Sprache und bürgerliche Nation: Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts [Reprint 2012 ed.] 9783110807035, 9783110144956

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Sprache und bürgerliche Nation: Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts [Reprint 2012 ed.]
 9783110807035, 9783110144956

Table of contents :
Vorwort
Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zum Forschungsstand und zu Perspektiven der Forschungsentwicklung
Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum aus der Sicht der englischsprachigen Wissenschaft
Zwischen ,Staatsnation‘ und ,Kulturnation‘. Deutsche Begriffsbesetzungen um 1800
Deutsch in Belgien im neunzehnten Jahrhundert
Die deutsche Sprache in Dänemark im 19. Jahrhundert. Mit einem Ausblick auf weitere nordische Staaten
Der deutsch-dänische Sprachkontakt in Schleswig im 19. Jahrhundert. Zur ideologischen Instrumentalisierung von Sprache
Der Allgemeine Deutsche Sprachverein als Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung. Mit einem Kapitel über Herman Riegel
Alphabetisierung und Volksschulunterricht im 19. Jahrhundert. Der Beitrag der Schreib- und Stilübungen
„An mein Volk“. Sprachliche Mittel monarchischer Appelle
„Die zerstreute Welt zu binden im vertraulichen Verein“. Vereinswesen und Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert
„und haben uns köstlich amüsirt.“ Eine historisch-pragmatische Miniatur zur sprachlichen Kodierung bürgerlichen Lebensgefühls
Vom Dienstmädchen zur Professorengattin. Probleme bei der Aneignung bürgerlichen Sprachverhaltens und Sprachbewußtseins
Arbeitersprache und gesprochene Sprache im 19. Jahrhundert
Briefe preußischer Bergarbeiter von 1816 bis 1918. Eine soziolinguistische Studie zur Arbeiterschriftsprache im 19. Jahrhundert
Zum Einfluß der proletarischen und der bürgerlichen Frauenbewegung auf den politischen Wortschatz (um 1900)
Zeitungsstil und Öffentlichkeitssprache
Zum Anteil der Kollektivsymbolik an der Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert: Das Beispiel der Verkehrsmittel Kutsche und Eisenbahn
Konzessionsgesuche der ersten deutschen Eisenbahnen – ein Beispiel zur Textsortengeschichte im 19. Jahrhundert
Parlamentarische Geschäftsordnungen des 19. Jahrhunderts. Sprachgeschichtliche Impressionen zu einer politischen Textsorte in Deutschland
Morphologische und syntaktisch-stilistische Eigentümlichkeiten in deutschen Texten aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

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Sprache und bürgerliche Nation

W G DE

Sprache und bürgerliche Nation Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts herausgegeben von

Dieter Cherubim Siegfried Grosse Klaus J. Mattheier

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek

— ClP-Einheitsaufnahme

Sprache und bürgerliche Nation : Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts / hrsg. von Dieter Cherubim ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-014495-6

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter G m b H & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort

Der hier vorgelegte Sammelband dokumentiert überarbeitete Vorträge, die auf dem 2. Bad Homburger Kolloquium zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts (10. bis 13. 11. 1993) gehalten worden sind. Über das Kolloquium wurde bereits 1994 (ZGL 22, 98 — 104) von einem der Herausgeber berichtet. Leider hat sich die Drucklegung sehr lange hingezogen. Die Verantwortung dafür liegt allein bei den Herausgebern. Dennoch hoffen wir mit dieser Dokumentation die inzwischen wohletablierte Sprachgeschichtsforschung zur neueren Entwicklung des Deutschen im europäischen Kontext noch weiter fördern zu können. Einige der Beiträge entstanden im Rahmen längerfristig angelegter, größerer Forschungsvorhaben (Promotionen, Habilitationen, Projekte), die inzwischen stark vorangetrieben oder sogar abgeschlossen wurden. Das wurde, soweit möglich, bei den einzelnen Beiträgen vermerkt. Aber auch sonst hat die sprachgeschichtliche Forschung in den letzten Jahren nicht gefeiert. Nicht alle, ζ. T. herausragenden Beiträge dazu können hier erwähnt werden. Aber einige größere Darstellungen und Sammelwerke verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, weil sie die lebendige Diskussion der letzten Jahre zeigen und nachweisbar neue Perspektiven eröffneten. Wir nennen hier die Festschrift für Johannes Erben (1990), die Tagungsbände von A. Betten (1990), R. Wimmer (1991) und A. Gardt/K. J. Mattheier/O. Reichmann (1995), die Aufsatzsammlung von D. Busse/F. Hermanns/W. Teubert (1994) und die Monographien von K. Jakob (1991), G. Fleskes (1996) und A. Linke (1996). 1 Und hinzuweisen ist natürlich besonders auf den von allen 1

Besch, Werner (Hg.) (1990): Deutsche Sprachgeschichte. Grundlagen, Methoden Perspektiven. Festschrift für J o h a n n e s Erben zum 65. Geburtstag. F r a n k f u r t / M . etc.; Betten, Anne (Hg.) (1990): Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Referate der Internationalen Fachkonferenz Eichstätt 1989. Tübingen; Wimmer, Rainer (Hg.) (1991): D a s 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin, N e w York; G a r d t , Andreas/Mattheier, Klaus J . / R e i c h m a n n , O s k a r (Hg.) (1995): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen; Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (Hg.)

(1994): Begriffsge-

schichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der histori-

Vorwort

VI

erwarteten dritten Band der neuen Deutschen Sprachgeschichte von Peter von Polenz (Bd. I: 1991, Bd. II: 1994), 2 der das 19. Jahrhundert behandeln wird, sowie auf die neue Fassung des bewährten Sprachgeschichts-Handbuchs in der inzwischen stattlich angewachsenen Reihe der „Handbücher zur Sprach- und Kommunikationsforschung", die sich z. Zt. noch im Druck befindet. 3 Drei der in Bad H o m b u r g gehaltenen Beiträge (F. Hermanns, P. Lundgren, K. J. Mattheier) waren bereits anderen Sammelwerken versprochen worden und konnten deshalb hier nicht mehr aufgenommen werden. D a f ü r wurden vier neue Beiträge aus dem Kreis der Teilnehmer/innen am Kolloquium eingeworben (K. J . Mattheier, I. Schikorsky, H . Schmidt, R. Willemyns). Der neue forschungsgeschichtliche Beitrag von K. J. Mattheier soll als Einleitung verstanden werden. Wir danken in erster Linie der Werner Reimers-Stiftung, Bad H o m burg, die die Tagung ausgerichtet und hervorragend betreut hatte; dann den Beiträgern für ihr Engagement und die übergroße Geduld, mit der sie uns ermutigt haben, die Sache nun endlich zuende zu bringen; ferner den tüchtigen, intelligenten Mitarbeitern, Stefan Goes und Daniel Dettmer (beide Göttingen), ohne deren massive Hilfe der Band nie fertig geworden wäre; und — last but not least — dem Verlag W. de Gruyter für die Aufnahme des Bandes in sein Programm. Während der Zusammenstellung dieses Sammelbandes ist einer der liebenswertesten Beiträger, Mogens Dyhr (Kopenhagen), unerwartet verstorben. Seinem Andenken sei dieser Band gewidmet. Im Juli 1997

D. Cherubim, S. Grosse, K. J. Mattheier

sehen Semantik. Opladen; J a k o b , Karlheinz (1991): Maschine, Mentales Modell, Metapher. Studien zur Semantik und Geschichte der Techniksprache. Tübingen; Fleskes, Gabriele (1996): Untersuchungen zur Textsortengeschichte im 19. Jahrhundert. A m Beispiel der ersten deutschen Eisenbahnen. Tübingen; Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar. 2

v. Polenz, Peter (1991, 1994): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1: Einführung. Grundbegriffe. Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit. Berlin, N e w York 1991; Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York 1994.

3

Besch, Werner u. a. (Hg.) (1984, 1985): Sprachgeschichte. Ein H a n d b u c h zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2 Halbbde. Berlin, N e w York. Die zweite Aufl. ist z. Zt. im Druck.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

KLAUS J . MATTHEIER

Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zum Forschungsstand und zu Perspektiven der Forschungsentwicklung

1

STEPHEN BARBOUR

Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum aus der Sicht der englischsprachigen Wissenschaft

46

PETER VON POLENZ

Zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation'. Deutsche Begriffsbesetzungen um 1800

55

ROLAND WILLEMYNS

Deutsch in Belgien im neunzehnten Jahrhundert

71

VIBEKE WINGE

Die deutsche Sprache in Dänemark im 19. Jahrhundert. Mit einem Ausblick auf weitere nordische Staaten

87

MOGENS DYHR

Der deutsch-dänische Sprachkontakt in Schleswig im 19. Jahrhundert. Zur ideologischen Instrumentalisierung von Sprache

101

HERBERT BLUME

Der Allgemeine Deutsche Sprachverein als Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung. Mit einem Kapitel über Herman Riegel

. . . 123

OTTO LUDWIG

Alphabetisierung und Volksschulunterricht im 19. Jahrhundert. Der Beitrag der Schreib- und Stilübungen 148

Vili

Inhaltsverzeichnis

HARTMUT SCHMIDT

„An mein Volk". Sprachliche Mittel monarchischer Appelle

167

DIETER CHERUBIM

„Die zerstreute Welt zu binden im vertraulichen Verein". Vereinswesen und Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert 197 ANGELIKA L I N K E

„...und haben uns köstlich amüsirt." Eine historisch-pragmatische Miniatur zur sprachlichen Kodierung bürgerlichen Lebensgefühls . . 234 ISA SCHIKORSKY

Vom Dienstmädchen zur Professorengattin. Probleme bei der Aneignung bürgerlichen Sprachverhaltens und Sprachbewußtseins. . . 259 AREND M I H M

Arbeitersprache und gesprochene Sprache im 19. Jahrhundert . . . 282 M A R I O N KLENK

Briefe preußischer Bergarbeiter von 1816 bis 1918. Eine soziolinguistische Studie zur Arbeiterschriftsprache im 19. Jahrhundert . . . . 317 ELISABETH BERNER

Zum Einfluß der proletarischen und der bürgerlichen Frauenbewegung auf den politischen Wortschatz (um 1900) 341 ULRICH PÜSCHEL

Zeitungsstil und Öffentlichkeitssprache

360

JÜRGEN LINK

Zum Anteil der Kollektivsymbolik an der Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert: Das Beispiel der Verkehrsmittel Kutsche und Eisenbahn 384 GABRIELE FLESKES

Konzessionsgesuche der ersten deutschen Eisenbahnen — ein Beispiel zur Textsortengeschichte im 19. Jahrhundert 398

Inhaltsverzeichnis

IX

WERNER HOLLY

Parlamentarische Geschäftsordnungen des 19. Jahrhunderts. Sprachgeschichtliche Impressionen zu einer politischen Textsorte in Deutschland 420 SIEGFRIED GROSSE

Morphologische und syntaktisch-stilistische Eigentümlichkeiten in deutschen Texten aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts . . . 444

KLAUS J . MATTHEIER

Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zum Forschungsstand und zu Perspektiven der Forschungsentwicklung

1. Thesen zur thematischen Hinführung

T h e s e 1: D a s

19. J a h r h u n d e r t

ist hinsichtlich

der

sprachhistorischen

Forschung — immer noch — eine D i a s p o r a . Diese T h e s e ist derzeit eine weitverbreitete „opinio c o m m u n i s " in der Erforschung der deutschen Sprachgeschichte. Es fragt sich jedoch, o b dieser Eindruck vielleicht nur deshalb entsteht, weil man den Blickwinkel der sprachgeschichtlichen T h e m a t i k an den sogenannten zentralen Gegenständen

sprachhistorischer

Forschung

ausrichtet.

Denn

der

„eigentliche" Gegenstand der (deutschen) Sprachgeschichte ist in den Augen vieler Sprachhistoriker immer noch das Beschreiben der Systemveränderungen in der deutschen Sprache, sei es durch die historische Phonologie, die historische Wortforschung oder die historische G r a m m a tik. D i e sich um diesen sprachhistorischen Kern arrangierende „äußere Sprachgeschichte" tritt daneben zurück. 1 Unter dieser Prämisse läßt sich nicht von der H a n d weisen, d a ß nach der Ausbildung und Verfestigung einer überregionalen deutschen Standardsprache um die J a h r h u n d e r t wende zum 19. J a h r h u n d e r t unter dem Einfluß von G r a m m a t i k e r n und Lexikographen wie Gottsched und Adelung sowie der deutschen Klassiker Sprachsystemwandel nur noch periphere Bedeutung für die E n t w i c k lung der H o c h s p r a c h e hat. D i e deutsche Sprachgeschichte hat also mit Ausbildung der Standardsprache quasi ihren Gegenstand verloren, so daß es nicht verwunderlich ist, wenn differenzierte Forschungen zur Sprachentwicklung im 19. J a h r h u n d e r t fehlen.

1

Vgl. hier als eine der neuesten Stellungnahmen von Polenz ( 1 9 9 4 , 3 9 f.).

2

Klaus J. Mattheier

Nun kann man dieser Position, — selbst wenn man sich auf die Verdrängung der sog. äußeren Sprachgeschichte, also der Sprachgebrauchsgeschichte in die Randbereiche der Forschung einläßt —, nur dann folgen, wenn man auch noch eine zweite Prämisse akzeptiert: nämlich, daß die eigentliche Aufgabe der sprachhistorischen Forschung die Beschreibung der Herausbildung und Verfestigung einer einheitlichen Nationalsprache/Standardsprache ist. Diese Auffassung ist mehr oder weniger explizit noch bis heute eine der Grundlagen aller gängigen deutschen Sprachgeschichten. 2 Andererseits ist man in der sprachsoziologischen Betrachtung des Deutschen schon längst zu Konzepten wie der Stegerschen „Gesamtsprache Deutsch" oder der Coseriuschen „historischen Sprache Deutsch" gelangt, die neben der von einem gewissen Zeitpunkt an vorhandenen deutschen Standardsprache auch alle anderen deutschen Varietäten und Sprachstile zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung machen. Wechselt man die sprachhistorische Perspektive und bezieht man die äußere Sprachgeschichte und die Geschichte aller deutschen Varietäten und Sprachstile mit in die Betrachtungen ein, dann wird man — wie sich zeigen wird — diese These von dem 19. Jahrhundert als Diaspora, was seine sprachhistorische Erforschung betrifft, zumindest überdenken müssen. These 2: Im 19. Jahrhundert stehen die „äußere" Sprachgeschichte und die Geschichte der deutschen Gesamtsprache als Ensemble aller deutschen Varietäten und Sprachstile im Zentrum der Forschung. Die Diskussion der ersten These hat gezeigt, daß in der sprachgeschichtlichen Forschung allgemein neben die grammatisch-phonetischlexikologische Beschreibung sprachlicher Veränderungsprozesse zwei weitere sprachhistorische Gegenstände treten müssen: die sog. „äußere Sprachgeschichte" und die Geschichte der deutschen Gesamtsprache, ohne die bisher noch weitgehend übliche Konzentration auf die Herausbildung der deutschen Standardsprache. Diese Forderung ist theoretisch schon seit einigen Jahren gestellt worden und hat zu programmatischen Konzepten wie dem der soziopragmatischen Sprachgeschichte (von Polenz, Cherubim), der Kommunikationsgeschichte des Deutschen (Steger) oder der soziokommunikativen Sprachgeschichte (Mattheier) geführt. 3 Hier zeigt sich seit etwa 15 Jahren der Niederschlag der sog. pragmatischen Wende auch in der sprachgeschichtlichen Forschung.

2

Z u dieser Position vgl. Wiesinger ( 1 9 9 0 , 4 0 4 f.).

3

Vgl. dazu die Diskussion bei Mattheier ( 1 9 9 5 , 8 f.) sowie Cherubim ( 1 9 8 0 ) und Steger (1984).

Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts

3

Inhaltlich zielen alle diese Konzepte in Richtung auf eine angemessene Einbettung sprachgeschichtlicher Fragestellungen in die gesellschaftlichen Bindungs- und Funktionsgefüge, in denen Sprache als komplexe, symbolisch vermittelte Sozialhandlung wirksam wird. Insbesondere weil uns hier bisher die sprachwandeltheoretische Forschung im Stich läßt, bleibt das zentrale Problem, die Verknüpfungsprozesse zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen in früheren Zeiten und den innersystematischen Entwicklungen innerhalb der Sprache in ihrer Gesamtheit zu klären. Betrachten wir nun unter diesen Aspekten die Sprachgeschichte der Neuzeit, so kann man zuerst einmal feststellen, daß der linguistische Prozeß der Herausbildung des standardsprachlichen Systems im Themenspektrum sprachhistorischer Forschungen lange Zeit einen prominenten Platz einnahm. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Norm der deutschen Standardsprache nirgends mehr infrage gestellt. Dagegen ist jedoch etwa die Geschichte der gesellschaftlichen Verbreitung der Standardsprache und auch die Geschichte ihrer stilistisch-funktionalen Differenzierung keineswegs abgeschlossen. Und daneben warten im 19. Jahrhundert — wie auch in fast allen anderen Epochen der deutschen Sprachgeschichte — die Varietäten und Sprachstile des Deutschen weiterhin auf ihre Erfassung und Beschreibung. Allenfalls über die regionalen Dialekte sind ansatzweise einige sprachhistorische Informationen aufgearbeitet. Für das 19. Jahrhundert wechselt daher — zumindest teilweise — das Gegenstandsspektrum der deutschen Sprachgeschichte. Im Zentrum steht die Verbreitung und Durchsetzung der deutschen Standardsprache innerhalb der gesamten deutschen Sprachgemeinschaft und auch innerhalb der deutschen Sprechsprache. Und daneben gilt es, die vielen verschiedenen Varietäten und Sprachstile der deutschen Gesamtsprache — im Verhältnis zur neuen Standardsprache — zu beschreiben und zu bestimmen, d. h. hinsichtlich ihrer Struktur und ihres Status festzulegen. Wenn man die verschiedenen Versuche miteinander vergleicht, die Gegenstandsbereiche zu erfassen, denen sich eine so weit verstandene Sprachgeschichte zuwenden sollte, dann kommt man immer wieder auf bestimmte zentrale und weniger zentrale Themenbereiche für eine „soziopragmatische Sprachgeschichte" bzw. eine Kommunikationsgeschichte des Deutschen. Im Zentrum steht ein auf die gesprochene und geschriebene Sprache selbst orientierter Block, der jedoch nicht nur die Systemgeschichte des Deutschen, sondern daneben auch die historische Textlinguistik bzw. Pragmalinguistik mit umfaßt. Hinzu kommen jedoch

4

Klaus J . Mattheier

drei weiter Bereiche in der Sprachgeschichte im weiteren Sinne: die Geschichte des Systems von Sprachvarietäten und Sprachstilen des Deutschen und seiner Verwendung in der deutschen Sprachgemeinschaft, die Sprachkontaktgeschichte des Deutschen und die Geschichte des Sprachbewußtseins innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft. In einem anderen thematischen Zusammenhang habe ich diese sprachhistorischen Arbeitsfelder in einem Schaubild zusammengestellt (vgl. Abb. I ) . 4 In dieser Skizze spielt eine Komponente sprachhistorischer Betrachtung eine zentrale Rolle, die bisher noch nicht angesprochen worden ist: die Geschichte der Textsorten des Deutschen. Dieser Bereich sprachhistorischer Betrachtung steht genau in dem Übergangsbereich zwischen der innersprachlichen und der sprachsoziologischen Perspektive der Sprachgeschichte. Auf die besondere Bedeutung von Textsorten und Textsortengeschichte gerade dann, wenn man die soziopragmatischen Ansätze verfolgt, hat zuerst H u g o Steger (1984) hingewiesen. 5 Textsorten sind die sprachlichen Musterbildungen, die unmittelbar auf die soziokommunikativen Anforderungen antworten, die in den unterschiedlichen Kommunikationssituationen an die Sprecher und Sprechergruppen gestellt werden. Sie bilden also wahrscheinlich die eigentlichen Schaltstellen zwischen der Geschichte der Sprache und der Geschichte der Sprachgemeinschaft als einer in die normalen sozialgeschichtlichen Veränderungsprozesse eingebetteten sozialen Gemeinschaft/Gruppe. Nun sind die Textsortenwissenschaft und insbesondere die Textsortengeschichte noch viel zu wenig entwickelt, um hier mehr als allgemeine Überlegungen auszuführen. Es wird jedoch immer deutlicher, daß künftige Forschungen insbesondere im Bereich der Textsortengeschichte von zentraler Bedeutung für eine moderne Sprachgeschichte sein werden. Im folgenden soll nun versucht werden, ansatzweise und mit besonderen Schwerpunktbildungen den G a n g der Forschung der letzten etwa 20 Jahre im Bereich der Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts zu skizzieren. Folgen werde ich dabei dem skizzierten Modell des Gegenstandsbereichs der Sprachgeschichte. Es kommt mir dabei in erster Linie darauf an, die grundlegenden Positionen herauszuarbeiten, die in den verschiedenen sprachhistorischen Gegenstandsberichten derzeit explizit oder

4

Vgl. hierzu Mattheier (1994, 540) und die weitergehende Diskussion in Mattheier (1995,

5

Vgl. hierzu auch die anregenden Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Textsor-

14-17). tennormen und grammatischen Normen in Schendels (1983) und die Forschungen von Lerchner.

K o m m u n i k a t i o n s g e s c h i c h t e des 19. J a h r h u n d e r t s

5

Gegenstandsbereiche der Sprachgeschichte Geschichte der sozialen Beziehungen und Prozesse Geschichte der sozio-kommunikativen Beziehungen Sprachgebrauchsgeschichte Veränderungen in den soziosituativen Verwendungsweisen der Varietäten und Sprachstile

l Pragmalinguistik Textlinguistik

Sprachbewußtseinsgeschichte

Sprachsystemgeschichte auf den verschiedenen

Veränderungen in den

Sprachrängen

kommunikativen M e n talitäten, Einstellungen, Theorien

(Funktionalstilistik)

I Sprachkontaktgeschichte

(Auch abgedruckt in: Mattheier, Klaus J . : Die rheinische Sprachgeschichte und der , M a i k ä fer'. In: Nikolay-Panter, M a r l e n e / Wilhelm Janssen / W o l f g a n g H e r b o r n (Hgg.): Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken. Köln/Weimar/Wien 1 9 9 4 , 5 3 4 - 5 6 1 , hier 5 4 0 . ) Abb. 1

auch implizit vertreten werden. So hat es etwa im Bereich der Sprachbewußtseinsgeschichte derzeit den Anschein, daß hier im 19. Jahrhundert fast ausschließlich die Wissenschaftsgeschichte der Beschäftigung mit der deutschen Sprache im Zentrum steht. Dagegen erweist sich etwa die ebenfalls in den Bereich der Sprachbewußtseinsgeschichte gehörenden These von der Bedeutung der Klassikersprache als Vorbild für die deutsche Standardsprache als weitgehend unerforscht, obwohl sie für die Stabilisierung der Standardsprache wahrscheinlich eine zentrale Rolle

6

Klaus J. Mattheier

gespielt hat. Ergänzt werden soll diese forschungshistorische Skizze durch einige Überlegungen zu der Erarbeitung eines Korpus zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Beginnen wir mit einigen Bemerkungen zur Forschungsgeschichte im Bereich der Sprachgemeinschaft des 19. Jahrhunderts. Hier kann man ganz grob einteilen in die Phase vor 1980 und die Phase der expliziten Thematisierung des 19. Jahrhunderts in der Sprachgeschichte nach 1980. Das wichtigste Charakteristikum der Phase vor 1980 war, daß es überhaupt kein Epochenbewußtsein für eine sprachgeschichtliche Epoche „19. Jahrhundert" gab. Mit diesem Problem setzt sich von Polenz (1989, 11 — 30) in seinem Beitrag zur 1. Reimerstagung ausführlich auseinander und er stellt auch die unterschiedlichen Gliederungsversuche der Epochengliederung für das Neuhochdeutsche zusammen, die sich in den gängigen Gesamtdarstellungen finden. Vergleicht man diese Periodisierungsversuche, dann zeigt sich, daß eine recht weit verbreitete opinio communis für einen Epocheneinschnitt um die Wende zum 19. Jahrhundert spricht, sei es, daß man 1770/1780 oder 1800/1815 als Einschnitt betrachtet. Danach folgt in vielen Sprachgeschichten ein Epochenabschnitt, in dem „Klassik und Romantik" sowie die „Sprache des Bürgertums" eine Rolle spielen und der bis etwa 1870 angesetzt wird. Doch wird die dann bis zu Mitte des 20. Jahrhunderts folgende Epoche fast durchweg als relativ homogenes „Gegenwartsdeutsch" betrachtet. Das Kapitel heißt bei August Langen (1957) „Vom Naturalismus bis zur Gegenwart", bei Adolf Bach (1970) „Vom 2.Viertel des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart", bei Hugo Moser (1969) „Wandlungen der Hochsprache in der Gegenwart" und bei Hans Eggers (1986) „Sprache im Wandel der Gegenwart (nach 1870)". 6 Nun hat man aber mit der Erforschung des 20. Jahrhunderts unter sprachhistorischem Gesichtspunkt noch so gut wie gar nicht begonnen (doch vgl. Steger 1989). Deshalb kann über sprachhistorische Strukturierungen innerhalb dieses Jahrhunderts noch nichts gesagt werden. Daß sich jedoch die politisch-historischen Einschnitte von 1914/18 und 1939/ 45 sozial — und insofern auch kommunikationsgeschichtlich auswirken werden, kann wohl nicht angezweifelt werden. Und auch wenn man den wohl wichtigsten Faktor in der historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache, das Bürgertum und dessen Entwicklung berücksichtigt, wird man insbesondere dem 19. Jahrhundert bis zum Einschnitt des 1. Weltkriegs epochale Einheitlichkeit zubilligen wollen. Zwischen 1770 6

Vgl. hierzu die Zusammenstellungen bei von Polenz (1989).

Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts

7

und 1918 konsolidiert sich das Bürgertum, es bildet einen besonderen Lebensstil aus, zu dem auch spezielle sprachliche Ausdrucksmittel und Ausdrucksformen gehören, es gewinnt Prestige bei den anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, dem Adel, der Arbeiterschaft und der Landbevölkerung, es „exportiert" sein gesellschaftliches Wertesystem und seine Verhaltensnormen in die anderen Gruppierungen und es wird, nicht zuletzt durch den Ausgang des 1. Weltkriegs und die Umstrukturierung der deutschen Gesellschaft in eine Massengesellschaft, infrage gestellt. Das 19. Jahrhundert könnte also in der Sprachgeschichte als das „bürgerliche Jahrhundert" bezeichnet werden, oder auch als das Jahrhundert, in dem die deutsche Standardsprache mithilfe des Bürgertums innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft als die unumstrittene Leitnorm durchgesetzt wird. Wenn hier festgestellt wird, daß eine Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts vor 1980 insofern nicht vorhanden war, als eine Epoche ,19. Jahrhundert' in der Forschung gar nicht angenommen wurde, dann bedeutet das nicht, daß es nicht eine Reihe von sprachhistorischen Analysen gab, die sich auch oder sogar ausschließlich dem 19. Jahrhundert widmeten. Hervorgehoben sei die stilistisch-lexikologische Studie von August Langen (1957) und der von Friedrich Kainz, Kurt Wagner und H u g o Moser bearbeitete Abschnitt zum 19. Jahrhundert in der Deutschen Wortgeschichte von Maurer/Stroh (1959), aber auch das Kabinettstück sprachstilistischer Analyse, das Friedrich Sengle in seinem Biedermeierbuch zur Sprache der Zeit liefert. 7 Trotz dieser und vieler anderer Einzelstudien zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts kann man festhalten, daß eine systematische Beschäftigung mit diesen Fragen erst um 1980 beginnt. 8 Auslöser dieses Neuansatzes war ohne Zweifel das von einer Arbeitsgruppe der Akademie der Wissenschaften der D D R unter der Leitung von Joachim Schildt 1980 herausgegebene dreibändige Werk „Studien zur deutschen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts" sowie die Arbeiten anderer Arbeitsgruppen dieser Institution zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik und Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert. 9 Hinzu kommen die anfangs eher programmatischen Publikationen einer Arbeitsgruppe der Hochschule Potsdam unter der Leitung von Helmut Langner (Langner/ Berner/Bock 1986) und auch die 1983 publizierten Ergebnisse eines von 7 8

Sengle (1971, 1972, 1980, Bd. 2.). Vgl. zu den Details dieser Forschungsentwicklung d a s Vorwort zum S a m m e l b a n d Cherubim, Mattheier (1989, 2 - 7 ) .

9

Studien zur deutschen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. (Linguistische Studien/ Zentralinstitut für Sprachwissenschaft/Reihe Α., 66/1 —III) Berlin, 1980.

8

K l a u s J . Mattheier

Dieter Nerius, Rostock veranstalteten Kolloquiums zu den Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit dem 18. Jahrhundert (Nerius 1983). In der Bundesrepublik Deutschland setzten die Bemühungen um die Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts 1982 mit einer Diskussionsrunde zum Thema beim Germanistenkongreß in Aachen ein (vgl. Mattheier 1983) und sie wurden weitergeführt in zwei größeren Tagungen zum Thema bei der Reimers-Stiftung in Bad H o m b u r g 1986 (Cherubim/ Mattheier 1989) und am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim 1990 (Wimmer 1991). Die auf einer dritten Tagung gehaltenen Vorträge werden in dem hier vorgelegten Band präsentiert. Inzwischen sind erste Forschungsergebnisse erschienen, die auf durch diese Tagungen angeregte Untersuchungen zurückgehen. Trotzdem kann man nicht feststellen, daß es sich bei der Erforschung der Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts um ein fest umrissenes und institutionell faßbares Forschungsgebiet der deutschen Sprachgeschichte handelt. Es gibt keine regelmäßigen Treffen der interessierten Wissenschaftler und keine institutionelle Einbindung. Es gibt keine regelmäßige Vertretung dieses Forschungsgebietes auf den nationalen und internationalen Fachkongressen. Es gibt kein Publikationsorgan, das sich diesem Thema systematisch zuwendet. Es gibt keine regelmäßige Bibliographie zum 19. Jahrhundert und seiner Sprache. Es gibt keine Übersicht über laufende Forschungsvorhaben (Dissertationsliste) und es gibt keine Konzepte für die Erarbeitung von angemessenen Quellengrundlagen zur Sprachbeschreibung im 19. Jahrhundert. Und insbesondere fehlt ein Forschungsdialog mit den Sozialhistorikern sowie mit anderen historischen Fachrichtungen (Bildungsgeschichte, historische Demographie usw.), auf den gerade ein soziopragmatisch ausgerichteter Forschungsansatz angewiesen wäre. Vor diesem Hintergrund von Desiderata ist von besonderer Bedeutung, daß das Thema Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert' in der derzeit in Arbeit befindlichen zweiten Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte — im Gegensatz zur ersten Auflage — systematisch in einer ganzen Reihe von Artikeln behandelt werden soll.

2. Soziopragmatische Sprachgeschichte und Sozialgeschichte Wenn, — wie es hier versucht wird —, der derzeitige Forschungsstand der Sprachgeschichte unter soziopragmatischem Aspekt umrissen wer-

Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts

9

den soll, denn stellt sich noch vor der Betrachtung der Strukturgeschichte der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert die Frage nach der Einbettung der vorliegenden sprachhistorischen Untersuchungen in einen allgemein gesellschaftshistorischen Rahmen. Welche gesellschaftlichen Phänomene werden in solchen Untersuchungen berücksichtigt, welche Prozesse werden für sprachlich-kommunikativ bedeutsam gehalten? Thematisiert werden an sozialen Institutionen durch die sprachhistorischen Arbeiten der letzten 15 bis 20 Jahre hauptsächlich solche, die in den Bereich einer „Kulturgeschichte" im klassischen Sinn gehörten. Hier finden sich Arbeiten zur Theatergeschichte, zur Literaturgeschichte im literatursoziologischen Sinn, zur Pressegeschichte, zur Geschichte der Buchkultur, zur Mediengeschichte, zur Schulgeschichte und zur Geschichte des Lesens. Erwähnt seien etwa zu einer Geschichte des Lesens die Arbeiten von Ziessow (1988) zur ländlichen Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert, von Reinhard Wittmann (1973) zur Rezeption aufklärerischer Bemühungen durch die bäuerliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert, von Reinhold Viehoff (1993) zur Funktion der Lektüre im Roman seit dem 18. Jahrhundert. Hinzu kommen Arbeiten wie die von Erich Schön „Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800" (1987) oder Pia Schmids „Zeit des Lesens — Zeit des Fühlens: Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums, ein Lesebuch" (1985), sowie Rosei Müllers „Von Patrioten, Jakobinern und anderen Lesehungrigen. Lesegesellschaften der ,Intelligens' — Stadt Marburg" (1990). Unter buchgeschichtlichem Aspekt sind zu nennen die Arbeiten von Hildegard Neumann zum Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750 bis 1850 (1978) und von Reinhard Wittmann zu Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert (1982). Für die Mediengeschichte sind die Arbeiten von Hadorn/Cortesi „Mensch und Medien. Die Geschichte der Massenkummunikation" (1986), sowie von Winter/ Eckert „Mediengeschichte und kulturelle Differenzierung" (1990) zu nennen. Die Theatergeschichte als soziopragmatischen Faktor greift Ruedi Graf in seiner Arbeit „Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Wege zur Bildungsmacht" (1991) auf. Bei all diesen Themenbereichen handelt es sich um gesellschaftliche Felder, die in enger Beziehung zu Sprache und Sprachlichkeit stehen, die aber innerhalb einer Sozialgeschichte des Deutschen im 19. Jahrhundert eher eine periphere Position haben. Von den zentralen Wirkmächten einer Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts sind es besonders das Bürgertum und die unterbürgerlichen Schichten, die im Zusammenhang mit sprachlichen Entwicklungen thematisiert werden. Z u m Bildungsbürger-

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Klaus J. Mattheier

tum sind hier die Arbeiten von Ulrich Engelhardt (1986, 1989) zu nennen. Mit der Kommunikationsmentalität des Bürgertums beschäftigtigen sich die Arbeiten von Angelika Linke (1996a und b), mit Handwerkern und Arbeitern die Untersuchungen von Isa Schikorsky (1990) und von Marion Klenk (1997). Während hier größere empirische Untersuchungen vorliegen, erschöpfen sich die Thematisierungen von gesellschaftlicher Modernisierung', von Demokratisierung' und von ,Urbanisierung' weitgehend im Programmatischen. Allenfalls im Bereich der soziopragmatischen Relevanz von Industrialisierung liegen erste Arbeiten von Karlheinz J a k o b (1989, 1991), Gabriele Fleskes (1996) und Klaus J . Mattheier (1987) vor. Als gemeinsame Entwicklungstendenzen aus vielen dieser Arbeiten scheint sich eine für das 19. Jahrhundert bedeutsame Dualität der Entwicklung von Sprachlichkeit herauszuschälen: einmal in Richtung auf eine für möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen gleich verwendbare Standardsprache, dann jedoch auch in Richtung auf funktionalstilistische Differenzierungen innerhalb dieser hochdeutschen Standardsprache. Und deutlich wird auch, daß innerhalb des 19. Jahrhunderts Differenzen in den sprachlichen Fähigkeiten sehr viel häufiger als bisher angenommen als Instrument für gesellschaftliche Distanzierung und Differenzierung herhalten mußten. Wichtigstes Desiderat im Bereich der Beziehungen zwischen Sprachund Sozialgeschichte ist wohl, genauere Informationen über die sprachlichen Möglichkeiten der sich teilweise neu bildenden oder umstrukturierenden sozialen Gruppen, der Bauern, des Bürgertums, der Arbeiterschaft und des Adels zu erhalten.

3. Strukturgeschichte der Sprache im 19. Jahrhundert Für die Darstellung und Analyse der Struktur der Standardsprache im 19. Jahrhundert gibt es zwei verschiedene Zugangsmöglichkeiten zur Sprachwirklichkeit, eine direkte über die in den zeitgenössischen Texten vorfindliche Sprachlichkeit und eine indirekte über zeitgenössische Formulierungen des sprachlich Richtigen und Erwünschten, die Sprachnorm. D a s 19. Jahrhundert ist wie keine andere sprachgeschichtliche Epoche vorher dazu geeignet, Sprachstrukturgeschichte als Sprachnormengeschichte zu untersuchen. In keiner Epoche ist bis dahin die gültige und

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erwünschte Sprachnorm in so vielfältiger Weise und auf so verschiedenen Ebenen thematisiert worden. Da sind einmal die zeitgenössische Grammatikarbeit und andere Ansätze sprachwissenschaftlicher Betrachtung des Deutschen. Insbesondere im Zusammenhang mit der schulischen Vermittlung von Standardsprache werden Sprachnormen immer wieder diskutiert. Hinzu kommen die vielen sprachkritischen Arbeiten, bei denen es um die Verbreitung bzw. die Erhaltung von normgerechter Sprache geht. Dabei konkurrieren zwei verschiedene Zielorientierungen für das sprachlich Richtige oder Erwünschte. Einmal haben wir, sicherlich als Erbschaft aus der rationalistischen Vorgängerepoche, Vorstellungen von Regelgemäßheit, von innerer Logik, der die Sprachnorm folgen sollte. Besonders deutlich zeigen sich derartige Tendenzen etwa in der Sprachdenklehre von Karl Friedrich Becker und seinen Populisatoren. Insbesondere in der Morphologie und teilweise auch in der Syntax sind derartige Konzepte wirksam geworden. Daneben wird jedoch das 19. Jahrhundert von einem zweiten Orientierungsmodell für das sprachlich Richtige geprägt, das der Vorbildthese folgt. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt das Klassikermodell als Sprachnormenkonzept immer größere Bedeutung (vgl. Mattheier 1991, Mattausch 1980). Man geht davon aus, daß der Höhepunkt sprachlicher Geformtheit durch die Klassiker des Jahrhundertanfangs erreicht worden ist und daß es für die Sprachverwender der Folgezeit in erster Linie darauf ankommt, diesem Modell von Sprachlichkeit nachzustreben. Dabei hat es den Anschein, als ob dieses Normmodell sich materiell, wenn überhaupt, dann eher im lexikalischstilistischen Bereich ausgewirkt hat. Schaltstelle bei der Vermittlung der Klassikernorm in die Sprachgemeinschaft war seit der Jahrhundertmitte das Gymnasium, und zwar wahrscheinlich weniger das humanistische Gymnasium mit seiner starken Ausrichtung am Lateinischen und Griechischen, als vielmehr das in dieser Zeit entstehende neusprachliche bzw. naturwissenschaftlich-mathematische Gymnasium bzw. die Oberrealschule, in denen der Deutschunterricht die eigentliche kulturvermittelnde Institution war. Das sich auf dieser Grundlage entwickelnde „Bildungsdeutsch" zeigte — trotz der massiven Nietzsche-Kritik am Bildungsphilister eine erstaunliche Stabilität, wahrscheinlich bis in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts. Erst dann ist es als stilistische Leitnorm für „gutes Deutsch" abgelöst worden. Durch Untersuchungen von Sprachnormtexten kann nur die in einer Epoche erwünschte und erwartete Sprache rekonstruiert werden, nicht

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die eigentliche Sprachwirklichkeit dieser Epoche. Dazu bedarf es eines Korpus von zeitgenössischen Texten, das einen bestimmten Ausschnitt aus der Spracharchitektur — in der Regel die Standardvarietäten in bestimmten diaphasischen Sektoren — repräsentiert. Derartige Sprachanalysen finden sich in der vorliegenden Literatur meist als Arbeiten zu Entwicklungstendenzen'. Empirische Befunde aus einem bestimmten Korpus des 19. Jahrhunderts werden mit dem Sprachgebrauch der Gegenwart verglichen, um dadurch Informationen über die Entstehung und sprachhistorischen Grundlagen von Phänomenen, wie etwa der Ausklammerungstendenz oder der Aufgabe des synthetischen Konjunktivs, aufzuzeigen. So gut wie nie finden sich Arbeiten, die einen bestimmten Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts mit parallelen Fällen in anderen Varietäten und Sprachstilen der Zeit vergleichen oder diatopischen Differenzen und Konvergenzen nachgehen. Und auch den Beziehungen zwischen der Sprachwirklichkeit und den zeitgenössischen Sprachnormen, auf die Gabriele Schieb in ihrem richtungsweisenden Beitrag von 1981 hinweist, wird in der bisherigen Forschung nirgends nachgegangen. Strukturbezogene Untersuchungen zu N o r m und Gebrauch liegen für die Sprache im 19. Jahrhundert in sehr unterschiedlichem Ausmaß vor. Relativ wenige Untersuchungen gibt es zu den eigentlichen Kernbereichen der Sprachstruktur in Flexionsmorphologie und Syntax sowie in der Wortbildungsmorphologie. Reicher wird die Ausbeute dann im Bereich der Lexikologie, der Wortsemantik, der Phraseologie, aber auch der Textlinguistik und anderen pragmalinguistischen Forschungsansätzen wie Sprechakttheorie und Gesprächsanalyse. Und ebenfalls eine reiche Literatur finden wir für den Laut-Zeichen-Bereich. In dieser Forschungslage spiegelt sich die weitverbreitete Auffassung, daß die eigentlichen Kernbereiche der Sprache mit dem Wirken der Grammatiker des 18. Jahrhunderts gefestigt waren und für einen Wandel nicht mehr zur Disposition stehen. Sprachwandel findet seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nach dieser Auffassung hauptsächlich in den strukturell lockereren Randbereichen des standardsprachlichen Systems statt. Unter sprachwandeltheoretischem Aspekt stellt sich das Problem anders dar. Veränderungstendenzen finden sich zu jeder Zeit in allen Teilen des Sprachsystems in gleicher Weise. D a s zeigt etwa im 19. Jahrhundert ein Blick auf Randbereiche der normierten Hochsprache wie Umgangssprache, Jugendsprache usw. Diese Veränderungstendenzen sind allein vom Gebrauch der Sprache und von innersystematischen Tendenzen abhängig. Doch können alle diese Veränderungstendenzen durch

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eine rigide formulierte und gegebenenfalls sogar durch Sanktionen gestärkte Sprachnorm unterdrückt werden, so daß die Sprachentwicklung aufgehalten und auf einem bestimmten Entwicklungspunkt fossilisiert wird. In einer solchen Konstellation, die sicherlich für das 19. Jahrhundert gegeben war, wird ein bestimmter Sprachgebrauch — zur verbindlichen N o r m erklärt — über längere Zeit in einer Sprachgemeinschaft festgeschrieben, wobei die zentralen Bereiche der Sprachstruktur, für die die Normen explizit formuliert sind, diesem Prozeß besonders ausgesetzt sind. Wären textlinguistische oder Wortbedeutungsregeln ebenso rigide formuliert wie die Regeln der Flexion, dann erschienen auch sie dem heutigen Betrachter als Teil des Kernbereichs der Sprachstruktur.

