Spiritueller Schiffbruch?: Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen [1 ed.] 9783666453359, 9783525453353

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Spiritueller Schiffbruch?: Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen [1 ed.]
 9783666453359, 9783525453353

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Sarah Pohl

Spiritueller Schiffbruch? Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen

Sarah Pohl

Spiritueller Schiffbruch? Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: studiostoks/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45335-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kompass und Seekarte: Spiritualität und Glaube heute . . 11 Seemannsdeutsch: Spiritualität, Religiosität und Esoterik . . . . . 14 Spiritualität vs. Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Esoterik vs. Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Glaube vs. Aberglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Religionsfreiheit: Oder darf man überallhin segeln? . . . . . . 19 Seekarte: Ein Überblick über die heutige Glaubenslandschaft . 21 Zahlen und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Veränderungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Jugend ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Aspekte spiritueller Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Zwischen Pluralisierung und Politisierung . . . . . . . . . . . . . . 31 Zwischen Konsumgut und Verzauberung . . . . . . . . . . . . . . . 33 Zwischen mehr Verbindlichkeit und »to go«-Mentalität . . . 36 Zwischen Selbstverwirklichung und Komfortzonen­spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Zwischen Spezialisierung und Ganzheitlichkeit . . . . . . . . . . 42 Zwischen teuren Angeboten und Taschengeldbudget . . . . . 43 Zwischen Spiritualisierung und Pathologisierung . . . . . . . . 44 Zwischen Personenkult und Selbstüberhöhung . . . . . . . . . . 47 Die Spreu vom Weizen trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Stürmische Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Sinnkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Wertefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die Crew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Passung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Gruppendruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Inhalt

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Die Macht der Sozialen Beeinflussung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Meuterei? Von Aussteigern und Sündenböcken . . . . . . . . . . 74 Entwicklungsphasen von Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Die akute Trennungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Die Gefühlschaos-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Welche Erfahrungen möchten Sie gern machen? Die Neuorientierungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Die »Auf zu neuen Ufern«-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Rangdynamiken: Von Gurus, Coaches und Sündenböcken . . . . 90 Alphaposition: Coach oder Guru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Omegaposition: Der Sündenbock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Auf dem falschen Dampfer unterwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Angst erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Überzeugungsorientierte Manipulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Druck aufbauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Low Balling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Foot-in-the-door-Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Regel der Gegenseitigkeit (Reziprozitätsnorm) . . . . . . . . . . . 108 Freundschaftstrick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Schuldgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Esoteriksucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Mediumsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Astrosucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Heilersucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Schiffbrüchige und ihre Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Fallbeispiel: Die religiöse Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Fallbeispiel: Furcht vor Gott oder Gottesfurcht? . . . . . . . . . . 132 Fallbeispiel: Die Gruppe ist an allem schuld . . . . . . . . . . . . . 136 Fallbeispiel: Radikale Glaubens- und Lebensentwürfe . . . . 139 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Weiterführende Literatur und Hilfreiche Adressen . . . . . . . 154

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Inhalt

VORWORT

»In Seenot geraten, beten sogar die Atheisten.« (Heinz Nitschke1)

Haben Sie schon mal spirituellen Schiffbruch erlitten? Sind Sie sozusagen »baden gegangen« mit Ihren Glaubens- und Wertvorstellungen? Womöglich befinden Sie sich sogar gerade in stürmischen Zeiten und haben sich diesen Ratgeber besorgt, vielleicht in der Hoffnung, einen Kompass zu finden, der Ihnen hilft, wieder in ruhigere Fahrwasser zu gelangen. Oder aber jemand, den Sie gern mögen, ist vom Kurs abgekommen, und Sie machen sich Sorgen. Man kann auf unterschiedlichste Art und Weise kentern im Glauben. Manchmal kann der Verlust von Arbeit, eine Trennung oder ein Schicksalsschlag zu einer spirituellen Krise führen. Auch die Coronapandemie hat bei vielen Menschen existenzielle Situationen ausgelöst. Nicht umsonst haben esoterische und spirituelle Anbieter in der Krise Konjunktur. Denn viele existenzielle Krisen beinhalten auch spirituelle Aspekte. Existenzielle Krisensituationen werfen Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum auf. Die Wege, welche in spirituelle Krisen führen können, sind vielfältig; so kann eine spirituelle Krise auch verursacht werden durch bestimmte Praktiken, okkulte Experimente, Nahtoderfahrungen oder gar Drogen. Auch die Konfrontation mit Tod und Sterben kann in spirituelle Krisen führen. In diesem Buch allerdings beschränken wir uns auf solche Situationen, die begünstigt wurden durch den Markt der »neuen Sinnanbieter«. Elisa etwa war seit ihrer Jugend neugierig. Und so buchte sie ein esoterisches Retreat, lernte Reiki und ließ sich als Schamanin ausbilden. Bis sie während ihrer Ausbildung feststellte, dass es mit dem Ausbilder immer wieder Ärger gab. Weil er sich, wie sie meinte, selbst für einen 1 https://www.aphorismen.de/zitat/207843 (15.07.2021). Vorwort

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Halbgott hielt, keinen Raum für Widerspruch oder kritische Fragen duldete und überdies ungünstigen Einfluss auf ihre Partnerschaft nahm. Sie verließ die Ausbildungsgruppe, doch die Erfahrungen, die sie dort gemacht hatte, hinterließen Spuren. Elisa fühlte sich orientierungslos, hatte eine unglaubliche Wut auf den Ausbilder und überdies war sie eine Menge Geld losgeworden.

Elisas Geschichte ist leider kein Einzelfall. Immer wieder erzählen mir Menschen ähnliche Geschichten. Sie berichten beispielsweise davon, wie sie auf dem Esoterikmarkt regelrecht ausgenommen wurden, wie sie von einem Angebot zum nächsten schlitterten oder sich in ungünstigen Abhängigkeiten wiederfanden. Oft sind diese Erfahrungen schambehaftet, und manchmal dauert es, bis Menschen es wagen, darüber zu sprechen. In diesem Buch werden einige typische Geschichten von Menschen vorgestellt, die auf dem Markt der »neuen Sinnanbieter« Schiffbruch erlitten haben. Schnell könnte hier nun der Eindruck entstehen, es würde darum gehen, ein Exempel zu statuieren, und die Geschichten der Schiffbrüchigen könnten dazu einladen, die gesamten neuen Entwicklungen auf dem religiösen Markt kritisch zu sehen. Darum geht es mir jedoch nicht. Ich möchte niemanden davon abhalten, sich auf Entdeckungsreise oder, um in der Metapher dieses Buches zu bleiben, auf Seefahrt zu begeben. Stürmische Zeiten im Leben sind etwas völlig Normales. Unter Seeleuten gibt es das Sprichwort: »Niemand hätte jemals den Ozean überquert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, bei Sturm das Schiff zu verlassen.«2 Grundsätzlich also will ich Sie mit diesem Buch auch ermutigen. Zu jeder Seefahrt gehören stürmische Zeiten und das Risiko zu kentern. »Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen«, steht auf einer Postkarte, die in meiner Küche hängt. Dieser Spruch erinnert mich daran, dass es nicht immer unser eigenes Versagen oder unsere eigene Unfähigkeit ist, die uns in Seenot geraten lässt, sondern manchmal können äußere Umstände, Pandemien, diverse Anbieter und unseriöse Angebote 2 Charles F. Kettering (https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_charles_f_kettering_ thema_entschlossenheit_zitat_7222.html – 15.07.2021).

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Vorwort

einen Beitrag dazu leisten. Dennoch will ich weg von Täter-OpferBewertungen, denn dabei wird rasch übersehen, dass Menschen weltanschauliche Angebote aufgrund bestimmter Bedürfnisse selbstverantwortlich gewählt haben. Segel richtig zu setzen bedeutet, mit Krisen umgehen zu lernen. Nicht immer genügt es allerdings, die Segel richtig zu setzen. Manch ein Sturm kann so heftig sein, dass Menschen ernsthaft in Not geraten, ja möglicherweise sogar über Bord gehen. Willigis Jäger sagte einmal: »Wenn ein Psychotiker ins Meer fällt, geht er unter. Wenn ein Mystiker ins Meer fällt, kann er schwimmen« (zit. n. Bertschinger, 2019, S. 219). Dieser Ausspruch verdeutlicht: Schiffbruch im Glauben zu erleiden bedeutet nicht das Ende – solange Sie schwimmen können. Schwimmen allerdings lernt man nicht an Land. Deswegen: Begeben Sie sich getrost auf See. Damit Sie auf Ihrer Seereise nicht die Orientierung verlieren, lade ich Sie ein, zunächst einen Blick auf die »Seekarte« zu werfen. Lassen Sie uns gemeinsam ergründen, wie die heutige Glaubenslandschaft aussieht, welche Anbieter um Klienten buhlen, welche Besonderheiten und Gefahren die neuen Entwicklungen auf dem weltanschaulichen Markt bergen. Ein besonderer Fokus wird dabei immer wieder auch auf der vermarkteten Spiritualität liegen, weil sich hier besonders viele Untiefen auftun. Wir begleiten einige Menschen auf ihrer »Seereise des Glaubens«, allerdings sind die Geschichten dieser Menschen anonymisiert und verfremdet, daher sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Gruppenpsychologische Aspekte spielen besonders dann, wenn Abhängigkeiten entstehen oder Überzeugungen sich verändern, eine wichtige Rolle. Deshalb genügt es nicht, nur die Anbieter im Blick zu behalten, sondern auch »die Crew« rückt in den Fokus. Welche Dynamiken etwa können sich in Gruppierungen entwickeln, und wie fühlt es sich an, ausgestoßen zu werden, im sprichwörtlichen Sinn über Bord zu gehen? Auch die Erkenntnis, auf dem »falschen Dampfer« unterwegs zu sein, also zu merken, dass die Glaubensgruppe nicht zu den eigenen Überzeugungen und Erwartungen passt, wird thematisiert. Denn eine Gruppe zu verlassen ist oft ein einschneidender und schmerzhafter Prozess im Glaubensleben. Ich habe im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit bei ZEBRA/ BW (Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen BadenVorwort

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Württemberg) mit vielen »Schiffbrüchigen« gesprochen, habe Menschen durch stürmische Zeiten begleitet und dabei von ihnen eine Menge gelernt. Die Geschichten dieser Menschen mögen auf den ersten Blick vielleicht abschreckend wirken und möglicherweise davon abhalten, sich auf die Entdeckungsreise nach der eigenen Spiritualität und den eigenen Glaubenswurzeln zu begeben. Auf den zweiten Blick jedoch lernen wir von diesen Menschen, was in solchen Situationen hilfreich war. Wir bekommen Survivaltipps für das Kentern auf hoher See, wir erfahren mehr über Rettungsreifen, Anker und Rettungsboote. Ich habe immer gerne Geschichten von Abenteurern gelesen, denn im Grunde helfen all die Survivaltipps dabei, bestimmte Dinge in schwierigen Lagen richtig zu machen. Wenn ich Ihnen also im Folgenden von einigen Situationen erzähle, in denen Menschen gekentert sind, soll Sie das nicht abschrecken, sondern Ihnen zeigen, welche (oft individuellen) Lösungen es in spirituellen Krisen gibt. Glaube und Spiritualität sind eine Ressource im Leben vieler Menschen. Glaube kann helfen, besser durch schwierige Zeiten zu kommen. Aber wo Licht ist, ist eben auch Schatten. Was mir ganz besonders aufgefallen ist in den letzten Jahren: Gerade kommerzialisierte Formen von Spiritualität bergen offenbar ein besonderes Risikopotenzial. Ein differenzierter Blick auf die Auswirkungen von Glauben schließt mit ein, sich mit dem auseinanderzusetzen, was auf einer Seereise schieflaufen kann. Das wiederum hilft, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen. Deswegen lade ich in diesem Buch mit kleinen Do-it-yourselfs (DIYs) immer wieder dazu ein, Dinge auszuprobieren. Diese Praxistipps gründen auf meinen Erfahrungen mit »Schiffbrüchigen« und zeigen, was sich manchmal bewährt bei Glaubens- und Wertekrisen. Allerdings ist keine Krise wie die andere. Und in manchen Fällen ist es angezeigt, Unterstützung mit ins Boot zu holen. Auch mögen manche Tipps und Übungen sich in Ihrer Situation völlig unpassend anfühlen. Suchen Sie sich daher das heraus, was zu Ihnen passt. Verwerfen Sie nach Herzenslust, überspringen Sie Kapitel und seien Sie Ihr eigener Kapitän, Ihre eigene Kapitänin. Sie wissen am besten, wohin Sie steuern wollen und welche Tools dabei für Sie passend sind. 10

Vorwort

KOMPASS UND SEEKARTE: SPIRITUALITÄT UND GLAUBE HEUTE »Das Leben ist ein Schiffbruch, aber wir dürfen nicht ­vergessen, in den Rettungsbooten zu singen.« (Voltaire 3)

Sind die Menschen heutzutage weniger gläubig als vor fünfzig Jahren? Wenn wir den neuesten Studien Glauben schenken wollen, dann lautet die Antwort: Nein. Nach wie vor sind Menschen hierzulande gläubig. »Wer geht denn heute noch in den Gottesdienst, ja wer weiß denn überhaupt noch, was Weihnachten gefeiert wird oder was es mit Ostern auf sich hat?«, werden Sie sich berechtigterweise fragen. Denn es ist offensichtlich, dass die religiöse Landschaft sich über die Jahrzehnte gewandelt hat; ein Blick in die leeren Kirchenbänke am Sonntagmorgen bestätigt das. Schaut man jedoch auf einer Esoterikmesse vorbei oder zappt sich durch die Fernsehkanäle, dann manifestiert sich ein anderer Eindruck. Hier wächst und gedeiht eine bunte Vielfalt und eine teils abenteuerliche Mischung unterschiedlichster weltanschaulicher Konzepte. Für jeden Geschmack wird etwas geboten. Bei Astro TV gibt es Rat in jeder Lebenslage, für Wehwehchen und handfeste Krankheiten jeder Art werden alternativmedizinische Mittelchen und Praktiken feilgeboten, und wer auf Sinn- und Glückssuche ist, hat die Qual der Wahl und kann beim Universum persönlich eine Portion Glück oder notfalls auch einen freien Parkplatz bestellen. Wir stellen also fest: Glaube ist nicht verschwunden, sondern hat sich verändert. Diese Veränderung betrifft vor allem den Inhalt dessen, was geglaubt wird. Trotz Aufklärung und Rationalismus scheint bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Glauben nicht abhandengekommen zu sein. Aber woran glauben Menschen in unserem Jahrtausend eigentlich? Glaube hat für viele Menschen eine andere Bedeutung bekommen. Glaube wurde individueller, vielschichtiger, wandelbarer, ressourcen3 https://www.aphorismen.de/zitat/187467 (15.07.2021). Kompass und Seekarte

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orientierter, selbstbezogener, erlebnisorientierter, mannigfaltiger, persönlicher, autoritätsgebundener, autoritätsloser, angstbefreiter, fundamentalistischer, offener, konsensfähiger, bunter, konsumorientierter, lebensnäher, mystischer … Die Entwicklung des weltanschaulichen Marktes verläuft keinesfalls einheitlich, sondern es lassen sich unterschiedlichste Tendenzen und Strömungen feststellen. Während die einen eher in traditionellen Kirchen verwurzelt sind, haben sich andere auf spirituelle Wanderschaft begeben, probieren aus, testen, verwerfen und experimentieren. Ergebnis dieser Entwicklung kann ein bunter Patchworkglaube im Do-it-yourself-Stil sein, der aus unterschiedlichsten Quellen schöpft. Wie wirkt sich das auf die menschliche Psyche aus? Mittlerweile erkennen viele Psychologen und Therapeutinnen das ressourcenhafte Potenzial von Glaubensüberzeugungen. Glaube und Spiritualität finden vermehrt Einzug in diverse psychotherapeutische Konzepte. Aber sind Glaube und Spiritualität überhaupt das Gleiche? Wo hört Glaube auf und wo fängt Aberglaube an? Und was hat Esoterik mit Spiritualität zu tun? Nehmen wir diese Begrifflichkeiten also erst mal genauer unter die Lupe … Vielleicht haben Sie sich beim Lesen bereits die Frage gestellt, wo Sie eigentlich stehen, was Sie glauben und woraus sich Ihr Glaube zusammensetzt. Die beiden folgenden DIYs können bei Ihrer persönlichen Standortbestimmung hilfreich sein. O U RS E L DO IT Y

F!

Malen Sie Ihren eigenen Glaubensweg auf! • Ist dieser geradlinig, gewunden, steinig, steil? • Wer geht mit Ihnen auf diesem Weg? • An welchen wichtigen Wegkreuzungen sind Sie vorbeigekommen? • Welche Farben hat Ihr Glaubensweg in den unterschiedlichen Lebensphasen? • Wann gab es dunkle Zeiten auf diesem Weg? • Wann war es leicht und schön? • Wohin führt dieser Weg?

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Kompass und Seekarte

O U RS E L DO IT Y

F!

Kurze Bestandsaufnahme Diese Fragen können Sie sich selbst stellen. Vielleicht aber gibt es auch jemanden, mit dem Sie sich darüber austauschen mögen. • Welche religiösen Bilder und Vorstellungen prägten Ihre Kindheit? • Welche Religionen gab es in Ihrer Herkunftsfamilie? • Gab es religiöse Differenzen und Spannungen in Ihrer Herkunftsfamilie? • Welche Rolle spielt Glaube in Ihrem Leben? • Welche negativen Erfahrungen haben Sie mit gläubigen Menschen gemacht? • Welche positiven religiösen Vorbilder haben Sie? • Fällt es Ihnen schwer, andere Meinungen und Glaubenshaltungen zu akzeptieren? • Fällt es Ihnen schwer, sich in gläubige Menschen hineinzuversetzen? • Nutzt Glaube? • Schadet Glaube? • Welche Erfahrungen haben Sie mit institutionalisierter Form von Religion gesammelt? Sind Sie in eine Kirche oder Moschee gegangen? • Haben Sie einen Bezug zu religiösen Ritualen? • Haben Sie in Ihrem Leben schon mal ein Wunder erlebt? • Spüren Sie in Ihrem Leben das Wirken einer transzendentalen Entität?

Kompass und Seekarte

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SEEMANNSDEUTSCH: SPIRITUALITÄT, RELIGIOSITÄT UND ESOTERIK »Das Schiff des Glaubens ist immer ein Kolumbusschiff.« (Deutsches Sprichwort)

Worüber spricht man eigentlich, wenn man über Glauben spricht? Geht es um Spiritualität, um Religiosität? Und sind auch Esoterikerinnen und Esoteriker gläubig oder gar religiös? Und wer bestimmt eigentlich, was Glaube und was Aberglaube ist? Grundlegend für die Auseinandersetzung mit weltanschaulich geprägten Krisen ist eine kurze begriffliche Klärung. Spiritualität, Esoterik, Verschwörungstheorien sind zu Mode- bzw. Schlagwörtern und manchmal auch Kampfbegriffen geworden. Religiosität steht etwas im Schatten dieser schillernden Begriffe. Versucht man sich an Definitionen, stellt man rasch fest, dass all diese Begriffe trotz hoher Popularität irgendwie unscharf bzw. ideologisch vorgeprägt sind. Zu jedem dieser Begrifflichkeiten ließe sich tief einsteigen in etymologische Bedeutungen, wissenschaftliche Diskurse und sprachliche Verästelungen. Die sozialpsychologische Bedeutung diverser Begriffe ändert sich. Manche Begriffe werden zu Kampfbegriffen (wie beispielsweise der Begriff »Sekte«). Wenn wir solche Kampfbegriffe nutzen, verlieren wir rasch die Augenhöhe und stigmatisieren Menschen bzw. deren Glaubensüberzeugungen. Deshalb rate ich grundsätzlich davon ab, Gruppierungen als »Sekten« zu disqualifizieren. Dies erschwert von vornherein Dialoge und führt in der Regel zu Auseinandersetzungen. Manche Begriffe werden zu Trendbegriffen wie etwa Spiritualität. Allerdings ist bei Trends immer auch zu bedenken, dass diese irgendwann überstrapaziert werden und wieder »out« sein können. Noch vor einigen Jahrzehnten sprach hierzulande beispielsweise niemand über Achtsamkeit, heute hat der Begriff einen kometenhaften Aufstieg hingelegt. Achtsamkeit ist in aller Munde, Achtsamkeit ist in, mit Achtsamkeit lässt sich Geschäft machen. Es bleibt abzuwarten, ob diesem Aufstieg ein tiefer Fall folgen wird und Achtsamkeit zu einem Unwort verkommt. Ähnliches ist auch zu befürchten beim Begriff der Spiritualität. Spiritualität ist ein ebenso schwammiges 14

Kompass und Seekarte

Modewort und wird als solches in unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt. Ähnlich wie vegane Produkte gelabelt werden, verkommen Begriffe wie Achtsamkeit und Spiritualität zu einem diffusen Label, das Konsumenten ködert. Schenz (2019) geht sogar so weit, Achtsamkeit als »Unwort des Jahres« vorzuschlagen. O U RS E L DO IT Y

F!

Versuchen Sie einmal, sich selbst einzuordnen • Würden Sie sich als religiös bezeichnen? • Sind Sie spirituell? • Wo ziehen Sie für sich die Grenze zwischen religiös und spirituell?

SPIRITUALITÄT VS. RELIGIOSITÄT

Während dem Begriff »Religion« teils ein etwas angestaubtes Image anhaftet, scheint der Begriff »Spiritualität« in jüngster Zeit in allen Bereichen eine steile Karriere zu machen (Grom, 2009, S. 12; Bucher, 2014, S. 10). Spiritualität ist längst zu einem Modewort geworden; »spirituell zu sein« ist in: In Hollywood kann man sich mittlerweile sogar »spirituelle Pediküre mit Kristallen und ätherischen Ölen« gönnen (Dolp, 2017), und diverse Stars haben ihre »spirituellen Berater« (Anonym, 2012). Mit lila Schmetterling auf gelbem Grund können spirituelle Menschen die zu ihnen passende Partei wählen: »Die Violetten – für spirituelle Politik«, diverse Heilpraktikerschulen bieten eine Ausbildung zum spirituellen Lebensberater an, und im Internet lassen sich spirituelle Produkte von der Buddhastatue bis zum Räucherstäbchen bequem online ordern. Doch nicht nur in der Pop- und Jugendkultur ist Spiritualität zum Trendwort geworden, auch in der Psychologie scheint man eine Kehrtwende vorzunehmen. Spiritualität als Ressource wird entdeckt, die ablehnend-distanzierte Haltung weicht auch aufgrund einer immer breiteren Forschung zum Gegenstand einer offen-interessierten Haltung. Es tut sich also was, und das nicht grundlos: »Zur hohen Popularität von Spiritualität trug bei, dass sie der Gesundheit förderlich ist, das Wohlbefinden erhöht und adaptives Coping in Krisen erleichtert« (Bucher, 2014, S. 14). Seemannsdeutsch: Spiritualität, Religiosität und Esoterik

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Was ist nun aber Spiritualität? Intuitiv grenzen viele Menschen Spiritualität von Religiosität ab, indem sie beispielsweise sagen: »Ich bin spirituell, aber nicht religiös.« Menschen unterscheiden sprachlich also sehr genau. Untermauert wird dies übrigens durch eine Studie von Zinnbauer und Pargament (1998). Aber wo genau liegt der Unterschied zwischen Spiritualität und Religiosität? Spiritualität wird zumeist erfahrungsbezogener verortet als Religiosität, der man im Kontrast dazu eine gewisse dogmatische und institutionelle Orientierung nachsagt. Spiritualität kann man erleben, Religion nur bedingt (Walach, 2011; Streib u. Hood, 2011). Auch beziehen die meisten Menschen Spiritualität eher auf die individuelle Ebene und siedeln Religiosität institutionsbezogener an. Trotzdem gibt es auch Überlappungen. Oft gebrauchen Menschen Spiritualität und Religiosität auch synonym. In der Wissenschaft ist man sich übrigens überhaupt nicht einig, wie eine genaue begriffliche Definition lauten könnte. »Den Diskurs über Spiritualität könnte man mit dem linguistischen Wirrwarr um den Turm zu Babel vergleichen« (Bucher, 2014, S. 28). Auch zur Frage, ob Spiritualität Religiosität beinhaltet oder das Umgekehrte der Fall ist, besteht Uneinigkeit. Tendenziell konzeptualisieren die meisten Autoren und Autorinnen Spiritualität heute breiter als Religion (Gollnick, 2005). Spiritualität muss also nicht zwangsläufig zu Religiosität führen. Im Begriff der Spiritualität ist bereits der Trend zur stärkeren Individualisierung von Religion verortet: Jeder kann seine eigene Spiritualität haben, Religionen jedoch sind etwas Übergreifendes. Für dieses Buch soll der Begriff der Spiritualität als Form der persönlichen Religiosität verstanden werden und bezieht sich auf Erfahrungen, die religionsübergreifend stattfinden können. ESOTERIK VS. SPIRITUALITÄT

Die meisten Menschen, die von sich sagen, dass sie esoterisch sind, würden sich auch als spirituell bezeichnen. Zwar sind Esoterik und Spiritualität auf den ersten Blick zwei unterschiedliche Paar Stiefel, allerdings ergibt sich auf den zweiten Blick durchaus eine gewisse Schnittmenge. Der Begriff »Esoterik« ist im alltagssprachlichen Gebrauch in eine bestimmte Richtung vorgeprägt und 16

Kompass und Seekarte

zunehmend in Verruf geraten. »Esoterisch zu sein« ist mittlerweile eher disqualifizierend gemeint, man bringt damit Menschen in Verbindung, die mit fraglichem und pseudowissenschaftlichem Equipment herumhantieren und damit oft sich selbst und andere heilen wollen. Tarot, Heilsteine, Quantenheilung, Energetisierung – all das sind Schlagwörter, die unter dem Begriff »Esoterik« verortet werden. Die Definition der Esoterik ist allerdings in der Fachwelt ebenso umstritten wie die Definition der Spiritualität. Esoterik (von altgriechisch ἐσωτερικός/esōterikós: innerlich, dem inneren Bereich zugehörig) ist in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten, »inneren« Personenkreis zugänglich ist im Gegensatz zu Exoterik als allgemein zugänglichem Wissen. Andere traditionelle Wortbedeutungen beziehen sich auf einen inneren, spirituellen Erkenntnisweg, etwa synonym mit Mystik, oder auf ein »höheres«, »absolutes« Wissen. Leider gibt es bis heute keine allgemein anerkannte Definition dazu, die auf den Punkt bringt, was Esoterik nun eigentlich wirklich ist. Esoterik bezieht sich häufig auf bestimmte Handlungen und Aktivitäten, die durchaus spirituell oder religiös geprägt sein können. Wenn Menschen, Produkte oder bestimmte Handlungen als esoterisch bezeichnet werden, schwingt dabei oft Ablehnung und Disqualifizierung mit. Häufig impliziert dies, dass die Methode oder der Mensch nicht seriös seien. Neuerdings finden sich auch Überlappungen zwischen Rechtsextremismus und Esoterik. Und rasch ist auch hier ein neuer Kampfbegriff geboren: braune Esoterik. Auf den ersten Blick hat dieser Begriff etwas Verstörendes, stellt man sich unter »Esoterikern« doch eher grün angehauchte Alternative vor, die singend und in Einklang mit sich und der Natur das Zeitalter des Wassermannes heraufbeschwören. Wo ist in diesem Bild Platz für Rechtsextremismus und braunes Gedankengut? Bei brauner Esoterik handelt es sich oft um völkisch-kultische Lehren, angesiedelt im rechtsextremen Milieu oder zumindest mit deutlichen Bezügen dorthin. Grenzen können jedoch fließend sein. So neu, wie es scheint, ist diese Entwicklung allerdings nicht, man denke an die Zeit des Nationalsozialismus. Schon damals gab es gerade in der Führungsriege eine Verbreitung von esoterischem Gedankengut, gepaart mit ariosophischen GrundSeemannsdeutsch: Spiritualität, Religiosität und Esoterik

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zügen. Die Ariosophie ihrerseits jedoch wurzelt in okkulten/esoterischen Annahmen. Gemeinsam ist der eher linken »New-Age-Esoterik« und der rechten Esoterik heutzutage die Ablehnung des Staates und die Entwicklung von alternativen Welterklärungsmodellen. Auch in ökologischen Aspekten finden sich Schnittmengen. So verfolgt die »braune Ökologie«, ganz im Zeichen des Natur- und Heimatschutzes, ähnliche Ziele wie die grün-ökologischen Bewegungen. Atomstrom, genetische Saatgutveränderung und chemische Düngung werden abgelehnt. Braune und grüne, linke und rechte Esoterik kommen interessanterweise auf sehr unterschiedlichen Wegen zu einem ähnlichen Fazit. Gemeinsam ist beiden Strömungen eine gewisse Neophobie und Leidenschaft für verschwörungsnahe Welterklärungen sowie eine Skepsis gegenüber dem Staat. GLAUBE VS. ABERGLAUBE

»Das Urteil darüber, was abergläubisch ist und was nicht, hängt immer davon ab, was man selbst glaubt« (Hemminger u. Harder, 2000, S. 10). Wer vermag also darüber zu urteilen, ob der individuelle Glaube eines Menschen, dessen teilweise auf Erfahrungen basierende Überzeugungen Glaube oder Aberglaube sind? Sprechen wir über Glauben, kommt rasch auch Aberglaube mit ins Spiel. Im Begriff »Aberglaube« schwingt per se eine Wertung mit, denn als Aberglaube wird laut Duden ein »als irrig angesehener Glaube an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte in bestimmten Menschen und Dingen«4 gesehen. Als Aberglaube werden überdies entweder diverse Praktiken oder Überzeugungen gekennzeichnet, die nicht mit »Lehrmeinungen« oder kulturell vorherrschenden Überzeugungen übereinstimmen. Würde man nun allerdings einen Atheisten um eine Einschätzung bitten, so täte dieser vermutlich sämtliche Glaubensvorstellungen als Aberglauben ab. Ich rate grundsätzlich eher davon ab, den Glauben einer anderen Person als Aberglauben zu disqualifizieren. Denn indem wir dies tun, stellen wir uns über diesen Menschen, begegnen ihm nicht mehr auf Augenhöhe und 4 https://www.duden.de/rechtschreibung/Aberglaube (28.04.2021).

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Kompass und Seekarte

erlauben uns, ein Werturteil zu fällen. Ein indianisches Sprichwort lautet: »Urteile niemals über einen Menschen, ehe du nicht einen Monat in seinen Mokassins gelaufen bist.« Selbst Rituale, die für Außenstehende auf den ersten Blick irrig oder irgendwie seltsam erscheinen, sollten keinesfalls als Aberglaube bezeichnet werden, denn oft erschließt sich gerade in Ritualen eine tiefere Bedeutung und Wirkung. Und gerade das Bedeutungsvolle verdient eine respekt­ volle Behandlung. O U RS E L DO IT Y

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Vorurteile Natürlich haben wir trotzdem Urteile und Vorurteile über Andersgläubige. Das ist normal. Wichtig ist es allerdings, sich dieser Vorurteile bewusst zu werden. • Was ist in meinen Augen »falscher Glaube«? • Warum denke ich das? • Welche Menschen kenne ich, die in meinen Augen einem falschen Glauben anhängen? • Wie gut kenne ich diese Menschen? • Auf welcher Grundlage bin ich zu diesem Urteil gelangt?

RELIGIONSFREIHEIT: ODER DARF MAN ÜBERALLHIN SEGELN?

Der berühmte Kopftuchstreit, der Kruzifix-Streit in bayerischen Klassenzimmern oder die Debatte um männliche Genitalbeschneidung drehen sich allesamt unter anderem um die Frage, wo die religiöse Freiheit des Einzelnen beginnt oder endet. Artikel 4 des Grundgesetzes erklärt die Freiheiten des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses für unverletzlich: 1. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. 2. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. 3. Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Seemannsdeutsch: Spiritualität, Religiosität und Esoterik

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Niemand soll gezwungen werden, etwas gegen seine Gewissens- und Glaubensüberzeugungen zu tun oder zu unterlassen. Das Grundrecht aus Artikel 4 hat eine Doppelnatur. Auf der einen Seite schützt es die Menschen, die sich religiös betätigen wollen, vor staatlichen Eingriffen. Auf der anderen Seite dient es auch dem Schutz derjenigen, die mit Religion im öffentlichen Raum nichts zu tun haben wollen. In diesem Zusammenhang spricht man auch vom Recht auf positive bzw. negative Religionsfreiheit. Negative Religionsfreiheit bezieht sich darauf, dass der Staat keinen zu einem bestimmten Bekenntnis zwingen darf. Positive Religionsfreiheit bedeutet, dass jeder in seinem individuellen Rahmen glauben darf, was er möchte, sich nach freien Stücken einer Religionsgemeinschaft anschließen kann bzw. eine solche gründen darf. »Die Religionsfreiheit gehört, erstens, nicht zu den Bedingungen der Möglichkeit von Religion – sehr wohl aber zu den Bedingungen der Freiheit. Noch schärfer, zweitens: Freiheit kann Religion nicht unterdrücken – sehr wohl aber Religion die Freiheit, zumindest in einigen Spielarten der Religion« (Leicht, 2020). Religionsfreiheit fordert uns auf zu Toleranz, zu einer nicht verurteilenden Haltung gegenüber Angeboten, die uns fremd sind, bizarr erscheinen oder die wir schlichtweg lächerlich finden. Religionsfreiheit fordert auch auf zu handeln, wenn diese Freiheit in Gefahr ist oder Grenzen überschritten werden. Die Haltung des gegenseitigen Respekts ist eine Königsdisziplin, gerade dann, wenn es um Glaubensüberzeugungen geht. Denn, wie wir später sehen werden, glauben wir allzu gern, dass nur unser Glaube richtig ist, und wehren fremde Überzeugungen instinktiv ab. Dennoch: Religionsfreiheit kennt auch Grenzen. Juristisch gesehen endet Religionsfreiheit dann, wenn andere Grundrechte eingeschränkt werden bzw. die verfassungsmäßige Rechtsordnung nicht mehr gewährleistet ist. Grenzen der Religionsfreiheit sind beispielsweise überschritten, wenn: Ȥ Gewalt als Mittel zur Erreichung diverser Ziele angewandt wird; Ȥ ein totalitärer Absolutheitsanspruch vertreten wird; Ȥ die Würde einzelner Menschen missachtet wird; Ȥ Volksverhetzung und Beleidigung angewandt werden.

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Immer wieder geschieht es, dass Gruppierungen die Grenzen der Religionsfreiheit missachten. Ein Beispiel dafür ist die Gruppierung »Zwölf Stämme«. Lange Zeit war körperliche Sanktionierung ein probates Erziehungsmittel in dieser Gruppierung. Durch investigativen Journalismus wurde dieses Vorgehen öffentlich, was zur Folge hatte, dass der Staat manchen Eltern vorübergehend und teils auch längerfristig die Kinder entzog (Mayr, 2014). Das Thema Kindeswohlgefährdung und Religionsfreiheit ist allerdings nur eines von vielen Beispielen für die Grenzen der Religionsfreiheit. SEEKARTE: EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE HEUTIGE GLAUBENSLANDSCHAFT »Wie glücklich man am Lande war, merkt man erst, wenn das Schiff untergeht.« (Seneca 5)

Vor einigen Jahrzehnten noch rechnete man damit, dass Glaube sich irgendwann selbst abschaffen würde. Doch trotz modernster Technologien und Fortschritte ist ein großer Teil der Menschheit nach wie vor gläubig, viele Kulturen sind durchwoben von religiösen Vorstellungen und Werten. Und dabei ist Glaube oft nicht unbedingt eine »Wellnessveranstaltung«, man denke etwa an Fastenrituale, Gebete oder Pilgerreisen. Dies mag unterschiedliche Gründe haben. Möglicherweise hat Religion einen stabilisierenden Effekt, sowohl auf die individuelle Psyche als auch auf Gruppen. Dieser stabilisierende Effekt zeigt sich beispielsweise in der Interpretation von Leid, Krankheit und Not. Religionen bieten hier Deutungsmuster für psychisch belastende Ereignissen an. Es kann also unter vielerlei Aspekten vorteilhaft sein zu glauben. Daher wiederhole ich hier noch mal, was ich anfangs schrieb: Lassen Sie sich auch durch Negativbeispiele nicht von Ihrer eigenen Entdeckungsreise in Glaubenssachen abhalten. Damit Sie auf dieser Reise nicht die Orientierung verlieren, wollen wir uns nun der »Seekarte des Glaubens« widmen. Vielleicht haben Sie vorab Lust auf die folgende Übung. 5 https://www.aphorismen.de/zitat/107035 (15.07.2021). Seekarte: Ein Überblick über die heutige Glaubenslandschaft

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Meine persönliche Seekarte Nehmen Sie sich einen Zettel und einen Stift und zeichnen Sie Ihre eigene Seekarte. Die Grundfrage ist: Welche Glaubensformen sind mir bekannt? • Welche Kirchen, Gruppierungen und Strömungen kennen Sie persönlich? • Wovon haben Sie schon mal gehört? • Was sind völlig unbekannte Gewässer? • Welche weiteren Anbieter in Sachen Spiritualität kennen Sie? • Wohin möchten Sie auf gar keinen Fall segeln? • Gibt es Glaubenskontinente, die Ihnen völlig fremd sind? • Wo gibt es Klippen und Untiefen auf Ihrer Glaubenslandkarte?

Die Glaubenslandschaft hierzulande hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Einerseits lässt sich das an allerlei Zahlen, Daten und Fakten belegen, andererseits genügt ein Blick in den Bekanntenkreis. Wer hat nicht diese eine Freundin, die sich als ReikiTherapeutin ausbilden ließ; wer kennt nicht die entfernte Verwandte in der Midlifecrisis, die neuerdings als ganzheitlicher Lebenscoach arbeitet; und hat neulich nicht ein Bekannter davon berichtet, eine energetisierende Chakramassage empfangen zu haben? Dann ist da noch der Nachbar, der begeisterter Anhänger einer Freikirche ist, und bei der letzten Beziehungskrise begab sich die beste Freundin auf spirituelle Visionssuche in die Toskana. Sogar meine erzkatholische Mutter legt bisweilen Edelsteine in die Trinkwasserkaraffe, weil sie gehört hat, das sei »irgendwie energetisierend«. All diese bunten Blüten sind zunächst Ausdruck unserer Religions- und Glaubensfreiheit. »Die Vielfalt der gegenwärtigen Lebensführung schreit geradezu nach einer Beschreibung, die die Unübersichtlichkeit der eigenen Lebenswelt überwinden hilft. Denn während wir über historische Religionen […] enorm viel wissen, beschäftigen sich nur wenige mit dem, was man die gelebten Religionen nennt« (Knoblauch, 2003, S. 24 f.). Zoomen wir also mal näher ran und schauen uns genauer an, was heutzutage so los ist auf dem religiösen Markt. 22

Kompass und Seekarte

ZAHLEN UND FAKTEN O U RS E L DO IT Y

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Schätzen Sie mal … • Wie viele Menschen in Deutschland sind Muslime? • Wie viel Prozent gehören zu einer der großen Kirchen? • Und wie viele Konfessionslose gibt es wohl?

Manchmal werden unsere Schätzungen geprägt von den persönlichen Erfahrungen, die wir in unserem direkten Umfeld machen. So können individuelle Zerrbilder entstehen. Aber vielleicht liegen Sie ja auch richtig … Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (­FOWID, 2019) beziffert die Zahl der evangelischen und katholischen Christen auf 53,2 Prozent. Dazu kommen 5,1 Prozent Muslime und 3,9 Prozent »andere Religionsgemeinschaften«. Konfessionslos sind 37,8 Prozent. Nun sagen diese Zahlen wenig darüber aus, ob und wie Menschen ihren Glauben leben, sofern sie denn einen haben und nicht nur auf dem Papier einer Religion angehören. Auch tauchen in diesen Bezifferungen nicht all die fluiden, esoterischen und anderweitige schwer beschreibbare Phänomene auf. Des­wegen möchte ich eine weitere Untersuchung vorstellen. 2006 fand die Identity Foundation heraus: Jeder siebte Deutsche ist ein »spiritueller Sinnsucher«. Weiter wurde festgestellt, dass die religiöse Kreativität zunehme und sich ein »unbekümmerter Alltagspragmatismus« verbreite (Identity Foundation, 2006). Ursachen für diese Veränderung der religiösen Landschaft sind vielfältig. Zum einen spielen die fortschreitende Globalisierung und Zuwanderung eine entscheidende Rolle, zum anderen ist es für viele Menschen selbstverständlich geworden, Elemente aus unterschiedlichsten Religionen miteinander zu vermischen und zu kombinieren; die Esoterikszene ist ein lebendiges Beispiel dafür.

