Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit 9783110701890, 9783110701821, 9783110702002, 2021937378

The question of the meaning of life is truly the fundamental problem of Nietzsche’s philosophy and cuts across his think

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Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit
 9783110701890, 9783110701821, 9783110702002, 2021937378

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Siglenverzeichnis
0 Einleitung
Teil I: Die ästhetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins
1 Der junge Nietzsche
2 „Die Kunst als die höchste Aufgabe und die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Lebens“ in Die Geburt der Tragödie
3 Die Rechtfertigung der Kultur, die eigentümliche Kunst der Philosophen und die Erfindung einer höheren Daseinsform in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
4 Der ästhetische Ursprung der Erkenntnis und der Mensch als „künstlerisch schaffendes Subjekt“ in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
5 Die erziehende Wirkung der Philologie und der Geschichte in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
6 Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Genius oder Nietzsches Aufgabe in Schopenhauer als Erzieher, die Wiedererzeugung Schopenhauers vorzubereiten
Teil II: Die radikale Kritik des Daseins
Nietzsches Freigeisterei und seine Herausforderung „Philosoph des Lebens“ zu werden
7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches
8 Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen
9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“ als neue Aufgabe in Die fröhliche Wissenschaft
Teil III: Überfülle des Lebens, Übermaß der Kräfte und Umwertung aller Werte
10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra
11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse
12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift. Das eigentliche Problem vom Menschen in Zur Genealogie der Moral
13 Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung
14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“. Ecce homo: Nietzsches Leben als die Geschichte einer Selbstverwirklichung der welthistorischen Aufgabe von einer Umwertung aller Werte
15 Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen Herausforderung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Nicola Nicodemo Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Herausgegeben von Christian J. Emden Helmut Heit Vanessa Lemm Claus Zittel Begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel Advisory Board: Günter Abel, R. Lanier Anderson, Keith Ansell-Pearson, Sarah Rebecca Bamford, Christian Benne, Jessica Berry, Marco Brusotti, João Constâncio, Daniel Conway, Carlo Gentili, Oswaldo Giacoia Junior, Wolfram Groddeck, Anthony Jensen, Scarlett Marton, John Richardson, Martin Saar, Herman Siemens, Andreas Urs Sommer, Werner Stegmaier, Sigridur Thorgeirsdottir, Paul van Tongeren, Aldo Venturelli, Isabelle Wienand, Patrick Wotling

Band 75

Nicola Nicodemo

Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit

ISBN 978-3-11-070182-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070189-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070200-2 ISSN 1862-1260 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data: 2021937378 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Ecce homo. Ja! Ich weiss, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr’ ich mich. Licht wird Alles, was ich fasse, Kohle Alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich. (FW, KSA 3.367)

Der Dichter einzig hat die Welt geeinigt, die weit in jedem auseinanderfällt. Das Schöne hat er unerhört bescheinigt, doch da er selbst noch feiert, was ihn peinigt hat er unendlich den Ruin gereinigt: und auch noch das Vernichtende wird Welt. (Rainer Maria Rilke, Baudelaire)

Danksagung Die vorliegende Arbeit stellt die überarbeitete Fassung meiner Doktordissertation dar, die am 12. Dezember 2014 am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Titel „Einer Aufgabe zu leben.“ Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit, vorgelegt und verteidigt wurde. Die Untersuchung geht auf eine Anregung von meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Gerhardt zurück, dem ich für die Betreuung der Arbeit zu großem Dank verpflichtet bin. Die Teilnahme an dem von ihm veranstalteten Kolloquium an der HU-Berlin war ebenfalls sehr hilfsreich. Bei Prof. Dr. Marco Brusotti und Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, die das Zweit- und Drittgutachten beigesteuert haben, möchte ich mich für hilfreiche Denkanstöße auch sehr bedanken. Ich danke auch der Regione Basilicata für die Gewährung einer Studienbeihilfe im WS 2007– 2008 und im SS 2009 sowie der Trebuth-Stiftung für ein Forschungsstipendium an der philosophischen Fakultät der Universität Greifswald von April bis Juli 2011. Dort wurde meine Arbeit von Prof. Dr. Werner Stegmaier betreut, dem ich wichtige Hinweise und Anregungen verdanke. Des Weiteren möchte ich IKH Maria Josefa Prinzessin von Sachsen sehr herzlich dafür danken, dass sie meinen unvergesslichen Aufenthalt im Nietzsche-Haus in Sils Maria vom 15. zum 28. September 2014 mit der Förderung eines außerordentlichen, zweiwöchigen Werner-Ross-Stipendiums ausnahmeweise ermöglichen konnte. Für die Betreuung in Sils-Maria möchte ich Prof. Dr. Peter André Bloch und Dr. Phil. Elke Wachendorff ebenfalls mein Dank aussprechen. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Helmut Heit, welcher mich auf freundschaftlicher und professioneller Weise unterstützt hat: Ich habe bei vielen Gesprächen mit ihm und der regelmäßigen Teilnahme des von ihm an der TU-Berlin geleiteten Berliner Nietzsche-Colloquiums zahlreiche Anregungen und bereichernde Denkanstöße zu meiner Arbeit bekommen.Vieles verdanke ich auch Prof. Dr. Steffen Dietzsch, Prof. Dr. Arturo Leite Coelo, Prof. Dr. Riccardo Dottori, Prof. Dr. Alessandro Stavru, Prof. Dr. Rainer Adolphi und Prof. Dr. Christian Benne. Ihre Freundschaft und Unterstützung trugen zum Erfolg meiner Dissertation bei und brachten meinem Berlinaufenthalt große intellektuelle Bereicherung. Wichtige Hinweise habe ich von Ph. D. Enrico Müller, Dr. Phil. Pietro Gori, Dr. Phil. Paolo Stellino, Dr. Phil. Manos Perrakis, Dr. Phil. Nikolaos Loukidelis, Dr. Phil. Klaudia Ibbeken, Dr. Phil. Roberta Pasquaré und Luca Pignatelli erhalten. Ein herzlicher Dank geht auch Stefanie Schumacher, Jessica Kiefert und insbesondere Dr. Phil. Benjamin Alberts, welche sorgfältig die Dissertation korrekturgelesen haben. Sonstige Fehler sind allerdings nur mir zuzurechnen. Ich möchte mich ferner für die akkurate Begutachtung meiner Arbeit bei den Herausgebern des wissenschaftlichen Beirats der MTNF-Reihe – Prof. Dr. Claus Zittel, Prof. Dr. Helmut Heit, Prof. Dr. Christian J. Emden, Prof. Dr. Vanessa Lemm – sehr bedanken. https://doi.org/10.1515/9783110701890-001

VIII

Danksagung

Abschließend ist meine ganze Familie zu nennen. Ohne die Anmut, Liebe und Unterstützung meiner Eltern, meiner Schwester Marianna, meiner geliebten Maria und Renata und ohne die Hilfe meiner Cousinen Antonella und Ilaria und meines Onkels Pietro wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.

Inhalt Siglenverzeichnis  . . . .

XIII

1 Einleitung Die Sinnfrage im historisch-philosophischen Kontext 1 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der 10 Sinnfrage Ziele der Arbeit 23 26 Themenübersicht

Teil I: Die ästhetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins  . . .

31 Der junge Nietzsche Die existentielle Nötigung und Bedeutung der Aufgabe 31 Nietzsches Grunderlebnis im Spiegel vom „interesselosen Sonnen35 auge der Kunst“ Philosophia facta est quae philologia fuit 37



„Die Kunst als die höchste Aufgabe und die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Lebens“ in Die Geburt der Tragödie 41



Die Rechtfertigung der Kultur, die eigentümliche Kunst der Philosophen und die Erfindung einer höheren Daseinsform in Die Philosophie im tra53 gischen Zeitalter der Griechen



Der ästhetische Ursprung der Erkenntnis und der Mensch als „künstlerisch schaffendes Subjekt“ in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 62



Die erziehende Wirkung der Philologie und der Geschichte in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 69



Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Genius oder Nietzsches Aufgabe in Schopenhauer als Erzieher, die Wiedererzeugung Schopenhauers vorzubereiten 77

X

Inhalt

Teil II: Die radikale Kritik des Daseins Nietzsches Freigeisterei und seine Herausforderung „Philosoph des Lebens“ zu werden 87  . . . . .  . .  . . .

Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches 91 92 Der Freigeist und seine Aufgabe Das historische Philosophieren und die unlogische Grundstellung des 93 Menschen zu allen Dingen Die Aufklärung als Fortsetzung der Renaissance und ihre 98 Aufgabe Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten 103 Lebensbedingungen 114 Die Aufgabe einer höheren Kultur Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen 118 118 Die Leidenschaft der Erkenntnis und das experimentelle Leben 123 Erkennen, Erdichten, Erleben „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“ als neue Aufgabe in Die fröhliche Wissenschaft 130 Der Ursprung der Erkenntnis und die neue Aufgabe 130 131 Erkenntnis als Existenzbedingung Kunst und Leben 136

Teil III: Überfülle des Lebens, Übermaß der Kräfte und Umwertung aller Werte  . . . . . .

143 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra 143 Der Anspruch auf Selbstverwirklichung Der Tod Gottes und der Sinn des Lebens 145 146 Der schaffende Leib und seine Werk- und Spielzeuge Der Mensch als der Schätzende und der Wille zur Macht 150 153 „Der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“ 156 Der befreiende Wille: Freiheit und Zeitlichkeit

 . . .

162 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse Moral als Problem 162 Die Komplexität des Willens: Wille zur Macht und Leben 164 Das Problem der Rangordnung 167

Inhalt

. . .  . . . . . . . . .

 . . . . . . 

. . . .

Das Perspektivische als Grundbedingung des Lebens 175 Vernatürlichung 178 Die neuen Philosophen

XI

173

Eine Streitfrage für eine Streitschrift. Das eigentliche Problem vom Men185 schen in Zur Genealogie der Moral Das Problem der Moral: Eine Streitfrage 185 Die epistemologischen Gründe der Genealogie und deren existentielle 186 Bedeutung 191 Schuldbewusstsein und schlechtes Gewissen Die Ambivalenz der asketischen Ideale 196 199 Nihilismus und Atheismus Die Frage nach dem Wert der Wahrheit und die Selbstaufhebung der 201 Moral 202 Der Sinn des Lebens Der Ursprung des Gewissens, der Philosoph und das souveräne 204 Individuum Die Kunst als Gegenbewegung: Von der Aufklärung zur 207 Verklärung Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung 217 Der Naturalismus in der Moral und die physiologische Auffassung des Lebens 217 Nietzsches Begriff der Freiheit und seine Stellung zur Frage nach dem 219 Sinn des Lebens Das Leben als Sinn der Kunst 222 224 Die Psychologie des tragischen Künstlers Der Einzelne und das Ganze 228 230 Die Umwertung aller Werte als „Schicksal von Aufgabe“ „Und so erzähle ich mir mein Leben“. Ecce homo: Nietzsches Leben als die Geschichte einer Selbstverwirklichung der welthistorischen Aufgabe 234 von einer Umwertung aller Werte Philosophie als „eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte“: Ein Rückblick 234 „Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe 240 …“ 243 Die „dionysische Aufgabe“ und ihre Existenzbedingungen „Der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tra246 gende Geist“

XII

 .

.

Inhalt

Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen 253 Herausforderung Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche am Leitfaden seiner selbstgestellten philosophischen Lebensaufgabe 253 277 Ausblick: Herausforderungen an alle und keinen

Literaturverzeichnis

290

Personenregister Sachregister

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Siglenverzeichnis A. Werkausgaben KGW KGB KSA KSB

Kritische Gesamtausgabe, Werke, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1967 ff. Kritische Gesamtausgabe, Briefe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1974 ff. Kritische Studienausgabe, Werke, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1980 ff. Kritische Studienausgabe, Briefe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1986 ff.

B. Siglen einzelner Werke AC Der Antichrist CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern DS David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemässe Betrachtungen I) EH Ecce homo FW Die fröhliche Wissenschaft GD Götzen-Dämmerung GM Zur Genealogie der Moral GT Die Geburt der Tragödie HL Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (Unzeitgemässe Betrachtungen II) JGB Jenseits von Gut und Böse M Morgenröthe MA Menschliches, Allzumenschliches (I und II) NL Nachgelassene Fragmente PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen SE Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemässe Betrachtungen III) VM Vermischte Meinungen und Sprüche WB Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemässe Betrachtungen IV) WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne WS Der Wanderer und sein Schatten Z Also sprach Zarathustra

https://doi.org/10.1515/9783110701890-002

0 Einleitung 0.1 Die Sinnfrage im historisch-philosophischen Kontext Die Frage nach dem Sinn, insbesondere nach dem Sinn des Lebens, ist eine der gemeinsamen und grundsätzlichen Problemstellungen der Philosophie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.¹ In diesem Zeitabschnitt erlebt die europäische Gesellschaft tiefgehende Veränderungen. Die beginnende Industrialisierung, der Aufbruch traditioneller familiärer und institutioneller Strukturen und die zunehmende Säkularisierung hatten eine wachsende Orientierungslosigkeit vornehmlich des Bürgertums zur Folge. Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus nach Hegels Tod hat die Philosophie in eine tiefgreifende Identitätskrise gestürzt.² Wie Karl Löwith im Vorwort zur ersten Auflage seiner monumentalen Studie Von Hegel zu Nietzsche schreibt: „Die Grundlagen der Geistesgeschichte, welche von Hegels Metaphysik des Geistes abstammen, haben sich seitdem bis ins Wesenslose verdünnt. Der Geist als Subjekt und Substanz der Geschichte ist nicht mehr ein Fundament, sondern bestenfalls ein Problem.“³ Löwith stellt folgerichtig die verhängnisvolle Frage: „Bestimmt sich das Sein und der ,Sinn‘ der Geschichte überhaupt aus ihr selbst, und wenn nicht, woraus dann?“⁴ Die Sinnfrage wird bereits vom späten Schelling aufgeworfen.⁵ Mit Hinweis auf die leibnizsche Theodizee fragt er nach dem Wesen des Menschen und der „Faktizität der Welt“. Er sucht nach einem letzten Grund, der den Sinn der Wirklichkeit im Ganzen begründen kann. Trotzdem bleibt Schelling dem Idealismus treu, weil er die Einheit vom Guten, Wahren und Schönen im Absoluten nicht infrage stellt. Als jedoch die Grundlagen des absoluten Idealismus — also die Einheit von Sein und Denken im Absoluten, die Einheit des Wahren, Guten und Schönen im Absoluten und die Wis-

 In diesem Abschnitt werden keine originären Forschungsergebnisse vorgelegt. Die Bemerkungen über die Frage nach dem Sinn und den philosophischen Kontexten, von denen Nietzsche beeinflusst wird, stützen sich auf jüngere Darstellungen und dienen dem Zweck, die Rahmenbedingungen für die Aufgabe vor Augen zu führen.  Wir beziehen uns auf die aufschlussreichen Monographien von Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt a. M. 1983, Søren Harnow Klausen, Verfahren oder Gegebenheit. Zur Sinnfrage in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1997, und Horst Dieter Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung zu Nietzsche, München 1990.  Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 7.  Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 8.  „Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste, und treibt mich unausbleiblich zu der Meinung von der Unseligkeit alles Seyns, einer Meinung, die in so vielen schmerzlichen Lauten aus alter und neuer Zeit sich Kundgeben. Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?“ (Werke 13, 7; zitiert nach Klausen, Verfahren oder Gegebenheit, S. 30) Siehe dazu auch Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 236 f. https://doi.org/10.1515/9783110701890-003

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0 Einleitung

senschaft vom Absoluten als philosophisches System und Darstellungsform einer Totalität — hinfällig werden, rückt die Frage nach dem Sinn in den Vordergrund. Obwohl einige Rechts- und Linkshegelianer, Positivisten und Neukantianer idealistische Gedanken — etwa den systematischen Anspruch, also die Wissenschaft als systematische Darstellung des Wissens vom Ganzen und die Geschichte als Weltgeschichte zu verstehen — übernehmen und ausarbeiten, erweisen sich die idealistischen Versuche — hauptsächlich Hegels Versuch, die vom kantischen Kritizismus verursachte Kluft zwischen der empirischen und der moralisch-vernünftigen Welt (in Gedanken) zu versöhnen — als Scheinlösung. Die idealistische Philosophie war aufgrund des Fortschritts der Wissenschaften de facto unfähig, der Mannigfaltigkeit der empirischen Welt und den realen Verhältnissen der menschlichen Lebenswirklichkeit gerecht zu werden. Mit dem Sinnverlust der hegelschen Philosophie des Geistes tut sich also ein großes Problem auf: das Wirklichkeitsproblem. Der Rekurs auf das Wirkliche erfolgt unter dem Motto: „Zu den Dingen!“ Mit dem erfolg- und folgenreichen Industrialisierungsprozess nimmt das Wissen eine zusehends wissenschaftliche Form an. Philosophie und Wissenschaft, die bei Hegel ineinander verschränkt waren, treten jetzt auseinander. Historisierung und Verwissenschaftlichung des Wissens sind die zwei Richtungen, mit denen die Identitätskrise der Philosophie in der nachhegelschen Zeit zu bewältigen scheint. Die historische Schule macht die Geschichte zum Prinzip und setzt der idealistischen Geschichtsphilosophie die Geschichtswissenschaft entgegen. Der Historismus brachte also die Verwissenschaftlichung des Wissens hervor. Durch den ständigen Rekurs auf Erfahrung stößt aber der Historismus auf das Relativitätsproblem: Subjekt und Objekt sind im Erkenntnisprozess ineinander verschränkt, und die Vernunft ist selbst historisch zu verstehen — nämlich als Produkt der Geschichte. Die daraus folgende Historisierung der allgemeinen Menschenvernunft führte zum historischen Bewusstsein bzw. zum Bewusstsein der Endlichkeit des Menschen. Vor diesem Hintergrund der Veränderung des Geschichtskonzepts durch das Relativitätsproblem gehen das Historische und das Systematische auseinander und verlieren ihre Einheit. Die Philosophie wird infolgedessen nicht mehr als Wissenschaft anerkannt und büßt ihre Prominenz ein. Von Aristoteles bis Hegel gilt Wissenschaft als Wissen des Seins und ist als solche der Philosophie gleichgesetzt. Ihre Merkmale — Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit — werden ontologisch als Wesensbestimmungen des Seins verstanden. Nach Descartes werden Philosophie bzw. Wissenschaft allmählich einer Formalisierung unterzogen. Ihre Kennzeichen bekommen gnoseologischen Charakter: Sie gelten als Struktur- und Geltungsmerkmale von wissenschaftlichen Urteilen. Unter Vernunft versteht man nun Rechenhaftigkeit. Sie ist nur noch formales Verfahrensprinzip, also Grundlage der Mathematisierung der Welt und der Organisation des Umgangs mit ihr

0.1 Die Sinnfrage im historisch-philosophischen Kontext

3

nach berechenbaren Zweck-Mittel-Relationen.⁶ Dies erfordert eine bestimmte innerweltliche Haltung zum Dasein: die Sachlichkeit. Sie wird im Zeitalter der Industrialisierung zum Bestandteil der Wissenschaft. Nur wenn der Wissenschaftler sich sachlich verhält und seine Persönlichkeit nicht wesentlich ins Spiel bringt, kann er erfolgreich sein. Die Professionalisierung der Wissenschaft geht einher mit der Entpersönlichung des zum Forscher gewordenen Wissenschaftlers. Mit der Anwendung von personenunabhängigen Prozeduren und des unmittelbaren und unausweichlichen Rekurses auf die Erfahrung, also mit der „Explosion“ des experimentellen Wissens, wird Erfahrung zum wissenschaftlichen Kriterium. Wissenschaft kann nur durch ein Verfahren der Gewinnung und Überprüfung von Wissen, also durch Forschung geleistet werden. Dies verändert das Wissenschaftskonzept, das von der kontemplativen in eine technikerzeugende Wissenschaft übergeht. Die auf innovative Forschung ausgerichtete Wissenschaft wird selbst zur Forschungswissenschaft, die ihre Identität nicht mehr in ihren — ohnehin ständig überholbaren — Inhalten, sondern nur noch in ihren Prozeduren und Methoden besitzt. Wissenschaft heißt Forschung, und der Wissenschaftler ist jetzt der Forscher, nicht mehr der Philosoph. Im Industrialisierungsprozess mit seiner ihn leitenden Idee des Fortschritts wird Wissenschaft zum Beruf. Sie erlebt einen Funktions- und Strukturwandel und wird zum Verfahren unter Produktivitätsbedingungen — Professionalisierung und Arbeitsteilung, d. h. Spezialisierung —, dessen Zweck und zugleich Wirksamkeitskriterium die Innovation ist. Das neue Konzept der Wissenschaft vollzieht sich also auf der Basis ihrer Dynamisierung und Temporalisierung. Die zum Beruf gewordene Wissenschaft wird wesentlich als industrielle Produktivkraft genutzt, die Orientierung und Organisation leisten muss und somit eine Führungsrolle in der Ergründung und Begründung der menschlichen Lebenswelt übernimmt. Weil die Wissenschaft keine philosophische Legitimation mehr braucht und auch ohne sie zur Führungsmacht wird, vollzieht sich eine Verwissenschaftlichung der Lebenswelt. Das Wissen im Zeitalter der Industrialisierung ist aber nicht unproblematisch. Die Philosophie löst sich von der Wissenschaft und ist daher ständig legitimationsbedürftig. Mit der Wissenschaft verhält es sich jedoch nicht anders.Wenn Erkenntnis auf Erfahrung und Innovation angewiesen ist und sich nur in einem Prozess ergibt, der revidierbar und überholbar ist und in eine unbestimmte Zukunft weist, was ist dann unter Wahrheit zu verstehen? Infolge der Entontologisierung und Entpersönlichung der Wissenschaft kann das Allgemeine, das verbindlich Wahre immer nur Resultat unserer Verallgemeinerungen oder eine partiell bestätigte Hypothese sein, so dass sich Wesensaussagen über die Natur, die Welt und das Leben von selbst verbieten. Ohne die philosophische Garantie, dass die Geschichte der Vernunft zugleich die Vernunft in der Geschichte offenbart und die Gesetze der Erkenntnis nicht unmittelbar den Naturgesetzen entsprechen, entsteht das Problem des Verstehens. Die Vernunft

 Wir beziehen uns nach wie vor auf Schnädelbach, der sich seinerseits auf Helmut Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt a. M. 1974, beruft.

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0 Einleitung

als tragende Macht der Geschichte und der Erkenntnis wird fragwürdig. Somit drängen sich die Fragen auf, ob Geschichte durch Erkenntnis überhaupt zugänglich sein, die Philosophie noch die Führungsrolle bei diesem Unternehmen für sich beanspruchen kann und welche Aufgabe ihr gegebenenfalls zuzusprechen ist. Die Ausgrenzung der Metaphysik bringt die Rehabilitierung der Philosophie als Erkenntnistheorie mit sich. Um ihre Lebensnähe zurückzugewinnen, alle Wirklichkeitsphänomene zu untersuchen und diese in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen, hält sich die Philosophie strikt ans „Gegebene“: Sie weist die begrifflichen Weltkonstruktionen insbesondere von Schelling und Hegel zurück und will die Bedingungen der Erkenntnis, die Bedeutungsstrukturen, Verfahrens- und Gegebenheitsweisen des Bewusstseins ausfindig machen. Die philosophischen Bestrebungen richten sich infolgedessen wiederum auf die Suche nach Wirklichkeit, Deutlichkeit und Wahrheit. Sie geht jedoch im Unterschied zur oben genannten Wissenschaft davon aus, dass die Phänomene gegeben sind, die es zu beschreiben sind. Die Philosophie verfolgt somit die Absicht, eine zuverlässige Methode zu entdecken, die sowohl Sachlichkeit als auch Wissenschaftlichkeit wieder gewähren könnte. So tritt die Logik in den Mittelpunkt der Wissenschaft. Die philosophische Hauptbemühung ist nun, die Logik wieder in eine engere Verbindung zur empirischen Wirklichkeit zu bringen und sie mit Rekurs auf die neu erblühenden Wissenschaften — insbesondere Biologie, Anthropologie und Psychologie — nach experimentellen Methoden und auf wissenschaftlichen Grundlagen umzugestalten. Auch wenn die Logik das Relativitätsproblem nicht lösen kann, muss sie die Gültigkeit der Erkenntnis und der Bedeutsamkeit der Welt gewährleisten.⁷ Mit dem Aufruf: „Zurück zu Kant!“ beginnt die Kant-Bewegung des 19. Jahrhunderts, deren zahlreiche Anhänger eine Neubegründung der Philosophie beabsichtigen und dieser eine neue Aufgabe zuweisen wollen. Die Neukantianer betreten den kritischen Weg als Methode sinnesphysiologischer, logischer oder werttheoretischer Untersuchungen. Erkenntnistheorie gleicht jedoch weder formaler Logik noch Logik im Sinne Hegels, denn sie wird als neue Grund- und Grundlagendisziplin der Philosophie verstanden. Neukantianer und frühe Phänomenologen setzen sich mit der Sinnfrage von einem sprachwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Stand-

 In diesem Zusammenhang entwickelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts die mit Dummett bekannt gewordene „Philosophie des Gedankens“, deren Hauptvertreter Frege, Husserl und der frühe Wittgenstein waren. Diese Denker verstanden Philosophie hauptsächlich als Bedeutungstheorie, deren Aufgabe in der Eruierung der objektiven und idealen Bedeutung, nicht jedoch der psychologischen Denkvorgänge bestand. Im Mittelpunkt der philosophischen Analyse standen die Bedeutungsstrukturen des Gedankens. Was „sich zeigt“, wird nicht mehr im Sinne der hegelschen Phänomenologie des Geistes als Entfaltung des Geistes durch die Geschichte untersucht. Es handelt sich im Gegenteil um „Sinnesphänomene“, bei denen das ultimativ „Gegebene“ im Bewusstsein analysiert und das Studium der Phänomene als Studium der Gegebenheitsweisen bzw. der Bewusstseinsintentionalität praktiziert wird.