3.1 Der Laut-Zeichen-Bereich Im Laut-Zeichen-Bereich dominieren unter den Publikationen der letzten 20 Jahre eindeutig die Arbeiten zur Orthographie der deutschen Standardsprache. Und innerhalb dieses Bereiches sind es die Auseinandersetzungen um die einheitliche N o r m , die die Wissenschaft besonders zu interessieren scheinen. Hier wird eine Tradition fortgesetzt, die schon die gängigen neueren Sprachgeschichten seit den 50er Jahren geprägt hat. Orthographiereform war neben Wortschatzentwicklung der einzige Bereich, der in den Darstellungen des 19. Jahrhunderts immer wieder thematisiert wurde. Meist finden sich Überblicksdarstellungen über den Gesamtkomplex der Orthographienormierung im 19. Jahrhundert, die teilweise auch über diese Epoche hinausgreifen. Genannt seien die beiden umfangreichen Aufsätze von Michael Schlaefer (1980, 1981) zu den Grundzügen der deutschen Orthographiegeschichte vom Jahre 1800 bis zum Jahre 1870 und zum Weg zur deutschen Einheitsorthographie vom Jahre 1870 bis zum Jahre 1901; dann die Sammelbände zum Thema von Dieter Nerius (1983) und Burkhard Garbe (1978), die Arbeit von Christoph Lohff „ Z u r Herausbildung einer einheitlichen deutschen Orthographie zwischen 1876—1901" (1980), die Monographie von H.-G. Küppers „Orthographie und Öffentlichkeit. Zur Entwicklung und Diskussion der Rechtschreibreformbemühungen zwischen 1876 und 1982" (1984) sowie der Aufsatz von Nerius/Möller zur Entwicklung der deutschen Orthographie im 19. Jahrhundert (1983). Auf einen der vielen „Reformvorschläge" zur Rechtschreibung, die „razzionelle Schreibveise" von Hermann Scheffler, geht Wiltrud Brinkmann in einem Aufsatz ein

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(1983) und Anneliese Möller legt eine Arbeit „ Z u r Stellung der Orthographie in sprachgeschichtlichen Handbüchern des Deutschen" (1989) vor, in der auch die wissenschaftshistorische Perspektive diskutiert wird. Völlig fehlen daneben Arbeiten, die sich nicht mit der Normdiskussion, sondern mit'den wirklichen Sprachverhältnissen im Bereich der Orthographie beschäftigen, wenn man von Randbereichen wie Zeichensetzung und Getrennt-/Zusammenschreibung absieht (Weyers 1992, Herberg 1983). Ein zweiter Themenkomplex des Laut-Zeichen-Bereichs, der orthoepische Bereich der Diskussion um eine einheitliche deutsche Aussprachenorm, findet sich in den neueren Publikationen erst ansatzweise behandelt. Hier ist insbesondere die richtungsweisende Arbeit von Eduard Kurka „Die deutsche Aussprachenorm im 19. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Probleme ihrer Kodifikation vor 1898" (1980) zu nennen, die jedoch nach ihrem Erscheinen leider keine weiteren Arbeiten, weder zur orthoepischen Normentwicklung noch zum wirklichen Sprechsprachegebrauch unter den Hochsprachesprechern im 19. Jahrhundert, ausgelöst hat. Z u nennen ist hier nur der kleine Beitrag von F.-R. Varwig (1985) über die Schrift „Über die deutsche Aussprache" von Johann Friedrich Zöllner aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Dabei gibt es insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, worauf auch Kurka hinweist, im Zusammenhang mit der Herausbildung des Forschungsgebiets der Phonetik, aber auch mit den Diskussionen um einen angemessenen Unterricht von Deutsch als Fremdsprache intensive Diskussionen und sogar empirische Studien zu dieser Frage, die etwa in den Zeitschriften der Lehrerverbände aber auch im bildungsbürgerlichen Alltag heftig diskutiert worden sind. So gut wie gar nicht thematisiert wird in der neueren Forschungsliteratur die sich schon im 19. Jahrhundert anbahnende Wechselbeziehung zwischen der Orthographie, der Orthoepie und der alltäglichen Aussprache der Laute, die ja vermehrt nicht mehr auf einem regionalen Usus aufbaut, sondern als ein „Sprechen nach der Schrift" erscheint.

3.2 Flexion, Wortbildung und Syntax im 19. Jahrhundert Wie schon angedeutet finden sich für die strukturellen Kernbereiche der Flexion, der Wortbildung und der Syntax nur sehr wenige Arbeiten, die entweder die jeweilige N o r m oder den Sprachgebrauch thematisieren. Als Überblicksbeiträge dienen für die Morphologie die Arbeit von Gabriele Schieb „ Z u Stand und Wirkungsbereich der kodifizierten gram-

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matischen Norm Ende des 19. Jahrhunderts" (1981) und der Handbuchbeitrag von Klaus P. Wegera (1985) zur Morphologie des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert. Hinzu kommen Studien zu einigen wenigen Einzelphänomenen wie die von Man-Seob So (1991) über die deutschen Funktionsverbgefüge in ihrer Entwicklung vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart und von Gunhild Engström-Persson (1979) zum Konjunktiv im Deutschen um 1800. Einen eher wissenschaftshistorischen Zugriff zu den grammatischen Kategorien hat Bernd Naumann (1986) mit seiner Arbeit über die Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Zur Wortbildung findet sich keine Arbeit, die die Entwicklungen im 19. Jahrhundert zentral thematisiert. Die historische Betrachtung der Syntax der letzten Jahrhunderte wird beherrscht durch die Arbeiten von Wladimir Admoni, die in seinem Werk zur Entwicklung des Satzbaus der deutschen Literatursprache im 19. und 20. Jahrhundert aus dem Jahre 1987 gipfelt (vgl. auch Admoni 1985, Admoni 1987). Dabei steht hier, wie auch in den Beiträgen von Frank Jürgens (1994) über substantivische Wortgruppen in der Publizistik und von Ernst Sommerfeld (1984) über Entwicklungstendenzen im Gebrauch der deutschen Satzformen im 19. und 20. Jahrhundert nicht eine Rekonstruktion der angestrebten Sprachnormen, sondern der Sprachgebrauch in verschiedenen Textsorten im Mittelpunkt.

3.3 Der Wortschatz im 19. Jahrhundert Die Arbeiten zur Wortschatzentwicklung des 19. Jahrhunderts decken in erster Linie zwei Forschungsfelder ab: einmal die Analyse des Wortschatzes im Umfeld von zentralen gesellschaftlichen Institutionen und Entwicklungen und dann wortschatzbezogene Sprachstilanalysen von bestimmten diaphasischen Varietäten. In den ersten Bereich gehören etwa zahlreiche in der früheren DDR erarbeitete Studien zu den Kernwörtern der marxistischen Terminologie, zur Arbeiterbewegung und zu dem Wortschatz der gesellschaftlichen Gegenkräfte. Genannt seien hier die Arbeit von Ch. Neumann „Linguostilistische Untersuchungen an historischen Schriften von Karl Marx" (1979), von A. Porsch „Linguostilistische Untersuchungen an Texten von August Bebel" (1982), von E. Adelberg „Die Entwicklung einiger Kernwörter der marxistischen Terminologie" (1981), von U. Föllner „Wandel in Gebrauch und Semantik von Bezeichnungen für Anhänger progressiver politischer Richtungen vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts" (1991), von C. Schulze „Politische Gegner im sprachlichen Bild" (1991) und von Joa-

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chim Schildt (1991) zu einigen Entwicklungstendenzen im politischen Wortschatz der deutschen Arbeiterbewegung. Diese Arbeiten bringen natürlich den ideologischen Rahmen ihrer Entstehungszeit und ihres Entstehungsortes zum Ausdruck. Sie sollten jedoch von ihren Ergebnissen her und insbesondere wegen ihres interessanten methodischen Zugangs mehr zur Kenntnis genommen werden. Hinzu kommen Arbeiten zu einzelnen Begriffen bzw. zu bestimmten Bedeutungsfeldern wie die von Wolfgang Brandt über das Wort „Klassiker" (1976), von W. Wülfing (1982) über Schlagworte des jungen Deutschland, von Horst Weber (1989) über Differenzierungen im politischen Wortschatz der deutschen Publizistik im Gefolge der Französischen Revolution. Mit dem Wortschatz bestimmter Textsortengruppen beschäftigen sich die Arbeiten von Wolfgang Brandt zur Gesetzessprache (1988a, 1988b, 1991), die Arbeiten von Horst Grünert (1974, 1983, 1985) und Gregor Kalivoda (1986) zur Sprache des Parlamentarismus und die Arbeiten von Johannes Dückert (1981) und Karlheinz J a k o b (1989, 1991) zu den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Wortschatzentwicklung. Thematisiert werden auch Sonderentwicklungen wie etwa die sprachlichen Archaisierungstendenzen (von Ingrid Leitner 1978) und das Verhältnis von Individualsprache und Gemeinsprache am Beispiel des Goethewörterbuchs (von Horst Umbach 1986). Von dieser Gruppe von Arbeiten zu lexikologischen Fragen sind diejenigen zu trennen, bei denen es um die lexikologische Norm und ihre Kodifizierung in Wörterbüchern geht, also etwa die Arbeit von Iris Seemann (1993) zu den beiden historischen Bedeutungswörterbüchern von Schmitthenner (1834) und Weigand (1909/10) und auch die Arbeiten im Umfeld der Herausgabe einer Bibliothek zur Historischen deutschen Studenten- und Schülersprache durch Helmut Henne und Georg Objartel (vgl. Objartel 1984). An diesen und ähnlichen Arbeiten zu verschiedenen Aspekten des Wortschatzes lassen sich keine durchgehenden Entwicklungsrichtungen ablesen. Es handelt sich eher um isolierte Einzelstudien, die innerhalb der Lexikologie auch sehr unterschiedliche Teilgebiete thematisieren. Ein systematischerer Zugriff, wie er sich etwa in dem Forschungsansatz zur diachronen Semantik bei D. Busse u. a. (1991) findet, und wie er in einem Abschnitt der Arbeit von Angelika Linke (1996a, 265 — 290) erprobt wird, wäre hier dringend vonnöten.

3.4 Text(sorten)linguistik und Pragmalinguistik im 19. Jahrhundert Obgleich die sogenannte „pragmatische Wende" in der Sprachgermanistik nicht viel vor der Zuwendung zum 19. Jahrhundert in der Sprachge-

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schichte erfolgte, gibt es schon eine ganze Anzahl von Arbeiten zu Fragestellungen aus diesen Bereichen, also aus der Textsortenlinguistik, der Sprechaktanalyse und der Gesprächsanalyse, jeweils bezogen auf das 19. Jahrhundert. Die Arbeitsfelder werden dabei in der Regel ausgewählt vor dem Hintergrund von allgemeinen sprachwandeltheoretischen Annahmen zu Auswirkungen allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungsprozesse (wie Demokratisierung, Durchsetzung des Parlamentarismus, Industrialisierung) auf die Textsorten und das sonstige Handeln durch Sprache. Hier sollte die historische Textlinguistik ansetzen. Peter von Polenz (vgl. v. Polenz 1994, 239) geht in seiner neuen Sprachgeschichte von einer engen Verknüpfung der Textkonstituierung mit dem Satzbau aus: Veränderungen im Bereich der Textkonstituierung, die von Wandlungen in den Kommunikationserfordernissen bzw. Kommunikationsbedingungen ausgelöst werden, haben dadurch direkte Auswirkungen auf die Syntax und — über die Syntax vermittelt — auf die sog. auxiliaren Teilsysteme Flexion, Wortbildung, Orthographie. Von einer systematischen Ausarbeitung dieses Analysekonzeptes sind wir jedoch noch weit entfernt. Die vorliegenden Arbeiten zur Textlinguistik behandeln einmal einzelne Textsorten oder Textsortengruppen unter funktionalem und/ oder strukturellem Gesichtspunkt. Hierzu gehören Arbeiten von Karin Frese (1987) über die Textsorte der Geburtsanzeigen zwischen 1790 und 1985, von Karl Heinz Hohmeister über „Veränderungen in der Sprache der Anzeigenwerbung" (1987) sowie von Peter Stolze (1982) über die Sprache der Anzeigenwerbung in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, über Brieftextsorten von Karl Ermert (1979) und über die Autobiographie von Jürgen Lehmann (1983). Die meisten Studien konzentrieren sich jedoch nicht auf einen bestimmten Textsortenbereich, sondern thematisieren einen soziokommunikativen Bereich bzw. eine gesellschaftliche Institution und die dort entstehenden bzw. verwendeten Textsorten. Hier sind einmal Arbeiten zu Alltagstextsorten von Isa Schikorsky (1989, 1990, 1991) und der Arbeitsgruppe um Siegfried Grosse (1989) zu nennen, dann Arbeiten zu Pressetextsorten von Ulrich Püschel (1991a und b), zu parlamentarischen Textsorten von Werner Holly (1982), D.-W. Althoff (1975) und Gregor Kalivoda (1986) und zu Textsorten aus dem Bildungsbereich, insbesondere zu Aufsätzen, von Otto Ludwig (1988a und b). Die Analyseperspektive weist übrigens, wie auch auf den bisher diskutierten Sprachebenen, zwei unterschiedliche Zugangsweisen auf, eine, die vom realen Sprachgebrauch in den Texten ausgeht und eine andere, die von der Norm her fragt, die für bestimmte Textsorten in Anleitungsbüchern und sonstigen Texten formuliert war.

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Untersuchungen zur Entwicklung von Sprechakten und ihren Ausdrucksformen gibt es für das 19. Jahrhundert noch wenige. Genannt seien hier die Arbeit von Georg Objartel über „Die Kunst des Beleidigens" (1984b), der Beitrag von Walther Dieckmann (1989) über explizitperformative Formeln als Sprachfiguren in preußischen Erlassen des 19. Jahrhunderts und von Klaus J. Mattheier (1986b) über direktive Sprechakte in Arbeitsordnungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein zweiter Schwerpunkt dieses Bereichs ist das Gespräch. Hier sind etwa zu nennen Dieter Cherubim „Rhetorik, Sprachwissenschaft und Sprachpraxis" (1992), in dem Komplimentierbücher und Sprachratgeber analysiert werden, dann „Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie" von Claudia Schmölders (1986) und die Studie von Karin Zimmermann „Die polyfunktionale Bedeutung dialogischer Sprechformen um 1800" (1992). Diese Arbeiten greifen in der Regel schon weit über den eigentlichen Rahmen einer Strukturgeschichte der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert hinaus und sie leiten über zu Fragestellungen, die die Einbettung der Sprache in den gesellschaftlichen Rahmen betreffen. Dem oben skizzierten Modell für die Gegenstandsbereiche einer soziopragmatischen Sprachgeschichte folgend sollen jetzt diese drei Bereiche, die Geschichte des Sprach gebrauche, die Geschichte des Sprach kontakts und die Geschichte des Spiachbewußtseins, wenigstens noch kurz umrissen werden.

4. Geschichte des Sprachgebrauchs im 19. Jahrhundert Die Thematik dieses Teilbereichs einer soziopragmatischen Sprachgeschichte ist die Verteilung der verschiedenen in der Gesamtsprachgemeinschaft verwendeten Sprachvarietäten und Sprachstile auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Kommunikationsfunktionen. In der Praxis läßt sich davon nur schwer trennen die linguistische Beschreibung dieser verschiedenen Varietäten, die gemäß der Systematik eigentlich innerhalb der Strukturbeschreibung der Sprache anzusiedeln wäre. Gegliedert wird das Feld der Sprachverwendung nach dem von Eugenio Coseriu entwickelten Modell der Spracharchitektur in einen diatopischen, einen diastratischen und einen diaphasischen Bereich. Dabei ist der diatopische Bereich am klarsten abzugrenzen. Hier geht es um regio-

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nal eingeschränkt verbreitete Varietäten, also um Dialekte, aber auch um großräumigere Regionalsprachen. Problematischer ist der diastratische Bereich, in dem die Varietäten nach ihrer gesellschaftlichen Gruppenbindung aufgegliedert werden, wobei natürlich auch die Standardsprache im 19. Jahrhundert an eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe gebunden ist. Im diaphasischen Bereich werden verschiedene Dimensionen der situativen und funktionalen Sprachverwendung zusammengefaßt, die man auch unter dem Begriff des Funktionalstils fassen könnte. Hinzu kommen jedoch mediale Differenzen zwischen Sprech- und Schreibsprache, die evtl. auch als diamediale Gruppe von den übrigen Sprachstilen getrennt werden könnte. Konzentrieren wir uns auf die Publikationen der letzten Zeit zu den Dialekten und Regionalsprachen des 19. Jahrhunderts: Hier sind zwei Themenkomplexe weitgehend voneinander zu trennen. Einmal gibt es eine zunehmend umfangreicher werdende Literatur zu den Sprachentwicklungen außerhalb des bundesdeutschen Bereichs, insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz und in Österreich. Hier seien etwa genannt Hans-Peter Müller „Die schweizerische Sprachenfrage vor 1914" (1977), Emil Brix „Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880—1910" (1982) und verschiedene Arbeiten von Peter Wiesinger zur Geschichte der Schriftsprache in Österreich im frühen 19. Jahrhundert (1993, 1995). Z u dieser Themengruppe gehören auch einige Arbeiten zur Geschichte des Niederdeutschen im 19. Jahrhundert, so die Arbeit von Hans-Joachim Gernentz „Niederdeutsch — gestern und heute" (1980). Der zweite Themenkomplex im Bereich der diatopischen Varietäten im 19. Jahrhundert betrifft die diatopischen Auswirkungen der zentralen gesellschaftlichen Prozesse, also der Industrialisierung und der Verstädterung. Hier werden einmal explizit Stadt-Land-Beziehungen thematisiert, wie in der mustergültigen Studie von Helmut Schönfeld (1982) über Stadt und Umland Magdeburgs im 19. Jahrhundert, oder es geht um diatopische Auswirkungen in den zentralen Industrialisierungsgebieten, in Sachsen, im Ruhrgebiet und auch in Berlin. Z u Berlin sei hier auf den von Hartmut Schmidt herausgegebenen Sammelband „Berlinisch in Geschichte und Gegenwart. Stadtsprache und Sprachgeschichte" (1988) hingewiesen. D a s Ruhrgebiet wird von einer Arbeitsgruppe um Siegfried Grosse dargestellt (Grosse u. a. 1987, vgl. auch Glück 1977). Die Forschungsschwerpunkte, die sich für das 19. Jahrhundert im diastratischen Bereich zeigen, lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen.

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Im Zentrum der Arbeiten seit Mitte der 80er Jahre stehen die im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Modernisierung im 19. Jahrhundert neu entstehenden oder sich wandelnden gesellschaftlichen Gruppierungen, insbesondere das Bürgertum und die Arbeiterschaft. Damit eng in Zusammenhang steht die Frage nach der Ausbreitung der Standardsprache in diesen gesellschaftlichen Gruppen. Andere soziale Formationen, wie etwa der Adel oder das Bauerntum, werden nicht mit in die Analysen einbezogen. Zu nennen sind hier Arbeiten von Peter von Polenz (1983b), von Angelika Linke (1991, 1996a und b), von Klaus J. Mattheier (1991) und von Dieter Cherubim (1983) zur Sprache des Bürgertums, sowie von Peter Eisenberg (1983) und Klaus J. Mattheier (u. a. 1985, 1989a) zur Arbeitersprache und von Gerhard Kettmann (1980a und b, 1981) zu den verschiedenen Existenzformen des Deutschen und speziell zur Umgangssprache. In diesen Bereich gehören auch Studien, die sich mit Normierungsinstitutionen für bestimmte Varietäten, etwa für die Standardsprache, beschäftigen. Hier gibt es eine reiche Literatur zum „Allgemeinen deutschen Sprachverein" (Bernsmeier 1977, Nelz 1980) und zu ähnlichen Institutionen. Z u m Übergangsbereich zwischen diastratischen und diaphasischen Ausdrucksformen gehören die Jugend- und Studentensprache des 19. Jahrhunderts, mit der sich Arbeiten von Helmut Henne (1981) und Georg Objartel (1985) beschäftigen. Publikationen zum 19. Jahrhundert aus dem diaphasischen Bereich haben ihren Schwerpunkt einmal im Funktionalen. Hier sind Arbeiten zur Fach- und Wissenschaftssprache, zur Literatursprache (im engeren Sinne) und zur Sprache im Industriebetrieb einzuordnen, aber auch Arbeiten zu für das 19. Jahrhundert relevanten thematischen Bereichen wie der Sprache des Antisemitismus, des Jakobinismus und des Parlamentarismus, sowie zum Journalistendeutsch. Einen sehr interessanten Überblick über die Entwicklung der Literatursprache im 19. Jahrhundert gibt Manfred Kämpfert (1985) im Handbuch Sprachgeschichte. Z u Sprache im Industriebetrieb legt Klaus J. Mattheier (1985, 1987, 1989a und b) einige Überlegungen vor, Uwe Poerksen (1994) sowie Brigitte Schlieben-Lange (1989) beschäftigen sich mit der Wissenschaftssprache und ihren Beziehungen zur Alltagssprache. Ein zweites Themenfeld bilden die für das 19. Jahrhundert nicht sehr zahlreichen Arbeiten zu den diamedialen Differenzen zwischen Schriftsprache und Sprechsprache, von denen etwa Bernd Naumann „Die Differenzierung gesprochener und geschriebener Sprache des Deutschen in

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sprachwissenschaftlichen Arbeiten vor und nach 1800" (1989) und Karin Müller „Schreibe, wie du sprichst. Eine Maxime im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit" (1990) genannt seien.

5. Sprachkontaktgeschichte Sprachkontaktgeschichte ist bisher erst selten und wenn, dann nicht systematisch in sprachhistorische Betrachtungen einbezogen worden. Am weitesten geht hier noch die Sprachgeschichte von Adolf Bach (1970). Trotzdem gibt es durchaus eine recht umfangreiche Literatur zu diesem Themenkomplex, auch für das 19. Jahrhundert. Man kann diese Arbeiten grob in fünf verschiedene Themenfelder einordnen: 1. Sprachkontakte im Sprachgrenzbereich 2. Mehrsprachigkeitssituationen a) nichtdeutsche Minderheiten im deutschsprachigen Gebiet b) deutschsprachige Minderheiten in fremdsprachigem Gebiet (deutsche Sprachinseln) 3. Fremdworteinfluß auf die deutsche Gesamtsprache und puristische Gegenbewegungen 4. Deutsche Sprache im Ausland (als Fremd- oder Zweitsprache) 5. Fremdsprachen in Deutschland In der neuen Literatur zum 19. Jahrhundert werden von diesen Bereichen in erster Linie der Bereich 1 (Sprachkontakte im Sprachgrenzbereich), der Bereich 2a über nichtdeutsche Minderheiten und der Bereich 3 zu Fremdworteinfluß und Purismus behandelt. Dazu seien genannt die Arbeit von Georg Cornelissen „Das Niederländische im preußischen Gelderland und seine Ablösung durch das Deutsche" (1986) und Vibeke Winge „Dänische Deutsche — deutsche Dänen. Geschichte der deutschen Sprache in Dänemark 1300—1800 mit einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert" (1992). Zur Mehrsprachigkeitssituation im Sprachgrenzbezirk und innerhalb Deutschlands liegt die Abhandlung von Helmut Glück (1977) zur polnischen Minderheit vor 1914 vor. Einen Überblick über Minderheitenkonstellationen im Deutschen Reich gibt das von Ludwig M. Eichinger (1991) geleitete und herausgegebene Forum „Sprachenpolitik gegenüber fremdsprachigen Minderheiten im 19. Jahrhundert". Zu Fremdwort und Purismus sei auf die Arbeiten von Alan Kirkness (1983, 1991) und Jürgen Schiewe (1988a, 1988b) hingewiesen.

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6. Sprachbewußtseinsgeschichte

Unter dem etwas unpräzisen Begriff „Sprachbewußtseinsgeschichte" soll der Bereich der Sprachgeschichte verstanden werden, der sich mit der Reflexion über Sprache beschäftigt. Im Vordergrund steht hier, — auch was die Forschungen zum 19. Jahrhundert betrifft, — eindeutig die professionelle Reflexion über Sprache, wie sie in der Wissenschaftsgeschichte zur Erforschung der deutschen Sprache zum Ausdruck kommt. Musterbeispiele derartiger Studien zum 19. Jahrhundert sind die Arbeit von Ulrike H a ß - Z u m k e h r „Daniel Sanders. Aufgeklärte Germanistik im 19. Jahrhundert" (1995), aber auch die Arbeiten von Bahner/Neumann (1985) zur Herausbildung und Begründung der sprachwissenschaftlichen Germanistik. Dabei zeichnen sich diese beiden genannten Arbeiten vor anderen wissenschaftshistorischen Studien gerade dadurch aus, daß in ihnen über die professionelle Reflexion über deutsche Sprache hinaus ein Gutteil Alltagsreflexion über Sprache und Sprachlichkeit mitdiskutiert wird. Sie liefern zugleich ein Stück Sprachmentalitätsgeschichte der Zeit, sie lassen die in der Sprachgemeinschaft alltäglich verbreiteten Meinungen und Anschauungen, Bewertungen und Attitüden erkennen. Insgesamt ist dieser Bereich der Sprachbewußtseinsgeschichte

als

Geschichte des Alltagsbewußtseins über die verschiedenen Varietäten und Sprachstile der deutschen Gesamtsprach erst in wenigen Ansätzen vorhanden. Die einzige umfangreiche Arbeit zu diesem Thema — und zur Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte allgemein

— ist

kürzlich von Angelika Linke (1996) vorgelegt worden. Hier wird in einem mentalitätsgeschichtlichen Zugriff der Wandel von einer eher körperbetonten Adelskultur zu einer eher sprachorientierten bürgerlichen Kultur auf verschiedenen Ebenen kommunikativen Handelns herausgearbeitet. Eine Quellensammlung zum Bereich der Geschichte des Sprachbewußtseins und der Sprachkritik legt Walther Dieckmann mit der Arbeit „Reichtum und Armut deutscher Sprache. Reflexionen über den Zustand der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert" (1988) vor. Schon früh haben sich mit den Laienurteilen über das Meißnische Deutsch Eichler/Bergmann (1967) beschäftigt. Wolfgang Frühwald (1990) nähert sich dem Problem über eine Analyse der Wirkungen des Zitatenwörterbuchs von Büchmann und seiner Funktion als Bildungsmittel. Eine Systematik ist jedoch hinsichtlich dieser Forschungsperspektive noch nicht zu erkennen, obwohl festzustehen scheint, daß die Meinun-

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gen und Einstellungen zur Sprachlichkeit in einer bestimmten Epoche von entscheidender Bedeutung für die Richtung der weiteren sprachlichen Entwicklung sind.

7. Überlegungen zur Struktur eines Korpus zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts

Bisher sind die ausführlichsten Diskussionen um Korpusbildung für sprachhistorische Analysen im Deutschen im Zusammenhang mit der Frühneuhochdeutschforschung geführt worden. 1 0 Unproblematisch sind dabei in der Regel die diatopische und auch die diachronische Dimension des Korpus. Dagegen ist der Bereich, in dem die diastratischen und die diaphasischen Aspekte der Sprache abgebildet werden sollen, durchweg umstritten. Grundsätzlich kann man hier deduktive und induktive Zugriffe unterscheiden. Wenn etwa die Grammatik des Frühneuhochdeutschen zwischen Rechts- und Geschäftstexten, chronikalischen und Berichtstexten, Sprachtexten, Realientexten, Privattexten, unterhaltenden Texten, Bibeln, kirchlich-theologischen Texten und erbaulichen Texten unterscheidet (vgl. Grammatik d. Frühneuhochdeutschen Bd. 4 1988, S. 45), so haben wir damit einen tendenziell induktiven Zugriff vor uns, in dem etwa die Thematik der in frühneuhochdeutscher Zeit vorliegenden Textgruppen eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Dagegen greifen Reichmann/Wegera (1988, XIII) in der Korpuszusammenstellung zum „Frühneuhochdeutschen Lesebuch" zumindest ansatzweise auf ein vorgängiges Textsortenmodell zurück, das sich wiederum an der Sprechaktkategorisierung orientiert. Sie unterscheiden in sozial bindende Texte, legitimierende Texte, dokumentierende Texte, belehrende Texte, erbauende Texte, unterhaltende Texte, informierende Texte, anleitende Texte und agitierende Texte. Für die althochdeutsche Epoche erübrigt sich eine Korpusbildung, da hier durchaus mit dem Gesamtkorpus der überlieferten Texte gearbeitet werden kann. Für die mittelhochdeutsche Zeit ist festzuhalten, daß die Sprachbeschreibungen sich bisher weitgehend auf Korpora von literari-

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Vgl. zu diesem Problem Walter Hoffmann (1984), die dort zitierte Literatur und für die neuere Diskussion bei Klaus Peter Wegera (1990).

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sehen Texten beziehen und zwar fast durchweg in poetisch gebundener Form. Erst in den letzten Jahren ist man bemüht, ein Korpus von möglichst nicht literarischen Prosatexten zusammenzustellen, das dann die Grundlage einer revidierten Sprachbeschreibung des Mittelhochdeutschen sein könnte (vgl. dazu Wolf 1989 und Wegera 1990). Für die Sprachgeschichte nach der frühneuhochdeutschen Zeit gibt es nur punktuell korpusbasierte Darstellungen, die nicht den Anspruch erheben, die sprachliche Vielfalt der jeweiligen Zeit zu berücksichtigen. Für das 19. Jahrhundert gibt Helmut Langner (1981) einen kleinen Umriß eines Korpus von Texten, wobei auch hier induktiv vorgegangen wird. 1 1 Er unterscheidet vier Textsortengruppen: Gemeinsprachliche Texte der Sachprosa in Zeitungen, Zeitschriften, Flugschriften und Akten, Briefe, Tagebücher, Reden; Werke der Belletristik und Wörterbücher. Eine solche Korpusstrukturierung greift sicherlich zu kurz, wenn es um die Abbildung der Sprache des 19. Jahrhunderts in ihrem systematischen, aber auch in ihrem soziopragmatischen Zusammenhang geht. Hier fragt sich, ob eine deduktive Vorgehensweise bei der Strukturierung eines Textkorpus, die zentrale Modelle der Gliederung der deutschen Gesamtsprache aufgreift, nicht angemessener ist, insbesondere weil man für das 19. Jahrhundert im Gegensatz zu früheren Epochen mit einer sehr dichten Textüberlieferung zu rechnen hat. Solche Anknüpfungspunkte für die Gliederung sind etwa das von Coseriu vorgeschlagene Modell der Architektur der Sprache, aber auch Stegers Konzept von den zentralen Sprachhandlungsbereichen in einer Gemeinschaft und ein an den Basistypen des Sprachhandelns orientierten Textsortenmodells. 1 2 Für die diachronische Strukturierung schlage ich auf der Grundlage der laufenden Epochendiskussion um das 19. Jahrhundert und seine Sprache die drei Teilepochen 1790 bis 1830, dann 1830 bis 1870 und schließlich 1870 bis 1914 vor. Für die diatopische Gliederung sollte man sich an der staatlichen Struktur des Deutschen Reiches und des Deutschen Bundes orientieren. Hier bietet sich an: Preußen (evtl. geteilt in Ostprovinzen und Westprovinzen), Bayern, süddeutsche Mittelstaaten, nord- und mitteldeutsche Mittelstaaten, Deutsch-Österreich, Deutschschweiz und als Nebengebiete evtl. Elsaß-Lothringen und Luxemburg.

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Vgl. aber auch den Versuch zu einer Differenzierung der Quellengrundlage bei Langner

12

Vgl. hierzu Steger (1984), aber auch Schwitalla (1976). Z u m Coseriuschen Konzept und

(1981). seinen Quellen vgl. Albrecht (1986, 7 3 - 7 6 ) .

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Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts Diaphasik der Standardsprache

metasprachige Äußerungen

Laien-

sprachwissen-

äußerungen

schaftliche

Objektsprache

Schriftsprache

Äußerungen zum zeitgenössischen Deutschen

gesprochene Sprache

überliefert in

überliefert

Schriftlichkeit

als Tondoku-

intendiert

mit sprech-

sprechsprach-

sprachlichen

lieh

B

elikten

informierende

appellierende

kontaktierende

Textsorten

Textsorten

Textsorten

Gebrauchstexte Fach- und Wissenschaftstexte

literarische Texte

Abb. 2

Eine diastratische Differenzierung ist für das 19. Jahrhundert wegen des Ausmaßes der Verbreitung der Standardsprache nicht notwendig. Evtl. könnten bestimmte Berufssprachen, die Militärsprache, die Sprache gesellschaftlicher Randgruppen, bestimmte regionale Minderheitensprachen wie etwa das Sorbische und das Friesische sowie Gelehrtenlatein und adeliger Fremdsprachengebrauch gesondert dokumentiert werden. Die eigentliche Strukturierungsaufgabe ergibt sich aus dem Versuch einer angemessenen diaphasischen Gliederung des Korpus (vgl. Abb. 2). Diastratisch und diaphasisch unterscheiden sich hierbei dadurch, daß die

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diastratischen Varietäten die Normalsprache relativ geschlossener gesellschaftlicher Gruppen darstellt, während diaphasisch situativ-funktional einzusetzende Sprachstile verwendet werden, die jeweils auf der Basis einer diastratischen oder diatopischen Varietät operieren, aber stilistische Besonderheiten aufweisen. In sprachgeschichtlichen Phasen mit ausgeprägter polyvalenter Standardsprache ist diese auch in der Regel die Bezugsvarietät für diaphasische Stile. Die erste Gliederung auf dieser Ebene erfolgt nach der Dichotomie: objektsprachig vs. metasprachlich. In dem Maße, in dem sich die sprachgeschichtliche Betrachtung neben der Beschreibung von Veränderungen auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems auch der Geschichte der Kommunikationsgemeinschaft zuwendet, in der die Sprache verwendet wird, müssen alle noch faßbaren metasprachlichen und metakommunikativen Äußerungen über die gesamte zeitgenössische Sprache erfaßt werden. Sowohl die Geschichte des Sprachgebrauchs als auch die Geschichte des Sprachbewußtseins und die Sprachkontaktgeschichte sind entscheidend auf einen solchen Quellentyp angewiesen. Dabei werden wir zumindest zwei verschiedene Quellengruppen metasprachlicher Art unterscheiden müssen: Laienäußerungen über Sprache und Sprachlichkeit der Zeit und die zeitgenössische wissenschaftliche Betrachtung in Grammatiken, Stillehren und Wörterbüchern. Während dieser zweite Bereich metasprachlicher Äußerungen durch ein Quellenkorpus in beliebiger Vollständigkeit durch sorgfältiges Bibliographieren erfaßt werden kann, ist eine systematische und auch nur annähernd vollständige Erfassung metasprachlicher Laienäußerungen für jede Epoche und auch für das 19. Jahrhundert so gut wie unmöglich. Das zeigen auch die vorliegenden Quellensammlungen dieser Art ganz deutlich, also etwa A. Socin (1888), der auch für das 19. Jahrhundert eine große Menge von metasprachlichen Laienäußerungen zu den diatopischen Verhältnissen im Deutschen liefert oder auch D. Josten (1976), der sich thematisch mit Äußerungen zum Frühneuhochdeutschen und zur Entstehung der Standardsprache bis 1650 beschäftigt. Sicherlich wird man in Laientexten, die sich mit Fragen der sprachlichen Verständigung oder mit Fremdeinflüssen beschäftigen, eher auf interessante metasprachliche Laienäußerungen stoßen. Doch bleibt ein solcher Fund letztlich dem Zufall überlassen. Beginnen wird man hier mit der möglichst vollständigen Erfassung der „schon gefundenen", also schon in sprachhistorischer Literatur zitierten metasprachlichen Äußerungen. Der zweite Bereich betrifft die Korpusbildung für die in einer sprachhistorischen Epoche vorliegende Objektsprache. Hier ist die erste interne

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Untergliederung sicherlich die zwischen Sprechsprache und Schriftsprache. Als problematisch erweist sich diese Dichotomie, weil zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die sprachgeschichtliche Betrachtung der Sprechsprache „einen U m w e g " über die geschriebene Sprache machen muß. Sprechsprache vor 1900/1925 ist nur in einer mehr oder weniger adaptierten Schriftlichkeit faßbar. Für die hier betrachtete Epoche bis 1914 gibt es jedoch schon einige Tondokumente, die sprechsprachenhistorisch ausgewertet werden könnten. Schriftsprachliche Quellen zur Sprechsprache sind erstens direkte Transkriptionen von Sprechsprache in Schriftlichkeit mithilfe von standardisierten Transkriptionssystemen wie Teuthonista oder API bzw. ihrer Vorläufer. Die ersten dialektologischen und phonetischen Sprachbetrachtungen im 19. Jahrhundert enthalten derartiges Material. Zweitens haben wir eine Gruppe von Texten, die intendieren, Sprechsprache auf der Grundlage der Normalorthographie abzubilden, also etwa die Dialoge und Monologe in der dramatischen Literatur, aber auch intendierte Sprechsprache in Prosaliteratur. Hierzu gehören jedoch auch die im 19. Jahrhundert einsetzenden Publikationen von Parlamentsdebatten, teilweise die Predigtliteratur und ähnliches, die die Differenzen zwischen Schrift- und Sprechsprache vernachlässigen. Eine dritte Gruppe, die nicht immer ganz eindeutig von der zweiten Quellengruppe abgrenzbar ist, stellt Schriftsprache mit Tendenzen zur Sprechsprachlichkeit dar, wie sie etwa in Privatbriefen, in autobiographischen Texten und in privaten Aufzeichnungen anzutreffen ist. Alle diese Quellengruppen zur Erfassung der Sprechsprache früherer Epochen liefern Informationen zu jeweils unterschiedlichen Sprachebenen. Schon früh hat man sich etwa mit dramatischer Sprache beschäftigt, um einen Einblick in die Dialogstrukturen der Alltagssprache in früheren Zeiten zu erhalten. Und hier zeigte sich dann auch sehr schnell die Problematik derartiger indirekter Quellen. Sprechen in der Dramenliteratur folgt nicht ausschließlich den Prinzipien der alltagssprachlichen Dialoge, sondern etwa auch allgemeinen literatursprachlichen Prinzipien, wie etwa der Drei-Stile-Lehre. Und Sprachrealismus ist in der Geschichte der Literatursprache nur immer sporadisch eine Leitnorm gewesen, man denke etwa an den Sturm und Drang, an den Naturalismus und an den Sprachrealismus der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts.In anderen Literaturepochen versucht der Autor keine Abbildung wirklicher Sprache seiner Figuren. So sprechen etwa die Arbeiter in den frühen sozialistischen Dramen des 19. Jahrhunderts dasselbe Hochdeutsch wie ihre Widersacher (vgl. dazu die Analyse von Scharnhorst 1983, 197 ff.)