Seekarte: Ein Überblick über die heutige Glaubenslandschaft

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Zu welcher Gruppe gehören Sie? Die Identity Foundation beschreibt vier unterschiedliche Typen (2006): • Spirituelle Sinnsucher (ca. 10–15 % der Bevölkerung): Ist Ihre Suche getrieben von dem Wunsch, die eigene Berufung oder innere Mitte zu finden? Haben Sie Interesse an spirituellen Praktiken wie Yoga, Qigong und Meditation, aber auch an ausgefallenen Disziplinen wie Trancereisen, Schamanismus oder Kartenlegen? Glauben Sie an ein höheres Wesen, das Universum oder eine spirituelle Energie? • Religiöse Kreative (ca. 35 % der Bevölkerung): Einerseits sind Sie Mitglied in einer der großen Glaubensgemeinschaften. Andererseits jedoch erweitern Sie das traditionelle Gedankengut um humanistische oder philosophische Ideen. Sie entdecken auch in anderen Religionen Anregungen und wichtige Impulse. • Traditionschristen (ca. 10 % der Bevölkerung): Sie schöpfen Ihren Lebenssinn aus der Religion und einer engen Anbindung an die Kirche? Religiöse Rituale spielen in Ihrem Leben eine wichtige Rolle? Sie würden sich wünschen, dass auch im öffentlichen Leben ein stärkerer Gottesbezug herrscht? • Unbekümmerte Alltagspragmatiker (ca. 40 % der Bevölkerung): Sie interessieren sich für die eigene Zufriedenheit, und Ihr Beruf und Ihre freundschaftlichen und familiären Beziehungen geben Ihrem Leben Sinn? Vielleicht bezeichnen Sie sich selbst auch als Atheisten? Sie versuchen, das Beste aus Ihrem Leben herauszuholen?

Viele Menschen suchen heutzutage abseits der traditionellen Religionen nach ihrer eigenen Spiritualität. Mittlerweile prägen Begriffe wie spirituelle Sinnsucher, spirituelle Wanderer, religiöse Touristen, Religions-Hopping, Patchworkreligion, religiöser Flickenteppich und Bastel-Religiosität die Diskussion. Diese Begriffe stellen einen Versuch dar, das neue Phänomen der religiös/spirituell Suchenden 24

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in Worte zu fassen und der äußerst fluiden Phänomene, die sich da auf dem Markt der Religionen abspielen, habhaft zu werden. Dabei ging man vor einigen Jahrzehnten von einer völlig anderen Entwicklung aus. Man prognostizierte, dass Glaube mehr und mehr zu einer Randerscheinung unserer Gesellschaft verkommen würde (Kramer, 2013). Und erinnern wir uns an die eingangs genannten Zahlen, dann scheint diese Annahme ihre Berechtigung zu haben, denn der Anteil der Konfessionslosen nimmt stetig zu und die etablierten Kirchen verlieren an Bedeutung. Der zweite Blick jedoch zeigt: Alternative und individuelle Formen von Spiritualität sind auf dem Vormarsch. VERÄNDERUNGSPROZESSE

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem Prozess fortlaufender Veränderung, bedingt unter anderem durch Digitalisierung, Modernisierung und Pluralisierung. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse haben immer auch Rückkopplungseffekte auf Religion und Glauben. Was wir derzeit auf dem Markt der Religionen beobachten können, deutet darauf hin, dass sich zwar durchaus Säkularisierungsprozesse vollziehen, die zunehmende Individualisierung jedoch gravierendere Auswirkungen auf den Glauben hat. Das bedeutet, es gibt eine wachsende Anzahl von Menschen, die Religion den Rücken kehren, gleichzeitig nimmt die individuelle Experimentierfreudigkeit zu. In diesem Zusammenhang spricht man in der Soziologie von der Individualisierungshypothese (vertreten z. B. von Thomas Luckmann oder Grace Davie). Die traditionellen Kirchen werden zwar immer leerer, doch gleichzeitig boomen nichtinstitutionalisierte Religionsformen (Pollack u. Pickel, 2000, S. 245.). Die »Patchworkreligion«, der »Flickenteppichglaube«, das Phänomen der »religiösen Touristen« sind Ausdruck solcher Subjektivierungsprozesse. Auch zeigt sich bei einem Blick über unsere nationalen Grenzen, dass es trotz Modernisierung weltweit nicht zu einem Verlust von Religion gekommen ist, sondern Religion sich in den unterschiedlichen Ländern verschieden verbreitet. Deshalb entwickeln mehr und mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Gegenmodelle zur klassischen Säkularisierungshypothese. Seekarte: Ein Überblick über die heutige Glaubenslandschaft

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Allerdings ist Religion heute nur noch eines von vielen gesellschaftlichen wert- und normrelevanten Systemen und steht in Konkurrenz zu zahlreichen anderen lebensweltlichen Systemen. Zwar gibt es Säkularisierungstendenzen, diese betreffen jedoch nicht alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen. Vielmehr sind unterschiedliche, teils konträre gesellschaftliche Strömungen zu beobachten. Schlussendlich kommen wir nicht umhin, einen differenzierten und milieuspezifischen Blick auf die Bedeutung von Glauben zu werfen, um die vielfältigen Entwicklungen zu begreifen. Aber wohin geht die Reise? Darüber lässt sich spekulieren … Vermutlich ist der Prozess der Entkirchlichung längst noch nicht zu Ende, auch Werte werden sich weiter verändern. Es ist anzunehmen, dass gerade die populärkulturellen Formen der Religiosität und Spiritualität weiter zunehmen (Knoblauch, 2009). Auch neuere Formen konfessionsfreier Sinnstiftungsagenturen haben Konjunktur. Ein Beispiel dafür sind die Sunday Assembleys, welche mit dem Slogan »Kirche ohne Gott« werben und mittlerweile in mehr als 150 Städten Tochtergemeinden haben. Und gleichzeitig haben wir in der Coronakrise erfahren: Gerade in schwierigen Zeiten brauchen Menschen Glauben. »Wegen Corona: Hunderte Sekten schießen in Frankreich aus dem Boden – mit dramatischen Folgen«, titelt etwa die Frankfurter Rundschau im April 2021 (Brändle, 2021). In Zeiten, in denen Ängste und Unsicherheiten wachsen, haben eben gerade Anbieter Konjunktur, die einfache Lösungen, klare Strukturen und Orientierung versprechen. Derzeit bin ich besonders mit den Auswirkungen dieser Entwicklung konfrontiert. Ich spreche täglich mit Menschen, die in ungünstige Abhängigkeiten geraten sind, finanziellen und manchmal auch emotionalen Ruin erlebten. JUGEND OHNE GOTT?

Die oben beschriebenen Veränderungen auf der Seekarte des Glaubens bilden einen Ist-Zustand ab. Möchte man nun aber Prognosen zur religiösen Entwicklung unserer Gesellschaft abgeben, lohnt sich ein Blick auf unsere Jugend. Deutlich wird hier: Die konfessionelle Geschlossenheit bezüglich der Systeme, in denen sich Jugendliche aufhalten, nimmt zunehmend ab. Jüngere haben beispiels26

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weise immer seltener einen Partner, der die gleiche Konfession hat (Wolf, 2012). Auch Freundeskreis, Kollegen, Nachbarschaften sind zunehmend religiös heterogen. Ebenso bunt und vielfältig, wie die religiöse Heterogenität in Beziehungen gestaltet ist, zeigt sich auch die individuelle Religiosität. Junge Menschen sind experimentierfreudig und offen. Hier spielt das Alter eine wichtige Rolle, denn tendenziell neigen ältere Menschen eher zu einer traditionell-religiösen Orientierung. Die Jugend hingegen entwickelt zunehmend religiöse Toleranz. Milieubindung, Alter und Lebensstile haben dabei einen wichtigen Einfluss auf die religiöse Orientierung. Sogenannte Patchworkreligionen, ganz im DIY-Sinne, entsprechen eher der jüngeren Generation, ebenfalls der Wunsch nach Erlebnisintensität. »Tradierte religiöse Formen und konfessionelle Bindungen verlieren für Jugendliche an Bedeutung. Der Glaube verlagert sich auf die individuell-persönliche Ebene« (EKD, 2020). Diese Feststellung basiert auf der Auswertung diverser Jugendstudien zu Religion (z. B. Calmbach, Borgstedt, Borchard, Thomas u. Flaig, 2016, S. 335 ff.). Wir sehen also, der Trend zur Individualisierung setzt sich auch bei der jüngeren Generation fort. Diese Entwicklungen bescheren den großen Kirchen nun nicht unbedingt volle Kirchenbänke, allerdings gibt es durchaus positive Auswirkungen. So nimmt etwa die Toleranz gegenüber Andersgläubigen deutlich zu. Viele Jugendliche heutzutage fühlen sich frei, selbst zu bestimmen, was sie glauben möchten – und bleiben dennoch immer wieder in den Filterblasen der eigenen Überzeugungen haften. Übrigens durchlaufen nach wie vor die meisten Jugendlichen die gängigen kirchlichen Stationen, werden getauft, gehen zur Erstkommunion oder lassen sich konfirmieren. Allerdings ist der Inhalt des Glaubens nicht mehr so wichtig. Viel wichtiger hingegen sind für Jugendliche heutzutage Gemeinschaft und die sozialen Beziehungen innerhalb einer Gruppe. »Geselligkeit und Gemeinschaft rücken auf Kosten der Glaubenseinstellungen in den Vordergrund (EKD, 2020). Gemeinschaftserfahrung, religiöse Sozialisation im Elternhaus, Alter und Peergruppe spielen also bei der Entwicklung des Glaubens eine wichtige Rolle. Glaubensentwicklungen sind milieubezogen und sehr unterschiedlich, es zeichnet sich jedoch ein Trend zu mehr Toleranz ab. Ob diese Toleranz auf der Grundlage einer Seekarte: Ein Überblick über die heutige Glaubenslandschaft

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zunehmenden Bedeutungslosigkeit und eines zunehmenden religiösen Analphabetismus von Religion besteht, sei hier zunächst dahingestellt. Und doch gibt es Ausnahmen: Kinder und Jugendliche etwa, die in völlig anderen Milieus aufwachsen, die hineingeboren werden in neue religiöse Bewegungen, in geschlossene religiöse Gruppierungen und deren Sozialisation deutlich vom Mainstream abweicht. Jonathan beispielsweise wuchs in einer sehr abgelegenen ökologischchristlichen Gemeinschaft auf. Die Eltern schickten ihn zwar zur Schule, doch diese war für ihn wie eine fremde Welt, er fühlte sich dort als Außenseiter. Es wurde viel gebetet in seiner Familie, es bestand ein inniger Zusammenhalt mit den anderen Glaubensfamilien. Jonathan wuchs in zwei Welten auf und schildert, dass dieser Spagat zwischen den Welten für ihn immer wieder zu einer Belastungsprobe wurde. Heute hat er selbst vier Kinder und lebt in einer Hofgemeinschaft.

ASPEKTE SPIRITUELLER VIELFALT »Wir segeln in verschiedenen Richtungen über den Ozean des Lebens. Vernunft ist unsere Karte, Leidenschaft der Wind.« (Deutsches Sprichwort)

Waren früher die meisten Menschen auf den riesigen Fähren der großen Weltreligionen unterwegs, die durch ihre normativen Verbindlichkeiten einiges an Sicherheit für die Reisenden boten und Stürmen gut trotzten, so hisst derzeit auf dem Meer des Glaubens eine bunte Vielzahl unterschiedlicher Schiffe die Segel. Klar schippern da immer noch die großen Frachter, aber viele Menschen sind auf kleine Boote, teils Marke Eigenbau, umgestiegen. Und wieder andere haben für sich entschieden, dass die Gewässer und Untiefen des Glaubens und der Spiritualität nichts für sie sind, und sind sesshaft geworden. Ich möchte in diesem Kapitel dazu einladen, gemeinsam zu ergründen, welches die Besonderheiten der oben beschriebenen Entwicklungen auf dem Markt der neuen Sinnstiftungsangebote sind. Das folgende Kapitel soll dabei behilflich sein, besser zu überblicken, in welchen Spannungsfeldern sich Glaube heute ansiedelt. 28

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Was für viele Menschen einer »spirituellen Befreiung« gleichkommt, kann für andere auf sehr unterschiedlichen Ebenen ungünstige Auswirkungen haben. Maja etwa hat für viel Geld eine Rückführung gebucht, danach rief sie mich verwirrt an. Waren die körperlichen Beschwerden, unter denen sie seit Langem litt, tatsächlich darauf zurückzuführen, dass sie in ihrem früheren Leben bei einem Reitunfall am Hof gestorben war? Clara hingegen versuchte, sich durch holotropes Atmen in andere Bewusstseinssphären zu katapultieren. Das funktionierte, aber die Erfahrungen, die sie hinterher mit dem Leiter machte, grenzten an Nötigung. Clara fühlte sich missbraucht, sah ihre persönlichen Grenzen nicht gewahrt und fand niemanden, der sie unterstützte. Der Leiter stellte sie als psychotisch hin.

Und es gibt unzählige weitere solcher Geschichten. Teils wurden Beziehungen abgebrochen, teils wurden Schulden aufgenommen für die schillernden Versprechen diverser spirituell angehauchter Anbieter. Was bleibt, ist in vielen Fällen ein gerahmtes, aber wertloses Zertifikat, beispielsweise darf man sich fortan Reinkarnationstherapeutin oder Auraheiler nennen. Markus (31 Jahre): »Ich bin seit sechs Jahren mit meiner Frau verheiratet, wir hatten beide gute Jobs, verdienten gut. Doch seit einem Jahr ist der Wurm drin. Damals begann sie damit, diverse Podcasts zu hören und sich Onlinegruppen anzuschließen. Erst mal dachte ich, ich bin mit einem anderen Menschen verheiratet. Plötzlich stand sie quasi über den Dingen, oder soll ich sagen »schwebte«? Sie schmiss den Job von einem auf den anderen Tag und hatte ein neues Berufsziel: Life Coach. Dazu kaufte sie sich eine Lizenz an einem Wochenend-Workshop. Das kostete nur 3.000 Dollar, dafür bekam sie ein lächerliches Stück Papier, das nun gerahmt in unserem Wohnzimmer hängt. Wertlos wie ein JodelDiplom. Nun ist sie in einer spirituellen Frauengruppe, wo es darum geht, gemeinsam zu meditieren und die innere Lotusblüte zur Entfaltung zu bringen. Diese Gruppierung trifft sich nur in virtuellen Räumen. Ob Sie es nun glauben oder nicht, sie hat 7.000 Euro an die Gruppe überwiesen. Man sagte ihr, das Geld komme irgendwann zurück, es diene auch der inneren Entwicklung und Anbindung.« Aspekte spiritueller Vielfalt

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Neben einem wertlosen Zertifikat hat sich die Gattin von Markus überdies von einem sogenannten Schenkkreis ködern lassen, der frei nach dem Schneeballsystem funktioniert. Natürlich blieb der erhoffte Geldsegen aus, und die 7.000 Euro waren futsch.

Bevor ich Sie nun einlade, mit mir einen Blick auf den bunten und vielfältigen religiösen Markt zu werfen, dürfen Sie sich etwas Zeit nehmen und sich mit Ihrem eigenen Glaubensschiff auseinandersetzen. O U RS E L DO IT Y

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Meine religiöse Biografie Krisen und Umbruchphasen sind oft ein Anlass, zurückzublicken und sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Blick zurück: • Wie bin ich der Mensch geworden, der ich heute bin? • Was ist mir wichtig im Leben? • Was sind meine Werte? • Gibt es spezielle Erfahrungen, die mich und meine Wertehaltung geprägt haben? • Gibt es Grundbedürfnisse, die in meiner Biografie nicht erfüllt wurden? Welche Auswirkung hat das auf mein heutiges Leben? Blick nach vorn: • Wohin möchte ich mich verändern? • Wie kann es mir gelingen, Veränderungen zu bewirken? Welche Unterstützung und Ressourcen habe ich dafür? • Lebe ich meine Werte im Alltag? Wo könnte ich dies mehr tun? Wo gelingt mir das gut? • Was ist meine Vision der Zukunft? • Worauf möchte ich in zwanzig Jahren stolz zurückblicken? • Habe ich eine Vision für mein Leben? Lebe ich diese Vision? Blick auf die Gegenwart: • Was/wer gibt mir Kraft? • Was/wer trägt mich in schweren Zeiten? • Was hilft mir dabei, Ziele zu erreichen? » 30

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• Wie gehe ich mit Frustration, Ungerechtigkeit und Wut um? • Was gelingt mir gut? • Was müsste sich verändern, damit ich vollkommen zufrieden mit meinem Leben wäre?

ZWISCHEN PLURALISIERUNG UND POLITISIERUNG

Pluralisierung bedeutet Vielfalt. Und gerade im Bereich der spirituellen Angebote hat die Vielfalt stark zugenommen. Pluralisierung hängt eng zusammen mit Globalisierung. Die Tendenzen zur Pluralisierung vollziehen sich auch in vielen anderen Lebensbereichen. Lebensformen etwa werden vielfältiger. Die Gesellschaft unterteilt sich zunehmend in unterschiedliche Milieus, Teilgesellschaften, Subkulturen usw. Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft, was sich auch im religiösen Bereich widerspiegelt. Die weltanschaulichen Optionen sind heutzutage schier unermesslich, stehen in Konkurrenz zueinander, bilden Systeme, Subsysteme, verästeln sich und lösen sich wieder auf. Diese Multioptionalität ist einerseits Ausdruck zunehmender Individualisierung, kann jedoch andererseits Verbindlichkeit gefährden und zur Fragmentierung führen. O U RS E L DO IT Y

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Meine Kreise Nehmen Sie sich einen Stift und ein Blatt Papier. Nun malen Sie Kreise auf. Für jeden unterschiedlichen Bereich in Ihrem Leben dürfen Sie einen anderen Kreis malen (z. B.: Arbeit, Familie, Freizeit, Hobbys, Vereine …). Überlegen Sie, wie viel Raum welcher Kreis einnimmt. Vielleicht gibt es ja auch Schnittmengen und Überlagerungen. In welchen Kreisen fühlen Sie sich am wohlsten? Welche Kreise würden Sie gern verlassen oder vergrößern?

Individuelle Überzeugungen sichtbar zu machen, ist heutzutage ein Leichtes und gehört fast schon zum guten Ton der Generation Y. Per Youtube und Social Media kann sich heutzutage jeder mit seiner eigenen Meinung und seinen Überzeugungen mehr oder weniger Aspekte spiritueller Vielfalt

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gekonnt in Szene setzen. Glaube wird gerade dann, wenn er extrem wird, ins Licht der Öffentlichkeit gerückt; so erinnern wir uns an die Salafisten-Bewegung, die mit reichlich medialer Aufmerksamkeit überschüttet wurde. Mediale Aufmerksamkeit ist das Lebenselixier so mancher Bewegung. Diese öffentliche Sichtbarkeit steht in Kontrast zu der ansonsten stattfindenden Privatisierung von Religion. Gerade dann, wenn Menschen sich radikalisieren, spielt die mediale Aufmerksamkeit, welche diversen Weltanschauungen geschenkt wird, eine erhebliche Rolle. Christine (42 Jahre): »Ich bin in Sorge um meine Mutter. Sie ist sechzig Jahre alt, und ich befürchte, dass sie – ohne es zu wollen – in die rechte Szene abgedriftet ist. Es hat alles vor ein paar Jahren angefangen, sie begann sich zunehmend für Esoterik zu interessieren. Alle Bücher vom Kopp-Verlag hat sie gelesen und mir auch geschickt. Sie möchte mich dafür begeistern. Neuerdings, also in Zeiten von Corona, kam jetzt etwas dazu, das mich sehr besorgt: Sie hat begonnen, sich auf Demonstrationen zu engagieren. Auf diesen Demos hat sie neue Leute kennengelernt. Diese Leute würde ich eher in der rechten Szene ansiedeln. Mich besorgt dies sehr. Sie ist ein sehr gutgläubiger Mensch, und ich befürchte, dass ihr gar nicht so recht bewusst ist, in was sie da reingerät. Streit mit ihr möchte ich vermeiden, nun denke ich aber, ich muss doch irgendwas tun. Ich fühle mich so hilflos.«

Im ersten Kapitel haben wir bereits angeschnitten, was unter der sogenannten braunen Esoterik zu verstehen ist. Derzeit zeigt sich eine deutliche Vermischung von politischen Rändern der Gesellschaft, Esoterik und Verschwörungstheorien. In manchen Fällen kann es für die Betreffenden sehr irritierend sein, wenn sie feststellen, dass die esoterische Verpackung, die sie da gekauft haben, mit einem braunen Inhalt oder zumindest aber mit braunen Einsprengseln gefüllt ist. Auch in dem oben beschriebenen Beispiel war dies der Fall. Die Tochter klärte die Mutter auf, mit welchen Leuten und welchen Ansichten sie da im Schulterschluss auf die Straße ging. Die Mutter war entsetzt und begann sich zunehmend zu distanzieren. Gegen den Staat war sie schon, aber rechts, das wollte sie auf keinen Fall sein. Allerdings läuft es nicht immer ganz so einfach wie in Christines Geschichte. Oft ist 32

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die Gemengelage sehr komplex. Deswegen greife ich am Ende dieses Buches den Punkt der religiösen Radikalisierung noch mal gesondert auf (Fallbeispiel: Radikale Glaubens- und Lebensentwürfe, S. 139 ff.). ZWISCHEN KONSUMGUT UND VERZAUBERUNG

Der Begriff »Faith Branding« bezieht sich auf einen bewusst vermarkteten Glauben. Längst ist Spiritualität auch ein käufliches Produkt geworden. Damit sind oft wirtschaftliche Interessen verknüpft. Dabei wählen Gruppierungen unterschiedliche Vermarktungsstrategien. Faith Branding bedeutet auch, dass spirituelle Organisationen eigene Logos, Icons, Slogans, Namen, Sprachcodes und Persönlichkeiten prägen. Mit Aspekten der Vermarktung von Glauben beschäftigt sich unter anderem die Religionsökonomie. Koch (2014) zeigt in ihrer Veröffentlichung, dass viele wirtschaftliche Faktoren, wie Wettbewerb, Vermarktung, Vernetzung, Management und vieles mehr, mittlerweile auch im religiösen Feld eine Rolle spielen. Die Religionsökonomie überträgt Begriffe wie »Märkte«, »Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage«, »Konsumenten« auf den religiösen Bereich und beschreibt eine Konkurrenz der religiösen Märkte, die mit allerlei Heilsprodukten um religiöse Konsumenten werben. Zahlreiche Angebote auf dem Lebenshilfesektor bieten ihre Dienste in Form von Kursen, Workshops und anderen »Faith Brands« an (Einstein, 2007). Solche Faith Brands können einerseits Identitätsmarker sein, andererseits jedoch auch eine verheerende Auswirkung auf die Identität des Einzelnen haben, angefangen bei finanziellen Problemen bis hin zu sozialer Isolation, Abhängigkeit und psychischen Problemen durch unpassende Konzepte. Aus der Sozial- oder Schuldnerberatung gibt es zahlreiche Fälle, in welchen vermarkteter Glaube eine zentrale Rolle spielt. Fischler befasst sich in seinem Buch »New Cage: Esoterik 2.0. Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt« (2013) mit eben diesen kapitalistischen Zügen gerade auch der Esoterik. Wenn kapitale Interessen über humanitären Interessen stehen, dann ist dies meist ungünstig, wie das folgende Beispiel zeigt: Louis (34 Jahre): »Ich war in einer Lebenskrise. Job verloren, Geld verzockt und mindestens 30 Kilo zugenommen. Ich bin damals an ein Aspekte spiritueller Vielfalt

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Abnehmkonzept geraten, das versprach, dass man durch mentales Training tolle Erfolge erzielen könnte. In dem Programm ging es auch darum zu meditieren und sich mit der göttlichen Energie zu verbinden. Klar war auch so Zeug wie Ernährungsumstellung dabei. Ich meditierte fleißig, aber der Erfolg stellte sich nicht ein. Mittlerweile hat mein Konto weiter abgenommen, ich habe weiter zugenommen.«

Diese Orientierung an den Bedürfnissen der Konsumenten treibt immer neue Blüten. Der Kampf um höhere Mitgliederzahlen diverser Megakirchen beispielsweise führt zu immer aufwendigeren Inszenierungen. Kundennähe, Alltagstauglichkeit, Erlebnis- und Wellnessorientierung gewinnen an Stellenwert, wenn kapitale Interessen eine Rolle spielen. Solch eine Orientierung an den Bedürfnissen der spirituellen Endverbraucher ist einerseits positiv, da dadurch mehr Nähe und Bindung geschaffen wird, andererseits können dabei auch wichtige, vielleicht auch unbequeme Inhalte auf der Strecke bleiben, und Spiritualität wird zu einer egozentrierten und verwässerten Wellnessveranstaltung.

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Die Kunst des Neinsagens

Können Sie verlockenden Angeboten widerstehen? Nein zu sagen fällt vielen Menschen schwer. Und deshalb lassen sich Menschen zu Entscheidungen hinreißen, die sie mitunter später bereuen. Gerade sehr empathische Menschen können sich gut in ihr Gegenüber hineinversetzen und ahnen, wie sich der abgewiesene Mensch womöglich fühlt. Wie kann es gelingen, sich nicht zu Fehlentscheidungen überreden zu lassen, die man hinterher bereut? Folgende Tipps können hilfreich sein: • Erbitten Sie sich Bedenkzeit. Oft fordern Mitmenschen eine sofortige Entscheidung. Sich hier nicht überrumpeln zu lassen und auf Zeit zu pochen hilft, sich des eigenen Standpunkts bewusst zu werden und diesen gegen die Argumente des Gegenübers aufzuwiegen. • Wichtig ist es auch zu analysieren, wer um den Gefallen bittet. Welche Beziehung habe ich zu diesem Menschen? Welche Auswirkung hat es auf die Beziehung, wenn ich Nein sage? »

Kompass und Seekarte

• Wie geht es mir gerade? Habe ich Zeit, Kraft und genügend Kapazitäten? • Worauf muss ich verzichten, wenn ich Ja sage? • Ist das Verhältnis von Geben und Nehmen mit der bittenden Person ausgeglichen? Als weiterer Schritt ist es wichtig, ein Gespür dafür zu entwickeln, weshalb es schwerfällt, Nein zu sagen. Folgende Fragen können dabei hilfreich sein: • Habe ich Angst vor Ablehnung? • Habe ich Sorge hinsichtlich negativer Konsequenzen? • Bin ich in Sorge, wie ich bei anderen ankomme? Wie ich auf andere wirke? • Ist es für mich wichtig, gebraucht zu werden?

Wir alle spüren immer mal wieder den Wunsch nach Magie und Verzauberung. Der Esoterikmarkt lässt diese Wünsche Wirklichkeit werden. Für schlappe 3 Euro bekommt man Chakrasteine, weitere 15 Euro legt man für ein Kristallpendel hin. Wenn dann noch Geld übrig ist, kann man sich eine Erzengel-Kerze bestellen oder ein energetisierendes Armband. Der Blick in die Zukunft oder, wem dies lieber ist, in die Vergangenheit, wahlweise auch in vorherige Leben – all dies ist für eine zahlungsfreudige Klientel heute problemlos möglich. Okkulte Praktiken wie Quija erleben regelmäßig Revivals, weitere Orakeltechniken wie etwa Kartenlesen oder das Lesen der Handlinien lassen Zukunft vermeintlich prognostizierbar werden und stellen einen direkten Draht ins Jenseits her. Solche Techniken gehen allerdings nicht an allen Nutzerinnen und Nutzern spurlos vorbei. Was beispielsweise geschieht, wenn ein Wahrsager ins Schwarze trifft? Wie soll man mit Aussagen umgehen, die verängstigen oder verunsichern? Und wie funktionieren solche Techniken? Grundlegend ist bei all den Techniken der Wunsch, der rationalen, kausal erklärbaren Welt zu entkommen und die Naturgesetze herauszufordern. Wäre es nicht schön, wenn es etwas mehr Magie im Leben gäbe und etwas weniger Zufall? Aspekte spiritueller Vielfalt

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Das sagte sich auch Sandra (44 Jahre): »Wenn ich vor wichtigen Entscheidungen stehe, dann befrage ich meine Engelkarten. Diese Karten liegen meist richtig, und ich kann mich darauf verlassen, dass die Engel mir durch sie die richtige Antwort auf meine Fragen geben.«

Was aber ist magisches Denken? Man definiert so den Glauben einer Person, durch ihre Gedanken und Taten auf magische Weise Ereignisse hervorrufen zu können bzw. einen Einfluss darauf nehmen zu können (Einstein u. Menzies, 2004). Einiges, was unter dem Begriff »Aberglaube« verortet wird, lässt sich mit magischem Denken erklären. Wenn wir etwa daran glauben, dass bestimmte Gegenstände Glück bringen oder bestimmte Rituale durchgeführt werden müssen, um die Götter zu besänftigen, dann spricht man von magischem Denken. Auch einige paranormale Vorstellungen fallen unter diesen Begriff. Hier ist allerdings zu differenzieren (Pohl, 2020), denn längst nicht jede paranormale Erfahrung lässt sich mit den Wirkprinzipien des magischen Denkens erklären. ZWISCHEN MEHR VERBINDLICHKEIT UND »TO GO«-MENTALITÄT

Entstand oben der Eindruck einer eher weichgespülten WellnessSpiritualität, so zeigt sich, dass dies nicht unbedingt für jeden und alle so zutrifft. »Auf Religionsmärkten sind ›harte‹ Formen des Glaubens erfolgreicher als weiche, liberale«, schreibt Friedrich Wilhelm Graf (2008). In der Tat ist die jüngste Zeit geprägt von einer zunehmenden Diskussion um Radikalisierung diverser Gruppen bzw. religiösen Extremismus. Neben Konsumenten, die Spiritualität bzw. esoterische Angebote im Sinne eines Wellnessangebots nutzen, wächst die Zahl derer, die Glauben sehr ernst nehmen. Ernster, als die traditionellen Kirchen es teilweise tun. Hier wäre etwa ein Blick auf die evangelikale Szene zu werfen. Umgangssprachlich meint man mit »den Evangelikalen« meist konservative, bibeltreue Bewegungen, mit »evangelisch« hat dies allerdings nichts zu tun. Auch Freikirchen werden gern unter diesen unscharfen Sammelbegriff gefasst. Gerade in den USA verbreitete sich der Evangelikalismus besonders – in Form einer auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden antimodernen Strömung mit dogmatischer Schriftauslegung. Doch auch hierzulande sind Gruppie36

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rungen auf dem Vormarsch, die für fundamentale Werte einstehen und etwa die Schrift wörtlich auslegen. Der Begriff »evangelikal« wird zunehmend vorurteilsbehaftet, da vereinzelt Gruppierungen aus diesem Milieu aufgefallen sind durch homophobe und antifeministische Äußerungen. Warum suchen Menschen in unserer pluralen Multioptionsgesellschaft nach Glaubensformen, die manchmal auch einen Hang zum Fundamentalen haben? Warum verspüren Menschen das Bedürfnis, ihr Leben nach strengen Regeln auszurichten? Sonja (41 Jahre): »Mit 18 kam ich zum Glauben. Ich war damals auf einem charismatischen Jugendcamp. Es gab diese Lobpreisabende. Dabei kam der Heilige Geist über mich und ich veränderte mein Leben radikal. Ich ging nicht mehr zu Partys, trank keinen Alkohol mehr und traf mich regelmäßig mit anderen Jugendlichen zum Lobpreis. Noch heute engagiere ich mich stark in der Gemeinde. Für mich ist das, als wären wir alle eine große Familie. Andere Christen zu treffen gibt mir das Gefühl, Brüder oder Schwestern zu treffen. Ich finde viel Halt im Glauben und möchte diese Erfahrungen nicht mehr missen.«

Für Sonja war die oben beschriebene plurale Moderne mit all ihren Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten eine regelrechte Überforderung. Die Rückbesinnung auf traditionelle Werte, verbindliche Strukturen, klare Handlungsanweisungen, starke Überzeugungen, eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und ein Netzwerk, in welchem ebendiese Werte nicht nur gepredigt, sondern auch gelebt werden, taten ihr gut. O U RS E L DO IT Y

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Meine Glaubensgruppe Malen Sie einen großen Kreis auf ein Blatt Papier. Der Kreis steht für die Gruppierung, der Sie angehört haben. Versuchen Sie nun zunächst, den positiven Erfahrungen in diesem Kreis einen Platz und Ausdruck zu verleihen. Dies kann über Farben, Formen oder kleine Bilder geschehen. Im zweiten Schritt geben Sie den negativen Erfahrungen einen Platz in dem Kreis.

Aspekte spiritueller Vielfalt

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Oben klang es bereits an: Auch der spirituelle Markt scheint sich der Schnelllebigkeit der heutigen Zeit anzupassen und bietet immer mehr an, was man sozusagen im Vorbeigehen mitnehmen kann. »Guru war gestern«, schreibt Fischler (2013, S. 47) und spielt damit unter anderem auf die Veränderungsprozesse des religiösen Marktes an. Neben Menschen, die gern viel Zeit und Aufwand in ihre Religion stecken, lässt sich auch Gegenteiliges beobachten. Und dies nicht nur seitens der spirituellen Anbieter, die vor einigen Jahrzehnten noch in asketischer Manier ein überzeugendes Konzept spiritueller Erleuchtung ablieferten; auch Konsumenten und Konsumentinnen möchten teilweise nur ungern viel Aufwand treiben. Diverse spirituelle Praktiken sind erst mal viel Arbeit, machen wenig Spaß und fordern jede Menge Selbstdisziplin. Dies ist weder im Sinne der Anbieter noch im Sinne der Nutzer. Eine Besucherin beschreibt den Tagesablauf eines spirituellen Retreats folgendermaßen: Tina (38 Jahre): »Morgens um neun gab es Frühstück, vollwertig, biologisch. Sehr lecker, immer frisch gebackenes Brot, frischen Saft, und all das aus biodynamischem Anbau. Dann trafen wir uns zu ›dem Zirkel‹. Dabei teilten wir Dinge, die für die Gruppen wichtig waren. Anschließend konnte jeder frei wählen, an welchen Workshops er teilnehmen wollte. Ich habe mich entschieden, am spirituellen Malen und am Frauen­gesprächskreis »Entdecke deine innere Kraft« teilzunehmen. Mittags gab es wieder dieses herrliche Essen, dann bestand die Möglichkeit zu schwimmen, zu wandern oder zu meditieren im Raum der Stille. Nach dem Abendessen gab es dann immer einen kurzen Vortrag, und dann konnte man entweder zum Mantras-Chanten, Meditieren oder sich einfach nur im Kaminraum unterhalten. Die Woche war wirklich herrlich, erholsam, und ich habe so viele tollen Leute kennengelernt, die auch auf dem spirituellen Weg sind.«

Wir sehen hier: Spiritualität und Wellness gehen Hand in Hand; Erholung mit spiritueller Würzung, allerdings ohne anstrengende Arbeit, Entbehrung oder Verzicht. Spiritualität in diesem Sinn ist etwas, das man im Vorübergehen mitnehmen kann: ein typisches To-go-Produkt. 38

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Pause-Taste Ich lade Sie in dieser Übung ein, für einige Zeit auf die »Pause«-Taste zu drücken. Sie bekommen keine speziellen Impulse, Fragestellungen oder Aufgaben. Setzen Sie sich einfach bequem hin, atmen Sie ruhig und lassen Sie Ihre Gedanken treiben. Versuchen Sie, ganz im Augenblick zu sein. Legen Sie das Buch beiseite. Manchmal ist es hilfreich, sich Zeit zu nehmen, in sich hineinzuhorchen, im Moment zu sein und sich dem Sog der Hektik für einen Augenblick zu entziehen.

ZWISCHEN SELBSTVERWIRKLICHUNG UND KOMFORTZONENSPIRITUALITÄT

»Es sind vor allem diejenigen, die viel Wert auf Selbstverwirklichung legen, die ein Faible fürs Esoterische entwickeln« (Kramer, 2013, S. 21). Lässt sich diese Aussage tatsächlich so bestätigen? An mehreren Stellen klang bereits an, inwiefern sich in unserer Gesellschaft einen Trend hin zur Selbstverwirklichung feststellen lässt. Selbstverwirklichung hat heute für viele einen höheren Wert als Konsumgüter und materielle Dinge. Selbstverwirklichung macht auch vor Spiritualität keinen Halt. Sich zu optimieren, nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern auch im spirituellen Bereich, gehört zum Lifestyle. Hollywoodgrößen machen es vor, haben ihre persönlichen Gurus, spirituellen Coaches oder fahren zum Retreat nach Südamerika einschließlich Ayahuasca-Zeremonie und Schwitzhüttenritual. Gleichzeitig schießen Ratgeber und Konzepte in Hülle und Fülle aus dem Boden, die der Selbstermächtigung und Selbstoptimierung dienen. Wünsche bzw. Bestellungen an das Universum zu schicken ist weit verbreitet und meint, dass man etwas (und sei es so etwas Banales wie ein Parkplatz) nur »bestellen« müsse und schon bekomme man das Gewünschte. Diese Mentalität erinnert an die Drive-in- und To-go-Varianten moderner Fastfoodrestaurants. Spiritualität in diesem Sinn verstanden und gelebt ist zu einem Konsumgut geworden, das sich weniger an altruistischen Idealen ausrichtet als vielmehr an den Wünschen des Individuums. Statt Aspekte spiritueller Vielfalt

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Altruismus wird Egoismus gepredigt. Statt den Nächsten zu lieben, geht es erst mal darum, sich selbst zu lieben. O U RS E L DO IT Y

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Ein Blick auf den Kompass Wenn wir über Glauben und Weltanschauungen sprechen, geht es meist auch um Werteorientierungen. Oft fällt es uns schwer, die eigenen Werte zu benennen. Konflikte entstehen häufig dann, wenn das eigene Wertesystem mit anderen Wertesystemen kollidiert oder wenn eigene wichtige Grundwerte verletzt werden. Versuchen Sie einmal, in sich hineinzuhorchen und herauszufinden, wohin Ihr Wertekompass Sie führt: • Stellen Sie einige bunte Zeitschriften, Kleber, Schere und Papier bereit. Nun darf eine Zukunftscollage erstellt werden. Dabei sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Schneiden Sie solche Bilder aus den Zeitschriften aus, die versinnbildlichen, was zu Ihren persönlichen Zielen passt und zu dem, was Ihnen wichtig ist. • Stellen Sie sich vor, Sie haben alle Mittel und Möglichkeiten, den perfekten Tag zu erleben. Wie würde dieser Tag aussehen? Mit wem würden Sie den Tag verbringen? Was würden Sie tun? Was würden Sie nicht tun? Wo verbringen Sie den Tag? Wie fühlen Sie sich an dem Tag? • Hier kann entweder mit Buntstiften oder mit Zeitungsausschnitten gearbeitet werden: Wörter, die eine besondere Bedeutung für das eigene Leben haben, werden ausgeschnitten oder aufgeschrieben. Die Übung kann sich auch darauf beziehen, dass Wörter gesammelt werden, welche die eigene Person charakterisieren. Dabei sollte der Fokus auf positiven Aspekten der Persönlichkeit liegen. Wenn diese Übung in Gruppen erfolgt, bietet es sich an, hinterher gemeinsam zu raten, welche Wortcollage welche Person charakterisiert.

»Zwischen Selbstverwirklichung und Komfortzonenspiritualität« lautet die Überschrift dieses Kapitels. Selbstverwirklichung kann 40

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mitunter herausfordernd sein, weil dies auch eine Auseinandersetzung mit dem Selbst bedeutet. Etwas anderes hingegen meine ich mit dem Begriff der »Komfortzonenspiritualität«. Laura (47 Jahre): »Ich war so froh, diese Frauengruppe gefunden zu haben. Endlich Menschen, die so denken wie ich. Wir alle sind auf dem spirituellen Weg. Wir bestärken uns darin. Ich habe das Gefühl, endlich da zu sein, wo ich hingehöre. Alles fühlt sich so leicht an und macht Sinn.«

Unsere Komfortzone ist der Bereich, in dem wir uns wohl und sicher fühlen. Dinge, Beschäftigungen und Verhaltensweisen, die außerhalb unserer Komfortzone liegen, rufen in der Regel Reaktionen hervor, die von Abwehr, Angst bis hin zu Abenteuerlust oder Neugierde reichen können. Es gibt Menschen, sogenannte Adrenalinjunkies, die immer wieder, beinahe schon zwanghaft, ihre Komfortzone verlassen und ihre eigenen Grenzen ausloten wollen. Doch diese Menschen stellen eher eine Ausnahme dar, sehr viel häufiger treffen wir Personen, die große Angst und Hemmungen haben, die Grenzen ihrer Komfortzone auszutesten, geschweige denn, diese zu verlassen. Dabei bedeutet Komfortzone nicht zwangsläufig Gemütlichkeit. Komfort ist in diesem Kontext eher mit Vertrautheit gleichzusetzen. Das Gegenteil von Vertrautem ist das Veränderte. Die Hirnforschung hat mittlerweile ein Areal ausmachen können, welches besonders empfindlich auf Veränderungen reagiert, uns gleichsam davor schützen möchte, weil Veränderungen und Neues immer auch risikobehaftet sind. Unser limbisches System ist für unsere Angstreflexe vor neuen Situationen verantwortlich. Daher ziehen wir oft »den Schwanz ein« oder trauen uns doch nicht, eine bestimmte Sache anzugehen, die wir eigentlich schon längst angehen wollten. Natürlich ist es möglich, ein Leben innerhalb der Komfortzone zu führen. Und manchmal ist es auch unerlässlich, schont die Komfortzone doch unsere Ressourcen und Kräfte. Spiritualität findet heute bei manchen Menschen innerhalb dieser persönlichen Komfortzone statt. Vertrautes wird bedient, es finden wenig herausfordernde Momente statt. Spiritualität und Glaube fordern nicht zu Veränderung auf, sondern bestätigen Menschen in dem, wie sie sind. Aspekte spiritueller Vielfalt

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Selbstcheck • Nehme ich mir Zeit, in die Stille zu gehen und in mich hineinzuhorchen? • Kenne ich meine Glaubenssätze? Woher kommen diese Sätze? • Traue ich mich, eigene Entscheidungen zu treffen, oder möchte ich mich immer absichern? Lasse ich andere über mich entscheiden? • Wage ich es, Fehler zu machen und falsche Entscheidungen zu treffen? • Kenne ich das Gefühl, dass mein Leben Sinn macht? Wann habe ich es zuletzt gespürt? • Kenne ich Phasen, in denen ich an meinem Lebenssinn zweifelte? Wie ist es mir gelungen, aus solchen Phasen herauszukommen? • Erfüllt mich meine Arbeit? • Bin ich zufrieden in dem Umfeld, in dem ich lebe? • Nehme ich mir Zeit, Freunde und Familie zu treffen und in die Natur zu gehen? • Wann war ich zuletzt glücklich? • Worüber habe ich zuletzt gelacht?