0.1 Die Sinnfrage im historisch-philosophischen Kontext

5

punkt auseinander und neigen dazu, eine nichtreduktionistische Philosophie zu betreiben und auf einzelne Probleme einzugehen.⁸ Die Forderung nach einem Gesamtsinn kann nur die Lebensphilosophie erfüllen, weil sie das Leben zum Prinzip, zum Totalitätsbegriff erhebt.⁹ Sie ist nicht am Sinn des Lebens oder am Organischen interessiert, sondern setzt sich zunächst dem Idealismus entgegen. „Sie ist eine philosophische Position, die etwas, was wesentlich im Gegensatz zu Rationalität, Vernunft, Begriff oder Idee steht, zur Grundlage und zum Maßstab von allem macht: Leben als etwas Irrationales. Man kann darum die Lebensphilosophie als Metaphysik des Irrationalem und in einem wertfreien Sinne als Irrationalismus bezeichnen.“¹⁰ In dieser Hinsicht erscheint „Leben als das den Geist, die Kultur, aber auch das individuelle Bewußtsein immer schon Tragende und Umgreifende — das ist die Grundfigur der Lebensphilosophie in ihren verschiedenen Spielarten.“¹¹ Die Lebensphilosophie vertritt die These, dass nur Erleben und nicht der abstrahierende, vergegenständlichende Verstand einen wirklichen Weltzugang öffne. Die Rationalität verstellt eher die Wirklichkeit, als dass sie sie erhellt. Vernunft ist demzufolge ein Werkzeug im Dienste des Lebens.¹² Eine andere Antwort auf das Wirklichkeits- und das damit verbundene Relativitätsproblem bietet die Wertphilosophie. Die Zersetzung des metaphysischen Seinsbegriffs bringt die Ablösung des Wahren vom Guten mit sich. Losgerissen vom Guten und entontologisiert, wird das Seiende zur bloßen Faktizität. An die Stelle des Begriffs des Guten tritt der aus der Nationalökonomie importierte Wert. Wenn das seinem Gutsein entkleidete Sein, das damit zur bloßer Faktizität geworden ist, das Sollen nicht mehr zu fundieren vermag, dann vermag dies umgekehrt auch kein Gutes, das in irgendeiner Weise „ist“ oder existiert; als ein solches nicht-seiendes Gute wird aber der Wert gedacht: „Seiendes ist, Werte gelten“ formulieren dann Lotze und die Neukantianer. Zugleich sollen die Werte aber doch auch etwas Objektives sein, es soll sie geben, wenn auch nicht in der Weise des existierenden Seienden. Damit ist das Wertproblem von vornherein mit dem ontologischen Dilemma von Gegenständen belastet, die als objektiv gelten sollen, ohne zu existieren: sie sollen eben nur objektiv gelten. ¹³

 Dieser Ansatz führte zu einer Parzellierung der Wissenschaften und einer immer engeren Umgrenzung der Wissenschaftsbereiche, die eine nachhaltige Wirkung auf die zeitgenössische „analytische Philosophie“ hatte.  „Der Historismus aber hatte einmal das Erbe des absoluten Idealismus angetreten; ,Geschichte‘ war zum Begriff der Totalität avanciert und hatte die ,Idee‘ entthront, die einmal als der Inbegriff des Wahren und Verbindlichen gegolten hatte. Nun geschieht der ,Geschichte‘ ein Gleiches: ,Leben‘ wird in der Lebensphilosophie zu dem Totalitätsbegriff, dessen die Philosophie nach dem Idealismus und dem Historismus allein noch mächtig zu sein glaubt“ (Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 180).  Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 174.  Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 175 f.  Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 78, bemerkt zu Recht, dass „die These vom Werkzeugcharakter der Vernunft im Dienste des Lebens seitdem Gemeingut der Epoche ist.“  Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 199.

6

0 Einleitung

Wie bei Kant treten Sein und Sollen wieder auseinander, die Ontologie muss jetzt durch Axiologie ergänzt werden. In diesem Zusammenhang ist die Verknüpfung von „Sinn und Wert — Verstehen und Gelten“ von entscheidender Bedeutung. Nur durch einen Wertbezug ist das Seiende der bloßen Faktizität entzogen, denn so wird es beurteilbar und damit verständlich. „Die Wertphilosophie behauptet nun, dass nur das Beurteilbare sinnhaft verständlich sei; nur was wahr, gut oder schön sein könne, d. h. was potentiell auf Werte bezogen und dadurch Geltendes sei, sei ein möglicher Gegenstand von Sinnverstehen.“¹⁴ Die Wiederherstellung des Zerfalls von Sein und Sollen ist nur sekundär. Das erstrangige Problem ist dagegen der Verlust der Identität von Sein und Sinn. Geltende Werte sollen den Objektivitätsanspruch im Zeitalter der Wissenschaft, wie bei Scheler, befriedigen und, wie bei Lotze, die Sinnfrage lösen helfen. Damit weist das Wertproblem, wie bei Rickert, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens hin.¹⁵ Die Identitätskrise der Philosophie im nachmetaphysischen Zeitalter wird laut Schnädelbach von der philosophischen Anthropologie überwunden, die als Erbe der Lebensphilosophie und Wertetheorie auftritt und zugleich eine Neubestimmung der Aufgaben der Philosophie fordert.¹⁶ Die Identitätskrise der Philosophie geht in die Identitätskrise des Philosophierenden über. Das der philosophischen Anthropologie zugrundeliegende erfahrungswissenschaftliche Pathos ermöglicht, über das traditionelle, sinnlos gewordene Bild des Menschen hinauszugehen. Die Frage: „Was ist der Mensch?“ wird in die Frage „Wer sind wir?“ umgedeutet. Es wird nicht mehr nach den charakteristischen Eigenschaften der Menschengattung, sondern nach der eigenen Identität gefragt. Dies erfordert eine interpretative Leistung: Nur im Lichte der Frage nach unserer Identität wird die erste Frage verständlich. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Wirklichkeitsproblem nicht als spezifisch theoretisches Problem, sondern als ein „Problemkomplex“, als „ein allgemeines philosophisches und existentielles Bedürfnis, das sich deshalb schwierig theoretisch bewältigen lässt.“¹⁷ Dieser Problemkomplex greift auf die Aufklärung zurück und bringt zweierlei zum Vorschein: Erstens tritt die Hinfälligkeit des grundlegenden Gedankens der neuzeitlichen Philosophie hervor, dass der Sinn der Welt dem Men-

 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 201.  Heinrich Rickert, System der Philosophie I, Tübingen 1921, S. 142: „Das Wertproblem bleibt grundlegend für jede wissenschaftliche Bearbeitung der Sinnprobleme des Lebens oder der allgemeinen Weltanschauung … Sinnprobleme führen richtig verstanden immer auf Wertprobleme, denn den Sinn des Lebens deuten, heißt: die Werte zum Bewußtsein bringen, die ihm Sinn verleihen.“  Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 264: „Die Philosophische Anthropologie gehört zur Geschichte der Krise, in der der ,Zusammenbruch des Idealismus‘ die traditionelle Selbstinterpretation des Menschen stürzte, und sie bildet in einem gewissen Sinne den Endpunkt dieser Geschichte. Die nachhegelsche Revolution des Bewußtseins im Zeichen von Geschichte und Wissenschaft und ihrer Folgeprobleme läßt sich darum noch einmal rückblickend im Medium der Frage nach dem Menschen spiegeln.“  Klausen, Verfahren oder Gegebenheit, S. 24. Klausen beruft sich auf Michael Dummett und Herbert Schnädelbach.

0.1 Die Sinnfrage im historisch-philosophischen Kontext

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schen zufällt; zweitens wird die Notwendigkeit deutlich, die Zersplitterung der Wirklichkeit und den Gegensatz zwischen dem, was wissenschaftlich, und dem, was existentiell bedeutsam ist bzw. Wert hat, zu überbrücken. Klausen meint: Das Wirklichkeitsproblem ist vor allem ein Problem der Entfremdung. Was gesucht wird, ist nicht ein rein theoretischer Beweis für die Existenz der Außenwelt, sondern man verlangt, daß die Philosophie den Wirklichkeitscharakter oder die Bedeutsamkeit der Welt begreifen soll. Die einseitige Weltbeschreibung der Aufklärung muß durch ein Denken ersetzt werden, das auch der erlebten Realität Rechnung zu tragen vermag und damit den vollen Realitätsgehalt der Phänomene herausstellen kann. Vor allem ist es erforderlich, daß die Philosophie die Einheit der Wirklichkeit verständlich macht; sie soll der Welt sowie der menschlichen Existenz einen Gesamtsinn verleihen.¹⁸

Dass das Verstehen zum Problem wird, veranlasst eine Suche nach dem Sinn. Die Suche ist auf Erfahrung und Experiment angewiesen. Trotz aller ontologischen und anthropologischen Bemühungen kommt dem Suchenden somit eine immer entscheidendere Rolle zu, so dass sich die Suche nach dem Sinn allmählich als Suche nach dem Sinn des Lebens erweist. Die Etymologie des Wortes „Sinn“ verdeutlicht dies. Das Wort „Sinn“ ist durchaus vieldeutig und verweist etymologisch auf Sinnlichkeit (Wahrnehmung und Empfindung, aber auch Lust und Neigung), Verstand, Absicht, Richtung, Plan und auch auf Zweck und Ziel. Die Frage nach dem Sinn lässt sich daher jeweils semantisch als Frage nach der Grundlage der sprachlichen Bedeutungen, erkenntnistheoretisch oder psychologisch als Frage nach der Natur der Wahrnehmung und der Gegenstandskonstitution, metaphysisch bzw. theologisch im universalen und teleologischen Sinne und ethisch bzw. praktisch als Frage nach dem Sinn und Zweck des Handelns bzw. Lebens verstehen.¹⁹ Die Frage nach dem Sinn umfasst damit alle philosophischen Bereiche. Sie lässt sich nicht auf eine semantische, sprachphilosophische oder erkenntnistheoretische Ebene beschränken, sondern erstreckt sich auch auf ethische und nicht zuletzt auf metaphysische Probleme: Es wird in all diesen Bereichen nach Sinn, Wert und Zweck des Lebens gefragt. Darüber hinaus wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts

 Klausen, Verfahren oder Gegebenheit, S. 25.  Dazu Klausen, Verfahren oder Gegebenheit, S. 22, der gegen die Psychologie argumentiert: „Am Anfang dieses Jahrhunderts setzt sich in der Philosophie eine Strömung durch, die man als die ,Philosophie des Gedankens‘ bezeichnet hat und zu deren Hauptfiguren Frege, Husserl und der frühe Wittgenstein gehören. Diese Denker sind davon überzeugt, dass die Bedeutungstheorie die grundlegende philosophische Disziplin ist, und sie bestreiten hartnäckig, dass sich eine solche Theorie auf psychologische Untersuchungen stützen muss. Damit kündigen sie eine generelle Verschiebung des thematischen Schwerpunktes der Philosophie an: eine Bewegung vom Denken, im Sinne der psychologischen Denkvorgänge, zum Gedanken, im Sinne der objektiven, idealen Bedeutung. Man hat in diesem Zusammenhang von einer ,Verstoßung der Gedanken aus dem Bewusstsein‘ gesprochen; die grundlegenden Voraussetzungen der Erkenntnis und des Verstehens werden nicht mehr im Bereich des Psychologischen gesucht, sondern werden einem eigenen, unabhängigen Seinsbereich zugeordnet oder wenigstens in einer nichtpsychologischen Weise konzipiert.“

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auch ein anthropologischer und psychologischer Ansatz privilegiert und bei der Sinnfrage mit Nachdruck die erlebte Bedeutsamkeit betont. Die Sinnfrage als existentielle Frage²⁰ wurde damit zusehends als Frage nach dem Sinn des Lebens behandelt und ausbuchstabiert.²¹ Vor diesem Hintergrund bildet die Frage nach dem  In diesem Zusammenhang hat Volker Gerhardt in seinem Artikel zum Stichwort „Sinn des Lebens“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie die große Karriere der Sinnfrage in der Philosophie seit der „Kant-Zeit“ in großen Zügen geschildert (Volker Gerhardt, Art. Sinn des Lebens, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Berlin 1996, S. 815 – 824). Anknüpfend an den alten Gedanken der Bestimmung des Menschen, tritt der „Sinn des Lebens“ als Topos in der deutschen Sprache erst dank der Kritischen Philosophie von Kant auf. Der Sinn des Lebens wird also immer häufiger auf die Sphäre der Sinnlichkeit bezogen, so dass diese Beziehung bei Feuerbach, Schopenhauer, Emerson, Dühring, Hartmann, Nietzsche und Dilthey „zum Konstituens einer sinnvoll gestellten Sinnfrage“ wird. Im Lichte ihrer Philosophie wird eine Wertschätzung des Lebens zusehends von persönlichen Erfahrungen, Einstellungen und Stimmungen abhängig gemacht. Daher wird immer häufiger das Verstehen des eigenen Lebens auf das Erleben bezogen (S. 818). Dies hat zur Folge, dass allmählich Wert und Ziel des Handelns bzw. des Lebens gleichgesetzt werden. Darüber hinaus hebt Gerhardt hervor, dass – auch wenn nach Goethe, Emerson, Nietzsche, Schlick und Freud „die Sinnfrage die Folge einer physiologischen oder psychischen Schwäche sei“ (S. 821) – sich „Selbstbezogenheit und Selbstbesinnung nach Nietzsche und Dilthey auch im deutschen Sprachraum als die entscheidenden Momente in der Klärung der Sinnfrage herausstellen“ (S. 819). Laut Gerhardt üben Emerson, Nietzsche und Dilthey einen ausschlaggebenden Einfluss auf den amerikanischen Pragmatismus wie auch auf die Philosophie Bertrand Russells aus. Die von ihm anschaulich beschriebene Sinnlosigkeit des Naturprozesses wurde als Voraussetzung einer bis heute geführten Debatte akzeptiert, an der sich Popper mit seiner komplementären und anerkannten These der Sinnlosigkeit der Geschichte beteiligte. Von da an „[werden] ‚Sinn des Lebens‘, ‚Sinn des Daseins‘, ‚Sinnfindung‘ oder ‚Sinnstiftung‘ nicht kosmologisch verstanden, sondern bloß auf das Ganze des menschlichen Daseins bezogen“ (S. 819). In der modernen Debatte hat „ein für das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen so zentraler Begriff“ (S. 820) sein Recht in der Sprachphilosophie ebenso wie in der Wissenschaftstheorie, in der Geschichtsphilosophie wie in der Ethik, in der Kulturphilosophie wie in der Sozialtheorie und in der Theologie. In diesem letzten (theologischen) Zusammenhang sind die Betrachtungen von Johannes Heinrichs besonders anregend und einleuchtend. In seinem 2000 in der Theologischen Realenzyklopädie veröffentlichten Aufsatz „Sinn/Sinn des Lebens“ bekräftigt Heinrichs gewissermaßen Gerhardts Aussagen, indem er schreibt: Der Sinn bzw. die Sinnfrage „stellt nicht irgendeinen philosophischen Begriff unter anderen dar, sondern (seit der Kant-Zeit) den Inbegriff aller philosophischen Aufgaben“ (Johannes Heinrichs, Art. Sinn/Sinnfrage I. Philosophisch, in: Theologische Realenzyklopädie 31 (2000), S. 285 – 293, S. 285). Darüber hinaus unterscheidet er in der Sinnfrage ausdrücklich die Frage nach dem Sinn von der existentiellen Frage nach dem Sinn des Lebens; dabei betont er zum einen, dass die existentiell im philosophischen Bereich gestellte Sinnfrage zumindest den Bereichen der Religion benachbart ist, und zum anderen, dass man in der existentiellen Sinnfrage unausweichlich auf Erfahrungen von Sinnleere und Sinnwidrigkeit stößt, weil sie auf individuellen Erlebnissen beruht. Dies führt aber nach Heinrichs das begriffliche Denken an seine Grenzen und verweist den Menschen auf einen unbedingten religiösen Sinn (S. 290).  „Der Sinn des Lebens“ ist auch Thema und Titel eines umfangreichen im Jahr 2000 von Christoph Fehige, Georg Meggle und Ulla Wessels herausgegebenen Lesebuchs, in dem eine Vielzahl von längeren und kürzeren Texten gesammelt ist, die in verschiedenen Epochen und nicht nur aus einem philosophischen Standpunkt verfasst wurden (Christoph Fehige / Georg Meggle / Ulla Wessels (Hg.), Der Sinn des Lebens, München 2000). Das Buch bietet einen aussichtsreichen Überblick über die Sinnfrage und behandelt sie als aktuelle, nach wie vor strittige Frage. Die Herausgeber zeigen, dass die

0.1 Die Sinnfrage im historisch-philosophischen Kontext

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Sinn des Lebens einen wesentlichen Bestandteil des oben geschilderten Wirklichkeitsproblems. Im Kontext der nachhegelschen Philosophie üben Feuerbach, Schopenhauer, der Hegelianer Kuno Fischer, der Neukantianer Lange und Helmholtz einen nachhaltigen Einfluss auf Nietzsche aus. Besonders wichtig ist für ihn die Umdeutung der Philosophie Kants oder, besser gesagt, seiner transzendentalen in sinnesphysiologische Fragen. Mit Bezug auf Helmholtz ist für die Neukantianer die Lehre von den sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen der Punkt, an dem sich Naturwissenschaft und Philosophie berühren. Der Materialismus Feuerbachs ist eine Philosophie der Sinnlichkeit, und zwar nicht primär im erkenntnistheoretischen Sinne, sondern als Anthropologie des wirklichen Menschen als sinnlich-leibliches Wesen: Die Wirklichkeit, die dieses Wesen ist und in sinnlicher Erkenntnis „hat“, ist das wahre Sein und nicht die abstrakte Begrifflichkeit des hegelschen Systems.²² Wenn Feuerbach also von der Natur des Menschen spricht, ist mit Natur noch primär das sinnlich-wahrnehmbar Wirkliche im Gegensatz zur hegelschen Idee gemeint und nicht der Gegenstandsbereich der nachhegelschen Naturwissenschaft. In diesem Zusammenhang lehnt Nietzsche einerseits die These des dogmatischen Materialismus ab, der zufolge die empirische Naturwissenschaft das materielle Wesen der Welt wie ein „Ding an sich“ erkennt. Er teilt aber andererseits mit seinem Zeitalter die Historisierung des Menschen, die Reduktion der Vernunft auf Geschichte und die von der neueren Sinnesphysiologie festgestellte Abhängigkeit des jeweiligen Wahrnehmungsinhalts von den subjektiven Wahrnehmungsbedingungen. In Kontinuität mit Schopenhauer stellt er die „Universitätsphilosophie“, also die überlieferte Gestalt wissenschaftlichen Philosophierens, von Grund auf infrage. Während Schopenhauer einen ins Psychologisch-Physiologische gewandten subjektiven Idealismus vertritt, demzufolge die Welt eine subjektive Vorstellung ist, lässt sich Nietzsches Philosophie allen Gemeinsamkeiten zum Trotz zwar als scharfe Rationalismuskritik, aber nur schwer als Metaphysik des Irrationalen einordnen, wie sich zeigen wird.

Sinnfrage zwar jenseits von einem rein philosophischen Kontext als Ausdruck eines alltagssprachlichen, vorphilosophischen Denkens steht, aber zugleich in einem philosophischen Kontext eine philosophisch-geschichtliche Kontinuität aufweist. Sie ist nicht lediglich eine Frage der Moderne nach der Aufklärung, denn sie bediente sich schon in früheren Zeiten anderer Begriffe. Ferner wird der problematische Charakter der Fragestellung des Sinns des Lebens nicht außer Acht gelassen. Wenn einerseits die Unschärfe des Sinnbegriffs auch in der Frage nach dem „Sinn des Lebens“ unübersehbar wirkt, gibt es andererseits unzählige Antworten auf diese Frage, so dass es unsinnig scheint, sich überhaupt danach zu fragen. Aus diesen Gründen wird die existentielle Sinnfrage von der analytischen Philosophie verworfen: „Es gibt auf diese Fragen keine echte Antwort, und daher ist es zwecklos, sich von Philosophen eine Antwort zu erhoffen“ (Alfred J. Ayer, Unbeantwortbare Fragen, in: Fehige / Meggle / Wessels, Der Sinn des Lebens, S. 34).  Siehe dazu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 238.

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Nietzsches Kritik der Philosophie, der Wissenschaft, der Religion, des Lebens usw. ist keine gewöhnliche innerphilosophische Auseinandersetzung mit einem anderen System, sondern sie stellt den Habitus des traditionellen Philosophierens infrage zugunsten eines neuen Typus existentiellen Denkens, der das, was bislang als Vernunft, Philosophie und Leben sowie als Moral, Wissenschaft und Kunst galt, hinter sich zu lassen beansprucht. Er hat die schwere Identitätskrise der nachidealistischen Philosophie und die durch sie verursachte Aporie des Verstehens erlebt und interpretiert sie als Nihilismus.²³ Nietzsche deutet die Frage nach dem Sinn auf radikal moderne Weise derart um, dass sie nach ihm erst ganz ihre existentielle Bedeutung gewinnt. Auch wenn er also auf ausschlaggebende Weise präfiguriert, was später als Lebensphilosophie gelten soll und als deren Bahnbrecher bereits Schopenhauer anerkannt wurde,²⁴ lässt sich Nietzsches Denken keinesfalls als Irrationalismus abtun. So kühn es scheinen mag, könnte man vor diesem Hintergrund die These aufstellen, dass sich die Aufgabe der Philosophie nach dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus als, wenn auch umfassende, Sinnfrage bestimmen lässt. Das, was verstanden oder erfahren wird, also der Sinn, entsteht immer aus dem erkennenden, handelnden, bewertenden und fühlenden Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit.²⁵ Der Sinnbegriff erweist sich als Relationsbegriff. Im 19. Jahrhundert war Nietzsche der erste nachidealistische Philosoph, der die Frage nach dem Sinn auf radikale und existentielle Weise als Frage nach dem Sinn des Lebens stellte. Die Frage ist nach Nietzsche deshalb berechtigt, weil er die Geschichte des Menschen als Geschichte eines Irrtums auslegt, an deren Ende der Mensch das für ihn Entfremdendste erfährt: die Sinnlosigkeit des Lebens, den Nihilismus. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Nihilismus ist nicht plakativ wie bei Schopenhauer, sondern herausfordernd: Um die mörderischen Konsequenzen und die tiefe Erschütterung zu überwinden, in das dieses Ereignis ihn bzw. den Menschen gestürzt hat, bedarf er einer Verklärung, einer neuen, nicht-metaphysischen Sinnerfindung, die er mit einem guten Gewissen angehen kann. Aus dieser existentiellen Herausforderung heraus entsteht die Aufgabe.

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage Die vorliegende Arbeit geht von der These aus, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens das eigentliche Grundproblem von Nietzsches Philosophie bildet, und zwar

 „Die moderne Frage nach dem Sinn, wie Nietzsche sie gestellt hat, ist das Problem des Nihilismus“ (Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 203).  Siehe dazu Ferdinand Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek bei Hamburg 1993.  Wir übernehmen diese prägnante Aussage von Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2007. Obwohl Jung den hermeneutischen Kontext von Nietzsches Werk nicht ins Auge fasst, lässt sich dieser Satz für die Frage nach dem Sinn in vollem Umfang anwenden.