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Grundsätzlich kann man jedoch davon ausgehen, daß Texte, die mit großer Normtoleranz produziert worden sind, einen höheren Anteil an „Sprechsprachlichkeit" enthalten als Texte, die eng einem schriftsprachigen Normenkonzept folgen, was sich etwa in der soziolinguistischen Differenzierung zwischen „casual style" und „careful style" zeigt. Im Zentrum der Korpusarbeit an einem Quellenkorpus zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts steht ohne Zweifel die Dokumentation der deutschen Schriftsprache. Das zentrale Problem ist hier, eine Gliederung zu finden, die die wichtigsten Textsorten der jeweiligen Epoche repräsentiert. Denn sicherlich wird nicht die Varietät bzw. der Sprachstil und auch nicht die Sprachebene (von den Lauten zur Syntax) hier das organisierende Prinzip sein, sondern die Textsorte. Das Textsortenspektrum einer Sprache bildet das jeweils in einer Epoche gegebene Spektrum an Kommunikationsbedürfnissen und Kommunikationsbedingungen ohne Zweifel am unmittelbarsten ab. Auch eine morphologische bzw. syntaktische Untersuchung zum 19. Jahrhundert wird bei der Korpusbildung sicherstellen müssen, daß die Syntax der verschiedenen Textsorten angemessen repräsentiert wird. Und erst wenn feststeht, daß auf dieser Ebene keine Variation auftritt, wird man auf eine systematische Textsortendifferenzierung seines Quellenkorpus verzichten dürfen. In der Schule von Hugo Steger sind mehrere Versuche gemacht worden, unterschiedliche Sprachhandlungswelten mit unterschiedlichen Textsortentypen voneinander zu trennen. Schwitalla (1976) schlägt vier Textwelten vor: die Gebrauchstexte, die wissenschaftlich-fachlichen Texte, die literarischen Texte und die religiösen Texte. Hugo Steger (1983) selbst gliedert aus diesem Spektrum noch zwei weitere Textwelten aus, die institutionellen Texte und die Texte des Technikerbereiches. Diese Textwelten unterscheiden sich nach Stegers Verständnis nicht nur thematisch voneinander, sondern durch eine unterschiedliche Wirklichkeitserfassung, was etwa bei den literarischen bzw. religiösen Texten im Verhältnis zu den gebrauchssprachlichen Texten besonders deutlich wird. Eine andere Möglichkeit zur Differenzierung von Textwelten und den dahinter stehenden kommunikativen Welten ist eine Differenzierung nach zentralen Textfunktionen bzw. Sprachhandlungsintentionen, wie Oskar Reichmann/Klaus Peter Wegera (1988) das ansatzweise mit Textgruppen wie „informierende Texte" oder „sozial bindende Texte" versuchten. Eine Kombination dieser beiden Dimensionen könnte etwa, das sei hier als erster Vorschlag formuliert, unterscheiden zwischen Gebrauchstexten, Fach- und Wissenschaftstexten und literarischen Texten einerseits und zwischen „informierenden Textsorten", „appellierenden Textsorten"

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und „kontaktierenden Textsorten" andererseits. Institutionelle Texte sollten den Gebrauchstexten zugeordnet werden, da sie die Alltagswelt der Kommunikation betreffen. Technikersprache ist immer eine Sprachlichkeit mit eingeschränktem Fachbezug. Und religiöse Sprache könnte der Alltagssprache bzw. gegebenenfalls — etwa bei Erbauungstexten — auch der Literatursprache zugeordnet werden. Problematischer ist sicherlich die nur dreifache Differenzierung der Textfunktionen, die sich grob an Bühlers Textfunktionsmodell und seiner Adaption an die Textlinguistik durch Heinemann/Vieweger (1990) orientiert. Aber als erstes Strukturierungsraster sollte diese Unterteilung ausreichen. Die Quellentypen, die auf der Grundlage dieser Einteilung hervortreten, sind nicht „Prosaliteratur, Briefe, Zeitungen" wie etwa im Korpusvorschlag von Langner (1981), sondern relativ geschlossene Textsortengruppen wie „Gesetze" (appellierende Gebrauchstexte), wie „Zeitungsberichte" (informierende Gebrauchstexte) oder wie Gebrauchsinstruktionen für Maschinen (informierende/appellierende Fachtexte). Über den Umfang des Textkorpus in den verschiedenen Abschnitten kann naturgemäß wenig gesagt werden. Die Basis-Textmenge für eine Analyse einer häufig auftretenden orthographischen Erscheinung ist sehr klein, die Basis-Textmenge für die Analyse eines selten auftretenden morphologischen oder textlinguistischen Problems kann ungeheuer groß sein. Für die hauptsächlich morphologisch ausgerichteten Arbeiten am Bonner Frühneuhochdeutschkorpus sind jeweils 30 „Normalseiten" meist ausreichend gewesen. Das Syntaxkorpus der Frühneuhochdeutschen Grammatik umfaßt jeweils 50seitige Textblöcke. Für das 19. Jahrhundert wird man jedoch wohl mit einem sog. „offenen K o r p u s " arbeiten müssen. D a s Korpus sollte neben einer — möglichst vom Computer erfaßten — Kernmenge von Texten mit etwa 50 Normalseiten für jeden Aspekt eine Liste von sonstwo publizierten bzw. greifbaren Texten enthalten, die gegebenenfalls bei Spezialfragen herangezogen werden können. Diese Zusatztexte können auch noch ständig ergänzt werden. Diese Auffächerung des diaphasischen Bereichs konzentrierte sich ausschließlich auf eine, wenn auch eine sehr bedeutende Varietät der deutschen Gesamtsprache, die Standardsprache. Der inneren Systematik des hier skizzierten Korpusmodells entsprechend müßte eine derartige diaphasische Differenzierung auch bei allen anderen in der deutschen Sprachgemeinschaft vorhandenen diastratischen und diatopischen Varietäten ansetzen. So stellt etwa der deutsche Sprachatlas ein Korpus für die Erfassung der Laut- und Formenebene der deutschen Dialekte in der letzten diachronischen Phase (1870—1914) dar. Weiterhin gibt es in der

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deutschen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts viele Texte, die sowohl objekt- als auch metasprachliche Informationen über die von den deutschen Juden verwendeten Varietäten enthalten (vgl. Bering 1991, Richter 1995). Doch es zeigt sich, daß die Architektur der Gesamtsprache Deutsch hier erhebliche Lücken aufweist, so daß das Korpus für den Bereich außerhalb der Standardvarietät sehr viel einfacher strukturiert ist. Sicherlich sollte man versuchen, die diatopische Ebene möglichst ausführlich im Korpus zu dokumentieren. Und hier sollte nicht nur an die Basisdialekte gedacht werden, sondern auch an die sich schon im 19. Jahrhundert herausbildenden Regional- und Stadtsprachen. Aber dieser gesamte Bereich ist im 19. Jahrhundert fast ausschließlich mündlich realisiert — und nur teilweise über Schriftlichkeit erfaßbar. Eine regionale Schriftlichkeit mit eigenständigen Schreibtraditionen gibt es seit dem 16. Jahrhundert nirgends mehr. Bei den verschiedenen denkbaren diastratischen Varietäten scheitert die Korpusbildung meist ebenfalls an den fehlenden Quellen. Insofern sollte man bei der Korpusarbeit am 19. Jahrhundert zwar die Sprachbereiche außerhalb der Standardsprache im Blick halten. Systematisch wird man jedoch das Korpus nur im Bereich der diaphasischen Differenzierung der Standardsprache aufbauen können.

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Georg/Ludwig

Wilske

(Hg.)

(1981):

Arbeitsstandpunkte

zur

Forschung

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Frankfurt/M.

STEPHEN BARBOUR

Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum aus der Sicht der englischsprachigen Wissenschaft

In der englischsprachigen Literatur zum T h e m a „Nation und S p r a c h e " 1 ist die Nation keineswegs eine Selbstverständlichkeit; sie bedarf einer sorgfältigen Definition. Sie kann definiert werden als die Bevölkerung eines Territoriums (meistens eines Staates), die ohne weiteres mehrere Volksgruppen umfassen k a n n , die aber eine Zusammengehörigkeit empfindet, welche von der größten oder von der mächtigsten Volksgruppe oder von der herrschenden Schicht innerhalb einer solchen Volksgruppe ausgeht. Es gelingt der herrschenden Gruppe oder Schicht unter Umständen, andere Volksgruppen zur Aufgabe der eigenen Gruppenidentität zu bewegen; oder diese anderen Volksgruppen können durchaus eine eigene Identität bewahren, sie jedoch als keine nationale Identität auffassen, sondern etwa als eine regionale oder konfessionelle Zugehörigkeit. D a s Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer Nation kann aus dieser Sicht auf recht verschiedenen Faktoren basieren. O b w o h l ein bloßes Z u s a m m e n l e b e n im gleichen Territorium meistens zur Nationbildung nicht ausreicht, kann eine relativ geringe kulturelle Einheit, die lediglich das Funktionieren eines einheitlichen Rechtssystems gewährleistet, eine ausreichende Basis für die nationale Einheit darstellen. D a s Z u s a m m e n l e b e n mehrerer Volksgruppen innerhalb eines Staates wird als keineswegs unbedingt konfliktträchtig angesehen; erst etwa bei der rechtlichen oder politischen Benachteiligung der einen oder anderen Gruppe sind Konflikte zu erwarten. In dieser Betrachtungsweise wird die Idee der Nation häufig als Schöpfung des modernen Nationalstaates angesehen, das heißt nicht als

1

Ich fasse hier Anregungen aus mehreren Quellen zusammen, verquickt mit eigenen Vorstellungen. Als Quellen k o m m e n hauptsächlich die angeführten Werke von Hobsb a w m ( 1 9 9 0 ) , Gellner ( 1 9 8 3 ) und Smith ( 1 9 8 5 ) , ( 1 9 9 1 ) in Frage.

Sprache und Nation

47

etwas Altertümliches oder Ursprüngliches. Nation und Nationalstaat werden nicht immer scharf voneinander unterschieden, obwohl man sich doch darüber im Klaren ist, daß im Prinzip ein Unterschied besteht: Die Bevölkerung eines nicht unabhängigen Territoriums, die sich mehrheitlich als Nation versteht und den Wunsch äußert, einen Staat zu bilden, kann durchaus die Bezeichnung Nation verdienen. Diese Auffassung der Nation entsteht aus einer englischsprachigen Erfahrung, in der wichtige Nationen wie die USA, aber auch wie das moderne Großbritannien, seit ihrer Gründung auf einem Territorialprinzip basieren und mehrsprachig und multikulturell sind. Der britische Staat nimmt unter König Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert eine Form an, die als erkennbar modern gelten kann, und ist seit dieser Zeit, zumindest auf dem wichtigen Gebiet der protestantischen Religion, seit der offiziell geduldeten kymrischen Bibelübersetzung des Jahres 1588 zweisprachig. 2 Sie basiert auch auf der heutigen Situation etwa in weiten Teilen Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas, wo es viele ausreichend stabile mehrsprachige und multikulturelle Staaten (oder Nationen) gibt (vgl. Smith 1985, 65 —85). 3 In dieser Betrachtungsweise, die auch von der deutschsprachigen Wissenschaft, besonders vom Marxismus, mitgeprägt wurde, entstehen Nationen unter besonderen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die erst in der Neuzeit, etwa in den letzten 500 Jahren in Erscheinung treten (vgl. Hobsbawm 1990, 14—45). Hierbei ist die Nation deutlich zu unterscheiden von der Volksgruppe.4 Eine Volksgruppe ist manchmal kleiner als eine Nation. Ihr Zusammenhalt ist viel stärker; er basiert deutlich auf einer gemeinsamen Kultur, die sehr häufig ihren Ausdruck in einer gemeinsamen Religion findet, meistens auch in einer gemeinsamen Sprache. Die Volksgruppe besitzt stark familiäre Züge, mit lebendigen und glaubwürdigen Mythen einer gemeinsamen Abstammung; demgegenüber grenzen innerhalb der meisten modernen Nationen solche Mythen, etwa der Mythos einer englischen Rasse, an Unglaubwürdigkeit, außer für rechtsextreme Minderheiten. Der Begriff Volksgruppe umfaßt außer Gruppen innerhalb moderner Gesellschaften auch vormoderne Menschengemeinschaften wie Sippen oder Stämme, die sich unter Umständen lediglich in der Grö-

2

Bei Price ( 1 9 8 4 ) wird die verwickelte Geschichte dieser modernen britischen Mehrsprachigkeit ausführlich geschildert.

3

Eine faszinierende lateinamerkanische Perspektive bietet Anderson ( 1 9 8 3 , bes. 4 7 — 6 5 ) .

4

Als internationaler Terminus wird häufig das ursprünglich französische W o r t verwendet, besonders in den Werken von Anthony D. Smith.

Ethnie

48

Stephen Barbour

ßenordnug von modernen Volksgruppen unterscheiden. Da die wichtigsten Bindungen innerhalb einer Volksgruppe persönlicher Art sind, ist der Z u s a m m e n h a l t durch den gemeinsamen Besitz eines Territoriums manchmal nicht erforderlich. Einerseits kommen zwar Dörfer oder Stadtviertel vor, die ausschließlich von einer einzigen Volksgruppe bew o h n t werden, andererseits begegnet das Phänomen der Großstadt oder des größeren Gebietes mit polyethnischer Bevölkerung. Die Entwicklung moderner Wirtschaftsformen wirkt sich auf die traditionelle Volksgruppe auf zumindest zweierlei Art aus; entweder wird eine auf kleinem R a u m abgeschlossen wohnende Volksgruppe in ihrer wirtschaftlichen und folglich in ihrer politischen Unabhängigkeit bedroht, oder es sehen sich durch die Komplexität moderner Wirtschaftsformen unterschiedliche auf einem Territorium zusammenwohnende Volksgruppen zur Annahme gemeinsamer Institutionen und Gesetze gezwungen, da das Nebeneinander konkurrierender Institutionen innerhalb eines einzigen Territoriums unter modernen Bedingungen als problematisch empfunden wird. Diese Entwicklungen begünstigen die Auflösung herkömmlicher Volksgruppen und die Begründung moderner Nationen, in denen die Bindungen überwiegend institutioneller statt persönlicher Art sind. Moderne Nationen sind also qualitativ anders als Volksgruppen, obwohl, besonders bei Volksgruppen, aus deren Mitgliedern die herrschende Schicht einer Nation entsteht, der Übergang von der Volksgruppe zur Nation den Betroffenen häufig nicht ohne weiteres bewußt ist. Im Vergleich dazu wird die Nation von der deutschsprachigen Wissenschaft eher mit der Volksgruppe identifiziert, d. h. eher mit einer sprachlich und kulturell zusammenhängenden Bevölkerung, die nicht unbedingt ein Territorium besitzt. Da die Volksgruppe von der Sozialwissenschaft im allgemeinen (auch von der englischsprachigen) als etwas Altes angesehen wird, wird in deutschsprachigen Ländern die Nation tendentiell als etwas Altes, Ursprüngliches und Natürliches empfunden. Bei O t t o D a n n (1993, 28 — 31) liest man zum Beispiel von der „deutschen N a t i o n " im Mittelalter; obwohl es hier sehr deutlich ist, daß zwischen dieser mittelalterlichen Nation und der modernen gravierende Unterschiede bestehen, werden beide immerhin als „deutsche Nation" bezeichnet; in den erwähnten englischsprachigen Werken ist für das Mittelalter von Volksgruppen, oder auch auf der politischen Ebene von Reichen oder Staaten die Rede, erst für die Zeit ab etwa 1500 von Nationen. In deutschsprachigen Werken gelangt man auch eher zu der Einsicht, die Nation sei etwas Altes, in der modernen weltpolitischen O r d n u n g

Sprache und Nation

49

womöglich Überholtes; ihre Verteidigung, der Nationalismus, ist tendenziell negativ belastet, 5 im Gegensatz zu ihrer eher neutralen Bewertung in englischsprachigen Werken. Obwohl die englischsprachige Wissenschaft generell dem Phänomen Nation neutral gegenübersteht, schließt sie nicht aus, daß bestimmte Nationen problematische Gebilde darstellen; dies gilt, wie auch für andere mittel- und osteuropäische Nationen, für die deutsche Nation im 19. und 20. Jahrhundert. Interessant ist hier, daß einige führende Gelehrte, wie Ernest Gellner (tschechischer Abstammung) und Eric Hobsbawm (österreichisher Abstammung), aus dem nationalsozialistisch besetzten Gebiet geflohen sind und notgedrungen ein negatives Deutschlandbild mit einem vielleicht übertrieben positiven England- oder Amerikabild verbinden. Das Problematische der mittel- und osteuropäischen Nationen im 19. Jahrhundert liegt teilweise darin, daß die wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen eine klare Abgrenzung der Volksgruppen oder auch der kleinen Regionen innerhalb eines Territoriums weniger zuließen. Die Entwicklung des Kapitalismus und die damit verbundene wachsende Macht des Bürgertums werden in der Geschichtswissenschaft für manches verantwortlich gemacht, vielleicht für zu vieles; immerhin ist eine Verbindung zwischen der wirtschaftlichen Macht des Bürgertums und seinem Verlangen nach politischer Verantwortung auszumachen. Die politische Macht einer ganzen Klasse läßt sich dann nur durch parlamentarische Institutionen ausüben, die wiederum ein Minimum an kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten der Wähler voraussetzen. Zahlreiche Entwicklungen verstärken also das Verlangen nach Nationalstaaten und Nationen westlichen Typs, in denen Staatsgebiet und Nation relativ gut zueinanderpassen. Die Ausgangslage in Mittel- und Osteuropa war aber grundlegend anders als in den alten westlichen Staaten. In Großbritannien, Frankreich oder den Niederlanden war der Prozeß der kulturellen Einverleibung der Minderheiten weit fortgeschritten, mit dem Ergebnis, daß eine eher an Territorium und Institutionen als an Volksgruppen gebundene nationale Identität durchaus vorhanden war; Minderheitenprobleme kamen sicherlich vor, konnten aber die Fundamente der Staaten nicht mehr erschüttern. In Mittel- und Osteuropa enthielten einerseits einige Staaten, wie die Donaumonarchie oder das osmanische Reich, eine derartige Mischung 5

Z. B. auch bei Otto Dann (1993), oder auch in dem populärwissenschaftlichen Buch von Peter Glotz (1990).

50

Stephen Barbour

von Volksgruppen, daß sie kaum den Ansprüchen neuer Wirtschaftsformen und demokratischer Institutionen gerecht werden konnten. Andererseits fanden sich einige Volksgruppen, die sich weitgehend bereits als Nationen verstanden, wie Polen oder Deutsche, auf mehrere Staaten verteilt. Eine mögliche Basis der werdenden Nationalstaaten lieferten aber nicht nur bereits unabhängige politische Einheiten; auch Provinzen der bestehenden Monarchien kamen hier in Frage. Aber auch diese stellten zahlreiche Probleme dar; manche, und hierunter finden wir die Herde späterer Krisen, waren von verschiedenen, gegeneinander mehr oder weniger stark abgegrenzten Volksgruppen besiedelt, wie etwa Siebenbürgen, Böhmen oder Bosnien-Herzegowina. Trotz der zahlreichen Probleme schritt die Nationenbildung unentwegt voran, und zwar auf der Basis der Volksgruppe oder der werdenden Nation, die sich dann häufig ein Territorium verschaffen mußte. Dies gilt besonders für den deutschsprachigen Raum; dort fehlte, wie auch anderswo, eine deutliche bevölkerungspolitische Basis: Ein mehr oder weniger eindeutig abgrenzbares Territorium war nicht gegeben, und eine kulturelle Zusammengehörigkeit

der deutschsprachigen

Bevölkerung

wurde unter anderem durch konfessionelle Gegensätze stark gefährdet. Die deutschsprachige Wissenschaft pflegt eine kulturelle Zusammengehörigkeit der deutschen Nation im 19. Jahrhundert von der gemeinsamen Sprache und Kultur herzuleiten; zu diesem T h e m a gibt es eine reichhaltige, bekannte neuere Literatur, die oft Parallelen zieht zwischen der deutschen Vielstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts und der Teilung nach dem 2. Weltkrieg, und für die der Begriff der Kulturnation

besonders

wichtig ist (vgl. Weidenfeld 1991, passim). Die sprachliche und kulturelle Basis der deutschen Nation im 19. Jahrundert war spätestens seit dem Wirken Herders und Fichtes den Zeitgenossen sehr wohl bewußt (vgl. Johnston 1990, passim). Aus nichtdeutscher Sicht ist bis ins 2 0 . Jahrhundert der Begriff einer einzigen

deutschen

Sprache

fragwürdig;

die gesprochene

Standard-

sprache beherrschte bis ins 19. Jahrhundert nur eine zahlenmäßig kleine Bildungsschicht (vgl. Mattheier 1991), und die Tatsache, daß die Sprecher der äußerst unterschiedlichen deutschen Dialekte ihre Sprachformen als Dialekte einer einzigen Sprache verstanden, ist m. E. nicht ohne weiteres zu erklären. Im Gegensatz zu den westlichen Nationen war also die deutsche Nation im 19. Jahrhundert viel mehr durch die Volksgruppe bestimmt als durch das Territorium, und im Gegensatz zu anderen mittel- und osteuropäischen Volksgruppen, bei deren Bestimmung auch andere Faktoren eine Rolle spielten — man denke an die konfessionelle

Sprache und Nation

51

Bestimmung etwa der polnischen oder griechischen Volksgruppen —, verbanden die Deutschen vielleicht ausschließlich ihre Kultur und Sprache; diese Sprache war aber weit uneinheitlicher als fast alle anderen europäischen Sprachen. 6 Bemerkenswert an der deutschen Nation oder Volksgruppe ist auch ihre Größe; zahlenmäßig war sie weit größer als andere mitteleuropäische Völker. Bei näherer Erforschung also könnte sogar die Basis dieser Kulturnation fragwürdig erscheinen. 7 Manchmal führen deutsche Historiker das Vorhandensein einer deutschen Nation im 19. Jahrhundert auf ihre Entstehung in der Merowinger- oder Karolingerzeit und auf ihr Fortbestehen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zurück (vgl. Dann 1993, 28—38). Dieser Argumentation könnte erwidert werden, im fränkischen Reich sei eher eine Volksgruppe entstanden als eine Nation im modernen Sinne, da eine Nation eine neuzeitliche politische und wirtschaftliche Entwicklung voraussetze. Problematisch sowohl an dieser Volksgruppe als auch an der deutschen Nation im 19. Jahrhundert ist das weitgehende Fehlen positiver Merkmale. In der Karolingerzeit waren die theodisci die Bewohner des Reiches, die keine romanische oder slawische Sprache verwendeten; sprachlich bestimmt wurden sie, doch eine positive Definition ihrer Sprache wäre vielleicht unmöglich gewesen, und hätte zum Beispiel sehr wahrscheinlich auch das Altenglische eingeschlossen. 8 Aus nichtdeutscher Sicht ist auch die deutsche Nation des 19. Jahrhunderts eher negativ zu definieren. Ich habe anderswo höchst spekulativ argumentiert (Barbour 1991, 1992), der aggressive Charakter des deutschen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert sei teilweise als Kompensation für das Fehlen eindeutig positiver Merkmale zu verstehen. Folgende Fragen sind durchaus berechtigt: Warum ist keine Zersplitterung dieser sehr großen, durch wenig positive Merkmale bestimmten Volksgruppe erfolgt; warum gibt es im westlichen Mitteleuropa nicht

6

Vergleichbare Unterschiede bestanden unter den romanischen Dialekten Italiens oder Frankreichs, wobei aber häufiger als im deutschen Fall die Rede von verschiedenen Sprachen ist (etwa von Französisch und Okzitanisch in Frankreich); diese Nationen, besonders die italienische, besaßen auch ein relativ deutlich abgegrenztes Territorium und gehörten mehrheitlich einer einzigen Konfession an.

7

Vgl. Barbour/Stevenson (1990, 1 - 1 4 , 3 6 - 4 5 ) , Barbour (1991, 1992). Ein Beleg für theodiscus, bei dem deutlich Altenglisch mitgemeint ist, kommt tatsächlich vor und wird angeführt s. v. deutsch in früheren Ausgaben des Klugeschen etymologischen Wörterbuches, nicht aber in der 20. Aufl.

8

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Stephen B a r b o u r

eine Reihe von verwandten westgermanischen Sprachen und eine Reihe von verschiedenen Nationen? M i r scheint, die Entwicklung einer selbständigen Sprache und Nation in den Niederlanden bedarf keiner schwierigen Erklärung, sie stellt den Normalfall dar; erklärt werden muß vielmehr der Zusammenhalt der deutschen Sprache und Nation. Die Antwort auf meine Frage fällt auch negativ aus: Der Zusammenhalt bestand weiter, weil sich keine Alternativen entwickeln konnten; bis Anfang des 19. Jahrhunderts bestand das Heilige Römische Reich Deutscher Nation weiter, obwohl nur noch schemenhaft. Sowohl aus politischen als auch aus rein geographischen Gründen konnten sich innerhalb seiner Grenzen keine gegeneinander gut abgegrenzten Staaten, Volksgruppen oder Nationen ausbilden. Es fehlten natürliche Grenzen; die Dialekte waren, obwohl hoch unterschiedlich, offenbar miteinander verwandt. 9 Die Behauptung, der deutsche Nationalismus im 19. Jahrhundert besitze durch seine ausschließlich sprachlich-kulturelle Basis, durch das Fehlen anderer Merkmale, einen besonderen, vielleicht anormalen Charakter, könnte durch seine katastrophale Weiterentwicklung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ihre Bestätigung finden. Der renommierte britische Politologe und Soziologe Anthony D. Smith geht so weit, zwischen zwei Typen von Nationalismus zu unterscheiden: einem an Staat und Institutionen gebundenen Nationalismus britischen, französischen oder niederländischen Typs, der nicht nur relativ ungefährlich sondern auch als fast normal und keineswegs als historisch überholt angesehen werden kann, und einem an Sprache, Kultur und Volk gebundenen Nationalismus deutschen und osteuropäischen Typs, der sehr leicht in einen gefährlichen Rassismus münden k a n n . 1 0 Als Engländer, aber wohlgemerkt auch als britischer Germanist, sehe ich die Unterschiede zwischen einem englischsprachigen und einem deutschsprachigen Nationalismus etwas anders. Wie meine britischen Lehrmeister betrachte auch ich die überragende Rolle der Sprache im deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts als nicht ohne weiteres 9

Die deutlich abgegrenzten Sprachen, besonders das Tschechische, dienten im Gegensatz dazu tatsächlich als Grundlage für verschiedene Nationen.

10

Diese Unterscheidung tritt u. a deutlich in seinem Buch National

Identity

(Smith 1 9 9 1 ,

bes. 5 2 — 6 8 ) hervor. Die Unterscheidung zweier Typen von Nationalismus ist nicht ohne weiteres mit der Unterscheidung zwischen Kulturnationen und Staatsnationen verbunden. Der französische Nationalismus, deutlich Smiths westlichem Typ zuzurechnen, bezieht sich auf eine Nation, die sowohl als Kulturnation als auch als Staatsnation zu verstehen ist.

Sprache und Nation

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typisch; sie entsteht aus der besonderen Situation des deutschsprachigen Europas. Andererseits neigen englischsprachige Wissenschaftler m. E. dazu, den sprachlichen und kulturellen Bestandteil etwa im britischen oder englischen Nationalismus zu unterschätzen, vielleicht weil sie überwiegend einer etwas abgekapselten Bildungsschicht angehören. Aus der Sicht unserer Fußballfans oder Skinheads, oder konservativer Politiker wie Norman Tebbit, hat der britische Nationalismus durchaus eine sprachliche und kulturelle Basis (Kultur wird natürlich hier im weitesten Sinne verstanden); in neuen Beiträgen von David Marquand (ζ. B. Marquand 1993) wird diese Seite des englischen oder britischen Nationalismus behandelt. Entgegen meinen Landsleuten vertrete ich auch die Meinung, der deutsche Nationalismus im 20. Jahrhundert hat in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1990 einen wichtigen staatlich gebundenen institutionellen Bestandteil entwickelt, eine Tatsache, die ihren Bewohnern vielleicht nicht so sehr auffiel. 1 1 Ich schließe mich aber durchaus der Meinung an, die deutsche Nation im 19. Jahrhundert habe zu einem sehr großen Teil auf der gemeinsamen Sprache basiert. Ein solcher enger Zusammenhang zwischen Sprache und Nation ist nicht, wie Deutschsprachige vielleicht meinen könnten, universell, und kann zum Teil den besonderen Charakter des deutschen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert erklären.

Literatur

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1

Interessante Beiträge zum Selbstverständnis dieser Republik finden sich in dem von Weidenfeld herausgegebenen Band (Weidenfeld 1991), es sei besonders der Beitrag von W. Mommsen genannt.

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Stephen Barbour

Glotz, Peter (1990): Der Irrweg des Nationalstaats. Stuttgart. Hobsbawm, Eric John (1990): Nations and Nationalism since 1780. Cambridge. Johnston, Otto W. (1990): Der deutsche Nationalmythos. Stuttgart. Kluge, Friedrich (1967): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Auflage, bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin. Marquand, David (1993): Fables of reconstruction. In: T h e Times Higher Education Supplement, May 7, S. 16 — 18. Mattheier, Klaus J . (1991): Standardsprache als Sozialsymbol. Über kommunikative Folgen gesellschaftlichen Wandels. In: Wimmer, Rainer (Hg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin, New York, S. 41—72. Mommsen, Wolfgang J . (1991): Wandlungen der nationalen Identität. In: Weidenfeld, Werner (Hg.): Die Identität der Deutschen. Bonn, München, S. 170—192. Price, Glanville (1984): The Languages of Britain. London. Smith, Anthony D. (1985): Theories of Nationalism. New York. Smith, Anthony D. (1991): National Identity. Harmondsworth. Weidenfeld, Werner (Hg.)(1991): Die Identität der Deutschen. Bonn, München.

P E T E R VON P O L E N Z

Zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation'. Deutsche Begriffsbesetzungen um 1800.

D a s 19. Jahrhundert ist die Epoche der beginnenden Industrialisierung, aber auch die der Entstehung und Politisierung des Nationalismus in mehreren europäischen Ländern. Das Thema Sprache und Nation in deutschsprachigen Ländern ist also im Rahmen unseres Kolloquiums sehr sinnvoll und wichtig als Einstieg in die politische Sprachgeschichte dieser überraschenderweise bis in die Gegenwart nachwirkenden Epoche. In diesem Sinne hat Stephen Barbour in seinem Einleitungsreferat (vgl. S. 48 ff. in diesem Band) aus britischer Sicht nachdrücklich auf den Unterschied zwischen vorwiegend territorialem und staatsbürgerlichem westeuropäischen und vorwiegend kulturellem oder ethnischem deutschen und osteuropäischen Nationsbegriff hingewiesen. D a die damit zusammenhängenden unterschiedlichen politischen Begriffsbesetzungen heute wieder politisch aktuell geworden sind, auch als neue Herausforderung an Germanistik und Deutschunterricht, erscheint es mir hier nützlich, mit der erforderlichen historischen Tiefe dazu einige Ergänzungen, Korrekturen und Differenzierungen aus der neueren begriffs- und ideologiegeschichtlichen Forschung zu bedenken zu geben. Dabei ist eine fünfhundertjährige Entwicklung zu berücksichtigen. Zunächst in Form knapper Thesen: 1. Der begriffsgeschichtliche Unterschied zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation' ist spätestens seit Friedrich Meinecke (1908/1969) deutschen Historikern geläufig; in beiden Richtungen gab es bereits im frühneuzeitlichen Deutschland vorpolitische Begriffsbesetzungen. 2. Beide Richtungen standen in Deutschland seit der Französischen Revolution in heftigem Widerstreit in der damals erwachenden politischen Öffentlichkeit, mit einem zunehmenden Übergewicht der kulturellen Begriffsbesetzungen und einer Verschiebung der wesentlichen

56

Peter von Polenz

Merkmale von Besitz, Vaterherkunft, Sprache und Sitten zu irrationalen, abstrakten ethnischen Merkmalen. 3. Die zunehmende Schwäche des staatsorientierten Begriffs ,Nation' war politisch bedingt durch den Verfall des immer illusorischer gewordenen altständischen Reichspatriotismus und dessen Ersatz durch einen starken obrigkeitlichen Landespatriotismus sowie durch den Mißerfolg der (bald als militärische Okkupation betriebenen) Französischen Revolution in Deutschland. 4. Während sich der Begriff ,Staatsnation' in dem pervertiert reduzierten Ergebnis der deutschen Nationalbewegung, dem Bismarckschen Deutschen Reich, stark obrigkeitlich, demokratiefeindlich und chauvinistisch weiterentwickelte, scheiterte er im illusorischen Versuch, den Vielvölkerstaat Österreich in die Epoche der Nationalstaaten hinüberzuretten. 5. Die in Deutschland zunehmende Stärke des kulturorientierten Begriffsverständnisses beruhte auf der vorpolitischen, von humanistischer Gelehrsamkeit bis zur Volksaufklärung erfolgreich entwickelten Tradition des deutschen Kulturpatriotismus, der als Sprachloyalitätsbewegung gegen die bildungspolitischen Zwänge des oberschichtlichen Gebrauchs von Latein und Französisch im deutschen Territorialabsolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts zu erklären ist (vgl. v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.3, 5.5; 1995). 6. Ein praktisches Bewußtsein von einer angesehenen überregionalen deutschen Schriftsprache als vorpolitisch-nationalem institutionellen Kommunikationsmittel und bürgerlichem Standessymbol hatte sich — trotz anhaltender regionaler Lautung — bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis weit in die Mittelschichten hinein entwickelt, infolge der mindestens passiven Sprachkompetenz in Predigt, Erbauungsliteratur, Verwaltung, Zeitunglesen (und -lesenhören), am Ende des 18. Jahrhunderts auch in der populären ,Leserevolution' (vgl. v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.2). Es war im Norden und Nordosten längst vorbereitet durch die sprachpolitischen Auswirkungen der Reformation (vgl. v. Polenz 1991, 1994, I, Kap. 4.8, 4.9) und stabilisierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Schweiz, in Süddeutschland und Österreich durch den Erfolg Gottscheds und seiner oberdeutschen Nachfolger und Kritiker und den der frühklassischen Literatur (vgl. v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.6, 5.10). Stephen Barbours Zweifel am „Begriff einer einzigen deutschen Sprache" „bis ins 20. Jahrhundert" (vgl. S. 50 in diesem Band) beruht auf einer Uberschätzung der Notwendigkeit einer Sprechsprachnorm und einer

Zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation'

57

Unterschätzung der autonomen überregionalen Kulturmacht Schriftsprache in der Frühen Neuzeit. 7. Der allmähliche Übergang vom vorpolitischen Kultur- und Sprachpatriotismus zum ethnozentrisch (und schließlich rassistisch) politisierten Nationalismus im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland war eine langfristige vulgarisierende und radikalisierende Folge der publizistischen Abwehr der Revolution in der französischen Besatzungszeit 1792—1813 und der Verfolgung freiheitlich-nationaler Bestrebungen in der Restaurationszeit. 8. Bei der begriffs- und ideologiegeschichtlichen Analyse ist es erforderlich, über Nation, national hinaus das ganze Wortfeld zu berücksichtigen, also auch Patriot, Vaterland, Volk, deutsch, germanisch (und deren Ableitungen auf -isch, -ist, -ismus, -tum). Der tendenzielle Unterschied zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation' ist ein historisch konstitutiver Teil der Mentalitätsgeschichte europäischer Völker und Staaten, nicht ein bloßer Gelehrtenstreit, auch nicht eine kausal undurchsichtige ethnische Bevölkerungscharakteristik. Er beruht auf der politischen Auseinanderentwicklung der europäischen Staaten und Gesellschaften seit der Renaissancezeit, wobei seit der Französischen Revolution popularisierte Bildungsideologien, vor allem Geschichtsmythen, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Für die historische Aufarbeitung der deutschen Entwicklung sind heute vor allem zwei neuere Publikationen von Historikern zugrundezulegen: Der sehr umfangreiche und differenzierende Artikel „Volk, Nation" von Gschnitzer, Werner, Schönemann und Koselleck in dem verdienstvollen begriffsgeschichtlichen Werk „Geschichtliche Grundbegriffe" von Brunner/Conze/Koselleck (Bd. 7, 1992) und die Kapitel über die Entwicklung des deutschen Nationalismus in Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte" (Bd. 1 und 2, 1987). Aus der neueren Erforschung der Ideologiegeschichte des Faches Germanistik sind vor allem die Arbeiten von v.See (1970, 1975, 1985), Reichmann (1978), Huber (1984), Römer (1985), Hortzitz (1988), Bering (1991) und die von Bircher/van Ingen (1978) und Garber (1989) herausgegebenen Sammelbände aufschlußreich. Die deutsche Entwicklung der Begriffsbesetzungen im Bereich von Nation, Vaterland, Patriot war Ende des 18. Jahrhunderts äußerst vielfältig und diffus, vor allem durch folgende Tendenzen gekennzeichnet (Schönemann 1992, 302ff.):

58

Peter von Polenz

• Mehrdeutigkeit: Loyalitäten zu verschiedenen staatlichen Institutionen konkurrierten miteinander: Reich, Territorium, Reichsstadt, Konfession usw. • Staatsrechtliche Indifferenz in den meisten Verwendungsweisen. • Abstrakte Begriffsbesetzungen bei Gelehrten und Bildungsbürgern über das alte patriarchalische Kriterium von familiärer Abstammung und Besitz hinaus: Sitten und Brauchtum, Sprache, historische Taten und Errungenschaften, Geschichtsmythen. Die historischen Ursachen für diese Ideologielastigkeit sind offensichtlich: Im Gegensatz zu der vom Mittelalter her stark zentralstaatlichen Entwicklung in Frankreich und England und zu den genossenschaftlichen bzw. frühbürgerlichen Regionalstaatsbildungen in der Schweiz und in den Niederlanden, war die politisch-soziale Entwicklung in Deutschland geprägt von der abstrakten, überethnischen, universalen Reichsidee mit Latein als Universalsprache und der dazu komplementären, seit dem 15. Jahrhundert wachsenden, durch die lutherische Reformation geförderten Autonomie hunderter von fürstlichen, kirchlichen und städtischen Territorien, mit der Folge eines starken partikularistischen (landesherrschaftlichen) Absolutismus im 17. und 18. Jahrhundert. Durch dessen rigorosen Untertanen-Geist wurde die Entstehung eines Nationalstaates und eines nationalen aufgeklärten Staatsbürgerbewußtseins systematisch blockiert. Es kam erschwerend hinzu, daß das alte Kulturmonopol des Lateins verdoppelt wurde durch die neue sozialdistanzierende Staats- und Bildungssprache Französisch, vor allem an den landesfürstlichen Höfen und in den von ihnen geprägten Oberschichten (vgl. v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.3). Die in Deutschland älteste Art eines staatsorientierten Nationsbegriffs, die teutsche Nation als Objekt des Reichspatriotismus, stand nicht nur im rhetorischen Titel des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation seit dem 15. Jahrhundert, sondern war im 15. und 16. Jahrhundert eine politische Realität (Koselleck 1992, 150; Schönemann 1992, 302ff.): Sie spielte als antirömischer Kampfbegriff in der Diskussion um die Reform des Reiches und der Kirche und als Appellationsinstanz in den Konfessionskämpfen seit der Reformationszeit eine Rolle. Seit dem 16. Jahrhundert erscheint neben teutsche Lande auch die Bezeichnung Teutschland. Dieser Staatsnationsbegriff war aber feudalständisch begrenzt auf den Wiener Kaiserhof und andere Reichsinstitutionen, reichsunmittelbare Fürsten, Städte, Adel und nationalhumanistisch Gebildete. In Süddeutschland und Österreich wurde der Reichspatriotismus durch

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Z w i s c h e n , S t a a t s n a t i o n ' und ,Kulturnation'

die Gegenreformation noch einmal belebt, auch im Patriziat von Reichsstädten, ζ. B. in Goethes Frankfurter Elternhaus. Doch seit dem 30jährigen Krieg war der Reichspatriotismus meist nur noch eine leere Formel (Schönemann 1992, 3 0 2 f f . ) : Staatsrechtler bezweifelten ihn oder beklagten seinen Untergang, ζ. B. Friedrich Carl v. Moser in seiner Schrift „Von dem Deutschen Nationalgeist"