ZWISCHEN SPEZIALISIERUNG UND GANZHEITLICHKEIT

Einerseits gibt es auf dem Weltanschauungsmarkt solche Anbieter, die mit ganzheitlichen Konzepten werben, um Geist, Seele und den Körper in Einklang zu bringen. Andererseits stellen wir fest: Manche spirituellen Anbieter beginnen, sich zu spezialisieren, und füllen so Nischen aus. Wer seinen Haaren eine ganz besondere Behandlung zugutekommen lassen will, der kann einen spirituellen Frisör aufsuchen. Und wir erinnern uns an die eingangs erwähnte spirituelle Pediküre. Gerade der Kosmetikbereich ist durchzogen von Angeboten, die von spiritueller Kosmetik inklusive Aurabehandlung bis hin zur Naturkosmetik mit spiritueller Energie reichen – Ganzheitlichkeit lässt grüßen. Wer Geld dafür ausgibt, 42

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den Körper zu optimieren, bei dem sitzt möglicherweise auch das Geld für eine geistig-seelische Optimierung auf dem Behandlungsstuhl lockerer. ZWISCHEN TEUREN ANGEBOTEN UND TASCHENGELDBUDGET

»Wer heute glaubt, seinen Anhängern auch noch das allerletzte Hemd abknöpfen zu müssen, hängt geistig noch im letzten Jahrtausend fest oder ist ganz einfach ein hoffnungsloser Narzisst« (Fischler, 2013, S. 61). Allerdings habe ich in vielen Beratungs­gesprächen durchaus noch mit Menschen zu tun gehabt, die Unsummen investiert haben in Partnerrückführungen, die Erweckung der Yoni-Energie oder in zweifelhafte Persönlichkeitskurse. Aber längst nicht jedes Angebot ist überteuert. Gerade in jüngster Zeit liefern viele Anbieter auch erschwinglichere Varianten. Möglicherweise hat es sich herumgesprochen, dass auf dem Esoterikmarkt teilweise Abzocke betrieben wird, und Konsumenten sind vorsichtiger geworden. Mittlerweile kann man für schlappe 150 Euro ein dreimonatiges Webinar buchen – Gespräche mit dem Coach allerdings kosten noch mal extra. Angebote im Taschengeldbudget sind in jüngster Zeit immer häufiger zu beobachten. Gerade bei solchen Richtungen, die kaum eine enge Anbindung erfordern, die spirituelle Produkte zur Steigerung des Wohlbefindens verkaufen oder mit einem Lebenshilfekurs aufwarten bzw. einen Podcast an den Mann oder die Frau bringen, stellen wir fest: Die Preise sind oft in einem durchaus angemessenen Rahmen. Der Effekt liegt auf der Hand: Wenn es nicht völlig überteuert ist, lassen sich womöglich mehr Menschen auf bestimmte Brands und Seminare ein; die seriöse Außenwirkung wird unterstützt. Denn längst hat es sich herumgesprochen, dass überteuerte Preise nicht unbedingt ein Kriterium für Seriosität sind. Unterm Strich also wird eher die Masse und nicht der Einzelne geschröpft. Bezahltes Lehrgeld schmerzt kaum, was den Effekt hat, dass sich Fehler wiederholen können. Jana (32 Jahre): »Ich war auf einer Esoterikmesse. Ich schäme mich heute fast ein bisschen, aber ich habe eine ganze Tasche voller esoterischem Plunder gekauft. Halbedelsteine für einen Schnäppchenpreis, Aspekte spiritueller Vielfalt

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irgendwelchen Schmuck, der angeblich Engelenergie freisetzt, eine Klangschale und natürlich Tee. Tee, der genau auf meine Schwingungen abgestimmt ist und extra für mich gemischt wurde. Als ich all die Sachen zu Hause auspackte, da lachte mein Mann mich aus. Ich habe auch einen Beutel mit getrocknetem Kuhdung gekauft, den man bei einer Agnihotra-Zeremonie verfeuern soll. Die Scheiße hat mich nur 10 Euro gekostet, und als der Verkäufer mir erklärte, weshalb diese Investition sich lohne, da klang alles sehr überzeugend. Zu Hause jedoch brachte ich es nicht mehr so recht zusammen und stellte fest: Ich hab mir tatsächlich Scheiße aufschwatzen lassen.«

Wer das nicht glaubt, der braucht nur mal zu googeln: Bei Ebay kann man sich »getrockneten Kuhdung von beschützten Kühen« für 14,98 Euro das Kilo bestellen. Und auch bei Amazon lässt sich unter dem Suchbegriff »Agnihotra DHOOP« bequem ein Kilo getrockneter Kuhdung bestellen. Was übrigens häufiger passiert und gerade bei Menschen, die in Abhängigkeiten geraten, oft eine Rolle spielt: Sind die Konsumenten erst einmal angebunden, beginnen Anbieter mit einer sukzessiven Steigerung der Preise. Oder es werden teure Wochenendworkshops und Beraterstunden empfohlen. ZWISCHEN SPIRITUALISIERUNG UND PATHOLOGISIERUNG

In einer psychischen Krise zu sein klingt unschön. In einer spirituellen Krise zu stecken hört sich da schon deutlich besser an. Wer lässt sich schon gern pathologisieren? Die logische Konsequenz einer Gesellschaft, die mit Diagnosen sehr großzügig umgeht, ist eine Spiritualisierung von psychischen Krisen. Tina (56 Jahre): »Ich bin seit einem Jahr in einer tiefen spirituellen Krise. Es fällt mir sehr schwer, morgens aufzustehen. Wissen Sie, ich bin auch noch hochsensibel. Und meinen Job habe ich verloren. Arbeitsfähig fühle ich mich schon lange nicht mehr. Ich habe 12 Kilo zugenommen, das liegt daran, dass ich nicht rauskann. Ich spüre all diese Energien und das überfordert mich. Ein Stündchen auf dem Balkon zu sitzen ist das Maximum, was geht. Zu einem Psychologen oder in die Klinik gehe 44

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ich nicht. Die haben keine Ahnung und wollen mich nur mit Tabletten vollstopfen. Dabei begann alles bei der Meditation. Damals brach etwas aus einem alten Leben hervor. Die Lehrerin sagte, es habe mit Kundalinienergie zu tun. Jedenfalls befinde ich mich auf einem spirituellen Weg, in einem Transformationsprozess, und bin auf der Suche nach einem Wegbegleiter […]. Ich brauche dringend Hilfe.«

Diese Klientin steckte in einer schweren Depression, allerdings gefiel ihr dieses abwertende Konzept nicht. Sie war selbst jahrelang Therapeutin und weigerte sich schlichtweg zu akzeptieren, dass sie nun die Seiten wechseln und selbst auf dem Behandlungsstuhl Platz nehmen sollte. Psychische Probleme in spirituelle Probleme zu transformieren kann ein Vermeidungsverhalten in der Auseinandersetzung mit eigenen psychischen Anteilen und Schwierigkeiten begünstigen. Dabei muss eine psychische Krise eine spirituelle Krise nicht ausschließen und umgekehrt. Nicht jedes Leid oder jede persönliche Lebenskrise ist gleichzusetzen mit einer psychischen Krankheit. Nicht jede Lebenskrise beeinträchtigt psychische Funktionen sowie soziale Teilhabe in einem Maße, als dass eine solche Pathologisierung zulässig wäre. Umgekehrt ist also durchaus auch darauf zu achten, keinen inflationären Gebrauch diagnostischer Zuschreibungen vorzunehmen. Einerseits neigt unsere Gesellschaft heute dazu, manches zu pathologisieren, was im Grunde »normal« ist. Andererseits tendieren einige Menschen dazu, manches, was eigentlich pathologisch ist, zu spiritualisieren. Diagnosen können den Selbstwert von Menschen infrage stellen und erschüttern, gleichzeitig besteht das Risiko einer Stigmatisierung. Spiritualisierung statt Stigmatisierung kann ein Lösungsversuch mancher Betroffenen sein. Die Gefahr allerdings besteht darin, dass sich die Betroffenen dann nicht mehr die richtigen Hilfsangebote suchen, wie das Beispiel von Lorena (37 Jahre) zeigt. »Ich nehme Auren wahr und Fremdenergien. Außerdem stehe ich mit dem Universum in Verbindung. Ich war bei unzähligen Heilern und Medien, die mir alle bescheinigten, dass ich einfach sehr weit entwickelt sei in spiritueller Hinsicht. Leider bin ich nicht arbeitsfähig, weil das, was da jeden Tag abläuft, völlig krass ist. Ich meine, ich sehe Aspekte spiritueller Vielfalt

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abgefahrene Farben und ich spüre, was andere Menschen denken. Da ist es ja klar, dass ich es nicht gut aushalte, in einer Fabrik zu stehen. Mein Arzt sagt, ich hätte eine Schizophrenie, aber das stimmt nicht. Mein Heiler sagt, ich sei hochsensitiv und das seien die Begleiterscheinungen. Ich bin in spiritueller Hinsicht einfach auf einem ganz anderen Level unterwegs als die meisten anderen Menschen.«

Die Klientin war zum Zeitpunkt ihres Anrufes in einer akuten psychotischen Phase. Es war in höchstem Maße verantwortungslos von den unzähligen Anbietern des Lebenshilfemarktes, hier überhaupt beratend tätig zu werden. Dies verstärkte das Vermeidungsverhalten der Klientin, sie verweigerte Therapien und Medikamente und wurde in diversen Wahnkonstrukten unterstützt, was sich keinesfalls positiv auswirkte, sondern sie tiefer in diese Vermeidungsspiritualität hineinführte. Zu allem Überfluss hatte sie 10.000 Euro Schulden bei den Eltern. Spirituelle Einkleidungen bieten also auch diverse Risiken. Fach und Beltz-Merk (2016) benennen hier etwa die Gefahr der spirituellen Überhöhung gerade auch außergewöhnlicher Erlebnisse. Spiritualität kann zu einer Strategie werden, unangenehmen Wirklichkeiten zu vermeiden und in Scheinwelten zu flüchten. O U RS E L DO IT Y

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Helfer und Begleiter Vielleicht haben Sie in Ihrem Leben schon die eine oder andere Krise durchlebt. Vielleicht haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich sein kann, in solchen Krisen nicht allein zu sein. Erinnern Sie sich daran, welche Kontakte hilfreich waren? • Wer hat Ihnen gutgetan? • Was hätten Sie sich gewünscht? • Welche Krisen haben Sie selbst schon bei anderen Menschen begleitet?

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ZWISCHEN PERSONENKULT UND SELBSTÜBERHÖHUNG Carla (37 Jahre): »Ich bin in meiner spirituellen Entwicklung recht weit fortgeschritten. Mein Partner versteht das nicht. Er steht, spirituell gesehen, auf einer völlig anderen Entwicklungsstufe. Er ist halt ein Materialist. Er ist blind für meine Entwicklung. Die Leiterin der Meditationsgruppe, zu der ich immer gehe, sagt auch, dass ich schon besonders weit sei. Auch eine spirituelle Lebensberaterin, die ich nach einem Ehestreit um Rat fragte, bestätigte mir, dass ich auf einem sehr hohen karmischen Level schwinge und in meinem vorherigen Leben eine ganz besondere Person war. Mein Mann hält das für Unsinn. Ich frage mich, ob es Sinn hat, diese Beziehung aufrechtzuerhalten?«

Nicht selten nutzen Menschen Spiritualität auch zur persönlichen Selbstaufwertung. Spiritualität kann so gesehen zwar zunächst eine Stütze sein, weil das Ego stabilisiert wird. Allerdings besteht, wie in dem obigen Fall dargestellt, die Gefahr, in eine Überwertigkeit zu rutschen. Gerade das Stufendenken, welches in manchen esoterischen Konzepten proklamiert wird, unterstützt solche Leistungs- und Überwertigkeitsgedanken. Oft kontaktieren mich Ehepartner, weil einer von beiden nach dem Besuch diverser Kurse und Coaches auf die Idee gekommen ist, er sei spirituell höher entwickelt als der Partner. O U RS E L DO IT Y

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Selbstwert In dieser Übung geht es darum, die eigene Lebensgeschichte unter einem bestimmten Blickwinkel niederzuschreiben oder zu erzählen: Was ist mir bisher gut gelungen und womit hatte ich Erfolg?   Äußere Erfolge sind dabei nicht maßgeblich, sondern es kann auch ein Erfolg sein, eine stabile Partnerschaft zu führen, gute Beziehungen zu Freunden zu haben, eine gute Köchin zu sein, die eigenen Kinder erfolgreich großgezogen zu haben. Es geht in dieser Erfolgsgeschichte darum, das, was oft als selbstverständlich und nicht erwähnenswert erscheint, zu erzählen.

Aspekte spiritueller Vielfalt

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Wir stellen also fest: Zum einen wird der Konsument selbst auf den Sockel gestellt; zum anderen jedoch stellen sich auch manche Anbieter in alter Tradition auf einen Sockel und befeuern einen Personenkult. Blickt man sich in der heutigen Szene um, dann wird man rasch feststellen: Die typischen Gurus der 1970er Jahre gibt es kaum mehr. Sicherlich fristen in einigen religiösen Nischen die angegrauten Herren (und Damen) weiter ihr Dasein, allerdings läuft der Mainstream nicht mehr diesem Typ von Guru hinterher. Die neuen Gurus inszenieren sich gekonnt medial, sind jung, gut aussehend, manchmal weiblich und nennen sich neuerdings beispielsweise »LifeCoach«. Ein Life-Coach übernimmt theoretisch keinen therapeutischen Job (wer geht schon gern zum Therapeuten – viel cooler ist es, einen Coach zu haben). Life-Coaches setzen an einem ähnlichen Punkt an wie Religionen und spirituelle Angebote: Sie bieten Entscheidungsund Orientierungshilfe für eine orientierungslose Generation. Und ähnlich wie in der Youtuberszene gibt es auch in der Coachingszene regelrechte Superstars. Solche Stars sind meist kein Zufallsprodukt, sondern werden gezielt aufgebaut, vermarkten sich, kreieren einen eigenen Brand (siehe oben). Auch inhaltlich ist wenig Neues dabei, es geht immer wieder um Themen wie Lebensziele, Selbstoptimierung, Selbstliebe, eigenes Potenzial besser ausschöpfen oder Lebensglück. Gerade junge Menschen sehen in solchen LifeCoaches manchmal eine Identifikationsfigur, der sie nacheifern und auf die sie nur allzu gern hören. Sicherlich sind solche Identifikationsfiguren an der Schwelle zum Erwachsenwerden und in Phasen der Neuorientierung wichtig. Aber manchmal können solche Coaches auch Menschen ansprechen, die im Grunde besser aufgehoben wären bei einem Psychotherapeuten, der eine individuelle Face-to-Face-Begleitung in schwierigen Lebenszeiten anbietet. Das war beispielsweise bei Lisa der Fall. Lisa (21 Jahre): »Ich befand mich mit 21 in einer schwierigen Lebensphase. Meine Ausbildung war beendet, mein Freund hatte sich von mir getrennt, ich hing in der Luft und wusste nicht, wohin und wie es weitergehen sollte. Ich hatte zu nichts mehr Lust, und es fiel mir zunehmend 48

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schwerer, aus dem Bett zu kommen. Dazu ständig diese negativen Gedanken. In dieser Zeit riet mir eine Freundin dazu, Podcasts eines Coaches zu hören. Ihr habe dies sehr geholfen. Weil man Podcasts auch liegend und im Bett hören kann, habe ich das mal versucht. Einiges davon bestätigte mich, dass es richtig sei, nicht mehr Dinge zu tun, die mich unglücklich machen. So schmiss ich meinen Job. Besser wurde es dadurch allerdings nicht. Ich rutschte in eine tiefe Depression, aus der ich erst nach vielen Monaten und mit medizinischer und psychologischer Hilfe wieder rauskam. Heute denke ich, dass die Ratschläge im Podcast zu diesem Zeitpunkt Gift für mich waren, weil sie mich in meiner Antriebslosigkeit bestärkten.«

Hier offenbart sich auch ein Risikofaktor des Formates. Wenn Coaching nicht individualisiert stattfindet, kann auch keine individualisierte Hilfe geleistet werden. Darum wird es ausführlicher im nachfolgenden Teil gehen. Der Personenkult, welcher um diverse Coaches zu beobachten ist, erinnert doch sehr an den Kult um die früheren Gurus. Zwar kennen professionelle Szene-Coaches heute meist ihre juristischen Grenzen und sind bemüht, keine geschäftsschädigenden Aussagen zu treffen, und sicherlich ist das Angebot auch für einige Menschen durchaus hilfreich. Die Messages solcher Coaches tun meist dem Ego nicht weh, man bekommt was für sein Geld. Aber es können auch Abhängigkeiten entstehen, wie der folgende Fall zeigt: Anna (43 Jahre): »Dieser Coach hat mir anfangs wirklich sehr geholfen. Ich wusste, ich konnte mich auf das verlassen, was er sagte. So kam es mit der Zeit, dass ich mich in beinahe jeder Entscheidung an ihn wandte. Er ließ sich das natürlich teuer bezahlen. Ich besprach sogar solche banalen Fragen, welche Farbe meine neuen Gardinen haben sollten, ob ich besser eine Federkern- oder Latexmatratze kaufe, mit dem Coach. Ich bin viel Geld an ihn losgeworden. Schlimmer als das Geld ist jedoch, dass ich meine Entscheidungsfreiheit an ihn losgeworden bin. Ich habe mich total abhängig gemacht von ihm. Er war mein persönlicher Guru. Es dauerte lange, bis ich das erkannte.«

Weil dieser Fall leider kein Einzelfall ist, widme ich dem Thema der Esoteriksucht ein eigenes Kapitel. Allerdings werden auch beim CoaAspekte spiritueller Vielfalt

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ching bisweilen spirituelle Bereiche miteinbezogen. Eine gewisse spirituelle Würzung findet sich bei vielen Angeboten heutiger SzeneCoaches. Denn, und dies scheinen solche Coaches begriffen zu haben, Menschen suchen in Krisen nach Sinn und verspüren nach wie vor ein Verlangen nach Bedeutung und Transzendenz. Einen personalisierten Gott braucht es in solchen Konzepten meist nicht mehr, es scheint, als würden die Coaches selbst die Rolle des Gottes übernehmen. Sandra (41 Jahre): »Mein Mann betrog mich jahrelang, erst mit Christine, einer Kollegin, dann mit Karin, einer anderen Kollegin. Als ich das herausfand, brach für mich eine Welt zusammen. Ich ging damals zu meinem Heilpraktiker, der mir schon früher geholfen hatte. Er sagte mir, dass dies wohl mein Schicksal aus einem früheren Leben sei und ich mir mein Schicksal selbst gewählt hätte, weil ich vermutlich noch eine karmische Belastung hätte. Er sagte mir, dass ich in meinem früheren Leben vermutlich selbst viel Schuld auf mich geladen hätte und es jetzt sozusagen an mir sei, diese zu tilgen. Ich fraß mich in dieser Zeit immer mehr in selbstzerstörerische Gedanken, ich fühlte mich eh schon schlecht und fragte mich, was mein Fehler gewesen war, weshalb ich meinem Mann nicht gut genug war, und da fiel die Botschaft des Heilpraktikers auf einen nahrhaften Boden des Zweifels an mir selbst. Ich wurde depressiv, und erst Monate später gelang es mir, mich von dem Unsinn zu distanzieren, den mein Heilpraktiker mir da erzählt hat. Ich muss sagen, dies warf mich in der Verarbeitung des Beziehungsendes um Lichtjahre zurück. Und gleichzeitig war es sehr verführerisch, ihm zu glauben, weil ich ja ohnehin überzeugt war, die Betrügereien meines Mannes hätten an mir gelegen.«

Leider ist dies kein Einzelfall, sondern immer wieder spreche ich mit Menschen, bei denen derartige Deutungsübernahmen einen beträchtlichen Schaden angerichtet haben. Traumatische Erlebnisse und Krisen, so stellt Hauser (2004) in einer empirischen religionsphilosophischen Untersuchung fest, werden von den Betroffenen in 72–95 Prozent als Anlass einer aktiven Sinnsuche genommen. Wenn es Menschen gelingt, einen Sinn bzw. eine Bedeutung nach dem Eintreffen eines einschneidenden Lebens50

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ereignisses zu erfassen, gelingt eine nachhaltigere und schnellere Anpassung an die neuen Lebensumstände. Dieser Sinn kann allerdings nicht von außen konstruiert werden, sondern der Betroffene selbst muss sich auf den manchmal auch holprigen Weg der Sinnsuche begeben. In diesem Kontext spielen Deutung, Bedeutung, bzw. einen Sinn in wichtigen Lebensereignissen zu entdecken, eine zentrale Rolle. Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Erlebnisse zu deuten bzw. eine Bedeutung darin zu entdecken, delegieren die Deutung manchmal nach außen – etwa an Gurus, Medien oder Heiler. O U RS E L DO IT Y

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Superheros und Powerfrauen In dieser Übung geht es darum, herauszufinden, wer die eigenen Vorbilder sind und welche Eigenschaften an ihnen geschätzt werden. Vorbilder können sich verändern, Idole können vom Sockel gestoßen werden. • Wer ist Ihr größtes Idol? Warum? Welche Eigenschaften bewundern Sie an der Person? • Wo ähneln Sie Ihrem Idol? • Wer war das Idol Ihrer Kindheit? • Wer ruht auf dem Friedhof Ihrer Idole?

Der Personenkult, den viele Anbieter gezielt betreiben, wird auch unterstützt durch Immunisierungsstrategien. Pablo hatte schon länger unklare Beschwerden, immer wieder litt er unter Kopfweh, Bauchschmerzen. Er suchte die Hilfe eines Heilers. Leider blieb der Erfolg aus. Pablo habe nicht genug an seine Heilung geglaubt, teilte der Heiler mit. Da seien zu viele innere Blockaden. So wie Pablo geht es vielen. Wenn Heilung eintritt, ist dies das Werk des Heilers; tritt keine Heilung ein, dann glaubt der Kranke eben nicht fest genug an die Heilkräfte des Heilers, ist innerlich blockiert oder einfach nicht offen genug für die brillanten Methoden des Heilers. Sich einzugestehen, dass man Unmengen Geld für eine nutzlose Behandlung ausgegeben hat, kann unter Umständen schwieriger sein, als weiter an die Macht des Heilers zu glauben. Und vielleicht geht es nicht nur Aspekte spiritueller Vielfalt

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dem Klienten so, sondern auch der Heiler ist möglicherweise davon überzeugt, dass seine Behandlung wirkt. Die Alternative wäre, dass der Heiler sich eingestehen müsste, dass er einem Klienten unnötig viel Geld abgeknöpft und im schlimmeren Fall wirkungsvollere Strategien aktiv verhindert hat. Solch ein Selbstbild möchten die wenigsten Heiler von sich haben. Aus diesem Grund ist es in beidseitigem Interesse, sowohl seitens der Klienten und Klientinnen als auch seitens der Heiler und Heilerinnen, sich etwas vorzulügen und das entsprechende Überzeugungskonstrukt aufrechtzuerhalten. DIE SPREU VOM WEIZEN TRENNEN

Nun haben wir ein paar typische Widersprüchlichkeiten des modernen Esoterikmarkts kennengelernt. Dass soll Sie jedoch keinesfalls von Ihrer persönlichen Seefahrt abhalten. Vielmehr geht es darum, mündige und vorausschauende Entscheidungen in Bezug auf die spirituellen Angebote zu treffen. Damit dies besser gelingen kann, stelle ich Ihnen hier eine kurze Checkliste vor, anhand derer Sie selbst Einschätzungen zu bestimmten Angeboten vornehmen können. Aufmerksam sollten Sie bei unseriösen Äußerungen eines Anbieters werden.

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Unseriöse Äußerungen von Anbietern

1. Der Anbieter • Überhöhungstendenzen: »Nur ich kann Ihnen helfen. Ich bin der Beste in diesem Bereich.« • Ängste schüren: »Wenn Sie kein Coaching bei mir machen, dann sehe ich schwarz. Ich sehe eine enorme dämonische/ karmische/energetische Belastung bei Ihnen.« • Selbstimmunisierung: »Wenn es Ihnen besser geht, liegt dies an mir. Wenn sich Ihr Zustand nicht verbessert, dann arbeiten Sie nicht gut genug mit, stehen nicht vollständig dahinter, haben zu viele inneren Blockaden, …« • Kritikunfähigkeit: »Wer heilt, hat recht. Ich weiß besser, was gut ist für Sie.« • Selbstdarstellung: »Ich bin der, der den einzig richtigen Weg kennt.« »

Kompass und Seekarte

• Selbstüberschätzung: »Ich brauche Sie nur wenige Minuten zu sehen und weiß Bescheid über Ihr Problem. Ich durchschaue Menschen sehr rasch.« • Mangelnde Empathie: »Hören Sie mir einfach zu, ich verrate Ihnen die Lösung zu Ihrem Problem.« • Unfehlbarkeit: »Ich habe mich noch nie geirrt. Mit meinen Einschätzungen/Prognosen liege ich immer richtig.« • Problemfokussierung: »Ich vermute, da muss etwas Schwerwiegendes in Ihrer Kindheit passiert sein. Ich denke, Sie sind sich Ihrer Probleme gar nicht bewusst. Ich helfe Ihnen dabei, Ihre Probleme zu ergründen.« • Abhängigkeitserzeugung: »Sie sind noch nicht so weit. Sie brauchen noch mehr Coaching, mehr Seminare, mehr Kurse, …« • Besserwisserei: »Hören Sie auf mich. Befolgen Sie meine Ratschläge und hören Sie nicht auf andere.« • Scheinzertifikate: »Ich habe ein Diplom im Mental-Coaching. Ich bin zertifizierter Life-Coach/Energiecoach.« 2. Das Angebot • Fixierung auf eine Methode: »Meine Methode wirkt bei allen Problemen. Andere Methoden sind nutzlos oder stören den Prozess. Lassen Sie sich ganz auf mich ein.« • Universalanspruch: »Sie können mit jedem Problem zu mir kommen. Ich kenne mich in jeder Lebenslage aus. Meine Methode wirkt in jedem Bereich. Eine Spezialisierung ist überflüssig.« • Bekämpfung anderer Verfahren: »Andere Angebote sind nicht wirksam. Vielen meiner Klienten hat eine Psychotherapie nichts gebracht.« • Negation von Risiken und Nebenwirkungen: »Bei meinem Verfahren gibt es keine Risiken und Nebenwirkungen, dennoch müssen Sie einen Haftungsausschluss unterschreiben.« • Aufklärungsverweigerung: »Das kann man nicht erklären, das müssen Sie erfahren.« • Isolierung vom sozialen Umfeld: »Die Familie oder der Partner tut Ihnen nicht gut. Kritische Stimmen aus dem Freundeskreis stören den Weg zum Erfolg.« » Aspekte spiritueller Vielfalt

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• Schweigegebot: »Erzählen Sie niemandem von dem, was wir hier besprechen.« • Strenge Regeln: »Halten Sie sich genau an meine Anweisungen. Ich bestimme, wann Pausen gemacht werden.« • Abgabe von persönlichen Gegenständen: »Geben Sie mir vor der Sitzung Ihr Handy/Ihre Uhr.« • Zielbestimmung: »Ich kenne Ihre wirklichen (unbewussten) Ziele besser als Sie.« 3. Die Rahmenbedingungen • Unbestimmte Dauer: »Es lässt sich nicht sagen, wie viele Termine nötig sind, das ergibt sich im Prozess.« • Überhöhte Preise: »Zahlen Sie im Voraus. Ich mache Ihnen ein besonders günstiges Angebot, wenn Sie gleich zehn Termine buchen. Eine Quittung ist überflüssig; der Preis ist so hoch, weil es sich um ein qualitativ hochwertiges, einzigartiges Produkt handelt.« • Zeitdruck: »Ich habe nur noch wenige Termine frei. Sie müssen sich so schnell wie möglich entscheiden. Den Vertrag kann ich Ihnen nicht mit nach Hause geben, unterschreiben Sie am besten sofort.« • Keine geschützten Gesprächsräume: »Datenschutz ist nicht so wichtig.« Eine Schweigepflicht wird nicht erwähnt. • Onlinecoaching: »Sie müssen nicht zu mir kommen, ich coache Sie bequem vom Computer aus. Buchen Sie bei mir ein Onlineprogramm zum günstigen Einführungspreis. Im Zeitalter des Internets wird ein Gespräch vor Ort völlig überbewertet.« • Keine Coachingziele: »Der Weg ist das Ziel. Ein Vertrag ist überflüssig. Wir arbeiten hier prozessorientiert.«

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Kompass und Seekarte

STÜRMISCHE ZEITEN »Niemand hätte jemals den Ozean überquert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, bei Sturm das Schiff zu verlassen.« (Charles F. Kettering 6)

»Dein Glaube hat dir geholfen« (Markus 5,34), heißt es in der Bibel. Versetzt Glaube tatsächlich Berge, bewirkt er Wunder und müsste es gläubigen Menschen dann nicht deutlich besser gehen als Ungläubigen? Bis in die jüngste Zeit wurde die Diskussion um psychischen und physischen Nutzen oder Schaden von Glauben vor allem bestimmt durch eine religionsskeptische Haltung, wie sie beispielsweise Freud vertrat. Unlängst hat sich die Wissenschaft der Frage angenommen, ob gläubige Menschen tatsächlich gesünder sind als Ungläubige. Wie so oft sind die Ergebnisse nicht ganz einheitlich. Offenbar hat Religion eine Auswirkung auf die psychische Gesundheit, so zeigt sich etwa in der Metastudie von Koenig (2012), dass der Selbstwert und der Umgang mit Krisen und schwierigen Situationen von einer positiven Glaubenseinstellung profitieren. Auch gesundheitsschädigendes Verhalten, wie etwa Rauchen oder ausufernde Sexualpraktiken, sind bei Gläubigen weniger vorhanden. Selbst bei Depressionen oder Angststörungen ergibt sich ein positiver Effekt durch Glauben. Gläubige haben demnach weniger Risiko, an Herzkrankheiten zu sterben, ein besseres Immunsystem und einen niedrigeren Blutdruck. Ob diese positiven Effekte sich allerdings durch das Einwirken einer transzendentalen Entität erklären lassen, das bleibt fraglich. Denn viele dieser Effekte lassen sich auch erklären durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die in enger Verbundenheit steht. Zu einer solchen Gruppe zu gehören wirkt beruhigend, beugt also Stress vor. Viele Verhaltensvorschriften in religiösen Gruppierungen können überdies dazu beitragen, gesundheitsschädliches Verhalten einzudämmen. So wirkt sich Fasten positiv auf den Körper aus; Gebete, die mit Körperbewegungen einhergehen, sind vorteilhaft; religiöse Praktiken wie Meditation zeigen deutliche Effekte. Auch Süchte lassen sich mittels Religion besser kurieren als ohne. 6 https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_charles_f_kettering_thema_entschlossenheit_zitat_7222.html (15.07.2021). Stürmische Zeiten

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Allerdings ist nicht jede Gruppierung per se gesundheitsförderlich. Eine entsprechend negative Wirkung ergibt sich, wenn eine Gemeinschaft sich zu sehr abschottet, Leistungsdruck aufgebaut wird und mit angstmachenden Mitteln gearbeitet wird (Klein u. Albani, 2011, S. 226 f.). Gerade dann, wenn Menschen bedingt durch ihre Glaubensüberzeugungen in eine Krise geraten, gibt es auch negative Auswirkungen. Ebenso wie Glauben heilsam sein kann, kann sich auch eine gegenteilige Wirkung ergeben. Glaube ist ambivalent. Deswegen möchte ich nun einige Überlegungen anstellen zur Frage, wann Glaube nutzt und wann er schadet. Glaube ist, und darauf weisen viele Forschungsergebnisse hin, eine große Ressource. Von Raphael Bonelli stammt der Satz: »Wenn Religion eine Pille wäre, dann wäre sie heute wohl als Medikament zugelassen« (Heinrich, 2013). Dieser etwas plakative Satz ist in vielerlei Hinsicht zu relativieren, verweist jedoch darauf, dass Religion und Glaube durchaus psychische Stabilität und ein Gefühl der Geborgenheit verschaffen können. Doch grundsätzlich ist zu unterschieden: Glaube ist nicht gleich Glaube. Heutzutage unterscheidet man zwischen intrinsischer und extrinsisch motivierter Religiosität (Zwingmann, Hellmeister u. Ochsmann, 1993). Intrinsische Religiosität ist eine innere Glaubenshaltung, die aus einer tiefen inneren Überzeugung kommt, einem Glauben an einen Gott. Extrinsisch motivierte Religiosität ist eher von außen motiviert und damit oft auch angstgesteuert. Schwierigkeiten für die menschliche Psyche bereitet vor allem die extrinsische Religiosität. Der intrinsische Glaube ist eine Form des gelebten Glaubens, welcher viele Lebensbereiche beeinflusst. Extrinsischer Glaube ist oberflächlicher und wird eher genutzt, um diverse Ziele zu erreichen; eine tiefe Verwurzelung fehlt allerdings. Dann, wenn Glaube also von äußeren Erlebnissen abhängig gemacht wird, beängstigt, in Abhängigkeiten führt, können sich eher negative Auswirkungen ergeben. Ein weiteres Erklärungsmodell zur Frage, unter welchen Voraussetzungen Religion einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden hat, stammt von Pargament (2010). Dabei stellt Pargament die Frage in den Mittelpunkt, wie religiöse Überzeugungen sich speziell in Krisensituationen auswirken. Dabei unterscheidet er zwischen den folgenden drei Religionsstilen: 56

Kompass und Seekarte

Ȥ kollaborativer Stil (am wirksamsten; Gott wird als Unterstützer gesehen); Ȥ selbstdirektiver Stil (man kann sich nur selbst helfen; in Grenzsituationen schwierig, ansonsten günstig); Ȥ delegierender Stil (am wenigsten positiv; man vertraut nur auf Gottes Hilfe; ist in völlig aussichtslosen Situationen günstig). Es zeigt sich hier, dass die unterschiedlichen Stile jeweils in unterschiedlichen Situationen entsprechend positive oder negative Auswirkungen haben. Von Bedeutung ist neben der Frage des Stils auch die Frage der Wichtigkeit. Wie wichtig ist Religion im Leben? Nur wenn der Religion eine entsprechende Bedeutung beigemessen wird, entfaltet sich die Wirkung oder Nebenwirkung. O U RS E L DO IT Y

F!

Meine Gottesbeziehung 1. Wie haben Sie sich Gott in Ihrer Kindheit vorgestellt? 2. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Kindheit mit Gott gemacht? 3. Welche Rolle spielte Gott in Ihrer Familie? 4. Hat sich dieses Bild von Gott verändert? Wann ist das passiert? 5. Wie ist Ihr Bild heute von Gott? 6. Welche wichtigen Entwicklungsschritte gab es in Ihrer Gottesbeziehung? 7. Gab es Beziehungskrisen? 8. Was fühlen Sie, wenn Sie an Gott denken? 9. Haben Sie ein konkretes Bild im Kopf, wenn Sie an Gott denken? 10. Wann erlebten Sie den Glauben an Gott als hilfreich? 11. Haben Sie in Ihrem Leben schon mal das Gefühl gehabt, Gott hilft Ihnen? 12. Hatten Sie schon mal das Gefühl, von Gott verlassen zu sein? 13. Kennen Sie solche Gefühle auch aus Ihrer Kindheit? Mit Ihren Eltern?

Stürmische Zeiten

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Seereisen bergen die Möglichkeit, in Seenot zu geraten. Glaube birgt schon immer das Risiko des Scheiterns. Glaube kann in Glaubenskrisen stürzen. Und wenn es nicht die Betreffenden selbst sind, dann kann eine Änderung der Glaubensgesinnung das Umfeld, bisherige Freunde und Angehörige verzweifeln lassen. Oft berichten Angehörige, dass sie Betreffende nicht mehr erreichen können, es zu einem Kommunikationsverlust gekommen sei, und äußern große Sorge um das Wohlergehen des Betreffenden. Weltanschauungen können zu Familien- und Partnerschaftskrisen führen, zu Abbrüchen von Freundschaften, Streit und Ärger. Das Feld möglicher Krisen ist weit. Deshalb möchte ich Ihnen hier zunächst einen sehr allgemeinen »Erste-Hilfe-Koffer« anbieten, den Sie für sich oder auch andere nutzen können, sollten Sie in eine spirituelle Krise geraten.

»

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Erste-Hilfe-Maßnahmen für akute Krisen

Wenn jemand Anzeichen einer akuten spirituellen Krise zeigt (Unruhe, Verwirrung, Angst, unkontrolliertes Lachen, Weinen oder Reden), dann gibt es einige Sofortmaßnahmen, die hilfreich sind: • Atembegleitung: Versuchen Sie, den Betreffenden darin zu unterstützen, ruhig und tief zu atmen. Bauchatmung. Ausatmen auf A. Atmen Sie gemeinsam. • Körperliche Nähe. Soweit es der Betreffende möchte, kann es hilfreich sein, ihn in den Arm zu nehmen, zu stützen, eine Hand zu reichen. Körperliche Nähe beruhigt und reguliert. • Sprechen Sie mit dem Betreffenden. Sorgen Sie für eine ruhige und entspannte Atmosphäre. Reagieren Sie nicht aufgeregt und ängstlich. • Nicht allein lassen. Sorgen Sie dafür, dass der Betreffende nicht allein bleibt. • Frische Luft. Gehen Sie gemeinsam raus, machen Sie einen Spaziergang. Sie sollten mindesten eine halbe Stunde an der frischen Luft sein. Optimal wäre es, wenn Sie die Möglichkeit haben, in die Natur zu gehen. Laute und hektische Umgebungen sind eher zu meiden. • Bieten Sie ein Fußbad an. Massieren Sie dem Betreffenden kräftig die Füße. Stampfen Sie gemeinsam auf den Boden. »

Kompass und Seekarte

• Zeigen Sie dem Betreffenden eine Abklopfübung oder stellen Sie ihm einen Igelball zur Verfügung, mit dem er sich abreiben kann. • Kaltes Wasser, kalt duschen. • Ernährung: scharfe Bonbons, warmes Essen, Kohlenhydrate. • Arbeit: Gartenarbeit, schwere handwerkliche/körperliche Arbeit. • Halten die oben beschriebenen Symptome dennoch länger an, suchen Sie ärztliche Hilfe gemeinsam mit dem oder der Betreffenden auf.