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage

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von seinen Frühwerken bis hin zum Programm der „Umwerthung aller Werthe“. Es soll gezeigt werden, dass sich die existentielle Prägnanz des Sinnbegriffs nur durch eine eingehende Analyse der Aufgabe erschließen lässt. Nietzsches Philosophie wurde in der Forschung mehrfach auf Grundlage der Frage nach dem Sinn des Lebens gedeutet. Der erste bedeutende Interpret, der Nietzsches Denken hinsichtlich der Sinnfrage gedeutet hat, ist Karl Jaspers. Im Mittelpunkt seines Werks Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936)²⁶ steht die Einheit von Werk und Existenz. Jaspers geht von existenzphilosophischen Prämissen aus, um Nietzsches Philosophieren in Bezug auf seine Existenz auszulegen. Was Nietzsche kennzeichne, sei nicht ein philosophisches System, sondern sein existentielles Philosophieren. Man stoße auf Grenzsituationen, die nicht nur Nietzsches Denken und Leben erklärten, sondern auch den existentiellen Zustand des Menschen überhaupt beträfen: Was das Dasein sei, diese Frage stellt der Mensch nicht, ohne zugleich zu fragen, was dieses Dasein wert sei […]; in jeder, auch der gottlosen Gestalt des Seinsbildes, kehrt die Frage wieder, subjektiv als Frage nach dem eigenen Ja oder Nein zum Leben, objektiv als Frage nach Sinn und Wert der Welt. Nietzsche hat die uralte Frage der Theodizee, die im Altertum ihre Tiefe im Prometheus des Aischylos und im Buch Hiob erreichte, in neuerer Zeit durch Leibniz rational erörtert wurde, in ursprünglicher Weise gestellt. Sein Philosophieren gewinnt den erschütternden Anstoß durch die Sinn- und Wertfrage, seine Erfüllung in der Weise seines Ja zum Sein oder vielmehr als das Denken des Ja, das ihm das Sein selbst ist. (S. 331)

Das Sein zeige sich in einem „Zustand“, in dem „die Vernunft weder Ursprung ist, noch Antwort gibt, vielmehr nur eines der Medien der Mitteilung des Seins“ sei (S. 336). Da Nietzsche laut Jaspers sein Philosophieren jenseits der Vernunft stelle, sei der Mitteilbarkeit des Seins der Boden der Allgemeingültigkeit entzogen. Das Denken stoße auf Widersprüche, an denen es existenzerhellend scheitern solle. Eine grundlegende Interpretation, die die Nietzsche-Forschung in ihren Grundtendenzen bis in die Gegenwart geprägt hat, ist das Monumentalwerk Nietzsche (1961)²⁷ von Martin Heidegger. Heidegger erklärt „die Frage nach dem Wesen des Seins“ zur „Grundfrage“ (Nietzsche, I, S. 2) der abendländischen Philosophie und rückt sie in den Vordergrund seines philosophischen Denkens. Diese Grundfrage, die laut Heidegger die eigentlich gründende sei, habe sich in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet. Stattdessen habe sich die „Leitfrage“ der Philosophie entwickelt, die fragt: „Was ist das Seiende?“ In seiner ontologischen Interpretation stellt Heidegger den Willen zur Macht, die ewige Wiederkehr des Gleichen und den Übermenschen als Wesensbestimmungen des Seienden dar. Nietzsche wird als Philosoph des Nihilismus²⁸ gedeutet, denn in der Verkündigung des Todes Gottes komme die

 Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 4. Aufl., Berlin 1981.  Martin Heidegger, Nietzsche I und II, Stuttgart 2008.  Nietzsche bringe zum Ausdruck und vollende, was mit Platon angefangen habe: die Metaphysik als Nihilismus. „Der ,Nihilismus‘ sei die zur Herrschaft kommende Wahrheit, daß alle bisherigen Ziele des

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Wahrheit zur Herrschaft, „daß alle bisherigen Ziele des Seienden hinfällig geworden sind.“ (Nietzsche II, S. 26) Der nihilistische Charakter von Nietzsches Philosophie bestehe nicht nur darin, dass er die Geschichte der abendländischen Philosophie als Nihilismus deute, sondern auch darin, dass er den Nihilismus vollende. In dieser Hinsicht verberge sich laut Heidegger in Nietzsches Gedanken „die bereits die voraufgehenden Jahrhunderte durchherrschende und das nächste Jahrhundert bestimmende geschichtliche Bewegung“ (II, S. 24). Das Ende gehe aber mit einem neuen Anfang einher, nämlich mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen: „Nietzsche schließt in seinem wesentlichen Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen die beiden Grundbestimmungen des Seienden aus dem Anfang der abendländischen Philosophie — das Seiende als Werden und das Seiende als Beständigkeit — in Eins zusammen.“ (I, S. 420) In der Weise, wie die Geschichte nicht nur gedacht, sondern auch „übernommen“ und „bejaht“ werde, ergebe sich die Möglichkeit, sich mit der bisherigen Geschichte als Geschichte des Nihilismus auseinanderzusetzen und sie zugleich zu überwinden. Dies geschehe unter zwei Bedingungen: 1) Das Denken aus dem Augenblick. Dies besagt: das Sichversetzen in die Zeitlichkeit des Selbsthandelns und Entscheidens aus dem Vorblick in das Aufgegebene und in Rückblick auf das Mitgegebene. 2) Das Denken des Gedankens als Überwindung des Nihilismus. Dies besagt: das Sichversetzen in die Not der mit dem Nihilismus heraufkommenden Lage; diese erzwingt eine Besinnung auf das Mitgegebene und eine Entscheidung über das Aufgegebene. Die Notlage selbst ist nichts anderes als das, was das Sichversetzen in den Augenblick eröffnet. (I, S. 400)

Heidegger spricht Nietzsches Aufgabe der Umwertung aller Werte eine ontologische Bedeutung zu.²⁹ Da laut Heidegger das Aufgegebene immer mit dem Mitgegebenen einhergehe, vollziehe sich in Nietzsches Aufgabe der Nihilismus und zeichne sich zugleich dessen Überwindung ab. Aus diesen Gründen sei nach Heidegger die Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie unausweichlich und von maßgebender Bedeutung. In Heideggers suggestiver Nietzsche-Interpretation sei es zwar notwendig, dass sich der Mensch, um authentisch denken bzw. leben zu können, dafür entscheide, das, was „hintereinander herläuft“ — Vergangenheit und Zukunft —, in ihm

Seienden hinfällig geworden sind.“ (II, S. 26) Da Nietzsche den Tod Gottes verkündet hat, ist er laut Heidegger der Philosoph des Nihilismus und der Denker, der die Metaphysik zu Ende geführt hat: „Nihilismus ist jener geschichtliche Vorgang, durch den das ,Übersinnliche‘ in seiner Herrschaft hinfällig und nichtig wird, so daß das Seiende selbst seinen Wert und Sinn verliert. Nihilismus ist die Geschichte des Seienden selbst, durch die der Tod des christlichen Gottes langsam, aber unaufhaltsam an den Tag kommt.“ (II, S. 25)  „Und dennoch ist da ein Zusammenstoß. Freilich nur für den, der nicht Zuschauer bleibt, sondern selbst der Augenblick ist, der in die Zukunft hineinhandelt und dabei das Vergangene nicht fallen läßt, es vielmehr zugleich übernimmt und bejaht. Wer im Augenblick steht, der ist zweifach gewendet: für ihn laufen Vergangenheit und Zukunft gegeneinander. Er läßt das Gegenläufige in sich zum Zusammenstoß kommen und doch nicht stillstehen, indem er den Widerstreit des Aufgegebenen und Mitgegebenen entfaltet und aushält. Den Augenblick sehen, heißt: in ihm stehen.“ (I, S. 277)

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage

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zusammenstoßen zu lassen, damit er die Zukunft bestimmen könne. Es scheine aber, dass die Aufgabe jene Gabe sei, die man nicht infrage stellen, ablehnen und neu setzen könne. Der Mensch bekomme die Aufgabe zugeteilt, und es bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich, gemäß dem stoischen Wahlspruch „volentes fata ducunt, nolentes trahunt“, der „Ge-schichte“ zu fügen. Inwiefern lässt sich aber Nietzsches Aufgabe einer Umwertung der Werte ontologisch interpretieren? Ist dieser ontologischen Interpretation nicht Nietzsches Anspruch auf eine höhere Kultur entgegenzusetzen? Ist in seiner Philosophie ein „Anthropomorphismus“ im heideggerschen Sinn zu perhorreszieren, oder besteht ihr innovatives Potential vielmehr in ihren tiefsinnigen Überlegungen über den Menschen? Dieser Versuch wurde von Karl Ulmer, einem Schüler Heideggers, in seiner Monographie Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werkes ³⁰ unternommen. Da diese Studie bisher die einzige ist, in der die Aufgabe in Nietzsches Werk in ihrer philosophischen Bedeutung und Tragfähigkeit behandelt wurde, sie außerordentlich aufschlussreich für das Verständnis der Aufgabe und daher für die vorliegende Arbeit ist und in der Nietzsche-Forschung bis heute nicht ausreichend beachtet wurde, werden wir im Folgenden ihre Argumentation ausführlich darstellen. Im Bannkreis von Heidegger, aber auch unter dem Einfluss von Wilhelm Dilthey, arbeitet Ulmer den Sinn der Aufgabe der Philosophie Nietzsches anhand der Hauptbegriffe Orientierung, Horizont und Ferne, Standpunkt und Boden, Anblick und Ausblick sowie Lebenswelt und Welteröffnung systematisch heraus. Ulmer teilt Alfred Baeumlers Ansicht der inneren Einheit vom Werk Nietzsches, wendet aber zugleich gegen Baeumler ein, dass er „weder diese innere Einheit von Aufgabe, Wille und Werk wirklich aufgezeigt noch die Vielfalt des Werkes darauf zurückgeführt“ (S. 82) hat. Denselben Einwand erhebt er gegen Karl Jaspers: Jaspers habe zwar einen gründlichen und umfassenden Einblick in das gesamte Denken von Nietzsche gegeben, aber auch „das Schwergewicht auf die existentielle Bewegung des Denkens bei Nietzsche“ gelegt, so dass „die Entwicklung des Gedankengehaltes dahinter zurücktritt“. Daher übersehe Jaspers, „daß sich dieses Denken durchaus auf eine immer größere und sich steigernde Bestimmtheit der Grundgedanken und auf ein inneres Zusammenwachsen von diesen zubewegt.“ (S. 10) Eine solche Auslegung vermöge nach Ulmer nicht, die eigenste Bedeutung von Nietzsches Aufgabe für die Gegenwart hervorzuheben, weil die Wandlungen der Aussagen in Nietzsches Philosophie immer nur auf individuelles Leben und Denken bezogen würden und daher das Denken negativ durch Widerspruch, Selbstaufhebung und immer neue Auflösung gekennzeichnet sei. Heidegger hingegen betone die außerordentliche Bedeutung Nietzsches für die Gegenwart. Trotzdem bleibe auch seine Auffassung unzureichend, weil er sich „ganz

 Ulmers Schrift erschien zunächst 1958/59 unter dem Titel „Orientierung über Nietzsche“ in der Zeitschrift für philosophische Forschung und dann 1962 im Francke Verlag Bern / München (hier zitiert: Karl Ulmer, Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werkes, Bern 1962).

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auf die spekulativen Grundlagegedanken der dritten Periode von Nietzsche konzentriert und insofern auf das Gesamtwerk von Nietzsche in seiner Entfaltung nicht eingeht, weder auf die vorhergehenden Stadien dieses Werkes noch auf die ihm zugehörigen pragmatischen Zeitanalysen und anthropologischen Reflexionen.“ (S. 83) Ulmer ist aber der Ansicht, dass sich der eigentliche Gehalt eines philosophischen Gedankens nur in der Struktur seiner Entfaltung erschließt. Demnach nimmt er sich in seiner Deutung zweierlei vor: Er lehnt sich erstens an den jeweils von Baeumler, Jaspers und Heidegger vertretenen Ansatz an, die Vielfältigkeit von Nietzsches Denken auf einen einzigen Willen oder Antrieb und ein einziges Problem bzw. einen einzigen Gedanken zurückzuführen. Zweitens beabsichtigt er, das dabei Ungeklärte aufzuklären, nämlich was „der eigentliche Sinn seines [Nietzsches] Werkes ist, welche Stellung er in dieser Geschichte einnimmt und welche Bedeutung ihm damit für die Gegenwart zukommt.“ (S. 7) Die Aufgabe mache nach Ulmer das Prinzip von Nietzsches Werk aus, und anhand ihrer Entfaltung lasse sich auch Nietzsches Sinn für die Gegenwart aufzeigen: „Was Nietzsches ganzes Denken bestimmt und hervortreibt, kann in einer Formel als der Wille zum großen Menschentum und zur höheren Kultur bezeichnet werden.“ (S. 12) Aus diesem Grund rückt Ulmer die Aufgabe in den Vordergrund. Die Aufgabe wird in ihrer geschichtlichen Dimension,³¹ ihrer spekulativen Bedeutung³² und ihrer inneren Struktur³³ ausgewertet. Nach Ulmer komme es Nietzsche darauf an, die Wesensbestimmung des Menschen und die Bedingungen der Kultur zu begreifen und eine höhere Form des Lebens auszubilden. Beim Vollzug seiner Aufgabe stehe Nietzsche demnach vor der „Notwendigkeit, die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte neu zu stellen.“ (S. 77) Dieses Verhältnis sei als Verschränkung von Spekulation (Bestimmung des Zusammenhangs von Sein und Schein sowie des Bezugs des Menschen zum Sein und einer konstruktiven Setzung einer höchsten Kultur) und Erfahrung (Bestimmung des Weltverhältnisses des Menschen, Vollzug von dessen Wesensmöglichkeiten und historisch-psychologischen Überlegungen) zu verstehen.³⁴ Aus dieser Zusammengehörigkeit und Interaktion entfalte sich die Kultur: „Kultur ist für Nietzsche im weiteren Sinne das eigentliche Standgewinnen des Menschen im

 Laut Ulmer leite Nietzsche die Aufgabe aus seinem Zeitalter ab, das er als Zeitalter der Vergleichung von überlieferten Weltbetrachtungen, Sitten und Kulturen und der Auswahl einer höheren Sittlichkeit bezeichnet.  „Die Untersuchungen über Wesen und Möglichkeit der Größe des Menschen und der Kultur im Hinblick auf das Sein im ganzen bringen vor der Notwendigkeit, ein neues Prinzip der Größe zu setzen und dieses Setzen selbst als die äußerste Möglichkeit menschlicher Größe zu verstehen. Dieses Setzen aber kann nur die spekulative Philosophie leisten.“ (Ulmer, Nietzsche, S. 17)  Struktur ist nach Ulmer das, was dem ganzen Gedankenkreis eine feste und in sich geschlossene Fügung gibt und damit seine Entfaltung gewährleistet. Somit ergibt sich eine Struktur der Aufgabe: Sie hat eine Systematik inne, die laut Ulmer jedoch verunmöglicht, „einen Leitfaden für das Auffinden der Einheit und der Gliederung der Vielfalt des Werkes in die Hand zu bekommen.“ (Ulmer, Nietzsche, S. 19)  Siehe dazu Ulmer, Nietzsche, S. 71 ff.

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage

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Wandel der Erscheinungen. Weil aber die zum Menschen gehörige Wandelbarkeit gerade im Werden als Geschichte hervortritt, nimmt die Geschichte und das mögliche Standgewinnen des Menschen in dieser einen ausgezeichneten Vorrang im Denken Nietzsches ein.“ (S. 26) Nietzsches Aufgabe bestehe, anders ausgedrückt, in einer Wesensbestimmung des Menschen. Das heiße aber nicht, dass es darum gehe zu bestimmen, was der Mensch sei und sein könne, sondern darum, seine höchste Möglichkeit zu verwirklichen und in der Geschichte Stand und Halt zu gewinnen. „Die Möglichkeiten des Menschen bestehen gemäß seinem Wesen in der verschiedenen Ausbildung seines Weltverhältnisses. Dieses Weltverhältnis gliedert sich in Grundbahnen, die teils nach der Art ihres Eröffnens, teils nach dem darin eröffneten Umkreis benannt sind.“ (S. 19) Vor diesem Hintergrund drücken Moral, Erziehung und Bildung das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zur Gesellschaft, zur Geschichte und zur Natur aus. Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft seien Grundhaltungen, in denen sich der Mensch jeweils den Erscheinungen oder dem ursprünglich Gegebenen stelle, um sie zu erkennen und so sein Weltverhältnis zu gestalten. Solch produktive Weltverhältnisse bzw. Welteröffnungen bildeten eine Art des Haltnehmens des Menschen im Werden bzw. in der Geschichte und machten gleichsam seine Wesensmöglichkeiten aus.Vor allen Weltverhältnissen gibt Ulmer der Philosophie den Vorrang. Sie verweise auf die Wissenschaft als Erkenntnis des Ganzen³⁵ und vor allem auf die Kunst als gestaltende Kraft. Philosophie sei ihrem Wesen nach Gesetzgebung. Sie könne die Größe des Menschen bestimmen und so eine Rangordnung gestalten, um den Weltverhältnissen und Lebensgestaltungen des Menschen eine Fügung zu geben. Stellt die Philosophie für Ulmer eine künstlerische Kraft zur Konstruktion der Welt in einer Lebenswelt (Welt der Praxis) dar, so erweise sich die Geschichte als Verwirklichung der höchsten Möglichkeiten des Menschen. Entscheidend sei dabei der Begriff der Größe,³⁶ der als Kreuzungspunkt von Philosophie und Geschichte gelte und beiden als Maßstab zugrunde liege. Nach Ulmer sei große Erkenntnis die „Erkenntnis vom Wesen und Kern der Dinge“ (S. 13). Philosophie sei daher Bestimmung des Seins im Ganzen und gehe außerdem mit der Bestimmung der Größe des Menschen einher. Große Menschen seien diejenigen, die vermöge ihres Ausblicks auf das Wesen der Dinge dem Dasein einen einheitlichen Sinn verliehen. Große Menschen machten auch die Kultur aus: Einerseits gäben sie allen Lebensverhältnissen eines Volkes einen einheitlichen Stil; andererseits seien alle Lebensverhältnisse in einer wahren Kultur so eingerichtet, dass sie große Menschen hervorbringen und tragen könne.

 Ulmer ist sich bewusst, dass die Wissenschaft die Erkenntnis des Ganzen zwar beanspruchen, aber nicht erreichen kann, weil das Sein unerkennbar ist. An die Stelle der Wissenschaft tritt deshalb die Kunst als wegweisende Grundhaltung des Menschen zur Bestimmung seiner Weltverhältnisse.  Nach Ulmer lasse sich durch diesen Begriff die Erfahrung in eine spekulative Dimension einbringen und ihr eine spekulative Fügung zuweisen, die ihr Einheit gebe. Die Aufgabe sei zugleich Ausdruck von und Aufforderung zur Bestimmung des Menschen, Feststellung der Vergangenheit und Vorzeichnung der Zukunft.

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Ulmer betrachtet Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie bei Nietzsche nicht nur als Gestaltungen der Welteröffnung, sondern auch als eigentliche Phasen der Entwicklung des Menschen. Sie seien notwendige Strukturmomente in der geschichtlichen Welteröffnung des Menschen. Dies sei von erheblicher Bedeutung: „So bewegt sich die von der Aufgabe geforderte Bestimmung des Menschen bei Nietzsche auf den beiden Ebenen der Erfahrung und des spekulativen Denkens. Dabei ist das spekulative Denken nicht nur dadurch ausgezeichnet, daß es über die Erfahrung hinausgeht, sondern bedeutet zugleich, daß sich die Bestimmung des Menschen im Hinblick auf das Sein der Welt vollzieht.“ (S. 19) Die Bestimmung und Entwicklung der Aufgabe bedinge also auf der einen Seite die Entfaltung des Gedankengangs. Ihr liege aber auf der anderen Seite eine „Seinsstruktur“ zugrunde, die Nietzsche als „Verklammerung von Sein, Schein und Werden“ (S. 45) verstehe. Aus dieser Struktur arbeite der späte Nietzsche eine Ontologie des Seienden heraus, die die Grundlagen zur Bestimmung des Menschen hervorbringen solle: „Das Wesen des Seins ist Wille und als solches ein ewig drängendes Streben, das doch in kein Ziel kommt. Es vollzieht sich als dieses drängende Streben, indem aus ihm ständig Seiendes hervorgeht, zum Stehen kommt und wieder aufgelöst wird.“ (S. 24) Der Mensch sei das einzige „Weltwesen“, das „sich dadurch in der Weise im Sein erhalten kann, daß er diesem Erscheinen einen beständigen Anblick abgewinnt und sich selbst dadurch eine gewisse Beständigkeit gibt.“ (S. 25) Nietzsche denke also das Wesen des Seins als „Wille zur Macht“ und verstehe von dieser Grundlage auch das Geschehen der Welteröffnung im Menschen, dessen Bewegung und Stand sich als Geschichte und Kultur bestimme. So ließen sich das Werden im Ganzen als Chaos und die „Ständigkeit“ des Ganzen als „ewige Wiederkehr des Gleichen“ begreifen.³⁷ Geschichte besteht zunächst im Handeln des Menschen und der darin sich bildenden Gestalt des Lebens. Deswegen wird die ewige Wiederkehr zuerst als Gesetz des menschlichen Handelns formuliert. Geschichte ist dann aber Gestaltung und Wandlung der Kultur als Gestaltung der Welteröffnung des Menschen in allen ihren Bezügen. So wird die ewige Wiederkehr das Gesetz für die Weltgeschichte des Menschen. (S. 54)

Nietzsche sehe also den Menschen in seiner Geschichtlichkeit (S. 69). Er ziele auf eine „geschichtsbestimmende Macht“ (S. 62) im Hinblick auf das, was für ihn immer das Wesentlichste gewesen sei: „die faktische Durchführung der neuen Wertsetzung als produktives Gestalten einer neuen und höheren Zukunft des Menschen.“ (S. 67) Darin liegt nach Ulmer Nietzsches Aufgabe der „Umwertung aller Werte“. Eine solche geschichtsbestimmende Macht verwirkliche sich zunächst im „freien Geist“, der die Größe des Menschen repräsentiere und dem „historischen Philosophieren“ entspreche. Im freien Geist zeichne sich der „Übermensch“ ab, der für den  Laut Ulmer sei die Grundfrage von Nietzsches Philosophie, „wie es möglich ist, wieder einen festen und Geschichte gründenden Stand zu gewinnen, ohne den darin eröffneten Ausblick auf alles Sein als Werden und Schein wieder preiszugeben, also ohne wieder in das metaphysische Denken zurückzufallen.“ (Ulmer, Nietzsche, S. 53)

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage

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späten Nietzsche wiederum die Welthaltung des Menschen zur Feststellung der Vergangenheit und zur Vorzeichnung der Zukunft auszeichne. Der Übermensch bestimme die Größe des Menschen deshalb, weil er aus der Wesensstruktur des Menschen als Willen zur Macht und aus dem Ausblick auf das All im Gedanken der ewigen Wiederkehr komme. Das heiße aber auch, dass die Geschichte aus dem Wesen des Seins verstanden werde. „Das ,Über‘ bezeichnet hier den transzendentalen Ort, an dem das All des Seienden im ganzen überstiegen ist.“ (S. 61) Er stelle das Wesen des Willens zur Macht als Streben zu einem Halt und Übersteigen des Vorangegangenen dar. „Es ist das ausdrückliche Einrücken in den ständig sich übersteigenden Fortriß des Willens zur Macht.“ (S. 76) Durch seinen neuen Ausblick auf das Sein löse der Übermensch alle bisherigen Epochen der Geschichte auf, und in ihm zeichne sich die Möglichkeit einer neuen Ausbildung der Kultur ab. In dieser Hinsicht sei er „der höchste Gesetzgeber und Schöpfer der neuen Kultur.“ (S. 61) Nietzsche sei also nicht wirklichkeitsfremd, wenn er die Aufgabe aus seinem Zeitalter bzw. „aus der Sache selbst“ (S. 69) ableite. Daher stamme ihre Aktualität aus seiner gegenwärtigen geschichtlichen Lage und ihre Notwendigkeit aus der ihr zugrundeliegenden Seinsstruktur. Den „transzendentale“ Umfang und die anthropologische³⁸ Tragfähigkeit seiner Nietzsche-Deutung fasst Ulmer in unnachahmlicher Kürze und Präzision in den folgenden Aussagen zusammen: Nietzsche sieht den Menschen in seiner Geschichtlichkeit. Geschichte bedeutet ihm die Veränderung der Sicht des Menschen auf die Welt und der dadurch bedingten Festlegung seines Verhältnisses zu ihr. Wird daran nur die Seite der ständigen Veränderung festgehalten, zeigt sich die Geschichte als das Werden überhaupt. Daraus entspringt zugleich die Notwendigkeit für den Menschen, in der Geschichte und dem Werden Stand und Halt zu gewinnen. Er erreicht diesen, indem er seine Sicht auf die Welt und sein Verhalten dazu in bestimmte Grenzen und Regeln bringt, worin sie ihr Maß finden. Solche Maßfindung ist aber nur möglich im Hinblick auf eine Größe, wonach jedes Maß abgemessen werden kann. Größe als das eigentlich Maßgebende ist somit die Bedingung dieses Haltes. Dadurch wird aber nicht die Geschichte überhaupt zum Stehen gebracht, sondern nur das Werden in einen bestimmten Rahmen eingefügt, den es immer wieder durchbricht. Dadurch tritt die Geschichte in Abschnitten hervor, die Epoche oder Zeitalter heißen. Sie bezeichnen das Ausmaß des Haltes, den der Mensch in seiner Geschichte gewonnen hat. Das sind die fünf Leitpunkte, in deren Umkreis Nietzsche sich bewegt. Im Hinblick darauf bestimmt sich ihm die Aufgabe, wie auch die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Lösung. (S. 69 f.)