(1765):

„eine solche

National-

Denkungsart, eine allgemeine Vaterlandsliebe [...] wie man sie bei einem Briten, Eidgenossen, Niederländer oder Schweden antrifft" könne man weder bei dem „großen häufen des gemeinen deutschen M a n n e s " noch bei den deutschen Fürsten finden (nach Schönemann 1992, 310). Hinter Mosers Klage stand schon ein moderner utopischer Erwartungs- und Aktionsbegriff im Sinne eines „aufgeklärten Patriotismus"

(Koselleck

1992, 151), so auch in gewissen Nachwirkungen des Reichspatriotismus bei konservativen Politikern der Napoleon- und Restaurationszeit. Das Bismarckreich als preußisch dominierter kleindeutscher Nationalstaat hat nur noch rein formal mit dem Namen Reich

daran anknüpfen kön-

nen. Das begriffliche Vakuum des untergehenden, illusorischen Reichspatriotismus wurde seit dem Späthumanismus von einem akademisch-bildungsbürgerlichen Kulturpatriotismus, in der Gesamtbevölkerung aber stark und unumgänglich

vom Territorial-

oder

Landespatriotismus

gefüllt. Man hatte sich als Untertan einer Landes- oder Stadtherrschaft

zu fühlen; Wörter wie Nation, Vaterland, Patriot und die zugehörigen Adjektive wurden im 18. Jahrhundert ganz überwiegend auf so etwas wie Preußen, Württemberg oder Sachsen-Altenburg, auf Trier, Frankfurt oder Hamburg bezogen. Diese in teutschen

Landen

normale, von der

west- und nordeuropäischen Entwicklung aber grundsätzlich

abwei-

chende Art von Großgruppenidentifizierung basierte auf dem absolutistischen Untertanengehorsam, der ziemlich offen als Definition Nation,

Vaterland

von

ausgedrückt wurde von T h o m a s Abbt in seiner

Abhandlung „Vom Tode für das Vaterland" (1761): „[...] was er seinem Vaterlande, dessen Gesetze ihn beschützen und glücklich machen, schuldig sei [...], dem Vaterland oder, welches einerlei ist, dem Könige" (Schönemann 1992, 311). In diesen im damaligen Deutschland einzig konkreten Begriff ,Staatsnation' konnten im Sinne des ,aufgeklärten Absolutismus' mitunter auch voluntaristische Komponenten aus der westeuropäischen Aufklärung einfließen, so ebenfalls bei Abbt: „Aber, wenn mich die Geburt oder meine freie Entschließung mit einem Staate vereinigen, dessen heilsamen Gesetzen ich mich unterwerfe, die mir nicht mehr von meiner Freiheit entziehen, als zum besten des ganzen Staats nötig ist:

60

Peter von Polenz

alsdann nenne ich diesen Staat mein Vaterland" (nach Schönemann 1992, 312). Dieser partikularistische Staatsnationsbegriff war dann gegenüber den Ideen und Bewegungen der Französischen Revolution zur Konservativität und restaurativen Unbeweglichkeit verurteilt, so bei Wieland in seiner Schrift „Patriotischer Beitrag zu Deutschlands höchstem Flor" (1780): „deutscher Patriotismus [...] als Liebe der gegenwärtigen Verfassung des gemeinen Wesens zu Erhaltung und Vervollkommnung derselben" (nach Schönemann 1992, 313). Dieser ,Vaterlands'-Begriff entspricht der Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland vorherrschenden und weiterhin wirksamen Neigung zu „defensiven Reformen", die faktisch der Revolutionsvermeidung dienten (Wehler 1987, 1, 347ff.). Auch Kant „dachte den Staat nicht vom Volke, sondern vom Recht her; [...] Als Staatsvolk ist das Volk immer Untertan des Gesetzgebers" (Schönemann 1992, 320). In diesem Sinne war Preußische Nation auch noch in königlichen Aufrufen der Befreiungskriege zu verstehen, ebenso die Forderung Fichtes („Reden an die deutsche Nation", 1808), die Nation der Deutschen, müsse zum „vernunftgemäßen Staat" [...] erst gebildet und herauferzogen werden" (nach Schönemann 1992, 330 f.). Die obrigkeitliche Besetzung des Begriffes ,Staatsnation' hat sich in der Restaurationszeit in Deutschland so gefestigt, daß im Text der Verfassung für ein Deutsches Reich (März 1849) nicht das ,Volk' als gesetzgebender Souverän verstanden wurde, sondern die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche (Schönemann 1992, 361). Noch stärker eine obrigkeitliche Machtfrage war dann die Gründung des ersten deutschen Nationalstaats' durch Bismarck und die Entstehung eines neuartigen ,Staatsnation'-Bewußtseins in der spätwilhelminischen Zeit. Der von der Französischen Revolution herkommende demokratische ,Staatsnation'-Begriff hat sich in Deutschland also nicht durchsetzen können; seine Wirksamkeit wurde schon durch seine Propagierung im Zusammenhang mit militärischer Okkupation von 1792 bis 1813 pervertiert. Die beiden gescheiterten historischen Besetzungen des Begriffs ,Staatsnation' in Deutschland — alter Reichspatriotismus, restaurativer Landespatriotismus — konnten von jeher viele aus der wachsenden deutschen Bildungselite nicht befriedigen. So kam es, daß in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert als Ersatzideologien andere, den westeuropäischen aufgeklärt-rationalistischen Vorstellungen von der ,Staatsbürgernation' fremde ,Nation'-Begriffe immer wichtiger wurden, die mit sehr abstrakten, der heterogenen politischen Realität widersprechenden Merkmalen wie Kultur, Sitte und Brauch, Sprache, Abstammung (und schließlich

Zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation'

61

Rasse) besetzt wurden. Alle diese Merkmale hatten jedoch Vorbilder oder mindestens Parallelen in anderen Ländern. Seit dem Späthumanismus entwickelte sich aufgrund von Vorbildern aus Italien und den Niederlanden im Rahmen einer frühaufklärerischen Sozietätsbewegung der deutsche Kulturpatriotismus, der sich allgemein gegen das Alamode-Wesen der an ausländischen Vorbildern orientierten höfischen Kultur deutscher Fürstenhöfe richtete. Er ist als sprachenpolitische Emanzipationsbewegung gegen das beherrschende kulturelle Prestige des Lateins und romanischer Sprachen zu verstehen, also als Äußerung engagierter Sprachloyalität gegenüber der damals in den Oberschichten geringgeschätzten und in bestimmten Kommunikationsformen verdrängten deutschen Sprache. Er ist in der deutschen Sprachgeschichte von Ratichius, Gueintz, Schottelius und den barocken Sprach- und Dichtergesellschaften bis zu Gottsched, Adelung und Campe bekannt, in der deutschen Literaturgeschichte von Opitz bis zur Weimarer Klassik, nachzuweisen in hunderten von sprachreflexiven, sprachkritischen und sprachkultivierenden Zeugnissen (Bircher/van Ingen 1978; Huber 1984; Garber 1989; v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.5, 5.6). Sprachpurismus und Fremdwortverdeutschung waren nicht die einzigen und zu Anfang nicht die vorwiegende Beschäftigung dieser Gelehrten, Poeten und Sprachfreunde; ihre Sprachkultivierungsarbeit bestand auch im Herstellen guter Übersetzungen, im Einüben in den zeitgemäßen poetischen Stil auf Deutsch sowie in Diskussionen und Ansätzen zu deutscher Grammatik und Lexikographie. Vor allem bewirkten sie langfristig die Entwicklung einer Sprachideologie für das vorpolitisch-nationale Prestige der sich etwas verspätet konsolidierenden überregionalen deutschen Schriftsprache. Ihre Verwendung von Nation, Vaterland, patriotisch, teutsch usw. war weder auf das Alte Reich noch auf die Territorien bezogen, sondern auf einen den Gelehrten seit dem Humanismus (Konrad Celtis, Ulrich v. Hutten, Aventin) geläufigen kulturell historisierenden, abstrakten Nationsbegriff, der von den humanistischen Tacitusstudien her (v. See 1970, 14 ff.) mit immer wiederkehrenden stereotypen sozialethischen Merkmalen gestützt wurde, die als Alternativen des „deutschgesinnten Tugendmuts" dem verlogen-repräsentativen Alamode-Wesen der Höfe entgegengestellt wurden (Huber 1984; Bircher/van Ingen 1978): Aufrichtigkeit, Frömmigkeit, Ehrbarkeit, Nützlichkeit, Treue, Redlichkeit. Aus der Aufgabe, die deutsche Sprache gegenüber den Prestigesprachen Latein und Französisch aufzuwerten, ergaben sich Sprachbewertungen, die über gleichwertendes Sprachlob wie Nützlichkeit, Vortrefflichkeit, Grundrichtigkeit, Kunstrichtigkeit, Urankünftigkeit, wort-reich,

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Peter von Polenz

Verstand-reich, uralt, edel usw. hinausgingen zur Behauptung der Überlegenheit der deutschen Sprache als Haupt- und Heldensprache über die romanischen Sprachen oder gar über das Latein (z. B. 1691 bei Stieler; s. Huber 1984, 129 ff., 230). Das damit verbundene Ziel, dem damals, besonders seit dem 30jährigen Krieg auffälligen Anstieg von Entlehnungen aus anderen Sprachen in deutschen Texten entgegenzuwirken (Sprachmengerey, Mängelungs-Wörter, Alamodisch Teutsch, Fremdgierigkeit) führte neben der praktisch nützlichen (das deutsche Wortbildungssystem belebenden) Verdeutschungsarbeit zu der Sprachideologie der Reinlichkeit, später polemisch Sprachpurismus genannt, die bis ins 20. Jahrhundert immer wieder als Mittel und als Symptom der Radikalisierung des deutschen Nationalismus eine bedeutende Rolle spielte. Sprachpurismus gab es auch bei anderen Nationen, z. B. bei den Tschechen seit den Hussiten oder in Frankreich seit de Gaulle. Zwar ist die dabei als Ideologieinstrument dienende sprachkritische Bezeichnung Fremdwort erst seit der Napoleonischen Zeit belegt — sie ist sprachwissenschaftlich undefinierbar (s. Braun 1979) — ; und der frühe Sprachpurismus (bis Campe) ist noch nicht als nationalistisch zu erklären, sondern als kulturpatriotisch und volksaufklärerisch (Kirkness 1975; Schiewe 1988; v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.5 Q - W ) . Vom alten Sprachpatriotismus her sind aber in der Allgemeinbildung national gesinnter Bildungsbürger und intellektueller Propagandisten die Verachtung und Abwehr alles „Fremden" und „Gemischten" und die Überbetonung des sprachlichen Herkunftsprinzips (Etymologismus) bis ins 20. Jahrhundert beliebte argumentative Mittel geblieben, die sich über Sprache hinaus auch auf Menschen anwenden ließen (vgl. v. Polenz 1967). Trotz seiner Distanzierung von sprachpuristischem Übereifer der Sprachgesellschaften war selbst der Aufklärungsphilosoph Leibniz der früheste Vertreter eines historisierenden sprachorientierten Nationsbegriffes: In seiner „Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und Sprache besser zu üben" (1697) verwies er auf historische Beispiele dafür, daß „gemeiniglich die Nation und die Sprache zugleich geblühet", so daß auch „der Völker und der Sprachen Ab- und Aufnehmen ein Verwandtes" habe; „sprach und art" sind noch deutlicher in seinem Sekuritätsgutachten (1670) als Merkmale der nationalen Unterschiedlichkeit von Deutschen und Franzosen genannt (Schönemann 1992, 304f.). Das sprachnationale Denken war in Deutschland an die politische und staatsrechtliche Offenheit des Begriffs ,Nation' gebunden. Nur so war von 1767 bis 1791 die deutsche Nationaltheater-Bewegung möglich, nur in

Zwischen ,Staatsnation' und ,Kulturnation'

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vorpolitischer Weise, d. h. ohne bei den territorialabsolutistischen Obrigkeiten Anstoß zu erregen (Schönemann 1992, 307). So konnte selbst ein Schweizer wie Bodmer in seinem Kampf gegen eine sprachnormerische Bevormundung durch den norddeutschen Leipziger Gottsched und dessen Anhänger sich für die Entscheidung, was „Hochdeutsch" sei, auf das „allgemeine Vaterland" berufen und fordern, daß „die gute Nation nicht einen Gerichtsstuhl mehrerer oder weniger Personen anerkenne" (Bodmer, „Die Hauptepochen der deutschen Sprache", 1784, 440). Entsprechend ist auch Adelungs lexikographische Definition des Begriffes Nation zu verstehen (1807/08): „eingeborene Einwohner eines Landes, sofern sie einen gemeinschaftlichen Ursprung haben und eine gemeinschaftliche Sprache reden, sie mögen übrigens einen einzigen Staat ausmachen oder in mehrere vertheilet seyn". Der kulturpatriotische Begriff ,Nation' erhielt eine neue, folgenreiche Qualität durch Herders „Nobilitierung des Begriffes Volk"' (Schönemann 1992, 316), der dadurch seine pejorative, sozial ausgrenzende Bedeutung (i. S. von Pöbel) verlor und mit dem Begriff Nation potentiell identisch wurde, mit der panlinguistischen Auffassung, daß Sprache und Poesie als konstitutive Merkmale von ,Nation' gelten konnten: „Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie Ordnung- und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig" (Herder, „Briefe zur Beförderung der Humanität", 1796, 5, 57). Entsprechend machte Herder eine scharfe Trennung zwischen ,Nation' und ,Staat': „Staaten können überwältigt werden, aber die Nation dauret" (Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1787, 6). So konnte der noch durchaus kosmopolitisch denkende Herder zum geistigen Vater von Bewegungen zur Befreiung europäischer Nationen aus fremdstaatlicher oder partikularstaatlicher Unterdrückung werden, aber auch zum Vorbereiter des ethnozentrischen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit seiner kulturrelativistischen Erklärung der Verschiedenheiten von Völkern aus natürlichen und geschichtlichen Bedingungen und in der Auffassung von Völkern als ,Individuen' war Herder von Montesquieu beeinflußt (v. See 1970, 21). Die weitgehende Zurückdrängung der mehr bildungssprachlichen Wörter Nation, national zugunsten von Volk, völkisch, Vaterland, vaterländisch hängt auch mit der „in Deutschland länger anhaltenden Kraft des Lateinischen als Herrschafts- und als Gelehrtensprache" zusammen (Koselleck 1992, 143). Nach der Französischen Revolution — genauer: nach ihrer militärischen Expansion auf deutsche Territorien — verstärkte sich die deutsche

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Peter von Polenz

Trennung von ,Nation' und ,Staat': Für die Deutschen als von französischer Besatzungspolitik und von restaurativer Fürstenherrschaft Betroffene war ,Nation' konkret entweder der als ,fremd' abgelehnte französische Begriff des Verbandes der freien und gleichen Staatsbürger oder der absolutistische Untertanenverband als traditionelle ,Staatsnation'. Den wenigen kritischen aufgeklärt Gebildeten blieb — nach dem baldigen Ende ihrer Revolutionseuphorie — für die (durch Zerstörung der vorrevolutionären Ordnung zwischen 1792 und 1815 notwendig gewordene) Suche nach einer neuen deutschen Identität nur der abstrakte, vorpolitische Wunschbegriff der Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft attraktiv, so bei Schiller in seinem Aufsatz „Deutsche Größe" (1797): „Die deutsche Würde [...] ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist" (nach Schönemann 1992, 327). Mit einem lexikographischen Vergleich zwischen Adelung, Campe und dem Brockhaus von 1820 zeigt Koselleck (1992, 380 ff.), wie zugleich mit der Distanzierung vom aufklärerisch-grundrechtlichen und dann revolutionär-französischen Gebrauch des Wortes Nation (das für Campe ein Fremdwort war) das neue Schlüsselwort Volk entpejorisiert und zum sozialen und nationalen Integrations-, Erwartungs- und Zielbegriff, Nation dagegen bildungssprachlich mit Merkmalen wie Kultur, Sprache und mit Geschichtsmythen vorpolitisch historisiert wurde. Im Laufe der politischen Auseinandersetzungen vom Wiener Kongreß (1815) bis zur Reichsgründung (1871) wurden beide Begriffe aber in sehr vager Weise gegenseitig aufgeladen: „Die Demokratisierung des ehemals ständestaatlichen Volksbegriffs und die Politisierung des ehedem vorstaatlichen Nationsbegriffs steigerten sich gegenseitig hoch zum ,Nationalprinzip', [...] was seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unlösbare Konflikte, in unserem Jahrhundert Katarakte von Katastrophen auslösen sollte" (Koselleck 1992, 388 f.). Der Weg vom Kultur- bzw. Sprachnationalismus zum rassistischen Nationalismus ist bereits in der Napoleonischen Zeit in ersten Ansätzen zu erkennen. Um 1800 wird er vorbereitet durch ethnozentrisches Sendungsbewußtsein, Germanophilie und Fremdenfeindlichkeit. Das deutsche Wort Nationalismus, zuerst bei Herder 1774 in ablehnendem Sinne belegt, erscheint bei Ernst Moritz Arndt 1805 mit positiver Besetzung (Wehler 1987, 1, 658). Humanistische Tacitusstudien und christliche Vorstellungen wirkten beim deutschen Nationalismus von Anfang an nach in einem „Sendungsbewußtsein und säkularisierten Auserwähltheitsglauben, wie er für viele Nationalismen typisch war und ist" (Weh-

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1er 1987, 509, 516), beispielsweise wenn Schiller mit nationalistischer Umfunktionierung des aufklärerischen Kosmopolitismus in seinem genannten Aufsatz die Deutschen als „Menschheitsvolk" und „Kern der Menschheit" bezeichnet und behauptet: „Unsere Sprache wird die Welt beherrschen [...] Während der Brite nach Schätzen und der Franke nach Glanz lüstern späht, ist dem Deutschen das höchste bestimmt", oder bei Schleiermacher, der die Deutschen „ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes" nennt (nach Wehler 1987, 509, 517 f.). Solche Selbsterhebung hat meist die antithetische, dualistische Konsequenz, die anderen (nicht den Rest der Welt, sondern bestimmte andere) entsprechend zu erniedrigen. Dies gilt besonders für „Zuspät- und Zukurzgekommene", die für ihr ,Volk' „seine schlechtere zivilisatorische Position zum Ausdruck oder zur Folge seiner Tugenden zu stilisieren neigen" (v. See 1970, 102): Schon in den Tacitus-Studien deutscher Humanisten war — von der tendenziellen kulturkritischen Absicht des römischen Autors her — das ,Germanen'-Bild als Gegenbild zum ,Römischen' entworfen, mit bis ins 20. Jahrhundert fortwirkenden Merkmalen: Hier die treuen, lauteren, genossenschaftlich handelnden, sippengebundenen, keuschen, freigebigen, gastfreien, gemütvollen, leidenschaftlichen ,Germanen' als unvermischtes ,Urvolk', dort die rational-ökonomischen, kühl berechnenden, handeltreibenden, staatlich denkenden, individualistischen Römer, dazu seit Hutten die antirömische ,Freiheits'Gestalt des Arminius (v. See 1970, 9 - 1 6 ; Römer 1985, 88, 93). Während die Bezeichnung deutsch für ,germanisch' seit dem 17. Jahrhundert nur gelegentlich vorkam, wurde die Identifizierung von deutsch und germanisch seit den Brüdern Grimm in der sich neu konstituierenden Germanistik des 19. Jahrhunderts zum vorherrschenden wissenschaftlichen Gebrauch. Germanenmythos verband sich mit Sendungsbewußtsein schon bei Fichte („Reden an die deutsche Nation") auf dilettantisch-linguistische Weise: Nur die Deutschen als Urvolk, als die reinen, unvermischten Germanen, hätten eine Sprache besessen, die zur wahren Bildung fähig sei, im Gegensatz zu den romanischen Sprachen (v. See 1985, 242 ff.). In der damals aufblühenden historisch-vergleichenden Sprachforschung setzte sich bei den deutschen Forschern die ethnozentrische Bezeichnung indogermanisch gegen das sonst übliche geographisch motivierte indoeuropäisch durch (Römer 1985, 49 ff.). Die Höherbewertung des flektierenden Sprachbaus gegen andere Sprachtypen geht allerdings auf humanistische und westeuropäisch-kolonialistische Tradition zurück. Der den frühen deutschen Nationalismus kennzeichnende Franzosenhaß (Frankophobie), eine „schlimme Hinterlassenschaft der Besatzungs-

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zeit und ,Befreiungskriege' (Wehler 1987, 1, 512), erscheint also ideologiegeschichtlich als spezifizierende Konkretisierung der traditionellhumanistischen Antithese Germanisch vs. Römisch/Welsch, entspricht aber auch einer „mit dem Nationalismus häufig verschwisterten Xenophobie" als „Reaktion auf Modernisierungskrisen" und als „Religionsersatz" (Wehler 1987, 506, 520ff.). So ist es nicht verwunderlich, daß sich diese Fremdenfeindlichkeit oder -angst als Komponente des frühen deutschen Nationalismus auch schon auf Juden beziehen konnte. Der eigentliche Antisemitismus und Rassismus als systematische Bewegung beginnt zwar erst im späten 19. Jahrhundert mit Gobineau, Chamberlain, Dühring, Nietzsche, Wagner, Stöcker u. a. Als gelegentlicher nationalistischer Antijudaismus äußert er sich aber bereits in der Napoleonischen Zeit, und die dazugehörigen biologisch/pathologischen Metaphern waren aus dem allgemeinen Polemikwortschatz der Revolutions- und Restaurationspublizistik (v. Polenz 1991, 1994, II, Kap. 5.12 W) längst geläufig. Nicoline Hortzitz hat in ihrer Untersuchung „früh-antisemitischer" Texte in Deutschland neben der seit dem Mittelalter üblichen religiösen und ökonomischen Begründungsweise des Antijudaismus bereits vor 1820 Beispiele für das „völkisch-nationale" und das „biologisch-anthropologische Begründungsverfahren" festgestellt. Die allmähliche Biologisierung der antijüdischen Polemik erscheint ideologiegeschichtlich als Findung eines metaphorischen Ersatzfeldes nach dem Wegfall religiöser, alltagskultureller und ökonomischer Sondermerkmale der (nun assimilierten) jüdischen Deutschen. Sie wurde gefördert durch die seit Herder betriebene Historisierung des ,Volks'-Begriffs und konnte auf sprachideologische Komponenten des alten Kulturpatriotismus zurückgreifen. Von den unvermischten Germanen des Tacitus und der unvermischten Ursprache der barocken Sprachfreunde war der Weg nicht weit bis zu „artreines Urvolk" bei Ernst Moritz Arndt, der in seiner frühnationalistischen Polemik die Juden zusammen mit dem „Franzosengeziefer" bekämpfte, da sie beide ihm als konkrete Vertreter des den Nationalismus behindernden Kosmopolitismus erschienen (Hortzitz 1988, 255 ff., 298; Wehler 1987, 1, 523). Arndt lehnte „das Kluge, Spitze, Listige", „die Art Geistreichtum, welche man Judenwitz oder Franzosenwitz nennt" als etwas den ,unvermischten' Germanen Fremdes ab und erklärte es als typisch für „Mischlingsvölker" (nach Hortzitz 1988, 299). Für die rassistische Radikalisierung des alten Antijudaismus bedurfte es also nicht erst der Theoretisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte; es genügten dazu schon die pseudowissenschaftlichen Behauptungen einiger Propagandisten der deutschen Nationalbewegung der Napoleoni-

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sehen Zeit. Gordon Craig wies in seinem Kapitel „Deutsche und J u d e n " auf eine der wichtigsten Ursachen für die Radikalisierung in Deutschland in der Zeit um 1800 hin: das „Scheitern der Aufklärung", deren Ideen und H o f f n u n g e n „nicht von der Masse der christlichen Bevölkerung geteilt wurden", deren traditionelle religiöse und ökonomische Vorurteile gegen die Juden von intellektuellen Demagogen in der Zeit französischer O k k u p a t i o n leicht zu aggressivem Verhalten entfacht werden konnten durch eine vulgärwissenschaftliche Kombination von Christentum, Deutschheit und Germanomanie (Craig 1982, 149, 155). Die allmähliche Biologisierung des Antijudaismus zeigte sich zunächst in einzelnen Metaphern in Bildfeldern um ,Krankheit' und ,Schädlinge', in denen bereits deren Bekämpfung durch Vernichtung als Konsequenz impliziert ist. Dietz Bering (1991, 348) warnt vor pauschalen Schlüssen aus dem Einzelvorkommen von Metaphern. Die gefährliche demagogische Wirkung entstehe erst aus einer Verdichtung der Metaphernwelt, indem sich mehrere Bildbereiche gegenseitig so sehr stützen und aufladen, daß man immer öfter nicht mehr zum Ausgangspunkt der Metaphorisierung zurückfindet. Immerhin war eine staatsideologische Stützung der Metaphorisierung in Ansätzen bereits in der Napoleonzeit und frühen Restaurationszeit mindestens bei einigen Theoretikern und Propagandisten des ,völkischen' Nationalismus eingeführt, noch nicht bei den Preußen Fichte, Arndt und Jahn, aber schon bei Justus Moser, Adam Müller, Niebuhr und Dahlmann, vor allem bei den Brüdern Grimm (v. See 1970, 22 f.; v. See 1975, 21 ff.): Aufgrund von Anregungen von Montesquieu und Burke wurde der Staat als lebendiger Organismus gesehen, dessen einzelne Glieder in einer gottgewollten, naturgegebenen O r d n u n g zu einem Ganzen zusammenwirken, mit einer (bis zur nationalsozialistischen Blut- und Boden-Ideologie weiterwirkenden) Idealisierung der urtümlich-genossenschaftlichen Lebensweise der Germanen. Diese organologische Staats- und Gesellschaftsauffassung richtete sich gleichermaßen gegen die römisch/welsche Fürsten- und Adelsherrschaft des Ancien régime wie gegen die damals immer aktueller werdenden Urbanisierungs- und Industrialisierungsbestrebungen des Bürgertums. Sie führte jedenfalls immer weiter weg von der westeuropäisch-aufklärerischen Vorstellung von ,Staat' und ,Nation' als politischer Vertragsinstitution der staatsbürgerlichen Individuen. In diesem durch französische O k k u p a t i o n und deutsche Revolutionsverhinderung forcierten, wenn nicht ausgelösten Prozeß frühnationalistischer Argumentebündelung waren schon genügend metaphorisierbare, politisierbare Ideologiekomponenten vorhanden: ,Unvermischtheit' und

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,Urtümlichkeit' (von Sprache bzw. ,Volk'), Sendungsbewußtsein, Fremdenfeindlichkeit (gegen Franzosen und Juden). Diese Kombination nationalideologischer Stereotypen hat sich dann — nach der Dominanz obrigkeitsstaatlicher und wirtschaftsliberaler Vorstellungen von der Restaurationszeit bis zum wilhelminischen Imperialismus — seit Ende des 19. Jahrhunderts leider als einflußreichste Variante des deutschen ,Nationalgefühls' durchgesetzt und zu immer mehr Intoleranz, Unterdrückung, Aggression, Kriegen und anderem Massenmord sowie Vertreibungen geführt. Gustav Heinemanns (noch untertreibende) Warnung „Wir Deutschen haben ein schwieriges Vaterland" ist ebenso wie die nachkriegsdeutsche Tabuisierung des alten deutschen Nationalgefühls aus dieser offensichtlichen, aber von vielen verdrängten Begriffs- und Ideologiegeschichte zu erklären. Für mögliche Auswege aus dieser Abstinenz verbietet sich jede Rückkehr zu diesen dominanten deutschen Traditionen. Es genügt nicht eine Wiederanknüpfung an die Zeit vor 1933, auch nicht an die Zeit um 1848 oder um 1789/92. Man müßte dann die ganze deutsche NationalIdeologiegeschichte bis zurück zu den humanistischen Tacitusstudien korrigierend aufarbeiten. Statt eines solchen kaum popularisierbaren ,rehistorisierenden' Lernprozesses bleiben also nur die beiden bereits eingeschlagenen Wege zu einer neuen, friedlichen deutschen Nation: Der durch Westintegration und föderale Struktur in der alten Bundesrepublik angebahnte „Verfassungspatriotismus" (Sternberger) und die ,Flucht nach Vorn', nach einem (westlich-demokratischen) Europa, die historisch gesehen eine Rückkehr zu der in Deutschland und Osteuropa unterentwickelten, ignorierten oder behinderten Staatsbürgervorstellung der westeuropäischen Aufklärung bedeutet. Ein Sprachnationalimus steht dem heute in deutschsprachigen Ländern nicht mehr im Wege, da einerseits die sprachenpolitische Zwangslage der absolutistischen Zeit längst überwunden ist und andererseits seit den beiden Weltkriegen der bewußte Widerstand der Deutschschweizer, Elsässer und Luxemburger gegen die politische Begriffsverwirrung zwischen ,Kulturnation' und ,Staatsnation' erfolgreich war, wozu auch das nach 1945 stabilisierte Nationalbewußtsein der Österreicher gehört. So ist die Koexistenz mehrerer Nationalstaaten mit deutscher Sprache und Literatur, also die variantentolerante plurizentrische Struktur der deutschen Sprache heute kein Problem mehr (vgl. Ammon 1995; Clyne 1992; v. Polenz 1988, 1990). ,Kulturnation' und ,Staatsnation' stehen heute in deutschsprachigen Ländern nicht mehr im Widerspruch zueinander.

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Literatur

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Brunner/Conze/Koselleck

Meinecke, Friedrich (1908/1969): Weltbürgertum und Nationalstaat. Hg. v. H. Herzfeld. München. Polenz, Peter v. (1967): Sprachpurismus und Nationalsozialismus. In: Lämmert, Eberhard/ Walter Killy/Karl Otto Conradi/Peter von Polenz: Germanistik — eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt, S. 111 — 160. Polenz, Peter von (1988): ,Binnendeutsch' oder plurizentrische Sprachkultur? In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 16, S. 198 — 218. Polenz, Peter von (1990): Nationale Varietäten der deutschen Sprache. In: International Journal of the Sociology of Languages 83, S. 5 — 38. Polenz, Peter von (1991, 1994): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band I: 1991, Band II: 1994. Berlin, New York. Polenz, Peter von (1995): Sprachsystemwandel und soziopragmatische Sprachgeschichte in der Sprachkultivierungsepoche. In: Andreas Gardt/Klaus J. Mattheier/Oskar Reichmann (Hg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen — Gegenstände, Methoden, Theorien. [...] Tübingen, S. 39 — 67. Reichmann, Oskar (1978): Deutsche Nationalsprache. Eine kritische Darstellung. In: Germanistische Linguistik 2 - 5 / 1 9 7 8 , S. 3 8 9 - 4 2 3 . Römer, Ruth (1985): Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. München.

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ROLAND WILLEMYNS/HELGA BISTER-BROOSEN

Deutsch in Belgien im 19. Jahrhundert

1. Einleitung

Belgien ist ein dreisprachiges Land mit 10 Millionen E i n w o h n e r n . 5 7 , 7 % der E i n w o h n e r leben im niederländischsprachigen Flandern, 3 2 , 1 %

in

der französischsprachigen Wallonie, 0 , 6 % in den deutschsprachigen O s t k a n t o n e n und 9 , 6 % im zweisprachigen Brüssel (Willemyns 1 9 8 1 ) . D a s Niederländische als Muttersprache für mehr als sechs von zehn Belgiern ist also eindeutig die Mehrheitssprache. Deutsch ist die Muttersprache von ungefähr einem Prozent der Belgier (Neide 1 9 7 9 a ) . Wenn wir hier von Belgien sprechen, dann m u ß natürlich der historische Wandlungsprozeß dieses Gebietes bzw. Begriffes berücksichtigt werden. Wenn man vom sogenannten „langen" 19. J a h r h u n d e r t ausgeht, d. h. also der Zeit von der Französischen Revolution bis zum Ende des 1. Weltkriegs, dann haben sich entweder das Grundgebiet oder aber die politische Zugehörigkeit oder beides im Laufe dieser Z e i t nicht weniger als sechsmal verändert, und bei jeder Änderung war auch das Schicksal der deutschen Sprache direkt betroffen. M i t den Konsequenzen dieser Änderungen werden wir uns in diesem Artikel befassen.

2. Die heutige Situation Deutschsprachige g a b und gibt es in Belgien vorwiegend in zwei Gebieten, und zwar einerseits in dem sogenannten „Land van

Overmaas"

(Goossens 1 9 7 5 ) , andererseits in L u x e m b u r g , d. h. in dem Gebiet, das sich heute auf das Gebiet des Großherzogtums L u x e m b u r g und der belgischen Provinz L u x e m b u r g erstreckt (Neide 1 9 7 9 a ) .

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Roland Willemyns/Helga Bister-Broosen

Zu Neubelgien, dem offiziell deutschsprachigen Gebiet Belgiens, gehören die Bezirke Eupen, St. Vith und Malmédy: — der Eupener Teil liegt zwischen Altbelgien Nord und Deutschland; — der nicht unmittelbar anschließende St.Vither Teil grenzt im Osten an Deutschland, im Süden an das Großherzogtum Luxemburg, im Westen an die Wallonie und im Nordwesten an Neubelgien Malmédy; — Neubelgien Malmédy ist eigentlicht wallonisches Gebiet, das damals mit zu Preußen geschlagen wurde. Es beherbergt eine deutsche Sprachminderheit. Altbelgien ist der Gesamtname für ein geographisch zerstreutes Gebiet. Zu unterscheiden sind: — Altbelgien Nord, das zwischen den Niederlanden im Norden, Flandern im Nordwesten, Neubelgien Eupen im Osten und der Wallonie im Westen liegt. Die wichtigsten Ortschaften sind Welkenrat, Montzen und Bleiberg; — Altbelgien Mitte, das südwestlich von St. Vith liegt und eigentlich nur ein einziges Dorf umfaßt, nämlich das Dorf Bocholz; — Altbelgien Süd, der deutschsprachige Teil der belgischen Provinz Luxemburg, in der Nähe der Provinzhauptstadt Arel (Arlon), die jetzt völlig französisiert ist, im 19. Jahrhundert jedoch noch überwiegend deutschsprachig war.

3. Überblick über die Geschichte

3.1 Die Vorgeschichte Die obengenannten Gebiete gehörten ursprünglich in mehr oder weniger lockerer Form dem „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" an: die Gebiete um Montzen und Eupen als Bestandteile des Herzogtums Limburg, die Gebiete um St. Vith und Arel als Bestandteile des Herzogtums Luxemburg. Ein wichtiges Datum für die Beziehungen zwischen unserem Untersuchungsgebiet und den Niederlanden ist das Jahr 1288. Am 5. Juni dieses Jahres hatte nämlich der Brabanter Herzog, Jan I., in der „Schlacht von Worringen", die Streitkräfte des Kölner Erzbischofs geschlagen. Infolgedessen ist das Herzogtum Limburg, zu dem ein Teil der obengenannten Gebiete gehörte, und zwar das „Land van Overmaas",

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unter brabantische Lehnsherrschaft gekommen (Janssen 1988). Bis zum Ende des „Ancien Régime" wurden beide Herzogtümer in Personalunion verwaltet und Niederländisch war die offizielle Verwaltungssprache (Goossens 1975). Dadurch, daß aber die wirtschaftlichen und sprachlichen Bande mit dem Rheinland weitgehend aufrecht erhalten wurden, entstand eine Dreisprachigkeit oder Triglossie: Niederländisch war Verwaltungssprache, Hochdeutsch Schul- und Kirchensprache und die Bevölkerung sprach unter sich nach wie vor ihren Dialekt, der allerdings mehr und mehr vom Niederländischen beeinflußt wurde (Jongen 1972). Eine vergleichbare Entwicklung hat es auch in dem Teil des „Land van Overmaas" gegeben, das heute zur niederländischsprachigen Gemeinschaft Belgiens gehört, d. h. in der „Voerstreek" (Wijnants 1980). Obwohl die „Voerstreek" hier weiter nicht behandelt wird, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß wir es hier mit einem früheren einheitlichen Gebiet zu tun haben. Wiltgens (1994) legt dar, wie die frühere limburgische Einheit zersplittert wurde. Wir übernehmen hier nur eine seiner Darstellungen als Beispiel: Von der früheren limburgischen Verwaltungseinheit Montzen gehören heute zwei Gemeinden zu Flandern (Remersdaal und Teuven), Montzen selbst (mit Umgebung) gehört zur Wallonie und die Dörfer Kelmis und Neu-Moresnet gehören zu den deutschsprachigen Ostkantonen, d. h. zu Neubelgien (Wiltgens 1994, 87). Die meisten Gebiete des späteren Belgien sind seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, d. h. seit dem Anfang der Burgundischen Zeit, in einer größeren oder kleineren, mehr oder weniger lockeren Staatsform, miteinander verbunden. So auch, natürlich, das uns hier interessierende, zu Brabant gehörende Limburg. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurde auch Luxemburg ein Teil des Burgundischen Reiches. Seit 1555, dem Jahr, in dem Karl V. als Monarch abgedankt hatte, gehörten die Niederlande dem spanischen König Philip II, dem Sohn Karls. Unter seiner Regierung fand der Befreiungskrieg gegen die Spanier statt und eine der Folgen dieses „achtzigjährigen Krieges" war die politische Spaltung der Niederlande. Die nördlichen Niederlande eroberten ihre Unabhängigkeit, während die südlichen Gebietsteile (zu denen die meisten Teile des heutigen Belgien gehörten) in spanische Hand zurückfielen und bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts in spanischem Besitz blieben. Eine der Folgen auf sprachlichem Gebiet war, daß sich die neu heranbildende Oberschicht 1 den französisch orientierten flämischen und 1

Die übergroße Mehrheit der alten sozialen und intellektuellen Oberschicht war nämlich nach der Wiedereroberung durch Spanien und die Wiederherstellung des Katholizismus in den Norden geflohen.

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brabantischen Adligen anschloß (Willemyns 1981). Das gilt nicht nur für die niederländischsprachigen Gebietsteile, sondern auch für unser Untersuchungsgebiet. Die ganzen Gebiete standen nämlich sowohl während der spanischen als auch der nachfolgenden österreichischen Zeit unter französischsprachiger Fremdherrschaft. Dementsprechend wurden die gesamte Oberschicht und ein Teil der nach Aufstieg strebenden Mittelschicht französisiert. Tatsächlich waren die Niederlande 1714 den österreichischen Habsburgern zugeschlagen worden, aber auch unter Maria Theresia (1740—1780) war Französisch die „fast ausschließliche Amtssprache der Behörden und der kaiserlichen Edikte" (Pabst 1979, 14). Auch Luxemburg, wo seit der burgundischen Herrschaft Französisch die Verwaltungssprache geworden und der Adel französisiert war, wurde von Wien aus auf Französisch verwaltet (Deneckere 1954). Die Lage verschlechterte sich noch, als das ganze Gebiet nach der Französischen Revolution an Frankreich angegliedert wurde und das Französische zur einzigen offiziellen und im öffentlichen Leben erlaubten Sprache wurde. In unserem Untersuchungsgebiet gab es auch eine administrative Änderung. Nachdem die alten Herzogtümer abgeschafft waren, wurden Limburg und die Gegend um St. Vith Teil des OurteDepartements, während der größte Teil Luxemburgs das Wälderdepartement bildete.

3.2 Das 19. und 20. Jahrhundert 3.2.1 Nach der napoleonischen Zeit wurde unser Untersuchungsgebiet aufgespalten: Die Wiener Kongreßakte vom 9. Juni 1815 wies alles ehemals luxemburgische Gebiet östlich der Flüsse Sauer und Our, die Kantone St.Vith, Malmédy, Schleiden, Kronenburg und Eupen, die Ostspitze des Kantons Aubel mit Moresnet und den östlich der Wurm gelegenen Teil des Kantons Herzogenrath Preußen, den Rest den Niederlanden zu (Pabst 1979, 19).

