprädikat, mit dem der Vollzug einer gerichteten Handlung oder eines gerichteten Vorgangs erzählt werden könnte, ein einigermaßen abstraktes und ungerichtetes Prädikat, denn mit dem Wortartenwechsel verlieren diese Prädikate ihren auf ein Objekt und Ziel ausgerichteten Charakter. Weil das aber offenbar für die Geschichtsschreibung nicht opportun ist, geben die Historiographen ihnen durch die Attribuierung mit einer Präpositionalgruppe mit für Richtung und Ziel zurück. Das Gleiche gilt für die Substantive in diesen Kopulasätzen (und darüber hinaus): Vielfach ist die Rede von einer (bestimmenden) Wirkung für etwas, einem (förderlichen) Einfluss für etwas, von einem einflussreichen Wegbereiter für etwas usw. usf. Wo beispielsweise Adolf Bach von „deutschen Ersatz-

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wörtern“ (Bach 91970/1986, 334 f.) spricht, da erzählt er im Kontext nicht, was (wo wie) durch diese Wörter ersetzt wurde/worden ist. Er wiederholt aber im weiteren Kontext (über viele Seiten hinweg; ebd. 309 – 336 u. ö.) bei der Rede über einzelne solche Wörter mehrfach, dass sie einen Ersatz für ein Fremdwort darstellen, für lauter lateinische, französische, englische Wörter, die (in Gestalt dieses wichtigen Erfahrungsbegriffs vom Fremdwort) diesem nationalistisch eingestellten Historiographen die Richtung der Geschichte und Geschichtsschreibung vorgeben. Mit diesen nominalen Prädikaten und dieser Präpositionalgruppe inszeniert der Historiograph das Ziel der Geschichte als Handlungsfokus der Geschichtsschreibung. Er macht deutlich: Für die Fremdwörter und ihren Ersatz wirken sie beide, denn für die Fremdwörter muss und musste ein Ersatz her! Anhand solcher Formulierungen kann sich der Leser die entsprechenden historischen Handlungen und Vorgänge des Ersetzens vorstellen, auch wenn sie ihm nicht erzählt werden. Und er bekommt noch einen textsortenspezifischen semantisch-pragmatischen Zugewinn (Kap. 1.4.). Wenn die Historiographen in den Sprachgeschichten Verbalprädikate verwenden, dann verhalten diese sich nicht anders als die Nominalprädikate (Substantive wie Adjektive). Auch sie werden regelmäßig und weitläufig von einer Präpositionalgruppe mit für begleitet. Als Variation zum Nomen wählen die Historiographen narrative Vollverben (Einstellungs- und Handlungsprädikate), denen zufolge man sich in der Vergangenheit für die deutsche Sprache interessiert und eingesetzt habe oder für sie gekämpft und gearbeitet. Die Historiographen wählen Verben mit einer (im Einzelfall mehr oder weniger) notwendigen präpositionalen Ergänzung mit für. Dabei wird die valenztheoretische Argumentation geradezu auf den Kopf gestellt. Denn nicht die Substantive „erben“ die Valenz der Verben; in den Sprachgeschichten erben die narrativen Verbalprädikate die Valenz von den aus ihnen abgeleiteten Substantiven. Weil die Historiographen systematisch zweistellig, relational von Folgen und Wirkungen der Ereignisse für etwas anderes sprechen, können sie auch verbal sagen, dass aus den Ereignissen irgendetwas folgte für etwas anderes, dass die Ereignisse für etwas anderes wirkten usw. Der textsortenspezifische Gebrauch der abstrakteren Vorgangsprädikate wie auch der Nominalverbgefüge, die vielfach nur als semantisch-verblasste Relationsverben verwendet werden (Polenz 21988, 242 ff.), schließt daran an. Verben wie erfolgen (für), festwerden (für), sich vollziehen (für) werden systematisch von einer Präpositionalgruppe mit für begleitet. Dadurch wird mit Nachdruck ergänzt, dass etwas geschehen ist oder geschah für etwas anderes. Mit der Präpositionalgruppe kann gerade derjenige Historiograph, der nicht (mit opulenten Handlungs- und Vorgangsprädikaten) erzählt, das Ziel der Ge-

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1 Einleitung: Die verrückte historische Aussage mit für

schichte und Geschichtsschreibung besonders deutlich herausarbeiten, und, weil die Präpositionalgruppe mit für so häufig vorkommt, sogar viele Ziele. Das wichtigste semantische Argument gegen Substantivvalenz aus den Reihen der Grammatiker lautet: „Feste Kodierungen für semantische Rollen“ gäbe es bei Substantiven nicht (Eisenberg 32006, 267). Aber für die Abfassung ihrer Sprachgeschichten wählen die Historiographen vorzugsweise zuerst einmal solche zweistellig-relationalen Substantive, welche eine Präpositionalgruppe mit für als notwendige, aber weglassbare Ergänzung mit sich bringen und dabei immer wieder dieselbe semantische Rolle fixieren. Und diese Valenz dieser Substantive mit dieser Ergänzung in dieser semantischen Rolle ist die Voraussetzung dafür, dass die Präpositionalgruppe (mit eben dieser Rolle) auch vielen anderen Prädikaten hinzugefügt werden kann und hinzugefügt wird: anderen Substantiven und Adjektiven, vielen Verben und vielen Nominalverbgefügen⁴⁸. Bezogen auf die Textsorte der Sprachgeschichte, auf den Typ der historischen Aussage und den typischen, textsortenspezifischen Wortschatz (im prädikativen Kern von Aussage und Text) bildet sie eine notwendige Ergänzung, die genauso weglassbar wie hinzufügbar ist. Wenn aber diese Weglassbarkeit und Hinzufügbarkeit als Einwand genommen würde gegen Substantivvalenz (in dieser Textsorte), dann wäre sie auch ein Einwand gegen Adjektiv- und Verbvalenz (in dieser Textsorte). Und wenn man gar den Schluss ziehen wollte, Präpositionalgruppen nicht zur Valenz (des textsortenspezifischen Wortschatzes) dazuzuzählen und sie nur als „Modifikatoren“ für Prädikate und Prädikationen zu bewerten, dann wäre die Valenztheorie für diese wichtige Textsorte irrelevant – und im Übrigen: für die vielen anderen deutschsprachigen Texte und Textsorten im Nominalstil auch. Mit ihrem so zwingenden wie kreativen Potential ist diese Ergänzung der Präpositionalgruppe mit für „ein potenter Faktor bei der Textgestaltung“ (Nikula 2003, 499). Aufgabe der vorliegenden Untersuchung der historischen Aussage mit für ist es, die mit ihr einhergehende semantische Rolle in all ihren semantischpragmatischen Facetten und mit all ihren syntaktischen Variationen – in der textsortenspezifischen Umgebung textsortenspezifischer Satz-, Aussage- und Handlungstypen – zu beschreiben. An der Art dieser semantischen Rolle bemisst sich, ob die präpositionale Ergänzung zum besseren Textverständnis verbal ausformuliert werden sollte, wie die Satzsemantik das fordert. Um das zu beur Als Nominalverbgefüge bezeichne ich die aus Nominalverb und Nomen zusammengesetzten Prädikate, die von Polenz als „Nominalprädikate“ bezeichnet: zusammengesetzte Prädikate mit „idiomatischer/phraseologischer Bindung“, wo „das Verb durch kein anderes Verb ersetzt werden kann“ (Polenz 21988, 114), wie z. B. ein Fundament errichten, das allerdings nur „wenig lexikalisiert“ ist (Polenz 1987, 176).

1.7 Zur Methode der Untersuchung: Satzsemantik, Zeichentheorie, Valenzgrammatik

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teilen (wie auch die Variation der Präpositionalgruppe durch andere Wortgruppen, den Artikelgebrauch in ihr, ihre illokutiven Funktionen und lexikalischen Bedeutungen), ziehe ich bei Bedarf die Duden-Grammatik (92016) und zusätzliche, einzelproblembezogene Darstellungen heran. Prinzipiell ist diese Vorgehensweise durchaus im Sinne der Satzsemantik, denn sie bekennt sich zu „eine(r) vereinfachende(n) Kombination verschiedener theoretischer Ansätze, die nicht säuberlich auseinandergehalten und nicht auf gelehrte Weise diskutiert werden“ (Polenz 21988, 4).Wer sich kritisch mit Texten auseinandersetzt, deren Autoren mit ihrem kompakten Nominalstil Risiken eingehen, der darf auch selbst in seiner methodischen Herangehensweise risikofreudig und angreifbar sein.

2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen (Das telische für) 2.1 Theoretische Begriffe gehören in die Einleitung einer Sprachgeschichte Eine Kritik der Geschichtsschreibung beginnt traditionell mit einer Kritik ihrer begrifflichen Instrumente, die zugleich auch sprachliche Instrumente sind. Die Sprachhistoriker und die Historiker gehen normalerweise davon aus, dass ihnen Begriffe wie die Sprache, die deutsche Sprache, der Sprachwandel, die Sprachentwicklung, die Sprachgemeinschaft, das Deutsche, das Hochdeutsche, das Niederdeutsche, der Dialekt, die Schriftsprache, die gesprochene Sprache u. a. m. zur Klassifikation der historisch überlieferten Sachverhalte bereitstehen müssten. Als Wissenschaftler sind sie der Überzeugung, dass sie das gleichlautende Wort oder Syntagma genau definieren müssten, um es dann als klassifikatorischen Begriff auf präzise zeitspezifische Einzelsachverhalte anzuwenden. Die überlieferten Vorgänge, Ereignisse, Sachverhalte sollen unter einen wohldefinierten Begriff subsumiert und mit den entsprechenden Wörtern oder Wortgruppen unmissverständlich bezeichnet, sie sollen terminologisch in die wissenschaftliche Begriffswelt eingeordnet werden¹. Das gilt nicht allein in sprach-/historischen Spezialpublikationen. Das gilt besonders auch in einem überblicksartigen propädeutischen Sprach-/Geschichtsbuch (einer Geschichte der deutschen Sprache), wo die Darstellung historischer Sachverhalte mit dem Anspruch verbunden wird, studentische Leser in die wissenschaftliche Disziplin und Begriffswelt einzuführen. Hier wie da soll festgelegt werden, was ein historisch überlieferter Sachverhalt ist, genauer: was er für den Fachmann ist, als was er sich ihm darstellt und zu welcher wissenschaftlichen Kategorie er gehört. Manchmal werden Aussagen dieses Typs dann gleich als „historische Aussagen“ bezeichnet. Selbst ein Historiker und Geschichtstheoretiker, der die narrative Qualität der Geschichtsschreibung herausstellt und die Funktion der Begriffe darin problematisiert (solcher Begriffe wie Krieg, Politik, Roman, Religion), der hält daran fest: „Eine historische Aussage“ ist eine „Aussage der Form ‚dieses Ereignis gehört zur Literatur, zum Roman, zur Religion‘“ usw. (Veyne 1990, 101), und Sprachhistoriker könnten ohne Weiteres hinzufügen: zur deutschen Sprache, zum Hochdeutschen,

 Zur Wissenschaftssprache allgemein vgl. Kretzenbacher (1997) und Roelcke (1999). Zum Verhältnis von Wissenschaftssprache und Umgangssprache, insbesondere ihrer Semantik, z. B. die Beiträge in Niederhauser /Adamzik (1999). https://doi.org/10.1515/9783110699609-004

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zum Althochdeutschen, zur Literatursprache, zur Schriftsprache, zum Dialekt, zum Sprachwandel, zum Wortschatz, zum deutschen Wortschatz, zur Literatur, zur Kultur, zum Humanismus, zum Nationalismus, zum Purismus usw. Teilt man diese anspruchsvolle Voraussetzung, dann sind die Klagen desselben Historikers nur allzu verständlich. Solche Begriffe sind keine wissenschaftlichen Begriffe. Vielmehr „sieht [es] so aus, als enthielten sie den ganzen konkreten Reichtum der Ereignisse, die ihnen subsumiert werden“ (ebd. 94); für die Sprachgeschichtsschreibung: den ganzen konkreten Reichtum der Erfahrungen, die wir mit Wort und Begriff von der Sprache, der deutschen Sprache, dem sprachlichen Wandel ², dem Deutschen, dem Hochdeutschen, dem Niederdeutschen, den Dialekten usw. gemacht haben. Was man mit diesen Begriffen/begriffsbildenden Wörtern wie auch mit denen von Krieg, Politik, Religion verbindet, sind all diejenigen Formen von Sprache, deutscher Sprache, Sprachwandel, von Politik und Religion und all die Kriege, die man erlebt und von denen man erfahren hat. Es sind Größen „der lebensweltlichen Erfahrung“ (ebd.). Das aber macht sie zu „schlechten Werkzeugen“ für die Geschichtswissenschaft, denn sie sind „so bedeutungsreich, dass sie jede Definition sprengen“ (ebd.)³. Paul Veyne spricht deshalb nicht einfach von „Begriffen“ („concepts, idées, notions“), sondern von „historischen Begriffen („concepts historiques“, Veyne 1990, 94 ff.; 1971/1996, 179 ff.). Als ob er das Problem gleich selbst veranschaulichen wollte, verwendet er das Adjektiv historisch bei der Rede vom historischen Begriff in einem völlig anderen Sinn als bei der historischen Aussage: Die historische Aussage als verlässliche Aussage des professionellen und wissenschaftlich vorgehenden Historikers muss mit Begriffen auskommen, die als historische Begriffe der unübersichtlichen Lebenswelt entstammen und die sich deshalb gegen die wissenschaftliche Definition und vielleicht gegen die wissenschaftliche Arbeit überhaupt sperren. Der Historiker muss sich festlegen auf Aussagen der Art: Es gab „zu einer bestimmten Zeit Krieg […] und zu einer anderen eine Revolution“, aber mit dem allgemeinen

 Man muss kein Sprachhistoriker sein, um Erfahrungen mit sprachlicher Veränderung und sprachlichem Wandel zu machen, selbst wenn diese sich nur auf eine vergleichsweise kurze Zeitspanne beziehen. Jeder kann Variation und Veränderung im Sprachgebrauch beobachten und die Erfahrung „der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ machen (Cherubim 2012/2017). Daraus wurde abgeleitet, dass auch die Gegenwartssprache Gegenstand der historischen Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte ist (Cherubim/Objartel 1981).  „Die Revolution enthält alles, was wir unter diesem Namen jemals kennengelernt haben, aber keinen essentiellen Kern, den man begrifflich definieren könnte […]“ (Veyne 1990, 94). „Religion est le nom conventionnel que nous donnons à un ensemble d’aggrégats qui sont très différents entre eux. […] on entend généralement le mot dans tous les sens à la fois“ (Veyne 1971/1996, 185).

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Wort- und Begriffsverständnis „zu sagen, der Pelopponnesische Krieg sei ein Krieg gewesen, heißt, sich schon weit vorwagen“ (Veyne 1990, 92). Dem Lexikographen und dem Wörterbuchbenutzer mag diese Klage übertrieben scheinen. Schließlich nennt Paul Veyne als Beispiele vor allem Gattungsbezeichnungen/Nomina appellativa mit einer durchaus nicht vagen – einmal mehr abstrakten, einmal mehr konkreten – Bedeutung, und schließlich richtet sich der Aufwand des Lexikographen auf genau solche Gattungsbezeichnungen⁴. Wörter wie die Sprache, das Deutsche, den Sprachwandel, die Revolution und den Krieg semantisch zu bestimmen, das ist des Lexikographen tägliche Übung. Trotzdem sind seiner Wortdefinition die Zweifel an der Definierbarkeit solcher Wörter/Wortbedeutungen durchaus anzumerken. Er nennt sie vorsichtig „Bedeutungserläuterung“ (Reichmann 2012, 286 ff.) und macht damit deutlich, dass eine solche „Definition“ eine (praktisch, kognitiv und sprachlich vollzogene) lexikographische Praxis ist, in welche die historisch-begriffliche und -sprachliche Erfahrung des Lexikographen immer mit eingeht. „Im Visier des Lexikographen“ ist ein „Bedeutungsgespinst, […] dessen Teil er […] selbst ist“ und in dessen Erläuterung er auch die Erfahrungen seiner Adressaten mit einzubeziehen hat (ebd. 224). Um ein solches semantisches Gespinst zu erläutern, verweist er onomasiologisch und semasiologisch regelmäßig auf andere Erläuterungen, auf Synonyme/Heteronyme einerseits, auf andere Bedeutungen und Bedeutungsgespinste andererseits. Das heißt: In dem Maße, indem er Bedeutungen „definiert“ bzw. „erläutert“, markiert er die einmal festgelegte „Definition“ doch gleichzeitig wieder als offen hin zu anderen. Auch relativiert er sie, indem er ihr „anschauungsorientierte“ Verwendungsbeispiele (Belege, übliche Syntagmen und Wortbildungen) hinzufügt, die seine Erläuterung einerseits stützen, die ihr andererseits aber einen historischen (konnotativen, deontischen, pragmatischen, textsorten- und sozialstilistischen) Horizont hinzufügen, der mit der gegebenen „begriffsorientierten“ Bedeutungserläuterung tatsächlich nicht einzufangen ist⁵.

 Laut Satzsemantik bildet man mit Gattungsprädikaten „Aussagen über die Zugehörigkeit eines Objekts zu einer Gattung/Klasse“; und „die Gattungszugehörigkeit gehört zu den essentiellen (nicht akzidentiellen) Eigenschaften eines Objekts“ (Polenz 21988, 164). Von Polenz (ebd.) zählt dazu nicht nur Individuativa/Einzeldingbezeichnungen (der Krieg, die Revolution, die (deutsche) Sprache, der Dialekt, das Substantiv, das Wort), sondern auch Kollektiva (also Kollektivprädikate wie der Wortschatz, der Satzbau, das Deutsche, der Humanismus, der Nationalismus) und wohl auch die „beliebten“ oft artikellosen Abstraktsubstantive „für eingebettete Prädikate“ (ebd. 147): In das Prädikat Sprache ist die Aussage eingebettet, dass (sie) gesprochen wird; in Sprachwandel, dass sich (die) Sprache wandelt, usw.  Zu den unterschiedlichen Typen lexikographischer Bedeutungserläuterungen, insbesondere zur kompakten vs. diffusen Erläuterung, die das „Bedeutungsgespinst“ eines Lexems jeweils anders strukturiert, vgl. Reichmann (2012, 286 ff., 320 ff.).

2.1 Theoretische Begriffe gehören in die Einleitung einer Sprachgeschichte

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Auch vor dem Hintergrund der lexikographischen Praxis muss man deshalb die Klage des Historikers ernst nehmen: Solche Begriffe der historischen Erfahrung wendet man intuitiv an. Als gebräuchliche Wörter geben sie uns durchaus „sprachlich etwas zu wissen“ (vgl. Reichmann 21976, 7). Aber weil wir nicht immer wissen, „was wir wissen“, erleben (auch) die Historiker manchmal „unangenehme Überraschungen, wenn das Wort nämlich in bestimmten Verwendungszusammenhängen falsch klingt oder anachronistisch“ (Veyne 1990, 95 f.)⁶. Wie jeder andere Sprecher auch kann der Historiker vermeiden, mit solchen Wörtern „Unsinn zu reden“, aber dennoch bleiben sie semantisch „verschwommen“ und „nicht klar abgegrenzt“ (ebd. 96, 102). Für die präzise begriffliche Einordnung eines historischen Sachverhalts in ein wissenschaftliches Kategoriensystem sind sie ungeeignet (ebd. 93). Die historiographische Herausforderung im Umgang mit solchen Wörtern (und den damit verbundenen historischen Begriffen) liegt also offenbar gerade nicht darin, sie abschließend zu definieren und zu terminologisieren, sondern darin, mit ihrer historischen Offenheit angemessen umzugehen. Dem Historiker mag das „paradox“ erscheinen (ebd. 96, 102). Die vorliegende Analyse geht aber von der Hypothese aus, dass nicht die historischen Begriffe (die begriffsbildenden Wörter und Syntagmen) in der historischen Aussage paradox sind, sondern die Erwartungen, die die Historiker an sie richten. Sie setzen sie theoretisch und praktisch in einen falschen Verwendungskontext, wenn sie sie in historisch-wissenschaftlich subsumierenden Aussagen unterbringen und derart Fachbegriffe aus ihnen machen wollen⁷.

 „[…] wir wissen sehr viel mehr über die Revolution, als jede mögliche Definition uns sagen kann, aber wir wissen nicht, was wir wissen, und das bereitet uns manchmal unangenehme Überraschungen, dann nämlich, wenn das Wort in bestimmten Verwendungszusammenhängen falsch klingt oder anachronistisch“ (Veyne 1990, 95 f.). „[…] citons ‚capitalisme‘ et ‚bourgeoisie‘, qui sonnent faux dès qu’on applique ces notions à l’Antiquité. […] tout professionnel connaît un jour ou l’autre cette impression qu’un mot ne colle pas, qu’il sonne faux, qu’il est confus, que les faits n’ont pas le style qu’on attendrait d’eux d’après le concept sous lequel on les range […]“ (1971/1996, 175).  Neben dem üblichen Ein-/Eindeutigkeitspostulat, mit dem seit der Aufklärung das Ideal vom präzisen wissenschaftlichen Wortschatz beschworen wird (Reichmann 1995), steht (seit Herder) auch ein entgegengesetzter Traditionsstrang der „Kritik der Wissenschaftssprachen“: Nicht die Sprache/der Sprachgebrauch habe sich den Präzisionsforderungen der Wissenschaft anzupassen, sondern die Wissenschaft sich der Vieldeutigkeit der Sprache/des Sprachgebrauchs (Ehlich 1997, bes. 957 f.; Kretzenbacher 1997, 134). Heute wird meistens eine Position dazwischen eingenommen. Obwohl z. B. Clemens Knobloch (1987, 56: über die Humanwissenschaften) einerseits davon ausgeht, dass „ein wirklich terminologisierter Ausdruck […] seine Assoziationen und Anschlussstellen zur Alltagserfahrung zurück[lässt]“, weil „fachsprachliche Termini […] für Begriffe, nicht für Komplexe“ stehen (ebd. 57; 59), schreibt er doch auch über „Alltagstypisierung“ und „Referenzfiktion“ in der Wissenschaftssprache (Knobloch 1999, 225 ff.): „Aus der allgemeinen und

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Für die geschichtstheoretische Argumentation in Kapitel 2 und 3 (über die Strukturen und die Zeichen der Geschichtsschreibung im Medium der historischen Aussage) halte ich mich im Wesentlichen an Paul Veyne und seine Kritik der Geschichtsschreibung (Veyne 1971/1996 und deutsch 1990, wo das französische Original allerdings nur lückenhaft übersetzt ist und ganze Abschnitte fehlen). Dieses nicht mehr junge Buch ist in der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung meines Wissens bis heute nicht rezipiert worden. Ich beabsichtige kein Referat und keine historische Lektüre, sondern greife mir einige seiner geschichtstheoretischen Reflexionen zur Anwendung heraus. (Seine Überlegungen sind selbst „aggregativ“ im besten Sinne und bieten sich zu einer Rezeption im Detail an). Bemerkenswert sind sie, weil Veyne aus der Forschungs- und Formulierungspraxis des Historikers heraus den Prozess der historischen Erkenntnis mit der sprachlichen Gestaltung der Geschichtsschreibung zu verstehen versucht. Eine Wort- und Begriffskritik stellt er deshalb an den Anfang, und eine Unterscheidung von Wort und Begriff, von Wort- und Begriffskritik ist deshalb für ihn verzichtbar. Die problematisierten Einheiten (la ‚guerre‘, le ‚nationalisme‘, la ‚révolution‘, la ‚ville‘; Veyne 1971/1996, 174– 180) bezeichnet er manchmal als „Begriffe/ concepts“, die er metasprachlich (mit Anführungszeichen oder Kursivschrift als Begriffszitate) kennzeichnet. Hier und da verzichtet er auch auf diese Kennzeichnung (so dass sich Begriff und Sache zum Verwechseln ähneln, und bestenfalls der Aussagekontext festlegt, worüber er gerade spricht). Und immer wieder zitiert er explizit Einheiten, die er als „Wörter“ bezeichnet, z. B. „les mots d’assistance, de don, de sacrifice, de crime, de folie ou de religion“ (ebd. 182; dt: Fürsorge, Gabe, Opfer, Verbrechen, Wahnsinn, Religion). Eine Notwendigkeit, Wortbedeutung oder Wortgebrauch und Begriff, also die sprachliche und die kognitive Strukturierung der Welt voneinander abzugrenzen, sieht er nicht. Mit dieser unsystematischen Zitierweise veranschaulicht Veyne seine eigene Begriffskritik ein weiteres Mal. Er gibt keine Definition von dem, was „ein Begriff“ sein könnte, und er legt nicht fest, wie man theoretisch und theoriesprachlich mit „dem Begriff“ umzugehen habe. So führt er regelrecht vor, dass diese sprachlich-begrifflichen Einheiten (die Wörter wie die gleichlautenden historischen Begriffe) „die heimtückischste Gefahr“ und eine „Falle“ für den Historiker bilden („le piège du notionnel“; Veyne 1971/1996, 182; 1990, 97). Mit dem Gestus eines strengen Nominalisten, der sich einerseits ausdrücklich (ablehnend) auf die Scholastik bezieht (Veyne 1971/1996, 18 f.) und der diese Haltung andererseits durch einschlägige Erfahrungen in der Forschungspraxis erworben hat, warnt er: Historische Begriffe sind nichts anderes als gängige „Namen“, aber sie kommen daher wie selbständig und universell existierende Wesenheiten („fausses essences, idées sans âges“; ebd. 182). Sie suggerieren dem Historiker, die Dinge verständlich zu machen, aber sie verstellen ihm den Blick auf die Dinge, vor allem auf die Dinge der unwiederbringlichen Vergangenheit. Von diesem Befund lässt sich der Historiker nicht verunsichern, sondern inspirieren. Seine Arbeit über „Brot und Spiele“ (dt. 1988) hätte er im Nachhinein anders schreiben wollen. Denn solche Wörter wie „die

fachexternen Kommunikation sind […] auch die wissenschaftlichen Erkenntnismittel reichlich mit konnotativen Bestandteilen beladen“ (Knobloch 1999, 240). „Die fachliche Kommunikation muss weitgehend mit den Vagheiten, Grenzunschärfen und Ambiguitäten der gemeinsprachlichen Lexik leben […]. Das heißt […] nicht, dass fachliche Verständigung unmöglich wäre“. „Wissenschaftssprachen sind […] viel weniger von Terminologien als von besonderen Gebrauchsweisen gemeinsprachlicher Ausdrücke geprägt“ (Haß 2012, 390). Ähnlich auch Köller (2012, 37). Zu „Sprachvertrauen“ und Sprachskepsis in der Wissenschaft vgl. Gardt (1999b).

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Politik“ und „die Regierten/die Regierenden“ („les gouvernés, les gouvernants“) hätten ihn derart irregeleitet, dass er die politische Praxis in Rom zunächst falsch verstanden habe. Er habe eingesehen, dass Wörter und Begriffe „die Praxis, die man eigentlich erforschen sollte, reifizieren“ (Veyne 1978/1996, 389, 393 ff.). Lohnenswert sei es schließlich, eine Geschichte der Geschichtsschreibung zu verfassen als Geschichte der Anachronismen, die durch die historischen Begriffe wie durch Vorurteile („idées toutes faites“) zustande gekommen ist (Veyne 1971/1996, 175). Aus dieser „Krise“ und Sprachkrise (Gardt 1999b) windet sich Paul Veyne heraus, indem er nicht nur zeigt, „was die Geschichtsschreibung nicht ist“, sondern sich auch offensiv der Frage nach dem Nutzen der sprachlich-begrifflichen „Vorurteile“ zuwendet. Er diskutiert die Frage in Auseinandersetzung mit Max Weber und mit deutlichen Bezügen zur analytischen (narrativen) Philosophie der Geschichte von Arthur Danto, zum Strukturalismus von Lévi-Strauss und zur Diskurstheorie seines Weggefährten Foucault (Veyne 1978/1996).

Auch den Sprachhistorikern steht nur das von Veyne beschriebene „paradoxe“ Instrument der historischen Begriffe zur Verfügung. Und weil auch sie historische Aussagen in seinem Sinne liefern wollen, teilen sie prinzipiell sein Problembewusstsein. Subsumierende Aussagen – die zweite Lautverschiebung bzw. das Vernersche Gesetz ist ein sprachgeschichtliches Gesetz, das Althochdeutsche ist deutsch, die frühneuhochdeutschen Schreibdialekte waren Dialekte – werden als genauso riskant empfunden. Auch in den Sprachgeschichten klingt es falsch, wenn die Germanen lateinische Fremdwörter verwendet, Karl der Große deutsch gesprochen oder Albrecht Dürer und Götz von Berlichingen sich in Sätzen ausgedrückt haben sollen. Insofern haben auch die Sprachhistoriker beim Umgang mit historischen Begriffen immer Skrupel, weil sie vermuten, ihrer irdischen Erfahrung auf den Leim zu gehen und die überlieferte Vergangenheit falsch zu verstehen und falsch einzuordnen: Haupt- und Nebensätze zu sehen, wo vielleicht noch gar keine waren⁸, Karl dem Großen eine deutsche Nationalsprache in den Mund zu legen, die er gewiss nicht sprach⁹, und den Germanen einen Fremdwortgebrauch zu unterstellen, der ihnen noch kein Begriff sein konnte¹⁰. Anachronismen und andere Verzerrungen sollen unbedingt vermieden werden. Aus diesem Grunde leisten die Sprachhistoriker ewige begriffliche Aufklärungsarbeit. Sie versuchen, ihre historischen Begriffe zu überführen in theoretisch brauchbare Begriffe, indem sie definieren, was (die) Sprache ist, was ihre Eigenschaften und Funktionen sind, was (der) sprachliche(r) Wandel und (die)

 Über das Mittelhochdeutsche vgl. Anne Betten (1987): Grundzüge der Prosasyntax. Stilprägende Entwicklungen vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Tübingen. S. 73.  Reichmann (1998, 4).  Zur Vielfalt von Sprachkontakt bspw. bei den germanischen Sprachen der Völkerwanderungszeit vgl. Heinrich Beck (1998): Die germanischen Sprachen der Völkerwanderungszeit. In: Besch/Betten/ Reichmann/Sonderegger (Hg.) (21998 – 2004). 1. Teilband. 979 – 993.

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

sprachliche Variation ist, was die (deutsche) Sprachgeschichte sein könnte (wieviel und welche konzeptionelle Einheit ihr zukäme), was ein sprachgeschichtliches Gesetz ist oder eine sprachgeschichtliche Epoche, was ein Satz und was ein Fremdwort ist, was die deutsche Sprache, die deutsche Hochsprache und die deutschen Dialekte sind, und auch: was das alles nicht ist¹¹. Als professionelle Wissenschaftler führen sie im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit dem sprachlich Hergebrachten auch dauernd neue Begriffe als sprachliche Neologismen ein: Bei Jacob Grimm (1848) wurden aus einer Reihe lautlicher Veränderungen die erste und die zweite Lautverschiebung(en), bei Adolf Bach (91970/1986, 25 ff.) wurden (im Gefolge von Theodor Frings) aus überregionalen sprachlichen Einfluss- und Austauschbeziehungen Strahlungen. Joachim Schildt führt nach der sowjetischen Vorlage M. Guchmanns und gegen den allgemeinen Sprachgebrauch den Terminus Literatursprache im Sinne von „bewusst gestaltete Sprachform“ ein (Schildt 1973, 503). Aus der (noch nicht demokratisch begründeten) Popularisierung der Schriftsprache zum Ende des Mittelalters und Beginn der Frühen Neuzeit hat Utz Maas (1985; 2012, 113) die Demotisierung ¹² der Schrift gemacht (zitiert auch von Peter von Polenz I 22000, 116, 127), Peter von Polenz seinerseits aus der Spracharbeit, Sprachpflege, Sprachnormierung im 17./18. Jh. die Sprachkultivierung (u. a. Polenz I 22000, 164 f.; II 1994, 4, 53 f., 112 u. ö.)¹³. Ulrich Ammon hat zusätzlich zu Austriazismen und Helvetismen noch die Teutonismen erfunden: deutsche Be-

 Peter von Polenz (1978) bspw. stellt seiner geschichtlichen Darstellung ein Kapitel mit dem Titel „Sprachwandel und Sprachgeschichte“ voran, wo folgende Formulierungen bedient werden: „Sprache hat […] linearen Zeichencharakter; Sprache ist […], Sprache funktioniert […], die Klage über den ständigen Sprachverfall ist […], Sprachwandel und Sprachverschiedenheit werden anerkannt als […], Sprachgeschichte / die Geschichte einer Sprache beschränkt sich nicht auf […], Sprachgeschichte ist nicht nur […], die Einzelerscheinungen des Sprachwandels sind […], im Objekt Sprache selbst enthält jeder Sprachzustand immer schon den Sprachwandel, Sprachwandel ist also primär Normenwandel, da erstens menschliche Kommunikation grundsätzlich dialogisch […] ist, muss Kommunikation grundsätzlich als […] verstanden werden“ (ebd. 5 – 10).  „Feudalismus bezeichnet politische Strukturen ohne aktive Beteiligung der großen Masse der Bevölkerung im Gegensatz zu modernen, den republikanischen Verhältnissen, die als Demokratie charakterisiert werden. Ein schwächeres Konzept, das ich im folgenden nutze, ist die Demotisierung, die auf die Partizipation des Volkes abstellt, bei der strukturelle Ressourcen [z. B. die Schriftlichkeit, K.L.] dem Volk zugänglich werden“ (Maas 2012, 113; Kursiv. dort). Er spricht auch bspw. von der „Demotisierung des Sakralen“ (ebd. 324). Zuerst in: Ders. (1985): Lesen-SchreibenSchrift. Die Demotisierung eines professionellen Arkanums in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59 (1985). 55 – 81. Dort erläutert Maas (ebd. 57) Demotisierung als „gesellschaftliche Verallgemeinerung“.  Zu diesem gewollt terminologischen Ersatz vgl. Wimmer (1984); Polenz (1995).