Nietzsches Aufgabe bleibe aber Ulmer zufolge aus drei Gründen unvollendet: erstens aus werkbiographischen Gründen, weil Nietzsche sein Hauptwerk letztendlich nicht verfasst habe, obwohl in den von ihm skizzierten Fragmenten die Fügung seines Denkens hervortrete.³⁹ Zur Unvollständigkeit seines Denkens hätten zweitens ge-

 Ulmer zielt auf die Bestimmung des Menschen, die er aus der wechselseitigen Beziehung des Menschen zum Sein und zur Geschichte erschließen will.  Nietzsches ganze Arbeit der letzten Periode drängt laut Ulmer auf sein Hauptwerk hin, durch das „sein Denken seine Entschiedenheit und Klarheit bekommen hätte“ und durch das „auch sein We-

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schichtliche Gründe beigetragen: Nietzsche sei nämlich in einer Wandlung begriffen gewesen und hätte daher den geschichtlichen Verlauf im Ganzen nicht vorwegnehmen oder deutlich erschließen können. Drittens hätten Gründe praktischer Art die entscheidende Rolle gespielt. Die Bestimmung des Menschen vollziehe sich bei Nietzsche einzig auf der spekulativen Ebene. Der Kern seines Denkens liege in einer spekulativen Konstruktion der Geschichte und ihrer darauf gegründeten Gestaltung. Das reiche aber nach Ulmer zur Bestimmung der Gegenwart und zur praktischen Ausgestaltung neuer Lebensformen nicht aus: „Der spekulative Gedanke gibt keine Grundlage für die produktive Gestaltung des Zeitalters ab.“ (S. 76) Obwohl Nietzsche die spekulative Dimension der Geschichte vermöge der neuen Verschränkung von Philosophie und Geschichte neu bestimmt habe, sei er im Grunde der Überlieferung verhaftet geblieben. Er habe Begriffe wie Religion, Kultur, Wissenschaft, Moral usw. von der überlieferten Philosophie übernommen und sie in ihrem Sinne gebraucht. Trotz aller Verschiedenheit bestehe Nietzsches wesentliche Gemeinsamkeit zur Überlieferung in der Bestimmung der Epoche, die beide als Durchgang, nicht als die eigentliche Gegenwart bzw. als Halt und Stand für den Menschen in der Geschichte ansähen. Nur im Begriff der Größe, der beide Bereiche — den spekulativen und den praktischen — in sich zusammenschließe und in beiden Bereichen eine Rangordnung bestimme, wodurch die Weltgemeinschaft eine neue Fügung und Führung erhalte, trete die aktuelle Bedeutung von Nietzsches Aufgabe hervor. Dieser Begriff weise einen „Zwischenfeld“ zwischen Erfahrung und Spekulation auf, der auf die Notwendigkeit der praktischen Dimension für die Erfahrungsgestalt des Lebens verweise: „Das kann als Hinweis auf die Notwendigkeit sein, das Durchdenken der Lebenswelt überhaupt aus der überlieferten metaphysischen Konstruktion herauszunehmen und von der Erfahrung her die Weltbahnen neu zu durchdenken und zu bestimmen.“ (S. 79) Die Vollendung der Aufgabe von Nietzsche fordere „eine Bestimmung von Zeit und Epoche in ihrem wesentlichen Verhältnis zur Philosophie“ (S. 81), die aber eine neue Bestimmung des Bezugs des Menschen zum Sein in seinem Verhältnis zu Epoche und Zeit voraussetze. Ulmers eindrucksvolle Nietzsche-Interpretation kann jedoch nicht ohne Einwand bleiben. Obwohl er der Einsicht ist, dass die Kunst bei Nietzsche die einzige Möglichkeit sei, den vom Nihilismus negativ bestimmten Spielraum positiv auszufüllen, und dass die von der Aufgabe geforderte Bestimmung des Menschen sich auf den beiden Ebenen der Erfahrung und des spekulativen Denkens bewege, betont er selbst

sentlichstes erst rein hervorgetreten wäre und so seine eigentliche geschichtsbestimmende Macht hätte entfalten können. Der Prozess des inneren Zusammenwachsens seiner Denkbahnen ist nicht zum Abschluß gekommen, und so noch weniger die zugehörige Darstellung.“ (Ulmer, Nietzsche, S. 62) An dieser Stelle weicht Ulmer nicht von den Nietzsche-Interpreten seiner Zeit ab. Seiner Ansicht nach ist der Zarathustra das wichtigste der vollendeten Werke, weil darin Übermensch, Wille zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen hervortreten, die auch das Hauptwerk hätten auszeichnen sollen. Laut Ulmer sind der Kern und die Vollendung von Nietzsches Werk im späten Nachlass zu suchen.

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage

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nur das Spekulative und macht zugleich Nietzsche den Vorwurf, er habe die Lösung seiner Aufgabe nur im Spekulativen gefunden. Daher übersieht Ulmer die existentielle Bestimmtheit und Bedingtheit des Denkens und des Lebens, Nietzsches Anspruch auf eine experimentelle Philosophie und die Idee des Perspektivismus, das von Nietzsche in seinem ganzen Werk vertretene ästhetische Verhältnis des Menschen zu allen Dingen und ihre funktionale, nicht ontologische Bedeutung sowie die in der Genealogie der Moral von Nietzsche vertretene Idee, dass es kein Geschehen bzw. keine Geschichte als Entfaltung einer angeblichen Wesensstruktur des Seins oder Wesensbestimmung des Seiendes gibt. Der Sinn ist „flüssig“, und daher ist das, was wir Geschichte nennen, eine brüchige und nicht in allen Übergängen vollziehbare Rekonstruktion des Geschehens. Man kann nur Hypothesen aufstellen und Interpretationen gestalten. In seiner profunden Analyse vernachlässigt Ulmer freilich auch die kreative Rolle des Erlebnisses bei Nietzsche. Er behandelt das Erleben nicht als „Erdichten“ (M 119). Für ihn — hier ist Heideggers und Diltheys Einfluss offenkundig — ist Erfahrung „Welteröffnung“. Nietzsches Aufgabe wird also als Verwirklichung der Wesensmöglichkeiten des Menschen angesehen, dessen Bestimmung sich im Hinblick auf das Sein der Welt⁴⁰ und als Bestimmung der Menschheit vollzieht. Ulmers offenkundig metaphysischer Ansatz lässt sich am Gebrauch des Wortes „Fügung“ erkennen. „Fügung“ heißt „göttliches bzw. schicksalhaftes Geschehen“, aber auch „Plan“, „Absicht“, „Vorhaben“, sogar „Resignation“. Ulmer stützt sich auf die erste Bedeutung. Der Aufgabe liege also eine ontologische Struktur zugrunde, die Ulmer in Analogie zur ontologischen Struktur der Geschichte und des Seins denkt. Dennoch sei Nietzsches Forderung eines großen Menschentums und einer höheren Kultur auf der praktischen Ebene von Anthropologie und Politik zu vollziehen. Nur so würde sich die Möglichkeit bieten, den Reichtum der facettenreichen und scharfsinnigen Überlegungen über den Menschen fruchtbar machen, die Ulmer zufolge Nietzsches Stellung in der Geschichte des deutschen Geistes auszeichneten.⁴¹ Wie sich das abspielen soll, erklärt Ulmer freilich nicht.

 Ulmer definiert das Wesen des Menschen in Bezug auf das Sein: „Indem der Mensch einerseits einen Durchblick auf das Sein als Werden hat und andererseits den Schein eines Beständigen darin hervorbringt, ist er ein Abbild des Urseins und steht in einer besonderen Nähe zu ihm, die ihn vor allen Weltwesen auszeichnet. Das ist das Wesen des Menschen, wie es sich im Hinblick auf das Sein überhaupt ergibt und das näher dadurch bestimmt ist, wie dem Menschen Welt eröffnet ist und wie er sich darin hält.“ (Ulmer, Nietzsche, S. 25)  Ulmer, Nietzsche, S. 84: „Abgesehen von dem Gedankenkreis, in den sie gehören und der sie hervortreibt, haben die anthropologischen Reflexionen Nietzsches aus dieser Zeit ihre eigene Bedeutung. In der Geschichte gerade des deutschen Geistes nehmen sie eine ausgezeichnete Stellung ein. Nietzsche steht mit seiner freien, vielseitigen und scharfsinnigen Weise der Reflexion über den Menschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Kant, Lichtenberg, Goethe), in der deutschen Geschichte einzig da. Er ist sich darüber im klaren gewesen (XV, 112). Es wäre zu wünschen, daß dieser Reichtum einmal ausgeschöpft und fruchtbar gemacht würde.“ Auch in dieser Hinsicht betont Ulmer eine in der Nietzsche-Rezeption bzw. der Wirkungsgeschichte bereits vorhandene Tendenz. Man denke an Georg

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Obgleich Ulmer letztlich in Bannkreis von Heidegger und Dilthey verhaftet bleibt, haben in der Nietzsche-Forschung Anthropologie und Politik ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts tatsächlich zwei der fruchtbarsten Forschungsgebiete dargestellt. In diesem Zusammenhang bieten zwei Studien maßgebende Anhaltspunkte für die vorliegende Fragestellung: Beide betonen Nietzsches Anspruch auf ein experimentelles Denken und Leben und deuten seine Philosophie als Experimental- bzw. Existenz-Philosophie. In seiner Studie Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie (1980),⁴² die bis heute zu Unrecht wenig Beachtung gefunden hat, geht Friedrich Kaulbach auf Nietzsches Philosophie existentiell ein: „Nietzsche selbst geht vom Standpunkt des ,Lebens‘ und des von ihm getragenen Sinn-bedürfnisses aus, bei dem es um die Antwort auf die Frage nach dem Wozu, nach dem ,Sinn‘ des Denkens und des Handelns geht.“ (S. X) Eine Antwort auf diese Frage lasse sich nur experimentell geben. Mit Berufung auf Dilthey behauptet Kaulbach, dass bei Nietzsche die Rede von einer „Sinnwahrheit“ sei, die der „Objektwahrheit“ gegenüberstehe. Die Sinnwahrheit sei eine Wahrheit, die nicht auf einem absoluten, allgemein gültigen, objektiven Wissen, sondern auf einer individuellen Sinn-Notwendigkeit beruhe. Aus dieser Wahrheit werde eine Weltperspektive hervorgebracht, deren Gültigkeitsanspruch „nicht auf ihre theoretische ,Wahrheit‘, sondern auf ihre Bedeutsamkeit für eine bestimmte Stufe und Verfassung des Lebens gegründet werden darf.“ (S. X) Da die Wahrheit als Kriterium ihre Bedeutsamkeit für die Sinnmotivation „des lebendigen Seins“ habe, erweise sich als ihr Ursprung ein Sinn-Bedürfnis des Menschen. Die Sinnwahrheit sei also eine Wahrheit, die nur individuell gültig sei, weil sie das individuelle Handeln in der Welt mit einem individuellen Sinn erfülle. Dieser Sinn sei durch ein Experiment des Denkens mit sich selbst zu gewinnen. Durch ein experimentelles, philosophisches Verfahren werde der „Versuch“ unternommen, philosophisch eine Weltperspektive zu entwerfen, anhand derer „das Denken die Aufgabe zu erfüllen trachtet, dem ,Leben‘ jeweils in seiner Gegenwart die ihm nötige Welt zu ver-schaffen. Vom Erfolg des Versuches hängt es ab, ob das Leben gelingt oder nicht.“ (S. X) Kaulbachs Absicht sei, Nietzsches Philosophie in die traditionelle Philosophie der Vernunft von Descartes über Kant bis Hegel einzubeziehen. Nietzsche habe den methodischen Zweifel von Descartes radikalisiert: Er nehme in seiner Experimentalmethode „Züge der kritischen wie der dialektischen Philosophie“ (S. IX) auf, lasse sie wirksam werden und distanziere sich schließlich von dieser. Das Resultat sei eine Ausweitung und Rehabilitierung der Vernunft als Vernunft des Leibes. Eine solche Vernunft sieht Kaulbach als „ästhetische“ bzw. „dionysische Vernunft“ an: „Als dionysisch begreift Nietzsche diejenige philosophische Vernunft, welche dem jasagenden, zum eigenen Sinn-

Simmel, Arnold Gehlen sowie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Deutschland und an Michel Foucault und Gilles Deleuze in Frankreich.  Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln 1980.

0.2 Stand der Forschung: Nietzsche-Interpretationen im Lichte der Sinnfrage

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schaffen bereiten Willen die zu ihm gehörige und ihm Sinnmotivation verschaffende Welt entwirft.“ (S. 296) Des Weiteren könne der Mensch durch eine dionysische Vernunft seine Grenze ständig überschreiten. Daher könne er eine Überlegenheit über die jeweils aufgebaute Perspektive gewinnen und sich auf einen höheren Standpunkt stellen. Auf diese Weise erfülle die dionysische Vernunft durch das Experimentieren die „Sinnmotivation des Willens“, eine Sinnperspektive zu entwickeln und sich für diese zu „entscheiden“, um das Leben zu rechtfertigen: „das dionysische Denken entwirft die Welt der ewigen Wiederkehr.“ (S. 297) Die metaphysische Perspektive der ewigen Wiederkehr des Gleichen erfülle das Bedürfnis des Menschen nach Sinn in seiner Stellung zum Sein, indem sie dem Menschen einen Sinn für seine Existenz verschaffe und dafür sorge, dass alles nicht umsonst sei. Außerdem nötige diese Perspektive den Menschen zu einem besonderen Verhalten. Da alles wiederkehre, sei der Mensch herausgefordert, jeden Augenblick seines Lebens zu wollen. Er sei zu einem autarken Schaffen aufgefordert, nämlich sich selbst den den Nihilismus überwindenden Sinn zu schaffen und für alles, was er tue und denke, verantwortlich zu sein. In Kaulbachs Fahrwasser segelt Volker Gerhardt. In seinen Studien — insbesondere in der Einführung Friedrich Nietzsche ⁴³ — lehnt er sich an Kaulbachs NietzscheInterpretation an und arbeitet sie aus. Er erörtert die Philosophie Nietzsches als Existenz-Philosophie, genauer — wiederum mit Berufung auf Kaulbach — als Experimental-Philosophie und zeigt, dass Nietzsche der Erste sei, der in der Geschichte der Philosophie vom Sinn des Lebens spreche und die Frage nach dem Sinn des Lebens auf radikal moderne Weise aufwerfe. Gerhardt macht die entscheidende Bedeutung der Kunst bei Nietzsche für den auf sich selbst bezogenen Prozess der Sinnschöpfung deutlich. In der wechselseitigen Charakterisierung von „Leben als Kunst und Kunst als Leben“ werde die Analogie von Welt und Leben zum Kunstwerk offenkundig. Vor diesem Hintergrund betrachtet Gerhardt Nietzsche als „individuellen Denker der Individualität“ (S. 214): Er interessiere sich für das, was Zwecke setze, damit Werte schaffe und dem Leben einen Sinn gebe. Worauf Nietzsches Moral- und Wahrheitskritik ziele, sei die Wirksamkeit bzw. die Lebensdienlichkeit von Wahrheit, Moral, Sinn und Wert. Gerhardt betont bei Nietzsche die praktische Bedeutung der individuellen Selbstdisziplinierung und bettet ihn damit in die Geschichte der abendländischen Philosophie ein. Es sei gerade die absolute Selbstbezüglichkeit und Selbstdisziplin, die bei Nietzsche nicht zwangsläufig zum Nihilismus, sondern zu einer Moral führe, die eine über Jahrtausende sich erstreckende Entwicklung durchlaufe: In der Antike als gelingende Selbstbeherrschung verstanden, werde die Moral von Kant auf den Autonomiebegriff bzw. die Selbstgesetzgebung gegründet, bis die Selbstbezüglichkeit bei Fichte, Schelling und Hegel schließlich zur Selbstbestimmung werde.⁴⁴ Obwohl Gerhardt sich große Mühe gibt, Nietzsche als Leibphilosophen par excellence

 Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 4. Aufl., München 2006.  Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 128.

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und dessen Philosophie als „radikale Leibphilosophie“ (S. 206) darzustellen, zieht er die innere Konsequenz dieser These nicht. Nietzsche sei demnach laut Gerhardt zuletzt „ein Aufklärer, dem es gelingt, selbst noch über die Motive der Aufklärung aufzuklären. Er bewirkte eine Erweiterung des Verstands durch Einsicht in ihre geschichtliche, seelische und leiblichen Bedingungen.“ (S. 205) Gerhardts NietzscheInterpretation zielt darauf, den transzendentalen Ertrag seiner Philosophie ans Licht zu bringen. Nietzsche wird daher im Lichte der Philosophie von Immanuel Kant gedeutet.⁴⁵ Auch wenn Gerhardt zu Recht bemerkt, dass Nietzsche die kantische Frage „Was ist der Mensch?“ als die Frage „Wer bin ich?“⁴⁶ auf radikal moderne Weise stellt, lässt sich gegen ihn einwenden, dass Nietzsches Anspruch nicht ist, eine Kritik der reinen Vernunft durchzuführen, um zu prüfen, ob bzw. wie überhaupt eine Metaphysik als Wissenschaft möglich sei.⁴⁷ Was Nietzsche an Lebensprozessen interessiert, ist das Schöpferische am Menschen. Wie zu zeigen sein wird, arbeitet Nietzsche eine neue Idee der Vernunft, der Philosophie und des Philosophen heraus, bei der Leib, Erlebnis, Kunst und Lebenssinn die entscheidenden Rollen spielen. Seine Kritik der Aufklärung bewirkt nicht einfach ihre Erweiterung, wie Gerhardt meint, sondern ihre Umdeutung: Vernunft und Wille besitzen ein höchst verklärerisches Potential. Schließlich vermittelt Marco Brusotti mit seiner Monographie „Die Leidenschaft der Erkenntnis“ (1997)⁴⁸ aufschlussreiche Bemerkungen über die philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche. Brusotti zeigt mit seiner Arbeit auf, dass dem Nihilismus einer wissenschaftlichen Erkenntnis nur durch eine Ästhetisierung der Geschichte und des Lebens zu entkommen ist: „Nietzsches Lebenskunst überträgt auf das Leben die zwei komplementären Möglichkeiten ästhetischer Betrachtung und Gestaltung und mit ihnen eine Reihe künstlerischer Verfahren.“ (S. 651)

 Vgl. dazu die Aufsätze in: Volker Gerhardt, Die Funken des Freien Geistes. Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft, hg.v. Jan-Christoph Heilinger / Nikolaos Loukidelis, Berlin 2011. Gerhardt überschätzt dabei die Rolle des Willens als zwecksetzendes Vermögen.  Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 67 ff.  Siehe JGB 11, KSA 5.26: „es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“ durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?“ – nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht „möglich sein“: wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört.“  Marco Brusotti, „Die Leidenschaft der Erkenntnis“. Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“, Berlin 1997.

0.3 Ziele der Arbeit

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0.3 Ziele der Arbeit Jaspers, Kaulbach und Gerhardt interpretieren die wesentliche Rolle der Kunst als schöpferische Kraft, die dem Menschen den Ausweg aus dem Nihilismus gewährt. Jaspers hebt die notwendige Verschränkung von Denken und Leben bei Nietzsche hervor, Kaulbach das Experimentelle als Merkmal von Nietzsches Philosophie; Gerhardt zieht eine bestimmende Parallele zwischen Kunst und Leben, so dass zwischen den beiden ein Kreis entsteht, der sich von beiden Seiten her schließt. Obgleich aber Jaspers, Kaulbach und Gerhardt scharfsinnig zeigen, wie fruchtbar es ist, Nietzsches Philosophie anhand der Frage nach dem Sinn des Lebens auszulegen, bleibt die existentielle Komponente des Denkens bei Kaulbach⁴⁹ im Hintergrund⁵⁰ und zeigt sich das Leben bei Jaspers als das „unbestimmte Grenzenlose“ (S. 441).⁵¹ Gerhardt analysiert die Erfahrungen und die Existenzbedingungen nicht ausreichend und überschätzt die Rolle des Bewusstseins im Erkenntnisprozess und in der Selbstbestimmung.⁵² Die drei Autoren sprechen der Frage nach dem Sinn des Lebens also zwar eine entscheidende Rolle in der Bestimmung der Philosophie Nietzsches zu, beachten die Aufgabe in ihrer Begrifflichkeit und existentiellen Bedeutung aber kaum.

 „Der Standpunkt auf der Leiter der Rangordnung ist der relativ gerechteste, freieste und mächtigste, der über die Kraft verfügt, miteinander widerstreitende Weltperspektiven in ein spannungsvolles Ganzes einzuholen. Wie weit wir damit kommen und wie groß unsere Kraft ist, das zu finden ist Sache gedanklichen Experimentierens.“ (Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, S. 74) Die existentielle, riskante Komponente, die das Experiment bei Nietzsche hat, bleibt bei Kaulbach im Hintergrund.  Vorzüge und Nachteile von Kaulbachs Nietzsche-Interpretation hat auch von Reinhart Maurer, Nietzsche harmonisch. Rezension von: Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 497– 506, ausführlich erörtert. Während Friedrich Kaulbach den existentiellen und kritischen Grundzug des Perspektivismus bei Nietzsche behandelt, ist die hermeneutische Relevanz von Nietzsches Perspektivismus jeweils von Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin 1982, und Johann Nepomuk Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik. Berlin 1994, herausgearbeitet worden.  Die Interpretationen von Jaspers und Kaulbach sind dadurch bedingt, dass beide Der Wille zur Macht als Werk analysieren, in dem Nietzsche die Welt und das Leben nach seinen Hauptgedanken auslegt.  Das ist kennzeichnend etwa für die Aufsätze im Sammelband Die Funken des freien Geistes, in denen Gerhardt mehrmals versucht, im Denkprozess die Rolle der „kleinen Vernunft des Leibes“ stärker und maßgebender im Bezug auf „die große Vernunft des Leibes“ hervorzuheben. Nietzsche bemüht sich in seiner Philosophie aufzuweisen, dass es kein interessenloses Anschauen und unegoistisches Handeln gibt. Was sich im Bewusstsein zeigt, ist das Ergebnis eines unbewussten Kampfs der Triebe gegeneinander und beruht auf individuellen Erlebnissen. Was ins Bewusstsein tritt, ist das Oberflächlichste, und das Bewusstsein, also das Sich-bewusst-Werden, drückt nur den Genius der Gattung, eine Herden-Perspektive aus und gehört demnach nicht zur „Individual-Existenz“. Mit seiner „Chemie“ bezweckt Nietzsche, nicht das rein Begriffliche, das Transzendentalgültige zu abstrahieren, sondern das Individuelle und das Erlebte ans Licht zu bringen. Es ist nicht zu verkennen, dass Nietzsche sich explizit immer wieder auf seine Erlebnisse bezieht.