Zu welchen grotesken Situationen diese Aufteilung manchmal geführt hat, läßt sich am besten am Beispiel von Moresnet zeigen. Ein Teil dieser Ortschaft war den Niederlanden, ein anderer Teil Preußen zugesprochen worden. Über ein drittes Stück, das wirtschaftlich interessant war, konnten sich beide Staaten zuerst nicht einigen. 1819 wurde dann endlich vereinbart, daß es unter dem Namen „Neutral-Moresnet" gemeinsam von Preußen und den Niederlanden (ab 1830 Belgien) verwaltet werden

Deutsch in Belgien im 19. Jahrhundert

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sollte. So ist es dann bis 1920 geblieben (Doepgen 1966). Wie sehr solche geschichtliche Entwicklungen auch im Bereich der Sprachattitüden und des Sprachgebrauchs eine wichtige Rolle spielen, soll hier noch einmal hervorgehoben werden: Durch den oben beschriebenen geschichtlichen Zufall wurde eine getrennte Entwicklung angebahnt. Der preußische Teil wurde verhochdeutscht, und es bildete sich ein deutsches Nationalgefühl heraus; der im wallonischen Gebiet der Vereinten Niederlande gelegene Teil bekam einen französischen Anstrich, und dies bewirkte ein wallonisches Identitätsgefühl. 3.2.2 In dem nach dem Wiener Kongreß gebildeten „Verenigd Koninkrijk der Nederlanden" hat König Willem I eine Zeitlang versucht, die Vorherrschaft des Niederländischen in den teilweise französisierten niederländischsprachigen Gebietsteilen wiederherzustellen. Das war natürlich auch in Limburg der Fall, also auch in einem Teil unseres Untersuchungsgebietes, wo es manchmal nicht klar war, ob die von der Bevölkerung gesprochene Mundart zum Niederländischen oder zum Deutschen gehörte. Da eine solche Sprachgrenze „nur aufgrund sprachpolitischer, nicht aber sprachwissenschaftlicher Kriterien gezogen werden könne" (Neide 1979a, 69), hatte sich Willem I für das Niederländische entschieden, und so wurde Niederländisch dort zur einzigen Unterrichtssprache. Im luxemburgischen Teil wurde Französisch als Unterrichtssprache zugunsten von Niederländisch und Deutsch abgeschafft, aber merkwürdigerweise wurde nichts dagegen unternommen, daß Französisch in Luxemburg Verwaltungs- und Gerichtssprache blieb. 3.2.3 Als 1830, nach der fünfzehnjährigen und schließlich gescheiterten Wiedervereinigung mit Holland, das Königreich Belgien gegründet wurde, zeichnete die sprachliche Lage sich dadurch aus, daß die Mehrheit der führenden Kreise in Flandern völlig französisiert war, während der größte Teil des Volkes nur seine Mundart sprach. Das ganze öffentliche Leben, sowohl in der Wallonie als auch in Flandern, war französisch ausgerichtet. Französisch war die einzige offizielle Sprache der Behörden, der Armee, 2 des Gerichts und sogar der Schule. Es kann hier, aus Platz2

In einem Dekret der vorläufigen Regierung des neuen Belgien („Voorlopig bewind") vom 26. 10. 1830 (Art. 3) wurde festgestellt „Die französische Sprache ist die in Belgien am weitesten verbreitete, und daher die einzige, die für Befehle [in der Armee] verwendet werden soll" [„la langue française étant la plus généralement répandue en Belgique, sera la seule employée dans les commandements"].

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gründen, leider über die Ursachen dieser Entwicklung nicht mehr als das oben Erwähnte gesagt werden. Allerdings faßt Baetens Beardsmore (1980, 147) 3 die Lage klar zusammen, wenn er feststellt: daß im flämischen Teil Belgiens, das mit dem Französischen verbundene Prestigemoment zu einer sog. doppelten Sprachgrenze führte, d. h. zu der Trennung des Nordens vom Süden durch geographische Gegebenheiten kam innerhalb des niederländischen Gebiets und der Hauptstadt eine Teilung durch die sozioökonomisch bedingte Sprachgrenze hinzu. In diesem Gebiet war ein sprachliches Umschalten vom Niederländischen zum Französischen Voraussetzung für sozialen Aufstieg, was die Entstehung einer von der Masse des Volkes entfremdeten Elite zur Folge hatte.

Das trifft auf die deutschsprachigen Gebiete genauso wie auf die niederländischsprachigen zu. Im übrigen gehörten 1831 noch die ganze Provinz Limburg und das Großherzogtum Luxemburg zum Königreich Belgien (erste Fassung). Somit gab es zu dieser Zeit ungefähr 250.000 deutschsprachige Belgier. 1839 mußte Belgien, um seine Unabhängigkeit von den Großmächten anerkannt zu bekommen, auf einen Teil der Provinz Limburg und einen Teil von Luxemburg verzichten. Gemäß dem „Londoner Protokoll" kehrte der limburgische Teil an die Niederlande zurück, der deutschsprachige luxemburgische Teil wurde zum unabhängigen „Großherzogtum", allerdings mit Ausnahme von fünf Dörfern, die später „Altbelgien Süd" bildeten. 4 Die deutschsprachigen Belgier hatten dadurch auf einmal vier Fünftel ihres Umfangs verloren und waren auf 50.000 reduziert worden. 3.2.4 Von Anfang an bildete sich in Flandern, mit der sogenannten Flämischen Bewegung, eine Gegenbewegung, der es, nicht ohne Mühen und Auseinandersetzungen, nach mehr als einem Jahrhundert schließlich gelang, dem Niederländischen in Belgien seinen angestammten Platz zurückzugewinnen. Erst 1898 wurde das sog. Gleichheitsgesetz („Gelijkheidswet") verabschiedet, das (allerdings zuerst vor allem theoretisch) Französisch und Niederländisch zu den zwei gleichrangigen Amtssprachen Belgiens bestimmte. Die großen Erfolge der flämischen Bewegung sind dann jedoch erst im 20. Jahrhundert zustande gekommen. Entscheidend war das sog. „Territorialitätsprinzip", das vom kanadischen Historiker Val Lorwin (1972, 398/399) so beschrieben wurde:

3 4

Zitiert nach Willemyns (1981, 41). Héraud (1989, 32) sagt dazu: „Wenn man bei der Teilung Luxemburgs 1839 etwas sorgfältiger vorgegangen wäre, hätte der ganze Streifen dem Großherzogtum zugesprochen werden können".

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Deutsch in Belgien im 19. J a h r h u n d e r t

Flandern und die Wallonie wurden offiziell einsprachig. Belgien akzeptierte in der Regelung der Sprachenfrage eine Lösung, vergleichbar mit jener, die der Religionsfriede von Augsburg 1 5 5 5 Deutschland in religiösen Fragen geboten hatte. Z u m entscheidenden Prinzip wurde die territoriale Zugehörigkeit zu einem bestimmten G e b i e t , d. h., eine Art von cuius regio, eius lingua.

In dieser Situation war die deutsche Sprache eigentlich doppelt benachteiligt. Einerseits weil sie, genau wie das Niederländische, bewußt in den Hintergrund gedrängt wurde, andererseits weil die Gruppe der Deutschsprachigen 1839 um 8 0 % reduziert worden war und also nun auch zahlenmäßig nur noch eine sehr geringe Rolle spielte. Es hat kaum je eine der Flämischen Bewegung mehr oder weniger ähnliche „deutsche" Bewegung gegeben. 5 Die Änderungen in Status und Funktion des Deutschen, die es vor allem im 20. Jahrhundert gegeben hat, waren eine Folge von politischen Änderungen im ganzen Lande, die direkt oder indirekt die deutschsprachige Gemeinschaft betrafen, von ihr aber kaum mitbestimmt wurden. In der zur damaligen Zeit als sehr liberal geltenden belgischen Verfassung (1831) wurde der Sprachenfrage überraschend wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Artikel 23 lautete: D e r G e b r a u c h der in Belgien gesprochenen Sprachen ist frei; er d a r f nur durch Gesetz und allein für Handlungen der öffentlichen G e w a l t und für Gerichtsangelegenheiten geregelt w e r d e n . 6

Diese lakonische Formulierung ermöglicht eigentlich alles; beabsichtigt war damit, vor allem eine möglichst große Freiheit des Sprachgebrauchs zu garantieren. In einer Situation in der de facto Französisch die einzige Amtssprache war, konnte das nur eine „Freiheit" im Sinne Jean Baptiste Henri Lacordaires ( 1 8 0 2 — 1 8 6 1 ) 7 sein und nur dazu führen, daß die

5

Z w a r gründeten G o t t f r i e d Kurth 1 8 9 2 den „Deutschen Verein" zur Hebung und Pflege der Muttersprache im deutschredenden Belgien und Heinrich Bisschoff 1 9 0 5 in M o n t zen den „Deutschen Verein" für die Provinz Lüttich (Pabst 1 9 7 9 , 2 4 ) , a b e r zu großartigen politischen Erfolgen haben diese nie geführt und „es wurde die

beabsichtigte

Gleichstellung im Sinne der französisch-niederländischen Gleichstellung in Belgien nicht erreicht" (Neide 1 9 7 9 a , 2 9 ) . 6

„L'emploi des langues usitées en Belgique est facultatif: il ne peut être réglé que par la loi, et seulement pour les actes de l'authorité publique et pour les affaires judiciaires". D a es diesen Artikel i m m e r noch gibt (jetzt allerdings unter Art. Nr. 3 0 ) , haben wir hier den offiziellen deutschen Wortlaut der jetzt gültigen Verfassung (1993) ü b e r n o m m e n .

7

„ E n t r e le pauvre et le riche, le faible et le fort, c'est la liberté qui opprime et la loi qui a f f r a n c h i t " [„Wo A r m e Reichen gegenüber stehen, und S c h w a c h e Starken gegenüber, unterdrückt die Freiheit und befreit das G e s e t z " ] (zitiert nach Ruys 1 9 7 5 ) .

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Hegemonie der französischen Sprache aufrechterhalten blieb. Sowohl das Niederländische (immerhin auch damals schon die Sprache der Mehrheit der belgischen Bevölkerung) als auch das Deutsche wurden de facto zu zweitrangigen Sprachen reduziert bzw. blieben es, und zwar nicht nur auf der nationalen Ebene des belgischen Staates, sondern manchmal auch auf der regionalen Ebene, wo diese Sprachen ihren Ursprung haben. Es handelte sich hier um eine gezielte Politik, die beabsichtigte zu verhindern, daß die niederländische Mehrheitssprache einen dem Französischen mehr oder weniger gleichrangigen Amtsstatus bekommen würde. Selbstverständlich wirkte das auch zuungunsten des Deutschen, das 1831 (in dem Jahr also, in dem die Verfassung verabschiedet wurde) immerhin für ungefähr 250.000 Belgier die Muttersprache war. Das Schicksal des Deutschen in Belgien war im übrigen dem des Niederländischen immer eng verbunden. Im 19. Jahrhundert hat das vor allem Nachteile gebracht, im 20. Jahrhundert dagegen dafür gesorgt, daß eine kaum mehr für möglich gehaltene Entfaltung eingetreten ist. Wie gezielt im 19. Jahrhundert allerdings die Diskriminierung der niederländischen und der deutschen Sprache war, läßt sich an Hand einiger vielsagender Zitate demonstrieren: — In einem Dekret vom 26. 11. 1830 der „Vorläufigen Regierung" wird das Französische zur einzig offiziellen Verwaltungssprache bestimmt. Interessant ist vor allem die „Begründung", die hier vertretbar machen müßte, warum gerade die Sprachen der Bevölkerungsmehrheit nicht berücksischtigt wurden: Da sowohl die niederländische als auch die deutsche Sprache, die bei Einwohnern bestimmter Ortschaften Verwendung findet, von Provinz zu Provinz und manchmal von Kanton zu Kanton unterschiedlich ist, ist es unmöglich, einen offiziellen Text von Gesetzen oder Beschlüssen auf Niederländisch oder auf Deutsch abzufasssen (Peeters 1930, xiv).s

— Wenn die Mehrheitssprachen als Sprachen, „die bei Einwohnern bestimmter Ortschaften Verwendung finden", bezeichnet werden, erübrigt sich eigentlich eine weitere Erklärung dieser negativen Absicht. Es genügt auch wohl darauf hinzuweisen, daß in den voran-

„ Considérant d'autre part que les langues flamande et allemande, en usage parmi les habitans de certaines localités, varient de province à province, et quelquefois de district à district, de sorte qu'il serait impossible de publier un texte officiel des lois et arrêtés en langues flamande et allemande".

Deutsch in Belgien im 19. Jahrhundert

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gegangenen 15 Jahren die Gesetze alle auf Niederländisch abgefaßt und veröffentlicht wurden. Was wirklich beabsichtigt war, wurde von dem späteren Premierminister Belgiens, dem Wallonen Charles Rogier, 1832 in einem Brief an den Innenminister Raikem ohne irgendwelche Hemmungen folgendermaßen erklärt: Die Effizienz einer Verwaltung basiert darauf, daß sie in einer einzigen Sprache geführt wird und es liegt auf der Hand, daß diese einzige Sprache der Belgier Französisch sein muß. Um dieses Ergebnis zu erreichen, ist es unentbehrlich, daß alle Ämter der Zivilund der Militärverwaltung ausschließlich Wallonen und Luxemburgern vorbehalten werden; auf diese Weise werden sich die Flamen, da sie zeitweilig auf die Vorteile solcher Ämter werden verzichten müssen, gezwungen sehen, Französisch zu lernen und somit wird es uns gelingen, den germanischen Bestandteil in Belgien allmählich zu vernichten (Peeters 1930, xiv) 9 (Mit Luxemburgern sind hier allerdings die Einwohner des französischsprachigen Teils Luxemburgs gemeint).

3.2.5 In der langen Phase bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges drang das Französische nicht nur in die öffentliche Praxis vor, auch die soziale Oberschicht machte es mehr und mehr zu iher eigenen Sprache. Als 1914 die Besatzungsbehörden Deutsch als Amtssprache in Altbelgien einführten, reagierte die Bevölkerung heftig: Die bisherige langsame Entfremdung vom Deutschen steigerte sich in einer patriotischen Welle zu einer ausgeprägten Abwehrhaltung. Mit dem Versailler Friedensvertrag erhielt Belgien die heutigen östlichen Kantone Eupen, St. Vith und Malmédy zugesprochen, die seit dem Wiener Kongreß Bestandteil der preußischen Rheinprovinz gewesen waren. Dieser als Neubelgien bezeichnete Raum war jedoch nicht rein deutschsprachig, denn der Kanton Malmédy umfaßt 6 wallonische Gemeinden. Hier hatte Preußen zunächst ein ausgedehntes Zweisprachigkeitsregime eingeführt, dieses jedoch ab der Jahrhundertwende zunehmend zugunsten des Deutschen eingeschränkt (Verdoodt 1968, 28 ff.). In der nachfolgenden Tabelle haben wir versucht zusammenzufassen, wie sich die Situation im „langen 19. Jahrhundert" verändert hat. Plus und Minus zeigen an, ob das betreffende deutschsprachige Gebiet in der angegebenen Zeit zu Belgien gehörte oder nicht. 9

„Les premiers principes d'une bonne administration sont basés sur l'emploi exclusif d'une seule langue et il est evident que la seule langue des Belges doit être le français. Pour arriver à ce résultat, il est nécessaire que toutes les fonctions, civiles et militaires, soient confiées à des Wallons et des Luxembourgeois; de cette manière, les Flamands, privés temporairement des avantages attachés à ces emplois, seront contraint d'apprendre le français et l'on détruira ainsi peu à peu l'élément germanique en Belgique".

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Roland Willemyns/Helga Bister-Broosen

1.

bis 1794:

die „österreichische" Zeit

2.

1794-1814

die „französische" Zeit

3.

1814-1830

„Verenigd Koninkrijk der Nederlanden"

4.

1831-1839

„Königreich Belgien — erste Fassung"

5.

1839-1919

„Königreich Belgien — zweite Fassung"

6.

1919-

„Königreich Belgien — dritte Fassung"

1 Altbelgien 1 0 Luxemburg Neubelgien

+ + +

2

+ + +

3

+ + —

4

+ +

5

6



+

_ 12





4. Die Weiterentwicklung

4.1 Die Situation in Neubelgien Wie schon oben erwähnt gehört Neubelgien seit 1918 zu Belgien. Weil aber dieses rein deutschsprachige Gebiet ohne irgendwelche Autonomie oder Sprachschutz dem französischsprachigen Teil Belgiens einverleibt wurde, hatte das Französische sich bald einen wichtigen Platz als Verwaltungssprache erobert. Wie es oft der Fall ist, hat der soziale Druck zur Französisierung oder zumindest zur Zweisprachigkeit bei bestimmten Gruppen und Schichten geführt. Mitverantwortlich war natürlich auch die besondere Rolle des Deutschen als Sprache des Feindes im gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg und die sich daraus ergebende delikate Position der Ostkantoner (Doepgen 1966). Die ungefähr 6 0 . 0 0 0 Einwohner haben aber später vom Sprachenkampf der Flamen mitprofitiert, indem ihr Gebiet infolge der Verfassungsänderungen autonom und somit offiziell deutschsprachig geworden ist. Es könnte schon stimmen,

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Die Bezeichnungen „Alt-und Neubelgien" sind für das 19. Jahrhundert an sich natürlich Anachronismen, aber wir haben gemeint, sie der Klarheit wegen, trotzdem verwenden zu können.

11

Verbunden mit Gebietseinschränkung.

12

Ab hier ist mit „ L u x e m b u r g " das Großherzogtum gemeint. Der deutschsprachige Teil wird ab jetzt zu „Altbelgien" gerechnet und „Altbelgien-Süd" genannt.

Deutsch in Belgien im 19. Jahrhundert

81

wenn manchmal gesagt wird, daß die Deutschsprachigen dieses Gebietes die am besten geschützte und gesicherte Sprachminderheit Europas sind. Sie haben tatsächlich ein eigenes Parlament und sogar eine eigene Regierung, genau wie die flämische und die wallonische Regierung, und sind mit den gleichen Zuständigkeiten ausgestattet (Héraud 1989). Daß es diese Stellung gibt, hat wohl viel mit der Tatsache zu tun, daß das Land, dem sie zugeschlagen wurden, schon ein zweisprachiges war und daß die deutschsprachige Bevölkerung sozusagen von den Rechten, die sich die Flamen allmählich erkämpft hatten, mitprofitiert hat. Man kann heute davon ausgehen, daß die meisten objektiven Gründe für einen Sprachwechsel aus dem Wege geräumt sind. Bei bestimmten Leuten ist allerdings die Kenntnis des Französischen unentbehrlich, weil die Ostkantone in der Wallonie eingebettet sind und enge ökonomische Beziehungen zu diesem Land haben. Bei manchen Angehörigen der höheren Schichten gilt Französisch immer noch als Statussymbol, und viele Intellektuelle sind übrigens dreisprachig: Deutsch, Französisch, Niederländisch. Eupen und Sankt Vith bilden seit der Sprachengesetzgebung von 1963 und seit der Verfassungsreform von 1970 „die deutsche Sprachgemeinschaft" Belgiens. In den neun Gemeinden des offiziellen deutschen Sprachgebiets gibt es aber Schutzmaßnahmen für die französischsprechende Minderheit (zumeist „Erleichterungen" genannt); eine gewisse Zweisprachigkeit ist also möglich, die Landessprache behält indessen den Vorrang (Héraud 1989). Umgekehrt gibt es in Malmédy und Weismes, das ebenfalls 1918 von Belgien annektiert wurde, aber von jeher wallonischsprachig und jetzt Teil des französischen Sprachgebiets Belgiens ist, „Erleichterungen" für die 2 0 % starke deutsche Minderheit (Persoons/Versele 1980). Eupen-Sankt Vith bildet einen Teil der Provinz Lüttich (Wahlbezirk Verviers) und somit der „Region" Wallonie. Als solches aber bildet das Gebiet die „Deutschsprachige Gemeinschaft". Der Sitz des „ R a t e s " und der Regierung (die „Exekutive") ist Eupen. Eupen-Sankt Vith zählt 65.086 Einwohner auf 867 qkm, davon schätzungsweise 5 % zugezogene Französischsprachige. Malmédy und Weismes haben 15.754 Einwohner (Héraud 1989). Die „Deutschsprachige Gemeinschaft" ist vom rechtlichen Standpunkt aus den flämischen und französischen Gemeinschaften gleichberechtigt. Die Gemeinschaft verfügt über einen Rat mit 25 Mitgliedern, die unmittelbar von den Wahlberechtigten der Gemeinden des offiziellen deutschen Sprachgebietes gewählt werden. Die Amtszeit beträgt vier

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Roland Willemyns/Helga Bister-Broosen

Jahre. Der Rat beschließt in voller Unabhängigkeit, mittels Verfügungen („Dekrete" genannt), über die Zuständigkeitsbereiche, die der Gemeinschaft zugeteilt wurden. Er wählt eine Gebietsregierung von drei Mitgliedern, die die Dekrete in Erlasse überführt und die Gemeinschaftspolitik gestaltet und koordiniert. Die Eingliederung der deutschsprachigen Gemeinschaft in den Teilstaat (Region) Wallonie hat zu einem Abkommen geführt, wonach die „Gemeinschaft" an der Verwaltung der Region, insofern es das Gebiet von Eupen-Sankt Vith betrifft, beteiligt wird. In Eupen-Sankt Vith ist Deutsch natürlich interne Verwaltungssprache und mit dem Französischen Verwaltungssprache für alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Öffentliche Bekanntmachungen sind zweisprachig, das Deutsche hat allerdings den Vorrang. Die Ortsnamen sind deutsch (Héraud 1989). Angesichts der Zukunft der Ostkantone hat es dort sehr lange Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, wie man sich zur Wallonie zu verhalten hat und wie man sich sprachlich benehmen sollte. Einige tendierten in Richtung der sogenannten „Integrationisten", die davon ausgehen, daß Neubelgien de facto ein Teil der „wallonischen ökonomischen Region" ist, und vor allem betonen, daß Französisch sowohl für die Berufsausbildung und -tätigkeit als auch für den gesellschaftlichen Aufstieg lebenswichtig sei. Für die sogenannten „Autonomisten" dagegen ist das Wichtigste, die deutsche Sprache und Kultur in einem multilingualen. Staat aufrechtzuerhalten und zu fördern. Gegen das Argument der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Wallonie wird angeführt, daß es hier sowieso um eine unnatürliche Bindung gehe und daß Neubelgien sich vor allem bemühen müsse, eigene Strukturen auszubilden, und zwar vor allem, indem nicht nur die sprachlichen, sondern, was noch wichtiger ist, auch die wirtschaftlichen Verbindungen zu Deutschland verstärkt werden (Héraud 1989). Allerdings haben mittlerweile, wie so oft, die Abkommen über die Einrichtung des Staates zwischen Flamen und Wallonen den Ostbelgiern die Entscheidùng vorweggenommen. Die Föderalisierung des Landes und die Entwicklung Ostbelgiens zur eigenständigen Einheit innerhalb Belgiens haben die „autonomistische" Lösung zur einzig möglichen gemacht.

4.2 Die Situation in Altbelgien Die Gesamtbevölkerung der deutschsprachigen Gebiete Altbelgiens kommt ungefähr der von Eupen-Sankt Vith gleich, umfaßt also auch

Deutsch in Belgien im 19. Jahrhundert

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ungefähr 60.000 Menschen. Lediglich die Hälfte davon soll noch gelegentlich Deutsch bzw. einen deutschen Dialekt benutzen. Im Gegensatz zu den „Ostkantonern" oder Neubelgiern haben die Deutschen Altbelgiens keinen rechtlichen Schutz und sie unterscheiden sich sogar voneinander durch ihren staatsrechtlichen Sprachstatus (Héraud 1989). Außerdem war dieses Gebiet seit der belgischen Zeit einem Französisierungsprozeß ausgesetzt, der nicht nur dafür gesorgt hat, daß die Kultursprachfunktionen allmählich von der französischen Hochsprache übernommen wurden, sondern auch, daß Französisch immer mehr zum täglichen Kommunikationsmittel der Bevölkerung wurde (Goossens 1975). Als dann die Ostkantone autonom wurden und Deutsch dort zur offiziellen Sprache wurde, war die Französisierung Altbelgiens schon so weit fortgeschritten, daß die Dörfer dieser Gegend nicht dem deutschsprachigen Gebiet zugeteilt wurden und dies eigentlich auch nicht mehr wollten. Somit ist heute Altbelgien offiziell französischsprachig. Das Hochdeutsche verschwand mehr und mehr, und auch der Zweite Weltkrieg mit der Angliederung an das Reich und mit den Folgen des Nationalsozialismus hat der Position der deutschen Sprache einen schweren Schlag versetzt. Die Nazizeit wurde in Neu- und in Altbelgien ganz unterschiedlich verkraftet. Schon eine Woche nach dem deutschen Angriff auf Belgien, am 18. Mai 1940, wurden die damaligen preußischen Bezirke Eupen und Malmédy ohne irgendwelche Sonderverwaltung per Führererlaß sofort und vollständig in die ordentliche Reichsverwaltung übernommen. Die meisten Teile Altbelgiens wurden miteinverleibt. Diese „Rückkehr ins Reich" war in der Zwischenkriegszeit durch eine sehr aktive und von Deutschland finanziell unterstützte Heimatbewegung („Heimattreue Front" genannt) immer wieder gefordert worden. Der deutsche Einmarsch löste in Neubelgien eine mehrheitlich freudige Reaktion aus und die „Wiedereingliederung" wurde bestimmt auch von vielen Leuten, die nicht nationalsozialistischer Gesinnung waren, anfangs als positiv und erfreulich betrachtet. Im altbelgischen Gebiet dagegen stießen die deutschen Soldaten bei der „Annexion" nur auf Ablehnung und später auch Widerstand (Schärer 1975). Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich die Französisierung also fast unbehindert durchgesetzt, und zwar auf die gleiche Art und Weise, wie uns aus vielen soziolinguistischen Studien über den Sprachwechsel bekannt ist, d. h. daß in den städtischen Bereichen die Sprache eher verschwand als in den ländlichen, in den oberen Schichten und bei jüngeren Leuten eher als in den unteren Schichten und bei älteren Leuten und daß

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auch in der Domänenverteilung bestimmte Muster erkennbar sind. Zuerst verschwand die Sprache aus den öffentlichen Domänen (Verwaltung, Wirtschaft, Schule, Kirche [...]) und nach und nach auch aus den sog. semi-offiziellen Bereichen (Arbeitssphäre, Medien [...]). Obwohl Hochdeutsch in der Kirche gelegentlich noch Verwendung findet, ist in Altbelgien Deutsch aus den genannten Domänen fast völlig verschwunden. Nur in der Privatsphäre findet die Sprache bei bestimmten Leuten unter bestimmten Bedingungen noch eine beschränkte Verwendung. Trotzdem könnte man schon den Pessimismus von Barbour/Stevenson (1990, 225 — 227) teilen, die vorhersagen: The process of Frenchification, initiated after the Second World War, has clearly downgraded the status of German in Old Belgium and [...] it looks as if the linguistic boundary will shift to the east within the next one or two generations.

Dazu muß noch beachtet werden, daß die Einwohner Altbelgiens, auch die Deutschsprachigen, sich kaum gegen diese Entwicklung gewehrt haben bzw. wehren. Das hat mit verschiedenen Dingen zu tun, z. B.: — Es gibt in diesem Gebiet eine so lange Tradition von politischem und sprachlichem Wechsel, daß die Bevölkerung sich wahrscheinlich mehr dafür interessiert, wie sie sämtliche Änderungen verkraften kann, als für die sprachliche Situation an sich; — wie in vielen anderen Gebieten auch, gibt es die Neigung, bzw. wird die Neigung gerne stimuliert, Deutsch mit Deutschland zu assoziieren. Die Besatzung durch Nazi-Deutschland hat zu einer Abneigung geführt, die nachträgliche Schutzmaßnahmen zugunsten der deutschen Sprache verhindert hat; — der Sprachwechsel ist schon so weit fortgeschritten, daß Dörfer und sogar Familien schon längst nicht mehr sprachhomogen sind; außerdem sind die vitalen Kräfte der Gesellschaft, die Oberschicht, die jüngere Generation usw. schon längst französisiert. Wer sollte denn da noch den Kampf um den Spracherhalt bzw. gegen die Französisierung führen?

5. Schlußfolgerungen

Die Entwicklung der Sprachverhältnisse im deutschsprachigen Teil Belgiens zeigt, daß Sprachverlust und Spracherhalt auch hier an erster Stelle

Deutsch in Belgien im 19. J a h r h u n d e r t

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Folgen historischer Entwicklungen sind. Zwar haben wir es mit Prozessen zu tun, in denen die Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt, indem auf Grund sozialer Überlegungen für die eine und gegen eine andere Sprache entschieden wird, aber den Ausgangspunkt bilden immer historische Ereignisse, die den Prozeß des Sprachwechsels überhaupt erst möglich machen. Das unterschiedliche Schicksal der deutschen Sprache in Alt- und Neubelgien ist da wohl ein Musterbeispiel. In Gebietsteilen, die alle zusammengehörten und bis 1815 den gleichen Entwicklungen unterlagen, hat der historische Zufall letzten Endes für total unterschiedliche Ergebnisse gesorgt. Sowohl die Eroberung durch Truppen der Französischen Republik als auch das Weiterleben in einem im 19. Jahrhundert von der französischen Amtsprache beherrschten Belgien haben in Altbelgien die Voraussetzungen für einen sozial bedingten Sprachwechsel in Gang gesetzt und weiterentwickelt. Neubelgien wurde zu genau dieser entscheidenden Zeit von den anderen Gebieten des „Land van Overmaas" losgelöst, Preußen einverleibt und somit vor einer Entwicklung wie der altbelgischen bewahrt. Trotzdem hätte die erneute Einverleibung durch Belgien ein Jahrhundert später zu einem ähnlichen Sprachwechsel führen können. Zwischen 1920 und 1960 hatte dieser Prozeß übrigens schon angefangen. Es ist die sogenannte „Föderalisierung" Belgiens gewesen, die hier für eine drastische Änderung der Verhältnisse gesorgt hat (Willemyns 1994). Da Flandern und die Wallonie sich für eine politische Entwicklung in Richtung eines Bundesstaates entschieden hatten, die mit der Grundgesetzänderung von 1993 (vorläufig) abgeschlossen wurde, hat Neubelgien sich nicht nur von dem würgenden Einfluß der Wallonie retten können, sondern hat auch die unabhängigen Institutionen erhalten, die es ihm ermöglichen, künftig selber sein sprachliches Schicksal zu bestimmen und die Aufrechterhaltung der deutschen Muttersprache zu sichern. Auch hier hat wieder der historische „Zufall" eine bestimmende Rolle gespielt: Die Einwohner Neubelgiens haben weder diese Entwicklung selbst herbeigeführt, noch wurden sie um ihr Einverständnis gefragt. Die „rettende" Entscheidung haben sie nur der Tatsache zu verdanken, daß Flamen und Wallonen ein Gesetz über die Änderung der politischen Strukturen verabschiedet hatten, die sie für sich, und keineswegs für die Neubelgier, als die angebrachteste betrachtet haben. Die getrennte Entwicklung hat allerdings dazu geführt, daß in Altbelgien der Gebrauch der deutschen Sprache allmählich verschwindet, während er in Neubelgien definitiv gesichert wurde.

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R o l a n d Willemyns/Helga Bister-Broosen

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R o y a l e de T o p o n y m i e et de Dialectologie

LXVI,

ViBEKE WiNGE

Die deutsche Sprache in Dänemark im 19. Jahrhundert. Mit einem Ausblick auf weitere nordische Staaten

1. Voraussetzungen D a s 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem der dänische Nationalstaat entsteht. Als eine Folge von Niederlagen erwächst der Staat, den wir heute als etwas Selbstverständliches empfinden, das Königreich Dänemark mit einer dänischen Kultur und einer dänischen Nationalsprache. Der alte multikulturelle und multilinguale Gesamtstaat mit Norwegen und Schleswig-Holstein war auseinandergebrochen. Aufgrund einer fehlgeschlagenen Politik in den Napoleonischen Kriegen wurde Norwegen 1814 an Schweden abgetreten, und, wieder nach einem verlorenen Krieg, gingen die Herzogtümer Schleswig und Holstein 1864 an Preußen. Diese Dezimierung des Landes ist von erheblicher Bedeutung für das Selbstverständnis der Dänen, für die Art, wie sie sich gerne selber sehen, und die Art, wie sie Fremde, und vor allem die Deutschen, sehen. Der Deutsche (ein recht diffuser Begriff, der sowohl Deutsche allgemein als auch speziell Holsteiner und Preußen bezeichnen kann) wird nach einer kurzen Pause wieder zum Erbfeind, der Schwede, der Erbfeind früherer Jahrhunderte, wird (zusammen mit dem Norweger) zum Bruder erhoben in einem skandinavistischen Rausch, der um 1830 begann und 1864 jäh aufhörte, als die Brüder gegen die Preußen und Österreicher nicht zu Hilfe kamen. Innenpolitisch sind für das 19. Jahrhundert positive Ergebnisse zu verzeichnen. Der Absolutismus wurde 1849 bei einer friedlichen Revolution durch den Parlamentarismus abgelöst, die Industrialisierung schritt voran, und in der Landwirtschaft führten neue Initiativen zu bemerkenswerten Ergebnissen. Obwohl mit der Abtretung der Herzogtümer Schleswig und Holstein ein Fünftel des Landes verloren ging (und

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Vibeke Winge

dies waren die besten landwirtschaftlichen Gebiete), war die wirtschaftliche Lage um die Wende zum nächsten Jahrhundert nicht schlecht. Es ist kein Zufall, daß meine Arbeit zur Geschichte der deutschen Sprache in Dänemark (vgl. Winge 1992) zunächst um 1800 endete. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es möglich, eine sowohl interne wie externe Untersuchung der deutschen Sprache in Dänemark durchzuführen, wenn auch in dem letzten Teil die externe immer mehr in den Vordergrund tritt. Die deutsche Sprache war seit dem Mittelalter mit Einwanderergruppen nach Dänemark gekommen und in jedem Fall war es möglich, die Herkunft dieser Einwanderer festzustellen und die von ihnen mitgebrachte Varietät des Deutschen zu analysieren, zunächst Mittelniederdeutsch lübischer Prägung, dann Frühneuhochdeutsch ostmitteldeutscher Prägung, das dann wie im eigentlichen deutschsprachigen Raum die Grundlage für sowohl das Deutsche in schriftlicher wie in mündlicher Form bildete. Eine Analyse metasprachlicher Quellen zeigt, welche sozialen Gruppen die deutsche Sprache benutzten, sie beschreibt ihre Sprachgewohnheiten, das Prestige des Deutschen sowie Beispiele von Dibzw. Triglossie. Noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch war Dänemark ein multilingualer Staat. Im 19. Jahrhundert ändert sich die Lage im eigentlichen Königreich radikal. In der Verwaltung wird die deutsche Sprache nur noch in Angelegenheiten, die die Herzogtümer Schleswig und Holstein betreffen, verwendet. Die deutschsprachige Oberschicht hat das Land verlassen, ganz oder teilweise deutschsprachig sind nur noch untere soziale Schichten, die wenig schreiben. Sprachinterne Untersuchungen können nur wenig erbringen. Interessant für interne Analysen sind nur Untersuchungen der Sprache bestimmter Gruppen von Handwerkern und des Rotwelschs der jütischen Zigeuner (Tater). In beiden Fällen geht es mehr um Untersuchungen von Mischsprachen als um die deutsche Sprache. Weiter können Untersuchungen des Dänischen in bezug auf Entlehnungen die Folgen des jahrhundertlangen Kontakts mehr als deutlich belegen. Externe Untersuchungen können die sozialen Gruppen ermitteln, die immer noch die deutsche Sprache (bzw. Mischsprachen) verwenden. Metasprachliche Quellen können nach wie vor über Sprachgewohnheiten informieren, über das Prestige des Deutschen, die Rezeption des Deutschen und der deutschen Kultur überhaupt, über die (jetzt überwiegend negative) Haltung gegenüber dem Deutschtum, nachdem es im 18. Jahrhundert die Sprache des Erbfeinds geworden war. Der jahrhundertelange Kontakt hat Spuren hinterlassen; diese versucht man von der Oberfläche wegzuwischen, unter der Oberfläche sind sie aber überall zu erkennen, nicht zuletzt im Kern der dänischen Sprache selbst (s. u.).

Die deutsche Sprache in Dänemark im 19. Jahrhundert

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Die folgenden Ausführungen sind erste Ansätze zu der schwierigen Aufgabe, die Geschichte einer Sprache in einem ehemals multilingualen Land, in dem diese Sprache inzwischen eine (noch dazu unbeliebte) Fremdsprache geworden ist, zu Ende zu schreiben. Durch die heftigen nationalen Auseinandersetzungen in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts (vgl. Feldbsek 1991 —1992) w a r eine tiefe Kluft zwischen dem Deutschen und dem Dänischen entstanden. Die Folgen des 1776 erlassenen Indigenatsrechts zeigten sich langsam. Deutsche, die bereits Ämter hatten, konnten im Lande bleiben, viele verließen jedoch das Land, da sie sich nicht mehr wohlfühlten. Holsteiner als Bürger des Gesamtstaats wurden weiterhin zu den Ämtern zugelassen. Welche sozialen Schichten waren im 19. Jahrhundert dann noch deutsch bzw. deutschsprachig? Der Hof versuchte, nicht zuletzt nach der Struensee-Affäre, bewußt „dänisch" zu sein. Die zahlreiche deutsche Verwandtschaft wurde nicht mehr so oft eingeladen. Die hohen Adligen aus den ehemals führenden Familien (Reventlow, Bernstorff etc.) traten vielfach in preußische Dienste oder zogen sich auf ihre Herrenhöfe im deutschsprachigen und deutschgesinnten Holstein zurück. Bürgerliche deutscher Abstammung, die in den Diensten dieser Familien gewesen waren, verließen mit ihnen das Land. Dies geschah vor allem in den Jahren 1800 — 1820. In anderen bürgerlichen Familien vollzog sich mit dem Generationswechsel ebenfalls ein Sprach- und Gesinnungswechsel, ζ. B. in der Familie Lehmann (der berühmte Politiker Orla Lehmann wurde der glühendste Nationalist und Skandinavist). Beamte aus den Herzogtümern, die in Kopenhagen verpflichtet waren, bildeten bis zur Abtretung 1864 eine eigene deutschsprachige Schicht in der Hauptstadt. Deutsch- bzw. mischsprachig blieben so auf die Dauer nur Handwerker und Arbeiter, unter den Bauern im eigentlichen Königreich waren nie Deutsche gewesen. Die Bedeutung und der soziale Status der deutschen Bevölkerungsschichten lassen sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit den vorhergehenden Jahrhunderten vergleichen. Diese bildeten jetzt eine kulturell unbedeutende Mittelschicht, eine Minorität, während sie früher in jeder Sozialschicht führende Positionen innegehabt hatten. Die geschlossenen deutschen Kolonien im Lande verloren ebenfalls im Laufe des Jahrhunderts immer mehr an kultureller und sprachlicher Eigenart. Am besten hielten sich bis ins 20. Jahrhundert die Herrnhuter in Christiansfeld, während sich die „Kartoffeldeutschen", im 18. Jahrhundert eingewanderte pfälzische Bauern auf der jütischen Heide, assimilierten und 1870 ihre deutsche Kirchensprache aufgaben. An diese

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Kolonie erinnern heute nur noch N a m e n . Bei den Reformierten in Fredericia wurde der Gottesdienst zunächst abwechselnd in deutscher und französischer, ab 1823 ausschließlich in deutscher Sprache gehalten. Nach den Kriegen 1848 und 1864 gab man das Deutsche als Kirchensprache und Umgangssprache überhaupt auf. Die ursprünglich niederländischen Amager-Bauern hielten an ihren Sitten fest, gaben aber im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre eigenartige Mischsprache aus Niederländisch, Niederdeutsch, Hochdeutsch und Dänisch auf. An diese Kolonie erinnern noch viele Personennamen. Die dänischen Juden lernten im Zuge der Assimilierung Dänisch. Aus den Werken jüdisch-dänischer Schriftsteller geht jedoch hervor, d a ß eine Reihe jiddischer Vokabeln im Gebrauch war. In Jütland gab es noch bis Ende des 19. Jahrhunderts große unbewohnte Heideflächen, auf denen Scharen von sogenannten „Fahrenden" (dän. Tater, nd. Tater) lebten. Diese hatten ihre eigene Geheimsprache, die in diesem Z u s a m m e n h a n g erwähnt werden sollte, da sie unter dem Namen „Rotvadsk" aufgezeichnet wurde (Dorph 1824) und Elemente aus mehreren Sprachen enthält. Die Aufzeichnung dieser Sprache erfolgte, um Juristen und Polizisten bei den Verhören zu helfen, denn ein Drittel der Insassen im Zuchthaus von Viborg waren solche Gauner [Zigeuner, Tater s. u.). Diese hier kurz skizzierte Entwicklung des Rückgangs des Deutschen zugunsten des Dänischen beeinflußt natürlich, wie wir sehen werden, die Quellenlage. Die „dänischen Deutschen" des 19. Jahrhunderts haben nicht viel geschrieben, und über sie wird ebenfalls wenig geschrieben. Sie sind ohne kulturelle Bedeutung und melden sich auch nicht zu Wort in dem nationalen Kampf. Sie sind seit langem in der dänischen Gesellschaft verankert und haben auch zunächst noch keine spezifisch deutsche Identität. Das Verhältnis zwischen Dänisch und Deutsch wird im 19. Jahrhundert durch zwei Tendenzen geprägt: 1. Weitere Koexistenz. Das Leben mit der deutschen Sprache und dem kulturellen Einfluß aus Deutschland geht ungestört weiter. 2. Anti-deutsche M a ß n a h m e n . Der nationale Kampf gegen die deutsche Sprache und deren kulturellen Einfluß wird von immer weiteren Kreisen unterstützt. Bis in die 1840er Jahre halten sich beide Tendenzen ungefähr die Waage, nach den schleswigschen Kriegen und besonders nach 1864

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gewinnen anti-deutsche Gefühle die Oberhand, und alle Schichten bis auf einige kosmopolitische Intellektuelle distanzieren sich von allem, was deutsch ist.