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sonderheiten der deutschen Sprache ¹⁴, die von Peter von Polenz (III 1999, 416, 423 u. ö.) lieber deutschländische Varianten genannt werden und ihn zum Begriff von einem deutschländischen Deutsch verleitet haben (ebd. 421). Oskar Reichmann (1988; 1990) wird wiederholt mit der Vertikalisierung des Varietätenspektrums zitiert (Polenz II 1994, 135 f.; Riecke 2016, 113 f.). Solche Begriffe entstehen in der Regel in Spezialpublikationen; in die Sprachgeschichten des Deutschen werden sie aber sehr gern aufgenommen. Hier wie dort sind sie symptomfunktional deutlich fachsprachlich markiert: Einmal entstehen im Zuge der Terminologisierungsarbeit morphologisch verdichtete und insofern verfremdete Begriffe, z. B. als Wortbildungen (Zusammensetzungen, Ableitungen und beides in einem: die Lautverschiebung, die Sprachkultivierung, die Schriftkultur, deutschländisch). Ein anderes Mal werden bekannte Wörter und Metaphern gegen den allgemeinen Sprachgebrauch verwendet, um sie terminologisch herauszuheben (Strahlungen). Dann wieder wird mit antikisierenden Elementen gearbeitet, welche bestehende Bildungs- und Fachwörter noch mal übertrumpfen sollen (Demotisierung ersetzt Popularisierung; Vertikalisierung ersetzt Standardisierung). Und schließlich kann man einem historischen Begriff wie dem von der Sprache oder der Literatur eine sprachlich-historische Kennzeichnung hinzufügen; man kann also derart von der mittelhochdeutschen Sprache oder der Barockliteratur sprechen und diese vom historischen Begriff der Sprache (auch der deutschen Sprache und der hochdeutschen Sprache) und der Literatur, der seinerseits ja die ganze historische Erfahrung abdeckt, abgrenzen. Historiker propagieren all dies. Paul Veyne z. B. fordert im Zuge seiner Begriffskritik: „Eine historische Aussage der Form ‚dieses Ereignis gehört zur Literatur, zum Roman, zur Religion‘, darf […] nur geäußert werden, nachdem zuvor erläutert wurde, ‚worin‘ ‚die Literatur oder die Religion etc. zu jener Zeit‘ bestand“ (Veyne 1990, 101). „Es ist zwar unmöglich, diesen Anspruch einzulösen, aber es ist schon viel gewonnen, wenn man sich entschließt, niemals von Religion oder Revolution zu sprechen, sondern nur von buddhistischer Religion oder Französischer Revolution“ ebd. 100; Kursiv. K.L.). Mit diesem Formulierungs- und Terminologisierungsaufwand behaftet sehen in der Geschichts- und Sprachgeschichtsschreibung längst nicht alle Begriffe so aus wie die von Veyne kritisierten historischen Begriffe. Wo aber doch historische Begriffe verwendet werden (müssen) und vor allem Simplizia wie z. B. la guerre, le don; die Sprache, deutsch usw., da sollen sie wie un-

 Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York 1995 (bes. S. 375). Zur Schwierigkeit der Bezeichnung auch: Ders.: Varietäten des Deutschen. In: Ágel/Hessky (Hg.) (1992). 203 – 223, bes. 210.

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schierige Steine behauen und beklopft, d. h. durch Definition und morphologische Verfremdung terminologisch bearbeitet werden¹⁵. Es mögen sich dadurch Erfolge einstellen. Vielleicht spricht man auch in hundert Jahren noch von der Demotisierung der Schrift und von der Vertikalisierung des Varietätenspektrums. Jacob Grimm hat das mit der (ersten und zweiten) Lautverschiebung ja vorgemacht. Meistens aber entgehen auch solche, gewollt fachsprachlich markierte und definitorisch festgesetzte Begriffe nicht dem Gang der Geschichte. Sind sie so erfolgreich wie beispielsweise Grimms Epochenbegriffe (Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch), dann sind sie in aller Munde und das vielleicht sehr lange. Sie verfügen dann ebenfalls über einen historischen Bedeutungsüberschuss, der – selbst bei genauester Kenntnis der Forschungs- und Begriffsgeschichte – vom menschlichen Subjekt ebenso wenig souverän gehandhabt werden kann wie andere (unprätentiöser daherkommende) historische Begriffe. Immer wieder schlagen ihm subjektive und kollektive Erfahrungen dahinein bezüglich dessen, was alt oder deutsch oder hochdeutsch sein könnte, was das für Jacob Grimm gewesen sein könnte oder für Adolf Bach, für die heutigen Kollegen und andere Leser. (So dürfte auch Jacob Grimms Begriff der Lautverschiebung/en – bei ihm mal im Singular, mal im Plural – deutlich abweichen vom entsprechenden Begriff in den aktuellen Sprachgeschichten des Deutschen). Es besteht die Vermutung: Nur weil das so ist, haben sich Grimms Begriffe durchgesetzt, nur weil er seine Begriffssprache nicht von der gebräuchlichen historischen Sprache abgeschnitten hat, haben sie sich bis heute bewährt. Und nur wenn es gelingt, die Demotisierung der Schrift und die Vertikalisierung des Varietätenspektrums in einem angemessenen sprachlichen Kontext auf historische Begriffe umzuprägen, werden auch sie gültig bleiben. In der Selbstwahrnehmung auch der Sprachgeschichtsschreibung gilt aber vorerst: Historische Begriffe, die keine Fachtermini sind, Begriffe, die Fachbegriffe sein sollen, aber aussehen wie historische Begriffe oder irgendwie anders zu historischen Begriffen hin durchlässig sind (auch die Epochenbegriffe), provozieren das Misstrauen der Historiker und folglich immer neue Deutungen und Umdeutungen. Fachinterne, rein sachliche Erkenntnisfortschritte sollen das rechtfertigen. Aber: „Die Erar-

 Der morphologische Unterschied zwischen Simplizia und Wortbildungen verteilt sich im Französischen anders auf die verschiedenen nicht-fachlichen Sprachschichten einerseits und die Fachsprache andererseits. Im Französischen haben ja solche Wörter wie révolution und nation (zitiert bei Veyne 1971/1996, 175) nicht gleich bildungs- oder sogar fachsprachlichen Charakter. Es ist also vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet der französische Muttersprachler die Klage über die historischen Begriffe erhebt.

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beitung neuer Begriffe“ wird auch aus einem sprachlichen Misstrauen heraus „beim Historiker zum Reflex“ (Veyne 1990, 94; vgl. auch Gardt 1999b)¹⁶. Eine so skeptische und (in positivem Sinne) selbstbezügliche Begriffskritik wie die von Veyne sucht man in der Theorie und Kritik der Sprachgeschichtsschreibung vergeblich. Exemplarisch kann dafür das große Handbuch Deutsche Sprachgeschichte (Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger 21998 – 2004) stehen. Obwohl die Methodenkritik weite Teile darin einnimmt (ebd. 1. Teilband 21998, 798 – 963), so wurde doch einer allgemeinen sprachgeschichtlichen Begriffskritik kein Artikel eingeräumt¹⁷. Die paradigmenbezogenen Artikel (ebd. 417– 552) beschäftigen sich (wie auch viele andere) kritisch mit einzelnen Begriffsmoden¹⁸ der (junggrammatischen, sprachgeographischen, strukturalistischen …) Sprachhistoriographie, aber nicht mit ihrem fachsprachlichen Wortschatz allgemein. In dieser Hinsicht schließt das Handbuch mehr an die Praxis der sprachwissenschaftlichen Begriffskritik an als an die der Geschichtswissenschaft. Wie die Linguistik, so bekennt sich auch die Sprachgeschichtsforschung weitaus lieber zu „individualistischen“ und „esoterischen“ Metaphern und Kunstwörtern (Wolski 1997, 1349) ¹⁹ als dazu, dass sich die historischen Begriffe nicht zu Fachbegriffen anverwandeln und umfunktionieren lassen. In den Sprachgeschichten des Deutschen wird zwar vereinzelt durchaus gewarnt, dass ihre zentralen Begriffe durchlässig sein können hin zur Alltagssprache und dass alltägliche Vorstellungen assoziativ querschlagen können. Aber bezeichnenderweise richten sich diese Warnungen ausschließlich an die Laien und die schlechteren Linguisten:

 „Offenbar arbeiten wissenschaftliche Disziplinen mit den Mitteln der Sprache gegen die Sprache“ (Knobloch 1999, 227).  Wie generische Begriffe (Gattungsbezeichnungen) in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, besonders zur Periodisierung, übersetzt und umgeprägt werden, das problematisiert SchliebenLange (1995) als Dynamik fachinterner und -externer (z. B. politischer) Selbst- und Fremdzuschreibungen, am Beispiel der französischen Idéologues um 1800.  Clemens Knobloch (1987, 63 ff.) spricht von Begriffsmoden: Er setzt sie allerdings mit „modischen Begriffen“ gleich und kritisiert sie als „pseudowissenschaftliche Leerformeln“, die – bezüglich der begrifflichen Erkenntnisfunktion – bloß „die Köpfe vernebeln“ und – bezüglich ihrer Symptomfunktion – nur die Zugehörigkeit zu einer „Szene“ ausdrücken (er nennt z. B. postmodern). Diese kritische Haltung vertritt Knobloch jedoch nicht einheitlich, denn einige Jahre später formuliert er affirmativ: „Es ist der kommunikative Kurswert der fachlichen Ausdrücke, der ihre Resonanzfähigkeit bestimmt, nicht ihr ‚kognitiver‘ Erkenntniswert“ (Knobloch 1999, 238).  In der Sprachwissenschaft wird dieser Spezialwortschatz manchmal positiv als „Bereicherung“ und manchmal negativ als „verbale Explosion“ beurteilt (Wolski 1997, bes. 1349, 1352). Mit großem Fortschrittsglauben hat Bechert (1988, 57) die „vorwissenschaftliche“ linguistische Metaphorik als „Mythologie der Erkenntnismodelle“ kritisiert; er fordert eine „Autonomie der Linguistik“ in ihren Begriffen und Modellen.

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

Peter von Polenz (I 22000, 2 ff.) beispielsweise beruft sich für seine Definition von (der) Sprache auf Wilhelm von Humboldt: Sprache ist energeia und tätige Veränderung. Vom Begriff der sprachlichen Veränderung geht er aus, um sich ausführlich mit verschiedenen „sprachideologischen Vorstellungen“ und Haltungen ihr gegenüber auseinanderzusetzen. Er gibt zu bedenken: Für manche bedeutet Sprachveränderung „Sprachverfall und Sprachverderb“, für andere eine Abweichung vom dem, was „ursprünglich“ richtig war, und/oder dem, was „eigentlich“ richtig ist. Für die einen bedeutet die Verallgemeinerung von umgangs- und jugendsprachlichen Ausdrücken eine „Vulgarisierung“, und für die nächsten bedeuten die Einflüsse aus anderen Sprachen eine „Sprachmengerei“. Die Sprache ist für manche sowieso manipulativ, in ihren Augen werden die Sprecher in ihrem Verhalten von der Sprache gesteuert und sogar determiniert. Für andere sind es traditionelle Sprachnormen, die ihnen als „bürgerliche Herrschaftsmittel“ gelten. Peter von Polenz bezieht sich mit diesem Referat auf die fachlichen Laien genauso wie auf verschiedene Kollegen aus der (germanistischen) Sprachwissenschaft. Er selbst spricht freilich als Sprachhistoriker, und solange er sich in dieser Eigenschaft zu all diesen Vorstellungen, Begriffen und Wortverwendungen theoretisch äußert, weiß er es besser: Sprache ist „dynamische gesellschaftliche Praxis“. Deshalb ist sie „veränderlich und veränderbar“. Sie ist „grundsätzlich nicht homogen“ und für alle Einflüsse offen. „Das Deutsche“ ist in diesem Sinne „wie andere moderne Kultursprachen seit langem eine Mischsprache“ (Polenz I 22000, 4– 8). Aber alle kommunikativ-historischen Wirkungen werden von den sprachlich Handelnden verantwortet und können nicht der Sprache selbst angelastet werden. In der geschichtlichen Darstellung wird dann allerdings aus dem Sprachhistoriker ein Historiograph, der auch selbst mit historischen Begriffen umgeht (aber nicht gleich, wie von Polenz bei seiner Fremdkritik meint, mit „ideologischen Vorstellungen“). Auch von Polenz kann nicht jede sprachliche Veränderung gutheißen nur, weil sie einer konkreten „gesellschaftlichen Praxis“ entspricht. Besonders die repräsentativen Sprachfunktionen goutiert er nicht (die höfische Repräsentation und das daran angelehnte sprachliche „Renommieren“ der aufstrebenden bürgerlichen Schichten im 17. und 18. Jh.), ebenso wenig den Unterhaltungscharakter von Sprache. Ein Leitbegriff seiner Sprachgeschichte ist der von der Kultivierung der deutschen Sprache (und der Sprachkultur in ihrem Ergebnis). Sogar eine Sprachkultivierungsepoche grenzt er aus dem Gang der Geschichte aus. Wenn Peter von Polenz aber seinen theoretischen Maßregelungen selbst genügen würde und für ihn tatsächlich ein Sprachgebrauch so gut wäre wie ein anderer, dann dürfte es eine solche Kultivierung gar nicht gegeben haben. Er dürfte so nicht formulieren, denn jede Kultivierung bedeutet eine Veränderung hin zum deutlich Besseren. Wenn er zudem die deutsche Sprache als Mischsprache anerkennen würde (und diese Mischsprache als angemessen und gut für die sprachliche Praxis), dann dürften, in seinen Worten, das 17. und 18. Jh. mit dem ausgeprägten französischen Sprachgebrauch nicht zuerst „eine Behinderung, Verzögerung und Verengung“ für die deutsche Sprache dargestellt haben (vgl. Polenz II 1994, 1)²⁰. Und was der Widersprüche mehr sind. Ideologien sind in diesen Ausführungen nicht zu erkennen, aber

 Wimmer (1984, 7 f.) sieht in dem Ausdruck Sprachkultur ein „positives Leitwort“: „Kultur ist ein durchweg positiv besetztes Wort, das alle Meinungsgruppen und Parteiungen gern auf ihre Fahnen schreiben“. Daraus folgt: Eine „kulturelle Tätigkeit ohne den Glauben an die Möglichkeit von Höherwertigkeiten [ist] nicht denkbar“ und dieser Glaube ist „tendenziell kulturchauvinistisch“ (Reichmann 2004, 308).

2.1 Theoretische Begriffe gehören in die Einleitung einer Sprachgeschichte

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doch historisch gewachsene begriffliche Fixierungen, die man etwa so formulieren könnte: Die Sprache ist Kultur, und sogar Hochkultur. Wenn sie das nicht von vornherein ist, dann muss sie sich wenigstens dahin entwickeln oder entwickelt werden. Eine einzelne Sprache (wie das Deutsche) ist tendenziell (doch) homogen; sie hat einen bestimmten Charakter, eine Identität. Weil das alles so ist, muss eine Sprache wie die deutsche vor jeder Art von Missbrauch (vor eitler Repräsentation etwa, vor Selbstbespiegelung und vor allen Formen unernster Anwendung) geschützt werden. Die Sprachgeschichte von Peter von Polenz zeichnet sich dadurch aus, dass sie solche Begriffe (wie den Sprachwandel) nicht nur theoretisch festsetzt (um sie dann doch wieder alltäglich zu verwenden), sondern dass sie sie zuvor überhaupt erst einmal als historische Begriffe, Vorstellungen, „Vorurteile“ reflektiert. Er erkennt sie also als Ergebnis historischer Erfahrungen durchaus an. Dass er aber für sich selbst, da er diese Reflexion ja nur nach außen wendet und nicht auf sein eigenes Schreiben, eine außerordentlich große Fallhöhe riskiert, das sieht er offenbar nicht.

Wenn die Historiker und Sprachhistoriker die Erfahrungsbegriffe abwerten oder überhaupt ignorieren, lassen sie sich auf eine Mystifizierung ein, die darauf beruht, dass sie die 1. und die 2. Metaebene der Geschichtsschreibung miteinander verwechseln (Reichmann 1998, 1 f.). Historische Begriffe haben einen Bedeutungs- und Assoziationsreichtum, den der Historiograph (wie alle anderen Sprecher auch) im Akt des Schreibens nicht ganz zu erfassen vermag. Aber das heißt nicht, dass eine kritische Selbstreflexion der Geschichtsschreibung nichts über deren Funktionieren beim Schreiben und über das Funktionieren dieses NichtWissens in Erfahrung bringen könnte. Es muss irgendetwas daran sein, dass die Historiographen mit solchen Begriffen arbeiten und dass sich durch sie etwas verstehen lässt, gerade weil sie so „bedeutungsreich“ sind (Veyne 1990, 94). Man muss problematisieren, was sie zu verstehen geben, und vor allem, wie sie das tun. Man darf durchaus danach fragen, ob man diese Begriffe womöglich auch deshalb als „historische Begriffe“ bezeichnen kann, weil sie die historiographische (und sogar die historisch-forschende) Arbeit konstitutiv beeinflussen, ja vielleicht sogar in positiver Weise voranbringen und nicht etwa immer nur stören. Es scheint deshalb angeraten, die Begriffe der historischen Erfahrung und ihre Vorkommen im Text offensiv und systematisch in die Kritik der Geschichtsschreibung (auf der 2. Metaebene) zu integrieren²¹. Bei der Geschichtsschreibung (auf der 1. Metaebene) mag man sie dann getrost wieder als defizitär empfinden. Der erste allgemeine Befund, der sich aus der Lektüre der Sprachgeschichten des Deutschen ergibt, lautet: Jeder theoretisch eingeführte Begriff, jede definito „Die anspruchsvolle Aufgabe einer sprachtheoretisch aufgeklärten Wissenschaftstheorie“ stellt sich Knobloch (1999): „den Beitrag ‚fest verdrahteter‘ semiotischer Operationen im fachspezifischen Erkenntnisprozess aufzuspüren und zu neutralisieren, und das in einer Form, die selbst nur in den gleichen Operationen konzeptualisiert und kommuniziert werden kann: mit den Mitteln der Sprache gegen die Sprache“ (ebd. 229).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

rische Darstellung dessen, was man unter der Sprache/ dem Deutschen / der deutschen Sprache / der Sprachgeschichte / dem Sprachwandel zu verstehen hat, bringt ihren Textfluss zum Stocken. Der Sprachhistoriker formuliert durchaus Definitions- und (explizite, direkte) Subsumtionsakte (im Sinne des Aussagentyps bei Kamlah/Lorenzen 31996, 78), aber sie widerstreben der historiographischen Arbeit. Er formuliert solche Definitionen, wie übrigens auch die Referate neologistischer Begriffe seiner Kollegen, gern zu Beginn eines Textes oder Kapitels. Hat er sich nämlich einmal dieser theoretischen Arbeit entledigt, dann kann er danach ungehindert als Historiograph weiterschreiben und seine theoretisch ambitionierten Klassifikationen, Kennzeichnungen und Definitionen wenigstens punktuell wieder vernachlässigen²². Auf der Ebene eines historiographischen Textes scheint sprachlich-begriffliche Definition vergeblich. Kein Historiograph kann eine solche definitorische und terminologische Festlegung über – sagen wir mal – 300 Seiten Geschichtsschreibung aufrechterhalten. Es ist behauptet worden, das liege an der Zeitspezifik der historischen Sachverhalte, und es ließe sich nun einmal für eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten (oder Jahrtausenden) kein einheitliches theoretisches Dach zimmern. Die Einzelfälle seien einfach zu verschieden (z. B. Veyne 1971/1996). Aber das Problem stellt sich auch für einzelne Kapitel. Selbst wenn der Historiograph mit Blick auf eine kleinere zeitliche Dauer Definitionen, Kennzeichnungen und Fachbegriffe einführt, dann hält er sie doch in der Schreibpraxis ebenso wenig durch. Selbst wohldefinierte Epochen- und Sprachbegriffe scheitern. Und wenn man sich die Beispiele dafür in den Sprachgeschichten ansieht, dann sind es meistens nicht die sachlichen Argumente, denen die Autoren misstrauen. In Wirklichkeit haben sie selbst kein Vertrauen in ihre begriffliche Definitionsmacht; sie bleiben deshalb viel eher bei Begriffen, die ihnen in ihrer hergebrachten Sprache gefügig erscheinen: Nur einige Beispiele seien genannt: Bach gliedert aus „der Gruppe der ‚Westgermanen‘“ / aus „dem Westgermanischen“ drei weitere Gruppen aus und argumentiert dafür, dass „‚das Westgermanische‘“ keine „einheitliche Sprache“ gewesen sein kann. Dennoch spricht er

 Mattheier (1999) misst einige Sprachhistoriker an den allgemeinen und theoretischen soziologischen/sozialhistorischen Aussagen in den Einleitungen ihrer Sprachgeschichten, z. B. Hirt (21925) und Eggers (I–IV 1963 – 1977). Über die Struktur und Strukturierung der Gesellschaft(en) äußern sie sich dort viel differenzierter als später im Text, wo sie, Mattheier zufolge, mit „eigenwilligen Deutungen“ und „eigentümlichen Gesellschaftsvorstellungen […] auf populärsoziologische“ bzw. sogar „pseudosoziologische Elitetheorien zurückgreifen“ (ebd. 14, 17). Wenn man diese „Sprachhistoriker als Soziologen“ bewerten will, dann muss man sie, wie Mattheier, als schlechte Soziologen schmähen. Auch Golo Mann (1979, 44), der sich im sog. Methodenstreit u. a. auf Paul Veyne beruft, hat gegen Hans-Ulrich-Wehler eingewendet: Was der Historiograph an Theorie vorwegnimmt, das wird „bei der Arbeit […] bald vergessen“.

2.1 Theoretische Begriffe gehören in die Einleitung einer Sprachgeschichte

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auch im Folgenden immer wieder von dem „‚Westgermanischen‘ und ‚den Westgermanen‘“ (Bach 91970/1986, 79 – 81). Beinahe durchgehend distanziert er sich zwar mit Anführungszeichen vom selben Begriff. Indem er diese beiden Größen aber in Gegensatz zu „den Ostgermanen/dem Ostgermanischen“ stellt – und das ohne Distanzierung (ebd. 83), macht er aus der eigentlich negierten Größe eine (wenigstens teilweise) doch affirmierte Größe. Bach spricht immer wieder vom „Westgermanischen“, weil er sich damit in seinem Text auch weiterhin auf den eingeführten und seinen Lesern bekannten Begriff (auf „den überkommenen Begriff“, ebd. 89) bezieht. Desgleichen: Obwohl Adolf Bach den Terminus der (sprachlichen, kulturellen) „Strahlung“ einführt, ihn definiert (ebd. 26) und auch im Geschichtstext selbst immer wieder verwendet, spricht er doch bei der Rede über das Rheinfränkische im 8. und 9. Jh. vom „fränkischen Einfluss“ bzw. von „fränkischen Einflüssen“ (ebd. 143), ohne irgendwo definiert zu haben, was ein „Einfluss“ sein könnte und ob ein Unterschied zur „Strahlung“ besteht. Auch dies ist ein Zugeständnis an die historische Erfahrung (seiner selbst und die seiner Leser), die bislang eben nicht mit Strahlungen, sondern mit sprachlichen und kulturellen, auch politischen und religiösen Einflüssen zu tun hatte und weiterhin haben wird. Peter von Polenz (I 22000) diskutiert, ob man das, was er (bei der Rede über 1522– 1525) „Aufstände“ und „Unruhen“, auch mit Distanzierung „‚Bauernkriege‘“ nennt, als „(frühbürgerliche) Revolution“ bezeichnen kann, und sagt deutlich: nein (ebd. 111 f.). Trotzdem spricht er von „der Bedeutung der politischen Propaganda- und Agitationsliteratur der revolutionären Jahre 1520 bis 1525“ (ebd. 136) und davon, was „zur Verbreitung der revolutionären Bewegung beigetragen hat“ (ebd. 139), und überhaupt von „den revolutionären Vorgängen des frühen 16. Jh.“ (ebd. 99). Auch von Polenz spricht so, weil er damit das geschichtliche Vorwissen des Lesers anspricht, nicht, weil er für die Verwendung des Adjektivs „revolutionär“ eine andere Definition als bei „Revolution“ zugrunde legen würde. (Explizit bezieht er sich auf den Revolutionsbegriff der DDR, ebd. 111; an anderer Stelle aber auf den „der protestantisch-preußischen Geschichtsideologie seit Hegel; dann wieder verwendet er ihn unspezifisch). Genauso spricht er von „den revolutionären Ereignissen seit November 1918“, obgleich er sie nicht als „wirkliche Revolution“ verstanden wissen will (Polenz III 1999, 30). „Frühneuhochdeutsch“ will Peter von Polenz explizit als Epochenbegriff nicht übernehmen. Gleich auf der ersten Seite der historiographischen Darstellung (nach den 97 Seiten theoretischer Einleitung) wählt er stattdessen für die Epoche die Bezeichnung „Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit“ (Polenz I 22000, 99). Auch „der Aufbau neuer und spezifischer Normensysteme“ in dieser Epoche, der viel weniger anknüpft an die mhd. Literatursprache und viel mehr an „geistliche Traditionen und die Sprache des Rechts und der Verwaltung, auch an umgangssprachliche Schichten“, soll nicht „frühneuhochdeutsch“ heißen, sondern „frühbürgerlich“. Wo er allerdings über „die Neustrukturierung des Sprachsystems“ schreibt (das ist der erwähnte „Aufbau neuer und spezifischer Normensysteme“), kommt ihm doch regelmäßig die Rede vom „Frühneuhochdeutschen“ unter (ebd. 152, 157, 173 u. ö.). Üblich ist heute die Ablehnung eines Begriffs von den Indogermanen als „Volk, ethnische Einheit“, „als einstiges idg. Urvolk“ oder gar als „Rasse“. All dies wird als „fraglich, fragwürdig“ (ab‐)qualifiziert. Die Autoren können sich gar nicht genug distanzieren: Die Rede von einer „Rasse“ bspw. wird bei Schmidt (102007, 30) als „unsinnig“ bezeichnet; das Wort der „Rasse“ selbst wird mit Anführungszeichen versehen. Außerdem bezieht sich diese Ablehnung nicht nur auf den kompromittierenden Rassebegriff. Unter dem Titel „Die Indogermanenfrage“ gehen die Autoren (ebd.) in der gleichen, ablehnenden Weise mit „den Indogermanen“ und „dem Urvolk“ um. Aber das heißt nicht, dass nicht dieselben Autoren trotzdem von „der Urheimat“ und „der Kultur der Indoger-

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

manen“ (im Original mit und ohne Anführungszeichen) sprechen würden. Bis heute bilden die Sprachhistoriographen Aussagen für diese Begriffe und dafür, dass wir mit ihnen umgehen – und dass wir nicht etwa vergessen: „Die Indogermanen“ (dort ohne Anführungszeichen) haben „mit den Fingern gezählt“ (Schmidt 102007, 34)!

Die Beispiele des rheinfränkischen Einflusses und der revolutionären Jahre (1520 – 1525) wie auch der Indogermanen und des Westgermanischen zeigen: Die Suche nach den richtigen, den historischen Sachverhalten angemessenen Begriffen und Klassifikationen vom großen Ganzen des Textes auf das kleine(re) Ganze einzelner Abschnitte zu verschieben – auch das wird der Geschichtsschreibung nicht gerecht. Der Grund dafür liegt in der Spezifik des historiographischen Umgangs mit Sprache im Text. Dabei muss man nicht auf die Kategorie des Erzählens zurückgreifen, um zu sagen, dass es im Sprachgebrauch der Historiographie eine Freiheit gibt, die schwindelerregend ist²³.

2.2 Der historische Begriff in zweistelligen Aussagen: Was für die deutsche Sprache wichtig ist (und für viele andere historische Begriffe) Viel häufiger als eine definierende oder subsumierende Aussage und im textlichen Zusammenhang der Sprachgeschichte auch viel flüssiger stellt sich ein völlig anderer Aussagetyp ein, der, syntaktisch gesehen, auf den ersten Blick der definierenden Aussage gar nicht unähnlich ist. Gemeint ist die Aussage: Ein historischer (historisch identifizierter oder prinzipiell identifizierbarer) Sachverhalt ist wichtig, bedeutsam, bedeutungsvoll, von großer Tragweite oder von großer Bedeutung für etwas anderes; er ist/war/wurde wichtig dafür oder ist dafür wichtig gewesen (auch geblieben oder geworden). Auch bei dieser Aussage, die im Folgenden einfach Wichtigkeitsaussage genannt wird, handelt es sich (darin der Definition ähnlich) um eine explizite Aussage/Prädikation. Dem vereinfachten Satzbaumodell der Satzsemantik zufolge hat die explizite Prädikation (als Satz) in ihrem syntaktischen Kern ein Nominalprädikat, das mit der Kopula oder einem anderen Nominal-/Kopulaverb gebildet wird (oft werden, auch bleiben; vgl. Polenz 2 1988, 85) sowie mit einer Adjektiv- oder einer (von einer Präposition) eingeleiteten Substantivgruppe (dem Prädikatsnomen). Der Satztyp kann außerdem va-

 Angespielt ist damit auf Gérard Genette (1969), der bei seiner Analyse der Princesse de Clèves (1678) in Vraisemblance et motivation von „der schwindelerregenden Freiheit des Erzählens“ gesprochen hat – de „cette liberté vertigineuse“.

2.2 Der historische Begriff in zweistelligen Aussagen

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riiert werden durch die Formulierung, dass ein Sachverhalt Bedeutung hat/hatte/ bekam/erhielt/ erlangte/ gewann/bekommen, gewonnen oder verloren hat. Der Aussagetyp lässt eine beachtliche morphosyntaktische und stilistische Variation zu, aber keine größeren semantischen Differenzierungen, denn man versteht durch ihn, recht stereotyp, beispielsweise: Der Unterschied von satem-Sprachen und centum-Sprachen ist für die idg. Lautlehre wichtig, die zweite Lautverschiebung ist wichtig für die heutigen Mundarten, Heinrich von Veldecke wurde wichtig für die mhd. Literatur, die „vielen sprachlichen Neuerungen der Mundarten“ im 11./14. Jh. (von Bach 91970/1986, 220 daselbst präzise aufgeführt) wurden (dauerhaft) wichtig für die Zukunft, die niederdeutsche Handels-, Seemannssprache und Rechtssprache (identifiziert bei Bach 9 1970/1986 275) sind für den (deutschen) Süden wichtig geworden, die Ostexpansion war für die Sprachentwicklung wichtig, das mystische Prosaschrifttum Ostmitteldeutschlands wurde wichtig für Luther, Luthers Sprache ist für die Mundarten wichtig geworden, die im 17./18. Jh. als Burschensprache entwickelte Studentensprache ist für den neuhochdeutschen Wortschatz wichtig geworden usw. usf.: (9) Ein ganz merkwürdiger Riss geht durch die idg. Sprachgemeinschaft und trennt Osten und Westen in satem-Sprachen und centum-Sprachen. […] Dieser Unterschied ist für den idg. Lautbestand und dann für die idg. Lautlehre von der größten Bedeutung (Kluge 2 1925, 41). Diese zweite Lautverschiebung ist von großer Bedeutung für die heutigen Mundarten (Stahlmann 1940, 21). Veldecke, aus der Maastrichter Gegend, sollte als Vermittler des in Frankreich wurzelnden höfischen Versromans für die mhd. Literatur bleibende Bedeutung gewinnen (Bach 91970/1986, 197). Für die Territorialdialekte, von denen wegen ihrer mündlichen Existenzweise kaum Zeugnisse überliefert sind, waren in dieser Zeit zwei Vorgänge wesentlich (Kleine Enzyklopädie 1983, 606). Erst die Auflösung der ritterlichen Kultur nach dem Zusammenbruch der Stauferherrschaft lässt sie [die „vielen“ von Bach benannten „sprachlichen Neuerungen der Mundarten“ im 11./14. Jh., K.L.] hochkommen und für die Zukunft Bedeutung gewinnen (Bach 91970/1986, 220). Der Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit ist für den deutschen Sprach- wie Kulturraum gleichermaßen von großer Bedeutung: Die Wiederentdeckung von Vorstellungen der Antike (Renaissance) […] das Aufblühen der Städte […] bringen auch und gerade für die fachliche Kommunikation wesentliche Änderungen mit sich (Roelcke 2009, 100). Für das frühneuzeitliche Deutsch war besonders die Hinwendung humanistischer Gelehrter zur deutschen Sprache – trotz der Pflege des klassischen Lateins und des Griechischen […] von großer Wichtigkeit; ihr wurden damit neue Sach- und Anwendungsbereiche erschlossen (Schildt 1976, 121). Die Vollbibel folgte dem Septembertestament von 1522 mit innerer Notwendigkeit. Sie wurde für unser Volk das Hausbuch und war zugleich ein Weltbuch. […] […] Nie wieder hat ein deutsches Buch des gleichen Umfangs eine solche Verbreitung erlebt. Und damit erhielt es auch für unsere Sprache und ihre Geschichte eine Stellung, wie sie weder vorher noch nachher je ein deutsches Buch auf die Dauer gehabt hat (Kluge 21925, 315 f.). Von besonderer Tragweite wurde für Luther das mystische Prosaschrifttum Ostmitteldeutschlands und seines nahen nd. Einflussgebietes (Bach 91970/1986, 257). Luthers Sprache hat von ihrer ostmd. Heimat her sich in

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

steigendem Maße über das nd. Gebiet im Norden ausgedehnt und ist dabei über die Gemeinsprache auch für die Mundarten wichtig geworden […]. Die Sprache des nd. Handels und die nd. Seemannssprache sind im gegenwärtigen Zeitabschnitt für den Süden bedeutsam geworden, gerade wie die nd. Rechtssprache: Nord-dt. Rechtsbücher wie der „Sachsenspiegel“ haben auch im deutschen Süden Ansehen erlangt und nd. Wörter im Süden verbreitet (Bach 91970/1986, 275). Die Studentensprache […], die im 17./18. Jh. als „Burschensprache“ […] entwickelt wurde, ist für den nhd. Wortschatz in vielfacher Hinsicht von Bedeutung geworden und in ihrer Entfaltung gut zu überblicken (Bach 91970/ 1986, 336). Mit den 1830er Jahren tritt der Einfluss der Dichtung auf das sprachliche Werden und auf die Gemeinsprache beträchtlich zurück, der der Tagesschriftstellerei dagegen gewinnt seit dem Jungen Deutschland für sie [die Gemeinsprache, K.L] wachsende Bedeutung dank der riesenhaft anwachsenden Tagespresse […] (Bach 91970/ 1986, 459). Wenn man so unsere Aussprache geregelt hat, so war das bedeutungsvoll nicht nur für die Bühne, sondern auch für die Schule (Hirt 21925, 237).