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Die philosophische Tragfähigkeit der Aufgabe als Leitfaden einer Nietzsche-Interpretation weist Karl Ulmer nach. Obwohl er sich von Heidegger dadurch abhebt, dass er die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten und der Entscheidungen gegen die nach Heidegger einzig mögliche Lösung vertritt, bleibt seine hochinteressante Deutung doch Heideggers Idee verhaftet, Nietzsches Philosophie sei im Hinblick auf die Hauptfrage der Philosophie, nämlich der Frage nach dem Sinn des Seins, zu interpretieren. Daher spielt der existentielle Reichtum von Nietzsches Denken bei beiden kaum eine Rolle. Schließlich deuten alle genannten Interpreten Nietzsches Denken systematisch, indem sie die ewige Wiederkehr des Gleichen, den Willen zur Macht und den Übermenschen ins Zentrum ihrer jeweiligen Nietzsche-Gesamtdarstellung bzw. -Interpretation rücken. Wenn man sich aber den Hauptgedanken der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen philologisch nähert, bleiben sie vage und konturlos. Marie-Luise Haase weist in ihren aufschlussreichen philologischen Arbeiten nach, dass Nietzsche in den publizierten und zur Publikation autorisierten Schriften sowie im Nachlass kein konkretes Bild von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Übermenschen zeichnet.⁵³ Darüber hinaus zeigt Werner Stegmaier, dass diese Begriffe, der Wille zur Macht eingeschlossen, tatsächlich gar keine Lehren sind: Sie sind eher Zeichen, aus denen jeder Leser seine Folgerungen ziehen muss, und somit paradoxe Lehren, und „als paradoxe Lehren sind sie Anti-Lehren, Lehren, die ihre eigene Lehrbarkeit in Frage stellen.“⁵⁴ Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob sich doch ein Bezugspunkt finden lässt, um Nietzsches Philosophie Sinn und Einheit zu verleihen. Wie Ulmer gehen wir davon aus, dass die Aufgabe dieser „Bezugspunkt“ ist, „der den Sinn des Werkes von Nietzsche ausmachen soll und auf den hin es sich zu einer Einheit fügt.“ (Ulmer, S. 12) Die Aufgabe, die Nietzsche antreibt, besteht darin, die sinnliche Herkunft der moralischen Werte ausfindig zu machen, um die Lebensbedingungen der zukünftigen Menschheit vorzubereiten. Eine durchaus nachvollziehbare Antwort darauf könnte Nietzsche in Ecce homo liefern. Hier interpretiert er sein Leben systematisch anhand seiner selbstgestellten Lebensaufgabe — und nicht am Leitfaden seiner „Lehren“. Nietzsche erzählt sein Leben, erzählt es sich selbst. Ihm geht es freilich nicht darum, eine Autobiographie zu schreiben. Er stellt die Genealogie seines Denkens und gleichsam die Etappen seiner Selbstverwirklichung am Leitfaden seiner selbstgestellten Lebensaufgabe dar, deren letzte, prägnante Formel lautet: „Umwerthung aller Werthe“. Zu diesem Zweck verdichtet Nietzsche in wesentlichen Zügen die willentlich gewählten Wege und die willkürlichen, zufälligen Umwege und existentiellen und spekulativen Bedingungen, durch die er auf die Umwertung aller Werte kam. Nietzsche beschreibt also die Lebensbedingungen, die entscheidenden Erleb-

 Siehe dazu Marie-Luise Haase, Der Übermensch in „Also sprach Zarathustra“ und im ZarathustraNachlaß 1882– 1885, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 228 – 244.  Siehe dazu Werner Stegmaier, Friedrich Nietzsche zur Einführung, Hamburg 2011, S. 160 ff.

0.3 Ziele der Arbeit

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nisse und die sich jeweils selbstgestellten Aufgaben, die seiner Lebensgestaltung zugrunde liegen. Auch seine Schriften präsentiert er seinen Lesern, in chronologischer Reihenfolge, anhand seines existentiellen und spekulativen Zustands sowie seiner jeweils selbstgestellten Aufgabe. Daher berücksichtigt die vorliegende Arbeit Nietzsches Schriften ebenfalls in chronologischer Reihenfolge und analysiert die Kontexte, die er jeweils mit Blick auf seine Aufgabe hervorgebracht hat. Es soll gezeigt werden, inwiefern Nietzsche vom Standpunkt seiner Aufgabe Kunst, Wissenschaft, Moral, Religion, Freiheit,Vernunft und Erfahrung miteinander kombiniert und sich ihnen als Philosoph, Physiologe, Psychologe, Philologe und Dichter stellt. Die Aufgabe erweist sich als Leitmotiv von Nietzsches Denken: Sie gewährleistet die Kontinuität der philosophischen Tätigkeit in der Diskontinuität der Perspektiven und Vielfalt der Kontexte, von denen aus Nietzsche seine geistigen Untersuchungen erweitert, bereichert oder unterbricht und in eine einheitliche Fügung bringt. Das Ziel der Arbeit besteht, wie gesagt, nicht darin, einen Autobiographismus aufzubauen. Sie beabsichtigt, Nietzsches Werk, seine philosophischen Ansprüche und seine Aufgabe aus seinen Charaktereigenschaften zu erklären. Es geht auch nicht primär um eine Auseinandersetzung mit der vielfältigen Rezeption und Wirkungsgeschichte Nietzsches. Gleiches gilt für die großen Themen der ewigen Wiederkehr, des Willens zur Macht, des Nihilismus und des Übermenschen sowie für die Rolle der Kunst: Sie werden zwar behandelt, aber weder als Ausgangspunkt noch als Ziel von Nietzsches Philosophieren gedeutet. Vielmehr sollen in der vorliegenden Arbeit die Leitbegriffe Aufgabe und Sinn ausgehend von der Frage nach dem Sinn des Lebens und mit Hilfe einer werkimmanenten Interpretation der veröffentlichten und zur Veröffentlichung autorisierten Schriften Nietzsches analysiert und erklärt werden. Auch die begrifflichen und existentiellen Eigenarten der Aufgabe sollen untersucht werden, weil sie Anhaltspunkte einer wechselseitigen Klärung von Lebensformen und Denkformen, von Lebensgestaltung und Sinnerfindung, von Sinnbegriff und Zeiterleben versprechen.Vor diesem Hintergrund zieht die Arbeit „Sinn“ als Lebenssinn und die Lebensaufgabe als Antriebskraft in Betracht und erörtert beide im Kontext der Philosophie Nietzsches und im Lichte der Frage nach dem Sinn des Lebens, um die darunterliegenden Existenzbedingungen ausfindig zu machen. Dies wurde in der Nietzsche-Forschung bisher nicht ausreichend und tief genug beachtet und behandelt.⁵⁵ Wir werden auch auf Nietzsches Zeitbegriff eingehen: Zeit ist für ihn kein rein mechanischer Prozess von Ursache und Wirkung, sondern ein Prozess der Selbststi-

 Außer dem oben analysierten Buch von Karl Ulmer ist die Arbeit über Nietzsches Aufgabe Nietzsche’s Task. An Interpretation of Beyond Good and Evil, von Laurence Lampert, New Haven 2001 zu beachten. Auch wenn Lampert die philosophische Tragweite der Aufgabe bei Nietzsche erkennt, analysiert er nur ihre politische Bedeutung und bezieht sich allein auf JGB. Die Umwertung aller Werte kann man zwar als Aufgabe des guten Europäers ansehen, ihre philosophische Bedeutung lässt sich jedoch nicht auf eine rein politische Ebene beschränken. Ihre philosophische und überdies existentielle Bedeutung wird nur durch eine systematische Analyse von Nietzsches ganzem Werk deutlich.

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lisierung und Sinnerfindung. Er bestimmt die Zeit auf Basis von Anhaltspunkten wie Aufgabe, Erlösung, Erlebnis, Experiment, Kunst, Sinn, Wille zur Macht und Persönlichkeit und legt sie somit als Zeiterleben aus. Schließlich ist festzuhalten, dass es nicht um eine abgeschlossene Interpretation geht. Das wird auch am Umgang mit Nietzsches Texten deutlich: gelegentlich werden Aphorismen ausführlich zitiert, aber nicht ausführlich kommentiert. Das mag man als Kritik einwenden, doch ist es eine bewusste Entscheidung und ganz im Sinn Nietzsches — damit nämlich der Leser mitdenkt, sich während der Lektüre provozieren lässt und so neue Denkanstöße gewinnen kann, die auch über unsere Interpretation hinausgehen. Bei jeder Interpretation geht es nicht nur um den Verfasser und den interpretierten Autor oder das interpretierte Thema, sondern immer auch um den Leser. Auch in diesem Sinn ist Interpretation eine Aufgabe und Herausforderung.

0.4 Themenübersicht Der hohe philosophische Stellenwert der Aufgabe wird von Nietzsche in EH eindrucksvoll geschildert. Er nutzt sie als Kriterium, um seine Philosophie von der Tradition und sich selbst von anderen Philosophen abzuheben. Mit seiner Aufgabe der Umwertung der Werte will er die Menschheit herausfordern. In EH verzichtet Nietzsche darauf, seine Philosophie auf der Grundlage von Wille zur Macht, Übermensch und ewiger Wiederkehr des Gleichen zu systematisieren. Stattdessen erzählt er sich, wie gesagt, selber sein Leben. Nietzsche hat sich im Laufe seines Denkens zuerst (ab Die Geburt der Tragödie) die Aufgabe einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins und der Welt gestellt. Dann (ab Menschliches, Allzumenschliches) widmete er sich einer radikalen Kritik der Kultur und des Daseins, bis er zuletzt (ab Also sprach Zarathustra) die Umwertung aller Werte zu seiner Aufgabe erkor. Jede Phase ist von der Erfahrung der Herausforderung gekennzeichnet. In der ersten Phase (1862– 1876) herrscht das Gefühl eines Mangels an Kraft. In der zweiten Phase (1876 – 1883), der sogenannten Freigeisterei, beabsichtigt Nietzsche eine gleichmäßige Ausbildung aller Kräfte. In der letzten Phase (1883 – 1888) erlebt er die existentielle Notwendigkeit seiner Aufgabe unterstützt von einem Übermaß der schöpferischen Kräfte.⁵⁶ Bevor die eigentliche Nietzsche-Interpretation beginnen kann, muss noch ein letzter wichtiger Anhaltspunkt unseres Interpretationshorizonts geklärt werden. Im Laufe der Arbeit wird es u. a. um folgende Fragen gehen: Hat man mich verstanden? Wie viel Wahrheit kann ein Geist wagen? Wie viel Wahrheit kann ein Geist ertragen? Warum Wahrheit und nicht vielmehr Irrtum? Und: Hat das Dasein überhaupt einen

 Abweichend dazu vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, Kapitel II. Gerhardt geht von einer Zweiteilung aus: In der ersten Phase werden die großen Sinnfragen gestellt, in der zweiten (ab 1881) werden sie experimentalphilosophisch beantwortet.

0.4 Themenübersicht

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Sinn? Bei der Auseinandersetzung mit diesen herausfordernden Fragen wird sich zeigen, um welchen „Nietzsche“ es geht. Nicht gehen soll es um den empirischen Autor oder seine konkrete, raumzeitlich und kulturell verankerte individuelle „Existenz“. Auch wird Nietzsche nicht als bloße literarische Technik dargestellt. Vielmehr sollen seine zu verhandelnden und sich wandelnden philosophischen Positionen, die provozierenden Haltungen und kompromittierenden Stellungnahmen geschildert werden, die uns noch heute tief beeindrucken. Die chronologische Herangehensweise ist weder biographisch noch werkbiographisch motiviert. Die Zeit ist vielmehr als Zeiterleben zu verstehen. Wir gehen dabei von der Etymologie des Begriffes ,Existenz‘ aus: Das lateinische Wort exsistere bedeutet ,heraustreten, vorhanden sein, stattfinden‘. Insbesondere die erste Bedeutung ist dabei von Interesse, das Heraustreten, nämlich im übertragenen Sinne als „aus sich, seiner Reserve heraustreten“ (DWDS). Wenn man diese Bedeutung in Beziehung zur Herausforderung setzt, erweist sich daraus die philosophische Prägnanz und der existentielle Sinn der Aufgabe. ,Herausforderung‘ stammt von Lat. prōvocāre (prōvocātum): ,hervor-, herausrufen, auffordern, reizen‘. Auch hier geht es um einen Prozess von innen nach außen und umgekehrt, der sich am Menschen vollzieht. Existenz ist Herausforderung und bestimmt sich durch die je individuelle Art, auf eine Herausforderung zu reagieren und zugleich Andere heruaszufordern. Das ist mehr als ein bloßer Reiz: Jeder Wille zieht in jedem Augenblick seine letzte Konsequenz. Ein solcher Prozess lässt sich beim Menschen beobachten, wenn man ihn als auf Selbsterfahrung gründenden Verklärungsprozess deutet, als Prozess der Umwertung, Sinnerfindung und Selbstgestaltung. Vor diesem Hintergrund stellt sich Nietzsche jeweils eine Aufgabe, die wir als sinnerfindende Einstellung zur verhängnisvollen Sinnlosigkeit des Lebens interpretieren.

Teil I: Die ästhetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins

1 Der junge Nietzsche 1.1 Die existentielle Nötigung und Bedeutung der Aufgabe Will man der Genealogie von Nietzsches Denken nachgehen, muss man bei Fatum und Geschichte beginnen. 1862, stark beeinflusst durch die Lektüre von Emerson und Feuerbach, schreibt der achtzehnjährige Nietzsche unter den prägnanten Titeln Fatum und Geschichte und Willensfreiheit und Fatum Gedanken nieder, in denen sich die Grundzüge seines Denkens und seines Lebens abzeichnen. Bereits in seinem Jugendalter macht er sich zur Aufgabe, „einen freieren Standpunkt [zu] wählen, um von da aus ein unparteiisches u. der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können“ (KGW I 2.431 f.) und damit sich und die Menschheit vom „Joch der Gewohnheit und der Vorurteile“ zu befreien. Er ist schon damals fest überzeugt, „daß das ganze Christentum sich auf Annahmen gründet“, und meint zugleich, „daß jene tief eingewurzelten Vorurtheile sich nicht so leicht durch Vernunftgründe oder bloßen Willen herausreißen lassen.“ (KGW I 2.433) Um diese Aufgabe zu erfüllen, plädiert der junge Nietzsche von nun an für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Geschichte und Naturwissenschaft — „die wundervollen Vermächtnisse unsrer ganzen Vergangenheit, die Verkünderinnen unsrer Zukunft, sie allein sind die sichern Grundlagen, auf denen wir den Thurm unsrer Spekulation bauen können.“ (KGW I 2.432) Unter der Lupe eben der Geschichte und der Naturwissenschaft entpuppen sich die Sitte „als ein Ergebniß einer Zeit, eines Volkes, einer Geistesrichtung“ und die Moral als „das Resultat einer allgemeinen Menschheitsentwicklung. Sie ist die Summe aller Wahrheiten für unsere Welt.“ (KGW I 2.433) Was für unsere Welt gilt, ist jedoch nicht die „Universalwahrheit“, denn es ist durchaus möglich, „daß aus den Wahrheitsresultaten der einzelnen Welten sich wieder eine Universalwahrheit entwickelt!“ Es bleibt uns nach Nietzsche unbekannt, „ob die Menschheit selbst nicht nur eine Stufe, eine Periode im Allgemeinen, im Werdenden ist, ob sie nicht eine willkürliche Erscheinung Gottes“ (KGW I 2.434) ist. Nietzsche fragt daher: „Hat dies ewige Werden nicht ein Ende? Was sind die Triebfedern dieses großen Uhrwerks?“ Mit den Antworten auf diese Fragen bereitet er seine Hauptthese vor: „Sie sind verborgen, aber sie sind dieselben in der großen Uhr, die wir Geschichte nennen. Das Zifferblatt sind die Ereignisse.“ Setzt man das ewige Werden mit der Geschichte gleich, so lässt sich mit Nietzsche fragen: „Und könnte man als jene Triebfedern nicht die immanente Humanität nehmen? (Dann wären beide Ansichten vermittelt.) oder lenken höhere Rücksichte u. Pläne das Ganze? Ist der Mensch nur Mittel oder ist er Zweck?“ Die „beiden Ansichten“, auf die Nietzsche verweist, sind natürlich das Fatum und die Geschichte. Der Mensch strebt zwar nach der Erkenntnis der Geschichte, den Triebfedern seines Lebens. Er sinnt aber hauptsächlich nach der Berechtigung seines Lebens. Nietzsche meint, dass Zweck, Veränderung, Epochen und Perioden nur für uns da sind und wir höhere Pläne nicht sehen können: https://doi.org/10.1515/9783110701890-004

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1 Der junge Nietzsche

Wir sehen nur, wie aus derselben Quelle, aus der Humanität sich unter den äußeren Eindrücken Ideen bilden; wie diese Leben und Gestalt gewinnen; Gemeingut aller, Gewissen, Pflichtgefühl werden; wie der ewige Produktionstrieb sie als Stoff zu neuen verarbeitet, wie sie das Leben gestalten, die Geschichte regieren; wie sie im Kampf von einander annehmen u. wie aus dieser Mischung neue Gestalten hervorgehen. (KGW I 2.434)

Auch wenn die Ideen aus der Humanität hervorgehen, nehmen sie eine eigene Gestalt und eigenes Leben an, so dass aus dem Kampf neue Ideen hervorgebracht werden. Die Geschichte ist von diesem Standpunkt aus nicht nur das Produkt des Menschen. Indem sie aus der Mischung der Ideen hervorgeht, bedingt sie ihrerseits das Leben und das Denken der Menschen. Deswegen behauptet Nietzsche: „Alles bewegt sich in ungeheuren immer weiter werdenden Kreisen um einander; der Mensch ist einer der innersten Kreise.“ Nur durch Abstraktion von sich und den nächst weiteren Kreisen, also der Völker-, Gesellschafts- und Menschheitsgeschichte auf noch umfassendere Kreise, kann man die Schwingungen der äußeren Kreise ermessen. Daraus ergibt sich nach Nietzsche die Aufgabe der Naturwissenschaft und die Bedeutung, die sie und die Geschichte für uns haben: „Das gemeinsame Centrum aller Schwingungen, den unendlich kleinen Kreis zu suchen, ist Aufgabe der Naturwissenschaft; jetzt erkennen wir, da der Mensch zugleich in sich und für sich jenes Centrum sucht, welche einzige Bedeutsamkeit Geschichte und Naturwissenschaft für uns haben müssen.“ (KGW I 2.434 f.) Da der Mensch die weiteren Kreise der Universalgeschichte also nur ermessen kann, indem er abstrahiert, ist „die höchste Auffassung von Universalgeschichte für den Menschen unmöglich“ (KGW I 2.435). Was Nietzsche am Herzen liegt, ist das Spannungsverhältnis des Individuums zum Volk, zur Menschheit und zur Welt. Das Grundverhältnis von Fatum und Geschichte wird daher als Problem der „Berechtigung“ des Einzelwillens gegenüber dem Gesamtwillen verstanden: Indem der Mensch aber in den Kreisen der Weltgeschichte mit fortgerissen wird, entsteht jener Kampf des Einzelwillens mit dem Gesammtwillen; hier liegt jenes unendlich wichtige Problem angedeutet, die Frage um Berechtigung des Individuums zum Volk, des Volkes zur Menschheit, der Menschheit zur Welt; hier auch das Grundverhältniß von Fatum u. Geschichte. (KGW I 2.435)

Nietzsche nimmt das Menschenleben unter die Lupe, „um seine Berechtigung im Einzelnen und damit im Gesammten zu erkennen.“ Neben der Frage, ob der Mensch nur Mittel oder auch Zweck sei, stellt er die Fragen: „Was bestimmt unser Lebensglück? Haben wir es den Ereignissen zu danken, von deren Wirbel wir fortgerissen werden? Oder ist nicht vielmehr unser Temperament gleichsam der Farbenton aller Ereignisse?“ „Unser Temperament aber ist nichts als unser Gemüht, auf dem sich die Eindrücke unserer Verhältnisse und Ereignisse ausgeprägt haben.“ Jeder wird von Kindheit an unbewusst maßgeblich beeinflusst. Wenn ferner der freie Wille „das unendlich Freie, der Geist“ (KGW I 2.436) ist, ist „das Fatum eine Notwendigkeit“. Obgleich beide Antipoden sind, schließt das eine das andere ein. Beide ergänzen sich: Das eine bestimmt das andere und umgekehrt.

1.1 Die existentielle Nötigung und Bedeutung der Aufgabe

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„Fatum ist die unendliche Kraft des Widerstandes gegen den freien Willen; freier Wille ohne Fatum ist ebenso wenig denkbar, wie Geist ohne Reelles Gutes ohne Bößes. Denn erst der Gegensatz macht die Eigenschaft.“ Nietzsche vermutet, dass „der freie Wille nichts als die höchste Potenz des Fatums“ sei: Weltgeschichte ist dann Geschichte der Materie, wenn man die Bedeutung dieses Wortes unendlich weit nimmt. Denn es muß noch höhere Principien geben, vor denen alle Unterschiede in eine große Einheitlichkeit zusammenfließen, vor denen alles Entwicklung, Stufenfolge ist, alles einem ungeheuren Ozeane zuströmt, wo sich alle Entwicklungshebel der Welt wiederfinden, vereinigt, verschmolzen, alleins. — (KGW I 2.437)

Wenn Nietzsche seine Aufmerksamkeit dabei auf höhere metaphysische Prinzipien richtet und den freien Willen im Verhältnis zur Völker-, Gesellschafts-, Menschheitsund Weltgeschichte zum Fatum analysiert, legt er schon im nächsten Essay den Akzent auf das Verhältnis der Willensfreiheit zum Fatum. Er geht davon aus, dass der Mensch nicht „über die durch den Bau des Gehirns bestimmten Grenzen hinauskommen“ (KGW I 2.437) kann. Die Freiheit des Willens, d. h. die Freiheit des Gedankens, ist nur innerhalb der Grenzen des Ideenkreises unbeschränkt und zu einer Steigerung fähig. Sie kann aber „die Weite des Ideenkreises nicht überschreiten“. „Etwas anderes ist es“, fährt Nietzsche fort, „den Willen ins Werk zu setzen; das Vermögen hierzu ist uns fatalistisch zugemessen. —“ (KGW I 2.437 f.) Er meint damit, dass die Freiheit unserer Gedanken physiologisch und gesellschaftlich bedingt ist.⁵⁷ Stellt Nietzsche in Fatum und Geschichte Willensfreiheit und Fatum als unendliche, sich bekämpfende und nicht voneinander trennbare Kräfte dar, so sieht er sie in Willensfreiheit und Fatum als zwei „dem Menschen im Spiegel seiner eigenen Persönlichkeit“ (KGW I 2.438) erscheinenden Phänomene an. Sie werden von einem anthropologischen Standpunkt als zwei „abstrakte Begriffe“ interpretiert, die jeweils für die Fähigkeit, bewusst zu handeln (freier Wille), und das Prinzip, das unser Handeln unbewusst steuert (Fatum), stehen.⁵⁸ Auch wenn Nietzsche das Fatum als „grenzbestimmend“ denkt, können wir bei bewusstem Handeln „uns ebenso sehr von Eindrücken leiten lassen, wie beim unbewußten, aber auch ebenso wenig […]. Die Seelentätigkeit dauert fort u. ebenso ungeschwächt, wenn wir sie auch nicht mit unsren geistigen Augen betrachten.“ (KGW I 2.439) Weil Willensfreiheit und Fatum als zwei Abstrakta erscheinen, zeigt sich die Berechtigung des Menschenlebens im Einzelnen und im Gesamten als auf der Idee der sich durch die Bildung entfaltenden Individualität beruhend:

 „Was ist es, was die Seele so vieler Menschen mit Macht zu dem Gewöhnlichen niederzieht u. einen höheren Ideenaufflug so erschwert? Ein fatalistischer Schädel- und Rückgratsbau, der Stand u. die Natur ihrer Eltern, das Alltägliche ihrer Verhältnisse, das Gemeine ihrer Umgebung, selbst das Eintönige ihrer Heimat.“ (KGW I 2.435 f.)  „Freier Wille ist ebenso nur ein Abstraktum und bedeutet die Fähigkeit, bewußt zu handeln, während wir unter Fatum das Princip verstehen, das uns beim unbewußten Handeln leitet.“ (KGW I 2.439)

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1 Der junge Nietzsche

Wenn wir also den Begriff des unbewußt Handelns nicht blos als ein Sichleitenlassen von frühern Eindrücken nehmen, so entschwindet für uns der strenge Unterschied von Fatum u. freien Willen und beide Begriffe verschwimmen zu der Idee der Individualität. Je mehr sich die Dinge vom Unorganischen entfernen und jemehr sich die Bildung erweitert, um so hervortretender wird die Individualität, um so mannigfaltiger ihre Eigenschaften. Selbtätige, innere Kraft und äußere Eindrücke, ihre Entwicklungshebel, was sind sie anders als Willensfreiheit und Fatum? In der Willensfreiheit liegt für das Individuum das Princip der Absonderung, der Lostrennung vom Ganzen, der absoluten Unbeschränktheit; das Fatum aber setzt den Menschen wieder in organische Verbindung mit der Gesammtentwicklung, u. nötigt ihn, indem es ihn zu beherrschen sucht, zur freien Gegenkraftentwicklung; die fatumlose, absolute Willensfreiheit würde den Menschen zum Gott machen, das fatalistische Princip zu einem Automaten. (KGW I 2.439 f.)