2. Die weitere Koexistenz von Deutsch und Dänisch

Allgemein sind die Deutschkenntnisse in der Bevölkerung immer noch gut, davon zeugen Reiseberichte und autobiographische Aufzeichnungen sowie Belege aus der Literatur, die auf Deutschkenntnisse bei den Personen (und auch beim Leser) anspielen. Zahlreiche Belege aus den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bestätigen die guten Deutschkenntnisse der Dänen in den Städten (weniger auf dem Lande), und daran änderte sich zunächst nichts. Zitate in deutscher Sprache und aus der deutschen Literatur in den Werken dänischer Dichter lassen ebenfalls auf Vertrautheit mit deutscher Sprache und Kultur schließen. Dänische Dichter, Musiker und bildende Künstler bevorzugen zwar immer mehr Italien, sie besuchen aber unterwegs deutsche Sehenswürdigkeiten und Fachkollegen. Prominente deutsche Dichter und Philosophen besuchten auch Kopenhagen. Bis etwa 1835 wird überwiegend deutsche Literatur ins Dänische übersetzt und Übersetzungen aus anderen Literaturen werden nach deutschen Vorlagen gemacht. Deutsche Literaur dominiert den Buchmarkt und deutsche Schauspiele das Theater. Deutsche Schauspielertruppen gastieren mit Erfolg das ganze Jahrhundert hindurch, das Publikum wird also genügend Sprachkenntnisse gehabt haben. Das Repertoire umfaßt sowohl Iffland und Kotzebue, Goethe und Schiller als auch die leichtere Muse, Singspiele wie das „Donauweibchen", das Hans Christian Andersen so tief beeindruckte und sein Interesse für das Theater weckte. Dänische Schauspieler (jedenfalls die des königlichen Theaters) konnten anscheinend mühelos auf deutsch spielen, wenn es angemessen war. 1841 wollte der Kronprinz mit seiner deutschen Braut einer Theatervorstellung beiwohnen. Damit die Braut, die kein Dänisch konnte, von dem Stück etwas verstehen sollte, mußte ein Schauspieler kurzfristig seine Rolle (allerdings als Mecklenburger) auf deutsch spielen (Overskou 1962, 180 f.).

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Schließlich wanderten die Handwerker immer noch hin und her über die Grenze. Die Zünfte standen nach wie vor auch deutschen Gesellen offen. Als die Industrialisierung in Gang kam, war der Anteil der deutschen Arbeiter beträchtlich. So wurde ζ. B. das dänische Eisenbahnnetz mit deutschen Arbeitern gebaut. Die dänische Arbeiterbewegung bekam ihre ersten Anregungen durch den regen Austausch und die Kontakte zwischen deutschen und dänischen Arbeitern. Der Alltag mit Deutsch und Deutschen geht also weiter, eine zunehmende Menge von Lesebüchern, Grammatiken und Wörterbüchern sind aber ein Zeichen dafür, daß Deutsch in Dänemark allmählich eine Fremdsprache geworden ist.

3. Anti-deutsche Maßnahmen

Das stereotype Feindbild des unzuverlässigen, prahlerischen deutschen Schmarotzers, das im Zuge der nationalen Auseinandersetzungen entstanden war, wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas abgeschwächt. Bis zu den Kriegen 1848—1850 ist der Deutsche in der Literatur ein eingebildeter Aufschneider, aber nicht gefährlich, eher dumm, einer den man lächerlich machen kann. Dieses Bild wiederholt sich auch in dem von Volkskundlern gesammelten Material, schriftlichen Aufzeichnungen von mündlich vorgetragenen kleinen Geschichten, Sagen, Berichten und dergleichen über dumme Soldaten oder Handwerker, die aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse des Dänischen (Jütischen) von den schlauen Jütländern zum Narren gehalten werden. Nach der Niederlage 1864 kehrt der alte Erbfeind in der Gestalt des Preußen zurück. Schon in den 1770er Jahren waren als Reaktion auf das Regime des verhaßten deutschen Leibarztes des Königs, Struensee, bewußt anti-deutsche Maßnahmen ergriffen worden: Verordnungen gegen den Gebrauch der deutschen Sprache, sowohl im Königreich als auch, was nicht sehr klug war, in den Herzogtümern Schleswig und Holstein; die Einführung des Dänischen als Unterrichtssprache in Schulen, die früher deutsche Unterrichtssprache gehabt hatten, so in den Ritterakademien und Militärschulen, in der chirurgischen Akademie und in einer Reihe privater Institute. (In den Lehrplänen der Militärschulen hatte Deutsch allerdings noch bis zur Schließung um 1860 eine feste Position).

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Deutsch als Kirchensprache wurde im Laufe des Jahrhunderts in allen deutschen Gemeinden im Lande bis auf zwei in Kopenhagen aufgegeben. Dies ist auch im Zusammenhang damit zu sehen, daß die deutsche Dominanz in der Armee mit der Einführung der dänischen Kommandosprache 1773 und nach dem Verbot gegen Anwerbung 1802 zu Ende ging. Zwei der insgesamt fünf deutschen Gemeinden (die Garnisonskirche und die Kirche der Zitadelle) in Kopenhagen waren speziell für die Armee gewesen. Die Institute, deren Vorsteher die Pastoren an den deutschen Kirchen waren, konnten somit auch nicht überleben. Die Tatsache, daß viele gebildete Adlige und Bürgerliche das Land verließen, führte ferner dazu, daß das Drucken von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen in deutscher Sprache, das früher ein gutes Geschäft gewesen war, sich nicht mehr lohnte. Eine neue national ausgerichtete Sprachpolitik wollte den Geltungsbereich des Deutschen beschränken, und mit dem Schulgesetz 1814 wurde die Stellung des Dänischen im Unterrichtswesen erheblich gestärkt. Man hätte sich unmittelbar vorstellen können, daß der nationale Kampf mit dem Auszug des Feindes (zunächst der deutschen Oberschicht) einfach aufhören würde. Der „häßliche Deutsche" war weg, aber ein naher Verwandter, der Holsteiner, füllte die Lücke in der Reihe der Erbfeinde zwischen den Deutschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und den Preußen nach 1864. Als die Kopenhagener Intellektuellen sich in großen und kleinen Fehden ausgetobt hatten, herrschte eine Zeitlang Ruhe in Kopenhagen. Eine deutsch-dänische Auseinandersetzung in den Herzogtümern, primär im deutschsprachigen Holstein beeinflußte jedoch die Stimmung in Kopenhagen. Eine Kombination von dynastischen Verwicklungen und neuen nationalen Ideen, die besonders die Studenten an der Kieler Universität begeisterten, verstärkte die schon vorhandenen Spannungen zwischen den Herzogtümern und der Hauptstadt. Der dänische König versuchte einen schwierigen Balanceakt zugunsten des weitgehend dänischsprachigen Herzogtums Schleswig. Mit einer Reihe von mehr oder weniger strikt durchgeführten Sprachreskripten zwischen 1807 und 1840 wollte man die Rolle des Dänischen als Kirchen-, Schul- und Gerichtssprache stärken. 1811 wurde ein dänischer Lehrstuhl an der Universität Kiel eingerichtet. Der erste Professor, der dänische Dichter Jens Baggesen verließ vorzeitig den Lehrstuhl, weil ihm das „rauhe, wilde, grobe Plattdeutsch" (gemeint sind eher die Menschen als die Sprache) mißfiel (Skalberg 1933, 53). Die Holsteiner und ihre Unabhängigkeitsbestrebungen ärgerten die

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Kopenhagener, und holsteinische Beamte, die dienstlich in der Haupstadt sein mußten, fühlten sich unwohl. Die anti-deutschen Gefühle, die die gebildete Bürgerschicht in den 1780er und -90er Jahren durch zahlreiche polemische Schriften erzeugt hatte, erreichten immer weitere Kreise in der Bevölkerung. Der Sieg in den Schleswigschen Kriegen 1848 — 1850 versetzte die Dänen in einen nationalistischen, anti-deutschen Rausch, der verlorene Krieg 1864 dagegen hinterließ eine anti-deutsche Bitterkeit, mit der wir uns ζ. T. heute noch auseinandersetzen. Der literarische Nationalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte sich zu einem politischen Nationalismus entwickelt und wurde von den Politikern und von bedeutenden Kulturpersönlichkeiten wie vor allen dem Dichter und Theologen Nikolai Frederik Severin Grundtvig an das Volk weitervermittelt. Während die Deutschen sich für die gemeinsame nordische Vergangenheit begeisterten, wollten die Dänen ihre nordischen Götter für sich behalten und bestritten jede Verwandtschaft mit dem südlichen Nachbarn. Die neue Bruderschaft mit Norwegen und Schweden, der Skandinavismus war auch eine heftige anti-deutsche Bewegung. Über die Befindlichkeiten der Deutschen, die nach den nationalen Auseinandersetzungen in Kopenhagen und anderen Städten geblieben waren, wissen wir nicht viel. Wie oben erwähnt, waren es Leute, die sich kaum zu Wort meldeten und über die auch nicht geschrieben wurde. Auf der Grundlage einer ungedruckten Magisterarbeit der Universität Göttingen (Snell 1992) kann folgendes zusammengefaßt werden: Durch ihre aggressive Kritik versuchten die dänischen bürgerlichen Intellektuellen um 1790, die Deutschen auszugrenzen. Dadurch wurden die Angehörigen des deutschen Bevölkerungsanteils zum ersten Mal gezwungen, sich mit der Frage ihrer nationalen Identität auseinanderzusetzen. Eine solche hatte es vorher nicht gegeben. Was sie gemeinsam hatten, war nicht die deutsche Nationalität, sondern die deutsche Kultur, der sich die dänische Oberschicht auch angeschlossen hatte. Somit hatten die Deutschen keine Motivation, sich der dänischen Kultur anzupassen. Die deutsche Oberschicht zog es vor, das Land zu verlassen, während Teile der bürgerlichen Schichten eine doppelte Identität entwickelten, indem sie immer noch deutsche Institutionen in Anspruch nahmen, während sie sich gleichzeitig mit der dänischen Gesellschaft solidarisierten. Eine deutschsprechende Beamtenfamilie in der Hauptstadt oder ein Handwerksmeister in der Provinz, der in seiner Werkstatt und zu Hause deutsch sprach, wurden weiterhin nicht als eigentlich Fremde im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung aufgefaßt. M i t dem Krieg 1848 änderte sich

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die Lage. Die deutsche Beamtenschicht in Kopenhagen solidarisierte sich weitgehend mit den Aufständischen in den Herzogtümern und verließ Kopenhagen. Deutsche in Kopenhagen waren nur noch Handwerker und Kaufleute. Da diese keinen Zuwachs mehr bekamen, gerieten sie in Isolation, was beispielsweise daran zu erkennen war, daß dänische Bürger nicht mehr die deutschen Institutionen, vor allen die früher so prominente St. Petri Kirche, in Anspruch nahmen. Durch die Ausgrenzung aus der dänischen Gesellschaft, die nach 1864 noch deutlicher wurde, wurden die Deutschen gezwungen, sich auf Deutschland und nach 1870 auf das Deutsche Reich zu orientieren, und erst dann entwickelten sie eine eindeutig deutsche nationale Identität. Das Deutsche, das im 19. Jahrhundert in Dänemark zu hören war, war allgemein eine norddeutsche Umgangssprache, nicht zuletzt aufgrund der Holsteiner, die, wie mehrmals erwähnt, noch bis 1864 Bürger der Monarchie waren. Spuren von Niederdeutsch und Niederländisch lassen sich auch verfolgen. Wie eingangs erwähnt, sind Texte in deutscher Sprache, zum Beispiel aus den Archiven der Herzogtümer, für eine interne Analyse uninteressant. Sie sind genau so normiert wie entsprechende Texte aus dem eigentlichen deutschen Sprachraum. Die deutschen Bevölkerungsschichten schreiben nicht viel und wenn, dann normiertes Hochdeutsch. In den Städten, wo seit Jahrhunderten viele Deutsche gewesen waren, war die gesprochene Sprache vielfach eine Mischsprache. Sie wurde jetzt oft „Holsteinisch-Dänisch" genannt. Vor dem Hintergrund der schleswigschen Kriege ist der Holsteiner eher ein Begriff als der Deutsche. Davon zeugen zahlreiche metasprachliche Zeugnisse in der Literatur und in autobiographischen Aufzeichnungen. Noch nach der Wende zum 20. Jahrhundert sprechen Handwerker, Arbeiter, Barbiere, Juden und, sofern die Handlung vor 1864 spielt, auch Militärs eine Mischsprache: Die Aussprache wird angedeutet ζ. B. mit abweichenden Vokalqualitäten, deutsche Wörter mischen sich mit dänischen, es gibt falsche Wortstellungen usw. Die Anwerbung von Soldaten im Ausland hatte 1802 aufgehört, die Kommandosprache war seit 1773 dänisch, in der Armee waren bis 1864 immer noch Holsteiner, daher konnte sich das stereotype Bild von dem kauderwelschsprechenden Soldaten noch erhalten. Von diesen Personen haben die Handwerker und Arbeiter schriftliche Zeugnisse ihrer Mischsprache hinterlassen. Offiziell schreiben die Zünfte im 19. Jahrhundert generell dänisch, Papiere zum internen Gebrauch, Protokolle, Gesellenbücher, Rechnungen sind noch vielfach mischspra-

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chig. In Dänisch geführten Protokollen finden sich deutsche Wörter, und in einem aus Rücksicht auf deutsche Arbeiter deutsch ausgefertigten Vertrag aus einer Ziegelbrennerei (Schloß Fuirendal, Seeland) schlägt das Dänische durch: [...] ein Brennmeister, eine Bladtschlägerin, ein Leihmwalker [...] bei dem Leihmwalken bekommt derselbe pr.100 Stk. verfertigte Tachsteine 6 Sk. Die Tage, die er beym Walken zubringt, werden ihm in seinen Lohn mit 36 Sk.pr. Tag abgerechnet [...] Leihmtreter, Steinstreicher, noch ein Leihmtreter [...] für jedem Überstreich a 600 Steine, 14 Sk, pr.Trosse Leihm zu graben 12 Sk. (Nielsen 1944, Bd. III, 180)

Inschriften auf Gegenständen im Besitz der Zünfte sind weiterhin deutsch oder mischsprachig: 1843 „Vivat es Leben die Stuhlmacher Gesellen", 1863 „Vivat der Huffschmidt", 1882 „Wivat leben die Nagelschmet", und für die neu Zugewanderten mehrere vom Typ: „Den fremden Zimmergesellen in Kopenhagen Anno 1 8 5 5 " , bzw. „gestiftet den fremden Gesellen" (Stromstad 1976, 45, 47, 49, 65). Eine weitere Mischsprache, auf die ich hier nur kurz eingehen werde, ist das früher erwähnte „Rotwelsch" der Landstreicher auf der jütischen Heide. Die Landstreicher, abwechselnd Tater, Nachtmänner, Fahrende und Gauner genannt, waren neben Zigeunern außerhalb der Gesellschaft stehende Leute, die keinen festen Wohnsitz hatten, gelegentlich als Kesselflicker, Glaser und Schornsteinfeger arbeiteten oder durch Quacksalberei, Diebstahl und Brandstiftung zu Geld kamen. Die Sprache hat viele Namen: Rotwelsch, Gauner-Latein oder Preveliquantsprache (Sprache der Schönredner). Ein kleines Lexikon (Dorph 1824) enthält eine Einleitung über die Herkunft der Sprache, Bemerkungen zur Formenlehre und ein Glossar Rotwelsch-Dänisch, Dänisch-Rotwelsch sowie ein Gespräch zwischen zwei Gaunern. Vergleiche mit ähnlichen Aufzeichnungen der Gaunersprache in dem bekannten Werk von Friedrich Kluge zeigen Parallelen aber auch große Unterschiede, die auf die dänische Umgebung zurückzuführen sein könnten. Der Herausgeber vermerkt (Dorph 1824, IV): Wenn ihnen ein Wort fehlt, nehmen sie das dänische und fügen -taris hinzu. Dies gilt hauptsächlich für Verba und Nomina, Pronomina übernehmen sie normalerweise ungeändert aus dem Dänischen.

Nach seiner Auffassung enthält das dänische Rotwelsch neben dänischen Bestandteilen überwiegend romanische: Galline ,Huhn', Kas ,Haus', Kabes ,Kopf'; deutsche: Feldes ,Feld', Pulver, pumpen-, hebräische: Emmes ,Wahrheit' und griechische: Bolis ,Stadt'. Trotz Distanzierung und Ablehnung „haben wir es mit dem Deutschen wie mit der Erbsünde.

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Wir sind damit geboren", wie es ein dänischer Dichter in den 1790er Jahren formulierte (Rahbek 1824-1829, Bd. III, 231). Der jahrhundertelange enge Kontakt hat dazu geführt, daß das Deutsche in den Kern der dänischen Sprache eingedrungen ist. „Die deutsche Sprache verdrängt allmählich die skandinavische, jedoch langsam wie das Germanische Meer, das allmählich Helgoland verschlingt. Man spürt, wie ein Wort nach dem anderen sich in das Lexikon unserer Muttersprache schleicht und wie ein ursprüngliches Wort nach dem anderen aus der Mode kommt", schrieb in den 1830er Jahren der Dichter P. M. Moller (Moller 1925, 198). Nicht nur über zahlreiche Lehnwörter, auch über deutsche Redewendungen im Dänischen klagen die Puristen des 19. Jahrhunderts. So sei es eine Unsitte, ganze Sätze oder Redensarten in deutscher Sprache mitten in einem dänischen Satz zu verwenden, klagt ein besonders eifriger Purist (Selmer 1861, 30). Deutsches Wortgut hat sich unserer Sprache aufgedrängt. In einem umfassenden puristischen Werk listet er die verwerflichen deutschen Redensarten auf, die zu bekämpfen sind. Daraus ersehen wir, welche deutschen Ausdrücke und Redensarten in der dänischen Sprache noch gang und gäbe waren. Einige Beispiele: daraussen fra, zu guter letzt, Hab' und Gut, Fix oder nix, Wie steht's wie geht's, wahrhaftig, at vcere bei der Hand, Mordt und Totschlag, Viel Geschrei und wenig Wolle, Freylich, Ein loser Vogel, en net Geschichte, Prosit die Mahlzeit, Kommt Zeit, kommt Rat, großmächtig, Bomben und Granaten, Donnerwetter, tage reiß aus, als wie nichts, at gore kratzfuß, unter uns gesagt, leben und leben lassen, mausetot, gefundenes Fressen, von Hörensagen, at vcere herunter, bessermachen, et aberdabei, Mutters ene, verdutzt (Selmer 1861, 189). Lehnwörter, die abgeschafft werden sollten (einige wurden abgeschafft, andere gibt es noch): Busenfreund, Geburtsdag, Krœhwinkler, Liebhaver, Stervbo, Helliggejst, Stratenmver, Oldgesell, valdhorn, probenreuter, knejpe, kukkenbager, isenkrcemmer, katzenjammer, bundsforvant. Ein weiterer Purist (Bogh 1867, 50) erwähnt folgendes: In den 1840er Jahren war es üblich, daß man, um die Deutschen (sicher in diesem Fall Holsteiner) zu verhöhnen, vor jedes mögliche Wort das Präfix ge- setzte. Es gibt und gab früher noch mehr Lehnwörter mit ge- im Dänischen: Gefreiter, gevcer, geheeng, gevorben, gevind, gebyr, gesims, gericht, gelcender, gesvejsninger, geheimrâd, gemak, gesandt, gemalinde, geburtsdag, gebrokken, gevœkst; ge- wird dann fälschlich hinzugefügt (mit einem komischen Effekt) in: geselskabsvest, genikkedukke, gevigtighed, gesvindsot, gevaldhorn, gemyseost, gefjces — und sonderbarerweise

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scheint diese Bildungsweise in den letzten Jahren wieder lebendig: vi skal have en gefugtenheimer. ,wir wollen eins trinken' (laut dansk Sprognsevn ein Charterreiseausdruck). Derselbe Purist beschwert sich weiter darüber, daß um 1840 zusammen mit dem bayerischen Bier das Wort 01Halle sich durchsetzt, und schließlich schimpft er über die schlechten Übersetzungen, die voller Germanismen sind. Germanismen heißen in der Terminologie der Zeit Tyskagtigheder. Dieses Wort ist wiederum eine der neuen Ableitungen zum Stamm tysk ,deutsch' mit negativem Klang, die seit dem Beginn der deutsch-dänischen Auseinandersetzung entstanden sind. Das Verb tyske heißt zunächst,deutsch sprechen', dann ,laut sprechen', dann ,aufschneiden'; weiter germanisieren' und schließlich (überwiegend negativ) ,deutsch geprägt'. Tyskeri = tyskhed ebenfalls negativ, dasselbe gilt für tyskladen, tyskagtig. Nach 1864 werden, nicht unerwartet, die pejorativen Ableitungen zum Stammwort Preußen gebildet. Aber auch ohne den massiven Einsatz von seiten der Puristen verschwinden im 19. Jahrhundert zahlreiche (hochdeutsche) Lehnwörter aus der dänischen Sprache. Nur noch einige Beispiele: anbelange, angenem, besolding, bilager, iversyge, indvaaner, gunstling. Die alten niederdeutschen Lehnwörter bleiben dagegen von den puristischen Bestrebungen verschont, da man sie vermutlich gar nicht als Lehnwörter erkannte (Skautrup 1968, Bd. III, 383, 393)). Im 19. Jahrhundert werden wenig Texte in deutscher Sprache in Dänemark produziert, da der Gebrauch des Deutschen im öffentlichen Verkehr nunmehr sehr beschränkt ist und die übriggebliebenen deutschen Schichten wenig produktiv sind. Die Dänen lehnen das Deutsche allgemein ab, auch wenn sie die Sprache gut beherrschen. Man muß den Einfluß des Deutschen und die Ergebnisse des jahrhundertelangen Kontakts in Bevölkerungsgruppen suchen, die keine normierte Sprache schreiben, ferner in metasprachlichen Äußerungen, die über den Gebrauch des Deutschen und die Haltung zu Deutsch und den Deutschen etwas aussagen, und schließlich in der dänischen Sprache selbst, in Entlehnungen jeder Art. Die erste deutsch-dänische Auseinandersetzung 1789 führt zu einem zwiespältigen Verhältnis zum Deutschen. Man lebt einerseits damit weiter, andererseits wird die Haltung dazu immer negativer. Ab 1850 und ganz besonders nach 1864 kommt es zur strikten Ablehnung und Distanzierung von allem, was deutsch ist, was vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Koexistenz eigentlich nicht natürlich ist. Aber jeder Geschichtsschreiber projiziert von nun an die neuen nationalen Konflikte auf alle früheren Jahrhunderte zurück. Bis ins 20. Jahrhundert bleibt Deutsch jedoch die erste Fremdsprache.

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4. Deutsch in anderen skandinavischen Ländern Die Geschichte des Deutschen in den Nachbarländern war noch nie Gegenstand einer Gesamtuntersuchung. Es gibt jedoch wertvolle Einzelstudien zur Hansezeit und vor allem gibt es auch eine umfangreiche Lehnwortforschung. Norwegen war bekanntlich bis 1814 unter dänischer und 1814—1905 unter schwedischer Herrschaft. Die „dänische" Zeit weist eine Parallele mit Dänemark auf, generell war der deutsche Bevölkerungsanteil in Norwegen wesentlich geringer. Ein Großteil waren Hansekaufleute und Bergleute. Die Einwanderung anderer Gruppen erfolgte über Kopenhagen, es handelte sich fast ausschließlich um Offiziere, und die Kommandosprache war wie in Dänemark deutsch. Mittelniederdeutsche Lehnwörter kamen mit den Kaufleuten ins Norwegische, und späteres Lehngut k a m vielfach mit der dänischen Verwaltung. Die norwegische Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts ist wie die dänische durch einen starken Nationalismus geprägt. Aber dieser hat in Norwegen eine ganz andere Richtung. Der Feind ist jetzt Schweden und zunächst konzentriert sich der Kampf gegen die Einführung des Schwedischen als Verwaltungssprache, was auch gelang. Alle Gesetze sollten in norwegischer Sprache verabschiedet werden. Norwegens Schriftsprache war aber seit dem 16. Jahrhundert Dänisch, und folglich war diese Sprache, die an die jahrhundertelange Abhängigkeit von Dänemark erinnerte, auch nicht akzeptabel. Somit begannen die Bestrebungen, eine vom Dänischen unabhängige norwegische Sprache zu schaffen, die zur Herausbildung des „ L a n d s m a a l " auf der Grundlage von westnorwegischen Dialekten durch Ivar Aasen um 1850 führte. 1885 wurde diese Sprache gleichberechtigt mit der alten dänisch-geprägten „ B o k m a a l " . In diesem heftigen Kampf der Norweger gegen die dänische Vergangenheit und die schwedische Gegenwart spielte das Deutsche keine Rolle. Für norwegische Puristen waren deutsche Lehnwörter vor diesem Hintergrund unwichtig. Auch nach Schweden wanderten im Mittelalter Hansekaufleute und Handwerker ein. Ähnlich wie in Norwegen kommen auch Bergleute. D a s Königshaus und der Adel sind wie in Dänemark vielfach deutsch. Als Schweden im 30jährigen Krieg Großmacht wird und deutsche Gebiete erobert, kommt es zu einer neuen Einwanderung. Die schwedische Sprache hat wie Dänisch und Norwegisch zahlreiche mittelniederdeutsche Lehnwörter (Handwerkersprache, Verwaltung, Rechtssprache),

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und spätere hochdeutsche Entlehnungen (vor allem im Militär und Bergbau). Puristische Bewegungen hat es gegeben, zunächst gegen Französisch und im 19. Jahrhundert gegen deutsche Lehnwörter. Der Kampf scheint nicht sehr heftig gewesen zu sein. Politisch schwierig war zunächst das Verhältnis zu Dänemark, in der neueren Zeit das Verhältnis zu Rußland. Das schwedisch-deutsche Verhältnis war nie so belastet wie das dänisch-deutsche.

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Der deutsch-dänische Sprachkontakt in Schleswig im 19. Jahrhundert. Zur ideologischen Instrumentalisierung von Sprache

1. Einleitung

D a s deutsche Sprachgebiet hat durch seine zentrale Lage in Europa viele Grenzen zu anderen Sprachgebieten. Hierbei kann es sich einerseits um ziemlich scharfe Grenzlinien wie die französisch-deutsche Sprachgrenze in der Schweiz, andererseits — und dies ist eher der Normalfall — um größere oder kleinere Übergangszonen handeln, wo eine deutsche Varietät mit einer oder mehreren nicht-deutschen Varietäten koexistiert, mit anderen Worten, wo diese Varietäten zueinander in Sprachkontakt stehen und es deshalb zwei- bzw. mehrsprachige Individuen gibt. D a s Herzogtum Schleswig, das seit dem Mittelalter ein solches Sprachkontaktgebiet gewesen war, entwickelte sich im 19. Jh. deutlich zu einem Gebiet des Sprachkonflikts, wo Sprache zunehmend — von unterschiedlichen Interessenvertretern — zum ideologischen Instrument politischer Auseinandersetzungen gemacht wurde. Diese Instrumentalisierung von Sprache hat die Bewußtseinslage der dort lebenden Menschen in wechselnden Phasen, besonders aber in der Zeit zwischen den französischen Revolutionen von 1830 und 1848 sowie nach den zwei schleswigschen Kriegen 1848 — 1850 und 1864 auf nachhaltige Weise geprägt, — was im übrigen bis auf den heutigen Tag Spuren hinterlassen hat, wenn diese auch für Außenstehende kaum erkennbar oder schwer nachvollziehbar sein mögen. Im folgenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die äußerst vielschichtigen Hintergründe für die tatsächliche Entwicklung im deutsch-dänischen Sprachkontaktgebiet aufzuzeigen, und zwar an-

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hand der sprachpolitischen Denkanstöße und Eingriffe, die sowohl von „unpolitischer" kultureller als auch von politischer Seite ausgingen. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung und Rezeption von Gedanken des Schleswiger Intellektuellen Christian Paulsen (1798 — 1854), dessen Schriften aufgrund seiner Herkunft und unter dem Einfluß der ideologischen und politischen Großlage im Europa des 19. Jhs. ein eindrucksvolles Bild von der problemreichen Komplexität der Sprachsituation vermitteln. Seine Diskussionsbeiträge verbinden erlebte Wirklichkeit im Sprachkontaktgebiet und intellektuelle Reflexion der Situation und sind daher besonders geeignet, das Thema auf die großen Linien zu reduzieren. Danach werden kurz die sprachpolitischen Maßnahmen der jeweiligen Siegermächte nach den Kriegen, erst die dänischen, danach die deutschen bzw. preußischen beleuchtet. Abschließend wird ein Blick auf das Ende des langjährigen Sprachkonflikts in Schleswig geworfen.

2. Historischer Hintergrund für die Sprachsituation in Schleswig im 19. Jahrhundert Spätestens vom 12. Jh. an war das Gebiet von der Königsau im Norden bis zur Eider im Süden mehrsprachig. Hier wurde Dänisch in südjütischen Varietäten gebraucht sowie Niederdeutsch. Die Verteilung der Sprachen war verfestigt durch den Einfluß der katholischen Kirche, was dazu führte, daß im Norden Südjütisch, im Süden Niederdeutsch gesprochen wurde, sowie durch die Erfordernisse des Marktes, was bedeutete, daß in den Städten, wo Handel und Handwerk das bestimmende Element waren, Mehrsprachigkeit herrschte. Die sprachlichen Verhältnisse auf dem Lande waren in der katholischen Zeit sehr stark von der Kirche geprägt. Der Gottesdienst war eine kultische Handlung und fand wie überall in der katholischen Kirche in lateinischer Sprache statt. Der Pfarrer hatte aber auch als Aufgabe, den einfachen Leuten, die Analphabeten waren, mündlich die christliche Lehre in einer Sprache zu vermitteln, die sie verstanden. Hierbei war es von Bedeutung, ob der Pfarrer dänisch oder niederdeutsch ausgebildet war. In den nördlichen Gebieten waren die Pfarrer dänisch und lateinisch ausgebildet und verwendeten deshalb auch in ihrer Seelsorge eine dänische Varietät. — Dagegen war die Ausbildungssprache des Schleswiger Domkapitels seit dem 14. Jh. Niederdeutsch. Die hier ausgebildeten

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Pfarrer benutzten deshalb in ihrer Seelsorge Niederdeutsch, auch in Dörfern, wo Südjütisch gesprochen wurde. Dies führte dazu, daß sich die südjütischsprachigen Leute allmählich daran gewöhnten, diese Sprache zu verstehen und sie als vornehmer einzustufen, weil sie als „heilige Sprache" von der einzigen Autoritätsperson, mit der sie kommunizierten, benutzt wurde. In allen schleswigschen Städten — außer vielleicht in den südlichsten — herrschte dagegen Mehrsprachigkeit. Hier hatten die niederdeutschsprachigen Handwerker und Kaufleute durch ihren Beruf viel mit den südjütischsprachigen Bewohnern der Städte und deren Umgebung zu tun und mußten deshalb das südjütische Idiom so weit beherrschen, daß der „Markt" funktionieren konnte. Etwa seit dem 14. Jh. war Niederdeutsch die wichtigste Handelssprache Nordeuropas, was dieser Sprache ein hohes Prestige verlieh. Da auch die schleswigschen Herzöge diese Sprache als Verwaltungssprache benutzten, änderten die schleswigschen Städte ihre bisherige Praxis, ihren Schriftverkehr auf Latein oder Dänisch abzuwickeln, und gingen dazu über, auch Niederdeutsch als Verwaltungssprache zu gebrauchen. Selbst in den nördlichsten Städten, wo sonst Südjütisch als gesprochene Sprache vorherrschte, wurde der ganze Schriftverkehr auf Niederdeutsch abgewickelt. Niederdeutsch war nun in den Städten nicht nur beherrschend als Schriftsprache, sondern wurde auch die vorherrschende gesprochene Sprache der Oberschicht, während Südjütisch auf die Funktion als gesprochene Sprache der unteren Schichten zurückgedrängt wurde. Im Norden und Süden, sowohl auf dem Lande als auch in den Städten, war immer der sozialpsychologische Prestigefaktor die entscheidende Voraussetzung für einen künftigen Sprachwechsel. Bei der Einführung der Reformation in Schleswig in den zwanziger Jahren des 16. Jhs. wurde in Übereinstimmung mit der Überzeugung der evangelisch-lutherischen Kirche die Muttersprache als Kirchensprache etabliert. Im großen und ganzen übernahm man die Regelung, die sich im Laufe des Spätmittelalters entwickelt hatte. Danach predigte in den nordschleswigschen Städten der Probst und erste Pfarrer der Stadt auf Niederdeutsch, während die dänischsprachigen Gottesdienste dem zweiten Pfarrer der Stadt überlassen waren. In den Kirchspielen auf dem Lande blieb die Verteilung von Niederdeutsch und Dänisch als Kirchensprache ungefähr dieselbe wie in der katholischen Zeit. In der Zeit nach der Reformation sind die sprachlichen Verhältnisse in Schleswig geprägt durch das Vordringen des Hochdeutschen als Sprache der Institutionen. Als Verwaltungs- und Gerichtssprache findet der

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Wechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen etwa Ende des 16. bis Anfang des 17. Jhs. statt, während in der Funktion als Kirchen- und Schulsprache das Hochdeutsche erst etwa 1650 das Niederdeutsche ersetzt. Bei diesem Prozeß verliert das Niederdeutsche sein hohes Prestige und wird redialektalisiert. Hochdeutsch ersetzt auch in der Funktion als gesprochene Sprache bei der Oberschicht das Niederdeutsche, das aber als gesprochene Sprache der unteren Schichten weiterlebt und sozusagen auf dieselbe Prestigestufe wie das Südjütische gestellt wird. Dadurch ergibt sich vor allem in den mehrsprachigen Städten eine neue potentielle Sprachenwahlsituation; hier kann man nun nicht mehr wie früher vom Gebrauch des Niederdeutschen oder Südjütischen allein auf die Schichtenzugehörigkeit der Bewohner schließen. Im Laufe des 17. Jhs., also etwa gleichzeitig mit dem Wechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen als Kirchensprache, entwickelte sich eine Kirchen- und Schulsprachgrenze von nördlich von Flensburg bis südlich von Tondern. Nördlich von dieser Grenze war Dänisch die Kirchensprache, südlich davon Deutsch, d. h. Hochdeutsch. Damit war der Keim gelegt zu der dauerhaften kulturellen Grenze zwischen Nordund Südschleswig, die in den späteren national geprägten Auseinandersetzungen des 19. Jhs. verschwiegen oder geleugnet wird, weil von beiden Seiten das ganze, ungeteilte Schleswig beansprucht wird. Das 18. J h . ist noch weitgehend geprägt durch die Koexistenz von einer unterschiedlichen Amts- und Volkssprache. Der vom dänischen Königshaus absolutistisch geführte Gesamtstaat umfaßte nach 1721 die Königreiche Dänemark und Norwegen (bis 1814), die Herzogtümer Schleswig und Holstein, die Färöer, Island und Grönland sowie ein paar kleinere überseeische Kolonien. In diesem multiethnischen und mehrsprachigen Staat gab es zwei Amtssprachen: Deutsch für die beiden Herzogtümer und Dänisch für die übrigen Teile des Staates. Ethnische Sprache und Amtssprache stimmten also nur in Holstein und Dänemark voll und ganz miteinander überein. Solche Verhältnisse waren im damaligen Europa nicht unüblich, so ζ. B. in der Habsburger Monarchie. Die höfische Kultur der absolutistischen Zeit war grundsätzlich international. Nationale Herkunft spielte unter den Priviligierten, dem Adel und dem Bildungsbürgertum keine so trennende Rolle wie Konfession und monarchistische Loyalität (vgl. u. a. Polenz 1994, 8). Ende des 18. Jhs. waren bürgerliche Tugenden, Loyalität gegenüber dem König und Patriotismus gegenüber dem Gesamtstaat das gemeinsame Ideal für die Bevölkerung in Holstein, Schleswig und Dänemark. Diese positive Einstellung wurde oft in Gelegenheitsgedichten zum Aus-

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druck gebracht, wie ζ. B. in dieser bei Gregersen (1981, 436) zitierten Strophe von Pfarrer Heinrich Haries (Brügge bei Bordesholm): O Dania, Was glüht bei Deinem Nahmen Mir Wang und Busen durch? H a , es ist Dänenstolz! Es ist die Liebe zu Dir, mein Vaterland.

Die Strophe ist 1797 geschrieben, und der Patriotismus gilt der ganzen Monarchie. Die nach Kopenhagen zweitgrößte Handelsstadt des Gesamtstaates, nämlich Flensburg, war bekannt für besonders starke Königstreue, die sich bei dem englischen Angriff auf Kopenhagen im J a h r e 1801 noch steigerte. Der Flensburger G. C. Meyer schrieb damals

(zitiert nach

Gesellschaft f. Flensburger Stadtgeschichte 1966, 2 f . ) : Z u m Ufer vor dem Zolle eilt das Volk, Es stürzt sich auf die Boote, doch nicht faßt Die Z a h l der Boote diese Menschenzahl, Die für das Vaterland zum Kampfe stürmt. Mit Euch sey Heil und Segen. Fahret hin Und kehret siegreich in des Volkes Arme, Ihr edlen Patrioten! Menschenrecht Und Völkerfreyheit ist das stolze Ziel, Das Euch, Ihr Glücklichen, vor Augen schwebt! Es ist ein schönes, neidenswertes Loos, Im freyen Dienst dem Vaterlande sterben.

Auch dieses Gelegenheitsgedicht ist dem Gesamtstaat gewidmet. Eine Generation später wären solche Gedichte undenkbar.

3. Von ethnischer und sprachlicher Koexistenz zum Konflikt 1 8 3 0 - 1 8 4 8

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs., wie Ende des 18. Jhs., war der Sprachzustand Schleswigs durch das Vorhandensein von zwei Dialekten, dem Niederdeutschen und dem dänischen Dialekt Südjütisch, sowie einer Standardsprache, dem Hochdeutschen, gekennzeichnet, während die dänische Standardsprache, in der Funktion als Kirchen- und Schul-

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spräche im nördlichen Teil Schleswigs, vermutlich oft in einer dem Dialekt angeglichenen Form, eine ziemlich geringe Rolle spielte. 1 Diese Verteilung bzw. der unterschiedliche Status der sprachlichen Varietäten, vor allem der beiden Standardsprachen, war von ganz wesentlicher Bedeutung für die politische Auseinandersetzung um Schleswig, die von den Ideen des Liberalismus und Nationalismus geprägt wurde. Der Liberalismus ging grundsätzlich von der Autonomie des Individuums und der Vernunft aus und richtete sich emanzipatorisch gegen den absolutistischen Staat. Er war vor allem eine Bewegung des Bürgertums, das Mitbestimmung im Staat beanspruchte. In Deutschland — und in Dänemark — ging der Liberalismus H a n d in H a n d mit der anderen wichtigen Idee dieser Zeit, dem Nationalismus, der in dieser frühen Phase auch eine emanzipatorische Bewegung war. Herder hob mit besonderem Nachdruck und mit großer Wirkung den Zusammenhang von Nation und Sprache hervor, betonte Sprache als wesentlichen Träger nationaler Identität. Die Romantik hat Herders Ideen übernommen und weiterentwickelt. Vor allem das Bildungsbürgertum bzw. die intellektuelle Elite und die studierende Jugend bekennen sich zu dem neuen Glauben an die Nation. Durch die Fremdherrschaft der Franzosen während der Napoleonischen Kriege wurde die Idee der deutschen Kulturnation politisiert. Der gesamtdeutsche Widerstand gegen Napoleon hatte zwei Ziele: äußere und innere Freiheit. D a s bedeutete für diejenigen, die liberal und national dachten, daß aus der primär durch die Sprache definierten deutschen Kulturnation ein vereinter Nationalstaat mit einer freiheitlichen Verfassung werden sollte. Die wichtigsten Vertreter dieser Ideologie waren die Burschenschaften, die auf dem großen Fest auf der Wartburg 1817 ihre Grundsätze formulierten: „Nationale Einheit und konstitutionelle Freiheit, Verfassung und nationale Repräsentation gegen den Partikular- und Polizeistaat und gegen die feudale Gesellschaft" (Nipperdey 1983, 280). Am Fest auf der Wartburg nahm ein junger Göttinger Student, Christian Paulsen, teil, der aus einer reichen Flensburger Kaufmannsfamilie stammte und der später eine zentrale Rolle in der nationalideologischen Auseinandersetzung in Schleswig spielen sollte. Sein Vater war verhältnismäßig früh gestorben und hatte seiner 28jährigen Witwe und zwei 1

D a s Vorhandensein der nordfriesischen Dialekte an der Westküste und auf den Inseln soll natürlich nicht geleugnet werden. Sie spielen aber für die Fragestellung dieses Beitrages keine entscheidende Rolle und werden deshalb hier nicht berücksichtigt.