Diesen expliziten Prädikationen sollen gleich noch einige Beispiele hinzugefügt werden, in denen dieselbe Aussage – der syntaktischen Konstruktion entsprechend – nur nebenbei getroffen und gerade nicht zum Hauptgegenstand gemacht wird. Syntaktisch passiert das entweder in einem Nebensatz (z. B. in einem Inhaltssatz, einem notwendigen oder einem weiterführenden Relativsatz), in einem (erweiterten) Adjektivattribut oder durch die Einbettung derselben Aussage in irgendeine Bezugsstelle im Satz: (10) […] ist die Auffassung keineswegs entkräftet, nach der die christlich-gotische Welt für das älteste germanische Christentum von Bedeutung gewesen sei. […] mag es auch fraglich sein, wie stark dabei eine aktive gotische Mission beteiligt gewesen ist (Bach 91970/ 1986, 122). […] letzterer [der Name Theodissa, heute Diez an der Lahn, K.L.] bezeichnet eine Örtlichkeit, die (als Versammlungs- oder Gerichtsplatz) für die Volksgemeinschaft Bedeutung hatte (Bach 91970/1986, 132). Dialekte waren also nach wie vor das beherrschende Kommunikationsmittel des größten Teils der damaligen Bevölkerung. Dennoch begann sich ihr Wert für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation allmählich in dem Maße zu verringern, wie die Literatursprache nationale Geltung erlangte […] (Schildt 3 1984, 162 f.). Ein vorbildliches Zentrum der gesprochenen wie geschriebenen Sprache, das man etwa mit Paris oder London und deren Bedeutung für die sprachliche Einigung in Frankreich und England vergleichen könnte, gab es nicht (Polenz 1978, 74). Die Sprache [der thüringisch-sächsischen Kanzlei, K.L.], die zunächst in Meißen ausgebildet worden war, […] bildete unter Friedrich dem Weisen die Grundlage für die gewaltige und über ganz Deutschland hinwirkende sprachliche Wirksamkeit Luthers. Es ist kein Zweifel an der Bedeutsamkeit dieses großen Geisteskämpfers für den endgültigen Sieg des Neuhochdeutschen möglich (Stahlmann 1940, 30). Durch die zielbewusste und zweckbestimmte Ausbildung an den vielen neuen Universitäten entsteht eine elitäre Schicht des akademisch gebildeten Bürgers, die in dieser Breite und in dieser Bedeutung für das Staatswesen vor dem Dreißigjährigen Kriege noch nicht bestanden hatte (Eggers IV 1977, 21). Bei diesem für das deutsche Wortschatzsystem wichtigen qualitativen Entwicklungssprung handelt es sich um eine neue Offenheit für Integration und Weiterver-

2.2 Der historische Begriff in zweistelligen Aussagen

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wertung im Rahmen der lateinbasierten westeuropäischen Kultureinheit (Eurolatein) (Polenz II 1994, 79).

Im Nebensatz oder Adjektivattribut ist die Aussage noch einigermaßen explizit: Mit dem „für das deutsche Wortschatzsystem wichtigen qualitativen Entwicklungssprung“ (Polenz II 1994, 79) bezieht sich der Historiograph darauf, dass „die dt. Lehnwortbildung Mitte des 18. Jh. den Prozentsatz lateinischer Entlehnungen erstmalig übersteigt“ (ebd.), und formuliert knapp: Das war ein „qualitativer Entwicklungssprung“, der „wichtig für das deutsche Wortschatzsystem“ ist/war. Der Autor fügt dem Redegegenstand noch ein nicht-restriktives (erweitertes) Adjektivattribut hinzu, das er in einem weiterführenden Relativsatz oder einem angeschlossenen einfachen Hauptsatz auch als explizite Prädikation ausformulieren könnte. Kompakter allerdings ist die Formulierungsweise bei den sogenannten „Einbettungen“ (Polenz 21988, 232 f.), wo bspw. bloß von „der Bedeutung der Hauptstadt Paris für die sprachliche Einigung in Frankreich“ gesprochen wird. Daran kann man sehen, wie auf wenig Platz (in einem einzigen Satz/Teilsatz) mehrere Aussagen getroffen werden. Die ganze Prädikation (Paris war von Bedeutung dafür) wird in eine Bezugsstelle einer anderen Aussage eingebettet, anstatt sie explizit auszuformulieren. Dass der Sprachhistoriograph Peter von Polenz das nicht tut, würde der Sprachkritiker Peter von Polenz an dieser Stelle vielleicht als sparsamen, sprachökonomischen Ausdruck bewerten (vgl. Kap. 2.1.). Im Kontext der Sprachgeschichten zeigen solche Formulierungen allerdings, wie geläufig der Aussagetyp hier ist: Immer geht es um die Rolle und Bedeutung irgendwelcher historischer Sachverhalte für etwas anderes. Die Historiographen formulieren (an dieser Stelle) kompakt, um eine vorausgesetzte (oder zuvor referierte) Wichtigkeitsaussage zu modifizieren, zu diskutieren oder sogar zurückzunehmen, und um eventuell mit einer weiteren, explizit ausformulierten Wichtigkeitsaussage anzuschließen. (Bei der weiteren Kritik des Aussagetyps berücksichtige ich prinzipiell alle Vorkommen der Wichtigkeitsaussage, die expliziten und die komprimierten Vorkommen, gehe aber auf den Unterschied nicht weiter ein). Was die syntaktische Struktur betrifft, so ist schon die explizite Wichtigkeitsaussage nicht so einfach zu beschreiben, wie es scheinen mag, denn es gehört systematisch zu ihr die Präpositionalgruppe mit für. Deren syntaktische Funktion ist in den vielen Sätzen vielgestaltig und im Satztyp nicht eindeutig. Insofern sie abhängig ist von der syntaktischen Valenz des Substantivs bzw. Adjektivs (Bedeutung für, wichtig für) und indem sie auch mehrfach die typische Attributstellung direkt vor oder nach dem Substantiv/Adjektiv innehat, muss man sie als attributive Ergänzung ansehen (ebd. 109): Voranstellung bei sind […] für den Süden bedeutsam geworden und Postposition z. B. bei von besonderer Wich-

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

tigkeit für die Geschichte der deutschen Sprache erwies sich, ist von großer Bedeutung für die heutigen Mundarten. Insofern die Präpositionalgruppe mit für aber in ihrer Stellung im Satz durchaus flexibel ist, kann man sie auch als präpositionale Ergänzung zum ganzen Prädikat ansehen: Sie kann syntaktisch aus dem Prädikat ausgegliedert und in eine Distanzstellung dazu gebracht werden (für die deutsche Sprachgeschichte ist eigentlich nur die Fruchtbringende Gesellschaft von Bedeutung). Oft steht sie allein, ohne ihr Bezugsadjektiv/-substantiv, im Vorfeld des finiten Verbs; das Attribut kann sich also jederzeit als eigenständiges Satzglied „verselbständigen“. Die Duden-Grammatik (92016, § 1335), besonders deutlich ihre 7. Auflage (72005, § 1330), erklärt das damit, dass die ganze Konstruktion aus Nominalverb und Prädikatsnomen zu einer „festen Verbindung“ geworden ist. Man kann sie als „Verb-Nomen-Kollokation“ betrachten (Storrer 2006, 152), die lexikalisiert ist, aber nach dem Prinzip der semantischen Kompositionalität noch durchschaubar und daher nicht idiomatisiert (ebd. 151 f.; Polenz 1987, 176; Schippan 22002, 100 f.)²⁴. Satzsemantisch nennt Peter von Polenz (21988, 115) solche Verbindungen, wie auch einfache Substantive bzw. Substantivgruppen, „Nominalprädikate“. Um beides zu unterscheiden, spreche ich dagegen von Nominalverbgefügen²⁵, unter semantischem Aspekt auch von (nominalen) Prädikatverbindungen. In den Sprachgeschichten werden also wichtig sein für, von Bedeutung sein für, Bedeutung haben/erlangen/(an) Bedeutung gewinnen für als „feste Verbindungen“ gehandhabt, und das macht die Präpositionalgruppe syntaktisch frei, überall dort zu erscheinen, wo der Autor sie besonders betonen und hervorheben möchte oder

 Bei Lexikalisierung „geht der Syntagmacharakter“ der Verbindung „verloren; das komplexe Lexem erhält eine einheitliche Bedeutung. Die Idiomatisierung ist eine Folge der Lexikalisierung; denn aus der Summe der Teilbedeutungen einer Konstruktion ist die Lexembedeutung nicht zu erschließen. Es tritt Demotivierung ein, der Verlust der Motivbedeutung“ (Schippan 22002, 100 f.). Zu solchen festen Verbindungen und ihrem syntaktischen Verhalten vgl. auch die Duden-Grammatik (72005, § 1330 bzw. 92016, § 1335).  Storrer (2006, 152) nennt Zähne putzen als Beispiel für eine Kollokation. Bei den sprachgeschichtlich relevanten Nominalverbgefügen liegt der semantische Schwerpunkt, wie bei den Nominalisierungsverbgefügen (ebd. 149 f.), auf dem Substantiv; die Verbbedeutung ist verblasst. Aber anders als bei den Nominalisierungsverbgefügen ist „das Substantiv […] nicht durch Substantivierung entstanden bzw. semantisch nicht mehr als solche wirksam“ (Polenz 21988, 114). Zum Teil haben diese festen Nominalverbgefüge auch Eigenschaften von Funktionsverbgefügen. Die dazugehörigen Nominalverben (Bedeutung haben, gewinnen, erlangen, erringen, verlieren) bilden eine „Kommutationsreihe“ mit „innovativer Systemauslastung“ (Polenz 1987, 175). Bedeutung haben (für) steht dadurch (in dieser Textsorte) in einem Wortfeld mit anderen solchen Verbindungen, wie z. B. Bedeutung gewinnen (für) und Bedeutung verlieren (für).

2.2 Der historische Begriff in zweistelligen Aussagen

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wo er sie, im Gegenteil, gerade besonders flüssig in den Satz integrieren möchte²⁶. Oft wird die Präpositionalgruppe mit dieser syntaktischen Flexibilität in eine Thema-Rhema-Struktur eingebunden²⁷. So erscheint sie mitunter sogar regelrecht als fakultative Angabe, die dem ganzen Satz und der ganzen Aussage nach Belieben hinzugefügt werden kann (der Einfluss der Tagesschriftstellerei gewinnt wachsende Bedeutung/wird immer bedeutender, und zwar für sie, die Gemeinsprache). Vorläufig bleibt deshalb für die syntaktischen Eigenschaften der Präpositionalgruppe festzuhalten: Sie ist syntaktisch (in ihrer Stellung im Satz, in ihren syntaktischen Beziehungen und in ihrer syntaktischen Funktion) ausgesprochen flexibel, und das macht den scheinbar einfachen Satztyp syntaktischstrukturell „unübersichtlich“ – ganz so, wie Peter Eisenberg (32006, 89) das für die Kopulasätze (mit Prädikativ) überhaupt konstatiert²⁸. Stellt sich weiterhin die Frage nach den semantischen Funktionen des Aussagetyps; und Syntax und Semantik sind dabei nicht unabhängig voneinander zu behandeln. Man ist vielleicht geneigt, bei so einem (syntaktisch unübersichtlichen) Kopulasatz prinzipiell von einem einstelligen Prädikat und einer einstelligen Aussage auszugehen, die, wie eine definitorische Aussage nur eine einzige Bezugsstelle/einen einzigen Redegegenstand (in ihrem Subjekt) hat. Das hieße, die semantische Funktion der Präpositionalgruppe der Funktion ihres Bezugsnomens unterzuordnen und zu sagen, dass sie (mit ihm zusammen) etwas über das Subjekt prädiziert. Aber „die Attribuierungsstrukturen des Nominalisierungsstils“ bzw. Nominalstils „sind diejenigen Satzbauformen, in der die syntaktische Struktur sich am weitesten von der Satzinhaltsstruktur entfernt. Die Satzgliedkategorie ‚Attribut‘ ist oft nur rein formal, nicht inhaltlich als eine Hinzufügung zum ‚Nomen‘ zu verstehen“ (Polenz 21988, 90). Da sich das präpositionale Attribut zudem, bezogen auf den ganzen Satztyp (in seinen verschiedenen Varianten), im Satz sehr frei bewegt, kann es durchaus eine – gegenüber dem Bezugsnomen eigenständige – referentielle Funktion übernehmen. Insbesondere in denjenigen Sätzen, in denen die Präpositionalgruppe, ob als präpositionale Ergänzung zum ganzen Nominalverbgefüge oder als Satzadverbial, eher als ei-

 Diese beiden performativen Erscheinungsweisen der Präpositionalgruppe, die man auch mit Ludwig Jägers Stichworten von „Störung und Transparenz“ als „polare funktionale Zustände medialer Performanz“ auffassen könnte (Jäger 2004, bes. 60), können hier nicht weiter dargestellt werden (Ansätze dazu in Kap. 1.3.).  Storrer (2006, 148) hat an korpusbasierten Einzelbeispielen gezeigt, dass solche festen Nomen-Verb-Verbindungen besondere Möglichkeiten „für die Informationsstrukturierung, für die Kohäsions- und Kohärenzbildung und für die Perspektivierung von Sachverhalten“ eröffnen.  Zum Prädikativ/ Subjektsprädikativ vgl. auch die Duden-Grammatik (92016, §§ 1198 ff., 1201, 1204 u. ö.).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

genständiges Satzglied zu bewerten ist, wird mit ihr, anders als in einer einstelligen definitorischen Aussage, eine zweite Bezugsstelle in der Prädikation aufgemacht (Polenz 21988, 101 f.): Wenn man über sich selbst sagt, dass einem der Beruf (den man nun einmal hat) sehr wichtig ist, und man sich damit gegenüber jemandem anderes positioniert, der sagt, ihm sei die Familie (die er nun einmal hat) sehr wichtig, dann sagen beide Personen mehr über sich aus als über ihren Beruf und ihre Familie. Das zweistellige Prädikat wichtig sein für scheint in besonderer Weise dazu zu taugen, etwas auszusagen über einen zweiten Gegenstand, der nicht, wie der erste, in Subjektposition steht. So erklären sich vor allem negative Aussagen derselben Art: (11) Die berührten, über die gotische Welt fließenden östlichen Anregungen haben den „westgermanischen“ Wortschatz in wichtigen Erscheinungen: in seinen ältesten christlichen Lehnwörtern, bedeutsam geformt. […] der Umstand, dass für den Namen des Sonntags das dem 4. Jh. angehörige lat. (dies) dominica = frz. dimanche für das Westgermanische bedeutungslos blieb (Bach 91970/1986, 91). Ein zweiter wichtiger Vorgang, der aber, da er auch im Kelt. und Ital. auftritt, für das Germ. nicht im selben Maße charakteristisch ist wie die Lautverschiebung, ist die Entstehung der germ. Anfangsbetonung. Während nämlich im idg. [sic!] der Akzent ebenso gut auf irgendeiner Endsilbe wie auf dem Stamm des Wortes ruhen kann, wird er im Germ. regelmäßig auf die erste Silbe verlegt (Sperber 1926, 16). Die Monophthongierung blieb andererseits für Bayern bedeutungslos (Bach 91970/ 1986, 228). Im vorhergehenden waren noch ein paarmal die großen Kanzleien zu erwähnen. Aber […] es darf nicht der Eindruck entstehen, als seien sie noch von besonderer Bedeutung für die weitere Sprachentwicklung gewesen (Eggers III 1969, 189). Ohne stärkere Bedeutung für das Wörterbuch des Deutschen sind seit dem 17. Jh. die Beziehungen Deutschlands zu den osteuropäischen Ländern geblieben (Bach 91970/1986, 317).

Mit solchen Aussagen soll mindestens ebenso viel gesagt werden über das Westgermanische, über Bayern und über das Wörterbuch des Deutschen (in der zweiten Bezugsstelle) wie (in der ersten Bezugsstelle) über das lateinische dies dominica (aus dem 4. Jh.), die Monophthongierung (die von Bach kurz zuvor mit Beispielen identifiziert wurde) und die Beziehungen Deutschlands zu den osteuropäischen Ländern (datiert auf die Zeit seit dem 17. Jh.): Während diese letzteren bedeutungslos waren/blieben dafür, hatten das Westgermanische kein „dies dominica“, Bayern keine Monophthongierung und das Wörterbuch des Deutschen keinen Einfluss durch die Beziehungen Deutschlands zu den osteuropäischen Ländern seit dem 17. Jh. (zu verzeichnen). Mit solchen zweistelligen Aussagen verweisen die Historiographen auch wiederholt auf Texttitel und -thema: Ihnen zufolge waren oder sind immer wieder Sachverhalte wichtig für die Geschichte der (deutschen) Sprache / für die (deutsche) Sprachgeschichte / für die Sprachentwicklung (Sperber 1926, 18 f.; Eggers II 1969, 197; Polenz I 22000, 238; Lerchner

2.2 Der historische Begriff in zweistelligen Aussagen

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2001, 522; Roelcke 2009, 60), auch (mit zeitlichen und anderen Spezifikationen): für die weitere oder jüngere oder neuere (deutsche) Sprachgeschichte (Eggers III 1969, 189; Polenz 1978, 164), für die Literaturgeschichte (Schmidt 102007, 94) oder (noch spezieller) für die zukünftige literatursprachliche Entwicklung (Kleine Enzyklopädie 1983, 611; Beispiele (34 und 35) in Kap. 2.12. über das Tempus dieser Aussagen). Hier ist es im Textzusammenhang plausibel, dass nicht allein etwas ausgesagt wird über den Gegenstand in der ersten Bezugsstelle (im Subjekt), sondern auch etwas für die Geschichte der deutschen Sprache/(deutsche) Sprachgeschichte (Kap. 5.12.) oder auch für einzelne sprach-/geschichtliche Vorgänge, wie etwa „für die Entstehung des germanischen Stabreimverses (Alliteration)“ (Polenz 1978, 18), „für den Aufbau der feudalen Gesellschaftsordnung“ (Schildt 1976, 53; Schildt 31984, 50), „für die Verbreitung von Luthers Sprachform“ (Eggers III 1969, 186), „für den Übergang (von der lateinischen) zur deutschen Sprache“ (Bach 91970/1986, 173) oder „für die Übernahme französischen Sprachguts“ (ebd. 196; vgl. Kap. 2.11.). Wichtig bzw. von Bedeutung sein (werden/bleiben) ist demnach (als feste Verb-Nomen-Verbindung) ein zweistelliges Prädikat, das, wie auch immer man die Präpositionalgruppe syntaktisch interpretiert, nur mit ihr zusammen korrekt benannt ist und dementsprechend heißt: Wichtig bzw. von Bedeutung sein (werden/bleiben) für etwas anderes. Es fragt sich schließlich, wie die erste und die zweite Bezugsstelle des Aussagetyps ausgestaltet sind, welche semantischen Rollen die beiden Redegegenstände von diesem historiographischen Wichtigkeitsprädikat zugeteilt bekommen (Polenz 21988, 167 f.). Datierungen, historische Kennzeichnungen und alle Arten von (inhaltlichen, räumlichen, sozialen, kulturellen) Präzisierungen (darunter auch Aufzählungen) stehen eher an der ersten Stelle, und morphologisch etwas einfacher gestaltete Nominalgruppen – ohne Datierung oder sonstige historische Identifizierung – an der zweiten Stelle: Die vielen […] sprachlichen Neuerungen der Mundarten (im 11./14. Jh.) wurden (dauerhaft) wichtig für die Zukunft, die Sprache des niederdeutschen Handels und die niederdeutsche Seemannssprache für den Süden, das mystische Prosaschrifttum Ostmitteldeutschlands für Luther, die im 17./ 18. Jh. als Burschensprache entwickelte Studentensprache für den neuhochdeutschen Wortschatz usw. Historische Begriffe, die uns in ihrer sprachlichen Fassung etwas zu wissen geben, findet man dabei in beiden Bezugsstellen (vgl. Kap. 2.1.). Manche Autoren der zitierten Beispiele neigen – in unterschiedlicher Weise – zu einem deutlichen Ausgleich zwischen der ersten und der zweiten Bezugsstelle: Bach (91970/1986) verwendet in der einen wie in der anderen Position offenbar lieber einfache begriffliche Größen (Luthers Sprache für die Mundarten, die Monophthongierung für Bayern), und Peter von Polenz kennzeichnet und datiert auch die Größe in der zweiten Bezugsstelle (wie die Größe in der ersten Bezugsstelle: die Errichtung des

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

Burgundischen Kreises für die eigene Nationsbildung in den späteren Niederlanden). Prinzipiell scheint es aber in der zweiten Bezugsstelle weniger notwendig zu sein, die jeweilige Größe historisch in Raum, Zeit und alle anderen Parameter des geschichtlichen Koordinatensystems einzuordnen. Der Begriff in der Präpositionalgruppe mit für erscheint oft genug als einfache Substantivgruppe (als die Zukunft, der Süden, die Sprachentwicklung, die Mundarten, das Westgermanische, das Germanische). Oder er wird nur mit einem einfachen Adjektivattribut als historischer Kennzeichnung versehen (die heutigen Mundarten, die mhd. Literatur, der deutsche Süden, der nhd. Wortschatz, das Westgermanische, die deutsche Sprachgeschichte), mit dem das Substantiv ja selbst meistens einen festen Begriff bildet (die deutsche Sprachgeschichte im Unterschied etwa zur eigenen Nationsbildung in den späteren Niederlanden). Mitunter erscheinen zwar in der zweiten Bezugsstelle auch morphologisch sehr komplexe Begriffe in Gestalt von längeren Wortgruppen, besonders bei Vorgangsprädikaten (vgl. dazu Kap. 2.11.). Manchmal steht da auch ein bloßes Anthroponym wie Luther (Kap. 2.9.). Ungeachtet dessen sieht es aber zunächst einmal so aus, als gehörten die historischen – historisch verfestigten und in der Theorie als ungenau kritisierten – Begriffe eher in die zweite Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage und als würden sie uns dort so, wie sie sind, genug zu wissen geben. Dann würde in diesem Aussagetyp genauso viel gesagt werden über einen ziemlich gut identifizierten historischen Sachverhalt in der ersten Bezugsstelle des Prädikats wie auch über einen Begriff unserer historischen Erfahrung in der zweiten Bezugsstelle, z. B. (in dieser zweiten Bezugsstelle) über die Gemeinsprache, die Volksgemeinschaft, das Staatswesen, die Schule, die Mundarten, das Germanische, das Westgermanische, die mhd. Literatur, den (deutschen) Süden, natürlich über die (deutsche) Sprachgeschichte und -entwicklung und auch über solche Vorgangsbegriffe wie den Aufbau der feudalen Gesellschaftsordnung, den Übergang zur deutschen Sprache oder die Verbreitung von Luthers Sprache, die im jeweiligen Kontext (beinahe) ebensolche Allerweltsbegriffe sind wie eben die Schule, die Mundarten usw. Diese Anordnung der beiden Bezugsstellen in diesem Aussagetyp hätte das Zeug dazu, jede theoriebewusste Kritik der Geschichtsschreibung (im Sinne von Kap. 2.1.) zu skandalisieren: Es wären dann nicht (theoretische oder wenigstens fachsprachliche) Begriffe – als Oberbegriffe – wichtig und maßgeblich für die historisch identifizierten Sachverhalte und für deren Subsumtion und Klassifikation. Vielmehr wären umgekehrt mehr oder weniger präzis identifizierte (in jedem Fall historisch identifizierbare) Sachverhalte wichtig für einen einigermaßen vagen historischen Begriff. Meine Hypothese lautet: Allein indem die Historiographen im Text der Geschichte systematisch diese Wichtigkeitsaussage mit dieser Bezugsstellenanordnung und Rollenverteilung wählen, entscheiden sie sich gegen einen sprachtheoretischen bzw. sprachgeschichtstheoretischen Text und für einen

2.3 Worüber Historiographen offiziell schreiben: Historische Supposita

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historiographischen Text. Und das ist, weil die meisten Sprachhistoriographen einleitend ihren Theorieanspruch sehr hoch beziffern (vgl. Kap. 2.1.), alles andere als trivial.

2.3 Worüber Historiographen offiziell schreiben: Historische Supposita im Fokus der Aussage (Veyne 1971/1996; 1990) Bevor die Wichtigkeitsaussage und ihre zweite Bezugsstelle weiter zu thematisieren sind, soll die semantische Rolle der Größe in der ersten Bezugsstelle geklärt werden. Diese Größe unterliegt satzsemantisch den Bedingungen der Existenzpräsupposition (Levinson 1983/21994, 171 ff.)²⁹. Von all dem, was laut Aussage wichtig ist/war oder gewesen ist, wichtig blieb und wurde (usw.), setzt der Autor systematisch voraus, dass es existiert und in der geschichtlichen Welt in irgendeiner Form dokumentiert ist. Anderenfalls könnte er in einem informierenden Sachtext (Kap. 2.4.) so nicht formulieren, denn dann wäre diese Aussage nicht, bezüglich ihres Wahrheitswertes (als wahr oder falsch) zu beurteilen (ebd. 174– 178): Sie wäre schlichtweg uninformativ. Die in der ersten Bezugsstelle häufig so präzisen Einordnungen in das geschichtliche Koordinatensystem der (kalendarisch-gezählten oder kulturell-begrifflich gefassten) Zeit (1548, der Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit), des geographischen wie kulturellen Raums (norddeutsch, niederdeutsch, aus Maastricht stammend, Ostmitteldeutschland, Frankreich), der sozialen, sprachlichen und kulturellen Verbreitung (die Frauen, die Studentensprache, die Seemannssprache, lat., franz., dt., nhd., mhd., mystisch, prosa‐) usw. dienen idealiter als „singuläre Kennzeichnungen“ der Identifizierung der Größe in der ersten Bezugsstelle (Kamlah/Lorenzen 31996, 104 ff.; Polenz 2 1988, 124) und unterstützen die Existenzpräsupposition.

 Als Kriterium für die Bewertung einer Hintergrundaussage als Präsupposition gilt bekanntlich, dass sie „unter Negation“ konstant bleibt. Die negierte Wichtigkeitsaussage weist, wenn man sie als Typ aus ihrer Textumgebung isolieren wollte, die von Russel beschriebene Skopus-Ambiguität der Negation auf (Levinson 1983/21994, 171 ff.; Polenz 21988, 216, 249 f.): Als Negation der Vordergrundaussage mit dem Prädikat ist wichtig (für) oder als Negation der Hintergrundaussage, dass das, was wichtig (für etwas) ist, existiert und wahr ist. Weil also die negierte Wichtigkeitsaussage hinsichtlich ihres Wahrheitswertes nicht zu beurteilen wäre, spreche ich von einem solchen Aussagetyp nicht. Die Historiographen arbeiten auch in jeder aktuell negierten Wichtigkeitsaussage (zugunsten der Informativität) den Skopus der Negation deutlich heraus, etwa so: „Seit der Überwindung des Expressionismus hat sich in Deutschland keine literarische Schule hervorgetan, die für die Formung der deutschen Kunstsprache von Bedeutung gewesen wäre“ (Bach 91970/1986, 457).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

Zur identifizierenden Referenz³⁰ dienen sehr oft nicht Gattungsbezeichnungen (Nomina appellativa), sondern Eigennamen (Nomina propria). In der Geschichtsschreibung sind das Eigennamen für Personen, Epochen, Sprachen, Texte und selbstverständlich Eigennamen für Ereignisse und Handlungszusammenhänge (Polenz 21988, 122 f.; vgl. auch Kamlah/Lorenzen 31996, 31 ff.; DudenGrammatik 92016, §§ 223 – 225). Eigennamen besagen nicht gleich, worum es sich bei dem jeweiligen Sachverhalt handelt (als klassifizierendes oder prädizierendes Bezugnehmen; Polenz 21988, 125 f.), sondern sie identifizieren und individualisieren den Sachverhalt, über den gesprochen wird. Eigennamen sind indexikalische Zeichen. Sie stehen stellvertretend für den jeweiligen, im Text ja notwendigerweise abwesenden Gegenstand und „ersetzen die deiktische Handlung“ (Kamlah/Lorenzen 31996, 32). Ein Anthroponym wie Martin Luther oder Heinrich von Veldecke steht (mit oder ohne Lebensdaten / Ort der Geburt / Wirkungsstätten) für die reale Person. Ein Eigenname für einen Vorgang, ein Ereignis, eine Handlung (die zweite Lautverschiebung, die Ostexpansion, die westgermanische Konsonantendehnung u. ä.) steht für das Ereignis und für alle Belege dafür, dass ein solches stattgefunden hat, für alle Dokumente, in denen es überliefert ist. Der Eigenname für eine Institution (der Burgundische Kreis, die Fruchtbringende Gesellschaft, vielleicht auch Luthers Sprache) gilt (in einer Geschichte der deutschen Sprache) als Ausweis dafür, dass diese einmal existierte. Auch wenn in dieser ersten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage ein Wort zitiert wird (dies dominica) oder Grapheme, Phoneme, morphologische Einheiten, auch alle Arten von Systemveränderungen (Lautwandlungen usw.), dann haben diese Zitate die gleiche identifizierende Funktion: Sie stehen, wie ein Eigenname, für die entsprechenden, in den Dokumenten belegten Worttoken, Graphem- und Phonemrealisationen. Dort, wo gar kein Eigenname für die identifizierende Stellvertretung zur Verfügung steht, übernimmt der bestimmte Artikel mit einer (substantivischen) Gattungsbezeichnung diese Funktion der deiktischen Handlung (ebd. 33, 42). Wie mit einem Fingerzeig weist der Autor mit dem bestimmten Artikel bspw. auf genau „die“-jenige „Teilnahme der des Lateinischen unkundigen Frauen an geistigen, besonders geistlichen Dingen“ hin, die der Autor (Bach 91970/1986, 173) in seinen Dokumenten (genau dieser Zeit und genau dieser Provenienz) belegt findet (Po-

 „‚Identifizieren‘ bedeutet […], dass kein Zweifel und keine Unklarheit im Hinblick darauf bestehen dürfen, worüber genau gesprochen wird“ (Searle 1974, 133). „Um ein Objekt zu identifizieren, geben wir im allgemeinen seinen Ort zu einer bestimmten Zeit an, und in jedem Fall müssen wir darlegen, wie eine Erfahrung des Objekts mit der früheren Erfahrung des Hörers verknüpft werden kann. Um eine Zeitangabe zu machen, müssen wir mit einem bekannten Zeitabschnitt operieren […]. Ebenso kann kein Ort beschrieben werden, außer relativ zu einem bereits bekannten Ort“ (Peirce 1893/2000, 196).

2.3 Worüber Historiographen offiziell schreiben: Historische Supposita

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lenz 21988, 144). In diesem Falle referiert der Historiograph auch mit der substantivischen Gattungsbezeichnung (in dieser ersten Bezugsstelle) mehr auf ein (im gleichen Zuge) identifiziertes und individualisiertes Bezugsobjekt³¹.Wenn hier von (den) Dialekten, den Rechtsverhältnissen und dem Christentum gesprochen wird, dann sind diese Größen im Kontext oft genauso präzise identifiziert wie bspw. „die Herausbildung von ostmitteldeutschen Mischdialekten in der Folge der deutschen Ostexpansion in den Gebieten östlich von Elbe und Saale“ (Kleine Enzyklopädie 1983, 611). Die „Individualisierung historischer oder geographischer Tatsachen durch Zeit oder Raum wird nicht aufgehoben durch ihre eventuelle Subsumierung unter eine Gattung, einen Typus oder einen Begriff“ (Veyne 1990, 18). Jedenfalls wird sie so lange nicht aufgehoben, wie die Daten zur historischen Identifizierung des Bezugsobjekts in der ersten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage (oder in ihrer nächsten Nähe) nicht fehlen. Dass die Eigennamen an dieser Stelle diese identifizierende Funktion haben und für die Supposita stehen können, liegt daran, dass diese indexikalischen Zeichen, mit Peirce gesprochen, anders als symbolische Zeichen, eine „wirkliche, physische“ Verbindung zu ihrem Objekt haben, und dass genau diese durch sie dargestellt wird (Peirce 1893/2000, 199; 1895/2000, 206 f.). Luther hat seinen Namen wirklich mit sich getragen; wo Luther physisch anwesend war, da war es auch sein Name. Ein Toponym wird mit der identifizierten Gegend wirklich verbunden sein; idealiter steht irgendwo in Land und Flur ein Schild mit gleichlautender Beschriftung. Eine Textdatierung steht (idealiter) irgendwo im Dokument daselbst, desgleichen ein Texttitel oder irgendein anderes wörtliches Zitat aus einem Textdokument heraus. Diese physische Verbindung zwischen den Zeichen und ihrem Objekt ist zudem, wie Peirce das von allen Zeichenarten voraussetzt, eine „dynamische“ Verbindung (Peirce 1893/2000, 199). Beim indexikalischen Zeichen geht sie vom Gegenstand/ Objekt aus. Es „muss sich etwas“ am Zeichen (dem Eigennamen, dem Zitat usw.) „als Konsequenz einer wirklichen Verursachung mit der Veränderung des Objekts verändern“ (Peirce 1873/2000, 188). Wenn also das Objekt doch anders beschaffen sein sollte, wenn Luther doch einen anderen Namen getragen hätte, dann würde sich auch das indexikalische Zeichen für diese Person ändern. (Genau das unterscheidet das indexikalische Nomen proprium in der ersten Bezugsstelle von den symbolischen Gattungsbezeichnungen in der zweiten: Hier verändert sich das bezeichnete Objekt (der histori Zwar „kann ein Symbol“ – z. B. eine Gattungsbezeichnung – „keinen einzelnen Gegenstand indizieren“ (Peirce 1893/2000, 200). Aber diese Symbole (die Gattungsbezeichnungen in der ersten Bezugsstelle) kommen i. d. R. in Begleitung des bestimmten Artikels vor, der dann die indexikalische Funktion des Demonstrativpronomens „dieses/jenes“ übernimmt (Peirce 1895/2000, 207).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

sche Begriff) „als Konsequenz einer wirklichen Verursachung“ durch die Veränderung der Gattungsbezeichnung³²). Im weiteren Verlauf spreche ich davon, dass die Bezugsgröße in der ersten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage (durch raum-zeitliche Angaben und Eigennamen) historisch identifiziert bzw. (durch eine Substantivgruppe mit dem bestimmten Artikel und vielleicht einem kennzeichnenden Attribut) historisch gekennzeichnet wird. Mit Peirce nenne ich die mit solchen Zeichen identifizierte Größe in der ersten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage das historische (i. e. das historisch identifizierte) „Suppositum“³³. Nicht nur, weil es in der jeweiligen Aussage punktuell als existent vorausgesetzt/prä-supponiert wird, sondern auch, weil diese Existenzpräsupposition im Zeichen- und Interpretationsprozess der Geschichtsschreibung prinzipiell allem anderen vorausgeht. (Erläuterungen dazu in Kap. 3.2.). In der Wichtigkeitsaussage bildet das historische Suppositum (syntaktisch) das Subjekt. Satzsemantisch gesprochen steht es, da es seinen systematischen Ort in der ersten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage hat, im Aussagenfokus: Es bildet den Gegenstand des „primären Interesses“ (Polenz 2 1988, 291) bzw. genauer: des primären Aussageinteresses. Das ist freilich nur die offizielle Verlautbarung des Historiographen, der hier als Historiker spricht. Dasjenige Interesse, welches der Historiograph dem historischen Suppositum widmet, indem er es in den Aussagenfokus rückt, ist das Interesse, zu dem er sich als Historiker bekennt. In Paul Veynes Theorie der Geschichtsschreibung heißt eine solche historisch identifizierte, für alles Folgende vorausgesetzte und in den Aussagenfokus des Historiographen gerückte Größe schon Ereignis/évènement. Es handelt sich dabei um eine weite Anwendung: Alle Gegenstände und Sachverhalte, auf die der Historiker sein Forschungsinteresse richtet und die der Forschung wie der Geschichtsschreibung epistemisch notwendig vorgeordnet sind, heißen bei ihm Ereignisse. Sie bilden „l’objet de l’histoire“ (Veyne 1971/1996, 11 f.), auch wenn nicht jeder dieser Gegenstände und Sachverhalte gleich ein Ereignis in engerem (weiter unten darzustellen) historiographischem Sinne ist. Veyne definiert, was das Ereignis als Forschungsgegenstand ist, und auch, was die Geschichte (als

 „Erstens muss es [das Zeichen, K.L.] Eigenschaften besitzen, die es uns erlauben, es von anderen Objekten zu unterscheiden. Zweitens muss es von dem Objekt, das es bezeichnet, irgendwie beeinflusst werden oder zumindest muss sich etwas an ihm als Konsequenz einer wirklichen Verursachung mit der Veränderung des Objekts verändern. […] Die Verursachung verläuft […] entweder vom Objekt zum Zeichen oder vom Zeichen zum Objekt oder von einem dritten Ding zu beidem; doch irgendeine Verursachung muss es geben (Peirce 1873/2000, 188).  In der Grammatikschreibung des Lateinischen bedeutet es „das Vorangestellte“ (Maas 2012, 296).