SINNKRISEN »Nicht wir dürfen nach dem Sinn des Lebens fragen – das Leben ist es, das Fragen stellt, Fragen an uns richtet – wir sind die Befragten!« (Frankl, 2015, S. 116)

Sinnkrisen können unterschiedliche Ursachen haben. Manchmal werden sie ausgelöst durch den Austritt aus einer Gruppierung. Auch einschneidende Erlebnisse können Sinnkrisen auslösen. Sinnkrisen fühlen sich für manche Betroffenen an wie ein »spiritueller Schiffbruch«. Sie haben das Gefühl, in dem Ozean an Sinnangeboten die Orientierung zu verlieren, kein Land mehr zu sehen und unterzugehen. Gerade in Krisenzeiten stellen sich Menschen die Frage nach dem Sinn im Leben verstärkt. Einen Sinn in Krisen zu entdecken hilft, solche Krisen besser zu überstehen. Für Menschen, die aus einer Gruppierung aussteigen oder ausgestoßen wurden, stehen Sinnfragen oft im Vordergrund. Die Frage nach dem Lebenssinn ist gleichzeitig eine kultur- und geschichtsübergreifende Frage, mit welcher sich Menschen zu allen Zeiten beschäftigten. Ein Leben erscheint vielen gerade dann besonders wertvoll oder sinnvoll, wenn es idealen Wertevorstellungen entspricht. Glaube und Wertefragen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Glaube kann eine wichtige Auswirkung haben, worauf wir unser Leben ausrichten, was uns wichtig erscheint. An etwas Stürmische Zeiten

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zu glauben kann dem Leben Sinn geben. Lebenssinn bedeutet, dass eine innere Klarheit darüber besteht, warum wir hier sind und wohin die Reise geht, vor allem jedoch auch über die Frage nach unserer individuellen Bestimmung und unserem Platz im Leben. Im Alltag spielen Sinnfragen meist eine untergeordnete Rolle; oft kommen Sinnfragen besonders dann zum Tragen, wenn gravierende Ereignisse eintreten oder eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Lebensentwurf besteht. Wenn der Lebenssinn auf einem Glaubenskonstrukt aufbaut ist und dieses Glaubenskonstrukt ins Wanken gerät, dann ist es eine wichtige Aufgabe, einen neuen Sinn im eigenen Leben zu entdecken. Doch Sinnkrisen können auch durch viele andere Ereignisse ausgelöst werden. Gab eine Partnerschaft beispielsweise Sinn und eine Trennung ist erfolgt, so kann dies in Sinnkrisen stürzen. Auch wenn der Lebenssinn beispielsweise aus dem Job geschöpft wird und man dann den Arbeitsplatz verliert, ist eine Sinnkrise vorprogrammiert. In Sinnkrisen sind Menschen in besonderem Maße anfällig für Sinnanbieter. Manch einer greift nach dem sprichwörtlichen Strohhalm. Deswegen gilt es, Menschen, die in solchen Sinnkrisen stecken, Unterstützung dabei anzubieten, wieder selbst einen Sinn im eigenen Leben zu entdecken. »Ich sehe zunehmend ein, dass das Leben so unendlich sinnvoll ist, dass auch im Leiden und sogar im Scheitern noch ein Sinn liegen muss. Und der einzige Trost, der mir bleibt, ist darin gelegen, dass ich mit gutem Gewissen sagen kann, ich habe die Möglichkeiten, die sich mir boten, verwirklicht« (Frankl, 2015, S. 49). Maslow gibt zu bedenken, dass grundlegende Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder das Bedürfnis nach Freiheit gestillt sein müssen, damit der Mensch sein Leben als sinnvoll erfährt. Je nach grundlegenden Werten beantworten Menschen sich die Sinnfrage anders. Es gibt Menschen, die ihren Lebenssinn eher an der eigenen Person ausrichten, für andere hingegen ergibt sich der Lebenssinn aus altruistischen Motiven, oder eine spirituelle oder philosophische Dimension wird miteinbezogen. Auch die Philosophie gibt Antworten. Diese Antworten sind meist nichtreligiös und variieren je nach Zeitgeist, Schule und Philosoph. Alle großen Religionen bieten zur Frage des Lebenssinns Antworten und stiften für Sinnsuchende so Orientierung oder können Anregungen geben. 60

Kompass und Seekarte

Übrigens stellen sich gerade junge Menschen und Menschen um die sechzig verstärkt Sinnfragen. In der Lebensmitte stellen sich Menschen diese eher weniger; erst wieder, wenn sich viel verändert, beispielsweise durch den Renteneintritt oder vermehrte körperliche Krankheiten oder den Tod von Angehörigen, rückt die Frage nach dem Sinn wieder stärker in den Fokus. Klassischerweise beschäftigt sich die Logotherapie mit Sinnfragen; sie stellt eine Art der Psychotherapie dar, wo es um den Lebenssinn geht. Geprägt wurde diese Richtung durch Viktor Frankl. Depressionen, Langeweile, Störungen werden in dieser Therapieschule dadurch erklärt, dass ein Mensch seine eigenen Werte nicht lebt, was auf Dauer sein Gefühl von Sinnhaftigkeit beein­trächtigt. Die meisten Menschen sind irgendwann in ihrem Leben mit der Frage nach dem Sinn konfrontiert. Religion kann in solchen Sinnkrisen eine große Ressource sein und dabei helfen, Antworten zu finden und Krisen besser zu bewältigen (Safranski, 2002). O U RS E L DO IT Y

F!

Was wäre, wenn …? Die berüchtigte Wunderfrage kann auch bei der Sinnsuche wahre Wunder wirken. So kann beispielsweise eine Antwort auf die folgenden Fragen gesucht werden: • Was wäre, wenn Sie eine Million gewinnen? Was würden Sie in Ihrem Leben ändern? Welche Auswirkungen hätte dies auf Ihren Beruf, Wohnort usw.? • Was wäre, wenn Sie nur noch einen Tag/ein Jahr zu leben hätten? Wie würden Sie diese Zeit gestalten? Was wäre wichtig? • Was wäre, wenn Sie morgen früh aufwachen und all Ihre geheimen Wünsche sind in Erfüllung gegangen? Beschreiben Sie den idealen Tag. • Was wäre, wenn Sie drei Wünsche frei hätten? Was würden Sie in Ihrem Leben verändern? • Was wäre, wenn es Ihnen richtig gut ginge? Woran würden Sie das bemerken? Was wäre anders?

Stürmische Zeiten

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Grundsätzlich sind Sinnkrisen eine Chance. Fast jeder kennt Sinnkrisen. Umbrüche und Veränderungen fordern in besonderem Maße Fragen nach Sinnhaftigkeit und Werten heraus. Sinnhaftigkeit zu erleben bedeutet für viele Menschen auch, dass sie im Einklang mit ihren Talenten und Begabungen ihr Leben gestalten. Die eigenen Fähigkeiten zu kennen und einzusetzen ist ein wichtiger Prozess im Rahmen der Konstruktion von Lebenssinn. O U RS E L DO IT Y

F!

Fragenrunde • Was macht mich besonders oder einzigartig? • Was macht mich aus? • Warum bin ich so, wie ich bin? • Auf welche meiner Fähigkeiten bin ich besonders stolz? • Was kann ich gut? • Wann habe ich mich zuletzt wichtig und gebraucht gefühlt?

WERTEFRAGEN »Ohne Grundsätze ist der Mensch wie ein Schiff ohne Steuer und Kompass, das von jedem Winde hin und her getrieben wird.« (Samuel Smiles7)

Wenn wir über Glauben und Weltanschauungen sprechen, geht es auch um Werteorientierungen. Was zählt wirklich im Leben? Wonach richte ich mich aus? Was sind meine Ideale? Solche und ähnliche Fragen stehen in enger Verbindung zu Werten. Religionen begründen Werte. Aber manchmal kollidieren diese Werte mit anderen Werten. Worauf norde ich meinen Wertekompass? Richte ich mich stark an anderen aus oder orientiere ich mich eher an ichbezogenen Werten? Werte bestimmen unsere Ziele. Oft gibt es gerade dann Schwierigkeiten, wenn sich Werte quasi gegenüberstehen (Offenheit für Veränderung und Beständigkeit). Sich gemäß eigener Grundüberzeugungen und Werte zu verhalten schafft für Menschen ein Gefühl der 7 https://www.aphorismen.de/zitat/12137 (15.07.2021).

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Kompass und Seekarte

Konsistenz. Wenn dieses Gefühl fehlt, dann kann die Ursache auch darin liegen, dass unser innerer Wertekompass eigentlich in eine völlig andere Richtung weist. Gruppierungen, Gesellschaft und Familie prägen unsere Werte entscheidend mit. Um sich besser auf dem Markt der Religionen orientieren zu können, ist es hilfreich, den inneren Wertekompass zu kennen. Deshalb lade ich Sie ein: Machen Sie sich auf die Suche nach Ihren eigenen Werten und Überzeugungen. O U RS E L DO IT Y

F!

Meine Werte Jubiläumsrede Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Rede zu Ihrem eigenen achtzigsten Geburtstag halten. Was würden Sie in dieser Rede über sich und Ihr Leben sagen? Es ist nur Positives erlaubt. Wofür haben Sie sich besonders engagiert? Was war Ihnen wichtig? Was macht Sie aus? Schreiben Sie die Rede auf. Bewerbung schreiben Die folgende Übung ist eine Schreibübung und hilft einerseits dabei, sich über die persönlichen Werte klarer zu werden, andererseits stärkt sie auch das Selbstvertrauen. Der Arbeitsauftrag lautet: »Schreiben Sie eine Bewerbung an sich selbst. Sie bewerben sich um die Stelle Ihres ›besten Begleiters‹ oder Ihrer ›besten Begleiterin‹. Was qualifiziert Sie? Warum sind Sie der beste Begleiter, die beste Begleiterin für sich selbst? Was verkörpern Sie?« Kleine Fragensammlung zu Werten • Was macht Sie stolz, wenn Sie auf Ihr Leben blicken? • Auf welches Ihrer nächsten Ziele freuen Sie sich besonders? • In welchem Bereich sind Sie besonders kompetent? • Haben Sie ein Lebensmotto? Wie lautet das? • Was hilft Ihnen in Krisen? • Welche besonderen Fähigkeiten schätzen Ihre Kollegen und Freunde an Ihnen? • Wofür wurden Sie zuletzt gelobt? Stürmische Zeiten

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DIE CREW »Das Erste, was jemand tut, der sich nicht den Standards der Norm unterwerfen will, ist, sich eine andere Gruppe zu suchen, der er sich stattdessen anpassen kann.« (Dean Burnett, 2016, S. 275)

Menschen haben die Angewohnheit, sich in Gruppen zusammenzurotten. Das tun sie schon immer, und es braucht dazu nicht zwangsläufig Religion. Dennoch spielt gerade auch im religiösen Kontext Gruppenbildung eine wichtige Rolle. Waren es in den 1970er und 1980er Jahren die klassischen Sekten, die als religiöse Extremgruppierungen mediale Aufmerksamkeit erlangten, so finden wir heutzutage eine sehr viel informellere Gruppenbildung, die teilweise auch in virtuellen Räumen stattfindet. Menschen, die das Gleiche glauben, treffen sich immer noch, heute passiert dies aber teilweise auch in Foren, Chatrooms oder anderen sozialen Netzwerken. Und selbstverständlich finden auch (wenn nicht gerade die Pandemie es verbietet) nach wie vor reale Treffen statt, ob zum gemeinsamen Mantra-Singen, zum Engel-Channeling oder zum Breath-Ritual. Menschen mit gleichen Überzeugungen und Interessen tun sich nach wie vor zusammen, treffen sich und tauschen sich aus. Daher geht es in diesem Kapitel um die Rolle der Gruppe im Zusammenhang mit Spiritualität. Es geht auch um die Frage, inwieweit die Gruppe Einfluss auf den Einzelnen nimmt. Die grundlegenden Funktionsweisen menschlicher Gruppen zu verstehen, hilft zu normalisieren. Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir Teil einer Gruppe werden? Wie verändert dies unsere Wahrnehmung, unsere Beziehungen und unsere Überzeugungen? Das Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören, ist zutiefst menschlich und in unserem Hirn verwurzelt. Viele Kapazitäten des menschlichen Gehirns beziehen sich auf die Interaktion und den Kontakt mit anderen Individuen. Evolutionär scheint es von Vorteil gewesen zu sein, dass Menschen sich zusammengetan haben, beispielsweise gemeinsam jagten und in Stämmen zusammenlebten – dies erhöhte die Überlebenschancen des Einzelnen. Offenbar handelt es sich also bei dem Wunsch, einer Gruppe zugehörig zu sein, um 64

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eine angeborene Neigung. Allerdings können aus dieser »Neigung« durchaus bizarre, eigenartige und verwunderliche Situationen entstehen. O U RS E L DO IT Y

F!

Meine Erfahrungen mit Glaubensgruppen Sind Sie Teil einer Glaubensgruppe? Oder waren Sie es einmal? Dann ist vielleicht die folgende Übung passend für Sie. Soziogramm/Organigramm Um Gruppenstrukturen besser zu durchleuchten, bietet es sich an, ein Organigramm bzw. Soziogramm der Gruppe anzufertigen. Dies hilft, herauszufinden, wo sich vielleicht Ressourcen finden und wo Veränderungen möglich sind. Schreiben Sie alle Namen der Gruppenmitglieder auf und versuchen Sie dann darzustellen, wer wem nahesteht, wer sich mit wem gut versteht, wer eventuell eine Führungsrolle innehat. Jedes Soziogramm sieht anders aus. Gruppenstellen Versuchen Sie einmal, die Gruppe mit Figuren oder Gegenständen aufzustellen. Fragen, die dabei leiten können, sind: • Wer steht mit wem in Beziehung? • Wer steht wem nahe? • Wer steht allein? • Wem stehe ich nahe? • In welche Richtung blicke ich? • Wen habe ich bisher kaum beachtet? • Wer fällt in der Gruppe kaum auf? • Wen hätte ich gern näher kennengelernt? • Zu wem habe ich den größten Abstand? • Was müsste sich verändern, damit ich mich in der Gruppe wohler fühle? • Was könnte ich zu dieser Veränderung beitragen? • Was würde geschehen, wenn ich die Gruppe verlasse?

Die Crew

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PASSUNG

Warum wählen Menschen die Mitgliedschaft in bestimmten Gruppierungen? Die Antwort ist einfach: Weil die Gruppe gut zu ihnen, ihren Einstellungen, Überzeugungen und Meinungen passt. Bevor sich Betreffende für eine bestimmte weltanschauliche Gruppe entscheiden, stellen sie meist fest, dass viele Ansichten der Gruppe erstaunlich gut mit den eigenen Ansichten und Überzeugungen übereinstimmen. Ein bisschen erinnert der Moment der Passung an die Phase des »Frisch-verliebt-Seins« – ähnlich fokussiert läuft in solchen Momenten die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten ab, und ähnlich großzügig werden Dinge, die zu Schwierigkeiten führen könnten, ausgeblendet. Das Phänomen der Passung erklärt auch, weshalb wir uns in unserer Filterblase so wohlfühlen. Denn dort treffen wir fortlaufend auf Überzeugungen, Meinungen und Menschen, die die eigene Überzeugung teilen und so verstärken. Das schafft das durchaus angenehme Gefühl, mit seiner Meinung richtig zu sein. Weil es diese Schnittmenge an gemeinsamen Einstellungen und Überzeugungen gibt, ist ein Ausstieg oft besonders hart. Ein typischer Vorwurf, der laut wird, wenn man über das Phänomen der neuen religiösen Bewegungen (oder sogenannten Sekten) spricht, ist die Behauptung, dort werde Gehirnwäsche betrieben. Gehirnwäsche – was hat man sich darunter vorzustellen? Gemeinhin wird psychische Manipulation als Gehirnwäsche bezeichnet. Wenn eine Person gezielt dahingehend beeinflusst wird, dass sie dem eigenen Urteilsvermögen, den eigenen Grundprinzipien nicht mehr vertraut und stattdessen eine gelenkte Umorientierung stattfindet, spricht man von Gehirnwäsche. Seinen Ursprung hat die Idee der Umpolung in totalitären Staaten, wo dies häufig auch unter Anwendung physischer Gewalt vorgenommen wurde. Im Grunde ist Gehirnwäsche ein Prozess der manipulierten mentalen Anpassung. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass Meinungen von anderen automatisch abfärben. Die Leute, mit denen wir viel Zeit verbringen, haben also einen Einfluss auf uns und umgekehrt. Auch wenn wir uns für eine Gesellschaft von Individualisten halten, so lassen wir uns doch beeinflussen vom Verhalten der Umgebung. Nicht umsonst 66

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entscheiden oft Bewertungen bei Amazon über eine Kaufentscheidung oder der Freundeskreis über den Kleidungsstil und Musik­ geschmack. Experimente zeigen: Es ist möglich, dass Menschen groben Unfug glauben, wenn andere ihnen diesen Unfug überzeugend kundtun (Edelson, Sharot, Dolan u. Dudai, 2011). Das, was wir in religiösen Gruppierungen erleben, hat selten etwas mit Gehirnwäsche zu tun, sondern wir finden hier sehr allgemeine psychologische Mechanismen, die zum Tragen kommen. Gehirnwäsche hingegen ist ein gezieltes und bewusst eingesetztes Programm zur Umprogrammierung von Glaubensüberzeugungen und Meinungen. Durch geschickte unterschwellige Beeinflussung (wie wir sie heutzutage auch aus der Werbung kennen) sollen Entscheidungen und Verhalten beeinflusst werden. O U RS E L DO IT Y

F!

Schreibauftrag für Aussteiger 1. Schreiben Sie der Gruppe/Leitung einen Brief Dieser Brief soll allerdings nicht abgeschickt werden. Schreiben Sie in dem Brief, was Sie schon längst mal loswerden wollten. Was Sie nicht mehr sagen konnten. Was Sie nicht zu sagen gewagt haben. Schreiben Sie sich völlig unzensiert alles von der Seele. Wenn Sie möchten, dann lesen Sie diesen Brief laut vor, entweder sich selbst oder einer Person Ihres Vertrauens. Geben Sie diesen Brief jedoch nicht aus den Händen. Es kann hilfreich sein, ihn einige Tage mit sich herumzutragen. Spüren Sie, wie es Ihnen damit geht. Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie den Brief lassen. Manchen Menschen hilft es beispielsweise, den Brief zu verbrennen oder zu vergraben. 2. Schreiben Sie Ihrem früheren Ich einen Brief Was würden Sie sich mit dem Wissen, das Sie heute haben, gern mitteilen? Was würden Sie Neueinsteigern in die Gruppierung gern sagen? Worauf sollten diese achten? Was hätten Sie damals wissen müssen, damit all das nicht passiert wäre? »

Die Crew

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3. Schreiben Sie eine Pro-Kontra-Liste Was war gut an der Zeit in der Gruppe? Was hat Sie besonders angesprochen, fasziniert, verzaubert? Was ist Ihnen aufgestoßen? Was hat irritiert, verstört, gestört?

GRUPPENDRUCK

Gruppendruck bedeutet, dass man sich dazu hinreißen lässt, Dinge zu tun, zu sagen oder zu ertragen, die eigentlich nicht dem eigenen Willen, der eigenen Meinung oder dem eigenen Geschmack entsprechen. In der Wissenschaft spricht man auch von »normativer sozialer Beeinflussung«. Wenn Menschen unter dem Einfluss der Gruppe von der eigenen Meinung abrücken, fällt dies unter normative soziale Beeinflussung. »Mit beunruhigender Häufigkeit räumt unser Gehirn einem Gemochtwerden den Vorzug vor einem Recht­ haben ein« (Burnett, 2016, S. 306). Sehr bekannt ist das Experiment von Salomon Asch (1956), der in einem Versuch mit kleinen Gruppen jeweils einer Versuchsperson einen Zettel mit drei unterschiedlich langen Strichen zeigte, mit der Frage, welcher davon der längste sei. Antworteten alle eingeweihten Gruppenmitglieder mit einem falschen Ergebnis, schlossen sich die Versuchsteilnehmenden in drei viertel aller Fälle dem falschen Ergebnis an. Dies liegt nicht daran, dass sich die Wahrnehmung veränderte, sondern zumeist wollten die Versuchsteilnehmenden keinen Anlass für Diskussionen bieten, nicht unangenehm auffallen und die Zusammengehörigkeit der Gruppe nicht infrage stellen. Dieses kleine Experiment verdeutlicht, dass die Gruppe selbst keinen aktiven Druck oder gar Zwang aufwendet, sondern der Betreffende sich aus freien Stücken der Gruppe unterwirft. Weil er dazugehören möchte, gemocht werden will und dies offenbar in den meisten Fällen wichtiger scheint als die Wahrheit. Deshalb gehen Menschen »faule Kompromisse« ein und tun so, als seien die Überzeugungen der Gruppe auch die eigenen, obwohl manchmal die eigenen inneren Überzeugungen andere sind. Zivilcourage zu zeigen bedeutet im Umkehrschluss, sich gegen Gruppen zu stellen, den Mut aufzubringen, den Mund aufzumachen, auch wenn keiner etwas sagt.

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F!

Meine Gruppenerfahrungen Denken Sie einmal an Ihre Teenagerzeit zurück. Haben Sie damals zu einer bestimmten Gruppe gehört? Erinnern Sie sich, ob dies Auswirkungen auf Ihren Geschmack oder Ihre Art, sich zu kleiden, hatte? Wie war es später?

Immer wieder lehrt uns die Geschichte: Menschen sind in der Lage, sich gegenseitig Böses anzutun. Das berühmte Milgram-Experiment Anfang der 1960er Jahre verdeutlicht: Menschen fügen sich gegenseitig auf Befehl Schmerzen zu (Milgram, 1993). Wenn der Versuchsleiter wie im Milgram-Experiment den Befehl gab, vermeintliche Probanden mit an Intensität zunehmenden Stromstößen zu foltern, leisteten immerhin 65 Prozent diesem Befehl Folge. Offenbar sind einige Menschen bereit, sich Autoritätspersonen zu unterwerfen und diesen zu gehorchen. Die Verantwortung für etwaige Folgen der eigenen Handlungen wird an die Autoritätsperson delegiert. Autoritätszuschreibungen erhöhen sich mit räumlicher Nähe und bestimmtem Aussehen (weißer Kittel war in besagtem Experiment von Vorteil). Blinder Gehorsam bietet offenbar evolutionäre Vorteile. Die menschliche Neigung, Autoritäten ­anzuerkennen, macht das Arbeiten in Gruppen effizienter. Gerade in guruistischen Gruppierungen kommt dieser Effekt besonders zum Tragen. Eine Gefolgschaft, die blinden Gehorsam leistet, lässt sich optimal ausnutzen und für eigene Zwecke instrumentalisieren. Dieser blinde Gehorsam kann bis in den Tod führen, neureligiöse Gruppierungen wie Heaven’s Gate oder Peoples Temple machten es vor (wobei auch hier die komplexe Gemengelage zu berücksichtigen ist). 1997 töteten sich 39 Anhänger und Anhängerinnen von Heaven’s Gate in der Hoffnung, ihre Seelen auf eine Reise in ein Raumschiff zu schicken. Bei der Gruppe Peoples Temple um Jim Jones kam es 1978 zu einem Massen(selbst)mord, bei dem mehr als 900 Menschen ums Leben kamen. Was jedoch auch zu bedenken ist: Der selbstbestimmte Umgang mit Freiheit setzt auch voraus zu akzeptieren, dass manche Menschen keinen Gebrauch von ihrer Freiheit machen wollen. Die Crew

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Fragetechniken zur Abwehr von Schuldgefühlen

In manchen Fällen wird gezielt mit Schuldgefühlen gearbeitet, damit Anbieter an das gewünschte Ziel kommen. Doch auch in persönlichen Beziehungen findet sich dieses Muster immer wieder. Wie kann damit umgegangen werden, wenn ein Anbieter dazu neigt, Kleinigkeiten zu dramatisieren, und beim Gegenüber ein ungerechtfertigtes schlechtes Gewissen erzeugt? Folgende Fragen können eine Umkehr in dem dadurch erzeugten Machtgefälle bewirken. Diese Fragen können Personen, welche gezielt an Schuldgefühle appellieren, direkt gestellt werden: • Findest du es okay, mich in diesem Licht darzustellen? • Ist es fair, wenn du dich als Opfer darstellst? Was möchtest du damit erreichen? • Stellst du dir auch manchmal die Frage, wie ich mich fühle, wenn du so handelst? • Was bezweckst du damit, wenn du versuchst, bei mir Schuldgefühle hervorzurufen? • Weshalb möchtest du in mir einen Täter/eine Täterin sehen? Solche Fragen tragen dazu bei, das Rollenverhältnis zu verändern, und ermöglichen dem Gegenüber im Idealfall eine Form der Selbstreflexion. Solch ein offensives Vorgehen ist meist eine gute Strategie, um sich von Menschen, die bewusst oder unbewusst manipulieren, abzugrenzen.

DIE MACHT DER SOZIALEN BEEINFLUSSUNG

Wir leben im Informationszeitalter. Jeder ist rasch in der Lage, auch an kritische Fakten zu einer gefährlichen religiösen Gruppierung heranzukommen. »Warum hast du nicht vorher mal gegoogelt? Das hätte dir viel Ärger erspart«, ist ein häufiger Satz. Sobald wir aber Berichte von anderen Menschen hören, diese »Zeugnis geben« und beispielsweise erzählen, welch heilende Wirkung Uriellas Badewasser auf sie hatte, gibt unser Gehirn solchen Informationen automatisch einen anderen Stellenwert. »Informationelle soziale Beein70

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flussung« meint, dass Menschen andere Menschen als zuverlässige Informationsquelle anerkennen (Burnett, 2016, S. 308). Berichten andere Menschen über negative Erfahrungen, dann kann es manchmal vorkommen, dass solche Berichte mehr überzeugen als Zahlen, Daten und Fakten, die man sich jederzeit aus dem Internet beschaffen könnte. Gerade in chaotischen, krisenhaften und undurchschaubaren Momenten greift dieser Effekt besonders – dann zieht unser Gehirn es offenbar vor, sich an anderen Menschen als verlässlicher Infoquelle zu orientieren. Oft emotionalisieren die Lebensberichte von Menschen, die auf alternativen Wegen Heilung erfahren haben, und lassen Zahlen, Daten und kritische Fakten in den Hintergrund rücken. Geschichten von anderen Menschen können Hoffnung machen, ein positives Gefühl vermitteln und werden deswegen höher bewertet als Fakten. Gefühle und Gemütszustände von anderen Menschen beeinflussen auch unseren eigenen Gemütszustand. Wenn religiöse Gruppierungen sich in einem Erregungszustand befinden, wie dies etwa in manchen pfingstlerischen Gemeinden manchmal der Fall ist, kann sich dieser Zustand auf die Individuen der Gruppe übertragen. Der berühmte Herdentrieb, in der Fachsprache auch »Deindividuation« genannt, sorgt dafür, dass sich Menschen von Erregungs- und anderen Gemütszuständen der Herde anstecken lassen. Allerdings sind solche Gruppenphänomene sehr komplex. Wenn wir über soziale Beeinflussung sprechen, ist es sinnvoll, auch einen Blick auf sogenannte Extremgruppierungen zu werfen. Beim Wort Extremgruppierungen kommen vielen vielleicht erst mal die Extremisten im linken oder rechten politischen Spektrum in den Sinn. Doch auch religiöse Gruppierungen können extrem sein, man denke etwa an fundamentalistische Strömungen. Sehr spannend ist der Effekt der »Gruppenpolarisierung«: Diverse Experimente zeigen, dass Gruppen in ihrer Meinung die Tendenz zu haben scheinen, ins Extreme bzw. Polarisierende abzurutschen. Dies wirkt zunächst kontraintuitiv, da man annehmen würde, in einer Gruppe bestehe ein reger Austausch unterschiedlicher Standpunkte und Meinungen, und die Gruppenmeinung stelle sozusagen einen Mittelwert dieser verschiedenen individuellen Haltungen dar. »Mitglieder von Gruppen äußern Meinungen, die extremer sind als die, Die Crew

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die sie als Einzelpersonen vertreten würden« (Burnett, 2016, S. 312). Woran liegt das? Zunächst kommt hier der Wunsch nach Gruppenharmonie zum Tragen. Wie schon im Beispiel zum Gruppendruck beschrieben, kann das dazu führen, dass Mitglieder von Gruppen eigene Wahrnehmungen oder Meinungen zugunsten der Harmonie in der Gruppe hintanstellen. Dieser Effekt kommt vor allem in Gruppen zum Tragen, welche die Tendenz haben, sich nach außen stark abzuschotten und sich gegen Kritik zu immunisieren. Dies ist bei religiösen Extremgruppierungen häufig der Fall. Vor allem bei Entscheidungsprozessen kann sich dieser Effekt ungünstig auswirken und zu einer zunehmenden Radikalisierung führen. Aber Gruppenpolarisierung ist ein Effekt, der nicht nur bei religiösen Gruppierungen auftritt, sondern eine ganz allgemeine Eigenschaft von Gruppen zu sein scheint. Wir erinnern uns an den oben beschriebenen Konformitätsdruck. »Wir glauben an etwas, weil viele daran glauben« (Herrmann, 2019, S. 221). Daher spielt es heutzutage eine wichtige Rolle, wie viele Likes Beiträge bekommen oder wie oft Posts geteilt werden. Solche Prozesse können eine Eigendynamik gewinnen. Die Filterblasen der Gruppe wirken sich hier als Verstärker aus. Wenn Menschen sich in Gruppierungen aufhalten, die sich stark nach außen abschotten und kaum mehr andere Meinungen und Überzeugungen an sich heranlassen, der gesamte Freundesund Bekanntenkreis sich aus Gruppenmitgliedern zusammensetzt, die gesamte Freizeit mit Gruppenmitgliedern verbracht wird, dann finden wir solche analogen Filterblasen, die eine ähnlich radikalisierende Wirkung auf die Meinungsbildung und Glaubenshaltungen entwickeln können wie die Echokammern und Filterblasen in der virtuellen Welt. Deswegen ist die völlige Abschottung von Gruppierungen als Alarmzeichen zu werten. Mit der folgenden Liste können Sie einen Selbstcheck machen und herausfinden, wie kritisch bestimmte Gruppierungen einzustufen sind.

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Kleine Checkliste Risikofaktor Sozialkontrolle: • Übt die Gruppe eine starke soziale Kontrolle aus? • Ist die Einzelperson übermäßig stark zeitlich eingebunden? • Werden bisher wichtige Beziehungen grundlos fallen gelassen? • Wird die Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen abgelehnt? • Werden familiäre Bindungen gelöst/zerstört? • Dürfen Kinder auch mit Kindern befreundet sein, die nicht zur Gruppierung gehören? • Werden Kinder zu Außenseitern? Risikofaktor Demokratiefeindlichkeit: • Wird die Teilnahme an Wahlen für unwichtig erklärt? • Wird ein hierarchisches Familien- und Gemeinschaftsmodell vorgelebt? • Lehnt die Gruppierung die Gesellschaft ab? • Lehnt die Gruppierung Vernetzung mit anderen Gruppen und Institutionen ab? • Stehen Gruppenregeln über allgemeinen Gesellschafts­ regeln? • Werden Feindbilder gepflegt und aufgebaut? • Erfolgt eine Distanzierung von gesellschaftlich anerkannten und grundrechtlich geschützten Werten? Risikofaktor Gesundheit: • Wird Suchtverhalten gefördert? • Bestehen Abhängigkeitsbeziehungen? • Greift die Gruppierung so in Ernährungsgewohnheiten ein, dass eine gesundheitsschädigende Wirkung entsteht? • Lehnt die Gruppierung Impfungen ab? • Äußert sich die Gruppierung kritisch gegenüber der Schulmedizin? »

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Risikofaktor Kindeswohl: • Wird die seelische, geistige und soziale Entwicklung des Kindes behindert? • Werden körperliche oder andere, sehr restriktive Sanktionierungsmaßnahmen vorgeschlagen? • Hat die Schriftauslegung eine höhere Bedeutung als gesetzlich verankerte Kindesrechte? Risikofaktor Schwarz-Weiß-Denken: • Wird das eigene Weltbild als das einzig richtige dargestellt? • Werden andere Ansichten lächerlich gemacht, als teuflisch dargestellt oder abgelehnt? • Werden kritische Diskussionen und Meinungen unterbunden? • Hält sich die Gruppe für elitär? • Werden Zweifel als Charakterschwäche abgetan? • Werden andere Meinungen als Fake News oder Lügen klassifiziert? • Wird wissenschaftliches Denken abgelehnt oder geringgeschätzt? Risikofaktor Abhängigkeit: • Steht ein »Meister« im Mittelpunkt, der auf einer höheren Stufe ist als die anderen Mitglieder? • Wird absoluter Gehorsam gefordert? • Werden sämtliche sozialen Kontakte nach außen untersagt? • Fühlt sich eine Ablösung von der Gruppierung bedrohlich an?

MEUTEREI? VON AUSSTEIGERN UND SÜNDENBÖCKEN

Hirnforscher haben herausgefunden, dass Menschen bei einer Bedrohung der Gruppe eine Bedrohung der eigenen Identität empfinden; es gibt also Überschneidungen des Gruppenempfindens und der Selbstwahrnehmung (Northoff u. Bermpohl, 2004). Ist die Gruppe bedroht, fühlt sich auch das Individuum bedroht. Dies erklärt manch eine Reaktion, die Aussteigerinnen und Aussteiger aus religiösen Gruppierungen erleben. Oft wird berichtet, dass sich die gesamte Gruppe nach dem Ausstieg feindlich verhalten habe, 74

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den Betreffenden entweder gemieden oder sogar geschmäht habe. Doch nicht nur von einzelnen Personen, die sich gegen eine religiöse Gruppe stellen, fühlt sich die Gruppe bedroht. Das Gefühl der Bedrohung von außen wächst selbstverständlich, wenn eine Gruppierung sich von einer anderen Gruppe bedroht fühlt. Manchmal kann bereits ein Durchbrechen der Uniformität zur Irritation in der Gruppe führen, daher ist es gerade in jugendlichen Peergruppen so wichtig, dass keiner aus der Reihe schert und alle einigermaßen ähnlich gekleidet sind. Ein gemeinsamer Feind begünstigt die Entwicklung eines besonders starken Wir-Gefühls. »Massenbewegungen können ohne den Glauben an einen Gott entstehen und wachsen – aber niemals ohne den Glauben an einen Teufel« (Hoffer, 1951). Gerade in Zeiten politischer Instabilität werden gern Feindbilder heraufbeschworen, um einen innerstaatlichen Zusammenhalt zu begünstigen. Gemeinsam gegen etwas oder jemanden zu sein, stiftet ein starkes Gefühl von Einheit. Einen Feind heraufzubeschwören, der im Äußeren lauert, stärkt den inneren Zusammenhalt und das Kohärenzgefühl. Feinbilder können rasch entstehen. Sich vom Gegenüber nicht verstanden zu fühlen, lässt diesen rasch zum Feind werden. »Der Glaube an den eigenen Gott, selbst im übertragenen Sinne, lässt den Glauben einer anderen Religionsgemeinschaft als nicht ansatzweise nachvollziehbar erscheinen« (Herrmann, 2019, S. 180). Dieses Misstrauen nach außen ist übrigens ein Effekt, der auch bei zufällig zusammengewürfelten Gruppen rasch entsteht. Je glühender man einer Weltanschauung anhängt, desto empfindlicher ist die Reaktion auf Kritik von außen. Genauso wie Gruppierungen Andersdenkende und Nichtmitglieder der eigenen Meinungs- und Überzeugungsgruppe ablehnen, werden die Mitglieder der eigenen weltanschaulichen Gruppierung glorifiziert. Diejenigen, die in persönlich bedeutsamen Punkten der gleichen Meinung sind, deren Meinung akzeptieren wir auch in anderen Aspekten. Wir differenzieren also nicht, sondern generalisieren. Die Expertise von Gleichgesinnten wird rasch überschätzt. Man lässt sich gegenseitig so einiges durchgehen, deckt den anderen aus der Gruppe und schaut großzügig über Fehler hinweg, solange in wichtigen Überzeugungen Einheit besteht. Die Crew

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Gegen den Strom • Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht, Meinungen zu vertreten, die gegen Gruppennormen verstoßen? • Haben Sie schon mal Ideen gehabt, die von einer Gruppe abgelehnt wurden? • Wagen Sie es, in der Gruppe, der Sie angehören, Ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen?