Nietzsches Anspruch, die christliche Lehre und Kirchengeschichte zu leugnen und die Notwendigkeit der historischen und wissenschaftlichen Untersuchung hervorzuheben, die die Moral als historisches Ergebnis und Grenze der Erkenntnis ans Licht bringt, der Versuch, auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen eine Antwort zu finden, und nicht zuletzt sein zunehmendes Interesse daran, metaphysische Probleme in psychologicis zu interpretieren, so dass Willensfreiheit und Fatum schließlich als Abstraktionen gedeutet werden, die in der Idee der Individualität verschwinden: All dies kennzeichnet nicht nur die beiden analysierten Essays, sondern Nietzsches gesamtes Philosophieren. Er drückt diese Überlegungen jedoch noch in der Form eines Entwurfs aus. Hier gilt Karl Löwiths aufschlussreiche Bemerkung: „Der erste, entscheidende Schritt zur Befreiung des Geistes, den Nietzsche fünfzehn Jahre später mit Menschliches, Allzumenschliches vollzog, und die nachfolgende Umwertung aller Werte, hat vorläufig noch die Gestalt des unentschiedenen Zweifels.“⁵⁹ Zweierlei darf abschließend nicht übersehen werden: zunächst die existentielle Bedeutung von Nietzsches Aufgabe. „Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens.“ (KGW I 2.432) Die Aufgabe, einen freien Standpunkt mit Hilfe der Naturwissenschaft und der Geschichte zu finden, um von ihm aus mit klarem Blick die Annahmen, auf die sich Religion und Christentum gründen, zu durchschauen, erweist sich als selbstgestellt. Zweitens ist die existentielle Nötigung der Aufgabe zu bedenken. Um seinen Anspruch einer Berechtigung des Menschenlebens zu erfüllen, fühlt Nietzsche sich genötigt, den inneren Widerspruch seines Lebens zu rechtfertigen. Seine selbstgestellte Aufgabe ist deshalb auf ein Grunderlebnis angewiesen, von dem er mehrmals in den Notizen aus den Jahren von 1861 bis 1863 unter dem Titel Mein Leben spricht, im Vorwort zu GM berichtet und in Fatum und Geschichte sagt: Die Existenz Gottes, Unsterblichkeit, Bibelautorität, Inspiration u. anderes werden immer Probleme bleiben. Ich habe alles zu leugnen versucht; o, niederreißen ist leicht, aber aufbauen! Und

 Karl Löwith, Nietzsche, in: Sämtliche Schriften, Bd. VI, hg.v. Klaus Stichweh, Marc B. de Launay, Bernd Lutz u. Henning Ritter, Stuttgart 1987, S. 258.

1.2 Nietzsches Grunderlebnis im Spiegel vom „interesselosen Sonnenauge der Kunst“

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selbst niederreißen scheint leichter, als es ist; wir sind durch die Eindrücke unsrer Kindheit, die Einflüsse unsrer Eltern, unsrer Erziehung so in unserem Innersten bestimmt, daß jene tief eingewurzelten Vorurtheile sich nicht so leicht durch Vernunftgründe oder bloßen Willen herausreißen lassen. Die Macht der Gewohnheit, das Bedürfniß nach Höherem, der Bruch mit allem Bestehenden, Auflösung aller Formen der Gesellschaft, der Zweifel, ob nicht zweitausend Jahre schon die Menschheit durch ein Trugbild irre geleitet, das Gefühl der eignen Vermessenheit u. Tollkühnheit: das alles kämpft einen unentschiedenen Kampf, bis endlich schmerzliche Erfahrungen, traurige Ereignisse unser Herz wieder zu dem alten Kinderglauben zurückführen. Den Eindruck aber zu beobachten, den solche Zweifel auf das Gemüth machen, das muß einem Jedem ein Beitrag zu seiner eignen Kulturgeschichte sein. Es ist nicht anders denkbar, als daß auch etwas haften bleibt, ein Ergebniß aller jener Spekulation, was nicht immer ein Wissen, sondern auch ein Glaube sein kann, ja was selbst ein moralisches Gefühl bisweilen anregt oder niederdrückt. (KGW I 2.433)

1.2 Nietzsches Grunderlebnis im Spiegel vom „interesselosen Sonnenauge der Kunst“ Der Zweifel spielt nicht nur eine theoretisch-kritische Rolle, sondern kommt in Nietzsches Leben als Grundton seines Gemütszustands vor und geht oft ins Verzweifeln über, wie sich seinen jugendlichen Notizen aus den beiden Leipziger Jahren entnehmen lässt. In diesem Zeitraum lag sein Leben vor ihm in „lauter Räthsel zerlegt“. Er will seine Verzweiflung, seine inneren Widersprüche aufgeben und strebt deshalb nach der Rechtfertigung seiner Individualität, also danach, sich „ein eigenes anpassendes Leben zu zimmern“ (KGW I 4.513). Von wesentlicher Bedeutung war für ihn die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Begeistert von diesem Meisterwerk, lässt er „jenen energischen düsteren Genius“ auf sich wirken: Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt Leben und eigen Gemüth in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfniß nach Selbsterkenntniß, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam … (KGW I 4.513)

Schopenhauers Hauptwerk bildet für Nietzsche also den Spiegel, in dem die Widersprüche seines Grunderlebnisses in einer philosophischen Beschaffenheit zur Schau kommen. Auch weist sich die seine Philosophie und sein Leben kennzeichnende Einsicht der Kunst als Retterin und Ermöglicherin des Lebens aus. Von diesem Augenblick an sieht Nietzsche in der Kunst „das volle interesselose Sonnenauge“, das den goldenen Mittelweg darstellen, die unbegrenzte Leidenschaft der Erkenntnis mit der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Forschungsmethode in einer heiteren Leidenschaftlichkeit verbinden und daher „zur Heilung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns“ (KGW I 4.513) sowie seiner eigenen Person verhelfen kann. Entscheidend für seine Schopenhauer-Rezeption und zugleich für seine Kunstauffassung ist die Lektüre des Werkes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner

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1 Der junge Nietzsche

Bedeutung in der Gegenwart von Friedrich Albert Lange, das Nietzsche 1866, im Jahr der Veröffentlichung, liest. Welch tiefen Eindruck diese Lektüre auf Nietzsche hinterlässt⁶⁰ und welche Schlussfolgerungen er daraus zieht, lässt sich aus einem oft zitierten Brief an Carl von Gersdorff ⁶¹ ableiten. Einerseits erlangen die Formen der Subjektivität den Vorrang innerhalb des Erkenntnisprozesses. Daher ist jedes Erkenntnisobjekt auf die menschliche psycho-physische Organisation, in der Lange das kantische Transzendentale umsetzt, angewiesen und wird von ihr bestimmt. Nietzsche sieht den schopenhauerschen Willen aus diesem Grund als vom Menschen gebildeten, als ausgedachten Schein an. Andererseits zeigt sich die ausschlaggebende Aufgabe der Poesie, die zur Begriffsdichtung wird: Sie ist der einzige Zugang zur noumenischen Welt. Damit fungiert die Dichtung als Gegengewicht zum Pessimismus, dem eine nicht über die Grenzen der Erscheinungswelt hinausgehende Vernunft innewohnt. Unter diesen Bedingungen nimmt Nietzsches Wunsch zu, die Kunst als Aufgabe und Verklärung zu verstehen. Das Leben wird ihm zum Problem. Als Quelle und Prüfstand des Denkens, Handelns und Fühlens rekurriert er immer öfter auf die Sinnlichkeit und das Erlebnis. Von seiner existentiellen Not herausgefordert, sieht er seine Gefühlsregungen als Katalysatoren und Stimulantia des Lebens an. Die Selbsterkenntnis und die Selbstbeherrschung sind Hauptprobleme und -ziele seiner philosophischen Untersuchungen. Dazu setzt er die Kunst ein. Die Kunst soll den Menschen erheben, indem sie es ihm ermöglicht, das Dasein und die Welt zu rechtfertigen, mit Hilfe des Mythos der Vergangenheit den Charakter

 Siehe dazu Domenico M. Fazio, Nietzsche e il criticismo, Urbino 1991, und Mattia Riccardi, „Der faule Fleck des kantischen Kriticismus“. Erscheinung und Ding an sich bei Nietzsche, Basel 2009.  […] Schließlich soll auch Schopenhauer noch erwähnt werden, an dem ich noch mit vollster Sympathie hänge. Was wir an ihm haben, hat mir kürzlich erst eine andere Schrift recht deutlich gemacht, die in ihrer Art vortrefflich und sehr belehrend ist: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart von Fr. A. Lange. 1866. Wir haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und Naturforscher vor uns. Sein Resultat ist in folgenden drei Sätzen zusammengefaßt: 1) die Sinnenwelt ist das Produkt unsrer Organisation. 2) unsre sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes. 3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns. Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen? – Du siehst, selbst bei diesem strengsten kritischen Standpunkte bleibt uns unser Schopenhauer, ja er wird uns fast noch mehr.Wenn die Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym sich vor Schopenhauer verkriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer. Damit lebe heute wohl, lieber Freund. […]Adieu, lieber Freund, Dein F W. Nietzsche.“ (Nr. 517, KSB 2.159 – 161)

1.3 Philosophia facta est quae philologia fuit

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des Ewigen und Exemplarischen aufzuprägen und mithin das Handeln in einen sicheren Horizont einzubeziehen. Durch die Kunst kann der Mensch sein Leben verklären, erst durch sie wird das Leben lebenswert. Die Tragödie als metaphysischer Trost und Sinnschöpfung des Lebens ist daher das höchste und edelste Erzeugnis der Kunst. In Nietzsches zitiertem Brief klingt diese einige Jahre später in GT maßgeblich heilende und lebensfördernde Kraft der Kunst schon an. „Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“ (GT, KSA 1.56) Die Kunst kommt einer Lebensnot nach und zeichnet sich als Lebenskunst ab.

1.3 Philosophia facta est quae philologia fuit Neben seiner Lektüre von Emerson, Feuerbach und Lange und der Entdeckung Schopenhauers spielen auch die von Nietzsche in Schulpforta erhaltene strenge klassische Ausbildung und nicht zuletzt die Bekanntschaft mit dem berühmten Hochschullehrer Friedrich Ritschl eine wesentliche Rolle bei der Bildung seiner Individualität. Die gelehrten, geistreichen wie geistig offenen Schullehrer in Pforta prägten wie auch Ritschl Nietzsches geistige Entwicklung nachhaltig. Er war derart von seiner humanistischen Bildung und seinen Lehrern beeindruckt, dass er nach dem Schulabschluss all seine Pläne eines Künstlerlebens aufgab und sich dem Studium der Philologie widmete. In seiner Studienzeit, zunächst in Bonn und dann in Leipzig, fühlt er sich mehr von der Lehrmethode als vom Stoff der Vorlesungen angezogen. Nietzsche wird sich immer mehr der schaffenden Kraft der Methode bewusst und insbesondere der Tatsache, „daß das Vorbildliche der Methode, der Behandlungsart eines Textes usw, jener Punkt sei, von dem die umschaffende Wirkung ausgehe.“ (KGW I 4.511 f.)⁶² Dementsprechend beabsichtigt er, „ein wahrhaft praktischer Lehrer zu werden und vor allem die nöthige Besonnenheit und Selbstüberlegung bei jungen Leuten zu wecken, die sie befähigt das Warum? Was? und Wie? ihrer Wissenschaft im Auge zu behalten.“ (KGW I 4.512)⁶³ So wurde Nietzsche also zum Philologen,⁶⁴ und er sah die Philologie sein Leben lang als seine „zweite Natur“ an. Das heißt aber nicht, dass er die Kunst gänzlich preisgäbe. Sie rückt vorübergehend in den

 „Die Methode wars, für die ich lebhafte Teilnahme hatte; sah ich doch, wie wenig auf Universitäten stoffliches gelernt wird und wie trotzdem der Werth derartigen Studien allseitig aufs höchste geschätzt wird. Da wurde mir deutlich, daß das Vorbildliche der Methode, der Behandlungsart eines Textes usw, jener Punkt sei, von dem die umschaffende Wirkung ausgehe“ (KGW I 4.511 f.).  Für die Bedeutung von Nietzsches „Bedürfnis nach tiefgreifender pädagogischer Wirksamkeit“ und für den hohen Belang von pädagogischen Überlegungen in seiner Philosophie siehe die umfangreiche Monografie von Timo Hoyer, Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biographie und Rezeption, Würzburg 2002.  Vgl. KGW I 4.515.

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Hintergrund zugunsten der Philologie, die er als Gegengewicht zu seinen künstlerischen Neigungen einsetzt.⁶⁵ Zeugnis von Nietzsches innerer Spaltung zwischen Kunst und Philologie gibt auch die von ihm 1869 zu seiner Berufung an der Basler Universität gehaltene Antrittsvorlesung Homer und die klassische Philologie. Er verfolgt in ihr den Zweck, eine der umstrittensten philologischen Fragen — „die homerische Frage“ — nicht bloß durch philologische Analysen zu lösen, sondern in strengem Fernhalten aller Einzelheiten […] die philosophischen und ästhetischen Grundzüge des homerischen Persönlichkeitsproblems vorzuführen: in der Voraussetzung, daß die Grundformationen jenes weitverzweigten und tief zerklüfteten Gebirgs, welches als die homerische Frage bekannt ist, sich am schärfsten und deutlichsten in möglichst weiter Entfernung und von der Höhe herab aufzeigen lassen. (KGW II 1.267)

Für Nietzsche ist die zeitgenössische Philologie „ein Zaubertrank“, ein mattes Wort, eine Wissenschaft ohne Sachwert und begriffliche Einheit, ein „unorganischer Aggregatzustand“ (KGW II 1.249) aus mehreren Wissenschaften. „Sie ist ebensowohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Ästhetik“: „Ästhetik endlich, weil sie aus der Reihe von Altertümern heraus das sogenannte „klassische“ Altertum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt herauszugraben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewiggültigen entgegenzuhalten.“ Die Zusammensetzung ihrer wissenschaftlichen und ästhetischethischen Triebe verdankt die Philologie ihrer ursprünglich kulturellen Relevanz und der Tatsache, dass sie „ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist.“ (KGW II 1.250) Gegenstand von Nietzsches Interesse ist hauptsächlich die umschaffende Kraft, die die Wissenschaft mit der Kunst gemein hat, also die Tatsache, „daß ihr das Alltäglichste völlig neu und anziehend, ja wie durch die Macht einer Verzauberung als eben geboren und jetzt zum ersten Male erlebt erscheint“ (KGW II 1.251). Nietzsche stellt Kunst und Wissenschaft gegenüber, weil sie im Menschen bzw. Wissenschaftler den unversöhnlich scheinenden Widerspruch auslösen: „Das Leben ist wert, gelebt zu werden, sagt die Kunst, die schönste Verführerin; das Leben ist wert, erkannt zu werden, sagt die Wissenschaft.“ (KGW II 1.251 f.) Ein auf Kunst und Wissenschaft gründender Ansatz ist einem rein wissenschaftlichen vorzuziehen, denn eine rein wissenschaftliche Stellung zum Altertum heißt nach Nietzsche, dass man immer auf „das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Atmosphäre“ (KGW II

 So die aufschlussreichen Bemerkungen von Carlo Gentili, Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie, Basel 2010, S. 30 f., dessen Schlussfolgerungen wir übernehmen: „Allerdings darf ein entscheidendes Element nicht übersehen werden. In der Betrachtung des reifen Mannes, der rückblickend seine eigene Gelehrtenkarriere deutet, heißt es ausdrücklich, dass die zweite Natur die erste nicht vernichten, sondern sie ertragen helfen soll: Die Philologie kann die Poesie, das Studium das Leben nicht auslöschen.“ Siehe zu diesem Thema auch Giuliano Campioni, Leggere Nietzsche. Alle origini dell′edizione critica Colli-Montinari, Pisa 1992, S. 98 – 107.

1.3 Philosophia facta est quae philologia fuit

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1.252) verzichten muss. So ist für ihn „Homer als der Dichter der Ilias und Odyssee […] nicht eine historische Überlieferung, sondern ein ästhetisches Urteil.“ (KGW II 1.263) Homer ist das Produkt einer ästhetischen Wahl und Ausdruck dessen, was in einer Kultur „ewiggültig“ bleibt. Erstrebt „die gesamte wissenschaftlich-künstlerische Bewegung dieses sonderbaren Zentauren“, d. h. der klassischen Philologie, „jene Kluft zwischen dem idealen Altertum […] und dem realen zu überbrücken“, um damit „die endliche Vollendung ihres eigensten Wesens, völliges Verwachsen und Einswerden der anfänglich feindseligen und nur gewaltsam zusammengebrachten Grundtriebe“ (KGW II 1.253) zu erreichen, muss die Philologie im Horizont der Philosophie einbezogen werden, wie Nietzsche am Schluss seiner Antrittsrede nach „der allerpersönlichsten Art“ mit Berufung auf Seneca⁶⁶ ausdrücklich betont: Auch einem Philologen steht es wohl an, das Ziel seines Strebens und den Weg dahin in die kurze Formel eines Glaubensbekenntnisses zu drängen; und so sei dies getan, indem ich einen Satz des Seneca also umkehre: „philosophia facta est quae philologia fuit.“ Damit soll ausgesprochen sein, daß alle und jede philologische Tätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt. (KGW II 1.268 f.)

In dieser für einen Philologen sehr unkonventionellen Rede kommen bereits einige der zukünftigen Züge von Nietzsches Denken zum Ausdruck. Darunter ist die Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst, die sich unter der Optik des Lebens abspielt und in der Frage zuspitzt: „Was ist das Leben überhaupt Wert? Gelebt oder erkannt zu werden?“ Die Spannung zwischen Wissenschaft und Kunst stellt den Kampf der dem Menschen und der Kultur innewohnenden Kräfte gegeneinander dar. Auch sind Wissenschaft und Kunst für Nietzsche einerseits Tätigkeiten und andererseits zugleich „durchaus verschiedenartige wissenschaftliche, ästhetisch-ethische“ und sich bekämpfende Triebe, die den Menschen zu einem unbegrenzten Verlangen nach (Selbst‐)Erkenntnis drängen und zur Notwendigkeit, sich einen heilenden und schützenden Lebenshorizont zu bauen, vor dem das eigene Handeln eingebettet werden kann. Diese Lebenshaltung liegt der die zweite Unzeitgemässe Betrachtung beherrschende Frage zugrunde: „Wie kann sich ein Individuum beiden Trieben hingeben ohne zugrunde zu gehen?“ Die klassische Philologie vermag es nur durch die Kunst, „der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewiggültigen entgegenzuhalten“ und daher der Aufgabe nachzugehen, entscheidende Probleme für die Kultur und das Leben zu lösen. Es ist

 Von Bedeutung ist auch der Kontext, aus dem heraus Nietzsche den Satz von Seneca extrapoliert. In der fraglichen Epistula moralis ad Lucilium (Nr. 108) plädiert auch Seneca für eine lebenszugewandte Bildung anstelle einer gelehrten Ausbildung.

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dabei aber nicht zu übersehen, dass ihr Konflikt nur aufgehoben werden kann, wenn beide im Flussbett einer philosophischen Weltanschauung zusammenfließen. Die Philologie muss in die Philosophie umschlagen wie in GT die Wissenschaft in die Kunst. In seiner Antrittsrede steht im Hintergrund, dass Nietzsche die klassische Philologie im Spiegel seines Lebens und seiner Aufgabe betrachtet und bestimmt. Das wird deutlich, wenn man nach der Funktion der Philologie fragt: Nietzsche weist ihr vorläufig diejenige Rolle zu, die ab GT das Merkmal der Kunst ausmacht — die Philologie ist „tröstend“ (KGW II 1.268). Wenn man schließlich seinen Briefwechsel betrachtet, wird Nietzsches Einstellung zu Wissenschaft, Philosophie und Kunst noch klarer. In einem 1870 an Erwin Rohde gesendeten Brief, in dem Nietzsche sich zweifelnd über die Möglichkeit äußert, ein echter Philologe zu werden, schreibt er: „Wissenschaft, Kunst und Philosophie wachsen jetzt so sehr in mir zusammen, dass ich jedenfalls einmal Centauren gebären werde.“ (Nr. 58, KSB 3.95) Die Philologie hat bekanntlich Nietzsches Denken und insbesondere seinen Auslegungsbegriff und seine Interpretationspraxis tiefgreifend beeinflusst.⁶⁷

 Siehe dazu: Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin 2005. In seiner maßgeblichen Monographie liefert Benne eine philologisch-literaturwissenschaftliche Lektüre von Nietzsches Denken und stellt „die Auffassung in Frage, wonach sich Nietzsche spätestens seit der Tragödienschrift von der Philologie abgewendet habe“ (S. 22). Durch einen wissenschaftshistorischen Zugang weist Benne zudem die ausschlaggebende Rolle der methodischen Praxis philologischer Interpretation für Nietzsches ganzes Werk nach. Er geht dabei von der These aus, „dass die Philologie auf Nietzsches Denken, und das heißt auf seine Schriften, stärker gewirkt hat als bisher wahrgenommen. Nietzsche ist Philosoph, Psychologe und nicht zuletzt Antichrist unter philologischen Vorzeichen geworden. […] Nietzsches Begriff der Philologie sowie sein philologischer Textbegriff erweisen sich als Schlüssel (wenngleich nicht Generalschlüssel) zu einem Werk, das bekanntlich viele Eingänge und Hintertüren hat.“ (S. 12) Laut Benne bleibt bei Nietzsche „die Philologie sein Leben lang Leitwissenschaft und Ideal der Exegese – auch die ,Genealogie‘ hat er schließlich in Anlehnung an sie entworfen“ (S. 25).

2 „Die Kunst als die höchste Aufgabe und die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Lebens“ in Die Geburt der Tragödie „die Selbstvernichtung der Erkenntniß und Einsicht in ihre letzten Grenzen war das, was mich für Kant und Schopenhauer begeisterte. Aus dieser Unbefriedigung glaubte ich an die Kunst.“ (NL 7[7], KSA 10.239)

Der junge Nietzsche versucht, den inneren Kampf der Kräfte gegeneinander nicht zugunsten der einen oder der anderen Kraft aufzulösen, sondern ihn produktiv zur Versöhnung aller Kräfte zu steuern. Er bezweckt nicht nur eine Selbstbesinnung, die der Selbstbildung dient und infolgedessen die Selbstverwirklichung ermöglicht. Er projiziert seinen inneren Kampf und seine Selbstforschung von Anfang an auf die Kultur, in deren Zentrum er das Spannungsverhältnis des Einzelnen zum Ganzen rückt. Von entscheidender Bedeutung sind Nietzsches Erfahrungen in der Basler Studienzeit. Nach der Berufung zum Professor an der Basler Universität will er als Lehrer oder, wie er 1874 in einem Brief an Emma Guerrieri-Gonzaga schreibt, als „“Erzieher“ in einem grossen Sinne“ (Nr. 362, KSB 4.224) wirken. Seine auf das schöpferische Potential der Kunst zielenden philologischen und philosophischen Interessen richtet er auf die Bildung. Wie sich im Nachlass belegen lässt, nehmen Nietzsches Überlegungen über die Bildung ab 1870 in bemerkenswertem Umfang zu. Dabei stellt er sich mehrfach die Frage nach dem Wesen und Zweck der Bildung, wie man aus der folgenden Nachlassstelle exemplarisch ableiten kann: A. Was ist Bildung? Zweck der Bildung. Verständniß und Förderung seiner edelsten Zeitgenossen. Vorbereitung der Werdenden und Kommenden. Die Bildung kann sich nur auf das beziehen, was zu bilden ist. Nicht auf den intelligibeln Charakter. Aufgabe der Bildung: zu leben und zu wirken in den edelsten Bestrebungen seines Volkes oder der Menschen. Nicht also nur recipiren und lernen, sondern leben. Seine Zeit und sein Volk befreien von den verzogenen Linien, sein Idealbild vor Augen zu haben. Zweck der Geschichte, dies Bild festzuhalten. Philosophie und Kunst: ein Mittel ist die Geschichte. Die höchsten Geister zu perpetuiren: Bildung ist Unsterblichkeit der edelsten Geister. Ungeheures Ringen mit der Noth – die Bildung als verklärende Macht. Durchaus produktiv zu verstehen. Beurtheilung des Menschen hängt durchaus auch von der Bildung ab. Die Aufgabe des Gebildeten, wahrhaftig zu sein und sich wirklich in ein Verhältniß zu allem Großen zu setzen. Bildung ist das Leben im Sinne großer Geister mit dem Zwecke großer Ziele. (NL 8[92], KSA 7.257 f.) https://doi.org/10.1515/9783110701890-005

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Bildung bedeutet also für Nietzsche nicht lediglich Gebildetsein oder ein erworbenes Allgemeinwissen. Ihre Aufgabe besteht nicht nur darin, dass sie einem Volk oder den Menschen ermöglicht, etwas zu rezipieren und zu lernen, sondern es liegt in ihrer Macht, das Kommende und Werdende zu gestalten. Die Bildung soll das Leben der Völker und Menschen erst ermöglichen, indem sie ihnen durch Philosophie und Kunst ihr Idealbild schafft und ihnen dieses Bild durch die Geschichte vor Augen hält. Ihre Aufgabe liegt darin, die Größe des Menschen zu bilden und sie als Vorbild festzuhalten. Dazu benötigt und perpetuiert sie zugleich die edelsten Geister. Bildung ist somit „das Leben im Sinne großer Geister mit dem Zwecke großer Ziele“. Was sie als lebensfördernd und wirksam auszeichnet, ist ihr „ungeheures Ringen mit der Not“. An dieser Stelle offenbart sich die wesentliche Bedeutung, die Nietzsche seinem Grunderlebnis beimisst. Kultur entsteht, wie die Lebensgestaltung, aus einer existentiellen Not. Der Mensch ist von der Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Lebens herausgefordert, über sich selbst hinauszugehen und seine produktiven Kräfte einzusetzen, um dem Dasein einen Sinn zu verleihen und es lebenswert zu machen. Der Sinnlosigkeit zum Trotz das Leben so zu gestalten, dass wir nicht nur ersehnen weiterzuleben, sondern uns fortzupflanzen: Darin besteht für Nietzsche die Größe des Menschen, auf der die Bildung gründet und dank der sie lebt. Die Bildung ist also grundsätzlich eine produktive, eine „verklärende Macht“, die Nietzsche zufolge der Philosophie und der Kunst als schöpferischer Mächte der Größe und der Geschichte als Vermittlerin der Größe bedarf. Die Synthese aus Wissenschaft bzw. Geschichte, Philosophie und Kunst nimmt 1872 ihre erste Gestalt an, als Nietzsche Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik veröffentlicht. Im „Vorwort an Richard Wagner“ macht Nietzsche deutlich, dass er sich in seiner Arbeit mit „einem ästhetischen Problem“ beschäftigt und „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens […] überzeugt“ (GT, KSA 1.24) ist. Dabei werden Philosophie,Wissenschaft und Kunst im Rahmen des für jede tragische Philosophie charakteristischen Verhältnisses zwischen Sein und Schein bzw. Erscheinung und Ding an sich eingefügt. Die Kunst hat nun nicht mehr, wie noch in der Basler Antrittsvorlesung, bloß die Aufgabe, ein Verhältnis zur Vergangenheit herzustellen, das auf eine ideale Antikeauffassung zielt, sondern sie soll eine eigentliche Rechtfertigung der Welt und des Daseins liefern, die Wiedergeburt der Tragödie (vgl. GT, KSA 1.103) begünstigen und so eine tragische Kultur in Gang setzen. Nietzsches Aufruf lautet: [Wir] müssen uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. (GT, KSA 1.102 f.)