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minderjährigen Söhnen ein großes Vermögen hinterlassen. Die Mutter war allein verantwortlich für die Erziehung und prägte den Sohn stark. Sie war deutschsprachig und beherrschte kein Dänisch, jedenfalls nicht produktiv. Trotzdem sorgte sie dafür, daß der Sohn Dänisch lernte. Sie war wie die meisten deutschsprachigen Bürger Flensburgs loyal gegenüber dem Gesamtstaat und brachte ihrem Sohn bei, daß es seine Pflicht war, sich für eine spätere Tätigkeit im dänischen Gesamtstaat auszubilden. Christian Paulsen wurde 1809 auf eine Privatschule in Thüringen geschickt, 1813—1815 besuchte er das Gymnasium in Gotha und 1816 machte er in Lübeck das Abitur. Danach studierte er Rechtswissenschaft an den Universitäten in Göttingen, Berlin und Heidelberg und beteiligte sich am politisierenden deutschen Studentenleben, u. a. als Mitglied einer Burschenschaft und, wie erwähnt, durch die Teilnahme am Fest auf der Wartburg. Die nationalen und liberalen Gedanken seiner Kommilitonen beeinflußten ihn sehr stark, nur hatte sein nationales Bewußtsein nicht ein vereintes Deutschland, sondern Dänemark, d. h. den dänischen Gesamtstaat als Gegenstand. Seine schleswigschen Kommilitonen, die sich fast alle als Deutsche fühlten, wunderten sich über die abweichende Einstellung Paulsens, aber diese Uneinigkeit bedeutete nicht, daß die Beziehung zu seinem engsten Freund, einem anderen Flensburger Jurastudenten, zerstört wurde. Als er 1819 — 1821 an der Universität Kiel studierte, gab es auch dort, wie an den anderen deutschsprachigen Universitäten, intensive politische Diskussionen unter den Professoren und Studenten. Paulsen war mit seinen schleswig-holsteinischen Kommilitonen einig in dem Streben nach staatsbürgerlicher Freiheit; ihre Uneinigkeit betraf das Nationale. Sein politisches Streben zielte nicht auf die Freiheit und Einheit des deutschen Nationalstaates, sondern auf die Entwicklung der Freiheit und der Verfassung im dänischen Gesamtstaat. 1821 — 1825 studierte er an der Universität Kopenhagen weiter und 1825 wurde er zum Professor für dänisches und schleswig-holsteinisches Recht an der Universität Kiel ernannt. In seinen ersten Jahren als Universitätslehrer konzentrierte er sich ganz auf die Lehre und Forschung. Seine Vorlesungen hielt er auf Deutsch, seine wissenschaftlichen Arbeiten erschienen auf Deutsch, seine Themen aber waren in Übereinstimmung mit der Spezifizierung seiner Stelle schleswigsch, dänisch und nordisch. Er versuchte den schleswigschen und holsteinischen Studenten Kenntnisse der dänischen Rechtswissenschaft zu vermitteln in der Hoffnung, daß diese wegen deren künftiger gesellschaftlicher Funktion als meinungsbildende Elite indirekt auch

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zur engeren Beziehung zwischen dem dänischsprachigen und deutschsprachigen Teil des Gesamtstaates beitragen würden. In seiner Forschung konzentrierte er sich auf die Rechtsgeschichte Schleswigs im Mittelalter und hier besonders auf die Beziehungen des Herzogtums zum dänischen Königreich und zu den anderen nordischen Ländern. Diese Themenwahl war bedingt teils durch seine Vorliebe für dänische Kultur und Sprache, teils durch Inspiration von Seiten seiner Lehrer an den deutschen Universitäten und von Nicolaus Falck, dem führenden Rechtswissenschaftler an der Universität Kiel. Seine wissenschaftlichen Themen waren modern, ganz im Einklang mit dem Interesse Herders und der Romantiker für das Mittelalter. In diesen ersten Jahren seiner Forschung formulierte er seine Auffassung von ,Volk' und ,Staat'. Er betrachtete den Staat als den äußeren Rechtszustand des Volkes. Der Zweck des Staates war, die Rechtssicherheit zu schaffen und zu sichern, die eine notwendige Voraussetzung für den geistigen und sittlichen Fortschritt der Menschheit war. Für ihn spiegelte sich die Entwicklung der Menschheit im Rechtszustand wider: Wenn die menschliche Entwicklung eine höhere Stufe erreicht hätte, würde dies mehr bürgerliche Freiheit herbeiführen. Somit würde eine Verfassung immer der geistigen und sittlichen Entwicklung entsprechen, die in der betreffenden Gesellschaft schon stattgefunden hätte. Ein ,Volk' definierte sich für Paulsen durch die gemeinsame Abstammung. Die äußeren Merkmale waren: gemeinsame Sprache und Kultur, d. h. Gebräuche, Sitten, Sagen und literarische Tradition sowie Gewohnheitsrecht und schriftlich fixierte Gesetze. Die allen Mitgliedern gemeinsame Kultur war verursacht durch einen kollektiven ,Volksgeist', eine dem Volk innewohnende kulturschaffende Kraft. Übereinstimmung in Sprache und Kultur ließ also auf Zugehörigkeit zu einem Volk schließen. Er faßte das Volk als innere oder geistige Gemeinschaft von Menschen auf. Zwischen ,Staat' und ,Volk' machte Paulsen also einen deutlichen Unterschied. Im Gegensatz zur Gemeinschaft im Staat bestand die Gemeinschaft im Volk aus gleichgestellten Individuen, — diese Gleichstellung galt auch für das Verhältnis der Völker untereinander. Dem Volk schrieb er kulturschaffende Fähigkeiten zu, aber die Vorstellung, daß ein Volk den Wunsch hegen könnte, einen eigenen ,Nationalstaat' zu bilden, lag außerhalb seiner Vorstellungswelt. Er hielt, wie die meisten seiner Generation, kulturelle und nationale Angelegenheiten für unpolitisch, denn sie lagen außerhalb der Beziehungen des einzelnen Bürgers zum Staat.

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Die zunehmende Radikalisierung der nationalpolitischen Auseinandersetzungen in Europa zwang ihn, seine Auffassung von ,Volk' und ,Staat' zu präzisieren. Am Beispiel Schleswigs setzte er sich mehr und mehr mit der Bedeutung von Sprache in diesem Zusammenhang auseinander und veröffentlichte 1832 eine Schrift mit dem Titel „Ueber Volksthümlichkeit und Staatsrecht des Herzogtums Schleswig; nebst Blicken auf den ganzen Dänischen Staat". Unmittelbar vorausgegangen war eine Auseinandersetzung mit Uwe Jens Lornsen, dem liberalen Landvogt von Sylt, der — angeregt von der französischen Julirevolution — in einer Flugschrift „Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein" die Forderung nach einer gemeinsamen freien Verfassung für Schleswig und Holstein gestellt hatte. Sein Ziel war ein selbständiges Schleswig-Holstein in Personalunion mit Dänemark. Das waren revolutionäre Gedanken: Die Flugschrift erregte Begeisterung bei den Studenten an der Kieler Universität; den älteren Akademikern und dem Adel aber, der in Schleswig und Holstein einen ziemlich großen politischen Einfluß hatte, war Lornsen in seinem Liberalismus zu weit gegangen. Lornsen, der während seiner Studienzeit in Kiel und Jena ein begeisterter Burschenschaftler gewesen war, hatte gehofft, daß der in Kiel als Liberaler bekannte Paulsen ihn in seinen politischen Zielen unterstützen würde, aber daraus wurde nichts, denn Paulsen war in seinen rechtshistorischen Forschungen zum Ergebnis gekommen, daß die Beziehung Schleswigs zu Dänemark anders war als die Holsteins. Diese historische Argumentation wollte Lornsen in einem Privatgespräch Ende 1830 nicht gelten lassen, und deshalb konnten sie sich nicht einigen. 2 In seiner Abhandlung, die deutlich auch als öffentliche Reaktion auf Lornsen gemeint war, der ein erklärter Anhänger von „französischen Lösungen" war, betont Paulsen, daß jedenfalls für den dänisch-deutschen Gesamtstaat die Evolution der Revolution vorzuziehen sei, und er diskutiert in diesem Zusammenhang eingehend die sprachlichen Verhältnisse im Herzogtum Schleswig und entwirft Lösungsvorschläge für den sich abzeichnenden Konflikt in diesem Gebiet. Er stellt fest, daß über die Hälfte der Bevölkerung dänischsprachig ist, daß aber nur ein Drittel Dänisch als Kirchen- und Schulsprache hat, während Deutsch die Gerichts- und Verwaltungssprache sowie die Sprache der höheren Bildungsinstitutionen im ganzen Herzogtum ist. Jeder 2

In Paulsens Tagebuch vom 14. November 1830 notiert er die Antwort Lornsens: „Alte geschichtliche Verhältnisse gehen uns nichts an, wir wollen es nun so, jede Zeit soll sich ihren eigenen Zustand bilden, ich setze Alles daran" (zitiert nach Runge 1981, 19).

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Schleswiger, der den dänischen Dialekt Südjütisch als Primärsprache hat, muß die Sprache wechseln, um an der höheren Bildung teilzuhaben. Dies ist eine unnatürliche Situation. Er schreibt: Die Sprache ist ein Heiligthum der Völker; sie ist der nothwendige Ausdruck, die unmittelbare Aeußerung ihres geistigen Lebens; in ihr spiegelt sich die Eigenthümlichkeit jedes ab. Wie unnatürlich nun, wenn die V o l k s t ü m l i c h k e i t in ihrer höheren Entw i c k l u n g sich eines andern als des angebornen Ausdrucksmittels bedienen muß, wenn der M a n n nicht mehr die Sprache seiner Kindheit reden darf, sich wohl gar seiner Muttersprache schämt! Und so ist es zum Theil in Schleswig! D a s Volk kann sich seiner Dänischen Sprache nicht wahrhaft freuen; denn die Begabteren, die sie in Ton und Form veredeln könnten, reden und schreiben nicht in ihr; und indem sie sich auch nicht um die Ausbildung derselben in ihrer größeren Heimath, D ä n e m a r k und N o r w e g e n , kümmern, und also die in ihr geschriebenen Geisteswerke selbst nicht kennen: verhindern sie, die es doch bei ihrer höhern Bildung zu befördern hätten, d a s HeimischWerden der Dänischen Literatur im Dänischen Schleswig, und enthalten so, wenn auch unabsichtlich, ihrem Volke die schönste Blüthe seines eigenthümlichen Geistes vor. Die Dänische, nur bei den unteren Ständen, oder in dem häuslichen Alltags-Verkehre der höheren lebende Sprache erscheint als niedere M a g d der Deutschen Herrscherin gegenüber. Weniger geehrt, ja geringgeschätzt, kann es nicht fehlen, daß mit der Sprache d a s ganze Dänische Volksleben dieses Schicksal gewisser Maaßen theilt. Die Gebildeten, allein dem Deutschen zugewandt, beachten dasselbe nicht genug, fassen sein wahres Wesen nicht tief auf, bleiben in ihrem eigenen Geburtslande halb fremd. Sie verstehen d a s Volk nicht ganz, das Volk noch weniger sie, die meistens in fremder Sprache sprechen und schreiben; und die wohlthätige Einwirkung auf d a s Volk, zu welcher die Gebildeten berufen und verpflichtet sind, die allmählige Ausbreitung allgemeiner Bildung von ihnen über alle Volksklassen kann im nördlichen Schleswig nicht in dem M a a ß e wie anderswo Statt finden" (Paulsen 1832, 26 f.)

Paulsen beklagt sich hier darüber, daß die dänische Sprache mißachtet und heruntergewirtschaftet werde und daß man dabei die kulturelle Entwicklung des Volkes vernachlässigte, d. h. die Gebildeten entzögen sich einer wesentlichen Pflicht. Von der Moralphilosophie der Aufklärung stark beeinflußt, war er davon überzeugt, daß geistige und moralische Vollkommenheit der von Gott für die ganze Menschheit bestimmte Daseinszweck war und daß der Mensch nur seine Vernunft bekommen hatte, den Zweck der Schöpfung zu erkennen. Die Menschen waren keine isolierten Wesen, sondern lebten in einer Gemeinschaft; jeder Mensch war zugleich Mitmensch und daraus folgte, daß es die Aufgabe der Gebildeten sein mußte, den weniger Begabten und den Ungebildeten Gottes Absicht mit der Schöpfung erkennen zu helfen. Aber dadurch, daß die Beamten und die Pfarrer die Muttersprache des Volkes vernachlässigten und eine Sprache sprachen, die das Volk nicht verstand, und dadurch, daß sie nicht veranlaßten, daß die südjütischsprachigen Schleswiger die dänische Standardsprache

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kennenlernten, hinderten sie diese Schleswiger daran, sich zu größerer Vollkommenheit, zu edleren Menschen zu entwickeln. Diese sprachlichen Verhältnisse in Schleswig waren nach Paulsens Auffassung unnatürlich und aufgezwungen, sie waren nicht durch den freien Willen der Schleswiger entstanden, sondern durch Zwang, der darin begründet war, daß die Sprache der Autoritäten Deutsch und deshalb seit Jahrhunderten das Dänische verdrängt worden war. Aber die Sprache war nach Paulsen das wichtigste Band zwischen der Gegenwart eines Volkes und dessen Vergangenheit. Dazu schreibt er (Paulsen 1832, 35 f.): Das Volk — von den wenigen Gelehrten sprechen wir hier nicht — welches die Sprache seiner Väter ganz aufgiebt gegen eine fremde, zerreißt dadurch seinen innersten Lebensfaden; die Lieder und Sagen der Vorzeit verstummen, oder, wenn auch zum Theil in die neue Sprache übertragen, ertönen sie nicht mehr als so lebendiger, wahrer Ausdruck des vaterländischen Daseyns wie früher. Das eigene Vaterland wird einem solchen Volke gewissermaaßen fremd; die Benennungen, welche die Vorfahren den Gegenden und Oertern, den Fluren und Gewässern gegeben haben, versteht es nicht mehr, es kann sich Nichts dabei denken. So das Deutsch gewordene Volk im südlichen Schleswig.

Paulsen schildert den Prozeß der Entfremdung, die eine Folge des Sprachwechsels ist. Er beschreibt, wie die Schleswiger ihre dänische Identität verloren; sie werden deutsche Schleswiger und dadurch Fremde in ihrer eigenen Heimat. Der Prozeß des Sprachwechsels war um 1830 bei weitem nicht abgeschlossen. Paulsen konnte ihn in seiner Heimat beobachten. Er konnte darauf verweisen, daß der in den letzten Jahren stark verbesserte Schulunterricht das Tempo der „Germanisierung" beschleunigt hatte. Der Rückgang der dänischen Sprache war besonders markant in den Gegenden nördlich der Schlei und in den Städten Flensburg und Tondern; und die Gleichgültigkeit, die das vermutliche Verschwinden der dänischen Sprache in Angeln begleitete, war auffällig und beschämend und unvereinbar mit den neueren Erkenntnissen über die Bedeutung der Sprache für die geistige Entwicklung jedes Menschen und jeden Volkes. Um dem Entfremdungsprozeß Einhalt zu gebieten, schlug er sprachpolitische Maßnahmen vor. Damit wollte er die für die südjütischsprachige Bevölkerung bestehenden Nachteile ausgleichen, hob aber gleichzeitig hervor, daß er nicht daran dachte, das einmal Verlorene zurückzuerobern bzw. die Gebiete, die im Laufe der Jahrhunderte deutschsprachig geworden waren, wieder zu danisieren, daß er aber das als dänischsprachig bewahren wollte, was noch bewahrt werden konnte. Dabei machte er einen Unterschied zwischen dem nördlichen Schleswig, dem Gebiet mit dänischer Kirchen- und Schulsprache, und Mittel-

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Schleswig, dem Gebiet mit überwiegend südjütischer Umgangssprache, aber deutscher Kirchen- und Schulsprache, einem ungefähr 12 km breiten Streifen direkt südlich von dem nördlichen Gebiet. In ganz Nordschleswig sollte Dänisch als Gerichts- und Verwaltungssprache eingeführt werden. Dieser Vorschlag umfaßte die Städte Apenrade, Hadersleben und Sonderburg, obwohl in den Kirchen und Schulen dieser Städte Deutsch dominant war. Die Bürgerschulen dieser nordschleswigschen Städte sollten Dänisch als Unterrichtssprache benutzen, die begabten Jungen aber sollten auch Deutsch lernen. Die höhere Schule in Hadersleben sollte dagegen weiterhin bei Deutsch als Unterrichtssprache bleiben. In dem mittelschleswigschen Gebiet schlug er die Einführung von Dänischunterricht neben dem Deutschunterricht vor. Dieser Dänischunterricht sollte der erste Schritt sein auf dem Weg zur Wiedereinführung von Dänisch als Kirchen- und Verwaltungssprache. Insgesamt handelte es sich hier um einen von dem für ihn charakteristischen Maß geprägten Vorschlag, wobei er sich in seiner ideologischen Argumentation auf Herder und die Romantiker stützte. Weil die Sprache der unmittelbare Ausdruck eines Volkes war, bewies die Sprache der Schleswiger, daß sie Dänen waren. Wenn mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Herzogtums dänischsprachig war, konnte man Schleswig nicht so behandeln, als wäre es ein Teil vom deutschen Holstein. Man mußte auf die Zusammengehörigkeit dieser Schleswiger mit Dänemark Rücksicht nehmen. Bei all diesen Vorschlägen hatte er nicht die staatspolitische Situation im Auge, sondern die „nationale" Gleichberechtigung der dänischsprachigen Schleswiger. Kulturelle und nationale Angelegenheiten hatten nichts mit dem Staat zu tun und waren als solche unpolitisch. Ein Volk, als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft definiert, war keine „staatsbildende" Einheit und hatte damit seiner Auffassung nach zwar kulturelle, nicht aber politische Rechte, und deshalb hatten weder die dänischen Schleswiger noch die deutschen Schleswiger das Recht, über die Grenzen des Staatsgebietes zu entscheiden. Erst in der nächsten Generation entstand der Begriff des ,nationalen Selbstbestimmungsrechts'. Für Paulsen hielt allein das dynastische Erbrecht einen Staat zusammen, und das bestimmte die Grenzen des Staates und die Zugehörigkeit der Staatsbürger. Was Schleswig betraf, argumentierte er damit, daß der Umstand berücksichtigt werden müsse, daß es ein dänisches Lehen geblieben war und deshalb trotz der engen Beziehungen zu Holstein in einem anderen Verhältnis zum Königreich stand als Holstein. Dabei ging es ihm nicht

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um eine Integration von Schleswig in das Königreich Dänemark, wie es die national-liberalen Eiderdänen forderten, sondern um eine Erneuerung des dänisch-deutschen Gesamtstaates. In den meisten europäischen Staatsgebieten lebten unterschiedliche Völker nebeneinander und es war seine Überzeugung, daß Völker, die in einem national gemischten Staat leben, absolut gleichberechtigt sind oder zumindest sein sollten. Das mußte auch für einen dänisch-deutschen Gesamtstaat gelten. Deshalb waren alle seine Vorschläge nur darauf gerichtet, für das Verhältnis des Königreichs und der Herzogtümer eine Regelung zu finden, die die Zukunft des Gesamtstaats sichern würde. Sein Vorschlag war eine konservative Antwort auf die nationalliberale Herausforderung der Schleswig-Holsteiner, wie sie in Lornsens Schrift auf radikale Weise formuliert worden war. Er wollte nicht in revolutionärer Absicht die dänischsprachigen Schleswiger wachrütteln, sondern die Beamten auf ihre Verantwortung für das künftige Schicksal dieses Bevölkerungsteils aufmerksam machen. In den Kreisen, an die sie gerichtet waren, wurden seine Gedanken und Ausführungen zunächst weder berücksichtigt noch auch nur diskutiert. In der schleswig-holstein-lauenburgischen Kanzlei in Kopenhagen verhielt man sich seinen Ideen gegenüber weitgehend ablehnend. Die höchsten Beamten entstammten dem schleswig-holsteinischen Adel, und die anderen Beamten entstammten dem Bildungsbürgertum und waren fast alle an deutschen Universitäten ausgebildet, nur ganz wenige hatten auch an der Universität Kopenhagen studiert. Obwohl sie immer für die schleswig-holsteinischen Interessen eintraten, waren sie in der Mehrzahl Anhänger des Gesamtstaates. Ihre Amtssprache war Deutsch. Die allermeisten von ihnen waren der Auffassung, daß Dänisch als Verwaltungs- und Gerichtssprache ungeeignet war. Bei dieser Elite herrschte schon 1830 die Auffassung vor, die der Herzog von Augustenburg zum Ausdruck brachte, als er 1840 in der Schleswiger Ständeversammlung erklärte: „Deutsch ist die gemeinsame Muttersprache der Gebildeten und deshalb die offizielle Sprache des ganzen Herzogtums". Kennzeichnend für die Einstellung der Beamten in Schleswig war das völlige Totschweigen von Paulsens Vorschlag. Auch an allerhöchster Stelle wurde er mit wohlwollender Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen, — der König fürchtete viel zu viele Widersprüche. Nur der Kronprinz, der spätere Christian VIII, unterstützte Paulsens Ideen, konnte sich aber im Staatsrat nicht durchsetzen. Und Graf Otto J. Moltke, der Präsident der Kanzlei, wollte, — obwohl er am Anfang auch angetan war von den Ideen —, nichts unternehmen, weil bei anderen hohen Beamten Widerstand laut wurde.

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Ein interessanter Beitrag zur Problematik in Paulsens Bemühungen, nationale und staatliche Zugehörigkeit mit seiner erlebten Wirklichkeit in Einklang zu bringen, kam von journalistischer Seite: In einer Rezension der Abhandlung im „Kieler Correspondenzblatt" vom 10. März 1832 wird auf eine Inkonsequenz aufmerksam gemacht, nämlich, daß Paulsen dänisch fühlt, obwohl seine Muttersprache, Erziehung und Ausbildung deutsch ist. Seine dänischen Gefühle sind ein Gegenbeweis gegen seine eigene Theorie, nach der sich die Nationalität genau in der Muttersprache manifestiert. Der Rezensent hatte recht. Paulsen hatte tatsächlich in seiner Argumentation die Bedeutung der Gesinnung mit keinem Wort erwähnt, — was im übrigen in völliger Übereinstimmung mit der damaligen vereinfachenden Literatur zum Zusammenhang von Sprache und Nation/Volk stand. Die Entwicklung und Rezeption von Christian Paulsens Gedanken zur Bedeutung von Sprache ist symptomatisch für das Dilemma, in dem er — und eigentlich die ganze Diskussion über das Verhältnis von Sprache und Nation im 19. Jh. in Schleswig — steckt. Sie zeigt auch, in welcher widersprüchlichen Gefühlswelt sich Intellektuelle und Politiker jener Zeit bewegten. Paulsens Ziel war es zunächst nicht, die radikalen Ideen Lornsens zu unterstützen. Vom Humanitätsideal der Aufklärung geprägt, wonach jede Nationalliteratur den der ganzen Menschheit gemeinsamen Geist in einer spezifischen nationalen Form widerspiegelte, konnte er keine Gegensätze zwischen den Nationen akzeptieren und verstand sich nur als Verfechter der Gleichheitsideen von 1789 im Sinne der Gleichberechtigung aller Menschen und Völker. Auf diesem Hintergrund hielt er es für wichtig, für die Gleichberechtigung der dänischen Sprache neben der deutschen in Schleswig einzutreten. Dabei war es aber eigentlich abzusehen, daß die Bewußtmachung des Wertes der Gleichheits- und Freiheitsideen für die dänischsprachigen Schleswiger die bisherigen friedlichen Verhältnisse zwischen Deutsch und Dänisch in Schleswig stören mußte, wo bisher gerade die Akzeptanz des Vorherrschens der deutschen Sprache als offizieller Sprache in ganz Schleswig-Holstein nicht nur die Voraussetzung für die Stabilität der Sprachverhältnisse, sondern auch die Garantie für die politische Ruhe im Lande gewesen war. Unter diesem Aspekt enthielten seine Gedanken durchaus revolutionären Zündstoff. Er übernahm zwar nicht die modernen Ideen vom Nationalstaat, lieferte aber mit seiner Schrift die theoretische Grundlage für den späteren nationalen Kampf der Nordschleswiger. Seine Betrachtungen über den Wert der koexistierenden Sprachen unterstützten näm-

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lieh viele politische Intentionen jener Zeit. Sein Kollege von der Kieler Universität, der Professor für Dänisch, Christian Flor, und der nordschleswigsche Bauer Nis Lorentzen, der Mitglied der Ständeversammlung in Schleswig war, agitierten etwa 1836 für die „dänische" Sache und stachelten die nordschleswigsche Bevölkerung zu nationalen Gefühlen auf. Sie setzten dadurch eine Entwicklung in Gang, die in den folgenden Jahren bei den breiteren Volksschichten ein bis dahin unbekanntes Sprachbewußtsein hervorrief. Sowohl auf dänischer als auch auf deutscher Seite wurde die Sprache ideologisch und politisch instrumentalisiert. Das neue Sprachbewußtsein wurde auch mit einem neuen politischen Bewußtsein verbunden. Dieser Prozeß war eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung zum nationalen Bewußtsein, das kulturpolitische und territoriale Forderungen zu einer untrennbaren Einheit werden ließ. Einen weiteren nicht unwesentlichen Beitrag zur Stärkung des neuen Sprach- und Nationalbewußtseins unter den Nordschleswigern und den Intellektuellen in Dänemark lieferte Paulsen auch, als er auf Wunsch von dänischen Freunden 1837 eine Kurzfassung seiner Schrift von 1832 auf Dänisch herausgab. Hier nahm er auch explizit zu einer Frage Stellung, die in der ideologischen Auseinandersetzung in Schleswig immer wieder eine Rolle gespielt hatte, nämlich der Frage nach dem Status des südjütischen Dialekts. Er polemisiert gegen das lose und leere Gerede, daß Südjütisch weder Dänisch noch Deutsch sei, sondern nur eine häßliche Mischung von beidem, und hebt dagegen hervor, daß Südjütisch viele gemeinsame Merkmale mit den sonstigen jütischen Dialekten aufweise und sogar auch Merkmale, u. a. lexikalischer Art, die nur im Altdänischen vorhanden gewesen und jetzt aus der Standardsprache verschwunden seien. Bis 1836/37 hatte es kein Däne als unnatürlich oder als eine Kränkung angesehen, daß sich die Verhältnisse in Schleswig in deutscher Richtung entwickelt hatten. Kein Däne hatte sich darüber beklagt, daß Deutsch die offizielle Sprache der beiden Herzogtümer geworden war, ebenso wie es bis dahin keinem eingefallen war, die Nordschleswiger dänisch zu nennen. Jetzt hatte sich das geändert. Paulsens dänischsprachige Abhandlung hatte bei den dänischen Liberalen das Bild von Schleswigs Geschichte geprägt. Die enge Verknüpfung der Sprachenfrage mit der Nationalitätenfrage auf dem Hintergrund unterschiedlicher Ideologien führte in der Mitte des 19. Jhs. zu einem unentwirrbaren Problembündel voller Widersprüche. Christian Paulsen hätte ζ. B., wenn Sprache das allein entscheidende

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Kriterium für eine Nation war, konsequenterweise für die Teilung Schleswigs eintreten müssen — dem stand aber seine ebenso überzeugend geführte Argumentation für den dänisch-deutschen Gesamtstaat als die beste aller Staatsformen entgegen. Und Theodor Olshausen, einer der führenden Schleswig-Holsteiner, vertrat 1839 die Auffassung, daß es keine schleswig-holsteinische Nationalität gebe, auch keine schleswigsche, sondern nur eine dänische und eine deutsche, und deshalb sollten die Schleswiger selber entscheiden, ob sie Holstein auf dem Weg nach Deutschland folgen wollten oder ob sie Dänen werden wollten. Wegen des Festhaltens an der Gesamtstaatidee war ein solches nationales Selbstbestimmungsrecht für Paulsen inakzeptabel. Der Gegensatz zwischen Deutsch und Dänisch in den Herzogtümern und in Dänemark steigerte sich noch im Laufe der 1840er Jahre. Die Eiderdänen wollten, daß Schleswig in das Königreich Dänemark integriert werden sollte, und die schleswig-holsteinischen Liberalen wollten die Einheit Deutschlands, so wie es nach den Napoleonischen Kriegen unter den deutschsprachigen Liberalen Programm war, und sowohl Holstein als auch Schleswig sollten Teil dieser Einheit werden. Zwei nationalbewußte Bevölkerungsgruppen mit gegensätzlichen Zielen standen einander gegenüber. Der Konflikt spitzte sich zu.

4. Die Sprachpolitik der Sieger

Der bisher nur intellektuell verbalisierte Konflikt mündete in den zwei schleswigschen Kriegen von 1848—1850 und 1864. In beiden Fällen sind die jeweiligen Siegermächte bemüht, ihre nationalideologische Sprachpolitik durchzusetzen. Ihre Versuche müssen als gescheitert angesehen werden, weil in beiden Fällen ideologische Fanatiker an der Sprachwirklichkeit vorbeihandelten.

4.1 Die dänische Sprachpolitik 1 8 5 1 - 1 8 6 4 Die Großmächte England und Rußland hatten zunächst versucht, eine friedliche Lösung des Krieges, u. a. auf der Grundlage einer Teilung von Schleswig, herbeizuführen. Da dies aber für die dänische Regierung und

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den dänischen König Frederik VII unannehmbar war, verlangten die Großmächte, daß der Gesamtstaat wieder etabliert werden sollte. In beiden nationalen Gruppen, wo man das Ziel, für sich jeweils ganz Schleswig zu beanspruchen, nicht aufgegeben hatte, führte diese Lösung zur allgemeinen Unzufriedenheit, was auch die Politik der folgenden Jahre nachhaltig prägte. 1850 wurde August Regenburg zum Leiter der Verwaltung der Kirchen- und Schulangelegenheiten in Schleswig ernannt und er blieb in dieser Funktion bis 1864. 1851 wurden die sogenannten Sprachreskripte erlassen, die das große Gebiet in Mittelschleswig betrafen, das sogenannte gemischte Gebiet, wo bis dahin Südjütisch die gesprochene Umgangssprache neben Deutsch als Kirchen- und Schulsprache gewesen war. Nach den neuen Bestimmungen sollte die allgemeine Unterrichtssprache Dänisch sein, mit vier Wochenstunden Deutsch, was in den unteren Klassen sofort eingeführt wurde. In den Kirchen sollte jeden zweiten Sonntag auf Deutsch bzw. auf Dänisch gepredigt werden; einzelne kirchliche Handlungen wie Taufe, Trauung, Beerdigung u. ä. sollten nach dem Wunsch des einzelnen Gemeindemitglieds auf Dänisch oder auf Deutsch durchgeführt werden können. Diese Sprachbestimmungen waren deutlich von Regenburgs fanatischem dänischen Nationalgefühl geprägt und ihre Durchführung und Aufrechterhaltung waren ihm trotz aller Kritik Lebensziel. In einem Brief an seinen ehemaligen Gymnasiallehrer C. F. Wegener, einen der führenden Nationalliberalen in Kopenhagen, schreibt er, daß er in der dänischschleswigschen Sprachsache schon seit seinem 15. Lebensjahr gewußt habe, was er wollte. Für ihn ist das Verschmelzen von Schleswig mit Dänemark die alles entscheidende Frage, der sich alle anderen Fragen unterordnen müssen, und diesem Verschmelzen sollen die Sprachreskripte den Weg ebnen (vgl. Hjelholt 1923, 14). Wegener, der ein leidenschaftlicher Nationalist war, spornte Regenburg an: „Tage wie diese kommen nicht wieder: Nutze sie! Verzichten wir auf Ruhepausen, Essen, Schlaf und Gesundheit — aber nutzen wir sie und ernten wir von dem in den Boden niedergelegten guten dänischen Blut!" 3 Regenburg war überzeugt von der Richtigkeit und Gerechtigkeit seiner Aufgabe. Er wollte nicht, wie vor ihm Paulsen, nur das Gebiet mit Südjütisch als Umgangssprache und Deutsch als Kirchen- und Schul3

Der dänische Originaltext lautet: „ D a g e som disse k o m m e r ikke igen: Brug dem! L a d os nœgte os hvile og f e d e o g S0vn og sundhed — men lad os bruge dem !!! og heste af det i jorden nedlagte gode danske b l o d ! " (zitiert nach Rerup 1982, 148).

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spräche danisieren, sondern sein Ziel war, die aussterbende dänische Sprache in ganz Mittelschleswig wiederzubeleben, auch in den südlichen Gebieten, wo sie längst ausgestorben war, d. h. er wollte diese Gebiete redanisieren. Als gleichgesinnte Mitstreiter stellte er ehemalige Schulfreunde als Pfarrer ein, die wie er in ihrem Nationalgefühl von Wegener geprägt waren. Aber trotz ihrer Bemühungen und trotz einiger Erfolge für die dänische Sprache, was man den Berichten der Pfarrer entnehmen kann (vgl. Engberg 1968, 272), wurde die durchgeführte Sprachpolitik von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als eine unerwünschte Zwangspolitik aufgefaßt, die nur auf dem einen Kriterium einer Nationalität, nämlich der Sprache, basierte. Für die mehrsprachige Wirklichkeit Mittelschleswigs war in den Köpfen der Nationalideologen wie Regenburg kein Platz. Hier waren die Leute vor eine Wahl gestellt. Wenn die Eltern wollten, daß ihre Kinder auch den deutschen Gottesdienst verstehen sollten, waren sie, weil der Schulunterricht auf Dänisch stattfand, gezwungen, mit ihren Kindern Deutsch bzw. Niederdeutsch zu sprechen. Das Gesamtergebnis war, daß der dänische Dialekt Südjütisch in diesen Gebieten geschwächt wurde und daß sich die dänische Regierung durch diese Zwangspolitik unbeliebt machte, sowohl in Schleswig als auch bei den Großmächten. Das Scheitern der dänischen Sprachpolitik in Schleswig ist ein Beispiel der übertriebenen ideologischen Instrumentalisierung von Sprache, die die komplexe Sprachwirklichkeit nicht berücksichtigte.

4.2 Die deutsche bzw. preußische Sprachpolitik 1866—1918 Als nach dem zweiten schleswigschen Krieg 1864 ganz Schleswig und Holstein deutsch bzw. nach 1866 eine preußische Provinz wurde, wurde Deutsch als Kirchen- und Schulsprache zunächst nur in den mittelschleswigschen Gebieten, wo von 1851 — 1864 die dänischen Sprachreskripte gegolten hatten, wieder eingeführt. Nach dem deutschen Sieg im deutsch-französischen Krieg von 1870 und der Gründung des Deutschen Reiches mit dem preußischen König als Kaiser, also der späten Etablierung eines deutschen Nationalstaates, beherrscht die nationale Ideologie allmählich immer stärker die Sprachpolitik.

Der deutsch-dänische Sprachkontakt in Schleswig im 19. Jahrhundert

119

In den östlichen Provinzen Preußens ζ. B., vor allem in der Provinz Posen, wo es eine große polnischsprachige Bevölkerung gab, die das Ziel verfolgte, einen polnischen Nationalstaat zu errichten, wurden in den Jahren 1872 und 1873 Schul- und Sprachgesetze eingeführt, nach denen Polnisch als Unterrichtssprache nur im Religionsunterrricht der unteren Klassen benutzt werden sollte. Das Ziel dieser Sprachpolitik

war,

Deutsch als „Staatssprache" zu befestigen. „Volkssprache" durfte Polnisch bleiben, denn unter den deutschen Intellektuellen und Politikern war die Auffassung weit verbreitet, daß die deutsche Kultur anderen Kulturen überlegen war, und im Osten war dieses Gefühl der Überlegenheit mit negativen Stereotypen über die Polen versetzt (vgl. Nipperdey 1992, 269). In Nordschleswig ging man noch nicht so weit wie in den östlichen Provinzen. Durch eine Sprachinstruktion vom J a h r 1871 wurden sechs Wochenstunden

Deutschunterricht

eingeführt,

außer

in den

beiden

ersten Schuljahren. Erst 1878 gingen die Behörden einen Schritt weiter mit den germanisierenden Maßnahmen in der Sprachpolitik. Deutsch und Dänisch wurden nun als Unterrichtssprache gleichgestellt. 1888 kam dann die von dänischer Seite lange gefürchtete endgültige Germanisierung. Mit der neuen Sprachverfügung wurden die für ganz Preußen geltenden Richtlinien eingeführt. Deutsch sollte die einzige Unterrichtssprache sein, auf Dänisch sollten nur sechs Wochenstunden Religionsunterricht in den unteren Klassen durchgeführt werden, in den höheren Klassen vier Wochenstunden auf Dänisch, zwei auf Deutsch. Dies provozierte erbitterten Widerstand unter den Dänischgesinnten. Schon 1880 war der dänische Sprachverein gegründet worden, es folgten nun weitere Kultur- und Nationalvereine, die alle das Ziel verfolgten, der forcierten Integrationspolitik Widerstand zu leisten und das kulturelle Selbstbewußtsein zu stärken. Während die Zahl der dänischen Stimmen bei den Reichstags-

und

Landtagswahlen

seit

1867

zurückgeggangen

war,

änderte sich seit 1888 das Verhalten der Nordschleswiger auch in diesem Punkt. Bis zu den letzten Wahlen vor dem Ersten Weltkrieg 1 9 1 2 stieg die Zahl ständig an, ein Zeichen, daß die nationalen dänischen Aktivitäten immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung fanden. Diesen für die germanisierende Integrationspolitik so negativen Prozeß hatte auch hier eine Sprachpolitik in Gang gesetzt, die — wie vorher nach 1851 — für die Kräfte, die sie bekämpfen wollte, als Katalysator wirkte. Auch hier ideologisierte man an der Sprachwirklichkeit, die seit 1888 eindeutig prodänische Züge zeigte, vorbei und hielt an der zentralistisch verordneten, nationalideologisch basierten Sprachpolitik fest.

120

Mogens Dyhr

5. Die Teilung Schleswigs 1920 als Schlußpunkt des 19. Jahrhunderts

Der Ausgang des Ersten Weltkriegs brachte den Versailler Vertrag mit der Bestimmung, daß die Bevölkerung Schleswigs durch eine Volksabstimmung entscheiden sollte, ob sie zu Deutschland oder zu Dänemark gehören wollte. Das Ergebnis dieser Volksabstimmung war eine Teilung von Schleswig mit einer Grenze von im Osten nördlich von Flensburg bis im Westen südlich von Tondern. Diese Grenze war fast identisch mit der Kirchensprachgrenze, die sich im 17. Jh. herausgebildet hatte. Das ehemalige Herzogtum Schleswig, das jahrhundertelang mehrsprachig gewesen war und wo diese Mehrsprachigkeit bei den Schleswigern als unproblematisch gegolten hatte, wurde im 19. Jh. zum Konfliktgebiet, weil man als historische Konsequenz der Entwicklung nach 1789 begonnen hatte, den Zusammenhang zwischen Volk, Nation und Staat zu thematisieren, und weil von verschiedensten Seiten der Versuch unternommen wurde, in diesem Zusammenhang Sprache für ideologische Zwecke zu instrumentalisieren. Bei diesen Versuchen scheiterten sowohl Intellektuelle als auch Politiker. Christian Paulsen als einer der herausragenden Intellektuellen hatte geglaubt, die Gleichberechtigung der dänischsprachigen Schleswiger neben den deutschsprachigen Schleswigern im gegebenen gesamtstaatlichen Rahmen begründen zu können, hatte sich aber nicht vorstellen können, daß die Idee des Nationalismus eine so eindeutige Ausrichtung auf „Nation gleich Staat" bekommen würde, daß in der nachfolgenden politischen Auseinandersetzung in Schleswig nur noch Platz für entweder ein ungeteiltes deutsches oder ein ungeteiltes dänisches Schleswig war. Er wurde als theoretischer Vordenker für politische Ziele vereinnahmt, die nicht im Bereich seiner Intentionen gelegen hatten. Die unterschiedlichen Eingriffe von politischer Seite, die versuchten, aus einer Kultur- und Sprachnation eine Staatsnation zu machen, mußten scheitern, weil auf beiden Seiten, der deutschen und der dänischen, fanatische Ideologen das Sagen hatten, die die Sprachwirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollten oder konnten. Deshalb dauerte der Konflikt bis zur Teilung Schleswigs 1920 an.