ENTWICKLUNGSPHASEN VON GRUPPEN

Um zu verstehen, wie Menschen in religiöse Gruppierungen hineingeraten und welche Prozesse dabei durchlaufen werden, sollen hier zunächst die typischen Phasen der Beziehung zwischen Individuum und Gruppe beschrieben werden. Vielleicht kennen Sie diesen Prozess ja selbst, weil Sie ihn durchlaufen haben. KENNENLERNPHASE

Wenn Menschen eine neue religiöse Gruppierung für sich entdecken und sich dieser Gruppe anschließen, hat dies sehr unterschiedliche Gründe. Oft jedoch finden sie in der Gruppe Gleichgesinnte mit ähnlichen Ansichten, fühlen sich verstanden und erleben Anerkennung. Endlich sind da Menschen, die genau die gleichen Vorstellungen haben, die sich für eine Sache einsetzen und die ihren Glauben aktiv leben. Dies beflügelt, gibt dem Leben einen neuen Inhalt und Sinn. Oft sprechen Neueinsteiger mit großer Begeisterung von der Gruppe und sind in der ersten Zeit kaum offen für Kritik. Manches, was früher wichtig war, wird unwichtig. BINDUNGSPHASE

Allmählich stellen sich Gewohnheiten um, der Freundeskreis beginnt, sich zu verändern. Bisweilen hat dies auch Auswirkungen auf Ernährungs- oder Kleidungsgewohnheiten. Betreffende verbringen immer mehr Zeit in der Gruppierung. Das soziale Netzwerk besteht zu einem wachsenden Teil aus Gleichgesinnten oder Gruppenmitgliedern. Der oder die Betreffende identifiziert sich mit 76

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Gruppennormen und es entsteht in dieser Zeit oft ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Gemeinsame Ziele und Werte stärken dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit. Manchmal wird die Gruppenzugehörigkeit auch durch internes Geheimwissen oder bestimmte Rituale gefestigt. Die Gruppe selbst unterscheidet sehr genau, wer dazugehört und wer nicht. Teil der Gruppe zu sein, ist für viele Menschen in dieser Phase ein positives Gefühl. KONFLIKT- ODER DIFFERENZIERUNGSPHASE

In dieser Phase differenziert sich der eigene Standpunkt gegenüber der Gruppe deutlicher aus. Es kann zu einer sehr engen und lang andauernden Anbindung kommen. Manchmal aber treten in dieser Phase erste Konflikte auf, Mitglieder beginnen, Gruppennormen zu hinterfragen, sind mit zugeschriebenen Rollen nicht einverstanden, geraten in zeitliche Überforderung oder persönliche Konflikte. Es kann zu einer Distanzierung von der Gruppe kommen. In dieser Phase sind Gespräche und Freunde außerhalb der Gruppierung besonders wichtig. AUSSTIEGSPHASE

Nicht immer entscheidet sich der Betreffende selbst, die Gruppe zu verlassen. Manchmal erfolgt auch ein Ausstoß aus der Gruppierung. In jedem Fall befinden sich Betreffende nach dem Ausstieg in einer sensiblen Phase der Neuorientierung. Ein unterstützendes und nicht verurteilendes Umfeld ist dann eine große Ressource. ÜBER BORD? DIE TRENNUNG VON EINER GRUPPE Johannes (57 Jahre): »Ich bin in diese Gruppierung hineingeboren, all meine Freunde, meine Eltern und Großeltern sind in der Glaubensgruppe. Auch meine erste Frau, meine Kinder. Ich hatte die Position eines Ältesten. Irgendwann jedoch merkte ich, dass es nicht mehr ging. Ich begann zunehmend unter Depressionen zu leiden, mir wurde ein Burnout diagnostiziert. Ich konnte mir über viele Jahre nicht eingestehen, dass sich der Glaube, den ich da hatte, falsch anfühlte, dass ich nur geblieben war, weil alle, die ich kannte, in der Gruppe waren. Es fühlte sich falsch an, an Türen zu klingeln, es fühlte sich falsch an, was wir da Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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predigten, ich entwickelte einen regelrechten Hass auf die Glaubensgruppe und konnte doch nicht gehen, weil ja alle, die ich kannte, dort waren. Erst als ich einen totalen Zusammenbruch hatte und in die Kur kam, gelang es mir, aus etwas Abstand eine Entscheidung zu treffen. Ich musste austreten. Die Kinder waren zwischenzeitlich erwachsen. Ich hatte kaum Freunde außerhalb. Ich trennte mich von meiner Frau, mit der es ohnehin seit vielen Jahren schwierig war. Ich verließ die Gemeinde. Endgültig. Ich traf zum Glück in der Kur eine Frau, in die ich mich verliebte und die mir seither eine große Stütze ist. Sonst hätte ich wohl den Absprung nicht geschafft. Ich gehe ins Theater, ins Kino, ich reise und genieße mein Leben. Ich werde langsam frei von den Schuldgefühlen, gegen Gott und meine Familie gesündigt zu haben. Ich werde frei von der Vorstellung, nicht ins Paradies zu kommen. Das Paradies hat hier begonnen. Hier und jetzt.«

Trennungen schmerzen. Studien haben nachgewiesen, dass bei einer Trennung im Gehirn genau die Areale aktiviert werden, die normalerweise auch für das physische Schmerzempfinden zuständig sind (Kross, Berman, Mischel, Smith u. Wager, 2011). Aus einer geschlossenen religiösen Gruppe ausgestoßen zu werden oder diese auf eigenen Wunsch zu verlassen, ist für viele Menschen vergleichbar mit der Trennung von einem Partner. Nur wenige Menschen trennen sich friedlich und ohne Zerwürfnisse, weil man sich ganz einfach auseinandergelebt hat. Sehr viel häufiger kommt es vor, dass Menschen sich aktiv gegen eine Gruppe entscheiden. Sei dies etwa, weil man mit diversen Aspekten nicht mehr einverstanden ist, oder aber, weil die Gruppe selbst mit dem Mitglied nicht mehr einverstanden ist – was häufig noch viel schmerzhafter ist, gemäß dem Sprichwort »Verlassen zu werden ist schlimmer als zu verlassen«. Ähnlich wie bei der Trennung von einem Partner durchlaufen Menschen auch nach der Trennung von einer geschlossenen religiösen Gruppe unterschiedliche emotionale Phasen. Es kann vielfältige Gründe für eine solche Entscheidung geben, angefangen bei persönlichen Konflikten mit anderen Gruppenmitgliedern bis hin zu ideologischen Gründen oder einschneidenden Einzelerlebnissen, welche ein Fortbleiben in der Gruppierung unmöglich machen. Manche Menschen waren jahrelang Mitglied in einer Gruppierung, andere 78

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verbrachten nur einige Monate dort. Manche haben noch persönliche Kontakte nach draußen, andere kennen außerhalb der Gruppierung niemanden und wurden ausschließlich in der Gruppe sozialisiert. Es ist, wie gesagt, auch zu unterscheiden, ob jemand freiwillig geht oder ob er ausgeschlossen wird. Eine freiwillige Trennung ruft meist andere Gefühle hervor als ein Ausschluss. (Das Thema »Ausschluss« wird im Kapitel »Rangdynamiken« vertiefend behandelt.) Ausstieg ist also nicht gleich Ausstieg. Übrigens: Es spielt auch eine wichtige Rolle, wie stark die Gruppierung geschlossen bzw. auf sich selbst bezogen ist. Wenn kaum Außenbeziehungen gepflegt werden, ist ein Ausstieg verständlicherweise schwerer, weil man sich ja erst wieder alles neu aufbauen muss. Ein typisches Anliegen von Menschen, die aus einer Gruppierung ausgestiegen sind, ist der Wunsch, die eigene Erkenntnis über die Gruppenstrukturen mit anderen zu teilen, andere vor ähnlichen Fehlern zu bewahren und zu schützen. Manchmal schwingt auch das Bedürfnis mit, sich zu rächen für Kränkungen, finanziellen Ruin oder anderweitigen Schaden. Oft besteht eine große Verunsicherung, wie man sich gegenüber der Gruppe verhalten soll. Manche Aussteiger entscheiden sich dafür, sich in Aussteigergruppen zusammenzutun und ihre Erfahrungen miteinander zu teilen. Dieser Austausch mit Menschen mit ähnlichen Erfahrungen kann gerade in der Anfangszeit stabilisierend wirken, da sich eine neue Bezugsgruppe formiert. Allerdings birgt das auch Risiken – beispielsweise fokussieren sich manche Aussteigergruppen stark auf negative Aspekte und radikalisieren sich gewissermaßen, indem sie radikale Gegner der Ursprungsgruppe werden. Ressourcenorientierung und Neutralität zu wahren ist in Aussteigergruppierungen oft eine besondere Herausforderung. Dennoch kann eine solche Gruppe in vielerlei Hinsicht auch Chancen bieten. Gruppenerfahrungen in einer geleiteten Gruppe zu reflektieren, kann helfen, ehemals schwierige Erfahrungsmuster zu durchbrechen und neue positive Erfahrungen mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu sammeln. Die Vergangenheit und die Zeit in der Gruppe in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und die Gruppierung nicht nur zu verteufeln, könnte ein wichtiges Ziel werden, wenn Sie aus einer Gruppe ausgestiegen sind. So kann Johannes beispielsweise heute Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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der Zeit in der Gruppe auch positive Aspekte abgewinnen; er hat einen differenzierten Blick auf seine Lebensgeschichte und gelernt, die anfänglichen Gefühle von Wut, Verachtung und Hass abzulegen. Bleiben Aussteiger und Aussteigerinnen in solchen Gefühlen der Ablehnung verhaftet, lässt dies immer wieder gedanklich um die Gruppierung kreisen. Wirklich frei zu werden von der Gruppierung bedeutet auch, von den negativen Gefühlen frei zu werden, welche sich in der Zeit nach dem Austritt meist einstellen. Doch obwohl Johannes heute viele wichtige Schritte in Richtung eines selbstbestimmten Lebens gemacht hat, heilt die Zeit dennoch nicht alle Wunden. Johannes würde gern seinen Kindern einen Weg aus der Gruppe aufzeigen. Er leidet bis heute darunter, dass seine Kinder keinen Kontakt mehr zu ihm pflegen. O U RS E L DO IT Y

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Was tun nach einer Trennung? Zeitliche Begrenzung Es ist für viele Menschen nützlich, sich bewusst Auszeiten zu gönnen, in denen versucht wird, sich gedanklich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Diese Auszeiten können durch einen Urlaub, ein gutes Buch oder Ähnliches erfolgen. Etwas Neues beginnen Nach Kontaktabbruch bleibt oft ein Gefühl der Leere. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist es möglich, diesen freien inneren Raum mit neuen Ideen und Projekten oder Beziehungen anzureichern. Es kann eine Anregung sein, ein neues Hobby oder Projekt zu starten, etwas Neues für sich zu entdecken oder die Wohnung umzugestalten. Äußere Veränderungen können dazu beitragen, innere Veränderungen anzuregen. Aktiv sein Für manche Menschen ist Aktivität und Ablenkung eine wichtige Strategie, um besser mit Trennungsschmerz zurechtzukommen. Einen neuen Sport zu beginnen, regelmäßige körperliche  »

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Betätigungen und eine aktive Lebensgestaltung sind wichtige Faktoren, die zu einer Stabilisierung beitragen können. Lass es raus! Gehen Sie in den Wald, schreien Sie laut, heulen Sie, toben Sie sich aus. Dies sollte allerdings in einem geschützten Rahmen passieren. Für manche ist es hilfreich, dabei eine Begleitung zu haben, andere wollen lieber allein und unbeobachtet sein. Viele schildern, dass es etwas Befreiendes hat, seinen Gefühlen auf diese Art freien Lauf zu lassen. Grübelstopp trainieren Menschen, die einen Kontaktabbruch erlebten, verfallen oft in Grübelphasen. Immer wieder geht der Blick zurück, und es wird exploriert, was man falsch gemacht haben könnte, was man besser hätte machen können, welches die eigenen Fehler waren. Situationen werden von allen Seiten betrachtet und analysiert, und Grübelschleifen können endlos werden. Es ist wichtig, diese Grübelschleifen zu unterbrechen. Eine Möglichkeit ist es beispielsweise, zum Grübeln immer an einen bestimmten Ort zu gehen (den Grübelsessel) und diesen zu verlassen, wenn man aufhören möchte zu grübeln. Fokus auf den Körper Wenn Menschen akuten Trennungsschmerz durchlaufen, vernachlässigen sie oft ihre Grundbedürfnisse. Das macht die Sache nicht besser. Deswegen ist es notwendig, gut und regelmäßig zu essen, feste Schlafenszeiten einzuhalten, sich Zeit für Körperpflege zu nehmen und eine gute körperliche Selbstfürsorge zu betreiben. Auch die Pflege der sozialen Kontakte spielt eine wichtige Rolle. Ziehen Sie sich nicht zurück.

Sich von einer Gruppe zu trennen, bedeutet, dass Trauer und Abschiedsprozesse, die denen der Trennung von einem Partner ähneln, durchlaufen werden. In diesen Trennungsphasen können unterschiedlichste Gefühlszustände durchlebt werden. Ziel ist es, Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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der Zeit in der Gruppierung einen wertschätzenden Platz in der eigenen Biografie einzuräumen und zu einer differenzierten Sicht auf diese Zeit zu gelangen. Sich selbst besser zu verstehen und zu begreifen, welche Bedürfnisse beispielsweise durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe erfüllt wurden bzw. nicht erfüllt wurden oder welche Gründe man hatte, sich der Gruppe anzuschließen, kann helfen, nicht vom Regen in die Traufe zu gelangen. Denn manche Menschen landen rasch in der nächsten Gruppierung, die ähnliche halt- und sicherheitsstiftenden Strukturen anbietet zum Preis der inneren Freiheit. Deshalb hilft es, mit Aussteigern diese Trennungsphasen und die typischen Gefühle, die da durchlaufen werden, zu normalisieren und zu begleiten. Je nach Phase ist gerade etwas anderes notwendig und wichtig. Solche Phasen laufen keineswegs immer in der gleichen Reihenfolge ab, sondern können variieren. Manchmal kann eine Phase auch mehrfach und immer wieder durchlebt werden. Die zeitliche Dauer der Verarbeitung hängt auch von der Zeit ab, welche in der Gruppierung verbracht wurde. DIE AKUTE TRENNUNGSPHASE

Es hängt stark von den Umständen des Austritts oder Ausschlusses ab, wie die erste Phase verläuft. Hat sich jemand aus eigenen Stücken gegen die Gemeinschaft entschieden, gestaltet sich diese Phase anders als nach einem Rausschmiss oder Ausschluss. Geht dem Austritt ein langer innerer Prozess voraus, kann es sich erst mal wie eine Befreiung anfühlen, nicht mehr Teil der Gruppe zu sein. Gerade auch, wenn viele einengende und negative Erfahrungen mit der Gruppe gesammelt wurden, erleben Menschen, die sich aus freien Stücken gegen die Gruppe entschieden haben, zunächst ein Gefühl der Freiheit und Erleichterung. Es ist auch von Bedeutung, ob ein bewusster Cut erfolgte oder ein schleichender Rückzug. Die Praxis zeigt: Ein klarer Cut ist zwar oft mit größeren Ängsten und Emotionen verbunden, hilft jedoch längerfristig, besser mit der Gruppierung abschließen zu können, da eine selbstbestimmte Entscheidung getroffen wurde. Ein bewusster Cut muss nicht unbedingt der Gruppe mitgeteilt werden. Manche Betreffende berichten beispielsweise, dass sie ein letztes Treffen eingeplant haben und danach nicht wieder zur Gruppe kamen. 82

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In dieser ersten Phase kommt dem Umfeld eine wichtige Bedeutung zu. Soziale Kontakte bestanden bisher größtenteils aus Gruppenmitgliedern. Manchmal wurde der Kontakt zu Freunden und zur Familie abgebrochen. Wenn »verlorene Söhne und Töchter« heimkehren, dann sind Vorwürfe und Vorhaltungen wie »Ich hab dir gleich gesagt, dass das nichts ist« oder »Wie konntest du nur so dumm sein?« völlig fehl am Platz. Was es in dieser ersten Phase braucht, ist ein stabilisierendes, wertschätzendes und offenes Umfeld. Aussteigende empfinden oft eine große Scham; nicht umsonst haben sie sich gegen die Gruppe entschieden. Positiv ist es, wenn das soziale Umfeld Freude über die Rückkehr und die Kontaktaufnahme ausdrückt. Gerade wenn Menschen sehr vereinnahmt waren von der Gruppierung, erweist sich auch eine alltagspraktische Unterstützung als hilfreich. Ich erinnere mich an einen Fall, in welchem der Betreffende (Karl) seinen Job aufgegeben hat, über Jahre nicht versichert war, keine Rentenbeiträge zahlte und als »Aussteiger« auf einem Hof lebte. Als sich Karl entschied, nach vielen Jahren wieder Kontakt nach draußen aufzunehmen, halfen ihm die Geschwister nach Kräften, obwohl er allen den Rücken gekehrt hatte. Sie unterstützten ihn bei diversen Behördengängen, gingen mit ihm zu einer Schuldnerberatung, halfen bei der Wohnungssuche und -einrichtung.

Notwendig ist es in dieser Phase, zunächst eine sichere und stabile Umgebung zu schaffen. Es gibt auch Menschen, die Angst haben, von der Gruppe gestalkt oder verfolgt zu werden. Je nach Gruppierung kann es durchaus sein, dass Abtrünnige besucht werden und der Versuch unternommen wird, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Zumeist kennt der Aussteiger die Strukturen im Umgang mit Abtrünnigen aus seiner Zeit in der Gruppe. Befürchtungen sind daher ernst zu nehmen. Einen sicheren Ort zu finden und eine gute Erreichbarkeit anzubieten, ist in dieser ersten Zeit eine wichtige Unterstützung, die das nähere Umfeld leisten kann. Wenn sich Menschen von Gruppen trennen, ist es in der ersten Phase manchmal schwer, der Leitung gegenüber klar zu kommunizieren, weshalb man sich trennt. Oft geschieht dies aus einem GeÜber Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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fühl heraus; nicht immer besteht genügend Abstand, um Gründe benennen zu können, die zu einer Trennung führten. Häufig befanden sich Menschen in einem jahrelangen Abhängigkeitsverhältnis, haben Angst und fühlen sich einer solchen Auseinandersetzung nicht gewachsen. Auch können Gefühle sehr ambivalent sein, denn nicht alles war schlimm in der Gruppe, manches war ja auch schön und hilfreich. Manchmal ergibt sich unmittelbar nach dem Ausstieg eine euphorische Stimmungslage, die jedoch rasch umschwenken kann. Wenn Sie selbst aussteigen oder dies in Erwägung ziehen, dann seien Sie nachsichtig mit sich selbst. Erwarten Sie nicht zu viel von sich, suchen Sie nach guten Strukturen zur Unterstützung. Erlauben Sie sich Ihre Gefühle, lassen Sie auch Gefühlschaos zu. DIE GEFÜHLSCHAOS-PHASE

In der zweiten Phase wird den Aussteigenden bewusst, wie sich ein Leben ohne die Gruppierung anfühlt. War man anfangs noch glücklich und stolz, den Absprung geschafft zu haben, folgt nun eine Phase, in welcher den Betreffenden schmerzlich bewusst wird, was fehlt. Ein Vakuum ist entstanden. Es wird deutlich, wie viel Zeit durch die Gruppe belegt wurde bzw. wie viele anderweitigen Ressourcen die Gruppe bündelte. Einen neuen Umgang mit der vielen freien Zeit zu finden ist oft eine Herausforderung. Dazu kommen Fragen nach dem Sinn und nach Werten. Es wird vielen in dieser Phase bewusst: Die Gruppe fehlt. Wichtige Funktionen, welche von der Gruppierung erfüllt wurden, wie Stabilisierung, Orientierung, Sicherheit oder Komplexitätsreduktion, sind weggebrochen. Betreffende schildern manchmal, dass sie sich orientierungslos, überfordert, unsicher und instabil fühlen. Besonders jetzt entsteht eine Anfälligkeit, Halt in einer neuen Gruppierung oder Gesinnung zu finden. Eine Aussteigerin berichtet: »Ich war so verzweifelt. Da bin ich zu unterschiedlichen Treffen und Gemeinden gegangen. Nur wenige Wochen nach dem Ausstieg aus der Gruppe landete ich in einer fundamentalistischen Gruppierung. Ich war überfordert mit der Freiheit. Ich wusste nicht, wie Freiheit funktioniert. Ich suchte nach vertrauten Strukturen, 84

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in denen ich nicht denken musste, sondern nach jemandem, der mir sagte, wo es langging.«

Manche neigen in dieser Phase dazu, die Gruppe zu glorifizieren. Das Leben ohne die Gruppierung fühlt sich anstrengend und herausfordernd an, man erinnert sich an die Zeiten in der Gruppe, als man sich wohlfühlte, alles einfach und schön war. Die schwierigen und kritischen Aspekte werden in dieser Phase oft verdrängt und vergessen. Begleitung ist in dieser Phase wichtig. Dies kann eine professionelle Begleitung (Therapeutinnen oder Berater) sein oder auch eine familiäre/freundschaftliche Begleitung. Hier hilft es, Zukunftspläne zu schmieden, einen Blick nach vorn zu werfen und sich auf die Suche nach eigenen Wünschen und Zielen zu machen. Auch Werte- und Sinnfragen tauchen in dieser Phase verstärkt auf. Für viele kann es eine Entlastung sein, den Alltag zu strukturieren und sehr konkrete Schritte für die kommenden Tage und Wochen zu planen. Auch regelmäßige Gruppentreffen, beispielsweise mit einer Sportgruppe oder einer VHS-Gruppe, sind hilfreich. Dadurch lernen die Betreffenden, dass positive Gruppenerfahrungen auch ohne eine ideologische Vereinnahmung möglich sind. Ungünstig ist es, wenn Menschen sich in dieser Zeit intensiv per Internet mit der Ex-Gruppierung beschäftigen. Ein kompletter Kontaktabbruch ist in dieser Phase meist hilfreich, um die innere Stabilität und Klarheit zu entwickeln, die es braucht für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Gruppe. Auch Kontakte zu Mitgliedern der Gruppe sind in dieser relativ instabilen Phase eher ungünstig. Manchmal wechseln Gefühlszustände in dieser zweiten Phase rasch. Herrscht morgens noch eine euphorische Aufbruchsstimmung vor, kann sich gegen Abend eine gedrückte Stimmung einstellen, und der oder die Aussteigende wird von Gefühlen des Verlustes und Schmerzes überrollt. Oft fällt eine emotionale Regulation in dieser zweiten Phase schwer, Gefühle können wie das Wetter wechseln. Je nach Erfahrungen, die gemacht wurden, ist das Gefühlsspektrum hier sehr weit und reicht von Wut, Schmerz, Scham, Verurteilung, Hoffnungslosigkeit hin zu Trauer, Angst, Verzweiflung oder Glück Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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und Euphorie. Für viele Menschen fühlt sich diese Phase so an, als hätten sie den Boden unter den Füßen verloren. Aber auch diese anstrengende Phase wird enden. Zur emotionalen Regulation entwickeln manche Betroffene in dieser Phase ungünstige Strategien und neigen dazu, sich in die nächste Abhängigkeit zu begeben. Entsteht keine Abhängigkeit von einer neuen Gruppierung, besteht dennoch das Risiko, dass eine Abhängigkeit von Substanzen oder anderen Bezugspersonen entsteht. Manchen Menschen hilft es, in dieser Zeit ihren Gefühlen beispielsweise durch Tagebuchschreiben oder Malen Ausdruck zu verleihen. O U RS E L DO IT Y

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Ziele vereinbaren Menschen, die Ziele haben, erleben meist (manchmal nur temporär) ein Gefühl der Sinnhaftigkeit, es wird auf etwas hingearbeitet, das Leben bekommt eine Richtung. Deswegen kann es eine Intervention sein, mit Menschen in akuten Sinnkrisen kleine Ziele zu vereinbaren. • Was möchten Sie heute tun/erreichen? • Was nehmen Sie sich für die kommende Woche vor? (Dies kann auch sein, ein gutes Buch zu lesen oder eine Tasse Kaffee zu genießen.) • Welche Ziele haben Sie für den kommenden Monat? • Welche Menschen würden Sie gern treffen?

WELCHE ERFAHRUNGEN MÖCHTEN SIE GERN MACHEN? DIE NEUORIENTIERUNGSPHASE

Während Aussteigende sich in den vorangegangenen Phasen gedanklich intensiv mit der Gruppierung auseinandersetzten, kehren nun die Gedanken immer mehr zurück zum eigenen Leben und den eigenen Plänen. Die Abstände, in denen man sich gedanklich mit der Gruppierung beschäftigt, werden größer. Menschen beginnen, ihr Leben wieder aktiver in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Manche berichten von Freude an neuen Erfahrungen, sie unternehmen Dinge, welche sie vorher nicht ausprobiert haben, weil sie 86

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zum Beispiel in der Gruppe verpönt waren. Neue Kontakte beginnen sich zu festigen. Eine Art Aufbruchsstimmung entsteht. Zwar kann es auch in dieser Phase vorkommen, dass man immer mal wieder in die vorherigen Phasen zurückfällt, sich unvermittelt wieder in einem Gefühlschaos findet, allerdings fällt es leichter, damit umzugehen. Ein Treffen mit einem ehemaligen Mitglied beispielsweise kann in dieser Phase noch mal alte Gefühle aufwühlen und ein inneres Chaos produzieren. Allerdings gelingt es Menschen immer rascher, aus diesen chaotischen Zuständen aufzutauchen und Abstand zu gewinnen. Die Intensität der durchlebten Gefühle nimmt ab, und die Selbstregulation nimmt zu. Der Abstand zur Gruppierung festigt sich und die Überzeugung, dass die Entscheidung richtig war, ebenso. In dieser Phase benötigen die Betroffenen weniger alltagspraktische Begleitung und Unterstützung. Oft entsteht jetzt der Wunsch, sich intensiver mit der Zeit in der Gruppe auseinanderzusetzen. Die Zeit in der Gruppierung wird differenzierter wahrgenommen. Kritik an der Gruppierung und an den Praktiken wird geäußert, gleichzeitig gelingt es zunehmend, auch einen wertschätzenden Zugang zu finden. Oft lernen Menschen in dieser Phase sich selbst besser kennen, können eigene Bedürfnisse und Bedürftigkeit formulieren und sehen klarer, was in der Gruppierung von diesen Bedürfnissen erfüllt wurde. Sie sehen sich nicht mehr ausschließlich als manipuliertes Opfer. Es ist sinnvoll, die Offenheit für Neues möglichst lange zu erhalten und eine ganze Reihe von Dingen auszuprobieren. Einer Frau, mit der ich sprach, half es beispielsweise, eine »Bucket-List« zu erstellen und diese abzuarbeiten. Sie ging zum Goldgraben, machte eine Asienreise, besuchte einen Trommelkurs und lernte Kampfsport. Solche Bucket-Lists sind übrigens nicht nur Aussteigern zu empfehlen. Manchmal entsteht in dieser Phase der Wunsch, Unrecht zu thematisieren und abzurechnen. Da es in dieser Phase gelingt, differenzierter wahrzunehmen, was tatsächlich etwa an Straftatbeständen vorliegt, ist es sinnvoll, dann auch entsprechende Schritte einzuleiten. Allerdings empfehle ich hier eine gute und ausführliche Rechtsberatung. Denn manchmal kann sich der Spieß rasch umdrehen, und der Guru inszeniert sich als Opfer einer Rufmordkampagne, wie das folgende Beispiel von Anne (42 Jahre) zeigt: Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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»Ich war viele Jahre in der Gruppierung. Dort ist viel geschehen, was nicht okay war. Zum einen bin ich stark finanziell geschädigt, ich habe Unsummen verloren. Zum anderen wäre beinahe meine Ehe in die Brüche gegangen. Der Guru berührte mich mehrfach unsittlich, das können eigentlich auch andere aus der Gruppe bestätigen. Außerdem schlug er mich mit einem Kaninchenfell. Um böse Energien aus mir herauszukriegen. Er zwang mich zu sexuellen Handlungen. Ich schäme mich dafür. Nun habe ich ihn angezeigt. Und was tut er? Behauptet, es würde sich um üble Nachrede handeln. Diejenigen, die meine Zeugen sein könnten, hat er hinter sich gebracht. Alle sagen aus, dass dies ein freiwilliger Akt gewesen sei und ich Rache an ihm nehmen wolle. Er hat mich jetzt angezeigt. Ich finde das eine bodenlose Unverschämtheit …«

Leider ist dies kein Einzelfall. Oft ist zu beobachten, dass Anbieter mit einer großen Aggressivität gegen Anzeigen von Aussteigern vorgehen. Für manche Aussteiger und Aussteigerinnen ist es daher sinnvoll, sich bei Anzeigen mit anderen zusammenzutun. Und nicht immer ist der juristische Weg erfolgversprechend. Es bedarf hier einer profunden Beratung durch entsprechend spezialisierte Anwälte. Prozesse können manchmal auch aufwühlend und schmerzhaft sein. In manchen Fällen berichten Aussteiger, dass es jedoch auch heilsam war, vor allem dann, wenn der Prozess gewonnen wurde. O U RS E L DO IT Y

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Meine Ziele Schreiben Sie die Ziele, die Sie erreichen möchten, auf Karteikarten. Nun geht es darum, diese Ziele zu sortieren, je nach Dringlichkeit und Priorität. • Welches Ziel möchten Sie zuerst erreichen? • Welches Thema hat eine besondere Dringlichkeit? • Mit welchem Ziel könnten Sie bei diesem Thema beginnen? • Welches Ziel würde sich mit relativ wenig Aufwand erreichen lassen? • Woran würden Sie merken, dass Sie dieses Ziel erreicht haben? » 88

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• Mit welchen Nebenwirkungen ist zu rechnen, wenn Sie das Ziel erreicht haben? • Welche Form der Unterstützung brauchen Sie? Wo könnten Sie diese bekommen? • Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihr Ziel erreicht. Wer hat Sie auf dem Weg dahin begleitet?

DIE »AUF ZU NEUEN UFERN«-PHASE

Es ist geschafft. Menschen haben die Trennung von der Gruppe erfolgreich überstanden und verarbeitet. Es hat sich ein Gefühl der Konsistenz eingestellt. Die Betreffenden haben ihren Frieden mit der Trennung gemacht; der Blick auf die Zeit in der Gruppe ist realistisch, Nostalgiegefühle oder Wut sind überstanden. Der Aussteigende hat neue Werte und einen Sinn für sich entdeckt. Er hat Orientierung und Halt in sich selbst gefunden. Die durchlebten Krisen können zu einem tieferen Verständnis des eigenen Selbst und der Welt geführt haben. Manche Betreffende nehmen sich als gestärkt und erfahrener wahr. Problematische Kompensationsstrategien gehören der Vergangenheit an. Wenn Aussteigerinnen und Aussteiger von ihrer Zeit in der Gruppierung sprechen, können durchaus noch Gefühle hochkommen. Doch diese Gefühle sind konsistent, überrollen und überfordern nicht mehr, und der Aussteiger kann selbst regulieren, wie tief er einsteigen möchte. Die Phase in der Gruppe wird als Teil der eigenen Biografie akzeptiert und integriert. Manchmal sagen Betroffene über diese Zeit: »Rückblickend möchte ich die Zeit dort nicht missen, denn sie hat mich stärker gemacht.« Eine Betroffene wählte einen besonders ausdrucksstarken Satz, mit dem sie ihre Erfahrungen in der Gruppe charakterisierte: »Auch Scheiße ist ein guter Dünger!«

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Tipps für Trennungen

• Suchen Sie sich Begleitung. Dies kann eine professionelle Unterstützung durch Therapie sein oder aber auch Freunde und Familie. Niemand muss so eine Zeit allein durchstehen. • Was stärkt Ihren Selbstwert? Was tut Ihnen gut? » Über Bord? Die Trennung von einer Gruppe

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• Was können Sie gut? Wo liegen Ihre Stärken? • Knüpfen Sie neue Kontakte oder reaktivieren Sie alte Kontakte. • Lassen Sie Gefühle zu. • Sortieren Sie gut. Vielleicht kann auch eine juristische Beratung angezeigt sein. • Schreiben Sie Ihre Erfahrungen auf. • Suchen Sie den Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. • Stecken Sie sich neue Ziele. Schmieden Sie Pläne. Schauen Sie auch nach vorn. • Was wollen Sie künftig verändern? • Wozu könnte die Trennung von der Gruppe eine Chance sein? • Von welchen Dingen/Menschen mögen Sie sich gern verabschieden? • Packen Sie eine Erinnerungskiste und verstauen Sie diese Kiste an einem passenden Ort.

RANGDYNAMIKEN: VON GURUS, COACHES UND SÜNDENBÖCKEN »Ein Schiff ist nur so gut wie seine Besatzung.«8

Nachdem wir nun viel über den Ein- und Ausstieg in Gruppierungen gesammelt haben, wollen wir einen Blick auf typische Dynamiken in Gruppen werfen. Denn die Position, welche Menschen in Glaubensgruppen innehaben, hat Auswirkungen auf unterschiedlichen Ebenen. Alphamännchen und -weibchen sind die geborenen Rudelführer, Gurus oder Gruppenleiter. Die Gammas sind diejenigen, die sich Alphas angeschlossen haben und in einer meist positiven emotionalen Abhängigkeit zu den Alphas stehen. Und schlussendlich gibt es noch die Omegaposition, den Sündenbock der Gruppe. Erstaunlicherweise konstelliert sich diese Rangdynamik in fast allen Grup8 http://www.yachtcrew.lu/seemannsweisheiten.html (15.07.2021).

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pen. Da ist also meist eine Führungspersönlichkeit, deren Gefolgschaft, und in der Regel gibt es auch ein schwarzes Schaf. Um die Gammas wird es hier nicht gehen. Vielleicht haben Sie sich selbst schon in dieser Position befunden. Gammas stärken den Posten des Alphas. Wir interessieren uns hier für die Position des Alphas und des Omegas. Das heißt, wir nehmen Gurus, Coaches und Sündenböcke ins Visier. ALPHAPOSITION: COACH ODER GURU

In den letzten Monaten kontaktierten mich unzählige Menschen, die Schwierigkeiten mit einem Coach, Lebensberater oder Guru hatten. Ich vermute, äußere Krisen wie die Pandemie verstärken die Sehnsucht nach klaren Führungspersönlichkeiten. Wenn Menschen an einen unseriösen Coach geraten, spielen meist noch viele weitere Faktoren eine Rolle. Rasch können in solchen Settings Abhängigkeitsbeziehungen entstehen, wie es ja gewissermaßen typisch ist in der Beziehung zwischen Alpha und Gamma. Unseriosität und manipulative Absichten können solche Abhängigkeiten verstärken (vgl. Kapitel »Auf dem falschen Dampfer unterwegs«, S. 102 ff.). Eleni (27 Jahre): »Es gab eine Zeit, in der ich einige Probleme hatte. Ich stand kurz vor den Prüfungen, hatte Lernschwierigkeiten und fiel dann auch noch durch. Ich hatte Stress mit den Eltern, und viele Freunde wandten sich von mir ab. In dieser Zeit ging ich zu einem Coach. Die hatte auf ihrer Seite damit geworben, innere Blockaden zu lösen und den Energiefluss wieder in Schwung zu bringen. Das passt doch genau, dachte ich und machte einen Termin aus. Die Frau erklärte mir, mit welchen Methoden sie arbeitete: Sie arbeite mit Energieübertragung, sagte sie. Sie habe einen direkten Zugang zur universellen Energie. Ich sollte auch Fotos meiner Wohnung mitbringen. Die Frau sagte, in meiner Wohnung seien ganz miese Energien, ich solle entweder umstellen oder besser noch ausziehen. Dumm, wie ich war, befolgte ich ihre Ratschläge. Ich klammerte mich damals an jeden Strohhalm, und es kam mir sehr entgegen, dass alle meine Probleme gelöst werden könnten, wenn ich nur woanders wohnte. Ein Trugschluss, wie sich herausstellte. Sie diagnostizierte mir auch weitere karmische Rangdynamiken: Von Gurus, Coaches und Sündenböcken

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Belastungen und meinte, meine Probleme kämen aus einem früheren Leben. Es handele sich sozusagen um transgenerationale Konflikte. Heute weiß ich, dass meine Probleme ganz und gar nicht mit einem früheren Leben zusammenhingen, sondern dass ich damals in einer depressiven Episode war. Solche Episoden kommen bei mir immer mal wieder und ich habe mittlerweile einen guten Therapeuten gefunden, der mir hilft, mich trotz der Depressionen zu motivieren, meinen Alltag auf die Reihe zu kriegen. Ich bin schockiert, dass diese Frau nicht in der Lage war, meine Depressionen als solche zu erkennen.«

Wie bereits thematisiert, bevorzugen Menschen heutzutage eher den Besuch bei einem Coach, als zu einem Therapeuten zu gehen. Vor einigen Jahren noch war es in, einen Therapeuten zu haben; Hollywood machte es vor, die Bevölkerung machte es nach. Darauf folgte eine Modewelle der Spiritualisierung, die heute immer noch nicht völlig abgeebbt ist. Heutzutage laufen allerdings die Coaches den Gurus den Rang ab. Ein Blick ins Internet zeigt: Coaching ist in, Coaching ist schmerzlos, Coaching ist was für jedermann. Sind Begriffe wie Therapeut oder Guru bereits ideologisch vereinnahmt, so ist der Begriff des »Coaches« ein relativ unverbrauchter und neutraler Begriff, schließlich gibt es ja auch unzählige seriöse und sinnvolle Coachingangebote. Man braucht kein Leiden, um einen Coach zu konsultieren. Coaching kann beispielsweise einfach nur der Persönlichkeitsoptimierung dienen. Grundsätzlich möchte ich diese Entwicklung nicht negativ bewerten, zeigt sie doch das Verlangen der Menschen, an sich zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln. Allerdings verschwimmen oft Grenzen, nicht jeder Coach hat eine fundierte Ausbildung durchlaufen und ist in der Lage zu erkennen, ob der Klient oder die Klientin mit dem Anliegen nicht besser bei einer professionellen Therapeutin, einem qualifizierten Berater aufgehoben wäre. Hinzu kommen finanzielle Interessen, die eventuell eine solche Beurteilung eintrüben. Außerdem schießt derzeit eine neue Generation von Coaches wie Pilze aus dem Boden. Während professionelle Coaches meist spezialisiert sind auf einen gewissen Bereich (Führungskräftecoaching, Berufscoaching, Sportcoaching u. a.), bieten diese Coaches eine holistisch anmutende Mischung mit Garantie auf Glück, Erfolg und die ganz große Liebe. 92

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Hubert (60 Jahre): »Mein Sohn (23) hat seinen Beruf aufgegeben. All das nur, weil er im Urlaub einen ominösen Typen kennengelernt hat, der ihm das Blaue vom Himmel versprochen hat. Er könne in sein Business einsteigen. Ich weiß nicht genau, um was es da in dem Business geht, mein Sohn sagte mir, dass es um spirituelle Weiterentwicklung und Auflösung karmischer Belastungen gehe. Es werden Kurse angeboten. Was mich nun besorgt: Mein Sohn hat sein gesamtes Erspartes abgehoben, angeblich weil hier demnächst die Finanzmärkte zusammenbrechen. Meine Vermutung ist aber, dass er das Geld längst für diese eigenartigen Seminare ausgegeben hat. Er ist derzeit nicht mehr versichert, zahlt keine Rentenversicherung, und er wird in dem Betrieb regelrecht ausgebeutet. Er muss dort Hausmeisterarbeiten verrichten, hilft dem Typen bei der Renovierung der Seminarräumlichkeiten. Wenn wir ihn besuchen wollen, hat er meist keine Zeit. Diese Gruppe vereinnahmt ihn total, beutet ihn aus … Ich kann das nicht länger mit anschauen. Was soll ich tun? Wie kann ich mich verhalten?«

Sie sind jung, sie sind männlich und sie sind erfolgreich. Was auf den ersten Blick daherkommt wie die Werbung eines berühmten Antitranspirant-Herstellers, entpuppt sich auf den zweiten Blick als: Erfolgscoach. Durchtrainiert, im feinen Zwirn, mit Dreitagebart verkaufen diese »Möchtegern-Clooneys« vor allem eins: sich selbst. Sie fungieren als Werbeikone ihrer eigenen Person. Und sie heben sich in ihrer Rhetorik und der Aufmachung ihrer Homepages deutlich ab von den spirituell-esoterischen Coaches und Gurus. Hat es Sinn, sich für mehr Erfolg im Leben eine Sitzung mit so einem Coach zu gönnen, der das lebendige Beispiel für jemand ist, der es geschafft hat? Was können diese Erfolgscoaches? Schaut man sich deren Profile mal genauer an, dann stellt man fest, die können vor allem eins: Homepages basteln, Youtubefilme mit Special Effects drehen, sich mit anderen Erfolgscoaches vernetzen und einen perfekten, suchmaschinenoptimierten Auftritt hinlegen. Außerdem scheinen sie zu wissen, wie man es zum ganz großen Geld bringt. Ein großes schwarzes Loch allerdings tut sich auf, wenn man mehr über Inhalte und Methoden erfahren will oder über die Ausbildung dieser Kerle. Stattdessen: Erfolgsgeschichten über Erfolgsgeschichten. Klienten berichten, dass sie angeblich innerhalb von wenigen Wochen Rangdynamiken: Von Gurus, Coaches und Sündenböcken

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10.000 Euro monatlich verdienen, dank des Supercoaches. Vom Tellerwäscher zum Millionär? Ohne großen Aufwand zum großen Geld? Diese Jungs machen vor, dass das geht, und spielen mit den feuchten Träumen einer Generation junger Männer. Männer der berüchtigten Generation Y, die mit Youtubern großgeworden sind, den netten Jungs von nebenan. Die Idole haben es vorgemacht, und die Jungs haben es verinnerlicht: Man kann mit ein bisschen Gelaber das große Geld machen, schicke Autos fahren und Werbedeals mit den ganz großen Firmen haben. Und diese Erfolgscoaches helfen nach, wenn es mit den dilettantisch im Kinderzimmer gedrehten Filmchen nicht geklappt hat. Sie predigen das, was ihre Jünger hören wollen: Man muss nichts tun, um Erfolg zu haben. Eine Ausbildung? Überbewertet! Hartes Arbeiten? Nein. Eine Investition von sagen wir mal 20.000 Euro und dafür das geheime Rezept für ein Leben im Jacuzzi mit zwei prallen Blondinen im Arm. Über Geld spricht man nicht? Doch, diese Erfolgsgurus schon. Wir stellen fest, dass es durchaus Leute gibt, die anfällig sind für derartige unmoralische Angebote. Oft sind es junge Männer am Anfang ihres Berufslebens; vielleicht haben sie gerade die Lehre abgebrochen oder festgestellt, dass die Wahl des Studiums suboptimal war. Und in diese adoleszente Krise grätscht der Erfolgscoach. Mit Pauken und Trompeten kommt er daher und verspricht das Blaue vom Himmel. Auch Paul hat nach drei Semestern festgestellt, dass Medizin doch nicht so sein Ding war. Ein kluger junger Mann. Begeisterungsfähig, mit großen Plänen und allenfalls etwas leichtgläubig. Paul war so begeistert von dem, was ihm da versprochen wurde, dass er kurzerhand Oma und Tante anpumpte und 15.000 Euro für ein Wochenende in Italien zahlte. Inklusive gerahmten Zertifikats. Und das ganz große Geld? Das machte nicht Paul, sondern sein Coach. Mit Leuten wie Paul. Das Geheimnis seines Erfolgs? Du musst es mir nur gleichtun. Bau dir eine Homepage, biete Coaching an, und dann holst du die 20.000 im Handumdrehen wieder rein. Dass solche schneeballartigen Systeme meist nicht funktionieren, sollte man eigentlich mit den Kettenbriefen der Grundschulzeit gelernt haben. Paul ist nun jedenfalls um ein paar Erfahrungen reicher, allerdings auch um 15.000 Euro ärmer. Es ist ihm 94

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peinlich, seine Geschichte zu erzählen. Er fragt sich, warum ihm nicht vorher aufgefallen war, was für ein windiger Scharlatan sein Coach war. Er jobbt nun bei der Post, damit er Oma das geliehene Geld zurückzahlen kann. Und sein Erfolgscoach? Der hat sich ein neues Auto gekauft und postet Bilder seines Urlaubs auf den Seychellen.

Paul ist übrigens nicht der Einzige, der auf diesen Coach reingefallen ist, sonst könnte der sich wohl kaum diesen Luxus leisten. In den letzten Monaten kontaktierten uns bei unserer Beratungsstelle ZEBRA vermehrt die Eltern, Tanten und Omas von Jungs wie Paul. Und Pauls Coach ist nicht der Einzige seiner Zunft, der sich Champagner schlürfend im Jacuzzi aalt. Längst haben reihenweise findige Coaches Klienten wie Paul im Visier und bieten maßgeschneidert für die Bedürfnisse dieser jungen Männer hohle Versprechungen an. Der Guru von heute nennt sich Life-Coach, Karrierecoach oder so ähnlich und schart seine Jünger um sich. Jünger, die nicht primär scharf sind auf Erleuchtung, die vielleicht etwas orientierungslos sind und das Glück im Diesseits suchen. Übrigens hat die Diesseitsausrichtung zur Folge, dass man beinahe gänzlich auf den esoterischen Jargon verzichtet. Das gibt es zwar auch noch, aber eben nicht für die hippen Youngstars. Hier ist die Begrifflichkeit etwas technokratischer. Paul hat gelernt, dass es Anstrengung kostet, wenn Träume verwirklicht werden wollen. O U RS E L DO IT Y

F!

Geld • Geben Sie nur das Geld aus, das Sie auch haben. • Verschulden Sie sich niemals für Coaching oder spirituelle Angebote. • Lassen Sie sich Quittungen ausstellen. • Schließen Sie Verträge ab. • Räumen Sie sich Bedenkzeit ein, bevor Sie Angebote buchen. • Informieren Sie sich über angewandte Methoden und Qualifikationen des Anbieters. • Prüfen Sie die Versprechen des Anbieters kritisch.