2.3 Worüber Historiographen offiziell schreiben: Historische Supposita

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Synekdoche zum Ereignis) ist: Das Ereignis ist eine „Differenz“, es ist einmalig (wenn auch nicht einzigartig), und es ist wahr. Wenn die Historiographen ein solches Ereignis (als vorgegebenen Forschungsgegenstand) darstellen und darüber schreiben, dann müssen sie alle drei Eigenschaften berücksichtigen in der Art und Weise, wie sie darauf Bezug nehmen. Es seien deshalb diese drei Eigenschaften besprochen und zugleich die jeweils angemessene Art ihrer sprachlichen Gestaltung durch den Historiographen: Unter dem Stichwort der „Differenz“ macht Veyne zunächst eine Konzession an „die ‚historistische Variante‘ der Geschichtsschreibung/ le coté ‚historiciste‘ de l’histoire“, die mir für seine detailfreudige Geschichtstheorie zentral erscheint (ebd. 17, 48 f.)³⁴. Das Ereignis „ist eine Differenz, etwas, das wir a priori nicht kennen können“ (Veyne 1990, 15). Damit ist allerdings schon zweierlei gesagt: Wir kennen das Ereignis deshalb nicht, weil es vergangen und nicht Gegenstand unserer unmittelbaren Anschauung ist. Und wir kennen es in dem Sinne nicht, dass es, wie auch immer wir davon erfahren, für uns nicht gewöhnlich, sondern herausgehoben und eine „Besonderheit“ ist. „Un événement se détache sur fond d’uniformité“ (Veyne 1971/1996, 16). Veyne bezieht sich auch auf den Strukturalismus von Lévi-Strauss (ebd. 28): Ereignisse sind nicht an sich in ihrer Wirkung auf den nachgeborenen Beobachter „different“ und besonders (vgl. Kap. 5 „Interaktionen“), sondern nur im Vergleich mit ihresgleichen. Manche entgehen der Aufmerksamkeit des Historikers, und andere nicht; manche erlangen seine Aufmerksamkeit, und andere nicht. So können die der historischen Forschung vorgegebenen Ereignisse an sich unmöglich eine zusammenhängende Geschichte bilden. Die Geschichte bildet keine kohärente Ereignisfolge, sondern nur eine bloße, inkohärente Menge von Ereignissen. Angewendet auf die sprachliche Gestaltung einer historischen Aussage heißt das: Weil die dem Forscher irgendwie vorgegebenen Ereignisse (Supposita) ihm einerseits als (individuell) herausgehoben und different erscheinen und weil andererseits eine Reihe von Ereignissen an sich noch gar keinen Zusammenhang ergibt, so müssen sie erst einmal identifiziert und idealiter mit einem Eigennamen versehen werden. Die zweite, von Paul Veyne beobachtete Eigenschaft des Ereignisses in weiterem Sinne ist seine Individualität in der Zeit; seine Differenz ist eine in der Zeit verankerte Differenz. Ein Ereignis ereignet sich „zu einem bestimmten Zeitpunkt“ und wird deshalb nicht zuerst als materielle Abweichung und Besonderheit, sondern wegen seiner zeitlichen Individualität „um seiner selbst willen erzählt“

 „Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung“ (Meinecke 1936/21946, 2).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

(Veyne 1990, 17 f.). In einer Sprachgeschichte beispielsweise werden Ereignisse nicht dargestellt, um eine bestimmte Sprachwandeltheorie zu untermauern, sondern um zu sagen, was sich wann wie wo zugetragen hat. Und hätte sich das gleiche Ereignis zu unterschiedlichen Zeiten mehrfach wiederholt, so wäre es nicht dasselbe, sondern jedes Mal von neuem ein individuelles Ereignis. Diese Einmaligkeit in Zeit und Raum ändert sich auch nicht, wie Veyne (ebd.) das formuliert, durch die Subsumtion des Ereignisses unter einen Gattungsbegriff. In der ersten Bezugsstelle im Aussagenfokus mit dem identifizierenden Artikel von den frz. Fremdwörtern im 17. und 18. Jh. zu sprechen, von der Fremdwörterei (Eggers III 1969, 190) oder der Sucht, mit Fremdwörtern zu prunken, ist, so gesehen, prinzipiell dasselbe, wie (an der gleichen Stelle) eine kleinere oder größere Anzahl solcher Fremdwörter mit ihrem Eigennamen (lexikographisch: mit ihrem Lemmawort) zu zitieren. Unter der Voraussetzung, dass Zeit und Raum (auch der soziale, kulturelle, mediale Raum) in ihrer ersten Bezugsstelle (oder derem engsten Kontext) ausgewiesen sind, garantieren beide Redeweisen dasselbe: dass der Historiograph die historische Einmaligkeit des Ereignisses anerkennt und an genau dieser Stelle zur Sprache bringt. Er muss nur im allernächsten Kontext mindestens ein indexikalisches Zeichen setzen, welches das „subsumierte“ Ereignis individualisieren kann (eine Zeit-/Raumangabe). Die Geschichte wie das Ereignis als Gegenstand des Forschens und Schreibens implizieren also nicht die Wiederholung des Gleichen (denn das Ereignis ist einmalig) und schon gar nicht die Bestätigung dessen, was wir (als Wiederholung in der Geschichte) sowieso schon kennen. In der ersten Bezugsstelle und im Aussagenfokus (der Wichtigkeitsaussage wie der historischen Aussage überhaupt) sprechen Historiographen nicht über Größen, die uns schon ein Begriff sind (vgl. aber Kap. 3.3.). Da er die Differenz des Ereignisses als eine Differenz in der Zeit bestimmt, relativiert Veyne freilich (wie schon mit dem Strukturgedanken) den Historismus: Gegenstand der Geschichtsschreibung ist, ihm zufolge, nicht dasjenige, vom dem der schwärmende Liebhaber sagen würde, es sei wert, als Museumsstück (pièce de musée) konserviert zu werden, weil es einzigartig, authentisch und/oder besonders schön oder abstoßend ist (1971/1996, 20). Ein Ereignis interessiert allein deswegen, weil es zu einer gegebenen Zeit (in einem gegebenen Raum) tatsächlich stattgefunden hat (ebd. 23 ff.) und weil es auf eine Zeit (und einen Raum) datiert werden kann. Es geht also auch in der Sprachgeschichtsforschung nicht um die Frage, ob die Fruchtbringende Gesellschaft, die neuhochdeutsche Diphthongierung oder die II. Orthographische Konferenz pittoresk oder aufregend genug wären, um sie dauerhaft (in den Sprachgeschichten) zu konservieren (vgl. aber Kap. 5). Die dritte, aber nicht die letzte Eigenschaft des Ereignisses (in seinem weiten Bedeutungsumfang, als historisches Suppositum) ist seine Wahrheit. Nach ein-

2.3 Worüber Historiographen offiziell schreiben: Historische Supposita

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gehender Quellenkritik gelangt der Historiker an den Punkt, wo er einen Sachverhalt als wahr und damit als Ereignis anerkennt. Die Wahrheit individueller und a priori differenter Ereignisse allein rechtfertigt die Geschichtsschreibung. Die Geschichte (der deutschen Sprache) „kann durchaus langweilig sein, ohne dadurch an Wert zu verlieren […]. Den Historiker […] interessiert nichts als die Wahrheit“ (Veyne 1990, 19 f.). Deshalb bildet er die Lage der Dokumentation ab; deshalb darf er nichts verfälschen. Sprachlich bekennt er sich zu dieser Wahrheit, indem er das jeweilige Ereignis in den Fokus seiner historischen Aussage (wie der Wichtigkeitsaussage) rückt, wo, bei Verwendung eines Eigennamens oder einer Gattungsbezeichnung in Begleitung des bestimmten, identifizierenden Artikels, die Existenzpräsupposition uneingeschränkt gilt. Auch das in der Sprachgeschichtstheorie als „Überlieferungsfilter“ (Sonderegger 1988, 382 f.) bekannte Problem greift Paul Veyne an dieser Stelle auf: Der Historiker stellt die Ereignisse „nicht unmittelbar und ganz […], sondern immer nur unvollständig und indirekt“ über die Spur der Dokumente dar (Veyne 1990, 22)³⁵. Man muss sich deshalb nicht auf Lévi-Strauss beziehen, um zu sehen, dass die im Text gebildete Folge wahrer historischer Aussagen immer nur lückenhaft sein kann. Mit Blick auf die erste Bezugsstelle handelt eine Sprachgeschichte deshalb nicht von der (einigermaßen lückenlosen) Entwicklung der deutschen Sprache von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, sondern nur von dem, was wir von dieser Entwicklung „wissen können“: von dokumentierten und historisch individualisierbaren Ereignissen, die wir für wahr halten und als „different“ beschreiben können (Veyne 1971/1996, 26). Überhaupt nicht nimmt Veyne Stellung zu seiner unalltäglichen kategorialen Verwendung von Ereignis/évènement, die die übliche Vorgangs- oder Handlungsqualität des Wortes komplett ignoriert (vgl. Polenz 21988, 159 ff.). Ein Ereignis muss bei ihm nicht als Vorgang oder Handlung stattgefunden haben und passiert sein. Ob ein Ereignis einen Verlauf und eine Qualität in der Zeit hat, ob ein Ereignis eintrat, noch andauerte, sich entwickelte, endete, ob Ereignisse sich überschlugen oder gegenseitig auslösten, das interessiert bei diesem Ereignisbegriff nicht. Dass bspw. „die Römer […] statt vom blauen Himmel vom caelum serenum sprachen, das wäre so etwas wie ein semantisches Ereignis“ (Veyne 1990, 15), ob es sich nun (als konkrete Tätigkeit) dauernd wiederholte oder ob es als Überlieferungs-Tatsache einer zeitlichen Qualität überhaupt entbehrt. Unabhängig von ihrer (internen) zeitlichen Qualität sind also die vom Historiker darge-

 „Die Anzahl der Seiten, die der Verfasser den verschiedenen Momenten und Aspekten der Vergangenheit widmet, [liegt] irgendwo in der Mitte zwischen der Bedeutung, die sie in den Augen des Historikers tatsächlich haben, und der Menge der vorhandenen Dokumente“ (Veyne 1990, 22).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

stellten Ereignisse mit den genannten drei Eigenschaften hinreichend beschrieben: Es geht ihm um alles, was dokumentiert und wahr ist, was in Zeit und Raum identifizierbar und in diesem Sinne einmalig ist, und was zudem eine Differenz bildet (auch bspw. um Ereignisse „des Denkens und Empfindens“ (Veyne 1971/ 1996, 16). Mit diesen atemporellen und verlaufsindifferenten Eigenschaften könnte man den Gegenstand der Geschichtsschreibung („l’objet de l’histoire“) zweifellos auch als (wahre, einmalige und a priori unbekannte geschichtliche) Tatsache bezeichnen. Veyne (ebd. 13 ff.) selbst spricht alternativ von einem „fait“ bzw. einem „fait historique“. Die so gefasste historische Tatsache könnte ein Hyperonym/einen Oberbegriff abgeben für die andere Kategorie von „Ereignis“, die ihn viel mehr beschäftigt: dasjenige Ereignis, das im Akt der Historiographie und durch diese erst entsteht. Diesem Ereignis (mit größerer begrifflicher Intension und kleinerer Extension) erkennt der Historiker zusätzlich zur Wahrheit, Individualität und Differenz auch noch historische Relevanz zu. Was gut dokumentiert, was wahr und einmalig ist und was als different erlebt werden könnte, bleibt, solange es noch nicht den Status eines wichtigen Ereignisses erlangt hat, Tatsache. Ereignisse in engerem, historiographischem Sinne sind also nur die wichtigen historischen Tatsachen. In der Geschichtsschreibung werden diese zu wichtigen Ereignissen gemacht; Ereignisse im engeren Sinne können deshalb nicht unabhängig von der Geschichtsschreibung gedacht werden. Da ich im Folgenden nicht von Ereignissen erster und zweiter Klasse sprechen will (wichtigen und unwichtigen), vermeide ich den Ausdruck bei der Rede über die erste Bezugsstelle in der Wichtigkeitsaussage prinzipiell. Trotzdem sind beide Ereignisbegriffe (in ihrem Status als Begriffe, nicht der lexikalischen Polysemie) für den Zweck dieser Analyse der historischen Aussage nützlich. Im Kern ist jede historische Aussage zuerst einmal eine Wichtigkeitsaussage, in der ein historisches Suppositum als wichtig betrachtet und dadurch zu einem Ereignis in engerem Sinne gemacht wird. Weil sie aber eine zweistellige Aussage ist, muss man zwingend auch nach ihrer zweiten Bezugsstelle fragen, selbst wenn die Historiographen sich zu ihr als Aussagegegenstand nicht gleichermaßen bekennen.

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext Was über die zweite Bezugsstelle in der Wichtigkeitsaussage genau gesagt wird, das wird erst deutlich, wenn man den weiteren Text verfolgt. Wichtigkeitsaussagen werden nämlich – anders als Definitionen, die sich prinzipiell selbst genügen – im Text durch weitere Aussagen ergänzt; sie können präzisiert, verändert, fortgeschrieben werden. Dort, wo sie explizit ausformuliert werden, bilden sie

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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eine Art Pro-Form, denn in einer Sprachgeschichte muss späterhin gesagt oder wenigstens angedeutet werden, in welcher Weise Heinrich von Veldecke für die mhd. Literatur, das mystische Prosaschrifttum Ostmitteldeutschlands für Luther, die Sprache des niederdeutschen Handels, die niederdeutsche Seemannssprache und die niederdeutsche Rechtssprache für den (deutschen) Süden wichtig waren, sind, blieben oder geblieben bzw. wichtig geworden sind (vgl. Beispiele (9) in Kap. 2.2.). Für einige der genannten Beispiele (für nicht-negierte Wichtigkeitsaussagen) kann man ohne Einschränkung sagen: Hier nimmt die historiographische Interpretation ihren Ausgang. Nach der Aussage, dass „die Sprache des nd. Handels und die nd. Seemannssprache […] für den [deutschen] Süden bedeutsam geworden“ sind und auch „die nd. Rechtssprache“, folgt die Erläuterung, diese Letztere hätte in Gestalt des Sachsenspiegels „auch im deutschen Süden Ansehen erlangt“, sie hätte „niederdeutsche Wörter im (deutschen) Süden verbreitet“, so dass also der Süden durch sie niederdeutsche Wörter bekam/bekommen hat (Bach 9 1970/1986, 275). In anderen Beispielen bleibt die Wichtigkeitsaussage rätselhaft allein; es bleibt dem Leser überlassen, die jeweilige Art von Wichtigkeit und Bedeutung selbständig zu ergänzen oder außerhalb des jeweiligen Textes irgendwo anders nachzuschlagen. Und in wieder anderen Beispielen kann man keine Aussagenreihenfolge erkennen, denn ein allgemeineres und ein spezifischeres Prädikat der Bedeutung folgen nur irgendwie im engeren Kontext aufeinander. Heinrich von Veldecke ist bspw., aus Maastricht kommend, „als Vermittler des in Frankreich wurzelnden höfischen Versromans für die mhd. Literatur wichtig geworden“ (ebd. 197). Prinzipiell ist es aber auch hier, unabhängig von der aktuellen Reihenfolge der Prädikate, das Wichtigkeitsprädikat, das durch (mindestens) ein anderes Prädikat präzisiert und erläutert wird: Heinrich von Veldecke wurde für die mhd. Literatur wichtig, insofern er „als Vermittler“ aufgetreten ist und ihr den „in Frankreich wurzelnden“ höfischen Versroman vermittelt hat. Zitiert seien noch mehr Beispiele dafür, dass diese Aussage im Folgetext erläutert wird, dass sie derart ganze Aussagefolgen provoziert und, indem mit ihr die beiden Bezugsstellen festgelegt worden sind, sie die weiteren Aussagen auch analog strukturiert: (12) Bei der Verknüpfung des deutschen mit dem französischen Raum z. Z. der ritterlichen Kultur lassen sich die französischen und deutschen Landschaften erkennen, die für die Übernahme frz. Sprachguts von besonderer Bedeutung sind: 1. Als Einfallstor für frz. Sprachgut spielt die Schweiz […] offenbar keine Rolle […]. 3. Flandern-Brabant war überhaupt im deutschen NW der Vermittler des frz. Wortguts, das von hier aus durch Köln als Einfallspforte zunächst in das Rip. und weiterhin ins Mnd. eindrang (Bach 91970/1986, 196). Aber ohnehin war die Rolle, die die Kanzleien bis etwa 1520 für die äußere Regelung der Sprache durch Auswahl der Wortformen und durch ihre Orthographie gespielt hatten, mehr und mehr den einflussreichen Buchdruckern zugefallen. Sie boten durch die weite Ver-

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

breitung ihrer Drucke fortan die Vorbilder für geregeltes Schreiben (Eggers III 1969, 190). […] Anzahl und Bedeutung der Sondersprachen […]. Mit dem Hinweis auf ihre Wichtigkeit für die Ausbildung des Wortschatzes unserer Gemeinsprache erwähnen wir hier […] die des literarischen Lebens, des Theaters, der Mode, die Sprache der Naturwissenschaften (Elektrizität, Schwungkraft, Hochdruck, Chemie) […]. Wie die genannten Sondersprachen hat auch die des Films den Wortschatz der Allgemeinheit bereichert. […] […] Auch die militärische Fachsprache ist für die Allgemeinheit von Bedeutung: Da ist ein Politiker zu weit vorgeprescht und damit in die Schusslinie geraten […]. Die Sondersprachen geben Ausdrücken der Allgemeinheit vielfach eine Sonderbedeutung […]. […] Die Tatsache, dass einzelne Berufe, Stände und ihre Gruppen der Allgemeinheit Wortgut geliefert haben, ist zu allen Zeiten der Sprachgeschichte zu beobachten (Bach 91970/1986, 409 ff.).

Wichtig für die Übernahme französischen Sprachguts sind diejenigen Landschaften, die Einfallstor, Einfallspforte und Vermittler für französisches Sprach-/Wortgut (für seine Übernahme, seinen Einfall) waren. Wichtig für den Wortschatz unserer Gemeinsprache und der Allgemeinheit ist genau das, was ihn bereichert und eine Bereicherung für ihn ist, was der Gemeinsprache bzw. der Allgemeinheit Wortgut geliefert hat und ihren Ausdrücken eine Sonderbedeutung gibt. Die damaligen Buchdrucker waren einflussreich und bedeutend für das geregelte Schreiben, insofern sie ein Vorbild dafür waren. In solchen Formulierungen, Reformulierungen, Paraphrasierungen, Erläuterungen und (Neu‐) Interpretationen wird die Präpositionalgruppe durch eine Ellipse, einen attributiven Genitiv oder Dativ häufig variiert (Kap. 3.7.; Kap. 4.). Sie machen sich aber für den Autor offenbar gut, indem er die vom Wichtigkeitsprädikat vorgesehene Präpositionalgruppe mit für auch zur Erläuterung dieses anderen Prädikats benutzt. Es steht deshalb dem Leser und Kritiker frei, dasselbe Verfahren zu verwenden: Wer den Originaltext neu formulieren will, kann jederzeit reden von all den französischen und deutschen Landschaften, die als Einfallstor bzw. Einfallspforte für frz. Sprachgut (und für seine Übernahme, seinen Einfall) von besonderer Bedeutung sind (als Paraphrase zu Bach 91970/1986, 196). Dementsprechend gibt es in der Fülle solcher (meistens nachträglichen) Erläuterungen, Deutungen und Umdeutungen des Wichtigkeitsprädikats in den Originaltexten immer wieder Sätze, die im Kern nicht nur ein zweistelliges Prädikat mit einem für im Anschluss haben, sondern zwei solcher zweistelligen Prädikate mit für. In diesen Aussagen übersetzen sich das zweistellige Wichtigkeitsprädikat und ein anderes zweistelliges Prädikat gegenseitig. Hat das Wichtigkeitsprädikat die syntaktische Gestalt eines prädikativen Adjektivs (ist wichtig, bedeutsam oder im Gegenteil belanglos für usw.), dann folgt ihm oder geht ihm voraus ein anderes prädikatives Adjektiv mit der gleichen syntaktischen Valenz, und beide werden mit einem und verknüpft:

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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(13) Wichtiger und charakteristischer ist eine andere Erscheinung, die alle westgermanischen Sprachen gegenüber dem Osten und Norden verbindet, die sogenannte westgermanische Konsonantendehnung (Eggers I 1963, 59). Von idg. Verbalformen verschwinden im Germ. […] Im Germ. entstehen aber […] auch neue Formen […]. Noch bedeutsamer und folgenreicher ist jedoch, dass im Gemeingermanischen eine völlig neue Verbklasse entstand, die sog. schwachen Verben (Schmidt 102007, 48). Mit Recht hat Kurt Ruh auf die große geistesgeschichtliche Bedeutung hingewiesen, die der Schaffung einer deutschen Terminologie zukommt. „Was deutsch gesagt ist, wird sozusagen freigegeben, priesterlicher Hut entrückt, ist Allgemeingut, Element der Volksbildung“. Das ist eine wichtige und förderliche Erkenntnis; denn der Begriff, der einmal geschaffen ist, wird dem Denken und der Sprache verfügbar (Eggers II 1965, 189; Anführungszeichen dort). Für die Sprachgeschichte grundsätzlich wichtig und neu ist es, dass [in Köln, K.L.] trotz der Wirkungen der Reformation bis ins 18. Jh. nicht so sehr ostmitteldeutsche Normen als vielmehr oberdeutsche übernommen und, besonders in der Gegenreformation, sogar von Köln aus ins nordwestliche niederdeutsche Gebiet weitervermittelt wurden (Polenz I 22000, 169). Für eine spätere, schon spätaufklärerische Stufe dieser aristokratisch-bildungsbürgerlichen Kultursymbiose ist die Tafelrunde der Herzogin Anna Amalia v. Sachsen-Weimar typisch und bedeutend. Vom Beginn ihrer […] Regentschaft an (1758) förderte sie Künste, Musik, Literatur, Theater, bis hin zur Öffnung der von ihr eingerichteten herzoglichen Bibliothek für das allgemeine Lesepublikum […] […]. Ein berühmtes Beispiel der in vielen Residenz- und Universitätsstädten gepflegten ‚privaten Öffentlichkeit‘ war der Berliner Montagsklub […] (Polenz II 1994, 30 f.).Wesentlich und neu für die Sprachgeschichte ist […], dass heute [in der BRD und der DDR, K.L.] kaum noch für jemanden der Dialekt das alleinige Kommunikationsmittel darstellt und dass praktisch jeder – zumindest passiv – über eine mehrschichtige sprachlich-kommunikative Kompetenz verfügt (Schildt 31984, 207).

Die Verknüpfung der beiden adjektivischen Prädikate durch und hat dabei keinen additiven, die beiden Prädikate nur summierenden Wert, auch wenn sie sie grammatisch kopulativ – als zwei nebeneinanderstehende Prädikate – miteinander verbindet (Duden-Grammatik 92016, § 1759). Diese Verknüpfung ist explikativer Natur; man könnte mit insofern umformulieren (ebd. § 1804): „Die sogenannte westgermanische Konsonantendehnung“ ist im Kontext nicht irgendwie „wichtig“ bzw. „wichtiger“ (Eggers I 1963, 59). Sie ist „charakteristisch/er“ für „alle westgermanischen Sprachen (gegenüber dem Osten und Norden)“ – und insofern ist sie wichtiger für sie alle. Das speziellere Prädikat erläutert das Wichtigkeitsprädikat, welches ihm deswegen (meistens) vorausgeht. Bei solchen Verknüpfungen hat man es, satzsemantisch formuliert, eher mit dem komprimierten als mit dem kompakten Satzbau zu tun. Die Erläuterung geschieht zwar auf engstem Raum, denn die Präpositionalgruppe steht nur einmal, wo sie ein zweites Mal wiederholt werden könnte. Aber diese Ellipse ist bei diesen Beispielen einigermaßen problemlos durch den engsten Kontext aufzulösen. Erst durch eine doppelte Ellipse der Präpositionalgruppe wird das Stilprinzip des Weglassens gesteigert und transformiert in einen kompakten und schwer

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

verständlichen Satzbau (Kap. 1.7.). Manchmal geht aus dem Kontext nämlich gar nicht hervor, wie eine solche Ellipse der Präpositionalgruppe aufzulösen wäre: Dass die Entstehung der schwachen Verben im Germanischen bedeutsam und folgenreich ist („noch bedeutsamer und folgenreicher“), erklärt sich im Kontext nicht dadurch, dass sie „bedeutsam/er und folgenreich/er“ im Germanischen ist oder für das Germanische oder für irgendetwas anderes, z. B. für das Neuhochdeutsche, welches diese schwachen Verben immer noch hat (Schmidt 102007, 48). Stattdessen muss die kompakte Aussage, diese Entstehung der schwachen Verben sei „bedeutsam/er“, insofern sie „folgenreich/er“ ist, dem Leser genügen, nichts klärt diesen Zusammenhang auf. So wird an einigen Stellen im Text die Wichtigkeitsaussage explizit und raumgreifend erläutert, in Sätzen wie diesen dagegen wird sie auf engstem Raum durch ein anderes zweistelliges Prädikat mit für nur verdoppelt, (mit Nachdruck) rhetorisch amplifiziert (Ueding/Steinbrink 42005, 274) und semantisch erläutert. Außerdem werden solche Erläuterungen auch vollzogen, ohne dass das eine Prädikat (wichtig, bedeutend) vollständig in dem anderen aufgehen muss: Was „neu ist für die Sprachgeschichte“, das ist selbstverständlich „wichtig für“ sie (Polenz I 22000, 169). Das hat aber sicherlich noch eine Bedeutung für die Sprachgeschichte, die sich nicht darin erschöpft, dass man das neuerdings weiß. Mit der Wichtigkeitsaussage behält sich der Historiograph immer einen Spielraum zum Weiterschreiben vor (vgl. Kap. 3.; 5.12.). Die komprimierte bzw. kompakte Redeweise mit solcher Prädikatverknüpfung kann der Historiograph auch jederzeit durch eine andere Redeweise variieren, in der die Wichtigkeitsaussage gar nicht mehr expliziert, sondern bloß „impliziert/einbegriffen“ ist (Polenz 21988, 27), und zwar „konventionell fest“ impliziert (Linke/Nussbaumer 2000b, 437 ff.). Denn oft bilden die Historiographen ihre Aussagen mit solchen adjektivischen (mindestens) zweistelligen Prädikaten, die die Wichtigkeitsaussage (mit für) nur mitverstehen lassen. Schon aus Gründen der stilistischen Variation belassen sie es ja oft nicht bei dem auf Dauer stereotyp wirkenden einfachen Wichtigkeitsprädikat. Sie variieren es, denn die historischen Supposita sind bei ihnen nicht nur wichtig, sondern auch bedeutend, bedeutsam, von großer Bedeutung, von großer Wichtigkeit, von großer Tragweite, von herausragender Wirksamkeit usw. (Kap. 2.2.). Nach dem gleichen Prinzip (varietas delectat) sind/waren überall im Text der Sprachgeschichte historische Supposita (im Aussagenfokus) auch einflussreich für (Polenz I 22000, 104, 129), entscheidend für (Polenz 1978, 29; Polenz/Wolf 102009, 21; Polenz 1978, 71, Polenz I 22000, 133, 163), erheblich für (Polenz II 1994, 89), bahnbrechend für (Polenz II 1994, 102), führend für (Polenz I 22000, 109; Polenz II 1994, 29; Maas 2012, 123), maßgebend/maßgeblich für (Feist 21933, 184; Bach 91970/1986, 339, 401; Polenz 1978, 112; Polenz I 2 2000, 171; Maas 2012, 187), fruchtbar für (Sperber 1926, 85; Bach 91970/1986, 287;

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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Eggers IV 1977, 67; Polenz 1978, 59; Polenz II 1994, 90, 92), bezeichnend für (Kluge 2 1925, 70, 200, 251; Sperber 1926, 68, 127; Eggers II 1965, 117; Eggers III 1969, 182; Bach 91970/1986, 85, 89, 178, 243, 266, 367, 376, 388, 434; Polenz 1978, 40), kennzeichnend für (Bach 91970/1986, 114, 376, 389; Polenz I 22000, 198; Schmidt 102007, 7 f; Polenz/Wolf 102009, 4), charakteristisch für (Kluge 21925, 250; Sperber 1926, 26; Eggers II 1965, 117; Bach 91970/1986, 248; Polenz I 22000, 190; Schmidt 102007, 170; Roelcke 2009, 66), typisch für (Sperber 1926, 126; Schildt 1976, 41, 111; Schildt 31984, 113; Polenz II 1994, 105; Schmidt 102007, 146), bestimmend für (Schildt 1976, 60; Polenz I 22000, 114; Maas 2012, 123, 423; Riecke 2016, 154) oder konstitutiv für (Polenz II 1994, 201, 374, 409; Maas 2012, 111, 346), vorbildlich für (Sperber 1926, 39; Bach 91970/1986, 39, 120, 197, 247; Kleine Enzyklopädie 1983, 655; Polenz II 1994, 120; Polenz I 22000, 142), verbindlich für (Stahlmann 1940, 23, 24; Bach 91970/ 1986, 258, 338; Kleine Enzyklopädie 1983, 655; Riecke 2016, 28), nützlich für (Polenz II 1994, 110, 123), angemessen für (Polenz II 1994, 69), unbrauchbar für (Kleine Enzyklopädie 1983, 604, 616), erforderlich für (Kleine Enzyklopädie 1983, 622; Polenz II 1994, 74; Schmidt 102007, 124), förderlich für (Kluge 21925, 327; Bach 91970/ 1986, 270; Polenz II 1994, 240), hinderlich für (Stahlmann 1940, 32; Polenz II 1994, 273), verhängnisvoll für (Kluge 21925, 234, 245; Bach 91970/1986, 286; Schildt 1976, 119), gefährlich für (Kluge 21925, 210; Polenz II 1994, 22, 353) oder schädlich für (Polenz III 1999, 57) u. a. m. Zitiert seien nur wenige Beispiele: (14) Bezeichnend für das „Westgermanische“ ist ferner der Verlust von ausl. germ.-got. -s, das im Nord. als -r erscheint: got. dags / anord. dagr / asächs. dag […] ahd. tag „Tag“ (Bach 9 1970/1986, 85). Bestimmend für den Charakter der in einem Kloster gepflegten Literatursprache konnte nicht nur der Dialekt des Gebietes sein, in dem das Kloster seinen Sitz hatte, sondern auch eine an bestimmte Persönlichkeiten gebundene Schreibtradition (Schildt 1976, 60). Auf syntaktischem Gebiet bleibt bis ins 10. Jh. die Verwendung der Mehrzahl bei abstrakten Einzelbegriffen stark eingeschränkt […]. Bezeichnend bleibt [bis ins 10. Jh., K.L.] der starke Einfluss der lat. Syntax auf die geschriebene Sprache (Bach 91970/ 1986, 133). Zwar ist der Weg zum Individualismus der Renaissance und damit zur völligen Auflösung des mittelalterlichen Menschenbildes noch weit. Doch werden um das Jahr 1200 in der deutschen Dichtung die Anzeichen unverkennbar, dass die Entwicklung diese Richtung nimmt. Eines der frühesten und gleich ein besonders eindrucksvolles Zeugnis dafür ist das berühmte Selbstportrait, mit dem Walther von der Vogelweide seinen […] ersten Reichsspruch einleitet […]. Es ist ein recht bezeichnendes und in seinen Traditionen für das Mittelalter typisches Bild […]. Wie […] Walther mit diesen herkömmlichen Topoi verfährt, das ist für die höfische Zeit sehr charakteristisch (Eggers II 1965, 117). Hier [in der Schweiz, K.L.] gab es nicht die Voraussetzung, die für die nl. Sprachentwicklung entscheidend war: die schon mittelalterliche städtische Eigenkultur (Polenz 1978, 71). Für den Fortschritt (in Richtung auf eine kulturnationale Standardsprache) mindestens ebenso entscheidend wie der kaiserliche Wirkungsbereich war die schon frühe nördliche Orientierung des Ostfränkischen, vor allem Nürnbergs, das als Stadt des Fernhandels nach Norden und als Ort vieler Reichstage eine Schlüsselstellung innehatte (Polenz I 22000, 163).