Der deutsch-dänische Sprachkontakt in Schleswig im 19. Jahrhundert

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HERBERT BLUME

Der Allgemeine Deutsche Sprachverein als Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung. Mit einem Kapitel über Herman Riegel

1. Herman Riegel

Herman Riegel (1834—1900), der Initiator, Mitbegründer, spiritus rector und langjährige Vorsitzende des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" hat unter dem Titel „Meine Lebenserinnerungen" eine ungedruckt gebliebene Autobiographie

hinterlassen. Das Autograph

scheint

nicht

erhalten zu sein, wohl aber eine maschinenschriftliche Transkription des Textes, die aus den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts stammt und sich in zwei Exemplaren im Besitz des Stadtarchivs Braunschweig befindet. 1 Riegels Selbstbiographie ist nicht streng annalistisch gegliedert, vielmehr bündelt sie thematisch Zusammengehörendes zu je eigenen Kapiteln. In diesen „Lebenserinnerungen" nimmt der Allgemeine Deutsche Sprachverein wenig Raum ein: nur zweieinhalb von 125 gezählten Seiten sind ihm gewidmet. Uber den Verein und Riegels Verhältnis zu ihm erfährt man dort kaum etwas, was man nicht schon wüßte. Nur recht allgemein ist von der „entsetzlich viel[en] Mühe und Arbeit" (Riegel o. J . , 78) die Rede, die die Vereinsarbeit Riegel bereitet hat, von den „ O p f e r [ n j " (ebd.) an Zeit und Arbeitskraft, die er dem Verein bringen mußte, sowie von Riegels Kampf gegen die Mischung aus „Bosheit, Niedertracht", „Vereinsmeierei" und ,,bürokratische[m] Formalismus" (ebd., 79), mit dem der Berliner Zweigverein und dessen Vorsitzender Reuleaux 1

Riegel (o. J.). Über Riegels Leben und Werk informiert a m ausführlichsten der Nachruf von Paul Z i m m e r m a n n ( Z i m m e r m a n n 1900). Soweit nicht anders vermerkt, stütze ich mich im folgenden auf Riegels Autobiographie und auf Z i m m e r m a n n s Nekrolog.

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Herman Riegel zu Anfang der 90er Jahre befehdet hatten, was schließlich zur resignierten Amtsniederlegung Riegels im Jahre 1893 führte. Wir lesen außerdem, wie hoch Riegel (o. J., 77) die Bedeutung seiner eigenen Person für den Sprachverein einschätzt: So war mir das Heer zur Bekämpfung der Schäden unserer teuren Muttersprache nicht gegeben worden, ich musste es erst schaffen. Der Sprachverein war buchstäblich mein eigenes Werk.

Abgesehen von wenigen Äußerungen solcher Art, die uns Einblick in Riegels private Bewertung seiner Vereinstätigkeit gewähren, sind Riegels „Lebenserinnerungen" als vereinshistorische Fakten- und Datenquelle nicht sonderlich ertragreich. Ergiebige Lektüre hingegen bietet die Autobiographie jedem, der etwas über die persönlich-biographischen Motive und mentalitätsgeschichtlichen Impulse erfahren möchte, die den Kunsthistoriker und Museumsmann Riegel dazu bewegt haben, einen Verein ins Leben zu rufen, der ihm seit der Mitte der 80er Jahre „keine ruhige Stunde ließ, [ihn] selbst auf Bade- und Erholungsreisen verfolgte und [ihn] obendrein um das Glück eigener schriftstellerischer Tätigkeit fast ganz brachte" (ebd., 78). Um nur ein Beispiel vorwegzunehmen: Wir erfahren etwa, daß Riegel zur sprachpuristischen Betätigung nicht erst durch die Reichsgründungseuphorie der 1870er Jahre angeregt worden ist. Vielmehr hatte ihm der Gegenstand seines Büchleins von 1883 „Ein Hauptstück von unserer Muttersprache" bereits seit seinen „Kindes- und Jünglingsjahren am Herzen gelegen", und er hatte dafür „lange schon gesammelt und gedacht" (ebd., 77). Es lohnt sich, Riegels Lebensweg unter diesem Aspekt zu betrachten; wegen der gebotenen Kürze werde ich mich auf weniges beschränken. Herman Riegels Familie stammt in väterlicher Linie aus dem Breisgau; dem Familiennamen liegt der Name der Stadt Riegel am Kaiserstuhl zugrunde. Die akademische Bildung scheint in der Breisgauer Familie schon vor Herman Riegel seit langem heimisch gewesen zu sein. 2 Der Vater, Ferdinand Riegel (1796—1866), in Rotweil am westlichen Kaiserstuhl geboren, studiert im Gegensatz zum älteren Bruder nicht, sondern erlernt in Freiburg (bei Herder) den Buchhändlerberuf und gründet später in Potsdam eine Buchhandlung mit eigenem Verlag (vgl. dazu Braun 2

Hierauf deutet u. a. der latinisierte Name Molitor hin, der in einer Seitenlinie von Riegels Vorfahren auftaucht. — Riegel selbst ist dieser Name übrigens peinlich; der Name Müller wäre ihm sympathischer gewesen. Vgl. Riegel (o. J.), S. 4.

Der Allgemeine Deutsche Sprachverein

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1889). Als Verleger spezialisiert sich Ferdinand Riegel auf die Edition graphischer Arbeiten zeitgenössischer Künstler und Architekten. Der prominenteste unter den von ihm verlegten Autoren ist Karl Friedrich Schinkel, der der Familie Riegel zudem freundschaftlich verbunden ist und über den auch bekanntschaftliche Beziehungen zu Alexander von Humboldt erwachsen. Dessen gute Verbindungen zu Friedrich Wilhelm IV. dürften für die ζ. T. kostspieligen verlegerischen Unternehmungen (Druckgraphik und Prachtbände) Ferdinand Riegels nicht ohne Nutzen gewesen sein. 3 Herman Riegels lebenslange Frankreich- und Franzosenfeindlichkeit, die er an vielen Stellen seines Werks, auch etwa in seinen Schriften zur Kunstgeschichte (insbes.: Riegel 1876) und in seinen feuilletonistischen Plaudereien (Riegel 1898), ausspricht, scheint eine ihrer Wurzeln in der Familiengeschichte zu besitzen. Über seinen Vater schreibt Herman Riegel (o. J., 3 f.): Er hegte für die Franzosen das zärtlichste Andenken, denn diese menschenbeglückenden Freiheitshelden hatten die grossväterliche Familie, die in Rotweil am Kaiserstuhl, sozusagen unter den Geschützen von Neubreisach, wohnte, dreimal von Haus und Hof gejagt und sozusagen bis aufs Hemd ausgeplündert.

In Potsdam wird Herman Riegel am 27. Februar 1834 geboren. Er besucht dort das Gymnasium und absolviert zunächst eine Buchhandelslehre im väterlichen Unternehmen, der später ein Studium der Architektur- und Kunstgeschichte sowie weiterer Fächer folgt. Riegel wird 1862 in Rostock promoviert (anscheinend in absentia, mit einer Schrift „De artis Italicae historia"), betätigt sich in den folgenden Jahren als freier Schriftsteller (mit Publikationen über kunstgeschichtliche Themen), unternimmt viele Studienreisen, besonders nach Italien, und wird 1868 zum Direktor des städtischen Museums in Leipzig sowie zum Leiter des dortigen Kunstvereins berufen. An der Leipziger Universität habilitiert er sich 1869 mit einer Schrift „Über die Darstellung des Abendmahls, besonders in der toskanischen Kunst". 1871 wird ihm das Direktorat des

3

Von Schinkel sind in Ferdinand Riegels Verlag zwischen 1840 und 1850 etwa 20 Titel (einschließlich Neuauflagen) erschienen, zumeist aufwendig gedruckte architektonische Entwurfsarbeiten. Nach Schinkels Tod 1841 wurde die Edition dieser bei Riegel verlegten Druckwerke u. a. von Alexander von Humboldt weiter betreut. Aufgrund H u m boldts guter Beziehungen zu Friedrich Wilhelm IV. genoß Ferdinand Riegel das besondere Wohlwollen des Königs. Dies drückte sich in mehreren Ordensverleihungen an Riegel aus und wohl auch in finanzieller Unterstützung der kostspieligen Drucklegungen von Schinkels Arbeiten.

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H e r b e r t Blume

Abb. 1: H e r m a n n Riegel. G e m ä l d e (1895) von G e o r g Barlösius (Herzog A n t o n Ulrich M u s e u m , Inv. Nr. 1383)

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127

Herzoglichen Museums in Braunschweig (des heutigen Herzog-AntonUlrich-Museums) übertragen, zugleich eine Professur für Kunst- und Baugeschichte am Collegium Carolinum (das damals für kurze Zeit den Namen einer „Polytechnischen Anstalt" trug), der heutigen Technischen Universität. Einen Höhepunkt der europäischen Kunst, wenn nicht ihren bisherigen Gipfel überhaupt, erblickte Riegel in der zeitgenössischen deutschen Historienmalerei. Der Münchener Historienmaler und Nazarener Peter von Cornelius (1783 — 1867) war in seinen letzten Lebensjahren (1864—1867) zum väterlichen Freund Riegels geworden. Seinerseits wurde Riegel mit zahlreichen Veröffentlichungen zum Werk von Cornelius, u. a. mit einer Monographie zu Cornelius' 100. Geburtstag (Riegel 1883a, vgl. bereits Riegel 1866), dessen kunstschriftstellerischer Propagator in Deutschland. Riegel war Mitglied und Ehrenmitglied mehrerer deutscher und belgischer Akademien sowie Träger von Orden deutscher und ausländischer Staaten. Zeitlebens von schwacher und kränklicher körperlicher Verfassung (deswegen auch nie zum Militärdienst einberufen), starb Herman Riegel am 12. August 1900 in Braunschweig. Daß Riegel in den politischen Parteienbildungen des 19. Jahrhunderts nicht im Lager der Liberalen, sondern auf Seiten der Konservativen steht, lassen bereits die oben zitierten ironisch-abschätzigen Worte „menschenbeglückende Freiheitshelden" ahnen, die ja auch eine Stellungnahme zu 1789, 1830 und 1848 enthalten. Bestätigt wird diese Ahnung durch Riegels Bericht (Riegel o. J., 12) über die Märzrevolution von 1848, die er als Vierzehnjähriger in Potsdam miterlebt. [...] ich sehe noch in aller Lebendigkeit, wie das Alexanderregiment in der Nauenerstrasse mit den Rücken gegen die Häuser stand und die ihnen zur Verteidigung von König und Vaterland anvertrauten Waffen abgab. Das ging mir durch Mark und Bein, ich vermochte es nicht zu begreifen und zu fassen. Solche Krieger so zu demütigen! Die alte preussische Waffenehre so zu demütigen! so zu verletzen!

Voller Abscheu spricht er sich auch über die Revolutionäre aus, deren er zwei Tage später in Berlin ansichtig wird und die er an anderer Stelle im Text (Riegel o. J., 14) kurz und bündig als „Räuber" bezeichnet: Wir erblickten Leute, die aus den dunkelsten Abgründen der Bevölkerung empor getaucht waren und die sich nun im Lichte der Freiheit rüpelhaft blähten. Von Trauer und Entrüstung erfüllt, kehrten wir abends heim (ebd.).

Der knapp Fünfzehnjährige jubelt 1849 begeistert dem „Vater Wrangel" zu, der mit dem Einzug seiner Regimenter in Potsdam und Berlin die Episode, die die deutsche Märzrevolution geblieben ist, beendet. Nach dem Scheitern der Revolution scheinen Riegel an der neuerlichen Etablie-

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rung der restaurativ-kleinstaatlichen Verhältnisse und der Fürstenmacht nur die alltäglichen kleinen Inkonvenienzen gestört zu haben: Er mokiert sich ζ. B. über lästige Paßkontrollen auf einer Reise von Berlin nach Prag und darüber, daß die Briefmarken seiner heimisch-preußischen Post außerhalb Preußens, ζ. B. auf den T h u m - und Taxis'schen Postämtern, nicht als gültige Frankatur anerkannt werden. Überhaupt bleibt Riegel lebenslang preußisch-großpreußisch bis ins Mark. Beruflich hatte es ihn 1871 in die Hauptstadt eines nichtpreußischen deutschen Bundesstaats verschlagen, eben nach Braunschweig. (Braunschweig hat seine Eigenstaatlichkeit erst 1946 bei der Gründung des Landes Niedersachsen verloren.) Herman Riegel indessen fühlt sich in Braunschweig ganz offensichtlich auf preußischem Territorium, denn es amüsiert ihn, daß man in Braunschweig so größenwahnsinnig ist, Preußen als einen angrenzenden Nachbarstaat zu betrachten. Mit Spott übergießt er in seinen Reisefeuilletons aus den Jahren nach 1866 gewisse (vermutlich hannoversche) Badegäste, die auf den Kurpromenaden demonstrativ weiterhin die Orden ihrer „verflossenen Fürstentümer" tragen. Zu seinem Leidwesen muß Riegel auf Reisen bisweilen feststellen, daß er als selbstgefällig auftretender Preuße nicht überall in Deutschland beliebt ist und, ebenso schlimm, daß die Zustände nicht in allen deutschen Staaten preußische sind. In Bayern vermißt er „eine gewisse strenge Ordnung" (Riegel o. J . , 39); Württemberg und Baden finden etwas mehr Gnade vor seinen Augen, aber auch dort herrscht der leidige, ihm unverständliche „Preußengroll" (ebd.). So begrüßt Riegel denn den dänischen Krieg von 1864 nicht nur, weil gegen Dänemark losgeschlagen wird, sondern weil der Krieg endlich wieder „ein Aufleuchten des vaterländischen Bewußtseins" bewirkt. Die einigende Kraft des Krieges empfindet Riegel 1 8 7 0 / 7 1 noch lebhafter. Mit tiefer Genugtuung, ja mit Begeisterung kommentiert er den Sieg über Frankreich: [...] das Nationalbewußtsein forderte klarer und klarer Sühne für all das Elend und den J a m m e r , die Mordbrennereien und Zerstörungen, die Brandschatzungen und Blutsteuern, die Landräubereien und die tausend entsetzlichen Demütigungen und Drangsale, die Frankreich seit Jahrtausenden an uns gesündigt hatte. Eine Sühne ist erfolgt (Riegel o. J „ 65).

Aber: „Für alle diese Verbrechen und Untaten [...] war die Sühne von 1871 zu klein" (ebd.). Hier, in den nicht für die Öffentlichkeit geschriebenen Memoiren, nimmt Riegel in den 90er Jahren einen neuerlichen Krieg gegen Frankreich als wünschenswert unverhohlen ins Visier. Für das große Lesepublikum seines „Hauptstücks von der deutschen Muttersprache", des Aufrufs zur Gründung des Sprachvereins, hatte er 1883

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seine Gedanken etwas vorsichtiger formuliert, indem er den künftigen Krieg dort bloß als eine wahrscheinliche Möglichkeit darstellt (verräterisch ist allerdings der Indikativ Präsens „wie sollen wir" im Schlußsatz des Zitats): Noch auch stehen im Osten und im Westen gewaltige Nachbarn bis an die Z ä h n e gerüstet, lauernd und spähend an unseren Grenzen. Wir können über Nacht in den schwersten und fürchterlichsten aller Kriege gestürzt werden, und wie sollen wir bestehen ohne die höchste sittliche Kraft? (Riegel 1883b, 59).

Ein zu gründender Sprachverein, dessen wesentliche Aufgabe die puristische Umformung des deutschen Wortschatzes zu sein hat, soll nach Riegels Überzeugung zur Stärkung der nationalen Abwehrkräfte (der „sittlichen Kraft") Deutschlands beitragen. Das Motiv, welches Riegel bei der Schaffung des Sprachvereins vor allen anderen leitete, war der Nationalismus, und zwar ein spezifisch antifranzösischer, deutscher Nationalismus, wobei „deutsch" im Falle Riegels meist als „großpreußisch" zu verstehen ist. Nochmals mit seinen eigenen Worten gesagt: Ihm geht es um einen Kampf „gegen das Übermaß der Fremdwörter, namentlich der französischen" (Riegel 1883b, 4). Er hat den fremden Wörtern, „diesem Schmarotzerpack Krieg und Feindschaft angesagt" (ebd., 6). Ihm ist es um die „Heilung einer schweren Seuche" zu tun, „um eine große nationale Sache. Nur von diesem nationalen Standpunkte aus spreche ich, nur in diesem Sinne ist meine Arbeit aufzufassen und zu verstehen" (ebd.; der letzte Satz ist im Original gesperrt). Was sich aus all diesem über Herman Riegels Anschauungen und Überzeugungen, über sein Sinnen und Trachten ergibt, würde in Thomas Nipperdeys Darstellung der „Deutschen Geschichte 1866 — 1918" unter der Kapitelüberschrift „Schattenlinien" zu buchen sein, worunter dort das Dunkle, Bedrohliche, Irrationale, Böse in den Mentalitäten des späten 19. Jahrhunderts abgehandelt wird (Nipperdey 1993, 8 1 2 - 8 3 4 ) . Pointierter gesagt: Im Bild des Sprachreinigers Herman Riegel, das sich aufgrund solcher immer wiederkehrenden Äußerungen in seinen Schriften ergibt, tritt uns jemand entgegen, der dem (im Hinblick auf das 20. Jahrhundert nach dem Vorbild des „ugly American" so bezeichneten) Typus des „häßlichen Deutschen" entspricht. Auch in seinen autobiographisch grundierten Reiseschilderungen „Unter dem Striche" ärgert sich der Bildungsreisende Riegel im europäischen Ausland, sei es in der Eisenbahn, in Hotels und Restaurants, in Museen oder auf der Promenade im Badeort auf Schritt und Tritt über die ausländischen Einheimischen

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(Franzosen 4 , Tschechen 5 und andere), über mitreisende E n g l ä n d e r 6 oder über polnische J u d e n . 7 Er entrüstet sich über ihren N a t i o n a l c h a r a k t e r , läßt sich k a u m eine Gelegenheit entgehen, d a s ausländische Personal zurechtzuweisen (worüber er stolz berichtet) und streitet sich mit Engländerinnen (über d a s Ö f f n e n des Abteilfensters) oder mit französischen B a h n b e a m t e n . Wo er bisweilen doch L o b e n d e s (und dann in generalisierenden Formulierungen, etwa über „die Italiener") notiert, geschieht dies meist im überlegen-herablassenden T o n des Ethnologen, der von einer höheren Warte über das Leben exotischer Völker berichtet. 8

4

„Auch andere europäische Völker haben zerstört und vernichtet, aber keines wie die Franzosen." (Paris. Erinnerungen und Betrachtungen. S. 119. In: Riegel 1898, Bd. II, S. 1 1 3 - 1 2 6 . )

5

Siehe das Kapitel „ D i e Herren Tschechen" in: Riegel 1898, Bd. I, S. 1 1 - 1 4 0 . Darin u. a.: „ J a , ihr Deutschen in Böhmen, in Mähren und im ganzen Österreich [...], haltet alle bewußt und stark euer Volksthum hoch. [...] Bedenkt, daß der Tscheche in euch die g e s a m m t e deutsche Nation beleidigt" (S. 319).

6

„ [ . . . ] belästigen sie [sc. die Engländer] denn die Andern oftmals recht empfindlich, beschweren sie durch ihre zahllosen Gepäckstücke, ihre lauten Unterhaltungen, durch die Eigenmächtigkeit, mit der sie über Platz und Fenster im Eisenbahnwagen verfügen, durch ihr Vordrängen beim Ein- und Aussteigen und hundert andere Ungehörigkeiten, die sich in einzelnen Fällen nicht selten bis zur Flegelei und Roheit steigern." (An der Themse. In: Riegel 1898, Bd. II., S. 1 - 2 9 . Hier: S. 2.)

7

„In den böhmischen Bädern und namentlich in Karlsbad herrschen die Slaven vor, die Tschechen, die Polen, die Ruthenen, die Slowenen, und nicht zu vergessen, die polnischen Kaftanjuden [...] mit [...] dem Schmutze, [...] dem Gestanke, mit ihrem entsetzlichen Deutsch, d a s sie tief aus der Kehle rauh und höchst widerwärtig heraushacheln, so daß man sich vor der eigenen Muttersprache entsetzt. [...] Doch ich will sie nicht verspotten. Meinethalben mögen sie in Frieden ihren Mühlbrunnen oder ihre Felsenquelle schlürfen. Aber freilich zu den Annehmlichkeiten von Karlsbad tragen sie nicht bei." (Karlsbader Allerlei. In: Riegel 1898, Bd. I, S. 5 9 - 9 8 . Hier: S. 67f.)

8

Relativ glimpflich k o m m e n die Italiener d a v o n , doch sieht sich auch in ihrem Fall der Bildungsreisende Riegel „völlig frei von jener Schwärmerei, die drüben jenseits der Alpen Alles vollkommen zu finden wähnt. [...] Im vollen Gegentheil! Ich verließ unser deutsches Land mit dem entschiedensten Bewußtsein seines Werthes!" (Auf ins Land Italia! In: Riegel 1898, Bd. III, S. 1—7. Hier: S. 3 f.). Riegel besichtigt die italienischen Städte und ihre kunstgeschichtlichen Schätze mit — insgesamt gesehen — großem Respekt, ja auch mit Bewunderung, spricht über die Italiener der Gegenwart jedoch oft in gönnerhaftem Ton, ζ. B.: „ S o ist eben hier [in Neapel. H . B.] d a s Volk, kindisch und kindlich, wie es eben trifft, aber gut, begabt und bildungsfähig [...], so daß man den Verkehr mit ihnen sich ohne M ü h e angenehm und sogar unterhaltend gestalten kann. [...] Schlecht sind sie nicht, und durch O r d n u n g und Zucht wären sie gewiß zu sehr nützlichen und gesitteten Menschen zu erziehen" (Kleine Abenteuer und große Eindrücke in Neapel. In: Riegel 1898, Bd. IV, S. 1 7 7 - 2 1 8 . Hier: S. 213 f.).

Der Allgemeine Deutsche Sprachverein

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Eine psychoanalytische Beschreibung der Persönlichkeit des Reinigers Herman Riegel fände ergiebiges Material in seinem Essay „Was ist Bildung?" (Riegel 1898, Bd. I, 1 - 2 7 ) . Riegels Antwort auf diese Frage lautet: „Bildung ist Befreiung vom Schmutze" (ebd., 9), und er beruft sich dabei auf einen Ausspruch Justus von Liebigs: „Der Verbrauch der Seife ist der Maßstab für die Bildung eines Volkes" (ebd., 10). Angesichts des Massenelends und der schlimmen hygienischen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts sind Liebigs Worte ernst zu nehmen, und auch Riegels daraus abgeleitete apodiktische Definition von „Bildung" verdient es trotz ihrer offenbaren Einseitigkeit nicht, belächelt zu werden. Das neunzehnte Jahrhundert ist die Epoche, in der die Bekämpfung der Infektionskrankheiten ihre ersten, bahnbrechenden Erfolge erringt (durch die Forschungen von Robert Koch, Ignaz Philipp Semmel weis und anderen mehr), in der die öffentliche Hygiene zur angestrebten „Lebensgrundlage" (Vanja 1993, 203) und der Mensch zu einem (wiederum als Zielvorstellung gedacht) „homo hygienicus" wird (vgl. Labisch 1992). Riegels Dictum „Bildung ist Befreiung vom Schmutze" drückt also, wenn auch auf eine merkwürdige Weise zugespitzt, nur die allgemeinen Überzeugungen und die mentale Verarbeitung der Errungenschaften seiner Zeit aus. Dennoch bleibt es befremdlich, daß Riegel sich auf den 27 Seiten seines Essays über das Wesen der Bildung vom Lob der Seife einfach nicht lösen kann. Er schlägt dabei mühelos den Bogen vom Materiellen (der Seife und der Reinlichkeit) über das Ideell-Ideale („Ihre [d. h. der Reinlichkeit und Sauberkeit] unmittelbare Folge ist die Ordnung, die göttliche und heilige, die der Dichter als Himmelstochter preist"; Riegel 1898, Bd. I, 13) zum Nationalistischen: Sind die Franzosen, Italiener und Spanier uns und anderen germanischen Nationen etwa deswegen so thurmhoch überlegen, weil gewisse stille Örter in ihren Häusern meist recht unsauber sind? (ebd.)

Die der Hygiene und damit der Gesundheit und der Ordnung entschiedener zugewandten germanischen Nationen stehen für Riegel über den romanischen, weil bei diesen Unsauberkeit, Ungesundheit und Unordnung zu Hause sind. Von Norden nach Süden betrachtet, beginnt — wie wir gesehen haben — das Reich der Unordnung bereits in Bayern, wo „eine gewisse strenge Ordnung" zu vermissen ist. Daß die Bekämpfung der aus den mediterranen Sprachen, Ländern und Kulturen ins Deutsche übernommenen Wörter von Riegel als ein Akt der Hygiene bezeichnet wird („Schmarotzerpack", „Heilung einer schweren Seuche", s. o.), ist nun weniger überraschend. Denkt man das allegorische Bild zu Ende, so

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Herbert Blume

ergibt sich für den Sprachreiniger — je nachdem — die Rolle des Arztes oder des Kammerjägers. Wer über Riegel schreibt, darf seine hoch zu veranschlagenden Verdienste als Museumsdirektor nicht übergehen (vgl. Fink 1976, 114—122; Wex 1987a). Herman Riegel ist es zu danken, daß die herzoglich-braunschweigischen Kunst- und Gemäldesammlungen, die in ihrem Kern auf die Sammeltätigkeit Herzog Anton Ulrichs (des barocken Dramen- und Romanautors) sowie auf die Herzog Karls I. (des Gründers des Collegium Carolinum) zurückgehen, nicht jenem Verfall ausgesetzt geblieben sind, der ihnen wegen unsachgemäßer und unzulänglicher Unterbringung im späten 19. Jahrhundert noch drohte, bevor Riegel nach Braunschweig berufen wurde. Riegel hat der herzoglichen Regierung durch sein unnachgiebiges Lästigfallen den Neubau einer zur damaligen Zeit museumstechnisch hochmodernen Gemäldegalerie abgetrotzt: das heutige Herzog-Anton-Ulrich-Museum. Als Architekten hatte Riegel den Direktor und zugleich Erbauer des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main, Oskar Sommer, gewinnen können. D a s Braunschweiger Gebäude wird an der Außenseite seines Mezzaningeschosses von einer Relief-Folge geziert, die 20 der bedeutendsten Maler Europas entweder im Portrait darstellt oder ihre Namen nennt. Wir finden dort Dürer und Schongauer, Rembrandt und Rubens, Giotto und Leonardo, Murillo und Velasquez. Nur die französischen Maler sucht man vergebens: Claude Lorrain, Boucher, Watteau werden übergangen, Frankreich wird mit Mißachtung gestraft. Dies war so gewollt. Es nur aus der allgemeinen Stimmung nach dem Krieg von 1870/71 erklären zu wollen (wie Wex 1987b, 23) reicht nicht aus. Vielmehr sind für Riegel die französischen Maler des 17. und 18. Jahrhunderts bis zur Revolution allesamt Vertreter einer „Afterkunst" (Riegel 1876, 14). Den französischen Malern dieser Epoche, namentlich Boucher und Watteau, billigt er allenfalls Talent zu, aber letztlich ist auch bei diesen fast alles nur „Theaterdecoration" (ebd.), „Kunst in ihrer tiefsten Erniedrigung" (ebd.), „hohles und gespreiztes Pathos" (ebd., 16). Diese Auswahl aus einer größeren Fülle anführbarer Beispiele mag hier genügen. Sie zeigt uns den verdienstvollen Museumsmann Herman Riegel in seinen autobiographischen, feuilletonistischen, kunsthistorischen, museumspraktischen und sprachpuristischen Äußerungen als jemanden, der von der Überlegenheit preußischer Verhältnisse und von der Inferiorität des zeitgenössischen romanischen Auslands überzeugt ist, überdies beseelt von einem speziellen Haß gegen Frankreich, gegen die Franzosen und gegen fast alles Französische.

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2. Ein Deskriptionsmodell des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, seiner Voraussetzungen, Aktivitäten und Wirkungen

Den Einstellungen gegenüber Ausländischem und dem Ausland, besonders gegenüber Frankreich, die bei der Betrachtung des Individuums Herman Riegel zu Tage treten, entspricht die Haltung, mit der auch in der „Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" immer wieder über Frankreich, die Franzosen, die französische Sprache und im weiteren über fast alles Fremdsprachige geurteilt wird, von Riegel wie von vielen anderen. Aus diesem Grunde erscheint mir das Fragezeichen, das Reinhard Olt dem Obertitel („Wider das Fremde?") seines Buchs über das „Wirken des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins in Hessen 1 8 8 5 - 1 9 4 4 " (Olt 1991) anfügt, durchaus unangemessen. 9 Der Sprachverein betätigte sich generell „wider das Fremde". Dem widerspricht nicht, daß man im Sprachverein über das Ausmaß der vorzunehmenden Sprachreinigung und über die einzuschlagenden Wege häufig verschiedener Ansicht gewesen ist und daß dies auch in Darmstadt nicht anders war, wie die von Olt dargebotenen Quellen belegen. Bei aller Anerkennung der von Olt geleisteten Detailforschung, deren Ergebnisse zeigen, daß es in Darmstadt (wie auch an anderen Orten) neben dem lexikalischen Purismus durchaus auch andere Tätigkeitsfelder des Sprachvereins gegeben hat, bleibt nach der Lektüre dennoch der Eindruck zurück, daß Olts Buch, als ganzes genommen, die politische Dimension des Untersuchungsgegenstandes verkennt und zu harmlos darstellt. Umgekehrt

9

Im Vorwort zu seinem Buch erklärt Olt es u. a. als seine Absicht, den „Verdächtigungen nachzugehen", daß im Allgemeinen Deutschen Sprachverein „von Anfang an einem überzogenen Nationalismus gehuldigt" worden sei und daß man den Verein sei als einen „Wegbereiter des Nationalsozialismus" zu betrachten habe. Olt versucht, diese „Verdächtigungen" mit drei Argumenten zu entkräften: (1) Der deutsche Purismus beginnt nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern hat eine Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. (2) Auch in Frankreich gab und gibt es einen Sprachpurismus. (3) Am Beispiel der Tätigkeit des Darmstädter Zweigvereins ist abzulesen, daß der Sprachverein sich nicht nur mit der „Fremdwortfrage", sondern auch mit vielen anderen Themen (Rechtschreibung, Namenkunde, Orthoepie, Dialekte, Fraktur- oder Antiquaschrift etc.) befaßte. Es liegt auf der H a n d , daß keines dieser Argumente geeignet ist, den Vorwürfen entgegenzutreten, gegen die Olt den Sprachverein in Schutz nehmen möchte. Olts Darstellung mangelt es über weite Strecken an Distanz zu den referierten historischen Sachverhalten.

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könnte man mir und meinem in dunklen Farben entworfenen Bild von Riegels politisch-weltanschaulichen Überzeugungen vorhalten, es sei unzulässig, ja denunziatorisch, aus der Biographie oder gar dem Psychogramm des Vereinsgründers Urteile über die real verfolgten sprachpolitischen und nationalpolitischen Ziele des gesamten Sprachvereins abzuleiten. In der Tat wäre eine einzig und allein biographistisch begründete Bewertung des Sprachvereins unzulänglich. Unsere Schwierigkeiten bei der Bewertung des Sprachvereins rühren daher, daß wir den weltanschaulichen und politischen Anschauungen des Vereins heute mißbilligend, seinen linguistischen Zielen zumindest skeptisch gegenüberstehen, daß hingegen der Sprachzustand (besonders: der Zustand des Wortschatzes der dt. Standardsprache), den das Wirken des Vereins (mit)produziert hat, fester Bestandteil unserer eigenen Sprachkompetenz ist, „als wär's ein Stück von mir". Wörtern wie Abteil, Bahnsteig, Rückfahrkarte, Fahrgast haftet für uns nicht die Konnotation des Nationalismus an, obwohl sie aus nationalistischen Motiven heraus propagiert worden sind. Sie sind uns nicht von vornherein unsympathisch. Das unterscheidet die allermeisten Neologismen der wilhelminischen Epoche von denen des sogenannten Dritten Reichs. Dieses Dilemma (die Motive der neologistischen Tätigkeit des Sprachvereins sind uns nicht geheuer, gleichwohl genießen wir in aller Unschuld die Früchte seines Wirkens) ist nun nicht dadurch zu beseitigen, daß man das erste durch das zweite entschuldigt. Dieser Gefahr ist Oit m. E. erlegen. Vielmehr gilt es, genauer hinzusehen, d. h . : 1 0 (1) die historischen und sprachhistorischen Gegebenheiten, unter denen der Sprachverein angetreten ist, genauer in den Blick zu nehmen, desgleichen (2) seine institutionelle Beschaffenheit und seine sprachlenkende Tätigkeit zu betrachten und (3) die sprachpolitischen, institutionengeschichtlichen und vor allem sprachgeschichtlichen Ergebnisse seines Wirkens zu analysieren. Dabei sollten (4) die ideologischen und politischen Affinitäten und Unterschiede des Sprachvereins zu anderen Vereinsbildungen nicht außer acht gelassen werden, die unter den Farben Schwarz-Weiß-Rot ins Leben gerufen worden sind (etwa: Alldeutscher Verband, Deutscher Flotten verein), 1 1 sowie auch zu den im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold 10

Die in Klammern gesetzte Ziffer verweist hier und im folgenden auf die Abteilungen des beigefügten Diagramms (Abb. 2).

11

W i e im Allgemeinen Deutschen Sprachverein bildeten auch in den Ortsvereinigungen des „Alldeutschen Verbands" und des „Deutschen Flottenvereins" die (politisch oft den National-Liberalen bzw. den Konservativen nahestehenden) Lehrer die aktivste und in den Vorständen a m stärksten vertretene Berufsgruppe (Vondung 1 9 7 6 , 2 5 ff.) Den Hinweis auf Vondung verdanke ich der Arbeit von Kerstin Fahlbusch ( 1 9 9 0 ) .

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entstandenen Vereinsbildungen der Vormärzzeit (ζ. B. Turnbewegung, Gesangvereine, Bürgervereine). Schließlich sollten (5) auch vergleichende Blicke auf die puristischen Bewegungen in anderen Sprachnationen geworfen werden, was wiederum die Einordnung des deutschen Purismus des wilhelminischen Kaiserreichs in eine allgemeine Theorie bzw. Typologie der „action humaine sur les langues" (Hagège 1983) möglich wäre. Solch eine übereinzelsprachliche, systematisierende Einordnung hätte aber keine apologetischen Zwecke zu verfolgen (etwa: „Die Franzosen oder die Isländer sind noch viel schlimmere Sprachnationalisten als die Deutschen"), 1 2 sondern hätte primär der Ausarbeitung einer Typologie des Sprachpurismus zu dienen, in der dann die besonderen Eigenschaften des vom Allgemeinen Deutschen Sprachverein betriebenen Purismus umso deutlicher hervorträten. Nur die Berücksichtigung möglichst vieler Facetten und ihre Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven dürfte eine gerechte Beurteilung des Sprachvereins ermöglichen. Ich habe damit das beigefügte Schaubild (Abb. 2), welches eine Vielzahl möglicher, mir fruchtbar erscheinender Forschungsfelder der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung in Sachen Sprachverein vor Augen stellen will, in seinen Grundzügen erläutert. Keineswegs möchte ich hier den Eindruck erwecken, als sei auf allen Arbeitsfeldern, die in den Kästchen des Schaubildes benannt sind, noch sämtliche Arbeit von Grund auf zu leisten. An grundlegenden, informativen Arbeiten über den Sprachverein mangelt es nicht. Ich erwähne hier nur die Namen Alan Kirkness (mit dem Schlußkapitel seiner Arbeit (Kirkness 1975)), Peter von Polenz (etwa mit seinen Aufsätzen „Sprachpurismus und Nationalsozialismus" (1966) und „Sprachnormung und Ansätze zur Sprachreform im Deutschen" (1984)), dann die drei Aufsätze von Helmut Bernsmeier (1977, 1980, 1983) die Dissertation von Johanna Hillen (1982)

12

Olt (1991, 58) will mit seinen Ausführungen über den französischen Sprachpurismus seine Leser davon überzeugen, „daß man in Paris mit der Fremdwort-Frage nach einer bestimmten Richtung hin umzugehen gelernt hat und — daß es in Deutschland keine Sonderentwicklung gegeben hat". In diesem Zusammenhang bezeichnet er die polemischen Äußerungen eines René Etiemble als Bemühungen um „Sprachhygiene" (ebd., 54). Purismus wird damit von Olt als ein desinfektorischer Akt begriffen. Die mangelnde Distanz einer solchen Formulierung zu den Forderungen Herman Riegels, dem es bei der „Sprachreinigung" um die „Heilung von einer schweren Seuche" ging (Riegel 1883b, 7; siehe oben), ist unübersehbar. Zu Riegels Motivierungen des Purismus vgl. auch Blume (1991, 606).

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sowie die Arbeit von Reinhard Olt (1991). Von den Publikationen, die aus dem Sprachverein selbst hervorgegangen sind, ist zunächst Hermann Dungers Rückschau „Die deutsche Sprachbewegung und der Allgemeine Deutsche Sprachverein 1885—1910" (Dunger 1910) zu nennen, außerdem mindestens noch die Arbeit von Otto Steuernagel (1926) über „Die Einwirkungen des deutschen Sprachvereins auf die deutsche Sprache". Noch weitere Namen wären zu erwähnen; ich unterlasse dies der Kürze halber. Gleichfalls versage ich es mir, hier nachzuzeichnen, in welchen der in meinem Schema abgesteckten Forschungsfelder die Informationsschwerpunkte der genannten Arbeiten liegen. Sichtbar wird auch, daß meine knappen, im Rahmen dieses Beitrags wiederum recht platzgreifenden biographisch-mentalitätsgeschichtlichen Ausführungen über Herman Riegel nur Teil einer kleinen Facette (1.11) des Gesamtbilds sein können. Ich meine allerdings, daß die exemplarische Erforschung von Biographien wichtiger Mitglieder (Dunger, Sarrazin, Scheffler, Lohmeyer, Reuleaux u. a. m.) ein nicht zu unterschätzendes Feld der Erkenntnis ausmacht, weil biographische Studien am konkreten Beispiel etwas vom Geist der Zeit sichtbar werden lassen können, der die maßgeblichen Gestalter des Vereins geprägt und geleitet hat. Selbstverständlich aber ist die Geschichte des Sprachvereins nicht auf die Biographie von Einzelpersonen reduzierbar. Zu den Entstehensbedingungen und prägenden Kräften gehören weiterhin die unter 1.12, 1.13 und 1.14 genannten Faktoren: etwa (1.11) die rhetorische Tugend der Puritas, die ursprünglich eine Forderung an die Qualität eines Textes, also an die „Parole" war, die im Sprachpurismus aber dann (spätestens seit der Zeit des Humanismus) zu einer Forderung an die „Langue" umformuliert worden ist. Weiterhin sind unter 1.12 die Stichworte „Nationalismus" und „Bildungsideologie von Teilen des Bürgertums" einzutragen, unter 1.13 sind die politischen Ereignisse in Deutschland seit 1806 (Franzosenzeit, Freiheitskriege, Vormärz und Märzrevolution, nachmärzliche Restauration, Reichsgründung) zu bedenken, unter 1.14 die von Kirkness (1975) beschriebenen „Vorläufer" des Sprachvereins seit dem 18., vielleicht sogar seit dem 17. Jahrhundert, die der Sprachverein allerdings bisweilen recht eigenmächtig zu seinen Vorläufern und Geistesverwandten erklärt hat. Anstatt damit fortzufahren, das Schaubild auf die begonnene Weise stichwortartig zu erläutern, möchte ich mich im folgenden auf die Kommentierung weniger Einzelfelder konzentrieren. Ich greife die Felder 2.11 (Sozialstruktur der Mitgliederschaft des Vereins) und 3.21 (Auswirkungen auf die Struktur des deutschen Wortschatzes des 20. Jahrhunderts) heraus.

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