Rangdynamiken: Von Gurus, Coaches und Sündenböcken

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OMEGAPOSITION: DER SÜNDENBOCK

Sündenböcke zu küren, kann den inneren Zusammenhalt von Gruppierungen kurzfristig stabilisieren. Gerade in Gruppierungen, die eher geschlossen und auf sich selbst bezogen sind, nimmt der Sündenbock eine wichtige Funktion ein. Immer wieder wenden sich Betroffene an uns, die diese leidvolle Erfahrung durchlaufen haben. Wenn Sie selbst schon mal die Erfahrung gemacht haben, wie es ist, in der Omegaposition zu landen, dann helfen Ihnen die folgenden Berichte vielleicht, Ihr Erleben zu normalisieren und besser einzuordnen. Hören wir einmal Klaras (47 Jahre) Geschichte: »Ich war viele Jahre in einem Kreis, der sich um eine Frau gebildet hatte, die von sich sagte, sie verfüge über Heilkräfte. Ich war großer Fan dieser Frau, sie tat mir sehr gut in den ersten Jahren. Sie nahm mich rasch in den inneren Zirkel auf, sie hofierte mich und gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Es war ein tolles Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören und in einen Zirkel der besonders Erwählten aufgenommen zu sein. Ich wurde so was wie die rechte Hand dieser Frau, ich half ihr bei der Homepage und beim Managen ihrer Veranstaltungen. Vielleicht nahm sie mich ja auch nur in den inneren Zirkel auf, weil ich ihr nützlich war, ich weiß es nicht. Sie bot Kurse und Wochenendworkshops an, man konnte eine Reise zum inneren Kind unternehmen, Aurasehen trainieren oder seine medialen Fähigkeiten perfektionieren. Das, was da angeboten wurde, war ein Mix aus systemischem Familienstellen, etwas NLP und jeder Menge esoterischer Ideen. Die Frau hatte ihre eigene Marke kreiert. Sie war nicht nur schlecht oder durchtrieben, nein, sie hatte auch eine äußerst karitative Ader und versuchte zu helfen, wo sie konnte. Mit ihren Einnahmen ließ sie es sich zwar gut gehen – sie hatte eine Finca auf Fuerteventura, aber gleichzeitig spendete sie auch Gelder in ein von ihr gegründetes Hilfsprojekt in Afrika. Es fällt mir deswegen schwer, diese Frau nur zu verurteilen oder nur das Schlechte in ihr zu sehen. Sie brachte mich in meiner persönlichen Entwicklung auch durchaus weiter. Nun beobachtete ich, dass es immer wieder Menschen gab, die zum sprichwörtlichen Sündenbock wurden. Das wurde dann mit dem inneren Zirkel besprochen und dann wurden diejenigen geächtet. Man setzte sich beispielsweise nicht mehr zu den Personen, man nahm 96

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Abstand, man sprach nicht mehr mit ihnen. Diese Weisungen gab sie uns. Sie erklärte, dies diene dem Schutz unseres eigenen Karmas. Was musste man tun, um zu einem Außenseiter zu werden? Das ist das Problem – eigentlich kann ich das gar nicht sagen. Es genügte, dass die Leiterin das bestimmte. Es konnte sein, dass man zu viele kritische Fragen gestellt hatte, es konnte auch sein, dass man zu beliebt war; aber es passierte auch mit Menschen, die sie einfach nicht leiden konnte, die vielleicht nach einer Übung zu viel geweint hatten, oder, oder … Kurz gesagt, es war nicht vorhersehbar. Die Außenseiter mussten dann umständliche Reinigungsrituale und Prozeduren durchlaufen, um wieder in den Zirkel aufgenommen zu werden. Ich selbst schäme mich, weil ich eine Zeit lang selbst zu denen gehörte, die die anderen ächteten. Ich habe das mitgetragen und mitgemacht. Das ist nichts, worauf ich stolz bin, und nichts, wovon ich jemandem gerne berichte. Nach ungefähr sieben Jahren geriet ich selbst erstmalig in die Position des Außenseiters. Das Fiese war, nach so vielen Jahren war ich dermaßen stark an die Gruppe gebunden, dass es richtig schlimm war für mich. Ich durchlebte in den zwei Tagen an dem Workshop die wahre Hölle, es ging sogar so weit, dass ich fast nicht mehr leben wollte und ganz dunkle Gedanken bekam. Dieser Prozess wiederholte sich einige Male, ich wurde immer wieder verstoßen und wieder aufgenommen. Bis es so weit war, dass ich die Gruppierung verließ. Dies war ein harter Prozess.«

Klara beschreibt hier aus eigener Erfahrung sowohl Täter- als auch Opferrolle. Sie erlebte selbst als Gruppenmitglied mit, wie es war, einen Sündenbock zu ernennen. Sie hielt sich an die Anweisungen der Leiterin. Wie wir im ersten Teil gesehen haben, ist dies kein Einzelfall, sondern offenbar neigen Menschen dazu, auch fragwürdige Anweisungen bereitwillig umzusetzen, wenn dies befohlen wird (vgl. das Milgram-Experiment, S. 69). Der Effekt eines Sündenbocks auf die Gruppe wird von den Mitgliedern meist positiv und einend erlebt, nicht jedoch von dem Sündenbock. Dieser befindet sich in der sogenannten Omegaposition, steht also in der Hackordnung ganz hinten. Die Ernennung eines Sündenbocks ist ein häufiges Verhalten in Gruppierungen. Nicht immer muss der Sündenbock übrigens Teil der Gruppe sein, manchmal werden auch Außenstehende (die Rangdynamiken: Von Gurus, Coaches und Sündenböcken

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Regierung, das System, die Politiker, die Schwarzen …) als Sündenböcke deklariert. Häufig verlassen Menschen, die in eine Omega­ position geraten, die Gruppe. Sind allerdings starke Abhängigkeiten entstanden, fällt dies nicht leicht, da die Möglichkeit, zu gehen, erst mal nicht in Betracht gezogen wird und meist kein Bezugssystem mehr außerhalb besteht. In solchen Fällen sind diese Menschen vollkommen ausgeliefert und geraten rasch in heftige psychische Ausnahmesituationen, denn nichts schmerzt mehr, als ausgestoßen zu werden. Daher verwundert es auch nicht, dass manche Gruppierungen als Sanktion gegen Mitglieder, die sich nicht gruppenkonform verhalten, den sogenannten »Gemeinschaftsentzug« einsetzen. Die oben beschriebene Klientin gibt einen sehr authentischen Einblick in die Innenwelt eines Sündenbocks. Selbst wenn Menschen an und für sich stabil aufgestellt sind, kann die Sündenbockrolle zu einer extremen Krise führen. Ähnlich wie bei Mobbing kann dies so weit gehen, dass sogar eine suizidale Krise ausgelöst wird. Das, was geschieht, wenn Gruppen einen Sündenbock küren, weist starke Ähnlichkeit auf zu dem, was man heute auch Mobbing nennt. Zu Mobbing gibt es verschiedene Definitionen. Versuchen wir einmal zu verstehen, welcher Sinn im Mobbing steckt. Als einer meiner Wellensittiche erkrankte, wurde er vom Schwarm ausgeschlossen, ja, im wahrsten Sinne des Wortes gemobbt. Er zeigte auffällige Veränderungen am Schnabel und wurde fortan nur noch gehackt von den Kollegen. Warum küren Gruppen Sündenböcke? Der paläoanthropologische Ansatz von Bilz (1971) definiert Mobbing als repressive Verhaltensweisen der Gruppe insgesamt oder einzelner ihrer Repräsentanten auf der Basis physiologischer Kontrollbereitschaften, als Folge tatsächlicher oder vermuteter Abweichungen von einer impliziten Gruppennorm. Der Sinn dieses Verhaltens liegt diesem Ansatz zufolge in der frühen Ausmerzung von Krankheiten und Epidemien, indem schwache oder auch kranke Gruppenmitglieder ausgestoßen werden. Unter diesem Blickwinkel macht es für das Überleben einer Gruppe Sinn, wenn solche, die von der Gruppe abweichen, rasch abgesondert werden. Nun ist es aber keinesfalls so, dass diejenigen, die zum Sündenbock gekürt werden, krank sind. Allerdings springt das »Mobbingsystem« in Gruppen oft zu früh an. Abweichler von der Gruppennorm geraten 98

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rasch in den Fokus der Mobber. Dabei kann es sich auch um positive oder rein zufällige Abweichungen handeln. So berichten Menschen davon, dass sie ausgeschlossen wurden, weil sie besonders begabt, feinfühlig oder irgendwie anders waren. Bekanntermaßen sind es gerade die Rudelführer oder Gruppenführer in spe, die besonders aggressiv auf die Einhaltung der Gruppennorm pochen. Angriffe von außen, Stress oder Krisen erhöhen die Bereitschaft, Sündenböcke zu küren – also zu mobben. Nicht immer wird deutlich, weshalb jemand zu einem Sündenbock wird, in manchen Gruppen geschieht dies unvorhersehbar und willkürlich. Manchmal jedoch lädt auch das Verhalten des »Sündenbocks« dazu ein, ihm diese Rolle zuzuschreiben. Die Geschichte lehrt unzählige Beispiele, die nach einem ähnlichen Muster laufen: Ein Einzelner wird zum Sündenbock. Die Gruppe kanalisiert vorhandene Aggressionen, Unstimmigkeiten, Rivalitäten und Machtkämpfe auf diesen Sündenbock. Das festigt den inneren Zusammenhalt und erlaubt es, solche unwillkommenen Gefühle auszuagieren. In früheren Kulturen war es üblich, eine rituelle Tötung eines Menschen vorzunehmen, wenn es eine Krise gab, sei es etwa eine Dürre oder Ähnliches. Mit dem Opfer war ein Schuldiger gefunden, man fühlte sich den Naturgewalten gegenüber wieder handlungsfähig und stärkte die Gesellschaft, die gerade vor einer Zerreißprobe stand. Meist fühlen sich die »Sündenböcke« als Opfer und übernehmen damit implizit die ihnen zugedachte Rolle. Mit dieser Sicht geht die Überzeugung einher, ohnmächtig und ausgeliefert zu sein und nichts tun zu können. Es kann hilfreich sein, bei diesen Überzeugungen anzusetzen um wieder zu mehr Handlungsfähigkeit zu gelangen. Es ist ebenso wichtig, wenn ein sensibles Gespür für beginnende Mobbingprozesse entwickelt wird, sei dies in Bezug auf andere Gruppenmitglieder oder in Bezug auf die eigene Situation. Sehr günstig ist es auch, an der eigenen Kommunikationsfähigkeit zu arbeiten. Auch Wahrnehmungsübungen können hilfreich sein. Zunächst ist es sehr wichtig, sich Hilfe außerhalb der Gruppierung zu suchen. Dieser Schritt ist nicht immer einfach, da es in einigen Fällen sein kann, dass das soziale Leben und das Leben in der Gruppierung ineinanderfallen und es kein soziales Bezugssystem mehr außerhalb der Gruppierung gibt. Oft neigen die »Sündenböcke« dazu, sich selbst zu hinterfragen, und teilweise werden die Schuldzuweisungen auch angenommen und Rangdynamiken: Von Gurus, Coaches und Sündenböcken

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führen dazu, dass sich die Betreffenden schlecht und minderwertig fühlen. Es darf keinesfalls unterschätzt werden, welche immense Auswirkung die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf unser psychisches Wohlbefinden haben kann. Deswegen ist es notwendig, in solchen Fällen eine zeitnahe und enge therapeutische/beraterische Anbindung zu suchen. In manchen Fällen kann es auch eine Möglichkeit sein, juristische Schritte gegen die Gruppierung einzuleiten; dies ist allerdings im Einzelfall gründlich zu prüfen, da ein verlorener Prozess meist gravierende Auswirkungen auf den »Sündenbock« hat und dessen Unterlegenheits- und Ohnmachtsgefühle verstärkt. Auch muss differenziert werden, in welcher Ablösephase sich der »Sündenbock« befindet. Grundsätzlich ist es empfehlenswert, den Gemeinschaftsentzug nicht schweigend zu ertragen, sondern konfrontativ zu reagieren, also die anderen darauf anzusprechen, weshalb sie sich wegsetzen, Gespräche vermeiden usw. Auch gegenüber dem Guru/Leiter kann solch ein offenes und konfrontatives Vorgehen hilfreich sein. Dies erfordert allerdings viel Mut. Es hilft auch, wenn sich der »Sündenbock« verdeutlicht, dass es eigentlich gar nicht um sein Verhalten geht, sondern er diese Rolle quasi als Stellvertreterrolle übernimmt, um von anderen Problemen in der Gruppe oder seitens des Leiters abzulenken. Grundsätzlich kann es entlasten, die Vorfälle genau zu dokumentieren, denn oft zweifeln die Betroffenen hinterher an ihrer eigenen Wahrnehmung und reden sich ein, dass es »so schlimm nicht wahr« oder »die Gruppe schon ihre Gründe gehabt haben wird« oder »der Gemeinschaftsentzug berechtigt war«. In jedem Fall ist eine Unterstützung von außerhalb sehr zu empfehlen, seien dies Freunde, Verwandte oder Fachleute, die helfen, die Situation mit einer entsprechenden Distanz zu reflektieren, und einen Ausstieg erleichtern. Viele auch körperliche Probleme können durch solche mobbingähnlichen Situationen verursacht werden, angefangen bei Schlafstörungen bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sehr häufig kommt es zu Depressionen. In der Akutphase ist es notwendig, eine Distanz zu der Gruppe aufzubauen und zu schaffen. Dies hilft, sich neu zu ordnen und zu sortieren, was da gerade passiert. Auch wenn der oder die Betroffene in dieser Zeit das Verlangen hat, wieder in der Gruppe aufgenommen zu werden, empfiehlt es sich, eine ausreichend lange Distanzierungsphase anzuberaumen, in welcher aller100

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dings andere Ansprechpartner engmaschig zur Verfügung stehen. Mit ausreichend Distanz gelingt es Betroffenen oft, sich selbst und ihre Rolle in der Gruppierung sowie die Gruppendynamiken besser zu reflektieren. Ist ein solcher Reflexionsprozess durchlaufen, kann entschieden werden, ob man weiter (trotz der schwierigen Rolle) in der Gruppierung bleiben möchte oder sich besser nach Alternativen umsieht. Manche Menschen haben ihre Gründe, sich nicht abzuwenden nach solchen Vorfällen, sondern sie bleiben. Langfristig kann an Strategien gearbeitet werden, die helfen, sich besser abzugrenzen und zu distanzieren, wenn es sich wiederholende Situationen gibt. Dabei ist es auch hilfreich zu explorieren, ob der Betroffene solche Erfahrungen bereits aus anderen Kontexten in seinem Leben kennt.

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Tipps bei Mobbing

Wenn Menschen ausgeschlossen werden, ergeben sich zahlreiche Parallelen zu Mobbing. Daher ist es hilfreich, hier auch allgemeine Umgangstipps bei Mobbing zu berücksichtigen. Die Broschüre »Wenn aus Kollegen Feinde werden …« (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2011) listet einige Ideen auf. Die folgenden Ratschläge können für das Umfeld hilfreich sein: • Vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre schaffen. • Das Gespräch einfühlsam, aber sachlich führen. • Sich selbst Zeit und das »Opfer« ernst nehmen. • Die Probleme nicht bagatellisieren. • Die Mobbingsituation durch Nachfragen (wer, wann, was) analysieren. • Keine Vorverurteilung vornehmen. • Keine Patentrezepte anbieten – die gibt es nicht. • Keine weiteren Schritte ohne das Okay des »Opfers« einleiten. • Verschiedene Handlungsalternativen gemeinsam durchspielen. • Weitere Hilfsangebote empfehlen (Mobbingtelefon, Selbsthilfegruppen u. a.). • Eventuell Rechtsbeistand vermitteln. • Begleitung bei Klärungsgesprächen anbieten.

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AUF DEM FALSCHEN DAMPFER UNTERWEGS »Die Ratte, die das sinkende Schiff verlässt, ist klüger als der Kapitän, der damit untergeht.« (Jonathan Swift 9)

Oft merkt man erst dann, wenn man bereits in See gestochen ist, dass man auf dem falschen Dampfer fährt. Entweder passt die Crew nicht oder der Dampfer steuert in eine völlig falsche Richtung. Es gibt unzählige Gründe, weshalb Menschen sich für den falschen Dampfer entscheiden. Oft fällt es schwer, schon vorher abzuschätzen, ob das Angebot zu den Bedürfnissen passt. Manchmal werden auch regelrechte Mogelpackungen inszeniert, leere Versprechungen gemacht und Menschen werden verführt. Da, wo die Gesetze des Marktes herrschen, werden auch Techniken des Vermarktens eingesetzt. Oben wurde gezeigt, inwiefern Spiritualität und Esoterik zum Konsumgut geworden sind. Dieser konsumorientierte Faktor zeigt sich nicht nur in der Vermarktung entsprechender Kurse und Produkte, sondern auch in den Strategien, die dabei angewandt werden. Immer wieder spreche ich mit Anrufern und Anruferinnen, die sich in über den Tisch gezogen fühlen, ja, sich teilweise sogar finanziell ruiniert haben, weil sie beispielsweise Kurse mit sehr fragwürdigen Inhalten buchten oder diverse Produkte zur Verbesserung der Lebensqualität erwarben. Von außen ist es immer recht einfach, dies zu verurteilen, im Sinne von »Wie kann man nur so dumm sein und 500 Euro für Heilsteine ausgeben?«. Solch eine Haltung des Umfelds führt zu Scham und hindert Betroffene daran, sich rechtzeitig Hilfe zu holen. Geld in geplatzte Träume investiert zu haben, kann Schmerzen verursachen. Es ist wichtig zu verstehen, weshalb es den Anbietern gelungen ist, mit ihren Versprechen und Produkten anzukoppeln. Nur so ist man nachhaltig gefeit vor dem nächsten unseriösen Angebot. Daher möchte ich Ihnen im Folgenden nun einige der gängigen Manipulationsstrategien aufzeigen, mit welchen Menschen gern mal auf den »falschen Dampfer« gelockt werden. Anbieter, die 9 https://www.aphorismen.de/zitat/154214 (15.07.2021).

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manipulieren, appellieren direkt an unsere Gefühle, erzeugen Druck, Schuld oder ein schlechtes Gewissen. Ohne Reflexion ist kaum einer vor solchen Techniken gefeit. Deswegen besteht der erste Schritt in Aufklärung und Psychoedukation. Dies hilft, sich selbst besser zu verstehen. Wenn Sie dieses Kapitel gelesen haben, werden Sie möglicherweise denken: »Ich habe es schon immer gewusst, schuld sind die manipulativen Anbieter.« Ging man vor einigen Jahrzehnten noch von der Vorstellung aus, es werde auf dem Markt der Sekten und Psychogruppen gezielt »Gehirnwäsche« betrieben, so weiß man heute, dass es nicht so einfach ist. Modelle der »Gehirnwäsche« verorten die Problematik meist außerhalb des Individuums und schränken damit den individuellen Handlungsrahmen ein, indem Schuld und Verantwortlichkeit nach außen delegiert werden (Neuberger, 2018). Wenn ich Ihnen nun einige der gängigen Manipulationstechniken vorstelle, soll dies nicht dazu einladen, die »Schuld« allein beim Anbieter zu suchen, sondern helfen, eine differenzierte Einschätzung zur Situation vorzunehmen. ANGST ERZEUGEN Franziska (35 Jahre): »Ich schäme mich etwas, dies zu erzählen. Ich versuche seit vielen Jahren, schwanger zu werden, und habe echt alles hinter mir. Keiner weiß, warum es nicht klappt. In meiner Verzweiflung besuchte ich eine ›weise Frau‹. Sie wurde mir von einer Freundin empfohlen, die ganz große Stücke auf diese Frau hielt. Die Frau sprach gebrochenes Deutsch. Sie scannte meinen Körper mit ihren Händen und übermittelte mir danach ihre Diagnose: Ich sei von schwarzen Mächten besetzt. Es sei kein Wunder, dass ich nicht schwanger werden würde. Da könne ich mich freuen, dass ich mich überhaupt so guter Gesundheit erfreute bisher. Wenn ich wolle, dass ich nicht ernsthaft erkranke, dann rate sie mir dringend zu einer Behandlung bei ihr. Sie habe die Gabe, diese dunklen Mächte zu entfernen. Ich müsse auch mitwirken und regelmäßig Hirtentäscheltee trinken und zweimal täglich meditieren. Den Rest wolle sie erledigen. Ich ging aus der Behandlung und fühlte mich mies. Ich konnte förmlich spüren, dass da was Dunkles und Mächtiges in mir drin war. Ich hatte schlechte Träume Auf dem falschen Dampfer unterwegs

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und bekam richtig Angst. Deswegen kontaktierte ich die Frau und bat sie, mir zu helfen. Sie begann mit einer Energiebehandlung aus der Ferne. Meine Angst wurde weniger und ich hatte den Eindruck, dass es mir besser ging. Schwanger bin ich immer noch nicht, dafür habe ich mein Budget für die Sommerreise verpulvert. 2.500 Euro hat mich der ganze Spaß gekostet.«

Das Beispiel von Franziska zeigt anschaulich, was passiert, wenn Angst erzeugt wird. Viele Anbieter arbeiten mit dieser Technik: Zuerst wird dem Klienten eine dämonische Besetzung oder dergleichen diagnostiziert. Die meisten Klienten fühlen sich nach einer solchen Behandlung unwohl, beginnen, ihren Körper mit einer defizitorientierten Per­ spektive sorgsam zu beobachten, und fühlen sich dann nach einiger Zeit tatsächlich schlechter als vorher. Obwohl eine anfängliche Skepsis bestand, wird nun in Erwägung gezogen, dass der Heiler oder die Heilerin womöglich ja doch recht haben könnte. Man versucht sich an der ersten Behandlung, die meist eine unbewusste Entlastung gibt, da die Ängste reduziert werden und man eine Besserung erwartet. Der erwartete Effekt tritt ein. Am Ende einer solchen Behandlung stehen Menschen meist an einem ähnlichen Punkt wie zu Beginn: Sie wurden die Ängste los, die sie ohne die Behandlung nie entwickelt hätten, allerdings wurden sie dazu noch eine Menge Geld los. Sinnvoller wäre es in Franziskas Fall gewesen, eventuell therapeutisch begleitet einen nachhaltigen Umgang mit dem unerfüllten Kinderwunsch anzustreben. Gerade solche unerfüllten Wünsche und Bedürfnisse können empfänglich für unlautere Angebote machen. Deshalb lautet die Empfehlung hier: Setzen Sie sich mit Ihren unerfüllten Bedürfnissen konstruktiv auseinander. ÜBERZEUGUNGSORIENTIERTE MANIPULATION Lena (25 Jahre): »Ich war einmal zum Spaß bei einem Medium. Es war auf einer Esoterikmesse. Und dann sagte dieses Medium etwas, was mich noch heute nachdenken lässt. Sie meinte, sie habe selten jemand gesehen mit einer derart hohen medialen Begabung wie mich. Ich sei etwas ganz Außergewöhnliches und Besonderes und ich solle diese Begabung entfalten. Sie sagte mir noch viele andere Dinge, von 104

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denen einige auch zutrafen. Deswegen glaubte ich ihr dann auch. Ich buchte einen Kurs bei ihr zu Entwicklung meiner medialen Fähigkeiten.«

Diese Form der Manipulation setzt an den Überzeugungen des Konsumenten an. Es kann darum gehen, dessen Selbstwert zu erhöhen, indem ihm gesagt wird, wie begabt, großartig und hochsensibel er sei. Häufig wird behauptet, man erkenne außergewöhnliche Fähigkeiten, und manchmal wird auch eine vielversprechende Karriere im mediumistischen Metier prognostiziert. Im Beispiel von Lena schmeichelte die Anbieterin ihr, appellierte an ihre Eitelkeit und stellte sie auf einen Sockel. Sie gab ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Auch diese Strategie ist nicht ungewöhnlich und führt bei vielen Menschen dazu, sich auf den Anbieter einzulassen. Solche Schmeicheleien fühlen sich für manche wie Streicheleinheiten für die Seele an. Manchen Betroffenen fällt es auch schwer, sich abzugrenzen und Nein zu sagen. Die eigenen Grenzen besser zu spüren und zu kennen, kann deswegen ein wichtiges Lernfeld sein. Zu wissen, wer man ist und was man kann, macht unabhängig von Lob und Schmeicheleien geschäftstüchtiger Anbieter. Es sollte zudem geübt werden, Komplimente und Lob zu akzeptieren, ohne eine Gegenleistung erbringen zu wollen. Im Gespräch mit Lena wurde deutlich: Sie hatte aufgrund unterschiedlicher biografischer Erfahrungen einen niedrigen Selbstwert und war deswegen sehr empfänglich für selbstwerterhöhende Aussagen. Lena wurde durch dieses Erlebnis sensibilisiert für ihre Selbstwertproblematik. Sie stellte fest, wie sehr sie auch in anderen Lebensbereichen empfänglich war für Schmeicheleien. Für Lena war eine Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und Schwächen der Schlüssel, um sich längerfristig gegen »unlautere Schmeicheleien« zu immunisieren und Entscheidungen nicht davon abhängig zu machen. DRUCK AUFBAUEN Peter (55 Jahre) und Ida (46 Jahre): »›Wenn Sie Ihr Haus nicht binnen vier Wochen reinigen lassen von den erdgebundenen Seelen, die darin wohnen, dann werde ich nicht mehr in der Lage sein, Ihnen zu helfen. Ein Portal ist geöffnet und es dringen permanent neue Mächte ein. Es Auf dem falschen Dampfer unterwegs

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ist mir völlig klar, dass Sie sich hier nicht mehr wohlfühlen. Überlegen Sie sich rasch, ob Sie meine Hilfe benötigen.‹ Dies sagte uns ein Medium, das wir zu Rate gezogen hatten, weil wir den Eindruck hatten, dass mit unserem Haus etwas nicht stimme. Wir haben seit einigen Monaten beide das Gefühl, dass etwas Bedrohliches um uns herum ist, schlafen schlecht, und es gibt immer wieder Stress mit den Nachbarn. Uns ist klar, dass das Unfug ist, dennoch setzt es uns irgendwie unter Druck und uns fällt es schwer, diese Warnung völlig zu ignorieren.«

Eine weitere Strategie ist es, Druck aufzubauen. Dem potenziellen Konsumenten wird Angst eingejagt, und gleichzeitig wird auch mit zeitlichem Druck gearbeitet, wie im Fall von Peter und Ida. Eine rasche Entscheidung wird oft unter anderem deswegen forciert, weil die Klienten sich ansonsten mit ihrem Umfeld kritisch austauschen könnten und sich möglicherweise von dem Angebot distanzieren würden. Zeitlicher Druck kann in einer ohnehin fragilen Situation zusätzlich überfordernd wirken. Denn Fakt ist: Wenden sich Menschen mit einem Hilfegesuch an einen Anbieter, befinden sie sich meist in einer schwierigen oder verzweifelten Situation. Diese Situation durch den Aufbau von Druck auszunutzen, ist nicht nur unethisch, sondern kann auch die Situation deutlich verschlimmern.

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Tipps gegen zeitlichen Druck

Für manche Menschen kann es hilfreich sein, sich vorab Phrasen zu überlegen, mit denen sie auf Zeit spielen können: • Ich möchte dies zunächst mit meinem Mann absprechen. • Bevor ich mich für Ihr Seminar entscheide, will ich mich darüber noch im Internet informieren. • Ich möchte diese Entscheidung noch mal überschlafen. • Bitte geben Sie mir eine Bedenkzeit. Ich wende mich bei Interesse wieder an Sie. Je mehr Zeit Menschen haben, Entscheidungen zu prüfen und zu überschlafen, desto weniger können Manipulationstechniken wirken.

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LOW BALLING Sigrid (43 Jahre): »Sie bekommen das Wochenendseminar zu einem Schnäppchenpreis von 200 Euro. Sagte mir der Coach. Erst als ich unterschrieben habe, sagte er mir, dass Übernachtung und Verpflegung nicht im Preis inbegriffen seien. Für die Übernachtung kamen 500 Euro dazu und für die vegane Ernährung noch mal 150 Euro. Etwas zähneknirschend bezahlte ich die 850 Euro für das Wochenende. Als ich dort war, wurde mir zu Einzelcoaching geraten. 80 Euro die Stunde.«

Im Grunde ist die Low-Ball-Technik eine Beeinflussungstechnik zur Verkaufssteigerung von Produkten und wird auch in diesem Rahmen angewendet. Ziel ist es, den potenziellen Käufer dazu zu bringen, sich auf ein bestimmtes Produkt festzulegen. Erst wenn dies geschehen ist, dann kommen weitere Leistungen dazu, die nicht im Preis inbegriffen waren. Es lässt sich feststellen, dass Menschen bereit sind, die entsprechenden Mehrleistungen zu bezahlen, damit die einmal getroffene Entscheidung nicht revidiert werden muss – auch wenn das Produkt inklusive Zusatzleistung nun nicht mehr den eigentlichen Vorstellungen entspricht. Sigrids Geschichte beinhaltet unter anderem Aspekte von Low Balling. Gerade auf dem Markt unseriöser Seminaranbieter im spirituellen oder esoterischen Bereich können wir immer wieder beobachten, dass diese Strategie angewandt wird. Sigrid ärgerte sich hinterher. Sie nahm die Situation jedoch zum Anlass, Abgrenzung und Neinsagen zu trainieren. Hinterher stellte sie fest: »Es ist ein Muster bei mir, dass ich es immer allen Menschen recht machen will. Ich bin konfliktscheu und es löst bei mir große Hemmungen aus, Menschen zu verärgern und unzufrieden zu machen. Deswegen hab ich mir schon öfter Dinge aufschwatzen lassen, die ich eigentlich nicht wollte und brauchte.« FOOT-IN-THE-DOOR-TECHNIK Anita (50 Jahre): »Ich habe am Telefon an einem Interview teilgenommen über meine Einstellung zu Horoskopen. Im Anschluss fragte mich der Interviewer, ob ich nicht bereit sei, an seinem Seminar teilzunehmen, ich Auf dem falschen Dampfer unterwegs

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sei in besonderem Maße geeignet und habe ein hohes intuitives Wissen über Astrologie. Ich willigte ein und fragte mich hinterher, wie ich nur so blöd sein konnte. Das Seminar kostete 500 Euro und fand online statt.«

Die »Fuß-in-die-Tür-Technik« gehört zu den klassischen und am meisten untersuchten Beeinflussungsstrategien und wird nicht nur im Bereich Marketing angewandt, sondern auch in allgemeinen zwischenmenschlichen Situationen. Diese Technik beruht auf der Erkenntnis, dass Menschen der Erfüllung einer kleinen Bitte in der Regel gern nachkommen und dies selten abschlagen. Ist die Bitte erfüllt, richtet man sich mit einer größeren Bitte an denjenigen. Meist hat dies zur Folge, dass eine erhöhte Bereitschaft besteht, auch der größeren Bitte nachzukommen (Freedman u. Fraser, 1966). Warum ist das so? Durch die Erfüllung der ersten Bitte wird ein positives Selbstbild aktiviert. Dieses Selbstbild möchte man gern aufrechterhalten, weil es sich angenehm anfühlt. Im Fall von Anita wurde diese Technik angewandt, indem sie sich freiwillig Zeit genommen hatte, an einem Interview teilzunehmen. Die gegenteilige Strategie ist übrigens die »Tür-ins-GesichtTechnik«. Bei dieser Technik kassiert der Verkäufer eine gezielte Abfuhr, indem er mit einer zu hohen Forderung ansetzt, welcher der potenzielle Käufer garantiert nicht nachkommen wird. Die zweite Forderung fällt deutlich niedriger aus, was meist die Bereitschaft, doch in den Handel einzuwilligen, erhöht. Etwas erinnert diese Technik auch an den »türkischen Basar«. REGEL DER GEGENSEITIGKEIT (REZIPROZITÄTSNORM)

Die Jünger der Krishnabewegung sind in den 1990er Jahren typische Anwender dieser Technik gewesen: Auf der Straße »verschenkten« sie Bücher und erbaten sich dafür im Gegenzug eine kleine Spende. Dabei wird ein grundlegendes und kulturübergreifendes sozialpsychologisches Prinzip angewandt: Wenn wir eine Gefälligkeit empfangen, setzt dies unter Druck, eine Gegenleistung zu erbringen. Dabei spielt es keine Rolle, ob uns das Gegenüber sympathisch ist. Übrigens neigen Menschen dazu, bei der Gegenleistung den Wert der Gefälligkeit eher zu über- als zu unterschreiten. Oft wird auch 108

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die Bereitschaft, von der anfänglichen Forderung abzuweichen, als Gefälligkeit interpretiert (siehe Door-in-the-Face-Technik) und dementsprechend honoriert. Tupperabende funktionieren übrigens nach dem gleichen Prinzip: Jede Teilnehmerin erhält ein Gastgeschenk – den meisten fällt es dann schwer, die völlig überteuerten Plastikschüsseln hinterher nicht zu kaufen. FREUNDSCHAFTSTRICK Lisa-Marie (52 Jahre): »Ich war auf den Kanaren. Dort lernte ich eine Frau kennen, die Heilbehandlungen mit Steinen durchführte. Wir verstanden uns sehr gut, ja, ich hätte gesagt, wir wurden beinahe so was wie Freundinnen. Wir unternahmen einiges zusammen, machten Ausflüge und erzählten uns viel aus unserem Leben. Ich berichtete von meinen Problemen mit der Scheidung, dem Haarausfall und der dauernden Migräne. Da bot sie mir an, eine Behandlung durchzuführen. Der Urlaub war fast zu Ende. Ich willigte ein. Sie ließ mich hyperventilieren und ich wurde bewusstlos. Danach sagte sie mir, es sei etwas Dunkles an meiner Seele dran, sie habe mir das weggemacht. So weit alles schön und gut. Dann aber meinte sie, ich solle mir zur Abwehr zwei Ketten kaufen, aus Edelsteinen. Sie meinte, die Behandlung sei für mich kostenlos, und auch die Ketten würde sie mir zu einem absoluten Freundschaftspreis geben. Ich zahlte 1.500 Euro. Zu Hause stellte ich fest, dass die Ketten quasi nichts wert sind. Ich fühlte mich über den Tisch gezogen. In dem Moment aber, da konnte ich kaum Nein sagen. Sie war so freundlich. Und die Behandlung war ja kostenlos … ich fühlte mich regelrecht im Kaufzwang.«

Menschen, die wir mögen bzw. mit denen wir befreundet sind, etwas abzuschlagen fällt schwerer als bei Fremden. Deshalb nutzen einige Anbieter diesen Trick, wie beispielsweise im Fall von Lisa-Marie. Ein Gefühl der Verbundenheit und eine vertrauensvolle Atmosphäre werden teilweise von Anbietern bewusst erzeugt, um die Motivation, bestimmte Leistungen in Anspruch zu nehmen, zu erhöhen. Sich selbst einzugestehen, dass man sich getäuscht haben könnte und der andere die freundschaftlichen Gefühle eventuell nur gespielt hat, fällt oft schwer. Auf dem falschen Dampfer unterwegs

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Lisa-Marie berichtete im Beratungsgespräch, sie habe bereits des Öfteren in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, ausgenutzt worden zu sein. Andere nicht zu enttäuschen und den Bitten anderer Menschen nachzukommen, war lange Zeit eine wichtige Devise in ihrem Leben gewesen. Das Erlebnis half ihr, am Thema »Abgrenzung« zu arbeiten. SCHULDGEFÜHLE Laura (31 Jahre): »Ich war Mitglied in einem Heilerkreis um eine Frau. Die gab mir immer wieder das Gefühl, ich habe mit meinen Anliegen immens viel Energie bei ihr abgezogen. Sie meinte, sie würde das auch körperlich spüren und fühle sich nach den Behandlungen mit mir völlig erschöpft. Ich sollte für die Behandlungen so viel spenden, wie ich für angemessen hielt. Dies verleitete mich dazu, dass ich regelmäßig eine hohe Summe abgab, wenn sie mich energetisch behandelt hatte. Ich wollte das wiedergutmachen.«

Manche Anbieter nutzen gezielt Schuldgefühle aus und erzeugen so das Gefühl der emotionalen Verpflichtung. Oft entsteht das schlechte Gewissen erst in der Auseinandersetzung mit der betreffenden Person. Solche Anbieter neigen dazu, kleine Fehler zu überdramatisieren, und gestehen sich selbst eigene Fehler nicht ein. Auf dieser Basis wird beim Gegenüber das Gefühl geweckt, etwas wiedergutmachen zu wollen. Der Fall von Laura verdeutlicht dies. Laura stellte hinterher fest: »Schon früher in meiner Kindheit habe ich mich oft schuldig gefühlt. Zum Beispiel haben sich meine Eltern scheiden lassen. Ich glaubte lange, dass ich schuld sei.«

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ESOTERIKSUCHT »Wie glücklich man am Lande war, merkt man erst, wenn das Schiff untergeht.« (Seneca 10)

Süchtig kann man nach vielem sein. Etwa nach verschiedenen Substanzen, wie Alkohol, Drogen oder Tabak. Neben diesen stofflichen Süchten gibt es jedoch auch nichtstoffliche Süchte, wie zum Beispiel Glücksspielsucht, Internetsucht, Sexsucht oder eben auch die Esoteriksucht. Esoteriksucht? Bisher gibt es nur wenige Berichte zu dieser Form der Abhängigkeit. Deshalb sollen hier drei exemplarische Fälle für die unterschiedlichen Bereiche der Esoteriksucht vorgestellt werden. Denn Esoteriksucht bezieht sich auf verschiedene Bereiche und sollte deswegen differenziert beschrieben werden: Ȥ Astrosucht, Ȥ Heilersucht, Ȥ Mediumsucht. Gemeinsam ist allen drei Formen die Erfahrung von Abhängigkeit. Auch die »Suchtdynamik« ähnelt sich, meist werden bestimmte positiv konnotierte Erfahrungen gern wiederholt, das heißt, man geht immer wieder zu einem Medium, weil sich danach eine Beruhigung oder ein anderes positives Gefühl einstellt. Oft ist es so, dass eine gewisse Gewöhnung eintritt und sich die Besuche beim Heiler, Medium oder astrologischen Berater deswegen intensivieren. Es kann auch sein, dass man eine immer größere Dosis an unterschiedlichen Heilern, astrologischen Lebensberatern oder Medien braucht. O U RS E L DO IT Y

F!

Bin ich süchtig? Wenn über den Zeitraum der letzten zwölf Monate mindestens drei der folgenden Kriterien zutreffen, dann könnte ein Abhängigkeitssyndrom vorliegen:  » 10 https://www.aphorismen.de/zitat/107035 (15.07.2021). Esoteriksucht

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• starkes, unwiderstehliches Verlangen, einen bestimmten (oder irgendeinen) Heiler/Medium/Astroberater zu konsultieren; • Zunahme der Konsultationen mit einhergehendem Kontrollverlust; • Ängste und Unsicherheiten bei ausbleibendem Kontakt; • Reduktion von sozialen Kontakten; • ständige innere Beschäftigung mit dem Heiler/Medium/ Astroberater; • kaum mehr Zeit für und Interesse an anderen Hobbys und Themen, starke Fokussierung auf den Heiler oder die Heilerin; • finanzielle Verschuldung; • trotz schädlicher finanzieller Folgen anhaltende Konsultation von Medien/Astroberatern oder Heilern; • das Leben wird nach den Aussagen des Heilers/Mediums/ Beraters ausgerichtet; • völlige Unterordnung; • Vernachlässigung eigener Skepsis.