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

Bezeichnend für die sprachliche Lage in der Schweiz ist das Verhalten Zwinglis gegenüber der Einladung des Landgrafen Philipp von Hessen zum Marburger Religionsgespräch (Bach 91970/1986, 266). Typisch für das 16. Jahrhundert waren zwei Erscheinungen […] (Schildt 1976, 137). Bezeichnend für die Gaunersprache sind die Umschreibungen für allgemeine Begriffe, die die geheimsprachliche Natur dieser Sprache erkennen lassen: der Mantel heißt Windfang […] der Esel Langohr (16. Jh.) […] (Bach 91970/1986, 242 f.). Verhängnisvoll war die Tatsache, dass das Lateinische im 15./16. Jh. wiederum Einfluss auf den Satzbau des Deutschen gewann. Die lateinische Satzfügung wird […] ausdrücklich empfohlen und […] bewusst nachgeahmt. Die Folgen dieses Verhaltens verspüren wir im Deutschen, obwohl manches rückgängig gemacht wurde, bis auf den heutigen Tag (Bach 9 1970/1986, 286). […] die häufigen Abweichungen dt. Lehnwortbetonungen von Betonungen in der Herkunftssprache lassen den ‚Fremdwortakzent‘ als ein sekundäres Teilsystem der deutschen Sprache erscheinen, das für den größten Teil der Entlehnungen aus verschiedenen Sprachen gilt und vor allem für die deutsche Lehnwortbildung […] fruchtbar geworden ist (Polenz II 1994, 90). Die sächsische Landesuniversität Leipzig wurde für die deutsche Aufklärung führend durch Leibniz (Polenz II 1994, 29). Bahnbrechend für die Begründung des deutschen Englischunterrichts war […] John Thomson (Polenz II 1994, 102). Häufig begegnen bei ihm [Klopstock, K.L.] Plurale von Abstraktem […]. Bezeichnend bleiben die ohne Vergleichung verwandten (absoluten) Komparative […] […]. Kennzeichnend für Klopstock sind einfache Zeitwörter […] schatten für umschatten, fertigen für verfertigen, schrecken für erschrecken (Bach 91970/1986, 375 f.). Für das deutsche Sprachsystem erheblicher ist die starke Vermehrung voller Neben- und Tieftonvokale überhaupt […]. Dass es heute im Dt. wieder zahlreiche Wörter mit neben- oder tieftonigen a,e,i,o,u gibt (nicht nur in Affixen) ist den zahlreichen Lehnwörtern mit lat./griech./roman. Herkunft zu verdanken (stabil, frivol, Motor, Nektar, Alibi, Problem, Kaktus). Es handelt sich hier nicht um etwas Sprachsystemfremdes, sondern um phonemische Möglichkeiten, die es bei Affixen (‐sam, -lich, -los, -ung) im Deutschen immer gab (Polenz II 1994, 89). Das „Amtliche Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch an den Preußischen Kanzleien“ von 1903 […]. Seit 1907 war es maßgebend für die Schulen (Bach 91970/1986, 401).

Die syntaktische Position der Präpositionalgruppe im Satz und ihre syntaktische Funktion stellen sich hier genauso flexibel dar wie bei der allgemeinen Wichtigkeitsaussage (Kap. 2.2.). Als präpositionales Attribut steht sie direkt vor oder nach dem adjektivischen Prädikat; aber mitunter verselbständigt sie sich gegenüber ihrem Bezugsadjektiv und wird in eine Distanzstellung zu ihm gebracht (DudenGrammatik 92016, § 1335)³⁶. Auch hier wird das syntaktisch flexible Verhalten der

 Vielleicht kann man dabei (insbesondere für einzelne Autoren) lexikalische Präferenzen ausmachen: Bei entscheidend wird von Peter von Polenz (1978, 29, 71; 102009, 21; I 22000, 163) die Präpositionalgruppe meistens als Attribut vorangestellt, bei einflussreich verselbständigt sie sich (beim selben Autor): „Für die Entwicklung der deutschen Schriftsprache wurde es einflussreich, dass […]“ (Polenz I 22000, 104), und „begann der Buchdruck einflussreich zu werden für die weiträumige Vereinheitlichung der deutschen Sprache“ (ebd. 129). Vgl. auch die 7. Aufl. der Duden-Grammatik (72005, § 1330).

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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Präpositionalgruppe benutzt, um eine Thema-Rhema-Struktur herzustellen. Und wie beim Wichtigkeitsprädikat wird mit elliptischen oder ignoranten Weisen des Weglassens der Präpositionalgruppe gearbeitet. Was explizit nicht gesagt wird, das muss aus dem Kontext heraus ergänzt werden oder macht den Leser ratlos und in jedem Fall besonders aufmerksam: „Bezeichnend bleibt der starke Einfluss der lateinischen Syntax auf die geschriebene Sprache“ (Bach 91970/1986, 133), „verhängnisvoll war“ der gleiche Einfluss im 15./16. Jh. (ebd. 286) – aber wofür bezeichnend und verhängnisvoll?: für uns, da doch „wir“ die negativen „Folgen im Deutschen bis auf den heutigen Tag […] verspüren“ (vgl. Kap. 5 und 6)? Auch die Anordnung der Bezugsstellen gleicht der der Wichtigkeitsaussage: Vom Prinzip her stehen in der ersten Bezugsstelle (durch Eigennamen, Artikel und andere Indices) einigermaßen präzis historisch identifizierte bzw. aufwändig historisch gekennzeichnete Supposita. In der zweiten stehen hingegen Bezugsgegenstände, die eine morphologisch einigermaßen einfache und begrifflich bereits verfestigte Größe darstellen. Dass diese Prädikate in solchen Aussagen als zweistellige Prädikate eine vergleichbare Bezugsstellenanordnung haben, dass sie (syntaktisch) von der gleichen Präpositionalgruppe begleitet werden, dass diese Präpositionalgruppe darin (wie beim Wichtigkeitsprädikat) syntaktisch nur mehr oder weniger zwingend ist und dass sie (wie dieses) im Satz flexibel positioniert und deshalb im Rahmen der Thema-Rhema-Struktur so oder anders herausgestellt werden kann, das eröffnet dem Leser die Möglichkeit dazu, solchen Aussagen ein (medienontologisches) Subjekt zu unterstellen, das seine Sprache in einem handwerklichen Sinne gebraucht (Kap. 1.5.) und dabei genau diese Wichtigkeitsaussage irgendwie auch trifft. Der Leser solcher Aussagen versteht deshalb: Hier wird nicht nur über die verschiedenen historischen Supposita in der ersten Bezugsstelle gesprochen, sondern auch über Begriffe der historischen Erfahrung, beispielsweise über das deutsche Sprachsystem, die Schulen, das ‚Westgermanische‘, das Mittelalter und die höfische Zeit, über die Gaunersprache oder die Entwicklung der deutschen Schriftsprache u.v. a. m. Indem die attributive Präpositionalgruppe im Satz syntaktisch so flexibel gehandhabt wird, kommentiert dieses Subjekt: Ich schreibe hier nicht nur jeweils über das historische Suppositum in Subjektposition und im Aussagenfokus. Ich schreibe genauso über eine andere Größe, die ich in der zweiten Bezugsstelle (nach Möglichkeit) mit einem historischen Begriff fasse: Ich schreibe nicht nur über Nürnberg im 14.–16. Jh. und seine Orientierung nach Norden (als Stadt des Fernhandels und als Ort vieler Reichstage). Ich schreibe auch über den Fortschritt (den Fortschritt hin zu einer kulturnationalen Standardsprache), insofern das damalige Nürnberg wichtig für ihn war. Oder: Ich schreibe nicht nur über das Verhalten Zwinglis gegenüber der Einladung des Landgrafen Philipp von Hessen zum Marburger Religionsgespräch. Ich schreibe auch über die damalige sprachliche Lage in der Schweiz. Oder: Ich schreibe

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

hier nicht nur über die einfachen Zeitwörter, über „schatten“ anstelle von umschatten, „fertigen“ anstelle von verfertigen, „schrecken“ statt erschrecken, die ich in Klopstocks Texten gefunden habe. Ich schreibe auch über Klopstock, für den genau diese Wörter eine wichtige Bedeutung haben. Auf diese Weise kehrt die Wichtigkeitsaussage in einer Sprachgeschichte regelmäßig immer wieder, nicht nur als explizit ausformulierter bzw. komprimiert oder kompakt gestalteter Text, sondern auch als ein implizierter Subtext anderer Aussagen. Dasselbe gilt für die Aussagen mit (mindestens) zweistelligen Substantivprädikaten mit für: Sind Autor und Leser mit dem Verfahren der Komprimierung (charakteristischer und wichtiger, bedeutsamer und folgenreicher, wichtig und neu für) und dem Verfahren der Implikation (entscheidend, fruchtbar, charakteristisch für im Sinne von wichtig für) vertraut, dann verstehen sie auch bei diesen Aussagen die Wichtigkeitsaussage mit. Das ergibt sich aus der Einübung in das gerade beschriebene Textsorten(stil)wissen, und das ergibt sich auch aus dem einzelsprachlichen Wissen (Coseriu 31994, 54 ff.), weil nämlich ein historisch identifizierter Sachverhalt, der – laut Aussage – charakteristisch, kennzeichnend, vorbildlich, maßgeblich, hinderlich, geeignet oder dienlich für etwas anderes ist, jederzeit auch als Charakteristikum, Kennzeichen, Vorbild, Maßstab oder Hindernis, als geeignetes oder dienliches Mittel für dieses andere bezeichnet und sprachlich gefasst werden kann (Polenz 21988, 109). So geht es fortlaufend darum, was (oder wer) genau Grundlage, Grundstock, Lehrmeister, Vorbild, Norm, Vorlage, Merkmal, Kennzeichen, Antriebskraft, Beweis, Zeichen, Beispiel, Zeugnis, Hilfe, Instrument, Stütze, Schranke, Hindernis, Exponent, Quelle für eine zweite Größe ist/ war usw. Beim Einsatz dieser Prädikate werden außerdem die zum Nominalverbgefüge gehörigen Nominalverben – mehr als bei den Adjektiven – variiert. Eine Sprachgeschichte zu schreiben heißt, in immer neuen Variationen zu sagen, welches historische Suppositum (bspw.) ein Charakteristikum, Vorbild, Hindernis für etwas anderes ist /war/blieb/wurde (mit Kopulaverb, wie bei den Adjektiven) oder darstellt/e, abgibt/abgab, bildet/e, als solches gelten kann, worin es bestand oder liegt, wo es sich findet oder uns begegnet (auch komprimiert ohne Nominalverb nur als Apposition; Polenz 1978, 41) u. a. m. Es seien nur verhältnismäßig wenige Beispiele aufgeführt: (15) […] bildeten die Stammessprachen der Alemannen, Bayern, Franken, Thüringer, Sachsen und Friesen die Grundlage für die Herausbildung des späteren Deutsch […] […] die Basis für das spätere Deutsch (Schildt 1976, 43 ff.). Grundlage für die Herausbildung des frühmittelalterlichen Deutsch waren die Stammessprachen der Alemannen, Bayern, Franken, Thüringer, Sachsen und teilweise der Friesen im fränkischen Reich der Merowinger und später […] (Schildt 1976, 65). Die Voraussetzung für den Beginn der Schreibkultur in Deutschland, das Christentum, brachte nun auch im Wortschatz eine geistige Umwälzung (Polenz 1978, 41).

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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Diese Werke [die „Rhetoriken“, „Artes dictandi“, „Formularien“, K.L.] verlangen deshalb Beachtung, weil sie zu einer Zeit, wo die grammatische Darstellung der Muttersprache noch in den ersten Anfängen steckte, als eine Art Lehr- und Musterbücher für den Gebrauch der deutschen Sprache gelten können, deren Einfluss auf den deutschen Urkunden- und Briefstil und mittelbar auf die deutsche Prosa überhaupt kaum unterschätzt werden kann (Sperber 1926, 80). Nicht unwesentlich ist ferner, dass die Sprache der breiten Volksmassen ebenfalls eine Quelle für Luthers Sprachschaffen bildet (Schmidt 1969, 107). Die führende Rolle des Sächsischen, durch Luthers Vorbild begründet, […] geht nach dem Siebenjährigen Krieg an Preußen über, und damit wird die norddt. Artikulation der Schriftsprache Vorbild für das Nhd. (Schmidt 1969, 134). Als Vorbild für die strenge schriftliche Form deutscher Wissenschaftssprache gilt Christian Wolff […]. Seine Leistung für den modernen Wissenschaftsstil bestand in der Meisterschaft klarer, konsistenter Formulierung (Polenz II 1994, 360). Die Antiqua war an die lateinischen Drucke aus Venedig gebunden (des Druckers Aldo Manutius, 1449 – 1515). Sie wurde später auch zur Vorlage für die „gebildete“ Schreibschrift – aber nicht für das Deutsche (Maas 2012, 248, runde Klammer und Anführungszeichen dort). Es handelt sich bei der 2. Lautverschiebung um die Veränderung eines bereits in sich gespaltenen germanischen Geräuschlautsystems. Auszugehen ist also nicht von einem gemeingermanischen System, sondern von einem voraltoberdeutschen […] im Unterschied zu einem nordwestgermanischen oder ingwäonischen. Merkmal für den Nordwesten waren die Reibelautallophone […] (Kleine Enzyklopädie 1983, 581). Wir unterscheiden jetzt [im Mittelhochdeutschen, K.L.] nur noch zwei Klassen der starken Deklination. Ihre Merkmale für die Maskulina sind der Nichtumlaut (a-Klasse) oder der Umlaut (i-Klasse) im Plural, für die Feminina im Nom. Akk. Sing. die Endung -e ohne Umlaut (o-Klasse) oder Endungslosigkeit (i-Klasse) […] (Feist 21933, 110). Weitere Merkmale für Luthers Bibeldeutsch sind die Aneinanderreihung von Sätzen mit der Konjunktion und […]. Charakteristisch für das „Bibeldeutsch“ wurden zudem […] (Riecke 2016, 119; Anführungszeichen dort). Je formeller […] das Register war, desto mehr Spracharbeit war verlangt, um das Deutsche zur Schriftsprache auszubauen – nach dem Modell des in den jeweiligen Registern praktizierten Lateins, das dadurch zum Sparringspartner für den Sprachausbau des Deutschen wurde, angefangen bei der Herausbildung einer festen Graphie, mit einer konsistenten Fundierung im sprechsprachlich erworbenen Wissen (Graphem-Phonem-Korrespondenzen), über die grammatisch kontrollierte Repräsentation von Wortformen, den Ausbau syntaktischer Ressourcen für den Bau komplexer Sätze (Perioden) bis hin schließlich zur Standardisierung einer Sprachform für den nationalen Raum (Maas 2012, 184, runde Klammern dort). Antriebskraft für diese Entwicklung waren die staatswirtschaftlichen Erfordernisse des Merkantilismus und Kameralismus (Polenz II 1994, 362). Die „Volksschule“ wurde gegen alle reformerischen Ansätze rückgebaut […] wurde […] untersagt […] vorbehalten […] und für die sich zunehmend etablierenden Realschulen wurden restriktive Vorgaben erlassen. Exponent für diese Neuformierung war Philipp Wackernagel (1800 – 1877) […].Weithin im Gebrauch, vor allem aber als Muster, diente sein „Deutsches Lesebuch“ in drei Bänden (1842), abgestellt auf die verschiedenen Altersstufen (Maas 2012, 133). […] die verbreitete Klage über die ungebildeten Massen […]. Dieser Topos bildet die zeitgenössische Stütze für die Vorstellung einer analphabeten Gesellschaft, die von jüngeren Handbuchdarstellungen fortgeschrieben wird (Maas 2012, 139). Das Englische ist auch die Quelle für Ausdrücke des politischen Lebens […] (Feist 1933, 218). Die oben angesprochene Grundstruktur der Kodifizierung [der Orthographie, K.L.] als Wörterbuch hat zur

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

Folge, dass die Grammatik [Hervorh. dort] ausgeklammert wird: die Interpunktion wurde auf der Konferenz [auf der II. Orthographischen Konferenz 1901, K.L.] nicht behandelt, die satzinterne Majuskel wird über Wörterlisten behandelt […] mit der Folge von unklaren Problemen der Substantivierung, Entsubstantivierung […] gegen die etablierte Praxis, Majuskeln als syntaktisches Gliederungsmittel zu nutzen: für die Kerne einer nominalen Gruppe […]. Dabei verdeckt die Kodifizierung über die Wörterlisten die syntaktischen Regelungen und ist letztlich die Quelle für die Konfusion, die die Didaktik- und Reformdiskussion bis heute prägt (Maas 2012, 107 f.). Sprachliche Zeugnisse für das Germanische finden sich außer der Inschrift des Negauer Helms erst um Christi Geburt (Moser 1961, 8). Beispiele für das Germanische bietet vor allem das Gotische (Schildt 31984, 39). Zeugnisse für das Nordgermanische oder Urnordische begegnen uns seit dem 4. Jh. in den Runeninschriften des Nordens sowie in den zahlreichen Lehnwörtern, die von da aus ins Finnische und Lappische eingedrungen sind (Stahlmann 1940, 19). Die ersten vereinzelten Beispiele für deutsche Urkundensprache finden sich in Kölner Schreinsurkunden schon seit 1135 (Moser 1961, 17). Ein Beispiel für die Vielseitigkeit der Fremdsprachentendenz sind die Briefe des kaiserlichen Feldherrn Wallenstein […] (Polenz II 1994, 60). So ist die Kodifizierung der Aussprachenorm zugleich ein Zeichen für den hd.-nd. Ausgleichsprozess (Schmidt 102007, 175). Das Fehlen einer Literatursprache mit überregionaler Geltung von Bestand war insofern kein Hindernis für die überterritoriale sprachliche Kommunikation, als sich der weltliche, vor allem aber der geistliche Feudaladel sowohl im Merowinger- als auch im Karolingerreich in verschiedenen Bereichen des Lateins bedienen konnten (Schildt 1976, 62 f.). Der Gesamtbestand von unterschiedlichen Wörtern des Südwestens gegenüber dem mittleren und nördlichen Deutschland war groß – und in der Tat ein Problem für die Spracheinigung (Riecke 2016, 123). Gegen Ende des 17. Jahrhunderts liegt die Gefahr für die deutsche Sprache nicht mehr in der Sprachmengerei, in dem Eindringen einer, wenn auch großen, so doch immerhin beschränkten Fremdwörtermenge in die deutsche Grundmasse der Sprache, sondern in der völligen Verdrängung des Deutschen aus dem Verkehr der gebildeten Gesellschaftsschichten (Sperber 1926, 106 f.). Allerdings bestand neben den ständischen Schranken, die einer neuen Rechtsordnung [gemäß dem Code Napoléon im Königreich Westfalen, K.L.] gesetzt waren, ein zentrales Problem für die Modernisierung vor allem bei der mittleren Bürokratie: hier blieb das Personal gleich (Maas 2012, 121).

Dort, wo diese Prädikate in expliziten Aussagen einem historischen Suppositum im Aussagenfokus und einer anderen Größe in der zweiten Bezugsstelle zugeschrieben werden, ist überall die Wichtigkeitsaussage als Subtext mit zu verstehen. Vergleicht man die syntaktische Funktion der Präpositionalgruppe an dieser Stelle mit derselben bei den adjektivischen Prädikaten, dann muss man sagen: Hier folgt sie als präpositionales Attribut ihrem Bezugsnomen meistens direkt. Sie bildet ein (postnominal platziertes) Attribut; und es sieht dabei meistens so aus, als würde mit ihr im Wesentlichen (ähnlich wie bei einer Definition) etwas ausgesagt nur über die erste und scheinbar einzige Bezugsstelle zum Substantivprädikat. Aber auch als Attribut zu einem Substantiv büßt sie ihre syntaktische

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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Flexibilität im Satz keinesfalls ein. Wo der Historiograph eine Thema-RhemaStruktur bilden oder sie aus anderen Gründen an einer anderen Stelle im Satz unterbringen will, da tut er es auch in diesen Aussagen: (16) Der Territorialdialekt, im speziellen Einzelfall die Ortsmundart, war auch für die Angehörigen des Feudaladels das Kommunikationsinstrument, dessen er sich im Verkehr mit den Untergebenen und Leibeigenen bediente (Schildt 31984, 83). Wenn trotzdem das gesprochene Deutsch einstweilen auch für den Schreibstil noch Vorbild bleibt, so ist es doch die Sprache der gehobenen Schichten, die zum Muster genommen wird (Eggers III 1969, 192). Mit der Berufung auf „die Reichssprache“ ist es ihm [Schottelius, K.L.] ernst. Zwar geben Luther und die ostmitteldeutsche Weiterentwicklung für seine Sprache und ihre grammatische Darstellung den Grundstock ab, aber […] (Eggers III 1969, 201).

Das stilistische Mittel zur syntaktischen Flexibilisierung im Satz sind insbesondere pseudo-narrative Nominalverbgefüge, bei denen die Präpositionalgruppe die attributive Stellung einnehmen, sich aber auch als Satzglied verselbständigen kann, z. B. in Aussagen der Art, welches Suppositum (welche Person, welche Institution, welches Ereignis) die Voraussetzungen oder Pflanzstätten (für etwas Wichtiges) schafft/schuf (und dafür schuf), wer neue Perspektiven (für etwas Wichtiges) eröffnete (und dafür eröffnete), welches Ereignis einen Horizont (für etwas Wichtiges) vorgab (für etwas Wichtiges), welche Sprache Modell (für eine andere) stand (und für sie Modell stand), wer ein Fundament (für etwas/jemanden Wichtiges) errichtete (und für ihn dieses Fundament errichtete) usw.: (17) Besonders der Mönchsorden der Zisterzienser schafft mit seinen Klöstern Pflanzstätten für die zivilisatorisch-kulturelle Erschließung eines wirtschaftlich kaum genutzten Landes. Die wichtigsten Gründungen der „Schwarzen Brüder“ sind 1132 (Schul)Pforta bei Naumburg, 1162 (Alten‐)Zella zwischen Chemnitz und Meißen […] (Tschirch II 21975, 99). Die Kolonisation ursprünglich slawischer Gebiete, die wachsende politische Bedeutung Böhmens, die Hussitenunruhen, das Aufblühen der ungarischen Macht […], die immer näher rückende Türkengefahr – dies alles waren Ereignisse, die die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes wiederholt auf die Länder Osteuropas lenkten und damit die Voraussetzung für die Aufnahme einer stattlichen Reihe von slawischen, ungarischen und türkischen Lehnwörtern schufen (Sperber 1926, 89).Viele Mystiker und Mystikerinnen, vor allem in der Frühzeit, stammten aus dem Adel, brachten also für ihr kontemplatives Ringen mit der deutschen Sprache gewisse Voraussetzungen mit von der Sprachkunst und dem geistigseelischen Wortschatz der höfischen Dichter (Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Tauler) (Polenz 1978, 59, runde Klammer dort). Seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch J. Gutenberg (um 1446) spielten die Drucker in dem sprachlichen Ausgleichsprozess eine wichtige Rolle. Diese technische Errungenschaft eröffnete eine völlig neue Perspektive für die Sprachentwicklung (Schildt 31984, 109; fast wörtlich in Kleine Enzyklopädie 1983, 622 und zuvor in Schildt 1976, 105). Aber ohnehin war die Rolle, die die Kanzleien bis etwa 1520 für die äußere Regelung der Sprache durch Auswahl der Wortformen und durch ihre Orthographie gespielt hatten, mehr und mehr den einflussrei-

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

chen Buchdruckern zugefallen. Sie boten durch die weite Verbreitung ihrer Drucke fortan die Vorbilder für geregeltes Schreiben (Eggers III 1969, 190). Für den […] Ausbau des Deutschen stand zwangsläufig das Latein Modell. Die Konsequenzen werden in diesem Kapitel vor allem für die Syntax betrachtet (am Beispiel von Grimmelshausen und der Kanzleisprache) (Maas 2012, 165, runde Klammer dort). Die Latein-Renaissance der Humanisten bedeutete auf der einen Seite die Entstehung des Neulateins, das gerade in der Feder und im Munde deutscher Gelehrter indirekt (d. h. über Lehn-Wortbildung) auch für die deutsche Wissenschaftssprache den Grund legte (Polenz I 22000, 215; Klammer dort). Luther ging für das alte Testament auf den hebräischen, für die Schriften des neuen Testaments auf den griechischen Urtext zurück. Er folgte darin dem Beispiel, das die Humanisten für das klassische Altertum gegeben hatten. Denselben Weg hatte schon […] Lorenzo Valla für die Bibel gefordert, so dass Luther bei seinem Vorgehen nur einem Anstoß folgte, den ihm der Humanismus geliefert hatte (Feist 1933, 173 f.). Luther brachte für seine Leistungen gute Voraussetzungen mit […] (Schildt 1976, 139).

Diese Aussagen muten auf den ersten Blick wie eine Erzählung an, weil an die Stelle der Kopula/des Kopulaverbs ein Handlungs- oder Vorgangsprädikat (oft in erzählendem Tempus) gesetzt wird. Aber auch nach diesem Muster ermöglichen es die zweistelligen Prädikate mit für, dass über die zweite Bezugsstelle nicht weniger ausgesagt wird als über die erste (zu diesen Verbindungen vgl. Kap. 4.3.). So kommt in den Sprachgeschichten die Wichtigkeitsaussage in vielen Formen des expliziten, komprimierten, kompakten und impliziten Aussagens vor. Dass genau dieser sprachliche Aufwand getrieben wird, wirft ein Licht auf die Textsorte: Dieser Aussagetyp kehrt so häufig in den Sprachgeschichten wieder und kennt so viele Variationen, dass man ihn selbst für außerordentlich wichtig (für die Sprach-Geschichtsschreibung) halten muss. Er bildet die grundlegende satzsemantische Struktur für die Sprachgeschichten, welche nicht für einen theoriegestützten wissenschaftlichen Text spricht und auch nicht für einen literarisch-erzählenden Text, sondern ganz unprätentiös: für einen bestimmten Typ von Sachtext, der im Nominalstil mit für verfasst ist. Dabei hat dieser Nominalstil, im Unterschied zu anderen Sachtexten (aus Verwaltung, Recht und anderen Institutionen), eine vorzugsweise zweistellige Struktur, die in der ersten Bezugsstelle von historischen Supposita und in der zweiten Bezugsstelle von historischen Begriffen handelt. „Sachtexte“ kommen im zweibändigen Handbuch Text- und Gesprächslinguistik (der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Band 16.1. und 16.2.) überhaupt nicht vor, wenn man dem dortigen Sachregister Glauben schenken kann (Brinker/Anton/Heinemann/Sager (Hg.) 2000/2001, 2. Halbband, 1766 ff.). Bezogen auf die Sprachgeschichten wird Sachtext als vorwiegend informierender Text aufgefasst, mit einem Anspruch auf „Faktizität des Mitgeteilten“ und auf „Schaffung einer kognitiven Disposition zu sachlich […] begründetem Handeln“ und Denken. Die Dokumentation von Fakten ist der Information dabei

2.4 Die Wichtigkeitsaussage als Subtext im Sachtext

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untergeordnet (vgl. Reichmann/Wegera 1988, 52, 170). Worüber historiographische Sachtexte (in der ersten Bezugsstelle der historischen Aussage) informieren, liest man bei Danto (1974, 192 f.): „Jedes Stück Geschichtsschreibung muss a) Ereignisse berichten, die wirklich geschehen sind; und b) sie in der Reihenfolge ihres Eintretens berichten oder vielmehr uns in die Lage versetzen, anzugeben, in welcher Reihenfolge sich die Ereignisse zugetragen haben“. Danto versteht diese Definition zwar als diejenige einer Chronik. Unter b) bezieht er sich aber deutlich auf narrative Techniken der zeitlichen Organisation, welche die chronologische Ereignisreihenfolge nicht abbildet, sondern – narrativ – organisiert (auch mit Rückblenden, Vorwegnahmen usw.). Wie alle Sachtexte, so gehört auch der historiographische Sachtext in eine soziale Institution. Er ist deshalb zwar ein informierender Text, aber er ist prinzipiell nicht autonom. Je nach Funktion und Selbstverständnis der entsprechenden Institution hat er immer auch sozial bindende/normierende, legitimierende, belehrende, erbauende, agitierende, vielleicht auch unterhaltende Aspekte (Reichmann/Wegera 1988). Die historische Information und Dokumentation im Sachtext der Sprachgeschichte ist demnach immer wichtig noch für weitere institutionelle Zwecke, in unterschiedlichen Mischungs- und Hierarchieverhältnissen. Der Institutionenbegriff ist dabei durchaus abstrakt: Die Sprachgeschichtsforschung ist selbst eine eigenständige Institution³⁷, die einmal mehr geprägt wurde von den Indogermanisten, ein anderes Mal mehr von den Etymologen oder später dann von den Pragmalinguisten usw. Sie ist aber nicht unabhängig von Universität und Schule. Zu DDR-Zeiten war sie zudem durchlässig hin zum „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED“, zitiert in Schmidt (1969)³⁸, und im Nationalsozialismus zum institutionalisierten Antisemitismus, Chauvi-

 Zu Institution und Institutionalisierungsgrad der germanistischen Sprachgeschichtsforschung / historischen Sprachwissenschaft vgl. Maitz (2012, 14).  Selten werden diese Bezüge so offen thematisiert wie in den Sprachgeschichten der DDR: Schmidt (1969) zitiert wörtlich aus der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 8 Bde. Berlin 1966“ (vgl. Schmidt 1969, 419, die Nummer 84 im dortigen Literaturverzeichnis). Vgl. auch Schmidt (1992, 14 ff.) sowie Gotthart Lerchner (1974): Zu gesellschaftstheoretischen Implikationen der Sprachgeschichtsforschung. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 94. 141– 155. Die Sprachgeschichten der DDR formulieren Loyalitätsbekenntnisse zu einem politisch-ideologischen System, die zwar ihrerseits zeitspezifisch, historisch und vergangen sind. Immer aber findet man solche Bekenntnisse dort, wo die in der Forschung gerade angesagten Lehrmeinungen und die in der Hochschullandschaft aktiven Meinungsgeber zitiert werden. Eine Sprachgeschichte ist nicht notwendig karrierefördernd; sie dient aber durchaus der Integration ihrer Autoren in die sozial vielschichtigen Institutionen von Universität und Forschung.

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

nismus und Führerprinzip: Sperber (1926) und Feist (21933) mussten emigrieren³⁹, während Bach (91970/1986; erste Auflage 1938) im November 1933 das „Bekenntnis der Professoren“ zu Adolf Hitler unterzeichnete und danach (1941) einen Lehrstuhl an der sogenannten Reichsuniversität Straßburg einnahm⁴⁰. Die meisten Sprachgeschichten sind als Lehrbuchtexte konzipiert und wenden sich vorwiegend an Hochschulstudenten (Kap. 5.8.). Hirt (21925) ist als 4. Band eines „Handbuchs des deutschen Unterrichts an höheren Schulen“ publiziert worden und bestätigt, dass eine Sprachgeschichte auch an den Gymnasien verwendet werden kann, mindestens von den Gymnasiallehrern. Aber gerade in ihrer Funktion als Lehrbuchtexte informieren Sprachgeschichten nicht nur, denn sie sind konstitutiv für die universitären Übergangsrituale – für Prüfungen aller Art. Da nun Studium, Forschung und Lehre gegenwärtig immer abhängiger werden von institutionellen Geldgebern, verändern sich auch die Sprachgeschichten. Es gibt bis heute theoretisch und methodisch ambitionierte Überblickswerke über die Disziplin, deren Autoren sich mit einer neuen Konzeption und Synthese an ihre Forschungskollegen wenden (vor allem Jacob Grimm 1848; Hans Eggers I 1963/II 1965/III 1969/IV 1970; Joachim Schildt 1976; Peter von Polenz I 22000/II 1994/III 1999, Utz Maas 2012)⁴¹. Es erscheinen aber zugleich immer mehr Sprachgeschichten, die im Wesentlichen für einen reibungslosen Ablauf der

 Hans Sperber (1885 – 1963), der seit 1919 an der Universität Köln lehrte (ab 1925 als a.o. Professor), wurde dort ab April 1933 aus rassistischen Gründen schikaniert und im September 1933 formal entlassen. Er emigrierte 1934 in die USA. Dort lehrte er an der Ohio State University mit einer Professur für German Philology. Sigmund Feist (1865 – 1943) – promovierter Gymnasiallehrer für Deutsch, Französisch, Latein – leitete von 1906 bis 1935 ein jüdisches Waisenhaus in Berlin. Er war in dieser Zeit wissenschaftlich aktiv und organisiert. In der „Gesellschaft für deutsche Philologie“, der er seit 1906 angehörte, war er 1927 antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt (Römer 1993, 33 ff.); 1928 musste er sie verlassen. Sein „Vergleichendes Wörterbuch der Gotischen Sprache“ konnte 1935 nicht in Deutschland erscheinen, er veröffentlichte es in den Niederlanden. 1939 emigrierte er nach Dänemark, wo er 1943 an einer schweren Erkrankung starb. Aus: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933 – 1945, begr. von Utz Maas (esf.uni-osnabrueck.de (8. 2. 2020)).  Auch Adolf Bach (1909 – 1972) arbeitete zuerst als Gymnasiallehrer. Er wurde 1927 an die Pädagogische Akademie in Bonn berufen (ab Mai 1933 hieß sie Hochschule für Lehrerbildung) und lehrte gleichzeitig an der dortigen Universität. 1933 trat er in die NSDAP ein und unterzeichnete das „Bekenntnis der Professoren“, das (nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 und der Vertreibung seiner jüdischen Kollegen aus der Uni) in einer politischen Inszenierung in der Alberthalle in Leipzig als Gelöbnis vorgetragen wurde. Trotzdem erhielt er 1971 das „Große Bundesverdienstkreuz mit Stern“ (de.wikipedia.org/wiki/ Adolf_Bach (8. 2. 2020).  Anders gliedert Sonderegger (1995, 71) die Landschaft der (bis dahin) verfügbaren Sprachgeschichten.