Zu diesem Zweck muss man die Fundamente der griechischen Kulturgebäude ans Tageslicht bringen und sie analysieren, „müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente er-

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blicken, auf die es begründet ist.“ (GT, KSA 1.34) Mit Berufung auf Schopenhauers Philosophie und Wagners Auffassung der Musik als „Gesammtkunstwerk“ geht Nietzsche von einer „ästhetischen Wissenschaft“ aus, die sich auf die griechischen Gottheiten Apollon und Dionysios, „die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten“ (GT, KSA 1.103), stützt. Apollon ist der Gott des Traumes, des Maßes und der bildenden Kunst, Dionysios dagegen der Vertreter des Rausches und der Musik. Apollon ist also der „verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Sein’s, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt.“ Wenn sie, „durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen „Willens“, mit einander gepaart erscheinen“ (GT, KSA 1.25), erzeugen sie „in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie.“ (GT, KSA 1.26) Daher lässt sich das Wesen der Tragödie „einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren …“ (GT, KSA 1.95) Die dionysische Tragödie erzielt die Wirkung, „dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt.“ (GT, KSA 1.56) Sie bietet den Zuschauern den metaphysischen Trost, „dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei.“ Der metaphysische Trost vollzieht sich nicht in der apollinischen Schöpfung und Betrachtung des schönen Scheins bzw. der Welt der individuationis, sondern in der vorläufigen Versöhnung mit dem Ureinen durch die dionysische Ekstase. Nur so empfindet das Individuum für einige Augenblicke die ursprüngliche Freude an der Erzeugung und Vernichtung des Individuums, weil es eins mit dem Ureinen ist. Das Individuum gibt sich jetzt der wahren, unverstellten Stimme der Natur hin: „Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!“ (GT, KSA 1.108) Dieses dank der Kunst zugängliche Erlebnis der wesentlichen Unzerstörbarkeit und schöpferischen, lustbereitenden Macht des Lebens ist dasjenige Grunderlebnis, auf dem Nietzsches „Artistenmetaphysik“ tatsächlich beruht. Diesem Grunderlebnis kommt deshalb eine Schlüsselstellung in Nietzsches Tragödien- und Kulturauffassung zu, weil es die Erlösung des Einzelnen durch seine Auflösung in der Natur ermöglicht, indem der Einzelne das von der Sinnlosigkeit und Grausamkeit seines Daseins verursachte Leiden durch das Erlebnis der ewig schöpferischen Kräfte der Natur in Lust umwandelt. Im Moment, als das ästhetische Erlebnis der Erlösung durch den wissenschaftlichen Glauben an eine objektive Wahrheit verdrängt wurde und sich der noch lösbare Widerspruch zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen in den unlösbaren Konflikt zwischen dem Dionysischen und dem Sokratischen umwandelte, starb die attische Tragödie. Sie starb tragisch, nämlich „durch Selbstmord, in Folge eines un-

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lösbaren Conflictes“ (GT, KSA 1.75): des Konflikts zwischen dem Dionysischen und dem Sokratischen. Gegen Euripides setzte sich Sokrates’ praktischer Pessimismus durch, „das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen.“ Im Gegensatz zu Lessing, dem „mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei“, kam, so Nietzsche, zur Welt zuerst in der Person des Sokrates „eine tiefsinnige Wahnvorstellung, […] jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei.“ (GT, KSA 1.99) Durch diesen Glauben versucht der metaphysische Trieb auch jetzt noch, „sich eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft …“ (GT, KSA 1.148) Trotzdem sagt Nietzsche ausdrücklich: „Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist.“ (GT, KSA 1.99) Hier wird Nietzsches Ziel deutlich, den Wissenstrieb durch den Kunsttrieb zu bändigen. Um zu vermeiden, dass die Wissensgier ins Leere läuft, wird der Wissenstrieb an seine Grenzen gestoßen und in Kunst umgewandelt. Damit wird das Risiko einer bodenlosen Erkenntnis umgangen und die künstlerischen Kräfte freigesetzt. Durch einen solchen Mechanismus gelangt man zur neuen Form der Erkenntnis, „der tragischen Erkenntniss“, die, „um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.“ (GT, KSA 1.101) Die tragische Erkenntnis wird im tragischen Mythos verdeutlicht. Der Mythos zeigt, dass die dionysische Weisheit „ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe.“ (GT, KSA 1.67) Durch den tragischen Mythos und die Musik werden in der Tragödie die Grausamkeit und das Leid des Lebens verklärt. Die Griechen kannten und fühlten die Schrecken, Entsetzlichkeiten und die Sinnlosigkeit des Daseins, wie im Mythos des Silen⁶⁸ verhängnisvoll zum Ausdruck kommt. Sie ahnten und fühlten das Ureine bzw. den „Willen“ als tiefsten grässlichen Urgrund der Welt und des Daseins und hielten sich deshalb den verklärenden Spiegel der olympischen Gottheiten „aus tiefster Nötigung“ vor, um leben zu können (vgl. etwa GT, KSA 1.35). Die Kunst verklärt also nicht die Realität der Erscheinungswelt, sondern die Sinnlosigkeit des Daseins. Die Kunst ist nämlich „nicht

 „Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben“.“ (GT, KSA 1.35)

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nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt.“ (GT, KSA, 1.151) In der Tragödie erbringt die Kunst ihre höchste verklärende Leistung. Die dionysische Musik kann den absterbenden Mythos erblühen lassen. Auf der Bühne wird der Mythos des leidenden Dionysos vorgestellt. Dionysos symbolisiert nach Nietzsche den tragischen Helden, und „alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u. s. w. [sind] nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus.“ (GT, KSA 1.71) Daher „erscheint“ Dionysos „in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum“ (GT, KSA 1.72). Das Leiden ist aber zugleich die Vorbedingung der Wiedergeburt von Dionysos. Nietzsche stützt sich auf den Mythos des als Zagreus verehrten Dionysos, von dem erzählt wird, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei […]: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich unter Umwandlung in Luft,Wasser, Erde und Feuer sei […]. In jener Existenz als Zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmühtigen Herrschers“ (GT, KSA 1.72).

Dionysos kann also in vielfältigen Gestalten wiedergeboren werden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Eigenart von Nietzsches Dionysos-Interpretation: Dionysos ist dadurch gekennzeichnet, dass er „jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott“ ist, die Einheit der Natur in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erkennen lässt und das Leiden in Lust umwandelt. Außerdem erzielt das Dionysische in der Tragödie eine wirksame Erlösung, weil es einen unmittelbaren Zugang zum Ureinen bietet. Im Dionysischen wird das Wesen der Welt und des Daseins nicht erkannt oder gedacht, sondern erlebt. Im Erlebnis sind wir eins mit dem schaffenden Lebensprozess — darin sind Schöpfer und Geschöpf vereint und werden die durch den genannten Mechanismus freigesetzten künstlerischen Kräfte im Dienst des Lebens genutzt. So gelangt man zur „Mysterienlehre der Tragödie: die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. —“ (GT, KSA 1.73) In der Tragödie haben wir nun ein dionysisches Phänomen zu erkennen, „das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.“ (GT, KSA 1.153)⁶⁹ Eine

 Es lässt sich daher mit Barbara von Reibnitz behaupten, „dass Nietzsche, gegen Schopenhauer, die Erlösung, sowohl für das Ur-Eine, als auch für das empirische Subjekt, in die aktive Hervorbringung des Scheins, resp. der Kunst setzt. Damit ist die Formel von der ästhetischen Rechtfertigung der Welt

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solche Erkenntnis verweist auf den sich in der Tragödie abspielenden Verklärungsprozess. Der dionysische Ursprung und der durch das Spiel des Dionysischen mit dem Apollinischen zustande kommende Verklärungsprozess werden von Nietzsche ausdrücklich beschrieben: Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen. (GT, KSA 1.155)

Was also das Dasein lebenswert macht, ist ihre zweifache Verklärung. Von der Kunst und ihrer metaphysischen Verklärungsabsicht überhaupt (vgl. GT, KSA 1.151) sagt Nietzsche bereits am Anfang der Schrift: „Erst bei ihnen [Welterlösungsfesten und Verklärungstagen] erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen“ (GT, KSA 1.33). Durch die Verklärung und universelle Neugestaltung schlägt die Qual der individuellen „Zerreissung“ bzw. Zerstörung in Lust um. Wie Nietzsche am Beispiel der „Transfiguration“ von Raffael zum Ausdruck bringt, ist die Verklärung das Medium, durch das die metaphysischen, gnoseologischen, moralischen und kultur-kritischen Forderungen der GT vollzogen werden. Im Gegensatz zu den Evangelien,⁷⁰ in denen die Verklärung als Offenbarung der Wahrheit gilt, wird sie von Nietzsche als „Depotenzieren des Scheins zum Schein“ (GT, KSA 1.39) gedeutet, als eine durch und durch ausgedachte Illusion. Das bedeutet aber keine Lebensschwächung, sondern eine Lebenssteigerung: Das Leben wird lebenswert, weil die Verklärung „das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung“ (GT, KSA 1.108) zu überwinden ermöglicht. Die Transfiguration ist also das Werk der Philosophie und nicht mehr der Religion.⁷¹ Mit dieser Umdeutung der Transfiguration unternimmt Nietzsche den ersten Versuch, das Christentum umzuwerten und zu säkularisieren. Daneben versucht Nietzsche, die in seiner Kultur auftauchenden Kennzeichen einer Wiedergeburt des dionysischen Geistes zu erkennen, um ihm so zum Erfolg zu und von der Bejahung des als schrecklich erkannten Daseins vorbereitet.“ (Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Stuttgart 1992, S. 143)  Vgl. einige Texte aus dem Neuen Testament: Mk. 9 ff.; Matth. 17,1 ff. und Lk. 9,28 ff.  Vgl. Paul van Tongeren, Die Kunst der Transfiguration, in: Roland Duhamel / Erik Oger (Hg.), Nietzsche. Die Sprache der Kunst und die Kunst der Sprache, Würzburg 1994, S. 91 f., und Nicola Nicodemo, Das große Leben als Verklärungsprozess, in: Volker Caysa / Konstanze Schwarzwald (Hg.), Nietzsche – Macht – Größe, Berlin 2012.

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verhelfen. In seiner Zeit erkennt er „das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes“ (GT, KSA 1.127), das durch die deutsche Musik von Bach über Beethoven bis Wagner und die deutsche Philosophie von Kant und Schopenhauer strömt. Kant und Schopenhauer haben, so Nietzsche, „mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen.“ (GT, KSA 1.118) Sie haben die zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik vernichtet, indem sie den Glauben an eine aeternae veritates entschleiert haben, d. h. „jene Wahnvorstellung, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können“. Die Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie weist auf „eine neue Daseinsform“ hin, die Nietzsche als „die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit“ (GT, KSA 1.128) bezeichnet. So gelangt man zur tragischen Kultur: Mit dieser Erkenntnis ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. (GT, KSA 1.118).

Der Vertreter einer solchen tragischen Bildung ist nicht Ödipus.⁷² Ihm stellt Nietzsche den titanischen Künstler in Form von Prometheus gegenüber, der „in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können, fand: und dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges Leiden zu büssen gezwungen war“ (GT, KSA 1.68). Prometheus gilt als Symbol des Menschen, der sich selbst seine Kultur erkämpft und „die Götter [zwingt], sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat.“ (GT, KSA 1.67 f.) Prometheus weist zudem jenen positiven Zustand und jene Handlungsweisen auf, schöpferisch und aktiv auf die herausfordernde Not des Daseins zu reagieren, die der späte Nietzsche als „Pathos der Distanz“ bezeichnen wird. Prometheus symbolisiert die Aktivität in Gegensatz zur von Ödipus symbolisierten Passivität. Es wird eben durch dieses Erleben und „Handeln“ „ein höher magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgestürzten alten gründen“ (GT, KSA 1.65). Die Kunst kann ihre verklärende Macht entfalten, indem sie vom Menschen genutzt wird, um eine idealisierte Welt und ein idealisiertes Leben zu schaffen. Die Verklärung schafft ein lebensförderndes Lebensbild, indem sie dem Werden die Ei-

 „Ja, der Mythus [von Ödipus] scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe.“ (GT, KSA 1.67)

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genschaft bzw. den Charakter des Seins aufdrückt. Zu diesem Zweck nutzt sie den Mythos: Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. (GT, KSA 1.148)

Im Kontext von GT bedeutet Kunst ebenso Schaffenskraft des Werdens wie Hervorbringung neuer Ideen und letztlich ein „Gestaltungsexperiment“ des eigenen Lebens. Das individuelle Leben ist für Nietzsche nach dem Mythos des Silen sinnlos, und in der metaphysischen Tätigkeit der Kunst sieht er die einzige Möglichkeit, die Grausamkeit und das „Nichts“ des Lebens zu ertragen oder sogar einen positiven Nutzen aus ihnen zu ziehen. Denn im Menschen lebt seiner Meinung nach nicht nur ein latenter Wille zur Überwindung des Nichts, er sei auch von einem Übermaß an kreativer Energie und Kraft charakterisiert. Die Kunst ermöglicht es dem Menschen, die von ihm erkannte und erlebte Widersprüchlichkeit und Grausamkeit des Lebens zu überwinden und damit zu ertragen. Aus diesem Grund ist die einzig mögliche Überwindung des Nichts der metaphysische Trost oder die Verklärung als schöpferische Fähigkeit, das Hässliche und Disharmonische des Daseins in ein lebensförderndes Sinnbild umzuwandeln. Das Resultat dieses Prozesses ist die tragische Kultur, in der Erleben, Erkennen und Handel miteinander vereint sind und so ihre höchste Form bekommen. Die von Nietzsche am Anfang von GT erwähnte „ästhetische Wissenschaft“ bringt eine ästhetische Bildung hervor,⁷³ durch die das Leben, die Welt und der Einzelne im Verhältnis zum Ganzen als ästhetische Phänomene gerechtfertigt werden können. Damit ergibt sich die Kunst — um Nietzsches Satz zu wiederholen — als „die höchste Aufgabe und die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Lebens“. Durch die Auffassung der Kunst als Verklärung unterscheidet Nietzsche sich wesentlich von Schopenhauer. Er will sich vom Leben nicht abkehren und es verneinen, sondern es als sinnvolles Ganzes interpretieren bzw. verklären. Daher interpretiert Nietzsche das Werden und das Leben bzw. die Welt und das Dasein auf der Grundlage der Kunst. In der ekstatischen Versöhnung mit dem Ureinen erlebt das Einzelne das vernichtende und schöpferische Wesen der Dinge und begreift das ewige Leiden und die ewige Lust als die eigenen. Die Kunst gibt ihm das Recht, an einem neuen Leben zu bauen.

 Hier wird der Einfluss von Friedrich Schiller auf Nietzsche deutlich.

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Die maßgebliche Rolle der Kunst in Bezug auf Wissenschaft, Kultur und Leben kann als zentrales Ergebnis festgehalten werden,⁷⁴ wie Nietzsche in folgendem Notat exemplarisch zum Ausdruck bringt: Es ist für uns nicht möglich, wieder eine solche Reihe von Philosophen zu erzeugen, wie Griechenland zur Zeit der Tragödie. Ihre Aufgabe erfüllt jetzt ganz allein die Kunst. Nur als Kunst ist noch so ein System möglich. Vom jetzigen Standpunkt aus fällt auch jene ganze Periode der griechischen Philosophie mit ins Bereich ihrer Kunst. Die Bändigung der Wissenschaft geschieht jetzt nur noch durch die Kunst. Es handelt sich um Werthurtheile über das Wissen und Vielwissen. Ungeheure Aufgabe und Würde der Kunst in dieser Aufgabe! Sie muß alles neu schaffen und ganz allein das Leben neu gebären! Was sie kann, zeigen uns die Griechen: hätten wir diese nicht, so wäre unser Glaube chimärisch. Ob eine Religion hier hinein, in das Vacuum hinein, sich bauen kann, hängt von ihrer Kraft ab. Wir sind der Kultur zugekehrt: das „Deutsche“ als erlösende Kraft! (NL 19[36], KSA 7.428 f.)

Trotz der Fremdheit der Griechen der Gegenwart gegenüber und trotz der daraus folgenden Unmöglichkeit, die antike griechische Kultur wieder ins Leben zu rufen,⁷⁵ wirkt diese Kultur als Vorbild und übt durch den Mythos einen tiefgreifenden Einfluss zur Hervorbringung einer neuen Kultur aus. Diese Aufgabe kann nur die Kunst vollziehen, die Nietzsche „durchaus produktiv“ in Analogie zum schöpferischen Prozess der Natur als Verklärung, als sinnerfindenden und lebensfördernden Prozess versteht. Nietzsche versucht, sich von der hier vertretenen metaphysischen Kunstauffassung zu lösen. In einem Notat aus dem Jahr 1872 entwirft er den Wesenszug eines „Philosophen der tragischen Erkenntnis“: Für den tragischen Philosophen vollendet es das Bild des Daseins, daß das Metaphysische nur anthropomorphisch erscheint. Er ist nicht Skeptiker. Hier ist ein Begriff zu schaffen: denn Skepsis ist nicht das Ziel. Der Erkenntnißtrieb, an seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten. Die Erkenntniß im Dienste des besten Lebens. Man muß selbst die Illusion wollen – darin liegt das Tragische. (NL 19[35], KSA 7.427 f.)

Die Aufgabe besteht weiterhin in der Verklärung der Natur und der Überwindung des Leidens durch die Lust des Schaffens. Es tritt hier jedoch die Tätigkeit des Philosophen deutlicher vor. Der Erkenntnistrieb schlägt nicht in den Kunsttrieb, sondern in Selbstkritik um und dient damit dem besten Leben. Das neue Bild des Daseins, an dem der tragische Philosoph arbeitet, verrät seinen anthropomorphen Ursprung. Der Philosoph ist ein Künstler, weil er dem Dasein Einheit und Sinn nicht nur durch die Kunst verleiht, sondern auch durch die Erkenntnis und den eigenen Willen. Die Selbsttäuschung geht also mit Selbsterfahrung und Selbstgestaltung einher — darauf  Vgl. Volker Gerhardt, Nietzsches ästhetische Revolution, in: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 12– 45.  Maßgebliche Einsichten zu diesem Thema und generell über Nietzsche und die Griechen vermittelt Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin 2005.