Typischerweise geraten öfter Frauen in eine Esoteriksucht. Gerade dann, wenn Entscheidungen anstehen oder es Schwierigkeiten gibt, wird die Lösung verstärkt bei den oben genannten Akteuren gesucht. Tanja beispielsweise geriet in eine Esoteriksucht, nachdem ihr Sohn verstorben war. Beim Channeling stellte das Medium einen Draht ins Jenseits her und übermittelte ihr immer neue Botschaften von drüben. Anna konsultierte bei Beziehungsschwierigkeiten jedes Mal einen astrologischen Lebensberater. Er half ihr, Entscheidungen zu treffen, ja, er nahm ihr diese Entscheidungen irgendwann ganz ab und traf diese für sie. Sowohl Astroberater als auch Medien und manch ein Heiler bieten Lösungen für diverse Lebensprobleme an. Problematisch bei allen drei Bereichen ist nicht nur die meist hohe finanzielle Schädigung. Oft leidet auch die Autonomie der Betroffenen; Selbstwert und Selbstbestimmung bleiben auf der Strecke, und die Betroffenen verlassen sich immer weniger auf die eigenen Gefühle und die eigene Wahrnehmung. Natürlich können auch alle drei Berufsgruppen sehr hilfreiche Begleiter in Lebenskrisen sein, doch nur, wenn die jeweiligen Anbieter sich ihrer Verantwortung 112

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bewusst sind und gezielt darauf achten, dass keine Abhängigkeiten entstehen. Die wenigsten berichten gerne über ihre Sucht, viele schämen sich dafür. Manchmal dauert es auch ein paar Jahre, bis man sich selbst eingestehen kann, dass die Sache aus dem Ruder gelaufen ist und sich eine Sucht entwickelt hat. Für viele ist es eine Erleichterung zu erfahren, dass sie nicht die Einzigen sind, sondern es anderen ähnlich geht. Die Sucht ist noch relativ unbekannt, sodass die Betroffenen oft annehmen, sie seien ein Einzelfall. MEDIUMSUCHT Esther (53 Jahre): »Als mein Sohn gestorben ist, wusste ich nicht ein noch aus. Ich suchte mir damals Hilfe bei einem spirituellen Lebenscoach. Angeblich konnte die Frau auch Kontakt mit dem Jenseits aufnehmen. Sie tat dies für mich und übermittelte mir Botschaften von meinem Sohn. Ich wurde regelrecht süchtig nach dieser Frau und ihren Botschaften. Sie gab mir das Gefühl, noch mal mit meinem Sohn in Kontakt treten zu können, und es war anfangs ein großes Geschenk. Ich bin dort über drei Jahre hingegangen, teilweise zweimal pro Woche. Ich habe Unmengen von Geld verloren und stelle nun fest, dass ich eigentlich nie wirklich Abschied von meinem Sohn genommen habe. Die Besuche bei der Frau verhinderten eine aktive Trauerarbeit und gaben mir mit der Zeit auch das Gefühl, dass der Kontakt zu meinem Sohn mir nicht gelingt, sondern mein Sohn sich an diese Frau wendete. Warum nahm er nicht mit mir direkt Kontakt auf? Heute denke ich, dass es verantwortungslos war von dieser Frau, dass sie mich so lange Zeit in einer Abhängigkeit gehalten und dadurch verhindert hat, dass ich meinen Schmerz verarbeiten konnte. Ich besuche jetzt eine Trauergruppe und mir wird dadurch vieles klarer.«

Mediumismus ist seit alters her verbreitet und wird kulturübergreifend praktiziert. Grundlage für den Mediumismus ist der Glaube an ein Jenseits, in welchem sich die Verstorbenen bzw. deren Seelen befinden. Esthers Geschichte verdeutlicht: Besonders anfällig dafür, in Abhängigkeit von einem Medium zu geraten, sind Menschen, die gerade einen Verlust erlebt haben. In dieser Situation sind Menschen ohnehin fragil und besonders vulnerabel, und manche greiEsoteriksucht

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fen nach jedem Strohhalm, der sich bietet, in der Hoffnung, noch mal Kontakt mit dem Verstorbenen zu haben. Esthers Fall ist leider kein Einzelfall. Immer wieder berichten mir Menschen von schamlosen Anbietern, welche die Trauernden finanziell ausbeuteten und in Abhängigkeitsbeziehungen führten. Wenn Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Medium und Klient entstanden sind, dann hat das in der Regel zwar kurzfristig stabilisierende Auswirkungen, längerfristig jedoch kann dies immensen Schaden anrichten und verhindern, dass Klientinnen und Klienten sich weiterentwickeln und selbstermächtigt ihre Trauer bearbeiten. Ich erinnere mich an einige Fälle, in welchen die Betreffenden regelrecht süchtig waren nach der Prognose eines Mediums und der Kontakt nach drüben ständig gesucht wurde. Gerade beim Mediumismus und auch bei der astrologischen Lebensberatung kommen bestimmte Techniken zum Einsatz, die Betroffenen suggerieren, der Berater oder die Beraterin habe tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten. Diese Zuschreibung an den Berater oder das Medium unterstützt letztlich die Abgabe von Selbstbestimmung, Deutungshoheit und Autonomie. Sicherlich hilft der Besuch bei einem Medium manchmal bei der Verarbeitung von Trauer (Pohl, Künstle u. Sörries, 2021). Menschen, die nach dem Tod eines Nahestehenden ein Medium aufsuchen, schreiben dem Medium häufig jedoch die Fähigkeit zu, besser in Kontakt mit dem Verstorbenen treten zu können, als sie es selbst vermögen. Der Glaube, selbst einen inneren Kontakt mit dem Verstorbenen herzustellen, ist erschüttert, und die Kompetenz dafür wird nach außen abgegeben. Eine große Verantwortung, die hier in die Hände eines Mediums gelegt wird. Das Angebot im Bereich Mediumismus oder Channeling ist breit gefächert. Es gibt Medien, die in der Szene regelrechten Popstarstatus erlangt haben, ganze Säle füllen und im Schein des Rampenlichts Kontakte zu Verstorbenen knüpfen. Auf der anderen Seite gibt es auch weniger bühnenaffine Medien, die ihre Dienste über Internet und Anzeigen offerieren und im stillen Kämmerlein gemeinsam mit dem Klienten einen Kontakt herstellen. Auch mediumistische Sitzungen und Zirkel werden in jeder größeren Stadt angeboten.

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Warum Sie glauben, dass Ihr Medium übernatürliche Fähigkeiten hat

• Cold Reading: Interviewartige Situation, der Eindruck eines vorhandenen Wissens soll erweckt werden. Das Medium tastet sich am Anfang oft mit vagen Aussagen voran und spürt rasch, ob diese Zustimmung finden oder nicht. Diese kann sich durch unbewusste Körpersignale ausdrücken oder durch verbale Zustimmung. Bei manchen Klienten und Klientinnen entsteht so der Eindruck, das Medium verfüge tatsächlich über übernatürliche Fähigkeiten und sei in der Lage, dem Gegenüber ins Gehirn zu schauen. Diese rhetorische Technik kann manchmal zu unverhofften Treffern oder zu sehr präzisen Aussagen führen. • Barnum-Effekt: Allgemeinposten, die spezifisch klingen, aber auf die meisten Menschen zutreffen. (»Manchmal sind sie gern allein, aber es gibt auch Tage, da mögen Sie Gesellschaft.«) • Zutreffende Aussagen werden besser erinnert. • Hot Reading: Das Medium recherchiert vorab.

Im Fall von Esther hätte es in der Verantwortung des Mediums gelegen, zu erkennen, dass die Klientin in eine Abhängigkeit geraten war. Diese Abhängigkeit verhinderte die weitere Trauerarbeit und vergrößerte die persönlichen Probleme der Betroffenen, da sie nun auch noch Schulden hatte. Was sollten Sie also beachten, wenn Sie dennoch Lust verspüren, sich Hilfe bei einem Medium zu holen? Achten Sie darauf, dass Ihre Selbstwirksamkeit und Entscheidungsfähigkeit gefördert und nicht untergraben werden. Keiner kennt den Verstorbenen besser als Sie selbst, keiner weiß besser Bescheid, was gut ist für Sie und welche Entscheidungen Sie treffen sollten. Lassen Sie sich also nicht in die Irre leiten. Seien Sie außerdem kritisch mit den angewandten Techniken. Manch eine Technik stellt einen Kontakt zu Ihrem Unbewussten her und bedarf deswegen einer guten Vor- und Nachbereitung. Dies ist Esoteriksucht

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bei mediumistischen Zirkeln und Sitzungen zumeist nicht gewährleistet. Gehen Sie außerdem nicht zu oft zu einem Medium. Handelt es sich um eine einmalige Angelegenheit, kann dies, selbst wenn die Erfahrung negativ ist, dazu beitragen, dass eine innere Auseinandersetzung angestoßen wird. Sobald sich jedoch Tendenzen entwickeln, häufiger ein Medium aufzusuchen, wird es kritisch. Im Gegensatz zu einer Psychotherapie oder einer guten Trauerbegleitung wird dann eine aktive Trauerarbeit verhindert; die Trauerarbeit wird zu einer »passiven Trauerarbeit«, da nicht der Trauernde arbeitet, sondern das Medium dies an seiner Stelle tut. Meist wirkt sich ein Besuch bei einem Medium kurzfristig entlastend aus, es ergeben sich jedoch keine nachhaltigen Wirkungen, wenn der Trauernde immer wieder dorthin geht. Oben wurde bereits der Punkt der Selbstwirksamkeit angesprochen. Der Besuch bei einem Medium kann auch in einer Verantwortungsabgabe münden. Die Verantwortung für die Bearbeitung und Aufarbeitung von inneren Konflikten wird nach außen delegiert. Dies kann und sollte jedoch nicht Ziel sein. An der Hand eines Mediums Trost zu erfahren und dazu noch die Gewissheit zu spüren, dass das Medium einen ganz besonderen Draht nach drüben hat, kann zunächst helfen, stabil zu bleiben. Die längerfristige Wirkung kann aber eine »verschleppte Trauer« sein. Es gibt heutzutage vielerorts Selbsthilfegruppen für Trauernde. Eine Gruppe mit Menschen, die Ähnliches durchleben, ist sehr hilfreich und kann sich stabilisierend auswirken. Man ist nicht allein in seiner Verzweiflung und Trauer. ASTROSUCHT

Im Grunde ähnelt die Astrosucht der Mediumsucht strukturell. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied in der Ursache für das Suchtverhalten. Menschen, die in eine Mediumsucht geraten, haben oft ein Verlusterlebnis. Menschen, die von astrologischen Lebensberatern abhängig sind, suchten typischerweise Rat in Entscheidungsfragen oder Liebesdingen. So auch Rosa (53 Jahre): »Nach meiner Scheidung ging es mir sehr schlecht. Ich wusste nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Eine Freundin empfahl mir damals 116

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den Besuch bei einem astrologischen Lebensberater. Sie schwärmte regelrecht von ihm. Er habe ihr bei ihrer Trennung damals optimal geholfen. Ich ging dahin, in der Hoffnung, dass er mir in meinen verkorksten Liebesdingen helfen könnte. Das tat er, er versprach mir, dass die Sterne gut stünden und ich bald ein neues Liebesglück finden würde. Er gab mir Tipps. Das half mir über den Schmerz. Ich war aber sehr unsicher. Und so fragte ich immer wieder bei anderen Astrologen nach, weil ich zwar Männer kennenlernte, aber mir nicht klar war, ob es nun die große Liebe war oder nicht. Ich wollte mich dieses Mal absichern, bevor ich mich richtig in eine Beziehung hineingab. Mein Exmann hatte mich betrogen, so etwas wollte ich nicht noch einmal erleben. Ich hatte kein Vertrauen mehr. Deswegen vertraute ich einem Medium. Zur Sicherheit rief ich unterschiedliche Astrologen an, über die Jahre bin ich einen ganze Menge Geld losgeworden. Das große Liebesglück habe ich dennoch nicht gefunden.«

Gerade die Zunft der astrologischen Berater und Beraterinnen wird gern und oft in Liebesdingen zu Rate gezogen. Aber auch berufliche Unsicherheiten oder andere Entscheidungen werden bisweilen mit einem astrologischen Berater besprochen. Während es bei der Mediumsucht eher um eine Form der Trauervermeidung geht, handelt es sich bei Menschen, die in ein Abhängigkeitsverhältnis zu astrologischen Beratern geraten, eher um solche, die unsicher sind und sich Unterstützung bei Entscheidungen und in Liebesdingen wünschen. Kritisch wird es dann, wenn Menschen ihre Selbstbestimmung aufgeben und Rat in allen Lebenslagen vom Astrologen benötigen. In einem Fall, den ich betreute, wurde sogar bei der Wahl der Wandfarben der Astrologe befragt. Gerade die TelefonorakelHotlines verursachen dabei rasch immense Kosten, die in Extremfällen in den vier- bis fünfstelligen Bereich reichen. Verantwortung für Lebensentscheidungen werden in die Hand des astrologischen Beraters gelegt, Autonomie und Selbstbestimmung nehmen analog zum Bankkonto kontinuierlich ab. Manchmal ersetzt der Kontakt zu astrologischen Beratern auch soziale Kontakte. Ein Gefühl der Vertrautheit wird aufgebaut und lässt rasch vergessen, dass diese Vertrautheit erkauft ist. Oft fühlen sich Menschen auch sehr bestätigt durch astrologische Lebensberater. Selten wird es ungemütlich, Esoteriksucht

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meist reden solche Beraterinnen und Berater ihren Klienten nach dem Mund und warten mit allerlei selbstwertstärkenden Ansätzen auf. Dies erzeugt ein positives Gefühl und kann Unsicherheiten und Zweifel nehmen. Weil jedoch die Selbstsicherheit nicht von innen heraus, sondern durch den Astrologen entsteht, hält solch ein von außen konstruierter Selbstwert meist nicht lange an, und es bedarf nach immer kürzerer Zeit des Nachschubs.

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Tipps, um Entscheidungen zu treffen

• Befragen Sie in Entscheidungssituationen immer Kopf und Bauchgefühl. Nicht immer hat das Bauchgefühl recht. • Lassen Sie sich Zeit. • Notieren Sie Pro- und Kontra-Argumente. • Versuchen Sie, die Perspektive zu wechseln. Was würde Ihnen Ihre beste Freundin raten, was Ihre Eltern? • Gestalten Sie ein Mindmap, in dem Sie sämtliche Einfälle, die Ihnen zu der Entscheidung kommen, ordnen und notieren. • Was würden Sie Ihrem besten Freund raten, wenn er in Ihrer Situation wäre? • Kennen Sie die Konsequenzen Ihrer Entscheidung? • Licht aus: Im Dunkeln treffen wir bessere Entscheidungen. • Ausgeschlafen trifft man klügere Entscheidungen. • Entscheidungen besser stehend oder in Bewegung treffen und nicht im Sitzen oder Liegen. • Schlecht gelaunt entscheiden Sie klarer. • Wenn Sie sich zwischen zwei Optionen nicht entscheiden können, suchen Sie eine dritte Option. • Meist geben wir Bekanntem den Vorzug. • Riskante Entscheidungen werden oft durch Stress ­beeinflusst.

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HEILERSUCHT

Die dritte große Kategorie der Esoteriksucht betrifft die Heilersucht. Bei einer Heilersucht entwickeln sich Abhängigkeiten zu Akteuren auf dem alternativmedizinischen Markt. Ursache für die Konsultation eines oder mehrerer Heiler sind meist gesundheitliche Beschwerden und Schmerzen. Gerade dann, wenn Menschen bereits alles probiert haben und sich auf dem schulmedizinischen Weg keine Besserung eingestellt hat, ist das Angebot manch eines Heilers sehr verlockend. Herbert (56 Jahre): »Ich habe mir eine Skalarwellenbehandlung gegönnt. Billig war das nicht. Es war meine große Hoffnung. Ich leide seit Jahren an chronischen Schmerzen. Und der Prospekt, den mir meine Frau von der Esoterikmesse mitgebracht hat, versprach wahre Wunder. Skalarwellen können so gut wie alles behandeln. Es gibt keine Nebenwirkungen und das Ganze dauert nur ein paar Sitzungen lang. Erst mal allerdings waren langwierige Vorgespräche notwendig, der Mann pendelte mich aus, er teste meine Widerstände und stellte mir tausend Fragen. Als dann die Behandlung losging, versprach ich mir Großes davon. Ich bildete mir ein, in den ersten Wochen auch so was wie eine positive Veränderung gespürt zu haben, es ging mir gesundheitlich deutlich besser. Doch dann kamen die Schmerzen wieder. Ich ging zu einem anderen Heiler, den mir jemand empfohlen hatte. Der machte Energiearbeit und löste Blockaden. Es ging wieder ein paar Tage besser. Dann kamen die Schmerzen zurück. So geht da schon seit Jahren. Ich gehe von einem Heiler zum anderen. Manches hilft für ein paar Tage. Aber nichts hat dauerhaft genützt. Die Schmerzen kommen immer wieder. Und ich habe nun eine hohe Summe an Schulden. Aber ich will nichts unversucht lassen.«

Herbert hat verschiedenste Angebote auf dem alternativmedizinischen Markt getestet. Typischerweise bringen viele dieser Angebote eine kurzzeitige Linderung der Beschwerden, möglicherweise liegt dies am berüchtigten Placeboeffekt. In manchen Fällen berichten Menschen auch davon, dass sich durch die Konsultation eines Heilers eine langfristige Besserung eingestellt habe. Hier darf definitiv Esoteriksucht

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nicht pauschal verurteilt werden. Wenn allerdings ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht zwischen Patient und Heiler, dann lässt sich von einer Heilersucht sprechen. Solch ein Abhängigkeitsverhältnis wird in diesem Setting begünstigt durch die Vorstellung, dass nicht der Patient und dessen innere Einstellungen und Haltungen für die Heilung verantwortlich sind, sondern die magischen und übernatürlichen Kräfte oder Methoden des Heilers. Günstig für eine nachhaltige Heilung ist es, wenn Heiler Patienten deutlich machen, dass eine Verbesserung des Zustands nicht auf die Kappe des Heilers geht, sondern mitverursacht ist durch Veränderungen beim Patienten. Unglücklicherweise tun viele Heilerinnen und Heiler genau Gegenteiliges: Sie verbuchen Erfolge auf das eigenen Konto und machen den Patienten und dessen mangelnde Offenheit oder dessen innere Blockaden für Misserfolge verantwortlich. Eine perfekte Immunisierungsstrategie, die auf verschiedenen Ebenen schädlich wirken kann.

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Was tun bei Esoteriksucht?

• Seien Sie ehrlich mit sich selbst, oft dauert es lange, bis man sich eingestehen kann, dass man süchtig ist. Wenn es Ihnen gelingt, eine Esoteriksucht bei sich zu erkennen, ist ein erster und wichtiger Schritt getan. Veränderung ist nur auf dieser Basis möglich. • Holen Sie sich Unterstützung: Wenn Sie erkannt haben, dass Sie in unguten Abhängigkeiten stecken, dann scheuen Sie sich nicht, sich Unterstützung zu holen. Rufen Sie eine Beratungsstelle an oder nehmen Sie Kontakt zu einem Suchttherapeuten auf. • Knüpfen Sie an alten Kontakten an und suchen Sie neue Kontakte. • Die kognitive Verhaltenstherapie eignet sich gut zur Behandlung einer Esoteriksucht. • Machen Sie sich bewusst, dass es anstrengend wird. Rückfälle sind Teil des Prozesses. • Suchen Sie Kontakt zu einer Schuldnerberatung. • Ziel ist es, dass Sie wieder die Kontrolle über Ihr Leben erlangen. »

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• Machen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Therapeuten auf die Suche nach den individuellen Ursachen für Ihre Sucht. • Nehmen Sie wieder andere Freizeitaktivitäten auf. Knüpfen Sie an alten Interessen an. • Gewöhnen Sie sich neue Routinen an, strukturieren Sie Ihren Alltag. • Treiben Sie Sport, gehen Sie raus an die frische Luft und bewegen Sie sich regelmäßig. • Vermeiden Sie Situationen, die ein hohes Rückfallrisiko bergen.

SCHIFFBRÜCHIGE UND IHRE GESCHICHTEN »Wer in die Welt hinausschifft, wird einmal seekrank.« (Wolfgang Menzel)11

In diesem Teil lade ich Sie ein, die Geschichten einiger »Schiffbrüchiger« kennenzulernen. Dies ist in vielerlei Hinsicht nützlich. Denn diese Schiffbrüchigen sind offenbar nicht untergegangen, sondern haben es an Land (oder in Rettungsboote) geschafft. Die Auswahl der vorgestellten Fälle ist bewusst defizitorientiert, es werden solche Fälle vorgestellt, in welchen Weltanschauungen zu Krisen und Problemen führten. Warum defizitorientiert – bei dem Loblied, das allerorts auf Spiritualität gesungen wird? Mir ist vollkommen bewusst, wie positiv sich Spiritualität auf die psychische Gesundheit auswirken kann, wie förderlich es für viele Menschen ist, in einer Glaubensüberzeugung Halt zu finden, und wie viel Entlastung und Orientierung Gruppierungen geben können. Und trotz unzähliger positiver Faktoren wenden sich Menschen an uns, die mit ihrem Glauben oder ihrer Gruppierung Schiffbruch erlitten haben. Ganz im systemischen Sinn sehe ich Krisen auch als Chance zur Veränderung. Oft stecken Ängste und Befürchtungen hinter 11 https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_wolfgang_menzel_thema_abenteuer_ zitat_39730.html (16.07.2021). Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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krisenhaften Entwicklungen. Es gibt viele Möglichkeiten und Wege, in eine Krise hineinzugeraten – genauso viele Wege gibt es heraus. Ich möchte im Folgenden anhand verschiedener Fallbeispiele Ursachen für spirituellen Schiffbruch nachspüren. Manche dieser Entwicklungen sind keinesfalls neu, so weiß man schon lange, dass Bilder eines strafenden Gottes sich nicht immer förderlich auf die psychische Gesundheit auswirken. Andere Probleme allerdings entstehen auch durch die neuen, teilweise stark konsumorientierten Angebote auf dem Markt der Weltanschauungen. Mit der Auswahl der folgenden Beispiele konzentriere ich mich insbesondere auf solche Fälle, die mir in meinem Beratungsalltag häufiger begegnen. Es wäre verführerisch, Namen von Gruppierungen oder unseriösen Coaches und Gurus zu nennen und bestimmte Bewegungen damit an den Pranger zu stellen. Ich habe mich dafür entschieden, dies nicht zu tun. Warum? Oft geht es um gruppenübergreifende Strukturen, die unabhängig davon, ob jemand nun Mitglied in einer bestimmten Gruppierung ist, funktionieren. Sobald Namen von Gruppierungen oder einzelnen Personen genannt werden, geht der Blick auf diese, und sehr rasch wird die Verantwortung für die krisenhafte Entwicklung einzig bei dem Anbieter und dessen unseriöser Haltung gesehen. Wir werden viele Beispiele sehen, in welchen verantwortungslose Anbieter Abhängigkeiten erzeugten und auf anderen Ebenen schädigten. Daraus allerdings eine alleinige Verantwortung des Anbieters abzuleiten, wäre fatal, versperrt dies doch die Möglichkeit für den Betroffenen, sich selbst, seine Motivationen, Bedürfnisse und Beweggründe, sich einem solchen Anbieter anzuschließen, besser kennenzulernen. So sonderbar es überdies erscheinen mag: Manche Menschen benötigen genau solche autoritären oder einengenden Strukturen, um gut zu funktionieren und sich wohlzufühlen. Daher setze ich hier bewusst nicht beim Anbieter bzw. bei der Glaubensgruppierung an, sondern benenne allgemeine Strukturen und Bedürfnislagen. Letztlich erfordert es einen offenen und selbstreflektiven Umgang mit dem eigenen Ich, wenn eine Aufarbeitung gelingen soll. Wird jedoch eine Gruppe oder ein Anbieter zum Sündenbock erklärt, dann erschwert dies, den eigenen Bedürfnissen auf die Spur zu kommen. 122

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FALLBEISPIEL: DIE RELIGIÖSE SOZIALISATION

Beginnen wir dort, wo alles anfängt, wo der Grundstein für Glauben und individuelle Überzeugungen gelegt wird: im Elternhaus. Das Elternhaus ist der Ort, an dem wir mit Glauben in Berührung kommen oder auch nicht. Die religiöse Sozialisation von Menschen kann sehr verschieden verlaufen. Manche Fragen und Schwierigkeiten im späteren Leben können ihre Wurzel in der individuellen religiösen Lebensgeschichte haben. Aus diesem Grund ist es notwendig, einige grundlegenden Überlegungen zur religiösen Biografie und Entwicklung anzustellen. Was bedeutet es beispielsweise, in eine geschlossene oder gar extreme religiöse Gruppierung hineingeboren zu werden? Welche Besonderheiten und Fallstricke können sich aus dieser Situation ergeben? Hören wir einmal, was Jonathan (35 Jahre) dazu zu berichten hat. »Ich bin mit einem Vater aufgewachsen, der sich für Gott hält. Na ja, zumindest für seinen Stellvertreter. Mein Vater hat von sich behauptet, einen direkten Draht nach drüben zu haben, er steht mit Gott in engster Verbindung. Er ist ein charismatischer Typ, zumindest wirkt er auf andere so. Er scharte damals in den 1980er Jahren ein paar Leute um sich, Hippies, Aussteiger, Menschen, die keinen Bock mehr auf das System hatten. Meine Mutter erzählte mir später, dass er auch einige Experimente mit Drogen hatte, LSD und solche Sachen. Und mit diesen Menschen zog er in ein Bauernhaus, ohne Strom und ohne fließendes Wasser. Mein Vater arbeitete nicht, sondern sein Job war es, die Botschaften, die er von Gott empfing, an den Mann oder die Frau zu bringen. Er nahm Kassetten auf, später CDs. Meine Mutter tat alles, was ihr gottgleicher Mann ihr sagte. Sie war ein Schatten in seinem Licht. Früher war ich stolz, diesen Halbgott meinen Vater nennen zu dürfen. Wir lebten sehr abgeschieden in der Natur und in Armut. Wir bauten unser eigenes Gemüse an, holten Wasser von einem Brunnen und lebten von der Hand in den Mund. Ich habe noch das Bild im Kopf, wie meine Mutter abends am Spinnrad sitzt und Wolle spinnt. Aus dieser Wolle wurden Pullover gestrickt. Viel von damals würde ich heute irgendwie cool finden, alternativ und nachhaltig eben. Als ich aber in die Schule kam, stellte ich zum ersten Mal fest, dass ich anders bin Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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als die anderen Kinder. Angefangen bei der Kleidung bis hin zu meinen Pausenbroten. Die Kinder redeten über meinen eigenartigen Vater, der mit seiner langen Zottelmähne in Jesusschlappen zur Schule kam. Mir war das unangenehm, ich wollte so sein wie die anderen. Nun, je älter ich wurde, desto kritischer wurde ich und desto schlimmer wurde es mit meinem Vater. Gott sagte ihm immer abstrusere Dinge. Gott befahl ihm, meine Mutter zu verlassen, und stattdessen nahm er sich gleich zwei Geliebte aus seiner Anhängerschaft. Eine war erst 16! So alt, wie ich damals war. Das widerte mich an. Das ging gar nicht. Meine Mutter ging, und mit ihr gingen auch drei meiner Geschwister. Auch ich wollte nichts mehr mit diesem Mann zu tun haben. Das mit der 16-Jährigen hatte das Fass zum Überlaufen gebracht […]. Mein Vater schlug uns oft, als wir Kinder waren. Er rechtfertigte das mit der Bibel. Die Rute der Zucht und so … Je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, dass mit meinem Vater etwas nicht stimmte. Andere Väter waren anders. Als ich 17 war, brach ich endgültig mit ihm. Ich möchte mit Religion einerseits nichts mehr am Hut haben. Andererseits verfolgen mich manchmal noch Vorstellungen, die völlig irrational sind: Was, wenn mein Vater doch richtig lag? Sollte ich mehr fasten, beten, Buße tun? Ich weiß, er ist krank. Trotzdem wirkt diese regelgeleitete Erziehung in mir, die ich jahrelang genossen habe. Immer nur Verbote und Gebote. Ich bin auf der Suche nach meinem Glauben, und ich lehne Glauben ab, schizophren irgendwie, ich weiß. Zwar lehnte ich zeitweise auch all das ab, was meine Eltern in der Kindheit lebten, heute aber finde ich manches gar nicht mehr so verkehrt.«

Die individuelle religiöse Sozialisation legt gewissermaßen den Grundstein für unser Glaubensfundament. Keine religiöse Biografie ist wie die andere. Wir können auch die religiöse Biografie kaum isoliert betrachten, sondern es macht Sinn, diese in Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung des Kindes zu sehen. Werfen wir mal einen kurzen Blick, auf das, was die Religionspsychologie zur religiösen Entwicklung des Menschen zu sagen hat. Jahrzehntelang galten die psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Verstehenszugänge zu religiöser Entwicklung als aufschlussreichste religionspsychologische Perspektive. Seit den 1980er Jahren spielen die Entwicklungstheorien Piagets eine große Rolle in Pädagogik und Religionspsychologie. Spä124

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ter lieferten auch Kohlberg (Kohlberg u. Lindquist, 1974), Fowler (2000) und in Deutschland beispielsweise Oser und Gmünder (1984) weitere wichtigen Beiträge. Gegen die Annahme Piagets, der meinte, religiöse Vorstellungen würden spätestens in der Pubertät durch ein naturwissenschaftliches Weltbild abgelöst, sprechen neuere Untersuchungen der genannten Autoren, die zeigen, dass das religiöses Bewusstsein als eigenständige Größe der menschlichen Entwicklung für alle Lebensphasen ernst genommen werden sollte. Fowler entwirft ein Stufenmodell der religiösen Entwicklung und definiert Glauben entgegen früheren Autoren eher als Sinnsuche. Fowler (2000) sieht in den frühen Erfahrungen von Urvertrauen die Entwicklung eines undifferenzierten Glaubens. Wenn Kinder in die Schule kommen, findet sich oft ein mythisch-wörtlicher Glaube, das bedeutet Kinder, nehmen Glaubenssymbole wörtlich und verstehen noch nicht die Bedeutung hinter bestimmten religiösen Symbolen. Mit der Identitätssuche in der Jugend wachsen die Autonomie und das Bedürfnis nach Abgrenzung vom Elternhaus. In dieser Zeit suchen Jugendliche nach neuen Vorbildern, die bei der Ausformung von Werten und Glauben prägend sein können. Eine bewusste Reflexion des eigenen Glaubens findet jedoch meist erst im frühen Erwachsenenalter statt. Typischerweise können in dieser Zeit auch Zweifel und Kritik auftreten, so wie das bei Jonathan geschah. Für viele spielt Glaube in dieser Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Erst im mittleren Lebensabschnitt gewinnt Glaube wieder an Bedeutung im gelebten Leben. Die Toleranz gegenüber Mitmenschen nimmt zu, und vieles wird gelassener gesehen. Die Suche nach Wahrheit ist in dieser Zeit prägend. In wenigen Fällen kann sich daran anschließend eine Form des universalen Glaubens herausbilden, als prominente Beispiele nennt Fowler Gandhi oder Mutter Teresa. Dieses Modell Fowlers wird immer wieder kritisiert, da es teilweise stark pauschalisierend ist und die Erkenntnisse auf einer dünnen Datenlage basieren (Bosold u. Kliemann, 2003). Was sind nun aber Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit der religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? Deutlich wird: Jugendliche übernehmen nicht einfach so den elterlichen Glauben, sondern Phasen der Auseinandersetzung sind typisch in religiösen Biografien. Glaube überträgt sich nicht von selbst von Eltern auf Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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Kinder, sondern es erfolgt eine Phase der intensiven eigenen Auseinandersetzung. Idealerweise wissen Eltern dies und respektieren es wertschätzend. Entwicklungen lassen sich auch nicht prognostizieren, sondern sind meist sehr individuell. In Jonathans Familie gab es noch sieben weitere Geschwister. Die religiöse Entwicklung dieser Familienmitglieder verlief sehr unterschiedlich, längst nicht alle Geschwister distanzierten sich vom Glauben der Eltern. Einflüsse aus dem Umfeld spielen hier eine Rolle, ebenso individuelle Charaktereigenschaften und Bedürfnisse. Auch spätere Lebensereignisse können wichtige Auswirkungen auf die religiöse Biografie haben (Schweitzer, 2004). Was jedoch auch deutlich wird: Frühe Bindungserfahrungen spielen eine fundamentale Rolle bei der Bindung an eine metaphysische Entität. Die Entwicklung eines Grundvertrauens in den ersten Lebensjahren ist von immenser Bedeutung für die spätere Glaubensentwicklung. O U RS E L DO IT Y

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Urvertrauen Wenn wir über Urvertrauen sprechen, hilft es auch, über Urmisstrauen zu reflektieren: • Kennen Sie das Gefühl, misstrauisch zu sein? • Wem misstrauen Sie? In welchen Situationen? • Wann war Ihr Misstrauen hinderlich? • Wann war es gut, misstrauisch zu sein? • Was müsste sich verändern, damit Sie mehr vertrauen können?

Weiter spielt die Familie als primäre Sozialisationsinstanz eine fundamentale Rolle bei der Glaubensentwicklung. »Die meisten Menschen erwerben ihre religiöse Haltung, indem sie im Lauf ihrer Sozialisation in eine Gemeinschaft hineinwachsen« (Hemminger, 2003, S. 53). Differenziert werden muss hierbei zwischen der primären Sozialisation in der Familie und der sekundären Sozialisation im gesellschaftlichen Umfeld. Bei der religiösen Sekundärsozialisation spielen neben kirchlichen/staatlichen Bildungseinrichtungen unter anderem auch religiöse Freizeitangebote, gezielte Lektüre bzw. Fort126

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bildung und Medien eine wichtige Rolle. Eltern spielen allerdings auch bei der sekundären religiösen Sozialisation eine zentrale Rolle. So können sie diese entweder unterstützen, indem beispielsweise entsprechende Angebote wahrgenommen oder geschaffen werden, oder aber auch blockieren (Grom, 2007). Was geschieht nun aber mit Kindern und Jugendlichen, die nicht unter »normalen Umständen« aufwachsen, sondern in einer »religiösen Intensivgruppe«? Typischerweise wird in solchen Gruppen die individuelle Freiheit gegen kollektive Sicherheit eingetauscht. Die Gruppe und das Wohl der Gruppe nehmen einen wichtigen, ja manchmal auch einen zentralen Stellenwert ein. In manchen Fällen wird das Wohl des Kindes dem Wohl der Gruppe untergeordnet. Biografien von Aussteigern offenbaren, dass dies zu einem nicht entwicklungsfördernden und bindungsfördernden Verhalten der Eltern gegenüber den Kindern führen kann (Kaufmann, Illig u. Jungbauer, 2020). Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe kann unterschiedliche Auswirkungen auf den Einzelnen haben. Manches, was sich für den einen stabilisierend auswirkt, entpuppt sich für den anderen als entwicklungshemmend. Hemminger (2003, S. 240) verdeutlicht überdies, inwieweit die Abwehr von Ängsten in einer religiösen Gemeinschaft mit erhöhtem Konformitätsdruck, einem Verlust an innerer Freiheit und einer Verarmung der Beziehungen zur Außenwelt einhergehen kann. Selten wird in solchen Gruppierungen eigenständiges Denken gefördert, oft wachsen Kinder mit klaren SchwarzWeiß-Strukturen auf (S. 243). Manchmal ist dies auch hilfreich, um in der eigenen Gruppe gut zurechtzukommen. Einerseits – andererseits. Auf beiden Seiten der Waagschale liegt so einiges. Deswegen lade ich Sie ein, nicht in Vorverurteilungen zu verfallen, sondern sich bewusst zu machen, was auf der einen und was auf der anderen Seite als Attraktor wirken kann. O U RS E L DO IT Y

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Kosten – Nutzen Schauen Sie sich einmal diese Tabelle an. Es gibt viele Aspekte, die sich psychisch positiv wie negativ auswirken können. Alles hat eben seinen Preis. Auch die Sozialisation in einer  » Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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geschlossenen religiösen Gruppierung. Vielleicht fallen Ihnen selbst Pros und Kontras zu Ihrer Gruppierung ein. Was war für Sie positiv und gut? Was war negativ? PRO KONTRA Elitebewusstsein erhöhter Gruppenzwang Orientierung Verlust an innerer Freiheit Spiritualität Verarmung der B ­ eziehungen Geborgenheit   zur Außenwelt Heilsversprechen starke Milieukontrolle gegenseitige Verantwortung hoher Konformitätsdruck Abwehr von Ängsten Schwarz-Weiß-Sicht der Vertrauen  Außenwelt Zugehörigkeit emotionale Abhängigkeit Handlungssicherheit Simplifizierung des Denkens Ideen Abwertung anderer Ansichten Strukturierung Überwertigkeit der eigenen übersichtlich geordnete Ideen-    und Lebenswelt

Auch in geschlossenen religiösen Gruppierungen können grundsätzlich positive Glaubenserfahrungen gemacht werden. Wo aber liegen Grenzen? Die folgende Checkliste mit einigen Fragen kann helfen, ein besseres Gespür für Grenzen zu entwickeln und einen genaueren Blick auf religiöse Erziehung zu werfen (Wunsch, 2020).

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Wann wird es kritisch für Kinder in religiösen Gruppierungen?

• Wird das Kind von den Eltern separiert? • Mischen sich andere Autoritäten außer den Eltern in die Erziehung mit ein? • Werden Kinder von der Außenwelt isoliert? • Besteht eine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Außenwelt vs. Gruppe? • Gibt es eine gruppeninterne Sprache? » 128

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• Wird auf Integration in Schule und Kindergarten Wert gelegt? • Sind Eltern zeitlich stark von der Gruppe vereinnahmt? • Werden angsterzeugende Metaphern und Gottesbilder vermittelt? • Wie wird bestraft? • Werden altersentsprechende Bedürfnisse unterdrückt? • Werden Kinder emotional, ideell oder materiell ausgebeutet? • Werden Angst oder Schuldgefühle als Erziehungsmittel eingesetzt? • Werden exorzistische Handlungen vorgenommen? • Welchen Erziehungsstil verfolgen die Gruppierung/die Eltern? • Werden die Gruppenstrukturen auch auf die Familienstrukturen übertragen? • Wie ist die Einstellung zur psychosexuellen Entwicklung? • Welches Verhalten ist erwünscht/unerwünscht? • Wie sieht es mit der gesundheitlichen Vorsorge und medizinischen Versorgung aus? • Welche Rolle hat die Frau in der Familie? • Welchen Stellenwert hat die Schulbildung?

Jonathan war es gelungen, sich von dem streng religiösen Elternhaus loszusagen. Er hatte eine Kindheit, die sehr anders war als andere Kindheiten. Er lebte abgeschieden auf einem Bauernhof, jedoch zusammen mit anderen Kindern aus der Gemeinschaft. Außenkontakte pflegte die Familie kaum, und so wuchs Jonathan sozusagen in einer Parallelgesellschaft auf. Jonathan konnte sehr differenziert auf die Vor- und Nachteile dieser besonderen Sozialisation blicken, er sah auch einige positive Aspekte. Manchmal fällt es schwer, solche positiven Aspekte in der eigenen Biografie wahrzunehmen und wertzuschätzen. Menschen, die eine Gruppierung verlassen haben, neigen anfangs dazu, alles zu verteufeln. Was Jonathan allerdings stark belastete und beschäftigte, war das Verhältnis zu seinem Vater, der in der Gruppierung den Status eines Gurus innehatte. Waren seine frühen Jugendjahre noch davon geprägt, dem Vater gefallen zu wollen, so kam es mit 17 zu einem endgültigen Bruch. Was Jonathan half bei seiner Entwicklung zu mehr Autonomie, waren soziale Außenkontakte, welche er durch die weiterführende Schule, die er Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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besuchte, erworben hatte. Er machte gern Musik und hatte einen Musikgeschmack, der stark von der vom Vater propagierten Musik abwich. Der Vater versuchte, ihm einzureden, sein Musikgeschmack sei satanisch und vom Bösen beeinflusst. Dies war neben der Affäre des Vaters letztlich für Jonathan ausschlaggebend, sich abzuwenden. Er fühlte sich vom Vater missverstanden, unterdrückt und entwickelte in den Folgejahren eine große Abneigung und Wut auf den dominanten Vater. Mit 17 zog er aus und brach den Kontakt für die folgenden zehn Jahre völlig ab. Jonathan verbalisierte eine innere Zerrissenheit, die sich auch in den Fragen nach dem Glauben widerspiegelte. Einerseits wollte er mit dem Vater nichts mehr zu tun haben, andererseits wünschte sich ein Teil in ihm Anerkennung des Vaters. Einerseits wollte er mit Religion nichts mehr zu tun haben, andererseits war er auf der Suche danach und fühlte sich haltlos. Die neu gewonnene Freiheit konnte er nur teilweise genießen. Für Jonathan war eine wertschätzende Aufarbeitung seiner besonderen Biografie wichtig.

Solche Ambivalenzen auszuhalten, ist manchmal eine der größten Herausforderungen für Menschen, die von Kindesbeinen an in stark geschlossenen Strukturen aufgewachsen sind. Die positiven Aspekte der eigenen Biografie zu entdecken, herauszufinden, weshalb diese besondere Biografie dazu beigetragen hat, dass man genau zu dem Mensch wurde, der man heute ist, gleicht manchmal der Arbeit eines Schatzsuchers. Oft muss man tief graben, bis diese verborgenen Schätze und Aspekte zutage treten. Für Jonathan bleibt es eine Herausforderung, ein anderes Gottesbild zu entwickeln. Er stellte fest, dass sein bisheriges Gottesbild starke Bezüge zur Vaterfigur aufwies und entsprechend autoritär geprägt war. Jonathan machte sich bewusst auf die Suche nach einem neuen Gottesbild (dazu mehr im folgenden Kapitel). Für Jonathan blieb die Auseinandersetzung mit dem Vater ein lebensbegleitendes Thema. Erst als er selbst Vater wurde, berichtete er, dass sich einiges zu verändern begann. Er fand sich nun »auf der anderen Seite«, war nicht mehr nur Sohn, sondern gleichzeitig selbst Vater eines Sohnes. Dies gab ihm die Gelegenheit, ins Handeln zu kommen und gewisse Muster aktiv zu durchbrechen und Dinge anders zu machen. 130

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Hin zu mehr Selbstbestimmung!

Erwachsen zu sein bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln. Wir können uns nicht auf unserer Biografie ausruhen. Hier ein Kleine-Schritte-Programm zu mehr Selbstbestimmung: • Hören Sie auf, mit dem Finger auf andere zu zeigen, ganz gleich, was diese Ihnen damals angetan haben. • Freiheit bedeutet, für das eigene Leben, für die anstehenden Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. • Sie haben die Wahl. • Vieles von dem, was Sie gerade leben, haben Sie sich vermutlich so ausgesucht. Sie haben die Freiheit, das zu verändern. Jetzt. • Lernen Sie, sich selbst, Ihre Möglichkeiten und Ihre Grenzen realistisch einzuschätzen. • Gestalten Sie in dem möglichen Rahmen, erlauben Sie sich Träume, setzen Sie Dinge in die Tat um. • Überlegen Sie sich, von wem Sie sich abhängig fühlen: Kümmerer produzieren Verkümmerte.