2.5 Ereignisse haben keine absolute Relevanz, und alles ist historisch

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Lehrveranstaltungen ihrer Autoren geschrieben sind, damit sie als Hochschullehrer wieder frei werden für etwas anderes, auch für mehr Forschung (Roelcke 2009, 2. Aufl. 2018). Eine dritte Art von Sprachgeschichten ist in den fortgesetzten Neuauflagen von Standardwerken/Klassikern zu sehen. Die Sprachgeschichte von Sperber (1926) ist mittlerweile (2020) in der 11. Auflage mit Peter von Polenz als Autor und Norbert Richard Wolf als Bearbeiter erschienen, Schmidt (1969) in der 12. Auflage (2020). Auch der Dreibänder von Peter von Polenz (I 22000 – III 1999) wird weiter bearbeitet und herausgegeben: Der II. Band ist 2013 in der 2. Auflage erschienen, bearbeitet von Claudine Moulin; eine 3. Auflage des I. Bandes ist für 2021 angekündigt. Adolf Bachs (91970/1986) Sprachgeschichte ist von ihm selbst immer wieder neu bearbeitet worden, ohne dass er sich jemals inhaltlich vom Führerprinzip gelöst hätte. Hier wurde die 9. und letzte Auflage von 1970 untersucht. Obwohl er wahrscheinlich (auch noch mit dieser Auflage) von den Studierenden breit rezipiert wurde, muss man ihn dennoch nicht als einen der genannten Klassiker betrachten. Da er sich nämlich immer selbst wieder neu veröffentlicht hat, geht aus der Zahl der Auflagen über die Akzeptanz bei seinen Kollegen gar nichts hervor. Zu denken gibt allerdings, dass 2010 in Moskau die 5. Auflage einer russischen Übersetzung erschien, die in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig zu besichtigen ist.

2.5 Ereignisse haben keine absolute Relevanz, und alles ist historisch (Veyne 1971/1996; 1990) An dieser Stelle der satzsemantischen Analyse kommt die Geschichtstheorie von Paul Veyne (1971/1996; 1990) wieder ins Spiel. Von ihm kann man lernen: Die Wichtigkeitsaussage ist – ob als Text oder als Subtext – nicht von ungefähr in der Sprachgeschichtsschreibung so präsent. Denn in vielen praktischen wie auch theoretisch-methodischen Zusammenhängen fragen die Historiker immer wieder danach, wie ein Stück der überlieferten Vergangenheit zu seiner historischen Bedeutung gelangt. Veyne setzt sich, wo er diese Frage behandelt (Veyne 1990, 13 – 68), vor allem mit Max Webers Theorie der Wertbeziehung auseinander. Soweit sie die Geschichtswissenschaft betrifft, ist diese Theorie ihrerseits aus einer Auseinandersetzung hervorgegangen, aus der Auseinandersetzung mit Eduard Meyer (Weber 31968, 215 – 265). Schon zwischen diesen beiden ging es um die Frage, „welche von den Vorgängen, von denen wir Kunde haben, historisch seien“ (ebd. 233). Paul Veyne wird nicht der Letzte sein, der später dieselbe Frage stellt: „Alors, qu’est-ce qui est historique, qu’est-ce qui ne l’est pas?“ (Veyne 1971/1996,

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

33)⁴². Prinzipiell ist er auf der Seite Eduard Meyers (Althistoriker wie er), der auch den scheinbar unbedeutenden Überlieferungsgrößen – unter bestimmten Voraussetzungen – eine historische Bedeutung zuerkennt⁴³. Max Weber hatte eine „logische Struktur des historischen Interesses“ geltend gemacht. Er unterscheidet solche Ereignisse und Ereigniszusammenhänge, die „an sich schon interessant“ sind, von anderen, die nur als „Erkenntnismittel für Probleme“ behandelt werden, welche ihrerseits interessant sind (Veyne 1990, 47). In die erste Kategorie sortiert Max Weber die Geschichte Athens, in die zweite die des Staates „bei Tlinkit und Irokesen“. Für die Erforschung der attischen Geschichte gibt es einen „Realgrund“. Derjenige Historiker aber, der sich mit dem Staat der Irokesen beschäftigt, muss sich auf einen „Erkenntnisgrund“ stützen (Weber 31968, 234). Bzgl. der Geschichte dieses Staates orientiert sich Weber an seinem zeitgenössischen Kollegen Kurt Breysig⁴⁴: Er sei vielleicht von Bedeutung „für unser Wissen von der Art, wie generell Staaten entstehen“, als heuristisches Mittel für die Bildung von abstrakten Begriffen, „als Exemplar eines zu bildenden Gattungsbegriffs“ (ebd. 238). Die Geschichte soll aber „Wirklichkeitswissenschaft“ sein, und deshalb bieten nur diejenigen Gegenstände einen „Realgrund“, die als „konkretes Glied eines historischen Zusammenhanges, als reale Wirkung und Ursache innerhalb bestimmter realer Veränderungsreihen“ bestehen können. Solange das Reich der Irokesen keine reale ursächliche Bedeutung für die Entstehung der wirklichen staatlichen Verhältnisse in den USA hat, solange bleibt es historisch unbedeutend. Für die Logik jedenfalls seien das „grundstürzende Unterschiede“. Und wer diese Unterschiede nicht sieht, der könne das „logische Wesen der Geschichte“ nicht verstehen (ebd.). Diese theoretische Position begreift Paul Veyne als Vorurteil (c’est préjuger), und er hält ihr entgegen: „Les faits n’ont pas de taille absolue/Die Ereignisse der Vergangenheit haben keine absolute Größe“ (Veyne 1971/1996, 34; 1990, 51). Ereignisse haben nicht in wirklichen Ereignisketten eine unverrückbare Relevanz und Bedeutung. Vielmehr bekommt aber auch wirklich jedes Ereignis seine Be-

 Veyne bezieht sich vor allem auf Webers „Auseinandersetzung mit Eduard Meyer“ von 1906 (Weber 31968, 215 – 265), die einen Teil seiner „Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ (ebd. 215 – 290) bilden. Er bezieht sich aber auch auf „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904 und auf den „Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ von 1917 (ebd.).  In demselben anekdotischen Stil wie später Veyne hatte Meyer die Möglichkeit erwogen, dass der Schneider Friedrich Wilhelms IV. in eine Geschichte der Mode genauso eingehen könnte, wie der König mit seiner Ablehnung der Kaiserkrone in die politische Geschichte.  Kurt Breysig: Die Entstehung des Staates aus der Geschlechterverfassung bei Tlinkit und Irokesen (Leipzig 1904).

2.5 Ereignisse haben keine absolute Relevanz, und alles ist historisch

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deutung erst vom Historiographen. Man vergleiche nur den 1. Weltkrieg mit der Justizaffäre um den Serienmörder Landru⁴⁵. Beide haben getötet (ungefähr zur selben Zeit), aber man ist viel zu schnell mit Max Weber der Meinung, der 1. Weltkrieg (für die Franzosen: la Grande Guerre) sei an sich und für sich genommen viel bedeutender. Dem tritt Veyne entgegen: Beide Ereignisse gewinnen ihre Bedeutung ausschließlich von dem Kontext her, den der Historiograph dafür schafft. Die Affäre Landru ist im Rahmen der politischen Geschichte völlig unbedeutend, in einer Verbrechensgeschichte hingegen ist sie „von allergrößter Wichtigkeit“. Nicht die Affäre Landru also ist unbedeutend oder bedeutend; ihre Bedeutung und Relevanz bemisst sich ausschließlich an dem Gegenstand, auf den sie bezogen wird und der seinerseits als wichtig erachtet wird oder nicht. Nur weil man normalerweise die Verbrechensgeschichte für unbedeutender hält als die politische Geschichte (für unterhaltsam, aber wenig lehrreich usw.), hält man auch die Affäre Landru für unbedeutend. Veyne verallgemeinert: Die Wichtigkeit eines Ereignisses (historischen Suppositums) wird systematisch mit der Bedeutung des Kontextes verwechselt, in den der Historiograph es hineinstellt (Veyne 1971/1996, 35; 1990, 26). Nicht mit einer Wertbeziehung beginnt deshalb die Historiographie, sondern „im Gegenteil mit einer Entwertung“ (Veyne 1990, 51). Ludwig XIV. ist und bleibt Statist in seiner eigenen Geschichte als König, genauso wie auch jeder Bauer aus dem 17. Jh. Statist in einer „Geschichte des Bauernstandes unter Ludwig XIV.“ wäre. Beide stehen nur als Darsteller auf der Bühne, denn es geht gar nicht um sie. Von Ludwig XIV. spricht „der Historiker nur als Staatschef und nicht als platonischer Liebhaber der La Vallière oder als Patient von Purgon. Nicht Mensch, sondern Rolle ist er“. Und auch „als Patient von Purgon“ wäre er nur einer der „vielen, aus denen sich die Komparserie der Medizingeschichte zusammensetzt […]“ (Veyne 1990, 49). In diesem Sinne ist jedes historische Suppositum nur ein Statist im Text und Kontext der Geschichte. Die Theatermetaphorik wählt Veyne nicht zufällig, denn er ist wie Arthur Danto der Auffassung, dass die Historiographen (Geschichten) erzählen. Ereignisse werden in eine „Serie“ oder „Fabel“ integriert, und dabei bekommt das

 Der Prozess um „den ersten Serienmörder Frankreichs“ (November 1921) wurde von der Öffentlichkeit sehr beachtet: Für eine Verurteilung wegen Mordes braucht es einen Toten, aber Landru hatte die Leichname seiner Opfer verbrannt. Der Sprachgewandtheit, Rhetorik und Verhandlungstaktik der Prozessteilnehmer kam deshalb eine besondere Bedeutung zu. Die Internetseiten des französischen Justizministeriums (justice.gouv.fr (8. 2. 2020)) zeigen, dass man über die Ereignisse um Landru nicht nur sagen kann, dass sie für die Geschichte des Verbrechens wichtig sind. Man kann sie auch wichtig finden für die Rechtsgeschichte, für die Sprachgeschichte, die Geschichte der Rhetorik, die Geschichte der französischen Öffentlichkeit …

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

Ereignis genau die Bedeutung und die Darstellung, die in die jeweilige Fabel passt. Ereignisse werden in einem narrativen Textzusammenhang organisiert. Deshalb heißt es bei ihm: „L’affaire Landru est de première grandeur dans une histoire du crime“ – in einer Verbrechensgeschichte also (1997/1996, 35). Wenn er nicht auf der 2. Metaebene über die Geschichtsschreibung reden würde, sondern diese Beobachtung direkt auf der 1. Metaebene machen und in ein Geschichtsoder Sprachgeschichtsbuch integrieren würde, wenn er seine Theorie zudem in Deutsch konzipiert hätte, dann würde er sich vielleicht selbst übersetzen und sagen: Die Affäre Landru ist zwar für die politische Geschichte bedeutungslos, für die Verbrechensgeschichte aber ist sie „von allergrößter Wichtigkeit“. Oder: Ludwig XIV. könnte genauso gut für die Geschichte der Medizin von Bedeutung sein, man muss nur ein historisches Interesse für die Medizin aufbringen und ein gleichlautendes Buch schreiben. Was hingegen für sich genommen wichtig sein könnte, das kann – auch nach der Auseinandersetzung mit Max Weber – kein einziger Historiker sagen. Ich schließe mit meiner Untersuchung an diese Überlegungen an. Aber den Kontext, in dem die historischen Supposita ihre historische Bedeutung als Ereignis bekommen, in einer narrativen Fabel (intrigue, plot) zu sehen, das wäre zu weit hergeholt. Der sprachliche Kontext ist doch zum Greifen nahe: Die zweistellige Wichtigkeitsaussage mit für ist genau der Ort, an dem die Historiographen entscheiden, ob ein historisches Suppositum wichtig ist oder nicht. Genau dort machen sie es zum Gegenstand ihres historischen Interesses und ihrer historiographischen Reflexion, indem sie es als wichtig erklären für eine Größe, die über den Interpretationsvorschuss, wichtig zu sein, bereits verfügt. „Alles ist Ereignis/ tout est historique“ (Veyne 1971/1996, 28 ff.), wenn nur der Historiograph einen solchen Kontext bereitstellt.

2.6 Praktische Schematisierungen: Die sprachliche Morphologie des historischen Begriffs Es ist in den bisher zitierten Wichtigkeitsaussagen nun allerdings gar nicht so (wie man mit Paul Veyne erwarten würde), dass alles immer nur für die (deutsche) Sprachgeschichte (oder in der deutschen Sprachgeschichte) wichtig wäre. Wo die Sprachhistoriographen sich zu einer Aussage diesbezüglich aufschwingen (ob sie sie nun als expliziten Text oder als Subtext formulieren), da ist das von Veyne beschriebene Verfahren viel freier, weil hier in der zweiten Bezugsstelle des Prädikats sehr viele verschiedene Größen auftreten. Man kann sie alle zusammen kaum systematisieren, denn sie haben ihren Platz im jeweiligen historiographischen Text und nicht in einem wissenschaftlichen System oder mehreren. (Ver-

2.6 Praktische Schematisierungen

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suche der Systematisierung finden sich in Kap. 4.1.–4.12.). Man muss Paul Veyne entgegenhalten: Es reicht nicht aus, ein Buch über die deutsche Sprachgeschichte schreiben zu wollen, diesen Forschungsgegenstand auszugliedern und zum Thema eines Geschichtsbuches zu machen, um dann sagen zu können, was alles wichtig ist und vor allem: wofür. Man muss vielmehr untersuchen, was es mit diesem schillernden Aussagetyp auf sich hat, und mit diesem Durcheinander von Begriffen in seiner zweiten Bezugsstelle. Die historiographische Rolle der (von Veyne diagnostizierten) vagen, gegeneinander durchlässigen und nicht gut abgegrenzten historischen Begriffe entscheidet sich hier. Erfahrungsbegriffe muss man sie nennen, auch wenn sie mal allgemein gebräuchlicher sind (Bayern, der Nordwesten, das Deutsche, die deutsche Sprache, die Gemeinsprache, die Mundarten, der Schreibstil, die Schule u. a.) und mal spezifischer (die mhd. Literatur, die barocke Sprachkunst, das deutsche Wortschatzsystem, die Territorialdialekte, der Sprachausbau des Deutschen, die gesamtgesellschaftliche Kommunikation, die Gegenwartssprache u. a.), wenn manche sogar spontan gebildet sind (die Ortsnamenbildung, das deutsche Wortschatzsystem) sowie unter Umständen sprachmorphologisch zu außerordentlich komplexen Wortgruppen erweitert werden (die Behandlung des deutschen Ausdrucks in der Poesie; vgl. Kap. 2.8.; 2.11.). Anders als in einer Definition stören diese Begriffe der historischen Erfahrung in der zweiten Bezugsstelle einer Wichtigkeitsaussage nicht. Vielmehr ist eine solche Aussage mit einem solchen Begriff, wo auch immer sie im Text erscheinen mag, für die weitere Textgestaltung anregend. Das hat damit zu tun, dass dieser Begriff hier in einer besonderen sprachlichen Verfasstheit erscheint. In der Wichtigkeitsaussage werden historische Begriffe „uneigentlich“ ausgedrückt (Ueding/Steinbrink 42005, 288 ff.; Polenz 21988, 147), denn ihre sprachliche Morphologie entspricht ihrer begrifflichen Vagheit oft überhaupt nicht. Die Historiographen zögern nicht lange: Mit dem morphologischen Mittel einer substantivischen Gattungsbezeichnung, womöglich im Singular, und vorzugsweise begleitet vom bestimmten, dem definiten Artikel (gegebenenfalls ebenfalls im Singular) zwängen sie die historische Erfahrung in ein Schema. Wo ein historisches Suppositum wichtig (gewesen, geworden oder geblieben) sein soll für den Süden oder den Nordwesten, für das Deutsche, die deutsche Sprache, die Gegenwartssprache, die Gemeinsprache, den Schreibstil, die Schule oder auch für die mhd. Literatur oder die barocke Sprachkunst, dort entsteht der Eindruck, unsere sprachlichen, literarischen, räumlich-geographischen Erfahrungen, unsere Schreib- und Schulerfahrungen wären „hinreichend […] bestimmt“ (DudenGrammatik 92016, § 383). Bei dieser „uneigentlich“ genannten „Verwendung des Singulars“ steht, nach Art einer Synekdoche, der Singular für den Plural (Ueding/ Steinbrink 42005, 291). Und dieser Singular zeitigt, zusammen mit dem definiten Artikel, einen morphologisch einfachen und sogar kategorischen Zugriff auf die

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

jeweiligen Erfahrungsbereiche: Die Historiographen geben zu verstehen, sie wüssten genau, wovon sie sprechen. Mehrere semantische Eigenschaften des definiten Artikels werden dabei gleichzeitig mobilisiert: Mit ihm sprechen die Historiographen an dieser Stelle von einer einzigen Einheit, die sie nicht nur identifizieren, sondern gleich auch individualisierend quantifizieren (Polenz 21988, 147)⁴⁶. Und sie verweisen mit ihm anaphorisch auf etwas Bekanntes: auf ein und denselben Bezugsgegenstand, den der Autor und seine Leser sowieso schon kennen (ebd. 144). Dazu kommt die Semantik der (im Singular) verwendeten Gattungsprädikate, die als kollektivierende „Sammelbezeichnungen“ (das Germanische, die Gegenwartssprache, das Deutsche) eine Ansammlung von vielen Größen zu einer einzigen, kollektiven Ganzheit zusammenfassen (ebd. 166). Weiterhin erscheinen Katachresen und Metaphern (unser Sprach-Stamm, die Sprach-Entwicklung, das Sprach-System, der deutsche Wort-Schatz, das Wörter-Buch des Deutschen, der Aufbau der feudalen Gesellschaftsordnung), mit denen eine solche Ganzheit (von allem Deutschen und Feudalen usw.) fast bildlich vor den Leser hingestellt wird. Sogar so unwissenschaftliche Typenbezeichnungen wie die Bühne und die Schule werden an diese Stelle im Sach- und Lehrbuchtext verbracht. Für ein Verständnis dieses definiten (individualisierend quantifizierenden, als Einheit individualisierenden) und sogar (bildlich, metaphorisch) schematisierenden Zugriffs auf die zweite Bezugsgröße ist die Unterscheidung von Begriff und Bedeutung freilich unerlässlich. Wovon wir uns bspw. unter der Bezeichnung (deutsche) Geschichte und Sprachgeschichte einen Begriff machen, das setzt sich zusammen aus vielen heterogenen Erfahrungen, alltäglichen und berufspraktischen, empirischen und abstrakt-begrifflichen, bewussten und unbewussten. Solche Erfahrungsbegriffe sind, darauf hatte Paul Veyne abgehoben, aggregative Begriffe, die sich auf vieles beziehen und Heterogenes bedeuten (Kap. 2.1.). Mit Fritz Hermanns (1999) kann man sie als Totalitätsbegriffe deutlich unterscheiden von den durch die Sprachhistoriographen sprachlich aktualisierten (mehr oder weniger metaphorischen, typisierten) Kollektivbegriffen. Die Begriffe der historischen Erfahrung bilden kein kollektives „Ganzes“, das „aus seinen jeweiligen Elementen“ besteht (wie die Herde und das Gebirge), sondern sie bilden „die Gesamtheit dieser Elemente selber, sozusagen ihre Summe, ihre Menge“. Es geht in ihnen um „eine Gesamtheit irgendwelcher gleichartiger Entitäten […], und zwar unabhängig davon, ob diese Gesamtheit vielleicht außerdem – aus zusätzlichen  Für die Duden-Grammatik (92016, § 383) ist diejenige Bezugsgröße „bestimmt“, die im kommunikativen Kontext „hinreichend identifiziert“ ist. Definitheit wird auf die Artikelfunktion der Identifizierung beschränkt; die Frage nach der Quantifizierung, die ja nicht nur vom Numerus des Substantivs, sondern auch dem des Artikels getragen wird, wird ausgelassen.

2.6 Praktische Schematisierungen

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Gründen – eine Einheit darstellt, außer einer sozusagen rechnerischen“ (ebd. 356; 359 f.). Hermanns bezieht sich damit auf die Mengenlehre: Ein Totalitätsbegriff umfasst eine reine Zähleinheit. „Eine Vorentscheidung hinsichtlich des ontologischen Charakters der Gesamtheit soll […] gerade nicht vorausgesetzt und impliziert bzw. suggeriert sein“ (ebd. 356 f.). Totalitätsbegriffe müssen deshalb nicht stimmig sein in sich und nicht präzise abgegrenzt nach außen⁴⁷. Damit ist der Zustand der Erfahrungsbegriffe beschrieben, den Paul Veyne nur konstatiert. Demgegenüber beschwert sich Veyne über die sprachliche Morphologie dieser Begriffe, weil sie mit ihrer ganzheitlich schematisierenden Bedeutung einem solchen Begriff nämlich nicht gerecht werden kann. Beim Reden von der (deutschen) Sprache oder der (deutschen) Geschichte/Sprachgeschichte (der nl. Sprachentwicklung, der mittelhochdeutschen Literatur, der deutschen Lehnwortbildung, der „gebildeten“ Schreibschrift usw.) macht man aus einer losen Menge von begrifflichen Elementen eine fassliche Einheit. Der sprachlichen Darstellung nach zu urteilen, bildet diese Einheit nicht nur eine Zähleinheit, sondern ein „gestalthaftes und/oder organisches oder systemisches Ganzes“ (ebd.). Wie man das Gebirge nicht als zufällige Ansammlung von irgendwelchen Bergen ansieht, so sieht man, wenn man bspw. von der deutschen Sprache redet, eine irgendwie in sich stimmige Größe vor sich: nach Belieben ein einigermaßen homogenes (deutsches) Sprachsystem oder Subsystem⁴⁸ (der deutsche/neuhochdeutsche Wortschatz/die deutsche Lehnwortbildung), einen einheitlichen Sprachcharakter (zu Grimms Zeiten noch einen Sprachgeist⁴⁹, später ein Sprachwesen wie das Deutschtum, das Deutsche), eine hinlänglich scharf umrissene Sprachpragmatik bzw. Sprachsoziologie (die deutsche Kultursprache, die Wissenschaftssprache, die deutsche Hochsprache, die Sprachkunst, die deutsche Dichtung, die Literatur, die Schriftsprache, der Schreibstil, die Kanzleisprache, die Mundarten, die nördlichen Kulturräume oder auch die Sprachgeschichte), in der Geschichte und der Sprachgeschichte vielleicht ein einziges kohärentes Geschichtsprinzip oder eine schlüssige Fabel (die Entwicklung/Herausbildung der  Hermanns (1999, 358) unterscheidet Totalitätsbezeichnungen, Totalitätsbegriffe und Totalitätswörter nicht. Menge, Klasse, Gruppe nennt er als Beispiele für „unspezifische Totalitätswörter“, Volk, Nation, Bevölkerung, Stamm, Rasse, Ethnie und Gesellschaft als Beispiele für „spezifische Totalitätswörter“.  „Zweifellos gibt es für jede Sprachgemeinschaft, für jeden Sprecher eine Einheit der Sprache, doch dieser umfassende Kode besteht aus einem System von miteinander verbundenen Subkodes“ (Jakobson 1960/1972, 103).  Schmidt (1986, 86) präzisiert: „Der Sprachgeist“ erscheint damals „nicht etwa, wie es dem modernen Verständnis noch möglich wäre, nur als bildlicher Ausdruck für die Individualität einer Nationalsprache oder eines Epochenbegriffs […], sondern als aktiv wirkendes und bildendes Entwicklungsprinzip“. So auch Bär (2010, 16; 20), vgl. Kap. 4.1.

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deutschen Sprache/ die Sprachentwicklung/ der neuhochdeutschen Schriftsprache/ den Übergang zur deutschen Sprache / den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre) ⁵⁰. Dieselbe Kritik an der holistischen sprachlichen Morphologie der historischen Begriffe zieht sich beharrlich durch die Geschichtsreflexion: Danto (1974, 229) beanstandete sie als „monadische Begriffe“ und bezog sich dabei auf Hume, dem „diskrete und kugelartige“ Begriffe auch schon suspekt waren. Veyne spricht zumeist von Typen und „Idealtypen“ (Veyne 1971/1996, 174; 1990, 92), auch von „generischen Bildern“ (ebd. 96), von Stereotypen und Vorurteilen. Historische Kennzeichnungen, die er als Gegengift einfordert, wirken dem kaum entgegen, denn auch bei der üblichen Rede von dem Westgermanischen, der mittelhochdeutschen Literatur, der neuhochdeutschen Schriftsprache, der barocken Sprachkunst werden (nicht anders als bei der deutschen Sprache) heterogene Größen derselben schematisierenden Vereinfachung unterworfen. Vorgangsprädikate wie der Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre sind erst recht schematisch vereinfacht, denn mit ihnen bringen die Historiographen eine Vielzahl von unübersichtlichen und unzusammenhängenden Handlungen, Vorgängen, Ereignissen, Zuständen und den davon betroffenen Personen, Gegenständen, Sachverhalten auf einen „kugelrunden“, holistischen Begriff. Weil man diese sprachliche Morphologie jederzeit „emphatisch“ verwenden kann „zur Betonung einer ganzheitlichen, holistischen Sicht der Vielfalt all der Elemente, die in eine ‚Einheit‘ integriert sind, statt nur additiv dazugezählt zu werden“ (Hermanns 1999, 360), können auch alle Arten von Pauschalisierungen und Typisierungen mit ihr jederzeit einhergehen. Der Weg zu Stereotyp, Klischee und Vorurteil, zu einer idée préconcue/idée toute faite in dem negativen Sinne von Paul Veyne (1971/1996, 175), ist dann womöglich nicht mehr weit, denn wer weiß schon, auf welchen Begriff sich jemand bezieht, wenn er ein beliebiges historisches Suppositum (bspw. „das für die deutsche Sprache charakteristische Prinzip des Satzrahmens“) als bedeutend erklärt für das Deutsche oder die deutsche Sprache oder für die Allgemeinheit, die Kommunikation, die Sprachgeschichte usw. Dass auch in der

 In Übereinstimmung mit seiner allgemeinen Theorie der Totalitätsbegriffe/-wörter kritisiert auch Hermanns (1999, 372) verschiedene Sprachbegriffe anhand der Sprachdefinitionen in verschiedenen linguistischen Wörterbüchern: Die Sprache als „System von Zeichen, Werkzeug des Denkens und Handelns, das wichtigste Kommunikationsmittel“ aufzufassen wäre eine unangemessene ganzheitliche Betrachtung. Das „Mittel“ ist – als bloße Zähleinheit – eine „Gesamtheit von vielen Mitteln“. Das „Werkzeug“ ist „ein Werkzeugkasten“. Köller (2006, 26) meint, Sprache sei als „ein komplexes kulturelles Erfahrungskonstitut zu verstehen, bei dessen Etablierung schon sehr viele Vorentscheidungen darüber gefallen sind, was an ihm wichtig sein soll und was nicht“ (vgl. auch ebd. 33).

2.6 Praktische Schematisierungen

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Wissenschaft aus dieser schematisierenden und typisierenden Morphologie schnell Stereotype werden, das hat ja gerade das realitätsfremde Vorurteil vom deutschen Volks- und Nationalcharakter in der deutschen Sprache und der deutschen Sprachgeschichte gezeigt. Der holistische Sprachgebrauch wird deshalb beargwöhnt und ist generell dem Ideologieverdacht unterworfen (Polenz 21988, 149). In den deutschen Sprachgeschichten des 20. Jahrhunderts wird – in der zweiten Bezugsstelle dieses Aussagetyps – bis ca. 1970 fast ausschließlich die vereinfachende, holistische Redeweise bedient (Beispiele im ganzen Kap. 4.), bei Kluge (21925), Hirt (21925), Sperber (1926), Bojunga (1926), Stahlmann (1940), Feist (21933), Bach (91979/1986), Moser (1961), Eggers (I – IV 1963 – 1970), Tschirch (I 21971/ II 21975) und überwiegend noch bei Polenz (1978 sowie Polenz 102009). Die DDR-Sprachgeschichtsschreibung (seit Schildt 1976; Kleine Enzyklopädie 1983; Schildt 31984)⁵¹ wirkte genau an dieser Stelle modernisierend, denn hier sollte das Suppositum in der ersten Bezugsstelle auf einmal wichtig sein – mit einem Pluraletantum – für die gesellschaftlichen und die kommunikativen/sprachlichen Verhältnisse. Und auch spezifischer: nicht für das Niederdeutsche, sondern für Sprecher nd. Territorialdialekte, nicht für die Zukunft oder die Sprachentwicklung, sondern für künftige Sprachentwicklungen, nicht für das Wörterbuch des Deutschen, sondern für die Umschichtungen in der Lexik oder für Bewegungen im Wortschatz, nicht für die Großschreibung, sondern für Großschreibungen u. a. m.: (18) Die Stammessprache als die für urgesellschaftliche Verhältnisse typische Existenzform der Sprache gewährleistete nach wie vor die Kommunikation innerhalb eines Stammes (Schildt 1976, 37). Die nur für Stammessprachen der Nordseegermanen typischen Erscheinungen müssen sich wahrscheinlich um die Zeitenwende und in den ersten nachfolgenden Jahrhunderten ausgebildet haben (Schildt 1976, 47). […] dass er [der Verfasser des Heliand, K.L.] sich bei der Darstellung des Lebens Christi eines bekannten, für gentilgesellschaftliche Verhältnisse typischen Wort- und Formelschatzes bediente, den er nun auf neue Inhalte anwendet (Schildt 1976, 61). Sonderhilfen für deutsche Phoneme waren auch die der angelsächsischen Orthographie entnommenen durchgestrichenen b und d […], die Reibelaute andeuten sollten (Kleine Enzyklopädie 1983, 567). Magdeburg war das Einfallstor für Sprecher nd. Territorialdialekte, Erfurt für md. und Bamberg und Regensburg waren es für obd. Siedler (Schildt 1976, 88; Schildt 31984, 88). Typisch für die Umschichtungen in der Lexik war das Aufkommen von Fachwortschätzen (Schildt 31984, 187). Anlass für Großschreibungen einzelner Wörter war ursprünglich offensichtlich das Bemühen, für die Information besonders wichtige Wörter graphisch hervorzuheben; darauf deutet hin, dass Wörter wie Gott und Herr in der Bibel meist mit großen Initialen begannen […] (Schildt 1976, 146). Weiterhin war für Bewegungen im Wortschatz das Eindringen von Fachwörtern

 In der 2. Auflage von Schmidt (1969/21976) wurden die historischen Begriffe in der zweiten Bezugsstelle noch nicht sprachlich in einen Plural gefasst.

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in die Allgemeinsprache kennzeichnend […]. Aus dem Fachwortschatz der Philosophie […] betraf das z. B. Wörter wie Bedeutung, Begriff, Beweggrund, Bewusstsein, Verhältnis […] (Schildt 1976, 160). Einige der Übernahmen [aus dem Französischen, nach der Französischen Revolution, K.L.], wie Opposition, Präsident oder Fraktion, bekamen für deutsche Verhältnisse erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. größere Bedeutung (Kleine Enzyklopädie 1983, 684).

Bei Schildt (1976, auch in der 3. Auflage 1984) und in der Kleinen Enzyklopädie (1983) mit demselben Joachim Schildt als Redakteur begleitete (und verkörperte) der bestimmte Artikel nicht länger einen homogenisierenden, holistischen Singular, sondern einen Plural. Und da das Substantiv (im Plural) selbst oft eine diffuse Totalitätsbedeutung hatte (Verhältnisse, Entwicklungen, Bewegungen, Umschichtungen, Prozesse, Erfordernisse und Bedürfnisse), hat man ihn sogar ganz weggelassen. So wurde sprachlich aus der idealisierten, ganzheitlichen Einheit in der zweiten Bezugsstelle tendenziell eine offene Vielheit. Mit dieser sprachlichen Morphologie begannen die Historiographen, der begrifflichen Skepsis im Umgang mit den Begriffen der historischen Erfahrung Rechnung zu tragen (Kap. 2.1.). Heute ist die implizite Warnung, der sogenannte „uneigentliche“ Singular in Begleitung des definiten Artikels kompromittiere die historische Forschung, allgegenwärtig, und alle Sprachhistoriographen des Deutschen probieren Varianten des „eigentlichen“ Sprechens aus: Um Schematisierungen zu vermeiden, ersetzen sie die (kollektiven) Gattungsbezeichnungen im Singular durch Substantivierungen von Infinitiven. Aus der deutschen Schriftsprache wird „das volkssprachige Textieren“ (Schmidt 102007, 90). Aus der zweiten Lautverschiebung wird deren „Hemmen oder Eindringen“ (Kleine Enzyklopädie 1983, 582), aus der einheitlichen Schriftsprache wird „geregeltes Schreiben“ (Eggers III 1969, 190), aus der Klassifikation und Systematisierung wird „Klassifizieren und Systematisieren“ (Polenz II 1994, 354), immer in der zweiten Bezugsstelle in diesem Aussagetyp. Verwenden die Historiographen (kollektive) Gattungsbezeichnungen, dann verzichten sie nach Möglichkeit auf den Artikel, besonders auf den bestimmten Artikel: (19) Der fachliche Sprachgebrauch in traditionellen praktischen Tätigkeitsbereichen war für rationalistisch modernisierte Wissenschaftssprachen und für ein allgemeines Bildungsdeutsch wenig geeignet (Polenz II 1994, 347). Von den Erfordernissen der städtebürgerlichen Schriftlichkeit her traten aber immer mehr praktische Lese- und Schreibbedürfnisse für Rechtsleben,Verwaltung, kaufmännische Buchführung und Handwerk in den Vordergrund (Polenz I 22000, 125). Moralisierende und erbauliche Anweisungen für neue Frömmigkeit, neues Recht, neue Sitten in Gemeinden und Familien (Polenz I 22000, 140). Auch für Astronomie, Historiographie, Poetik, Rhetorik, Grammatik, Lexikographie ist von humanistischen Gelehrten im 16. Jh. der Grund gelegt worden (Polenz I 22000,

2.6 Praktische Schematisierungen

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144). Das seit 1510 überlieferte Wort Rotwelsch war ein Sammelbegriff für geheimsprachlichen Wortschatz von Bettlern, Landstreichern, Gaunern, Hausierern, Marktschreiern, Wandermusikanten usw. (Polenz I 22000, 201). Typisch für altdeutsche Rechtssprache, und für den Wortgebrauch der frühbürgerlichen Zeit überhaupt, waren […] (Polenz I 22000, 204). Kontore großer Handelshäuser, Kanzleien von Adel und Geistlichkeit, später auch Offizinen bieten mit ihren überregionalen Verbindungen natürliche Rahmenbedingungen für literalen Sprachausgleich (Lerchner 2001, 571). Die „Freilegung des durch das Fremde zugeschütteten Wortbildungspotentials“ war ein innersprachliches Motiv für Fremdwortverdeutschung (Polenz II 1994, 112). Ähnliche Versuche, regelnd in die Sprachwirklichkeit einzugreifen und Vorschriften für vorbildlichen Sprachgebrauch zu erlassen, fanden sich auch in der Grammatik […] (Schildt 1976, 153). Er [Christian Wolff, K.L.] war zu der Überzeugung gekommen, dass die meisten Studenten das Vorgetragene auf Deutsch besser verstehen könnten als auf Latein, da ihre Lateinkenntnisse für anspruchsvollere Argumentation nicht hinreichend seien (Polenz II 1994, 360). Antiqua/ Lateinschrift wurde von Liberalen als Symbol für Emanzipation und Internationalität benutzt (Polenz III 1999, 44). Die schriftliche und mündliche Disziplinierung mit Statuten, Protokollen, Berichten […] […] machte das Vereinsleben zu einer Vorübung für späteren Parlamentarismus und demokratische Öffentlichkeit (Polenz III 1999, 65 f.).

Mit all dem versteht sich: Das Rechtsleben, die Rhetorik und die Grammatik, den Sprachausgleich, die Argumentation und die demokratische Öffentlichkeit mit all den homogenisierenden und schematisierenden Implikationen gibt es gar nicht; solche Wortgruppen legen es uns viel zu nahe, komplexe Zusammenhänge zu verdinglichen und als Universalien in die Wirklichkeit hineinzuprojizieren (im Sinne von Veyne, siehe Kap. 2.1.). Die Historiographen entscheiden sich deshalb dafür, ihren Redegegenstand (in der zweiten Bezugsstelle) „ungenau“ als „ungewisse Menge“ von (begrifflichen) Einheiten zu quantifizieren (Polenz 21988, 146). In dieser Praxis stimmen sie mit dem Anliegen von Fritz Hermanns (1999, 372 ff.) überein, denn auch er hat vorgeschlagen, den Artikel wegzulassen, für den Fall, dass man ein Wort (wie Kultur oder Sprache bspw.) eindeutig als Totalitätsbezeichnung für einen Totalitätsbegriff verwenden will. Und sie stimmen überein mit der satzsemantischen Sprachkritik: Peter von Polenz (21988, 147) erklärt solche abstrakten Prädikate (Wörter und Wortgruppen wie Kunst, Kultur, Sprache) normativ zu „beliebten artikellosen Abstraktwörtern für eingebettete Prädikate, […] mit denen systematisch vage quantifiziert wird“. Wenn ein historisches Suppositum also wichtig für altdeutsche Rechtssprache oder für geheimsprachlichen Wortschatz sein soll, dann wäre, aus dieser satzsemantischen Sicht, die zweite Bezugsstelle als (eingebettete) Prädikation in einem Nebensatz explizit auszuformulieren, und es hieße: Das Suppositum ist wichtig dafür, dass man altdeutsche Rechtssprache (sprachlich, rechtlich, im Recht, bei der Rechtsprechung, in altdeutscher Sprache, für die Anwendung von altdeutschem Recht …) gebrauchen

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

oder sich mit einem entsprechenden Wortschatz geheimsprachlich (geheim in einer Sprache, zur sprachlichen Geheimhaltung …) verständigen konnte. Natürlich stoßen die Historiographen mit dieser Art der praktischen Begriffskritik an die Grenze von Grammatik und Text. Sicherlich können im deutschen Satzbau Aufzählungen von Abstraktprädikaten (Historiographie, Poetik, Rhetorik, Grammatik) durchaus grammatisch korrekt auch ohne Artikel formuliert werden (Duden-Grammatik 92016, § 1419)⁵². Dieses Prinzip widerspricht aber dem anderen, dass der Beginn langer Substantivgruppen durch einen Artikel signalisiert werden soll, um nämlich das Leseverständnis zu sichern (Polenz 21988, 144). Den Artikel hier wegzulassen, verfremdet also den Satzbau dieser Aussagen beträchtlich⁵³. Es schlägt sich dabei negativ nieder, dass diese historiographische Praxis der Begriffskritik (wie die satzsemantische Sprachkritik) zwischen allgemein einzelsprachlichen Funktionen und Textfunktionen nicht unterscheidet (Coseriu 31994; dargestellt in Kap. 1.7.). Die Kritik daran, dass diese abstrakten Kollektivbezeichnungen mit der Synekdoche des Singulars in einzelnen Texten der politischen Öffentlichkeit eine pauschalisierende Textfunktion haben, gerät den Historiographen ihrerseits zu einer Pauschalkritik. Sie versuchen, den historiographischen Sprachgebrauch praktisch zu normieren und richten diese Normierung am Maßstab der öffentlichen Texte aus, ohne die Textsortenunterschiede zu berücksichtigen. Auch der präzise Ort der kritisierten Morphologie und der von ihr gefassten Begriffe in der Aussage bleibt dabei unberücksichtigt. Bis heute haben deshalb die DDR-Historiographen mit ihrer Pluralisierung der Begriffe Maßstäbe gesetzt: Heutzutage werden Verhältnisse, Erfordernisse, Zwecke und Bedürfnisse sowie Bereiche, Kräfte, Tendenzen, Praktiken (u. a. m.) mit ihrer vagen Mengen-Semantik gerne in die zweite Bezugsstelle eingesetzt. Durch die Wahl solcher Pluralprädikate im Kern der Präpositionalgruppe, oft mit Verzicht auf den bestimmten Artikel, scheinen morphosyntaktische Regelhaftigkeit und Begriffskritik gleichzeitig garantiert zu sein, denn Mengenbegriffe brauchen

 „In Reihungen mit kopulativen (additiven oder alternativen) Konjunktionen können die Artikel ganz weggelassen werden“ (Duden-Grammatik 92016, § 1419).  Bezeichnenderweise kann es diese Art des Kommentars im Französischen gar nicht geben (man kann den Plural verwenden, aber der Artikel ist dort grammatisch unverwüstlich), obwohl dessen Muttersprachler, wenn sie sich geschichtstheoretisch äußern, nicht weniger begriffskritisch sind. Über den bestimmten Artikel mokiert sich auch Paul Veyne: Da er ihn (oder ein anderes Artikelwort) auf Französisch selbstverständlich verwenden muss, setzt er ihn in Anführungszeichen „La religion“ (Veyne 1971/1996, 182 ff.) und „la politique“ gäbe es gar nicht (Veyne 1978/1996, 389, Hervorh. dort). Er schlägt vor: L’ Histoire mit Majuskel gibt es nicht, es gibt immer nur „des histoires de […]“. Als Historiographen würde ihn allerdings diese Schreibweise vermutlich ähnlich überfordern, wie es die Artikellosigkeit langer Substantivgruppen mit den Historiographen der deutschen Sprache tut.

2.6 Praktische Schematisierungen

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keinen Artikel. Manchmal erscheint er trotzdem: Noch in der Diktion der DDRSprachgeschichtsschreibung geht es etwa bei Maas (2012) dauernd darum, was für „(die) gesellschaftliche(n)/politische(n)/sprachliche(n) Verhältnisse“ wichtig oder konstitutiv ist/war (oder für semantisch reichere Pluralgrößen): (20) Bildung war nicht konstitutiv für die feudalen Herrschaftsverhältnisse (Maas 2012, 346). […] die Bauernhaufen im Allgäu gaben sich 1525 in Memmingen mit ihren „12 Artikeln“ eine Art Satzung, die im Druck ungemein rasch in ganz Deutschland verbreitet wurde und das Modell für ähnliche Forderungskataloge anderswo abgaben (so z. B. für einen ständischen Aufstand in Osnabrück 1525) (Maas 2012, 224, runde Klammern dort). Die aus dem Lateinunterricht stammende orthographische und grammatische Edition geschriebener Texte [in der Zeit von 1520 bis 1620, K.L.] bildete die Matrix für die stabilen älteren regionalen Schreibsprachen. Demgegenüber brachte die Neuorientierung auf einen hochdeutschen Horizont da, wo er nicht in der Spontansprache zu fundieren war, zunächst einmal Verunsicherungen. […] die Umstellung [auf den hochdeutschen Horizont lässt sich, K.L. ] nur in den idiosynkratischen Schreibpraktiken fassen, die zwar eine Typisierung erlauben, nicht aber die Extrapolation einer einheitlichen Schriftsprache – diese ist nur ein impliziter Grenzwert für diese Praktiken, aus dem erst im Barock ein sprachliches Projekt wird (Maas 2012, 228). Der Buchdruck lieferte die mediale Basis für die Neuzentrierung der sprachlichen Verhältnisse auf die hochdeutsche Schriftsprache (Maas 2012, 243). Die Entwicklungen im Mittellateinischen haben für die Verhältnisse im Deutschen eine besondere Bedeutung (Maas 2012, 269). Während […] [im 20. Jh. in Deutschland, K.L.] die ethnische Heterogenität der („arbeitenden“) Bevölkerung für die Verhältnisse konstitutiv war, trug dem das Recht nicht Rechnung […] (Maas 2012, 94, runde Klammern und Anführungszeichen dort). Während die Anredeformen direkt soziale Relationen spiegeln, sodass Änderungen des tradierten Systems für soziale Verhältnisse transparent sind, ist eine solche Kopplung in anderen sprachlichen Feldern nicht gegeben (Maas 2012, 89). Hintergrund für diese sprachlichen Fragen [es geht um die feministische Sprachkritik, K.L.] ist die Konfusion bei grammatischen Markierungen bzw. ihre Verwechslung mit semantischen (Maas 2012, 90).

Indem Utz Maas von den Verhältnissen oder Praktiken (in der zweiten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage) spricht, legt er sich so gut wie gar nicht mehr auf einen Redegegenstand fest: nicht mehr auf einen historischen Begriff, schon gar nicht mehr auf einen einzigen historischen Begriff. Diese Wortgruppen in der zweiten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage (wie z. B. die Verhältnisse im Deutschen) erscheinen oft genug als reine Füllwörter. Und auch in anderen Sprachgeschichten (besonders Polenz I 22000 – III 1999); Schmidt 102007) wird die Welt der Erfahrungen (in der zweiten Bezugsstelle) sprachlich idealiter im Plural wahrgenommen, gerne mit einer aggregativen Gattungsbezeichnung im Kern (Alternativen, Tendenzen, Zwecke) und gerne ohne Artikel: (21) Für die überregionalen sprachlichen Ausgleichstendenzen dieser [„frühbürgerlichen“, K.L.] Epoche waren die frühkapitalistischen Fernhandelsbeziehungen wichtig

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2 Strukturen: Die zweistellig-telische Struktur historischer Aussagen

(Polenz I 22000, 108). [Es gab] Quellen für biblische Übersetzungsalternativen aus handschriftlicher, gedruckter und mündlicher Kirchenpraxis: vor allem Plenarien, Predigtsammlungen, Erbauungsliteratur (Polenz I 22000, 230). Aus der Zeit von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart sind solche zwischensprachlichen Machtbeziehungen unter dem Stichwort Sprach(en)politik bekannt […]. Ursachen für sprachenpolitische Probleme und Zwänge sind jedoch nicht nur im postrevolutionären Nationalismus und Chauvinismus zu suchen. […] als Leitbild für ungleiche Chancen zwischen den Sprachen wirkte das fortdauernde mittelalterliche Verhältnis zwischen dem universalen, kulturell hochstehenden Latein und den partikularen, mehr oder weniger unterentwickelten Volkssprachen (Polenz I 2 2000, 252). Für die persönlichen Berührungen von Engländern und Deutschen in beiden Ländern [„im Viktorianischen Zeitalter“, K.L.] waren damals dynastische Verbindungen symptomatisch und auch einflussreich (Polenz 1978, 140). Man empfindet sich nunmehr in Deutschland als kulturelle und sprachliche Einheit – ein Umstand, der für die verschiedenen nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist (Roelcke 2009, 94). Das Auswendiglernen in der Schule wurde noch bis Mitte des 20. Jh. weiterbetrieben, auch für Zwecke der sprachlichen Sozialdisziplinierung (Polenz III 1999, 38). Als geradezu klassisches Beispiel für Differenzierungen zwischen der deutschen Sprache in der DDR und der BRD […] wurde und wird immer wieder das lexischsemantische Teilsystem herangezogen […] (Schmidt 102007, 189). Als Beispiel für erhebliche semantische Unterschiede sei die Bedeutungserklärung eines Lexems in einem DDR- und einem BRD-Wörterbuch angeführt: Bürgerlich […] (Schmidt 102007, 190). So gibt es eine Reihe von Bezeichnungen für landestypische Realien […] (Schmidt 102007, 193).

Indem auf diese begriffs- und sprachkritische Wende seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts dann in den 1980er Jahren noch die sozio-pragmatische Wende folgte⁵⁴, setzen Peter von Polenz (I 22000 – III (1999) und andere – artikellos und im Plural – sehr häufig Adressatengruppen an diese Stelle, auch betroffene soziale Gruppen überhaupt sowie deren Ziele und Zwecke, für die irgendein historisches Suppositum wichtig war (vgl. auch Kap. 4.6.): (22) Adressatengruppen: „für Gebildete, vor allem Ausländer“ (Schildt 1976, 123), „für Nichtprivilegierte“ (Polenz I 22000, 116), „für Frauen“ (Polenz I 22000, 119; Maas 2012, 331), „für weniger wohlhabende Alterssichtige“ (Polenz I 22000, 119; vgl. auch Polenz II 1994, 348 f.; 351), „für einen größeren Leserkreis“ (Polenz I 22000, 124), „für reine Fachgenossen“ (Polenz II 1994, 368, zitiert Pörksen), „für Halbalphabeten“ (Polenz I 22000, 127), „für Sprachgesellschaften und Dichter“ (Polenz II 1994, 120), „für nichtstudierte Leser in mittleren Schichten“ (Polenz II 1994, 378), „für (juristische) Laien“ (Polenz II 1994, 380), „für vermögende Auftraggeber“ (Polenz I 22000, 128), „für Laien“ (Schmidt 102007, 92), „für Grammatiker“ (Schmidt 102007, 123), „für Außenstehende“ (Schmidt 102007, 209), „für Kaufleute und für Baumeister“ (Roelcke 2009, 101), „für viele Schriftsteller“ (Roelcke 2009, 93), „für viele Kinder“ (Maas 2012, 53), „für Kinder“ (Maas 2012, 267), „für Zuwanderer“ (Maas

 Dazu z. B. Maitz (2012, 17).

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2012, 82), „für in Frankreich verfolgte Protestanten“ (Maas 2012, 190), „für Fremde“ (Maas 2012, 365). Zwecke und Ziele: „für syntaktische Unterordnung von Sätzen“ (Polenz 1978, 98), „für höhere ästhetische Ansprüche“ (Polenz I 22000, 121), „für vielfältige Aufgaben“ (Polenz I 2 2000, 121), „für maximale Leseverständlichkeit“ (Polenz I 22000, 153), „für Substantive, für Entlehnungen“ (Polenz II 1994, 81), „für weitere Wortbildung“ (Polenz II 1994, 104), „für politisch-höfische Zwecke“ (Polenz II 1994, 110), „für praktische Zwecke“ (ebd. 112), „für Politiksprache“ (Polenz II 1994, 409), „für vielfältige Alltagszwecke“ (Polenz III 1999, 4; zitiert auch bei Schmidt 102007, 156), „für anspruchsvollere Argumentation“ (Polenz II 1994, 360), „für bestimmte wissenschaftliche Argumentationshandlungen“ und „für final verstandene dezisive Rechtshandlungen“ (Polenz II 1994, 362), „für revolutionäres Handeln“ (Polenz II 1994, 401), „für administrative und kommerzielle Zwecke“ (Lerchner 2001, 608), „für handwerkliche und gewerbliche Berufe“ (Roelcke 2009, 101), „für vielfältigen Gebrauch“ (Schmidt 102007, 87), „für Print- und audiovisuelle Medien“ (Schmidt 102207, 208), „für explizitere Unterweisung der Kinder“ (Maas 2012, 138), „für didaktische Zwecke“ (Maas 2012, 242), „für kommunale Aktivitäten“ (Maas 2012, 324).

Von dieser aggregativen, diffusen Ausdrucksweise (als zweiter Bezugsgröße) geraten allerdings die Autoren selbst immer wieder zurück in die „unkritische“ Redeweise. Was erst wichtig war „für die schriftkulturellen Verhältnisse“, war es dann doch „für die Schriftsprache“ (Maas 2012, 201). Während zuerst nach historischen Supposita gesucht wird, die wichtig waren „für stille/schnelle Lektüre“, geht es dann doch (immerhin) um „das Bücherlesen“ (Polenz I 22000, 124– 127); wo erst vorsichtig die Rede ist von Supposita, die „für viele Kinder“ (Maas 2012, 53), „für Erwachsene“ (ebd. 45) und „für die jüdische Bevölkerung“ (Maas 2012, 99) wichtig waren, sind es an anderer Stelle solche, die „für die Älteren (die Eltern), für die Kinder“ und sogar „für die Juden“ wichtig waren (ebd. 52, 93, 316).Wo Peter von Polenz (I 22000, 127) vorsichtig „für Halbalphabeten“ schreibt, sieht er dann doch in der „jakobinischen Revolutionspropaganda […] akademisch- bildungsbürgerliche Argumentation für die Intellektuellen und für das Volk“ (Polenz II 1994, 402). Damit gehen die Autoren immer wieder zurück zu so griffigen Schemata wie der Schriftsprache, den Kindern, den Juden, zum gebildeten Bürger, zum Volk usw. Schon in der DDR-Sprachgeschichtsschreibung wurde die Begriffskritik bei weitem nicht einheitlich geführt: Was (pluralisierend) „für die Angehörigen des Feudaladels“ von Bedeutung war, war das (im Kontext) für „den Feudaladel“ (Schildt 31984, 83), und was „für künftige Sprachentwicklungen“ von Bedeutung sein sollte, war dies dann doch „für die Herausbildung der nationalen Literatursprache“ (ebd. 87). Was, der Formulierung zufolge, einerseits (pluralisierend) „für urgesellschaftliche Verhältnisse typisch ist“ (Schildt 1976, 37), ist zugleich „typisch für die sozialökonomische Formation/die Gesellschaftsformation der Urgesellschaft“ (ebd. 12 f.). Was „für die sprachlichen Prozesse“ wichtig ist, ist es

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doch auch – hypostasierend, vereinheitlichend, unkritisch – für deren „Charakter“ (Schildt 31984, 37): (23) Im Zuge der Wanderungen germanischer, insbesondere elbgermanischer Stämme nach Süden und Südwesten entstanden […] germanische Großstämme, in denen Germanen ganz unterschiedlicher Herkunft integriert waren. […] Das hatte unterschiedliche Folgen für die sprachlichen Verhältnisse; von den Bedingungen, unter denen sich ein Großstamm formierte, wurde auch der Charakter der sprachlichen Prozesse bestimmt (Schildt 31984, 37). Der Territorialdialekt, im speziellen Einzelfall die Ortsmundart, war [im 11. bis 13. Jh., K.L.] auch für die Angehörigen des Feudaladels das Kommunikationsinstrument, dessen er sich im Verkehr mit den Untergebenen und Leibeigenen bediente (Schildt 31984, 83). […] die in der Predigt verwendete Literatursprache […] stellte […] auf Grund ihrer verbreiterten sozialen Basis die Voraussetzungen für künftige Sprachentwicklungen dar, den Grundstock für die Herausbildung der nationalen Literatursprache (Schildt 31984, 87). Ein wichtiger Interessentenkreis für (klösterliche oder häusliche) stille Lektüre waren auch Frauen unter den Kunden der neuen deutschsprachigen Schreibproduktion [nach 1400, K.L.] […] […]. Durch den Buchdruck sind in den ersten Jahrzehnten noch keine Leserschichten für das Bücherlesen gewonnen worden (Polenz I 22000, 124– 127, runde Klammer dort). […] sodass [„in der Barockzeit“, K.L.] vordergründig das nationale Projekt artifiziell erscheinen kann. Ohnehin war Mehrsprachigkeit selbstverständlich und insofern auch die Folie für die schriftkulturellen Verhältnisse: die Überlagerung mit Bildungs- und religiös vorgegebenen anderen Sprachen (Latein, Niederländisch – bei den Reformierten, Hebräisch – bei den Juden) polarisierte dieses Feld – und gab für die Schriftsprache einen universalen Horizont vor, abgeschottet von jeder nationalen Dynamik (Maas 2012, 201). [die] Leistungsfähigkeit des deutschen Wortschatzes […] nicht für repräsentative Zwecke Weniger, sondern für den allgemeinen Sprachgebrauch (Polenz II 1994, 124).

Es ist also kein Zufall, dass die Pluralisierung und die artikellose Totalisierung der begriffsbildenden Wortbedeutungen auch den Betrachter nicht gleich als historiographischer Qualitätssprung überzeugen. In den aktuellen Sprachgeschichten wirken diese syntaktischen, morphologischen und lexikalischen Manipulationen in dieser satzsemantischen Position mehr so, als wollten die Autoren „Flagge zeigen“ (Hermanns 1982/2012, 165) zugunsten einer begriffskritischen Geschichtsschreibung. Mit ihnen verbessern die Autoren nicht den Geschichtstext, sondern bestenfalls ihr eigenes Image – nur im Kreise der eingeweihten Kollegen allerdings, die ihrerseits dieselbe Fahne hoch erheben⁵⁵. Mit Blick auf  Maitz (2012, 9) sieht in den 1970er Jahren einen Umbruch in der (Germanistischen) Historischen Sprachwissenschaft, weil es seitdem einen „Wettbewerb“ zwischen zahlreichen Forschungsansätzen gibt. Auch das mag den pluralisierenden Zugang zu den historischen Begriffen in der Sprachgeschichtsschreibung erklären: Vielleicht begann damals ein Wettbewerb um die Kritik an den eigenen Begriffen wie auch um die Kritik an denen der anderen Wettbewerber. Der Zustand, dass es eine „Vielzahl von konkurrierenden und oft auch inkompatiblen Ansichten über die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Forschung“ gibt, dauert jedenfalls an

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den Text der Geschichte und die Wichtigkeitsaussage darin muss man demgegenüber sagen: Sprachkritik und Begriffskritik sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe. Artikelsprachen verlangen ihren Tribut und wollen zunächst einmal mit ihren sprachlichen Funktionen im Kontext verstanden werden, bevor man deren begriffsbildende Konsequenzen problematisieren kann. Idealtypisch gehört die Wichtigkeitsaussage (auch mit all ihren Varianten) an den Beginn eines Kapitels oder Absatzes. Der Historiograph setzt mit dem Denken und Schreiben irgendwo im Text neu ein, indem er bspw. ein neues historisches Suppositum (z. B. die Gesprächbüchlein der frühbürgerlichen Epoche und der frühen deutschsprachigen politischen Öffentlichkeit, Polenz I 22000, 238) in den Text einführt und dabei, in der zweiten Bezugsstelle einer Wichtigkeitsaussage, auf einen Begriff der Erfahrung zurückgreift (hier: „die deutsche Sprachgeschichte“). Die sprachliche Ausgestaltung der zweiten Bezugsstelle ist dabei ein spezifisch anverwandeltes Verfahren der „formalgrammatischen Abstraktion“ (Polenz 1978, 61 f.)⁵⁶. Die an diese Stelle gesetzte Nominalgruppe ist ein „kontextbedingte[s] syntaktische[s] Hilfsmittel zur Wiederaufnahme eines bereits Gesagten oder Vorausgesetzten […]“ (ebd.). In der zweiten Bezugsstelle knüpfen die Historiographen an die historische Erfahrung an. Und weil sie sich dabei nicht auf viele und heterogene individuelle Erfahrungen gleichzeitig beziehen können, setzen sie hierher einen (für sie selbst) bekannten und (für die Leser) als bekannt vorausgesetzten historischen Begriff mit seiner sprachlich vereinfachenden Morphologie (mit Homogenisierung, Schematisierung, Typisierung, Pauschalisierung). Die definite Bedeutung des bestimmten Artikels leitet sich an dieser Stelle dominant von seiner anaphorischen Funktion her (Duden-Grammatik 9 2016, § 383). Es geht da nicht zuerst um definitorische Präzision und präzise Identifizierung der vielen einbezogenen individuellen Erfahrungen (und auch nicht, im Gegenteil, um diskursive Offenheit oder epistemologische Zweifel). Es geht um Wiedererkennbarkeit. Wo an etwas Bekanntes angeknüpft werden soll,

(ebd. 11). Auch aus der Sicht eines Lehrbuchautors (einer Sprachgeschichte) wäre das wohl Grund genug, sich prinzipiell vorsichtig, vage und begriffskritisch zu äußern. Das zu sehen heißt aber nicht gleich, eine „Grundlageninstabilität“ und wissenschaftliche Unreife der Historischen Sprachwissenschaft zu beklagen, wie Maitz (ebd. 13) das auf der Grundlage von Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie tut.  Peter von Polenz bezieht sich mit dem Ausdruck auf spontane deverbale Substantivierungen (in den mystischen Texten), bei denen das Verb und das neugebildete „abstrakte“ Substantiv in ein und demselben Text aufeinanderfolgen (z. B. entrücken – Entrückung): „‚Abstrakta‘ sind nicht Wörter mit einer abstrakten Semantik, etwa durch Übertragung von Konkretem auf Geistig-Seelisches […], sondern kontextbedingte syntaktische Hilfsmittel zur Wiederaufnahme eines bereits Gesagten oder Vorausgesetzten in anderer Satzgliedrolle in einem neuen Satz (Abstrakta als Satzwörter nach W. Porzig und H. Brinkmann)“ (Polenz 1978, 61 f.).

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muss nicht aufwendig formuliert und differenziert werden; Bekanntes muss lediglich erkennbar und wiedererkennbar gemacht werden. Daher werden an dieser Stelle immer wieder historische Begriffe, wie mit einer sprachlichen Etikettierung, vereinfacht bloß aufgerufen, daher darf ihre historische Einordnung (eine Identifizierung hinsichtlich von Raum und Zeit) entfallen, und daher rührt auch der Eindruck, dass Wichtigkeitsaussagen nicht selten versatzstückartig formuliert sind, indem nämlich alles Mögliche immer wieder wichtig ist für dasselbe, besonders für die (deutsche) Sprachgeschichte (mit den Belegen in Kap. 2.12.). An dieser Stelle im Text der Geschichte geht es darum, dass Autor wie Leser mit vertrauten Erfahrungsbegriffen umgehen, um sich mit ihnen im Text, in der Aussagenfolge wie auch in der gemeinsamen Verständigung erst einmal zu orientieren. Deshalb wird abgekürzt und präsupponiert, dass heterogene (mal mehr individuelle, mal mehr kollektive) Erfahrungen oder unüberschaubare Erfahrungsbereiche als die Mundarten, die Schulen und die Schule, die Sprachentwicklung und die Sprachgeschichte, das deutsche Sprachsystem, das Deutsche für alle Beteiligten kurzerhand greifbar und fasslich sind. Wer das als unangemessene Typisierung beanstandet, kann sich probehalber einmal an den Gebrauch des altgriechischen Wortes erinnern. Im handwerklichen Bereich stellten Typen damals „prägende Formen/Hohlformen“ dar, die für die produktive Arbeit überaus nützlich waren (Ritter/Gründer (Hg. 1971– 2007), Bd. 10 (1998), 1587). Erst bei der fortgesetzten handwerklichen Arbeit zeigt sich auch am Text der Sprachgeschichte, ob die punktuell-kritische Rede etwa von (den) sprachlichen und ökonomischen Verhältnissen mit ihrer Mengen- (statt Einheits- und Typen‐) Semantik nicht vielleicht doch mit einem schematischen Begriff von Sprache, Wirtschaft und Geschichte zusammenhängt. Oder ob sich der Autor mit einer Substantivgruppe, die punktuell eine homogenisierende und sogar versatzstückartige Bedeutung hat, tatsächlich auf einen Begriff vom schematischen Zuschnitt eines Vorurteils oder eines Stereotyps bezieht. Die Historiographie muss in der Folge ihrer Aussagen im Text unter Beweis stellen, wozu sie fähig ist. In der zweiten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage jedenfalls dürfen Historiographen „uneigentlich“ im kollektiven Singular und mit dem definiten Artikel sprechen. Denn die definite und schematisierende sprachliche Morphologie und Semantik der historischen Begriffe in diesem Aussagetyp unterscheidet sich fundamental von derselben Morphologie und Semantik in anderen Positionen in Aussage und Text, besonders in der ersten Bezugsstelle und im Aussagenfokus derselben (expliziten, impliziten, komprimierten) Wichtigkeitsaussage (Kap. 3.3.) und auch bei allen anderen Arten des prädizierenden und klassifizierenden Bezugnehmens (im Aussagenfokus).

2.7 Für die Geschichte wichtig sein: Historische Begriffe als Reflexionsbegriffe

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2.7 Für die Geschichte wichtig sein: Historische Begriffe als Reflexionsbegriffe (Koselleck 1972 und später) Die begriffsbildenden Implikationen der bisher beschriebenen sprachlichen Morphologie soll aus begriffsgeschichtlicher Perspektive dargestellt werden: Für die Geschichte hat Reinhart Koselleck die homogenisierende, kollektivierende und typisierende Morphologie begrifflich und begriffsgeschichtlich gedeutet. Er hatte beobachtet, dass man in Texten aus der Zeit vor 1770 den Ausdruck nur im Plural findet, dass dort üblicherweise die Rede ist nicht von der Geschichte, sondern von (den) Geschichten (zuerst Koselleck 1972). Erst in der Zeit um 1770/1780, die er „die historische Sattelzeit“ nennt (manchmal von ihm allgemeiner datiert auf das späte 18. Jh., Koselleck 2003/2006, 74), wird „der Kollektivsingular“ etabliert. In diesem sprachlichen Befund sieht Koselleck (1997/2010, 20) eine begriffliche Wende, und sogar „die transzendentale Wende“⁵⁷. Mit der damals neuartigen Rede von der Geschichte wurde nicht nur aus einer Vielheit eine Einheit gemacht. „Der Kollektivsingular“ bringt nicht allein „alle vergangenen und in Zukunft möglichen Einzelgeschichten auf einen gemeinsamen Begriff“ (Koselleck 2003/ 2006, 74). Stattdessen ist mit „dem Kollektivsingular“ auch etwas prinzipiell anderes ausgedrückt, als mit dem Plural ausgedrückt sein könnte. Früher, als der Pluralbegriff noch dominant war, wurde das Geschehene (bspw.) als Geschichte von Alexander dem Großen oder als Geschichte der Kreuzzüge erzählt. Ein personalisierter oder personifizierter Protagonist stand dabei im Zentrum der Erzählung; „diese einzelnen Geschichten hatten ihr eigenes Handlungssubjekt“ (Koselleck 2003/2006, 74). Während vor 1770 in der Historiographie davon gesprochen wurde, was Alexander der Große erlebte und wer die Kreuzzüge wie erlebte, so tritt nun in „der historischen Sattelzeit“ die Geschichte selbst als Person auf, als historisch wirksames Subjekt. Durch diese neue sprachliche Morphologie

 Sawilla (2004) bezweifelt, dass Koselleck damit einen sprachlichen Befund formuliert hätte. Er kritisiert fehlende „sprach- und wortgeschichtliche Studien“ (ebd. 387): Außerdem argumentiert er sprachgeschichtlich mit der damaligen Vielsprachigkeit (Latein – Französisch – Deutsch) und Heterogenität des Deutschen. So stellt Sawilla (ebd. 417) fest: In den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ von Brunner/Conze/Koselleck (Hg.) (1972) werde „die These […] weniger analytisch hergeleitet, sondern auktorial in die Mitte des 18. Jh. verpflanzt“. Der Reflexionsbegriff von der Geschichte im Kollektivsingular besteht aber heutzutage gleichwohl; so muss man auch Sawilla verstehen. Den „Begriff Sprachgeschichte“ verzeichnet Sonderegger (1979, 3) zum ersten Mal 1663 bei Schottelius im Plural (jemand sei „in den Sprachgeschichten erfahren“ heißt es bei Schottelius). Er bestätigt auch allgemein den überwiegenden Gebrauch von „Geschichten […] zunächst vor allem als Plural“. Noch bei August Schleicher 1848 sei die Wortbildung im Singular (Sprachengeschichte) „unfest“, anders als dann 1880 in den „Principien der deutschen Sprachgeschichte“ Hermann Pauls (Sonderegger 1988, 385; Kursiv. dort).

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bekam sie gewissermaßen eine Körperlichkeit, mittels derer sie selbst materiell (historisch) wirksam und als wirksam begriffen werden konnte. Der Begriff, so Koselleck, „ändert seinen Aggregatzustand […]. Die Geschichte beginnt, gleichsam wie Gott, selber zu handeln und wirkt durch die einzelnen Agenten hindurch“ (ebd.). Im Verlauf dieser Entwicklung scheint nun tatsächlich im Sinne von Fritz Hermanns „eine ganzheitliche, holistische Sicht“ auf die Vielfalt der Geschichten „emphatisch betont“ worden zu sein (Hermanns 1999, 360; siehe oben Kap. 2.6.). Solche Befunde sind es, die die sprachhistorische Praxis der Kritik historischer Begriffe auslösen und all die beschriebenen Vermeidungsstrategien, die darauf abzielen, nicht von der (deutschen) Geschichte, der deutschen Sprache/Sprachgeschichte und anderen solchen „Göttern“ reden zu müssen. Koselleck aber bleibt bei aller Kritik, die er an einer derart verselbständigten, hypostasierten Geschichte übt, doch ein Praktiker der Begriffsgeschichte und sieht deshalb auch die positiven Aspekte des Begriffswandels. Zweifellos müsste man es kritisieren (und nicht nur feststellen), falls sich Historiker und Philosophen ab sofort der Macht der Geschichte ausgeliefert gesehen hätten und der moderne Geschichtsbegriff seine eigene Kritik verhindern würde. Allein: Diese negativen Konsequenzen gibt die begriffsgeschichtliche Überlieferung nicht her. Es ist nicht die Sprache, die lügt, lautet ein Topos der pragmatischen Sprachkritik (Polenz 2000, 22; mit HansMartin Gauger), und auch der Kollektivsingular betrügt nicht. Vielmehr ist Geschichte durch die transzendentale Wende hin zum Kollektivsingular „für die Geschichtsschreibung […] zur Herausforderung“ geworden. Der neue Begriff leitete eine neue Suche nach „ereignistranszendierenden und überindividuellen Konzepten – nach Kausalketten, Prozessverläufen und Bildungsprozessen – an […] und eine neue Art des verstehenden Zugangs zur Vergangenheit. Folge war u. a. die Umbildung des Diskurses zu einer eigenständigen Wissenschaftsprosa“ (Harth 1996, 857) und die Ausgliederung verschiedener wissenschaftlicher Geschichtsdisziplinen (Schlieben-Lange 1983, 43), darunter im Übrigen auch der Sprachgeschichte als wissenschaftlicher Textsorte (Sonderegger 1979, 3)⁵⁸. Das aber heißt: Mit dem Kollektivsingular stehen die menschlichen Subjekte diesem Akteur gerade nicht gegenüber wie einem unerreichbaren „Gott“, sondern wie einem, mit dem man in Kontakt treten und quasi intersubjektiv umgehen, mit dem man sich auseinandersetzen kann. In dieser Auseinandersetzung „gewinnt“ der Begriff einen neuen, „einen theoretischen Status“ (Koselleck 2003/ 2006, 74); besser noch: Er wird ein Metabegriff (ebd. 75; mit Heinrich M.G. Köster)

 Die erste „Geschichte der deutschen Sprache“ habe Adelung 1781 verfasst, so Sonderegger (1979, 3).