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Meine religiöse Geschichte Schreiben/erzählen Sie Ihre eigene religiöse Geschichte: • Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Kindheit mit Religion und Spiritualität gemacht? • Gab es bestimmte Personen, die Ihren Glauben/Nichtglauben prägten? • Gab es religiöse Rituale im Alltag? Welche? • Wann haben Sie zum ersten Mal gebetet? Haben Sie überhaupt je gebetet? Was bedeutet Gebet für Sie? • Haben Sie sich je in einer Glaubensgruppierung engagiert? • Wie hat sich Ihre religiöse Haltung im Jugendalter verändert? • Waren Ihre Freunde religiös oder spirituell? Wie äußerte sich das? » Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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• Haben Sie in der Kindheit oder Jugend spirituelle Erfahrungen gemacht? • Gab es Rituale, Feierlichkeiten oder andere Events, welche in Ihrer Jugend wichtig waren für den Glauben? • Wo stehen Sie heute? • Gab es eine Weiterentwicklung Ihrer Spiritualität? • Welche wichtigen Ereignisse prägten Ihre religiöse oder spirituelle Entwicklung? • Welche weiteren Menschen prägten Ihre spirituelle oder religiöse Entwicklung? • Sind Sie heute religiös engagiert? • Wie zufrieden sind Sie mit der Rolle, welche Spiritualität heute in Ihrem Leben spielt?

FALLBEISPIEL: FURCHT VOR GOTT ODER GOTTESFURCHT?

Gerade haben wir Jonathans Geschichte gehört. Das Bild eines strafenden Gottes, der alles sieht und sich auch noch mit den Eltern verbündet, spielte bei ihm eine wichtige Rolle. Sich mit der eigenen religiösen Biografie auseinanderzusetzen beinhaltet auch, einen Blick auf die Vorstellungen von Gott zu werfen. Im Fall von Tabea wurde ähnlich wie bei Jonathan bereits früh in ihrer Geschichte ein eher negatives Gottesbild geprägt. Tabea (44 Jahre): »Ich bin in einer sehr engen Glaubensgemeinschaft aufgewachsen. Heute bin ich 44 und blicke auf eine bewegte Zeit zurück. Ausgestiegen bin ich vor vier Jahren, als ich mir eingestehen musste, dass meine Ehe mit Norbert, auch ein Mitglied dieser Gruppierung, gescheitert war. Es gäbe viel zu berichten, aus meiner Ehe, aus meiner Kindheit in dieser Gruppe. Was ich jedoch heute mit Ihnen besprechen möchte, ist meine Angst. Ich habe Angst vor Gott. Vierzig Jahre bin ich in dem Glauben an diesen einen Gott aufgewachsen, das war für mich eine Realität. Nun habe ich mich gegen die Glaubensgemeinschaft entschieden – aus guten Gründen. Aber gibt es deswegen keinen Gott? Da bin ich mir nicht sicher. Ich muss gestehen, obwohl ich es eigentlich nicht will, glaube ich doch. Ich glaube aber nicht an einen guten Gott, sondern ich glaube an einen strafenden Gott, der mich überwacht und 132

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der unzufrieden mit meiner Entscheidung ist. Der mich bestrafen wird für meinen Ungehorsam. In den ersten Jahren war ich ein paarmal drauf und dran, reumütig zurückzukehren in die Gemeinschaft. Weil ich Angst hatte vor Gottes Strafe. Vor dem, was mir nun drohen würde. Ich weiß, das alles klingt irrational und nach jemandem, der sehr naiv ist. Aber ich versuche, einfach nur zu beschreiben, wie es in mir aussieht. Mich leitet diese Angst. Die Angst vor Gott. Die Angst vor Strafe, die Angst, versagt zu haben. Obwohl ich mir immer wieder sage, dass es Gott gar nicht gibt, wird meine Angst dadurch nicht weniger. Was soll ich tun?« Bei Tabea hat sich über viele Jahre ein Gottesbild gefestigt, das von Belohnung und Bestrafung geprägt ist. Nun, nachdem sie mit ihrem bisherigen Glauben und damit auch mit ihrem bisherigen Lebenssystem gebrochen hat, begann sie sich mit diesem Gottesbild bewusster auseinanderzusetzen. Für Tabea hat sich nach der Abkehr von der Gruppierung vieles verändert. Ihre Herkunftsfamilie, die Herkunftsfamilie ihres Mannes, ja selbst die Großeltern waren alle Teil der Glaubensgruppe. Sie wuchs daher in einem sehr glaubenshomogenen Umfeld auf, ihr wurde früh ein widerspruchsfreies Welt- und Gottesbild präsentiert, das sie stark internalisierte. Der Bruch mit ihrem Glauben war gleichzeitig auch ein Bruch mit ihren bisherigen sozialen und familiären Systemen. Diese Kopplung einer Glaubensentscheidung an eine soziale Entscheidung erschwerte ihr die Entscheidung gegen den Glauben der Gruppe sehr. Sie fürchtete, von ihrer Familie verachtet zu werden, wenn sie es wagen würde, mit dem Glauben zu brechen. Diese Befürchtungen resultierten auch aus der Erfahrung, die eine ihrer drei Schwestern gemacht hatte, welche die Gruppe im Alter von 21 Jahren verließ. Diese Schwester wurde zu keinen Festivitäten mehr eingeladen, und der Kontakt schlief über die Jahre ein. Tabea befürchtete, dass es ihr ähnlich ergehen würde. Nach ihrem Ausstieg nahm sie Kontakt zur Schwester auf, das Verhältnis intensivierte sich wieder und die Schwester war in der Folgezeit ein wichtiger Bezugspunkt, da sie gut verstehen konnte, was Tabea durchmachte. Tabea musste sich einen neuen Freundes- und Bekanntenkreis aufbauen. Sie hatte sehr damit zu kämpfen, dass ihre erwachsenen Kinder immer noch Teil der Gruppierung waren.

Glaube kann eine Prophylaxe gegen Leiden aller Art sein. Allerdings ist dies nicht immer der Fall. Dann beispielsweise, wenn negative Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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Gottesbilder vorliegen, also solche, die durch Aspekte wie Strafe, Drohung und Zorn geprägt sind, kann Glaube auch ungünstige Auswirkungen haben. Wird Gott als ein vergebender und gütiger Gott wahrgenommen, hat dies zumeist eher positive Auswirkungen. Wird Gott jedoch als strafend verortet, dann gehen damit manchmal Schuldgefühle und Ängste einher. Gerade dann, wenn Gott im Laufe der kindlichen Entwicklung als Erzieher missbraucht wird, im Sinne von »Gott sieht alles«, können sich besonders negative Effekte ergeben. Gottesbilder sind jedoch keinesfalls statisch, sondern können sich verändern – in beide Richtungen. Auch im Zusammenhang mit Krankheit, Schicksalsschlägen oder Depressionen verändern sich Gottesbilder eventuell. Utsch (2014) verdeutlicht, inwiefern frühe Bindungserfahrungen wichtig sind bei der Entwicklung von Gottesbildern. Urvertrauen spielt auch hier eine fundamentale Rolle. Wenn Sie gelernt haben zu vertrauen, fällt es leichter, auf Gott zu vertrauen. Gerade in fundamentalistischen oder geschlossenen Gruppierungen werden häufiger negative oder strafende Gottesbilder vermittelt. Gleichzeitig werden dort auch bisweilen Bindungserfahrungen gemacht, die sich ungünstig auf die allgemeine Entwicklung des Kindes und damit auch auf dessen Gottesbilder auswirken. Wenn beispielsweise Eltern zu wenig Zeit haben, einen stark autoritären Erziehungsstil pflegen, die Bedürfnisse des Kindes nicht adäquat befriedigen und wahrnehmen, dann ist Vorsicht geboten. Besonders wichtig ist es daher, frühe Bindungserfahrungen im Blick zu behalten, wenn ein negatives Gottesbild vorliegt. Deshalb kann es sinnvoll sein, das Gottesbild und allgemeine Bindungserfahrungen abzugleichen. Manchmal werden auch Aspekte von Autoritätsfiguren auf Gott übertragen. Die Erfahrungen, welche wir mit unseren Vätern und Müttern machen, sind wichtig und prägend, auch in Bezug auf die religiöse Entwicklung. Beispielsweise kann es sein, dass Menschen, die die eigenen Eltern als abweisend und wenig zugewandt empfanden, solche Aspekte auf das Gottesbild übertragen. In Jonathans Fallbeispiel wird dies deutlich. Der Umgang mit negativen Gottesbildern kann auch eine Einladung sein, tiefer in die eigene Biografie einzusteigen und sich mit seinen Wurzeln und der Herkunftsfamilie intensiv auseinanderzusetzen. Dazu empfiehlt sich eine therapeutische Begleitung. 134

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Lassen sich Gottesbilder und die Beziehung zu Gott verändern? Die Erfahrung lehrt, dass dies durchaus möglich ist, sollten die Betreffenden den Wunsch danach verspüren. Es bieten sich hier verschiedene Zugänge an. Je nachdem, in welchem Glaubenssystem ein Mensch erzogen wurde, sind die Gottesbilder mehr oder weniger geprägt durch Geschichten und Narrative aus diesem Glaubenssystem. Hinzu kommen familiäre Beeinflussungen. Welches Gottesbild wurde in der Familie vermittelt? Wurde Gott gar als Erzieher missbraucht? Ein bewusster Reflexionsprozess zum eigenen Gottesbild kann sehr hilfreich sein, wenn der Wunsch besteht, dies zu verändern. Zu verstehen, welche Elemente das eigene Gottesbild geprägt haben, ist ein erster Schritt in Richtung Veränderung. O U RS E L DO IT Y

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Gottesbilder gestalten Welches Bild haben Sie von Gott? • Beschreiben Sie Gott mit fünf Adjektiven. • Beschreiben Sie Gott durch Farben. Sie können mit diesen Farben malen, ein Papier füllen. Schauen Sie sich das Bild an. Was fühlen Sie, wenn Sie das Bild sehen? • Hat sich Ihr Gottesbild im Laufe der Jahre verändert? • Wer oder was hat Ihre Vorstellungen von Gott geprägt? • Gab es wichtige Geschichten, die Sie über Gott gelesen haben? • Gab es Schlüsselmomente? • Was ist Ihnen heute wichtig?

Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich Sabine (46 Jahre) das Wort geben: »Ich wurde sehr streng erzogen. Es wurde viel bestraft, der Ton meines Vaters glich dem eines Feldwebels. Wir mussten am Tisch sitzen, durften uns nicht dreckig machen. Meine Welt war voller Regeln, Verbote und Gebote. Mein Vater war ein Pedant, immer musste es nach seinem Willen gehen. Sonntags gingen wir selbstverständlich in die Kirche. Ich Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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hatte früh Konflikte mit den Eltern, zog aus. […] Mit 18 habe ich zum Glauben gefunden. Vorher war mir Religion nicht wichtig, weil ich das Gefühl hatte, der Gott, an den meine Eltern glauben, sei genauso ein fieser Pedant wie mein Vater, der alle bestraft, die nicht nach seiner Pfeife tanzen. Ein Pastor nahm sich meiner an. Wir führten viele seelsorgerischen Gespräche. Er erzählte mir von einem ganz anderen Gott. Von einem Gott, der barmherzig ist, der Sünden vergibt, der für die Schwachen da ist, der gütig ist. Es dauerte ein bisschen, aber irgendwann ist diese Botschaft in mein Herz gedrungen. In mir hat sich das Bild eines liebevollen, gütigen Gottvaters entwickelt, zu dem ich eine innige Beziehung habe. Eine Beziehung, wie ich sie zum meinem Vater nie hatte und haben werde.«

FALLBEISPIEL: DIE GRUPPE IST AN ALLEM SCHULD

Weiter oben haben wir gelernt: Einen Sündenbock zu küren, kann von Verantwortung entlasten und den Blick von eigenen Fehlern abwenden. Nun drehen wir den Spieß einmal um und stellen uns selbst die Frage: Haben wir nicht auch schon ab und zu Sündenböcke gekürt, Schuld und Verantwortung auf andere übertragen? In manchen Fällen werden beispielsweise religiöse Gruppierungen zum Sündenbock. Besonders häufig begegnet uns dieses Phänomen, wenn Paarbeziehungen beendet werden. Ist dann noch eine religiöse oder weltanschauliche Neuorientierung eines Partners mit im Spiel, dann kann es wie im folgenden Fall geschehen, dass die Beziehungsschwierigkeiten, welche letztlich zum Scheitern der Ehe führten, der Gruppierung zugeschrieben werden. Im Fall von Nico liegt also kein »spiritueller Schiffbruch« im engeren Sinne vor, sondern vielmehr geht es um den Schiffbruch einer Ehe, in welchem jedoch auch spirituelle Facetten eine Rolle spielten. Nico (48 Jahre): »Ich muss sagen, ich erkenne meine Exfrau kaum wieder. Sie wirkt völlig gehirngewaschen. Es ist nichts mehr übrig von der Frau, die ich mal geheiratet habe. Angefangen hat alles mit diesem Typ. Er ist Mitglied in einem schwarzmagischen Orden. Ich habe viel zu diesem Orden gegoogelt, und er ist wirklich gefährlich. Da werden nicht nur okkulte Praktiken angewandt, sondern es werden Ansichten 136

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vertreten, die sehr beziehungsschädlich sind. Tu, was du willst. Der pure Egoismus. Nun, dieser Typ mit seinem Orden hat es auf sie abgesehen, und sie war so blöd, mit ihm was anzufangen. Ich hätte ihr das alles noch verziehen und hätte sie zurückgenommen, wir haben schließlich ja auch Kinder. Aber sie brannte mit ihm durch. Dabei ist er hochgradig manipulativ, und sie ist ihm völlig untertan. Wenn ich könnte, dann würde ich mir wünschen, den Kerl gäbe es nicht. Ich denke, es muss an seinem Orden liegen, dass er sie für sich gewinnen konnte. Dort lernt man Psychotechniken, um andere Menschen gefügig zu machen. Er hat mir meine Frau regelrecht entfremdet und entzogen. Sie müssen wissen, meine Frau hat schon so eine Tendenz dazu, sich unterwürfig zu verhalten. Auch in unserer Ehe war das manchmal ein Problem. Sie lässt sich rasch rumkommandieren. Sie ist wirklich das perfekte Opfer für diese perverse Sekte.«

Nico spricht seiner Exfrau hier jegliche Entscheidungs- und Willensfähigkeit ab, er beschreibt sie als einen Menschen, der Führung braucht. Die Tatsache, dass seine Frau sich in einen anderen Mann verliebt und die Trennung initiiert hat, kann er nur akzeptieren, indem er dem Nebenbuhler unterstellt, diesem sei dies nur durch Manipulation gelungen. Am Charme oder Charisma des Nebenbuhlers liegt es in seinen Augen nicht, dass seine Frau ihm abtrünnig wurde. Auch nicht daran, dass es eventuell schon vorher Beziehungsschwierigkeiten gab. Nicos Konzept wirkt zunächst stabilisierend für den Selbstwert, allerdings wird eine bewusste Reflexion eigener Anteile, die zum Scheitern der Beziehung führten, vermieden. Manchmal schieben wir die Schuld, wenn Beziehungen zu Ende gehen, auf den Partner. Doch Nico tut dies nicht. Er externalisiert die Ursache. Seine Partnerin ist in seinen Augen Opfer von Manipulation. Ein externer Faktor kommt ins Spiel, nämlich eine Gruppierung oder ein Anbieter des Esoterikmarkts. Die Gruppierung wird mit diversen Allmachtsvorstellungen belegt, es werden Indizien gesucht zur Unterstützung der Hypothese, und letztlich wird der Gruppierung die Verantwortung für die Beziehung und deren Ende zugeschrieben. Kurzfristig wirkt dies durchaus entlastend. Nico konnte seine Partnerin so weiter idealisieren, und auch sein Selbstwert blieb vordergründig stabil. Langfristig jedoch können Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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sich daraus Ängste entwickeln – da der Gruppierung zu viel Macht gegeben wird. Zudem gelingen so eine Reflexion und Aufarbeitung nicht. Nico wünschte sich von mir weitere Informationen über die Gruppe, in der Hoffnung, so seine Sündenbockhypothese zu stützen. Ein Gespräch mit beiden Expartnern jedoch verifizierte meine anfänglichen Hypothesen. Vor mir saß eine selbstbewusste junge Frau, die keineswegs manipuliert wirkte und eine ganz eigene Sicht zum Ende der Beziehung präsentierte. Auch bei Sorgerechtsstreitigkeiten kann es passieren, dass die weltanschauliche Orientierung des Partners zum Gegenstand gemacht wird. Zwar kann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einen Einfluss auf Partnerschaften haben und selbstverständlich auch auf das erzieherische Verhalten. Gruppierungen können einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen sich verändern, nicht mehr die sind, die man kannte, wie ausgewechselt wirken. Meist ist dies gerade in der Anfangsphase der Fall. Es kann tatsächlich auch zu Entfremdungsprozessen kommen, und die Zugehörigkeit kann einen Keil in die Beziehung treiben. Dies möchte ich nicht in Abrede stellen. Aber dennoch ist zu berücksichtigen: Aufgrund bestimmter Bedürfnisse hat sich die Partnerin oder der Partner der Gruppierung oder dem Anbieter angeschlossen. Vermutlich war also schon vorher nicht alles in bester Ordnung. Möglicherweise passen die individuellen Problemlagen gut mit dem Gruppenangebot zusammen (Neuberger, 2018). Bei Nico jedoch war die Sündenbockstrategie eine Form der Externalisierung. Seine durch die Trennung ohnehin fragile psychische Struktur konnte so stabil bleiben. Er stellte sich nicht die Frage »Was hat der Nebenbuhler, was ich nicht habe?«. Es entlastet, die Schuld vorübergehend auf jemanden zu schieben. Allerdings ist das keine sinnvolle Langzeitlösung, denn meist führen unaufgearbeitete Beziehungsabbrüche in die nächste Krise. Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit bleiben auf der Strecke, wenn der Sündenbock die alleinige Verantwortung trägt. Es kann auch geschehen, dass sich regelrechte Ängste vor dem vermeintlichen Sündenbock entwickeln und sich Allmachtsfantasien einstellen. Der Gruppierung wird eine immense Macht zugeschrieben. Auch habe ich des Öfteren erlebt, dass Sündenbockzuschreibungen an Gruppierungen zu sehr ungünstigen Handlungsimpulsen führen können. 138

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Raus aus der Ohnmacht! Entscheiden Sie selbst: • Ich entscheide, wie ich die Gruppierung sehen möchte. • Ich entscheide, wie viel Macht ich dem Guru gebe. • Ich entscheide, ob ich mich mit Ursachen für die Trennung beschäftigen möchte. Schreiben Sie in Bezug auf Ihre Situation eine eigene Entscheidungsliste. Holen Sie sich die Dinge zurück, die Sie entscheiden. Sie tragen einen Teil der Verantwortung.

FALLBEISPIEL: RADIKALE GLAUBENS- UND LEBENSENTWÜRFE

Radikalität hat viele Gesichter. Wenn wir von radikalen Glaubensund Lebensentwürfen sprechen, dann tauchen vielleicht Bilder von Querdenkern, Preppern oder Neonazis vor Ihrem inneren Auge auf. Aber grundsätzlich handelt es sich bei dem Begriff »radikal« um einen neutralen Begriff – so viel vorweg. Wir werden hier nicht über politische Radikalisierung sprechen, sondern die religiöse Radikalisierung von Menschen ins Auge fassen. Gruppen, und insbesondere religiöse Intensivgruppen, haben oft eine Tendenz, radikal zu werden, oben wurde erklärt, warum das so ist (s. S. 71 f.). Wenn Menschen sich radikalisieren, dann ist dies zunächst eine enorme Herausforderung für das Umfeld. Oft kontaktieren uns in solchen Fällen besorgte Angehörige oder Freunde. Denn derjenige, der sich für einen radikalen Glaubensentwurf entschieden hat, trägt oft noch die rosarote Brille und ist rationalen Argumenten kaum zugewandt. So war das auch bei Jacquelines Freundin. Jacqueline (43 Jahre): »Meine beste Freundin wird auswandern. Nach Südamerika. In so eine ultraesoterische Gruppierung. Da gibt es kein Internet, kein Handy. Man lebt auf dem Lande in einer Art Kommune, alle miteinander. Man gibt seinen gesamten Besitz an die Gemeinschaft. Ich habe den Laden mal gegoogelt und nach dem, was ich vor allem auch über den Guru dort gelesen habe, ist mir angst und bange. Der Typ ist Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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nicht umsonst in Südamerika, hier in Deutschland hat er sich seinen Ruf schon längst ruiniert. Er nutzt nun auch den Zeitgeist und bietet ein angstfreies Paradies an, für all die Impfgegner, Querdenker, Coronaleugner. In seiner kleinen, grünen Welt gibt es das nicht. Meine Freundin ist getrieben von der Angst. Sie hat Angst vor einem Umbruch des Systems, Angst davor, dass wir bald alle überwacht, gechipt oder sonst was werden. Für sie ist das alles Realität, was andere vielleicht als Verschwörungstheorien abtun würden. Und dies nutzt dieser Guru aus. Er verspricht das Blaue vom Himmel. Er kauft sich Leute mit Angst. Ich habe nun sehr Angst, sie zu verlieren. Wie soll ich Kontakt halten ohne Internet? Wie höre ich, ob es ihr gut geht? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Habe ich eine Verantwortung? Muss ich ihr sagen, dass sie auf einem Irrweg ist? Kann ich sie retten? Ich möchte sie ja auch nicht verärgern. Ich möchte nicht, dass sie sich schlecht fühlt oder ich sie angreife. Aber kann man jemanden einfach so in sein Unglück laufen lassen? Dabei zusehen und nichts tun und nichts sagen? Mir kommt das verantwortungslos und falsch vor. Ich habe den starken Impuls, etwas zu tun. Aber was?«

Einerseits war Jacqueline beeindruckt von der Radikalität, mit welcher ihre Freundin ihren Glauben und ihre Überzeugungen leben wollte. Sie konnte das Bedürfnis, aus dieser Welt auszusteigen und sich zurückzuziehen, durchaus nachvollziehen. Andererseits birgt solch ein Rückzug selbstverständlich auch Risiken. Wie viel Rückzug ist gesund und was geschieht, wenn man genug hat vom Rückzug? Wenn eine radikale Gesinnung sich verändert und man zurück in moderatere Bahnen möchte? Und wie stark beeinflusst letztlich eine Gruppe? Was macht das mit Beziehungen? Lassen sich Beziehungen überhaupt weiterführen, obwohl sich die Freundin radikalisiert? Wo beginnt die Verantwortung und wo endet sie? Ab wann kann man nur noch zusehen und jemand seinem Schicksal überlassen, und ab wann kann und muss gehandelt werden? Im Kontakt mit »sekundär Betroffenen« (Neuberger, 2018) geht es häufig um solche Fragen. Sekundär Betroffene sind meist Angehörige oder andere nahestehende Personen, die in Sorge sind um jemand, der sich einer Gruppe angeschlossen hat. Was ist eigentlich Radikalisierung? Und sind alle radikalen Menschen grundsätzlich gewaltbereit? Zunächst bedeutet »radikal« so 140

Kompass und Seekarte

viel wie »an die Wurzel gehend«. Radikal zu sein muss also nicht zwangsläufig negativ sein. Radikal zu sein, kann bedeuten, sich mit der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen und neue Lebensentwürfe zu wagen. Einerseits. Andererseits kann Radikalisierung auch zu mangelnder Kompromissbereitschaft, verengten Denkstrukturen und Schwarz-Weiß-Wahrnehmungen führen. Nicht immer ist es gefährlich, wenn Menschen radikal werden. Wichtig ist die Frage: Warum ist das bei demjenigen so? Jacqueline beantwortet uns diese Frage: Ihre Freundin hatte Angst, und gleichzeitig vermittelte ihr die Gruppe Zuversicht und Hoffnung – wirkte also gegen diese Ängste. Wenn Sie Menschen in Ihrer Umgebung haben, deren Entwicklungen Ihnen Sorge bereiten, dann versuchen Sie zunächst zu verstehen, was diese Menschen wirklich umtreibt. Oft sind das nachvollziehbare Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche. Die Wege in radikale Glaubens- oder Lebensentwürfe können sehr verschieden sein. Versuchen wir also, erst mal besser zu verstehen, weshalb sich Menschen in spiritueller Hinsicht radikalisieren. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt dabei das Internet. Aber auch persönliche soziale Kontakte können ein Radikalisierungsmotor sein. Oft besteht bei Menschen, die einen radikalen Glaubenswandel vollziehen, eine gewisse Unzufriedenheit mit den gegebenen Umständen, manchmal liegen auch bestimmte Grundbedürfnisse brach. Dies kann eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Lebensmodell sein, aber auch eine politische oder religiöse Unzufriedenheit. Manchmal sind damit auch Identitätskrisen verbunden. Man ist sich seiner selbst nicht sicher, befindet sich in einer Umbruchphase, lernt sich vielleicht gerade neu kennen. Deswegen radikalisieren sich besonders häufig auch Jugendliche und junge Erwachsene. Trifft man dann auf eine Gruppe Gleichgesinnter, wirkt dies wie ein Katalysator. Endlich sind da Menschen, die ähnlich denken und fühlen. Endlich gibt es Konzepte, die der Unzufriedenheit etwas entgegensetzen, die Hoffnung machen und aus der Starre lösen. Meist bietet die neue Gruppierung eine klare ideologische Ausrichtung und Regeln, die Orientierung schaffen. Die Phase der Orientierungslosigkeit, Suche und Unzufriedenheit ist vorbei, und dies kann zu regelrecht euphorischen Gefühlen führen. Der Betreffende fühlt sich voller Energie, beflügelt und glücklich. In der Vergangenheit waren es vor allem Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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junge Menschen, die sich durch extremistische oder radikale Lebensentwürfe und Gruppierungen angezogen fühlten. Allerdings beobachten wir hier derzeit eine Veränderung. Immer häufiger erfahren wir von jungen Erwachsenen, dass die Eltern (meist im frühen Rentenalter) beginnen, sich zu radikalisieren. Möglicherweise befinden sich auch Rentner in einer ähnlichen Umbruchphase wie junge Menschen: Ein Lebensabschnitt geht zu Ende, man ist auf der Suche nach neuen Aufgaben und Zielen. Ein Radikalisierungsprozess kann sehr schleichend ablaufen oder auch rasch und unvorhersehbar.

»

Radikalisierung erkennen

• Plötzlicher und umfassender Wandel auch in äußerlicher Hinsicht (Kleidung, Haarschnitt, Präferenzen, Freizeit). • Tunnelblick: Die Welt wird nur noch aus einer Perspektive betrachtet. • Ein Feindbild wird gepflegt (die bösen Medien, die bösen …). • Aufgesetztes Selbstbewusstsein. • Entfremdung von Familie und sozialem Umfeld.

In Jacquelines Fall war es wichtig, mit ihr gemeinsam zu verstehen, welche Gründe die Freundin für ihre Radikalisierung haben könnte. Dieses empathische Verständnis ist eine wichtige Grundlage und verhindert eine vorschnelle Abwertung oder eine verächtliche Haltung. Jacqueline wollte jedoch den radikalen Gesinnungswandel nicht unkommentiert stehen lassen, sondern es gelang ihr, auf freundliche und wertschätzende Weise ihre Sorge zum Ausdruck zu bringen. Sie vermittelte, dass ihr die Freundschaft wichtig sei, und konnte über ihre Sorgen sprechen, den Kontakt zu verlieren. Dies gelang ihr ohne Vorwürfe und Verurteilungen. Beide vereinbarten, sich regelmäßig Lebenszeichen zu schicken. Ein Besuch wurde geplant. Außerdem bot Jacqueline der Freundin ihre vorbehaltlose Unterstützung an, sollte diese irgendwann einen Ausstieg erwägen. Sie zeigte Interesse an dem neuen Lebensmodell der Freundin, machte jedoch auch immer wieder deutlich, dass dies nicht ihres sei. 142

Kompass und Seekarte

O U RS E L DO IT Y

F!

Fragen Sie sich mal … • Weshalb löst der Glaube meiner Tochter/meines Sohnes/ Freundes bei mir so eine heftige Abwehrreaktion aus? • Was denke ich, was falsch ist oder richtig? Warum? • Welche Werte werden bei mir durch die Glaubensansichten des Gegenübers verletzt? • Welche Werte verbinden mich weiterhin mit meinem Gegenüber? • Wie viel ist mir der Kontakt zum anderen wert? • Was macht mir Angst? • Welches sind meine Befürchtungen?

Jacqueline schrieb der Freundin einen sehr liebevollen und wertschätzenden Brief zum Abschied. Dies ist eine gute Intervention, da sich schriftlich Worte besser überlegen lassen und keine vorschnellen Verletzungen geschehen. Dieser Brief wurde von der Freundin positiv aufgenommen. Dieser Fall ist sozusagen die »softe Version« einer Radikalisierung, da keine Gewaltbereitschaft oder keine menschenverachtenden Grundsätze gepflegt werden, sondern die Freundin sich lediglich auf eine besonders radikale, jedoch friedliche Lebensweise im christlichen Sinne besonnen hatte. Selbstverständlich gibt es aber auch solche Fälle, in denen Menschen sich politisch radikalisieren bzw. Gewaltbereitschaft entwickeln. Oft dominiert bei Angehörigen ein Gefühl der Ohnmacht. Eltern oder Freunde sind nicht in der Lage, einzugreifen und zu helfen. Sie können nur zusehen. Gerade die Anfangsphase ist meist sehr herausfordernd und anstrengend für das Umfeld. Der oder die Betreffende ist enthusiastisch, kaum offen für Kritik und geht manchmal allen anderen schrecklich auf die Nerven mit seiner Begeisterung für die Gruppierung. Meist haben Betreffende in dieser Phase den Wunsch, Nahestehende von ihrer »Neuentdeckung« zu überzeugen und ihre Begeisterung zu teilen. Gespräche drehen sich fast nur noch um die Gruppierung, und erste Konflikte entstehen dadurch. Schiffbrüchige und ihre Geschichten

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»

Was können Sie tun, wenn sich jemand aus Ihrem Umfeld radikalisiert?

• Kontakt halten; • gezielt auch Gesprächsthemen wählen, die nichts mit der Gruppierung zu tun haben; • gezielt zu Aktivitäten einladen, die Verbindung schaffen; • die Gesprächszeit, welche der Gruppierung gewidmet wird, limitieren; • keine Vorwürfe und Konfrontation; • statt Verurteilung den Versuch unternehmen, die Beweggründe zu verstehen, warum die Gruppierung den Betreffenden fasziniert; • auch positive Entwicklungen sehen und wertschätzen; • Kritik nur dann formulieren, wenn entsprechend auch Lob und Wertschätzung geäußert werden; • keine ungefragte Hilfe aufdrängen; • ein vertrauensvolles Verhältnis anbieten und fördern; • keine finanzielle Unterstützung an die religiöse Gruppierung; • das Selbstwertgefühl stärken; • Stärken und nicht Schwächen des Betreffenden betonen; • Alternativen aufzeigen; • die Religions- und Entscheidungsfreiheit des Einzelnen respektieren; • kein Tauziehen, keine Bekehrungsdiskussionen; • Berührungsängste abbauen.

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Kompass und Seekarte

SCHLUSSWORT

»Ein guter Kapitän wird man nicht in ruhigen Gewässern.« (aus Griechenland12)

Am Ende dieses Buches wissen Sie nun eine Menge über das, was schieflaufen kann, wenn Sie das Wagnis einer Seereise antreten. Ich hoffe, dies hält Sie nicht davon ab, Ihr ganz persönliches »Schiff des Glaubens« zu besteigen und Ihre ganz persönliche Abenteuerreise anzutreten. Vielleicht geraten Sie in einen Sturm, vielleicht erleiden Sie sogar Schiffbruch. Den Wind können wir, wie gesagt, nicht ändern. Ich möchte Sie ermutigen, das Wagnis einzugehen. John Augustus Shedd sagte einmal: »Im Hafen ist ein Schiff sicher, aber dafür ist es nicht gebaut.«13 Ich habe mit vielen Menschen, die gläubig oder spirituell sind, gesprochen. Und all diese Menschen berichteten mir von Krisen, Unwettern und Stürmen, die sie in ihrem Leben durchlebt und durchlitten hatten. Bei manchen dieser Krisen war der Glaube hilfreich. Manchmal jedoch ging der Schuss nach hinten los. Manchmal vertrauen wir eben den falschen Anbietern, manchmal verleiten uns unsere Wünsche und Hoffnungen, Angebote zu buchen, die uns mehr schaden als nützen, und manchmal merken wir, dass das, woran wir geglaubt haben, nicht mehr stimmig ist. Dennoch lohnt es sich. Denn Krisen sind, wie der Volksmund sagt, immer auch eine Chance. Nimmt man die Chance aus der Krise – wird sie zur Gefahr. Nimmt man die Angst aus der Krise – wird sie zur Chance. Ich denke, die wichtigste Botschaft am Ende dieses Buches liegt in der Aufforderung: Werden Sie Ihr eigener Steuermann. Viele Probleme, über die ich in diesem Buch geschrieben habe, entstanden, weil Menschen ihre Entscheidungsfreiheit, Autonomie und Selbst12 https://www.aphorismen.de/zitat/57512 (16.07.2021). 13 https://www.aphorismen.de/zitat/54261 (16.07.2021). Schlusswort

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bestimmung abgegeben haben und sich völlig unterordneten. Das kann zwar erst mal entlastend sein, aber manchmal verlieren wir dabei auch den Kurs aus den Augen. Deshalb möchte ich Sie ermuntern, Ihre eigenen Ziele im Auge zu behalten und immer wieder abzugleichen und sich die Frage zu stellen, ob der Kurs für Sie noch stimmig ist. Bewusst habe ich in diesem Buch darauf verzichtet, Namen einzelner Gruppierungen, Coaches oder Anbieter zu nennen. Es war mir ein Anliegen, keine Sündenböcke zu küren. Denn der Blick sollte stets auf die Passung zwischen Konsumenten und Angebot gerichtet werden. Weg also vom Täter-Opfer-Gedanken und hin zu mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung ist die Devise in diesem Buch. Dazu gehört es eben auch, darauf zu verzichten, pauschalisierende Urteile über Anbieter zu fällen. Mein Ziel war es, Konsumentinnen und Konsumenten des religiösen bzw. spirituellen Marktes zu stärken. Denn wenn diese selbstbestimmt und mit einer kritischen Haltung von ihrer Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen, dann ist es nicht so wichtig, welche Anbieter da um den Konsumenten oder die Konsumentin buhlen. Religionsfreiheit bedeutet auch zu akzeptieren, dass Menschen sich aus freien Stücken für Formen der Spiritualität entscheiden, die einengend und dogmatisch sind oder wirken. Statt dies zu verurteilen, hilft es vielmehr, von innen heraus zu verstehen, welche Gründe und Motive solche Menschen möglicherweise haben und welche gesellschaftlichen Entwicklungen dazu beitragen, dass entsprechende Bewegungen entstehen. Freiheit bedeutet eben auch, von ebendieser Freiheit keinen Gebrauch zu machen. Vielleicht haben Sie dieses Buch auch gelesen, weil ein Angehöriger oder eine Freundin »auf Abwege« geraten ist. Ich hoffe, die Lektüre hat dazu beigetragen, dass Sie die inneren Sorgen und Nöte dieses Menschen etwas besser verstehen können. Oftmals rutschen wir rasch in eine abwertende und verurteilende Haltung, wenn Menschen andersgläubig sind. Erst recht, wenn sie mit ihren Vorstellungen Schiffbruch erlitten haben. »Ich habe es dir ja schon immer gesagt« liegt uns auf der Zunge. Ich möchte dazu ermuntern, über alle Diskussionen zu den Grenzen der Toleranz, zur Gefahr diverser Glaubensanschauungen und weltanschaulichen Orientierungen 146

Schlusswort

niemals den wertschätzenden und ressourcenorientierten Blick auf den Menschen zu verlieren, der solche Anschauungen vertritt. In diesem Sinne hoffe ich, mit dem Buch dazu beizutragen, Menschen, die andersgläubig sind, nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen. Dazu gehört, ihre Bedürfnisse zu sehen und auch zu akzeptieren, dass Andersartigkeit befremdlich wirkt, Angst und Abwehr auslöst. Allzu oft schauen wir auf das, was uns voneinander trennt. Den Blick auf das, was uns miteinander verbindet, nicht zu verlieren, halte ich für eine der wichtigsten Grundlagen im Umgang mit weltanschaulich bedingten Krisen und Problemen. Ich bin sehr dankbar, dass der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, und hier insbesondere Frau Englisch, mich bei dieser Publikation in so vielfältiger Weise unterstützt haben. Mir gab dieses Buch Gelegenheit, mich selbst und mein berufliches Handeln quasi aus der Metaperspektive zu reflektieren. Gleichzeitig bin ich dankbar für das Vertrauen, welches mir entgegengebracht wurde, und dankbar dafür, dass so viele Menschen ihre Erlebnisse mit mir teilten. Auch meinem großartigen Team bei ZEBRA/BW fühle ich mich aus tiefstem Herzen zu Dank verpflichtet. Es freut mich sehr, dass das Kultusministerium Baden-Württemberg solch eine essenzielle Arbeit unterstützt und fördert. Danke, Frau Wiedemann, Herr Prof. Dr. Hermann und Herr Dr. Eppinger. Besonders danke ich auch Menschen aus meinem privaten Umfeld, mit denen ich über Glauben, Gottesbilder, Sinn- und Wertefragen diskutieren und philosophieren durfte. Allen voran möchte ich hier meine Eltern, Edwin und Ingrid Ellensohn, nennen, die einen wichtigen Grundstein für mein Interesse an Religion legten. Aber auch Sabine Fokken, Dr. Jenny Lay-Kumar, Stephi Winker, Hafize Beytur, Alexandra Henke, Ursel Donn, Ricarda Zöhn und so vielen mehr möchte ich danke sagen für spannende Gespräche, Impulse und Sichtwechsel. Ich befinde mich mit ZEBRA/BW und meinem Team auf einer spannenden Entdeckungsreise und freue mich daher über regen Austausch, kritische Anmerkungen und Inspiration. Wir sehen uns vor der Herausforderung, immer wieder auf neue Entwicklungen des religiösen Marktes zu reagieren, und sind gespannt auf Ihr Feedback. Schlusswort

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LITERATUR

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Literatur

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND HILFREICHE ADRESSEN

Wenn Sie Lust bekommen haben, das eine oder andere Thema zu vertiefen, möchte ich Ihnen hier einige Literaturempfehlungen aussprechen. Fachliteratur zum Thema spirituelle Krisen und Spiritualität im Kontext Psychotherapie: Ȥ Hofmann, L., Heise, P. (Hrsg.) (2016). Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis. Stuttgart: Schattauer. Ȥ Frick, E., Ohls, I., Stotz-Ingenlath, G., Utsch, M. (2018). Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ȥ Utsch, M., Bonelli, R. M., Pfeifer, S. (2014). Psychotherapie und Spiritualität. Berlin u. Heidelberg: Springer. Ȥ Grof, S. (1990). Spirituelle Krisen: Chancen der Selbstfindung. Stuttgart: Kösel. Literatur zu Esoterik und neuer Spiritualität: Ȥ Fischler, J. (2013). New Cage: Esoterik 2.0. Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt. Wien: Molden. Ȥ Kramer, B. (2013). Erleuchtung gefällig? Ein esoterischer Selbstversuch. Berlin: Links. Erfahrungsberichte von Aussteigern: Ȥ Stead, N. (2013). Mit Macht zu Gott. Machtmissbrauch und Radikalisierung in christlichen Gemeinschaften. Langenlonsheim: N. Stead. Ȥ Kaufmann, K., lllig, L., Jungbauer, J. (2020). Sektenkinder: Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg. Köln: Balance. 154

Weiterführende Literatur und hilfreiche Adressen

Ratgeber für Lebenskrisen: Ȥ Knipphals, D. (2014). Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind. Berlin: Rowohlt. Ȥ Neuberger, S. (2018). Menschen auf der Suche. Beratung und Psychotherapie im Umfeld von sogenannten Sekten und weltanschaulichen Gemeinschaften vor dem Hintergrund systemischen Denkens. Wien: Facultas. Ȥ Stavemann, H. (2018). Im Gefühlsdschungel. Emotionale Krisen verstehen und bewältigen. Weinheim: Beltz. Sollten Sie auf der Suche nach Ansprechpartnern und Beratungsstellen zum Thema sein, empfehlen wir die folgenden Adressen: Deutschland: Ȥ Sekteninfo Berlin – Beratungsstelle zu sogenannten Sekten und konflikthaften Angeboten, Tel.: 0049 30 90227-5574,  E-Mail: [email protected] Ȥ Sekten-Info NRW e. V., Tel.: 0049 201 234646,  E-Mail: [email protected] Ȥ ZEBRA/BW (Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg), Tel.: 0049 761 48898296,  E-Mail: [email protected] Ȥ Opferhilfe Weißer Ring, Tel.: 116 006,  E-Mail: [email protected] Österreich: Ȥ Bundesstelle für Sektenfragen, Tel.: 0043 15130460,  E-Mail: [email protected] Schweiz: Ȥ InfoSekta – Fachstelle für Sektenfragen, Tel.: 0041 44 4548080 Darüber hinaus erhalten Sie auf der Seite https://www.weltanschau­ ungsfragen.de/beratung/beratungsstellen/ einen detaillierten Überblick zu sämtlichen weiteren Beratungsstellen in diesem Themenfeld.

Weiterführende Literatur und hilfreiche Adressen

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