2.7 Für die Geschichte wichtig sein: Historische Begriffe als Reflexionsbegriffe

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bzw. ein „moderner Reflexionsbegriff“ (Koselleck 1997/2010, 23). Indem seit der historischen Sattelzeit jeder mit der Geschichte wie mit einem ernstzunehmenden Akteur seiner Umgebung umgehen und sich (in diesem Sinne) mit der historischen Macht und Wirksamkeit dieses Akteurs auseinandersetzen muss, reflektiert auch jeder jedes Mal, das er von ihr spricht, was sie eigentlich ist (oder er weiß, dass er dies tun müsste). Mit dem sprachlich als Kollektivsingular gefassten Reflexionsbegriff thematisiert man „primär die Bedingungen möglicher Geschichten“ (Koselleck 2003/2006, 75)⁵⁹, „die Logik der Geschichte“, „die Theorie der Geschichte“, „die Philosophie der Geschichte“ usw. (ebd.). Die Geschichte deshalb gleich als theoretischen Begriff zu bezeichnen, hieße freilich, sie für die Theorie zu vereinnahmen. Der Begriffshistoriker Koselleck kommt jedenfalls nicht auf diese Idee⁶⁰. Wer auch immer – morphologisch verdichtet – von der Geschichte spricht, kann damit sehr effektiv all die Erfahrungen thematisieren, die er im Umgang mit Geschichtlichem gemacht hat, und zwar nicht derart, dass er diese Erfahrung vereinfacht, zu einer gottgleichen Macht stilisiert und sich seine konkrete Wahrnehmung trüben lässt, sondern derart, dass er sie problematisiert, gerade indem er sie auf irgendeinen Kern verdichtet. Diese Überlegungen Kosellecks kann man als deutliche Absage an die (in der zweiten Bezugsstelle) in den Sprachgeschichten praktizierte Begriffskritik verstehen: Gerade weil wir heterogene Erfahrungen mit Geschichtlichem machen, ist es gut, dass wir uns – mit der Rede von der Geschichte/ Sprachgeschichte – immer wieder nach dessen Identität, Einheit, Rationalität fragen. Allerdings kann die kollektivierende, holistische Redeweise nur in bestimmten kommunikativen, diskursiven, prädikativen Kontexten die angemessene sein (Hermanns 1999, 375). Nicht jeder Kollektivsingular ist an jeder beliebigen Stelle ein Reflexionsbegriff; er ist ein Reflexionsbegriff nur dort, wo er in eine reflektierende Aussage und in einen reflektierenden Kontext hineingestellt wird. Unterschiedliche Textsorten und Diskurse haben dafür unterschiedliche Aussageund Vertextungsverfahren. (Koselleck thematisiert die Reflexionsbegriffe bekanntlich als Grundbegriffe der politisch-sozialen bzw. öffentlichen Sprache⁶¹). In

 „Der Begriff [i. e. der Begriff die Geschichte, K.L.] thematisiert nicht nur die empirisch sich jeweils ereignenden Vorkommnisse, sondern primär die Bedingungen möglicher Geschichten“ (Koselleck 2003/2006, 75).  Er spricht höchstens von Begriffen mit einer „theoretischen Zumutung“ (Koselleck 1997/2010, 21).  In der politischen Sprache sind die Grund- und Reflexionsbegriffe, weil sie seit der historischen Sattelzeit (besonders in ihrer Extension) mehrdeutig und (intensional) vage sind, ideologisierbar; sie werden als Schlagwörter zur politischen Mobilisierung verwendet. In diesem Kon-

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einem seriösen Geschichtsbuch findet die reflektierende Auseinandersetzung prinzipiell dort statt, wo der Historiograph sich zuerst einmal fragt, was eine bestimmte Überlieferungsgegebenheit für die Geschichte bedeutet, ob und inwiefern sie für die Geschichte wichtig ist, ob und inwiefern sie wichtig ist für das, was wir als die Geschichte kennen und was wir als die Geschichte sowieso schon immer versprachlichen. Wichtig zu sein für die Geschichte heißt, wichtig zu sein für all das, was, unserer Erfahrung nach, die Geschichte ausmacht und zusammenhält. Historiker und Sprachhistoriker sind beruflich damit betraut, lauter solche Erfahrungen in loser Menge zu sammeln, indem sie sich im Archiv mit den Realien der Überlieferung beschäftigen. Als Historiographen oder Sprachhistoriographen brauchen sie dann aber auch den sprachlich-morphologisch verdichteten Kollektivsingular, damit sie ihn als Reflexionsbegriff in die zweite Bezugsstelle ihrer Wichtigkeitsaussagen einsetzen können. Da an dieser Stelle eine spezial-begriffsgeschichtliche Argumentation bezüglich jedes einzelnen der in der (zweiten Bezugsstelle der) Wichtigkeitsaussage verwendeten Begriffe nicht möglich ist, übertrage ich Kosellecks Erkenntnisse auf die historischen Begriffe in der zweiten Bezugsstelle der Wichtigkeitsaussage allgemein. Dort sind diese Begriffe allesamt Reflexionsbegriffe/Metabegriffe, die im Kontext auch als solche erkennbar (und durch den anaphorischen Artikel wiedererkennbar) sind. Auch wenn man an dieser Stelle (in einer Verbrechensgeschichte) vom Verbrechen redet, (in einer Rechtsgeschichte) vom Recht oder (in einer Sprachgeschichte) von der (deutschen) Sprache, dann redet man davon, was die einzelnen Erfahrungen vieler Verbrechensfälle, Rechtsgeschichten, sprachlicher Verwendungen zusammenhält, was ihre Einheit ausmacht. Anders als Paul Veyne das annimmt, thematisiert man mit ihnen gar nicht die vielen verschiedenen Einzelerfahrungen, sondern die Möglichkeit, vieles Einzelnes begrifflich zusammenzufassen. Man thematisiert den vereinfachten und gleichwohl reflek-

text sind die Reflexionsbegriffe – von der deutschen Nation bspw. oder der deutschen Geschichte – zu Ziel-, Erwartungs- und Zukunftsbegriffen gemacht worden. Die Autoren der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ (vgl. Koselleck 1972) beschreiben diese Begriffe: Der Staat schließt ein „Herrschaft, Gebiet, Bürgertum, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung, Steuer, Heer, um nur das Geläufigste zu nennen“ (ebd.). An viele historische Begriffe, die für die (deutsche) Sprachgeschichtsschreibung wesentlich sind, wurde dabei nicht gedacht. Als Begriffe der politischen Sprache sind Nation und Volk zwar aufgenommen worden, mancher Begriff (Sprachstruktur, Sprachentwicklung) passt nicht zum Gegenstand der politisch-sozialen Sprache, aber andere sind einfach vergessen worden: Die deutsche Sprache beispielsweise ist schon viel früher als die Geschichte zu einem Kollektivsingular und Reflexionsbegriff geworden, der auch politisch und sozial gewirkt hat. Andere Begriffe sind zwar nicht allgemein, aber immerhin für einige zu solchen politisch und geschichtlich wirksamen Reflexionsbegriffen geworden, wie z. B. die deutsche Sprachgeschichte für Jacob Grimm.

2.7 Für die Geschichte wichtig sein: Historische Begriffe als Reflexionsbegriffe

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tierenden Wiederbezug auf diese vielen Erfahrungen – in Übereinstimmung mit dem oben (in Kap. 2.1.) beschriebenen „formalgrammatischen Vorgang der Abstraktion“, wo man die Abstraktion und Wiederaufnahme als Wiederaufnahme auch erkennt (Polenz 1978, 61 f.). Ein Missverständnis der Reflexionsbegriffe in der Geschichtsschreibung liegt dann vor, wenn sich der Historiograph ohne Weiteres dazu hinreißen lässt, mit einem (definiten) Kollektivsingular schon im Aussagenfokus zu sagen, dass (wann wo wie) der Krieg ausbricht, die Freiheit siegt, der Fortschritt seinen Lauf nimmt, dass „Ereignisse sich zusammenbrauen oder Geschehnisse sich schürzen, Konflikte sich aufstauen“ oder „durchbrechen“ (Koselleck 1997/2010, 17), dass „ein Ereignis eintrat“ (Sperber 1926, 12; Polenz 1978, 15) oder spezifischer: dass „eine nach Osten gerichtete Eroberungs- und Siedelbewegung begann“ (Polenz 1978, 45), „große neue Dialektgebiete des Deutschen“ entstanden (ebd. 46), dass die „Entlehnungen aus dem Französischen ihren Weg über Flandern nahmen“ (Schildt 1976, 90), „die indogermanischen Sprachen sich ausbreiten“ (Hirt 2 1925, 5), „das deutsche Volk sich entwickelt“ und „herausbildet“ (Kleine Enzyklopädie 1983, 606), dass „die mittelhochdeutsche Dichtersprache versuchte, aus der Variation hinauszuspringen“ (Maas 2012, 438), „das Deutsche sich zu Wort meldet“ (Moser 1961, 22), „in die Hörsäle der Universitäten drang“ (Polenz 1978, 93), „das Hochdeutsche an den Universitäten Norddeutschlands seinen Einzug hielt“ (Schildt 1976, 134) usw. usf. Bei solchen (metaphorisch erzählenden) Formulierungen greift die Kritik an den hypostasierten und zu platonischen Universalien stilisierten Allgemeinbegriffen (Knoop 1995, 23), und das sogar unabhängig von der Entscheidung bzgl. Plural oder Singular, (bestimmter) Artikel oder nicht. Mit dieser Redeweise bevölkern die Historiographen den Geschichtstext tatsächlich mit lauter Wesenheiten, die es gar nicht gibt. Solche Erzählungen obliegen dem fiktionalen Genre, weil hier aus diesen Größen selbständig handelnde Akteure werden. Nur wenn der Historiograph die übliche (kollektive) Gattungsbezeichnung in die zweite Bezugsstelle einer Wichtigkeitsaussage setzt, kann der mit ihr verbundene (übliche und vielleicht stereotype) Erfahrungsbegriff seine eigene transzendentale Wende durchlaufen: Er kann (erneut) zum Reflexionsbegriff werden. Nur in der Wichtigkeitsaussage – in ihren vielen, bislang noch kaum beschriebenen Facetten – signalisiert ein solcher Begriff, dass etwas wichtig ist für den Kern dessen, was wir als vereinfachte, irgendwie gemeinsame Erfahrung in Sachen deutsche Sprachgeschichte, Sprachstruktur, Hochdeutsch, Luthersprache, Mundarten, sprachliche Variation, sprachliche Einheit, Gemeinsprache, Allgemeinsprache (usw. usf.) einerseits akzeptieren und andererseits erweitern, verändern, differenzieren oder erstmalig zusammenfassen wollen. Auch die Historiographen müssen in dieser komplexen modernen Welt (nach der historischen Sattelzeit) voraussetzen, dass es solche begrifflich schon verdichteten

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Erfahrungen in dem Sinne gibt, dass die anderen, mit denen sie reden, diese Erfahrungen teilen wie auch das Bedürfnis, sich immer wieder erneut darüber zu verständigen. Diese Sprachgeschichte von dieser Sprache, diesem Deutsch, Hochdeutsch, von diesem deutschen Volk aber wie in einem Roman zu erzählen, das ist eine verrückte Art des Sprechens (vgl. Kap. 3.3.), die in einer seriösen Sprachgeschichte nur als punktuelle stilistische Variation neben den reflektierenden Wichtigkeitsaussagen bestehen kann, aber keinesfalls als ausschließliches oder dominierendes Prinzip⁶². Andererseits bleiben diejenigen Sprachgeschichten, die sich der Wichtigkeitsaussage mit ihrer spezifisch historiographischen Bezugsstellenanordnung zu entziehen suchen, abstrakt und belanglos, weil sie nicht an die historische Erfahrung anschließen. (Ich zähle sie zur verhinderten Geschichtsschreibung, vgl. Kap. 4.; 6.). In diesem Sinne hat der partielle Entzug des bestimmten Artikels – im Kreise der Sprachhistoriographen jedenfalls – positiv dazu beigetragen, dass in die praktische historiographische Begriffskritik auch linguistische Überlegungen eingegangen sind: Sie überlegen nicht allein, was die Sprache/Geschichte/ Sprachgeschichte ausmacht und zusammenhält, sie überlegen auch, wie sie sie am besten sprachlich, morphologisch darstellen. Eines der effektiveren Mittel, in der Geschichtsschreibung einen Begriff als Reflexionsbegriff kenntlich zu machen, scheint mir noch der Genitivus explicativus zu sein: So will z. B. Schmidt (102007, 10) in einer selbstreflexiven Aussage „dem Aspekt der Regionalität mehr Aufmerksamkeit widmen“, und es wäre zu erwarten, dass er im Folgetext das eine oder andere historische Suppositum als wichtig für den Aspekt der Regionalität erklärt, wie das Lerchner (2001, 611) bspw. „für den Bereich der Literalität“ tut. Mit einem solchen Genitivus explicativus soll gerade kein kugelrunder Begriff gebildet werden, aber dennoch bezieht sich der Autor auf etwas, was man kennen und wiedererkennen kann: auf die Regionalität oder Literalität und zwar als einen bekannten Aspekt oder Bereich. Einigermaßen systematisch nutzt Utz Maas (2012)

 Zur kognitiven Funktion solch verdinglichender bzw. personifizierender Metaphorik (etwa vom Reifen und Sterben einer Nation/Sprache) vgl. z. B. Watts (2012) und Köller (2012), der dort auf die lange Tradition der Erforschung „konzeptueller Metaphern“ Bezug nimmt und außerdem thematisiert, wie diese Metaphern „in narrativen Texten“ und „in Aussagen verwendet“ werden. Mit ihnen werden, wie im Mythos, „Gegenstände, Ereignisse, Glauben, Erklärungen narrativ ins Leben“ gerufen (ebd. 135). „Sprachmythen“ (ebd. 136) über das Leben, die Entwicklung und Vereinheitlichung des Deutschen oder über den Sieg des Hochdeutschen werden z.T. auch in den Sprachgeschichten narrativ verbreitet. Doch solche narrativen Aussagen werden immer eingeleitet, unterbrochen und flankiert von zweistelligen Aussagen im Nominalstil und mit für – was der ästhetischen Wirkung der Mythenbildung deutlich widerstrebt (vgl. Kap. 2.12.).

2.8 Magnitudo rerum: Umwege über einen wichtigen Reflexionsbegriff

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das Verfahren, wo er von „dem Projekt Deutsch“ (ebd. 495) und „der hochsprachlichen Imago“ spricht (ebd. 28, 138 f.). Deutsch ist für ihn ein Projekt, und die „normativ bestimmte“ Hochsprache eine Imago: Bei beiden soll es sich gerade nicht um einen ganzheitlich-selbständigen Akteur „im Geschichtsverlauf“ handeln, selbst wenn sie (wie die psychoanalytisch aufgefasste Imago)⁶³ durchaus handlungsleitend und geschichtswirksam sind. Maas verfremdet die entsprechenden, allseits bekannten Erfahrungsbegriffe (vom Deutschen, von der Hochsprache) – und macht sie doch als Erfahrungsbegriffe wiedererkennbar. Er bestätigt und entkräftet sie zugleich. Zugleich macht er sie, indem er sie in diese Position in der Aussage setzt, zu wichtigen Reflexionsbegriffen, die für neue Erfahrungen, Bewertungen und Umdeutungen immer offen sind.

2.8 Magnitudo rerum: Umwege über einen wichtigen Reflexionsbegriff Indem die Historiographen mit solchen, ins Reflexive gewendeten Begriffen der historischen Erfahrung in ihren Wichtigkeitsaussagen umgehen, nutzen sie zunächst einmal rhetorische Umwege: Sie greifen dort auf einen solchen Begriff zurück, nicht, um die jeweilige Überlieferungsgegebenheit gleich (per Subsumtion) in den Katalog der bekannten Erfahrungen einzusortieren und sie derart schnell und leichtgängig verständlich zu machen. Sie greifen vielmehr darauf zurück, um Supposita der Überlieferung zunächst einmal als Gegenstand der Historiographie überhaupt zu etablieren (vgl. auch Kap. 3.). Wichtig zu sein für die (deutsche) Sprache/Sprachgeschichte/Geschichte heißt, in ähnlichem Grade und in ähnlicher Weise wichtig zu sein wie die (deutsche) Sprache/Sprachgeschichte/ Geschichte und all die anderen Reflexionsbegriffe selbst. Die Größen in der zweiten Bezugsstelle haben für Autor und Leser einen Wert, eine magnitudo rerum (Reichmann 1998, 27), die sie an ein beliebiges historisches Suppositum weiterverleihen, sofern es syntagmatisch auf einen solchen Wert bezogen wird. Mit dem zweistelligen Prädikat wichtig sein für werden Wichtigkeit und Bedeutung für die erste Bezugsstelle ausgesagt, und für die zweite Bezugsstelle (in der Art einer semantischen, satzsemantischen Präsupposition) vorausgesetzt. Denn es ist nicht möglich, dass etwas wichtig wäre für etwas Unwichtiges.

 „Wo Vorstellungen sich zu einem Bild formieren, das für das Handeln regulative Kraft erhält, spreche ich in Anlehnung an die psychoanalytische Begrifflichkeit von einer Imago“ (Maas 2012, 507). Vgl. Kap. 4.2.

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So erklärt es sich, dass in der zweiten Bezugsstelle nicht allein vereinfachende Kollektivbezeichnungen, sondern (relativ zum jeweiligen Kontext) Begriffe von quasi unübertrefflicher Größe auftreten. Pathetisch reden selbst nüchterne Historiographen an dieser Stelle vom Schicksal des Niederdeutschen (Schildt 1976, 103; Polenz 1978, 29; Polenz 102009, 21), von Luthers großem reichspolitischen Wagnis sowie vom Fortschritt in Richtung auf eine kulturnationale Standardsprache (Polenz I 22000, 133, 163). Die Verwendung des Kollektivsingulars mit dem definiten Artikel hat auch diese rhetorische Funktion, denn historische Erfahrung zu schematisieren und zu typisieren heißt nicht einfach, sie als Typ (erneut) zu aktualisieren, sondern sie jedesmal „zum Typ“ zu „erheben“ („ériger en type“,Veyne 1971/1996, 163). In den Wichtigkeitsaussagen einer Sprachgeschichte bekommt die historische Erfahrung mit vereinfachend-typisierenden Zeichen im Text- und Satzfluss nicht nur einen Ort überhaupt. Sie bekommt auch ein besonderes Profil und ein besonderes Gewicht, denn es muss sprachlich kenntlich werden, dass diese Größen wichtig und der Reflexion würdig sind, dass sie geeignet sind, aus den Tatsachen der Überlieferung etwas Wichtiges zu machen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass die an dieser Stelle verwendeten Größen oft im Genus grande formuliert werden (Ueding/Steinbrink 42005, 234, 282). Ausdrückliche Typenbezeichnungen (Polenz 21988, 149) mit dem bestimmten Artikel in deutlich typisierender Funktion finden hier ihre Erklärung: Was für die Bühne, die Schule, den Hof, den gelehrten Mönch, den gebildeten Bürger oder den deutschen Menschen von Bedeutung ist/war, kann nicht unbedeutend (gewesen) sein (Hirt 21925, 237; Schildt 1976, 59; Bach 91970/1986, 470; Polenz II 1994, 382; Schmidt 102007, 131; Maas 2012, 142). Im Sinne einer rhetorischen Steigerung können auch die in der Sprachgeschichtsschreibung hochfrequenten Adjektive wie bspw. deutsch, französisch, eigen, fremd u.v. a. m. jederzeit typisierend verwendet werden. Ähnlich, wie Klaudius Bojunga (1926, 488), der in diese Position „die alte norddeutsche Heimat“ und „den altdeutschen Wald“ setzt, so Schmidt (102007, 87) die „wirklich deutsche Sprachgestaltung“ und von Polenz (II 1994, 272) eine „typisch deutsche Konstruktionsweise“. Zum Genus grande gehören insbesondere auch bildliche Ausdrücke, wie die schon genannten Metaphern und Katachresen sowie auch die einschlägigen Epitheta der pathetischen Sprechweise. Selbst theoretisch ambitionierte Begriffe, die an diese Stelle gesetzt werden, gehören zu diesem Genus. Werden sie begleitet z. B. ‒ von hochquantifizierenden Artikelwörtern, insbesondere von alle ⁶⁴, jegliche … (Kluge 21925, 54; Feist 21933, 217; Moser 1960, 50; Polenz 21988, 144 ff.),

 Wo hingegen, der Formulierung nach, etwas „für viele Schriftsteller Vorbild geworden ist“

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von semantisch globalisierenden Attributen wie ganz oder gesamt (insgesamt), bspw. bei der Rede für unsern ganzen Sprachstamm (Kluge 21925, 24), für das ganze/gesamte deutsche Sprachgebiet (Kleine Enzyklopädie 1983, 652; Schmidt 102007, 86), für die Gemeinsprache (Sperber 1926, 83; Bach 91970/1986, 114, 132, 254, 409 u. ö.) oder die Allgemeinsprache (Schildt 31984, 112), für die allgemeingültige/ allgemeinverständliche Sprache (Polenz II 1994, 127, 243 ff., 251, 297, 354), die Gesamtentwicklung, die Sprachgeschichte insgesamt oder die gesamtgesellschaftliche Kommunikation (Schildt 1976, 104; Kleine Enzyklopädie 1983, 626; Schildt 31984, 162 f.) oder für die Weltgesellschaft (Maas 2012, 116), von semantisch graduierenden und gewichtenden Attributen (womöglich noch in einer Steigerungsform), bspw. groß oder stark (Sperber 1926, 78; Polenz I 22000, 193; Schmidt 102007, 143), gleichmäßig (Stahlmann 1940, 32), komplex oder maximal, bspw. bei der Rede für den großen idg. Sprachstamm (Kluge 21925, 38) oder die große humanistische Bewegung (Polenz I 22000, 125), für den komplexen Satzbau, für hohe Satzkomplexität und maximale Leseverständlichkeit (Polenz I 22000, 147, 153; Polenz II 1994, 272, 278),

… dann bilden diese Begriffe nicht nur einen Reflexionsbegriff, sondern jeweils einen Relevanzbegriff ⁶⁵. Unabhängig vom tatsächlichen (begrifflichen) Denotat dieser Prädikate wird mit diesen Epitheta und Artikelwörtern eine außerordentliche Bedeutsamkeit suggeriert, nicht anders als bei der Rede mit Derivationsmorphemen wie -heit, -keit, -tum, -ung, -ion, -tät, -schaft, -ismus in sogenannten Abstraktbildungen: Auch sie dienen nicht nur der Homogenisierung und Schematisierung historischer Erfahrung, sondern signalisieren (zusätzlich) außerordentliche Bedeutsamkeit, z. B. wenn es geht um ‒ das Deutschtum/Germanentum, unser Volkstum, unser Indogermanentum (Kluge 21925, 5, 49, 66 f., 210; Stahlmann 1940, 6; Bach 91970/1986, 118), das (germanische, deutsche) Eigentum (Stahlmann 1940, 7), ‒ das Christentum (Schmidt 102007, 87), das Judentum (Maas 2012, 154, 443), ‒ die Gesellschaftsformation (der Urgesellschaft) (Schildt 1976, 12), das (sich bildende) Bürgertum/Neubürgertum (Polenz II 1994, 123, 301), das Staatswesen (Eggers IV 1977, 21), die Allgemeinheit (Bach 91970/1986, 409 ff.; Polenz II 1994, 123), (nicht für alle), pluralisieren die Historiographen die Größe in der zweiten Bezugsstelle; sie formulieren vorsichtig, begriffskritisch (Polenz I 22000, 163; Roelcke 2009, 93).  Relevanzwörter (wie Relevanzbegriffe) gehören bei Fritz Hermanns zum Spektrum der deontischen Semantik dazu, denn „die Dinge werden nun einmal unter dem Aspekt gesehen, unter dem sie für uns relevant sind“ (Hermanns 1986/2012, 189 f.).

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‒ ‒

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die Sprachkultivierungsbewegung (Polenz II 1994, 108), die Bildsamkeit unserer Sprache (Kluge 21925, 24), die Geistigkeit dieser (der fnhd.) Zeit (Eggers III 1969, 25), die virtuose stilistische Flexibilität (Polenz I 22000, 248), die schnelle Lesbarkeit (Polenz I 22000, 121), den Alltag in all seiner Buntheit (Eggers II 195, 19), die Kommunikation (Schildt 31984, 83), das Schrifttum (Schmidt 102007, 87), die Textgestaltung und die Sprachgestaltung (Schmidt 102007, 87), die (frühbürgerliche) Schriftlichkeit (Polenz I 22000, 114, 150 u. ö.), die Schriftlichkeits-Expansion (Polenz I 22000, 116), die (deutsche) Lehnwortbildung (Polenz II 1994, 90), die Ortsnamenbildung (der Zeit) (Bach 91970/1986, 178), Luthers Reformation und Kirchenspaltung (Polenz I 22000, 132, 237; Polenz II 1994, 105) oder die Reformationsbewegung (Eggers III 1969, 161), den Nominalismus und den Realismus (Eggers III 1969, 103, 111), den Nationalismus (Polenz III 1999, 11), den Purismus, Sprachpurismus, Fremdwortpurismus (Wells 1990, 423; Schmidt 102007, 157, 165).

Die Wortbildungsverfahren für solche Reflexionsbegriffe sind (meistens) noch morphologisch durchsichtig. Sie stellen deshalb mehr rhetorische Würde her als die anderen kollektivierenden Abstrakta, bei denen dieselbe abstrahierende Bildungsweise nicht mehr durchsichtig ist (besonders Abstrakta auf -e wie die deutsche Sprache, die Geschichte, das Deutsche, Germanische, Westgermanische) bzw. (als historischer Begriff) zu gewöhnlich (die (deutsche) Dichtung, die Mundart). Diese Begriffe werden deshalb gerne durch Komposition, oft mit Wertwörtern, sprachmorphologisch zu wichtigen Begriffen geadelt. Es geht dann nicht um eine beliebige Sprache, sondern bspw. um (die) frühbürgerliche Öffentlichkeitssprache (Polenz I 22000, 123), (die) moderne deutsche Wissenschaftssprache (Polenz 1978, 62) oder (die) kulturnationale Standardsprache (Polenz I 2 2000, 163). Auch indem die Historiographen in der zweiten Bezugsstelle Vorgangsprädikate verwenden, verbinden sie, rhetorisch effektvoll, Hochwertwörter einerseits (Einheit, Kultur, Wirklichkeit z. B.) und homogenisierende Abstraktsuffixe andererseits, wenn sie etwas als wichtig befinden für die (weiträumige) Vereinheitlichung der deutschen Sprache (Polenz I 22000, 129; II 1994, 1), für die Kultivierung /Sprachkultivierung oder für die bewusste, gezielte Kultivierung der deutschen Sprache (Polenz II 1994, 1, 106, auch 52 u. ö.). Großsprecherisch zieht beispielsweise Adolf Bach gleich mehrere dieser Register, wenn er etwa für die Verwirklichung einer alle deutschen Landschaften umspannenden deutschen Gemeinsprache spricht (Bach 91970/1986, 254). Prinzipiell insistieren alle Historiographen auf dem nationalen, sozialen, politischen und/oder (sprach‐) kulturellen Prestige ihrer Erfahrungsbegriffe,

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auch historisch auf der Bedeutung des Faktischen (der Nordwesten), der großen Zahl und Ausdehnung (unser ganzer Sprachstamm) oder der breiten und/oder dauerhaften Wirksamkeit (Luthers Erfolg). Dass das so gehandhabt wird, kann so lange nicht empören, wie auch die Symptomwerte fachsprachlicher Fahnenwörter die erhabene Schreibweise bedienen, etwa bei der Rede von dem deutschen Wortschatzsystem oder der Textsorte „Nachricht“ (Fahnenwörter aus System- und Pragmalinguistik), von der Gesellschaftsformation und den gesellschaftlichen Verhältnissen (marxistische Fahnenwörter), von der Schriftlichkeit und der Literalität (Fahnenwörter der Schriftsprachforschung)⁶⁶. Im Hintergrund dieser Wort- und Begriffsverwendungen mag die unablässige Terminologisierungsarbeit der forschenden Historiker stehen (vgl. Kap. 2.1.). Sprachlich jedoch, im Text der Geschichte und im Kontext der Wichtigkeitsaussage, gehen die begriffliche Präzisionsarbeit und das Prinzip der pathetischen Steigerung immer zusammen. Auch wenn die Historiographen die holistische Morphologie ihrer Relevanzbegriffe noch mit Attributen der historischen Kennzeichnung kombinieren oder die Präpositionalgruppe verdoppeln, dann entstehen, nach dem rhetorischen Muster der „Vervielfältigung der res durch verba“ als congeries (Ueding/Steinbrink 42005, 274) oft außerordentlich lange Nominalgruppen und überaus schwergewichtige Relevanzbegriffe. Insofern leisten die Begriffskritiker unter ihnen (Kap. 2.6.) eine Sisyphos-Arbeit: In dem Bemühen, das Denotat ihres Reflexionsbegriffs in der zweiten Bezugsstelle präzise zu identifizieren, um ihn von den gleichlautenden üblichen historischen Begriffen abzugrenzen (mit Zeit, Raum, Gruppe, Kultur, Inhalt usw.) und um ihn auf diese Weise (im genus humile) nüchtern und sachlich zu behandeln, schieben sie lange Nominalgruppen den Berg hinauf. Aber wenn eine solche Wortgruppe und die ganze Aussage dann endlich fertiggestellt sind und der Autor ihr zufrieden den Rücken zuwendet, dann geraten die Attribute und Satzglieddopplungen ins Rollen. Sie stellen sich doch als Ausdruck eines großartig amplifizierten Relevanzbegriffs

 Insofern verbietet es sich den akademischen Profis, sich über andere Geschichtsdarstellungen (wie bspw. TV-Dokumentationen) zu erheben und nur diese anderen immer als zweckgebunden und „oberflächlich“ abzuwerten, wie es beispielsweise Füßmann (1994, 30) tut: „Dokumentarische Geschichtsdarstellungen sind in erster Linie um Information, Aufklärung und Identitätsbildung bemüht und unterscheiden sich darin von bloß oberflächlich historisierenden Hervorbringungen“. So eine „Aufklärung und Identitätsbildung“ muss in Aussage, Satz und Text in jeder einzelnen geschichtlichen Darstellung erst einmal erbracht werden. Auch Lucas (1975, 338) geht mit seiner Kritik an „plakativen Stereotypen“ nur auf den Geschichtsunterricht und dessen „Klischees“ der öffentlich-politischen Sprache ein (Bürgertum, Kapitalismus, Sozialismus u. a. m.), nicht aber auf solche Fahnenwörter, mit denen sich die Historiker selbst großsprecherisch den unterschiedlichen Zweigen und Richtungen der Geschichtswissenschaften zuordnen (vgl. auch Schiffer 1980, 30).

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dar, und sogar als eine ganze Reihe solcher Begriffe, die sich gegenseitig evozieren, implizieren und oft nicht gut gegeneinander abgrenzen lassen. Manchmal kann man als Leser zusehen, wie die Autoren selbst davon eingeholt und von ihren eigenen Übertreibungen überrascht werden: Bis heute entstehen bei dieser Arbeit am Text irritierende pleonastische Aussagen (Kap. 3.4.; 4.13.), und es geht auf einmal die Rede von einem „Ausstrahlungszentrum für […] Strahlungen“ (Bach 91970/1986, 121), von „der allgemeingültigen Standardsprache“ bzw. von „allgemeinverständlichem Reden und Schreiben für alle“ (Polenz II 1994, 379), von „der deutschen Sprachgeschichte des Frühneuhochdeutschen“ (Polenz I 2 2000, 127) oder davon, dass bestimmte Neubildungen der Mystik „von besonderer wortgeschichtlicher Bedeutung für die Lexik des Deutschen“ seien (Lerchner 2001, 584). Es folgen die Beispiele: (24) Für die Totalisierung der Menge/Globalisierung des Gegenstandes: Die indogermanische Betonung ist für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen (Kluge 21925, 26). […] während die zweite Lautverschiebung nur das hochdeutsche Sprachgebiet betroffen hat, aber für Niederdeutschland, England und Skandinavien nicht in Betracht kommt, ist die erste Verschiebung für alle germ. Stämme charakteristisch […]. Sie ist ein wesentliches Kennzeichen aller germ. Sprachen den andern idg. Völkern gegenüber geworden (Kluge 21925, 54). Mit der Annahme, dass die Heimat der Germanen und Indogermanen die gleiche sei, sind wir zu einem Ergebnis gekommen, das zweifellos für die ganze Entwicklung der Sprachgeschichte von ausschlaggebender Bedeutung sein musste (Hirt 21925, 15). Bewahrt doch der Norden überhaupt so vieles fester als der Süden, wo westliche und südliche Einflüsse zur Mischung von Blut und Kultur geführt haben.Wichtiger ist für alle Germanen die Einheitlichkeit der Lebensanschauung und der Ideale. Sie umspannt alle festländischen Völker und zugleich alle, die von Jütland aus über die dänischen Inseln frühzeitig das südliche Schweden und Norwegen besetzt haben (Kluge 21925, 119). […] der Wortschatz für alles, was mit Krieg und Kampf zusammenhing, war in germanischer Zeit reich ausgebildet (Bach 91970/1986, 242). In dem Maße, wie sich diese Literatursprache allmählich von dialektalen Bindungen löste, erlangte sie Vorbildwirkung für den kulturell gebildeten Adel in ganz Deutschland: Ihrer bediente sich Walther von der Vogelweide (Schildt 31984, 84). Für den gesamten Wortschatz viel bedeutsamer war jedoch die Tatsache, dass der Um