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spielt der letzte sibyllinische Satz an. Nur unter diesen Bedingungen kann man eine neue Kultur aufbauen. Mit der Tragödienschrift bringt Nietzsche seine erste Umdeutung oder Umwertung der Geschichte zum Vollzug. Er versetzt sich in die Rolle des Künstlers und lehnt die bloß kontemplative und daher „pathologische“ Optik des Zuschauers ab. Der Sinn des Lebens fällt ihm nicht zu, wird ihm nicht einmal zugeteilt. Sinn gibt es nicht an sich, er entsteht aus einer Lebensnot, der nicht auszuweichen ist. Dies wird auch an Nietzsches Interpretation von Ödipus und Prometheus deutlich: Gegenüber dem Pathos des Ödipus bevorzugt er die schöpferische Kühnheit des Prometheus. Nietzsche lehnt nicht das Leiden, sondern die resignative Einstellung gegenüber dem Leiden ab. Prometheus ist Versucher und Versuchender,Vorbild des Erlebnisses und Träger einer radikalen Herausforderung. Er stellt sich ihr furchtlos, hoffnungsvoll, vernichtend und verschont sich nicht. Er ist sich bewusst, dass man einer solchen Herausforderung nur gerecht werden kann, wenn man auch die anderen herausfordert. Daher ist seine Gabe an die Menschheit, das Feuer, nicht aus Mitleid geschehen. Was nach Prometheus für die Menschheit entflammt, ist eine „Dialektik“, die sich am Leitfaden der Verklärung entwirrt, an dessen Ende man zum Bewusstsein gelangt, dass der Mensch kein vernunftbegabtes, sondern ein schöpferisches Wesen ist, weil er seine Unfähigkeit erfährt, durch die Vernunft das Absolute als Wahrheit zu fassen und zu manipulieren. Licht und Schatten, Asche und Flamme stehen nicht gegeneinander, sondern miteinander. Was auch immer der Mensch denkt, fühlt, verwirklicht, er tut es, weil er sich ständig herausgefordert fühlt. Er sehnt sich nach Selbsterlösung, löst sich von etwas ab, nur um sich neu in Verbindung zu etwas anderem zu setzen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Komplexität des Verklärungsbegriffs und von Nietzsches Aufgabe einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt und des Daseins. Eine solche Rechtfertigung gründet einerseits auf der Notwendigkeit der tragischen Erkenntnis, dass die Wissenschaft in Kunst umschlägt, und andererseits auf der dionysischen Weisheit, die dem Menschen ermöglicht, das Netz der Schönheit und Kunst zarter und fester über das Dasein zu flechten, um durch eine positive, aber erfundene Weltbetrachtung den unlösbaren Konflikt zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu überwinden. Dem Leben wird ein positiver Sinn zugeschrieben, den es gar nicht besitzt, um das Leid zu ertragen und weiter zu leben. So lässt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens umformulieren: Welchen Sinn muss der Mensch der Welt und dem Dasein zusprechen, damit sie lebenswert werden? Und wie kann er es tun? Es geht Nietzsche bei seiner Aufgabe nicht darum, den Sinn des Lebens zu finden (denn das Leben hat keinen Sinn), sondern seiner Nichtigkeit und dem daraus folgenden Leiden einen fiktiven, aber positiven Sinn zuzuweisen, um nicht an ihnen zugrunde zu gehen. Sub specie saeculi (von der Optik der Welt der Individuation bzw. des Apollinischen ausgehend) erscheint der Mensch als Künstler und erscheinen die

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Welt, die Moral und die Kultur⁷⁶ als die höchsten Erfindungen der apollinischen Verklärung. Um sich dem Ekel am Entsetzlichen und Absurden des Daseins zu entziehen, versucht der Künstler, sie in Vorstellungen umzuwandeln, mit denen er leben kann: Das ist die Verklärung. In diese Richtung geht auch Nietzsches Aussage: „Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint …“ (GT, KSA 1.152). Sub specie aeternitatis erscheinen Welt und Dasein als ewiges Spiel des Apollinischen und des Dionysischen bzw. als Resultat ihrer unablässigen Verklärungskraft. So lautet das Fazit: „Man muß selbst d i e Illusion wollen – darin liegt das Tragische.“ (NL 19[35], KSA 7.428) Diese existentielle Behauptung deutet Nietzsches Anspruch an, durch die Erforschung der Tragödie das Schöpferische und die lebensfördernden Kräften am Menschen ausfindig zu machen. Ab dieser Schrift wird die Verklärung ein Leitmotiv im Denken Nietzsches. Verklärung ist nicht nur ein Bezugspunkt von Kunst und Religion,⁷⁷ sondern wird auch  Vgl. GT, KSA 1.115 – 120.  Dazu auschlaggebend Markus Kleinert, „Glanz und Ermattung. Über die Verklärung als Bezugspunkt von Kunst und Religion“, in: Thomas Erne / Peter Schuez (Hg.), Der religiöse Charme der Kunst, Paderborn 2012, S. 201– 217, und Markus Kleinert „daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt“ — Nietzsches Neigung zur Verklärung, in: Helmut Heit / Sigridur Thorgeirsdottir (Hg.), Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation, Berlin 2016, S. 25 – 36. In seinen Beiträgen stellt Kleinert den Verklärungsbegriff als Begriffskomplex dar. Er schildert die Bedeutung und die komplexe Begriffsgeschichte der Verklärung, indem er etwa auf die historische Semantik des Wortes ,Verklärung‘ eingeht, auf die biblische Verklärung verweist und die Deutungs- und Wirkungsgeschichte der Verklärungsperikope bei Luther und Emerson sowie in der modernen Kunst berücksichtigt. Kleinert vertritt die These, dass der Verklärungsbegriff sich als „Bezugspunkt von Kunst und Religion“ eignet, denn er „verbindet die Idee des Wandels mit einer starken Wertung, deren Spektrum von der positiven Verherrlichung bis zur negativen Beschönigung reicht.“(S. 31) Zurecht betont Kleinert: „In der Verklärungsgeschichte lassen sich leicht Elemente ausmachen, die auf eine ästhetische Theorie übertragen, die für Analogiebildungen zwischen Kunst und Religion herangezogen werden könnten: der zentrale Akt des Erscheinens, die Dialektik von Verhüllung und Offenbarung, die Erschütterung angesichts einer überwältigenden, nicht fixierbaren Vision (einer ,geistigen Sinneswahrnehmung‘, wie es später in der Mystik heißen wird).“ (S. 205) Infolgedessen ist die Erschütterung nicht von der Verklärungsszene zu trennen; andernfalls wird der Sinn der religiösen sowie künstlerischen Verklärung entstellt. Als „Musterbeispiel für die Engführung religiöser und ästhetischer Bedeutungen“ nimmt Kleinert Nietzsches Werk in den Blick (S. 205). Bei Nietzsche trägt der Verklärungsbegriff zur Vergleichbarkeit ästhetischer, religiöser und philosophischer Daseinsformen und, aufgrund seiner Anwendbarkeit auf unterschiedliche, „kunstreligiöse“ wie aufklärerische Anschauungen, zur Bestimmung ihrer Funktion bei, ohne sie zu nivellieren. Daraus folgt laut Kleinert, dass es unentschieden bleibt, „ob Nietzsches Bezugnahme auf den Verklärungsbegriff im Hinblick auf seine Philosophie der Darstellung einer neuen Religiosität oder einer originellen Kunstreligion dient oder aber subversiv auf ein dezidiert areligiöses philosophisches Leben ausgerichtet ist.“ (S. 212) Schließlich bemerkt Kleinert: „Im 20. Jahrhundert wird die Mehrdeutigkeit der Verklärung auf die Bedeutung der Verherrlichung reduziert, dabei vor allem auf deren negative Variante, die Beschönigung; das religiöse Verständnis von Verherrlichung verliert entsprechend dem Verlust religiöser Bildung an Relevanz.“ (S. 36 f.) Um die Relevanz und Komplexität des Verklärungsbegriffs wieder aufzunehmen, darf die

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zum Angelpunkt für Nietzsches Überwindung der Aufklärung, für seine Umdeutung der Religion, für seine Interpretation des Menschen, für seine spätere Umwertung der Werte und nicht zuletzt für seine Aufgabe.

Dialektik der Verklärung nicht übersehen werden: „die affirmierte Verwandlung setzt die Kritik des vorherigen Zustands voraus, in der emphatischen Bejahung ist die Verneinung noch zu vernehmen.“ (S. 32)

3 Die Rechtfertigung der Kultur, die eigentümliche Kunst der Philosophen und die Erfindung einer höheren Daseinsform in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen In der unvollendeten Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen setzt sich Nietzsche versuchsweise mit der Rolle des Philosophen in der Kultur und seinen (anthropomorphen) Bedingungen auseinander. 1872 notiert er seine eigene selbstgestellte Aufgabe: Meine Aufgabe: deren inneren Zusammenhang und die Nothwendigkeit jeder wahren Kultur zu begreifen. Die Schutz- und Heilmittel einer Kultur, das Verhältniß derselben zum Volksgenius. Die Consequenz jeder großen Kunstwelt ist eine Kultur: aber oft kommt es, durch feindselige Gegenströmungen, nicht zu diesem Ausklingen eines Kunstwerks. Die Philosophie soll den geistigen Höhenzug durch die Jahrhunderte festhalten: damit die ewige Fruchtbarkeit alles Großen. Für die Wissenschaft giebt es kein Groß und Klein – aber für die Philosophie! An jenem Satze mißt sich der Werth der Wissenschaft. Das Festhalten des Erhabenen! (NL 19[33], KSA 7.426)

Das Denken des frühen Nietzsche nimmt immer deutlichere Konturen an. Er fokussiert sich auf den „inneren Zusammenhang und die Nothwendigkeit“ der Kultur, die ihm als Kunstwerk erscheint. Er bezweckt, den Kräften auf die Spur zu kommen, die die Kultur hervorbringen, und stößt infolgedessen auf die Philosophie. Sie erweist sich als schöpferische Kraft, Tätigkeit und Daseinsform zugleich. Die Philosophie stellt und hält fest, was für den Menschen von Bedeutung und damit für die Wissenschaft zu erkennen wert ist.Wenn die Philosophie feststellt, welche Werte und Menschen für die Menschen Größe haben und damit alle der Kultur zugrundeliegenden Kräfte bestimmt, kann man die Philosophen als Inbegriff dieser Größe sehen. Das Paradebeispiel hierfür sind nach Nietzsche weiterhin die Philosophen des alten Griechenlands. In PHG nimmt sich Nietzsche vor, „die Polyphonie der griechischen Natur endlich einmal wieder erklingen zu lassen: die Aufgabe ist das an’s Licht zu bringen, was wir immer lieben und verehren müssen und was uns durch keine spätere Erkenntniß geraubt werden kann: der große Mensch.“ (PHG, KSA 1.802) Er versucht hierbei, „die eigenthümliche Kunst des Philosophen“ (PHG, KSA 1.816) und der Philosophie ans Licht zu bringen. Trotz der Unvollständigkeit der Schrift lassen sich einige Anhaltspunkte gewinnen, die allmählich in den Horizont der philosophischen Interessen Nietzsches eintreten. Nietzsche unternimmt mit PHG den nie abgeschlossenen Versuch, „die allgemeine Lehre festzustellen, daß die Griechen die Philosophie rechtfertigen.“ (PHG, KSA 1.812) Die Griechen, so führt er aus, haben nicht in Trübsal, sondern im Glück zu philosophieren begonnen. Sie haben zur Steigerung und nicht zum Trost des Lebens https://doi.org/10.1515/9783110701890-006

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philosophiert. „Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben Ein-für-Allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch daß sie philosophirt haben“ (PHG, KSA 1.805). Dies geschah, weil die hellenische Kultur in ihrem tragischen Zeitalter einen einheitlichen Stil hatte. In ihr war der Philosoph zu Hause. Er war „nicht ein zufälliger beliebiger bald hier- bald dorthin versprengter Wanderer“ (PHG, KSA 1.809), sondern „ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Kultur“, an das ihn „eine stählerne Notwendigkeit“ fesselte. „Die Thätigkeit der älteren Philosophen geht, obschon ihnen unbewußt, auf eine Heilung und Reinigung im Großen; […] der Philosoph schützt und vertheidigt seine Heimat.“ (PHG, KSA 1.810) Er philosophiert für das Leben, nicht für gelehrtenhaftes Erkennen. Aus diesem Grund hebt Nietzsche die Persönlichkeit der Philosophen hervor: „denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare.“ (PHG, KSA 1.803) Nietzsche umschreibt die Wesenszüge des Philosophen: wer sich mit den Griechen abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfniß ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben – weil sie das, was sie lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der Kultur und mit den Zielen der Kultur philosophirt und deshalb ersparten sie sich aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern giengen sofort darauf los, diese übernommenen Elemente so zu erfüllen zu steigern zu erheben und zu reinigen, dass sie jetzt erst in einem höheren Sinne und in einer reineren Sphäre zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzuerfunden (PHG, KSA 1.807).

An dieser Stelle führt uns Nietzsche wie bereits in GT vor Augen, dass erstens die Philosophie bei den Griechen wegen eines idealen Lebensbedürfnisses immer aufs Leben ausgerichtet ist und wir genau das von ihnen zu lernen haben; dass zweitens Philosophie, Bildung und Leben notwendig zusammenhängen; dass drittens die Griechen ihren drängenden Wissenstrieb, den Nietzsche auch in sich erlebt und einige Jahre später in Morgenröthe als die ,Leidenschaft der Erkenntnis‘ benennt, durch ein ideales Lebensbedürfnis bändigten; dass viertens sie durch ihre erfinderische Kraft imstande waren, Elemente aus anderen Kulturen zu sammeln, sich anzueignen und zu ihren Gunsten in die typischen Philosophenköpfe umzuwandeln. Die Griechen sind also Menschenerfinder und haben damit eine neue höhere Daseinsform erfunden: die Philosophie. Daher erweisen sich die griechischen Philosophen gleichsam erstens als Erkennende, „die damals nur der Erkenntniß lebten“ (PHG, KSA 1.807); zweitens als Erfinder, die imstande waren, „ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden“, die aber zugleich auch Menschen der Kultur waren; und drittens schließlich als Männer, die ganz sind, in denen eine strenge Notwendigkeit zwischen Denken und Charakter herrscht.

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In diesem Sinne bilden solche Männer zusammen „eine Genialen-Republik“,⁷⁸ eine „idealisierte Philosophengesellschaft“ im Gegensatz zur Gelehrtenrepublik, die Nietzsche wie die Bildung in seinem eigenen Zeitalter erscheint. Im Gegensatz zu den Griechen hat das moderne Philosophieren keinen eigenen einheitlichen, keinen inneren Sinn und Zweck, sondern ist von äußerlichen Zwecken bestimmt: Es „ist politisch und polizeilich, durch Regierungen Kirchen Akademien Sitten Moden Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt.“ (PHG, KSA 1.812) Die griechischen Philosophen erlitten dagegen nicht den „Zwiespalt des Wunsches nach Freiheit Schönheit Größe des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur frägt: Was ist das Leben überhaupt werth?“ (PHG, KSA 1.809) Sie fragten also nur um der Erkenntnis willen nach dem Wesen, nicht nach dem Wert, Zweck und Ziel des Lebens.⁷⁹ Mit Thales kamen die Philosophen zum Satz „Alles ist Eins“ und versuchten jeweils, diesen neu auszudrücken.⁸⁰ Sie taten es, abgesehen von Bildern und Fabeleien, mit Rekurs auf ihre Erfahrung, auf ihre Beobachtung der Vorgänge in der Natur. Sie taten es also als Naturforscher. Nietzsche betont hierbei mehrfach die Tatsache, dass die Philosophen von Thales bis Anaxagoras einen tiefen Einschnitt im Leben der Griechen darstellten und sie der Geschichte eine neue Denkrichtung gaben. So fiel es den Griechen schwer, die Begriffe als Begriffe zu fassen. Sie glaubten „nur an die Realität von Menschen und Göttern“ und sahen „die ganze Natur gleichsam nur als Verkleidung Maskerade und Metamorphose dieser Götter-Menschen […]. Der Mensch war ihnen die Wahrheit und der Kern der Dinge, alles andre nur Erscheinung und

 Vgl. die NL-Notiz 29[52] aus dem Jahr 1873, KSA 7.648 f.: „Wir wollen uns ja aller Constructionen der Menschheitsgeschichte enthalten und überhaupt nicht die Massen betrachten, sondern die überall hin zerstreuten Einzelnen: diese bilden eine Brücke über den wüsten Strom. Diese setzen nicht etwa einen Prozess fort; sondern sie leben gemeinsam und gleichzeitig, Dank der Geschichte, die ein solches Zusammenrücken“ zulässt. Dies ist die „Genialen-Republik“. Die Aufgabe der Geschichte ist, zwischen ihnen zu vermitteln und so immer wieder zur Erzeugung des Großen und Schönen Anlass zu geben und Kraft zu verleihen. Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern in den höchsten Exemplaren, die, zerstreut durch Jahrtausende, zusammen alle höchsten Kräfte, die in der Menschheit verborgen sind, repräsentiren.“  Mit dieser Frage beschäftigt sich Nietzsche bereits seit 1872: „Kant hat im gewissen Sinne mit schädlich eingewirkt: denn der Glaube an die Metaphysik ist verloren gegangen. Auf sein „Ding an sich“ wird niemand rechnen können, als ob es ein bändigendes Princip sei. Jetzt begreifen wir die merkwürdige Erscheinung Schopenhauer’s: er sammelt alle Elemente, die zur Beherrschung der Wissenschaft noch taugen. Er kommt auf die tiefsten Urprobleme der Ethik und der Kunst, er wirft die Frage vom Werthe des Daseins auf.“ (NL 19[28], KSA 7.425) Anders als im oben angeführten Zitat scheint Nietzsche der Frage hier eine positive Bedeutung zuzusprechen, indem er sie als Frage der Ethik und der Kunst erkennt, nicht aber der Wissenschaft. Sie wurde von Schopenhauer aufgeworfen, um die verhängnisvollen Konsequenzen des Wahrheitstriebs zu überwinden.  Vgl. PHG, KSA 1.813: „[D]as, was zu dieser [ungeheuren Verallgemeinerung] trieb, war ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz „Alles ist Eins“.“

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täuschendes Spiel.“ (PHG, KSA 1.815) Mit Thales rückt aber die Natur ins Zentrum der geistigen Untersuchungen. Dem Menschen wird nur noch ein nebensächliches Interesse geschenkt. Um den Wissenstrieb zu beherrschen, gingen die Philosophen über das Wissenschaftliche hinaus, indem sie zu einer „mystischen Intuition“, zum Künstlerischen und zu einer Gesetzgebung der Größe griffen. Auch wenn die Weltbetrachtungen solcher Philosophen nach einer streng empirischen Erkenntnis unbeweisbar sind, waren sie, so Nietzsche, zumindest im tragischen Zeitalter unmythisch und unallegorisch gemeint. In jener „idealisierten Philosophengesellschaft“ zeigt Thales „das Bedürfniß, das Reich der Vielheit zu simplificiren und zu einer bloßen Entfaltung oder Verkleidung der einen allein vorhandenen Qualität, des Wassers herabzusetzen.“ (PHG, KSA 1.821) Anaximander erklärt dagegen den Ursprung der von ihm in der Natur beobachteten Vielheit „aus dem widerspruchsvollen, sich selbst aufzehrenden und verneinenden Charakter dieser Vielheit. Die Existenz derselben wird ihm zu einem moralischen Phänomen, sie ist nicht gerechtfertigt, sondern büßt sich fortwährend durch den Untergang ab.“ Dem stellt sich entscheidend Heraklit entgegen. Er besaß „die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung“, mit der er das Werden betrachtete. Er sah nichts als Werden, und zwar nicht die Bestrafung des Gewordenen, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Mit Berufung auf Schopenhauer deutet Nietzsche das Werden bei Heraklit als „das Wirken“: Das ganze Wesen der Wirklichkeit ist nur Wirken, und es gibt für sie keine andere Art Sein. Um aber die furchtbare und betäubende Vorstellung der völligen Unbeständigkeit alles Wirklichen, „das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist“, dem Blick des Menschen zu entziehen, überträgt Heraklit sie „in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen“, indem er den Prozess des Werdens und Vergehens der Dinge beobachtet. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu einander hin. (PHG, KSA 1.825)

Nach Heraklit entsteht alles Werden aus der inneren Spaltung einer Kraft, aus dem Krieg des Entgegengesetzten, und gerade dieser Krieg und die immer angestrebte Wiedervereinigung offenbart die ewige Gerechtigkeit. Die heraklitische Weltbetrachtung erscheint Nietzsche als „die gute Eris Hesiods, zum Weltprincip verklärt.“ (PHG, KSA 1.825) „Nur ein Grieche war im Stande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodicee zu finden“. Um seinen Satz „Das Eine ist das Viele“ zum Ausdruck zu bringen, erfand Heraklit eine erhabene „kosmische Metapher“. „— Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst, das Eine ist nur in diesem Sinne zugleich das Viele. —“ (PHG, KSA 1.828) Sowie Nietzsche in GT mit Hilfe einer Artisten-Metaphysik den Prozess des Weltaufbaus als dionysisches Phänomen erklärt, greift er auch hier auf eine Artisten-Metaphysik zurück und erklärt in Analogie zum Künstler das Feuer bzw. das Werden als Spiel. Er zielt jedoch nicht auf

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die Kunst als Trost- oder Erhebungsmittel, sondern als schaffende, zwecklose Kraft: Nietzsches Interesse besteht immer mehr darin, das der Welt, dem Leben, dem Künstler, dem Trieb innewohnende schöpferische Potential herauszustellen. Er will uns deshalb davon überzeugen, dass das heraklitische Feuer von einem „immer neu erwachendem Spieltrieb“ ergriffen wird, „wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfniß zwingt.“ (PHG, KSA 1.831) Des Weiteren wird hier zum ersten Mal betont, dass Heraklit, der die Unschuld des Werdens durch das Spiel geltend machte, die Duplizität ganz diverser bzw. der physischen und der metaphysischen Welten verneinte und daher das Sein überhaupt leugnete. Mit Heraklit kommt zum ersten Mal ans Licht, dass „das Werden kein moralisches, sondern nur ein künstlerisches Phänomen“ (PHG, KSA 1.869) ist. Das schließt aber nicht aus, dass alles der strengsten inneren Notwendigkeit gemäß geschieht. Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. (PHG, KSA 1.830)

Auf diese Weise sah Heraklit — genauer: ein im Licht der schopenhauerschen Philosophie gedeuteter Heraklit — die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit. Nietzsche zufolge wird die Rechtfertigung des Werdens als Spiel zum Leitmotiv der griechischen und zugleich seiner eigenen Philosophie. Das wird ferner auch an der Auslegung des Geistes bei Anaxagoras ersichtlich. Der Anaxagorische Geist ist ein Künstler, und zwar das gewaltigste Genie der Mechanik und Baukunst, mit den einfachsten Mitteln die großartigsten Formen und Bahnen und gleichsam eine bewegliche Architektur schaffend, aber immerhin aus jener irrationalen Willkür, die in der Tiefe des Künstlers liegt. (PHG, KSA 1.869)

Die Größe dieser Konzeption liegt Nietzsche zufolge darin, dass Anaxagoras auf „mythologische und theistische Wundereingriffe und anthropomorphische Zwecke und Utilitäten“ dadurch verzichtet, dass er den gesamten Kosmos von der irrationalen Willkür des Nous abhängig macht. Anaxagoras wird infolgedessen zum Vertreter einer nicht teleologischen Lehre, weil er dem Nous die Eigenschaft zuschreibt, „beliebig zu sein, also unbedingt, undeterminirt, weder von Ursachen noch von Zwecken geleitet, wirken zu können“ (PHG, KSA 1.872).⁸¹

 „Es ist ein Irrthum, wenn man Anaxagoras die gewöhnliche Verwechslung des Teleologen zumuthet, der, im Anstaunen der außerordentlichen Zweckmäßigkeit, der Übereinstimmung der Theile mit dem Ganzen, namentlich im Organischen, voraussetzt, das was für den Intellekt existirt, sei auch durch den Intellekt hineingekommen und das, was er nur unter Leitung des Zweckbegriffs zu Stande bringt, müsse auch von der Natur durch Überlegung und Zweckbegriffe zu Stande gebracht sein. (Schopenhauer Welt als Wille und Vorstellung Band 2, S. 373).“ (PHG, KSA 1.872)

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Als „Gegenbild“ zu Heraklit erweist sich Parmenides. Während der Erste in „sibyllenhafter Verzückung schaut“ und „erkennt“, „späht“ und „rechnet“, wird der Zweite von „Abstraktions-Schaudern“ erfasst. Sein Erzeugnis ist die „an der Strickleiter der Logik“ erkletterte Lehre vom Sein. Nietzsche hebt hervor, dass Parmenides die überreiche Wirklichkeit als einen „bloßen gauklerischen Schematismus der Einbildungskräfte“ (PHG, KSA 1.844) versteht und ihr „die starre Todesruhe des kältesten, Nichts sagenden Begriffs, des Seins“ entgegensetzt. Er kam „zur Einheit des Seienden rein durch eine vermeintliche logische Consequenz und spann sie aus dem Begriff Sein und Nichtsein heraus.“ (vgl. PHG, KSA 1.840) Er misstraut den Sinnen und missachtet sie derart, dass er das Werden als Wahnsinn und Illusion leugnet und die absolute Trennung von Sinnenwelt und Begriffswelt in die Philosophie einführt. Er reißt die Sinne und die Vernunft auseinander, „als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von „Geist“ und „Körper“ aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt.“ (PHG, KSA 1.843) In der Philosophie des Parmenides prangert Nietzsche den Missbrauch der Logik und die dementsprechende Zertrümmerung des Intellekts an. Durch seine blutleeren Abstraktionen⁸² hört Parmenides auf, ein Naturforscher zu sein, und entfremdet sich von der Realität so, dass er sein Denken auf die Identität von Sein und Denken gründet. Wenn er auf einer Seite „die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats“ (PHG, KSA 1.843) vollzieht, „präludirt“ auf der anderen in seiner Philosophie „das Thema der Ontologie“ (PHG, KSA 1.845). Nach Parmenides haben wir „ein Organ der Erkenntniß, das in’s Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist.“ (PHG, KSA 1.845) Daraus, dass wir also imstande sind, das Sein unabhängig bzw. gelöst von der Erfahrung zu denken, erschließt Parmenides auch dessen Existenz. Mit Berufung auf Aristoteles und Kant wendet Nietzsche ein,⁸³ dass erstens die „existentia“ nicht aus der „essentia“ abzuleiten ist, denn die Erste gehört nicht zu der Letzteren; dass zweitens die logische Wahrheit ohne Anschauung leer ist, „nur ein Spiel mit Vorstellungen, durch das in der That gar nichts erkannt wird.“ (PHG, KSA 1.846) Es gibt für Nietzsche keine außersinnliche Welt, die unserem Denken direkt zugänglich ist. Sein und Nichtsein sind Worte, die „nur die allgemeinste Relation“ bezeichnen, „die alle Dinge verknüpft“ (PHG, KSA 1.846). „Die Worte sind nur Symbole für die Relationen der Dinge unter einander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit“ (PHG, KSA 1.846). Sie sind Erfindungen empirischen Ursprungs, deren der Mensch bedarf, um „sich das

 „[D]as Wunderliche an jener Thatsache, um diese Zeit, ist vielmehr gerade das Duftlose Farblose Seelenlose Ungeformte, der gänzliche Mangel an Blut, Religiosität und ethischer Wärme, das AbstraktSchematische – bei einem Griechen! – vor Allem aber die furchtbare Energie des Strebens nach Gewißheit, in einem mythisch denkenden und höchst beweglich-phantastischen Zeitalter.“ (PHG, KSA 1.845)  Um seinen Angriff zu bekräftigen, zieht Nietzsche auch Anaxagoras hinzu. Siehe auch PHG, KSA 1.849 f.

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Dasein andrer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung“ (PHG, KSA 1.847), vorzustellen. In diesem Zusammenhang bekräftigt Nietzsche die Trennung zwischen dem intuitiven und dem rationalen Denken, das seine Philosophie auf verschiedene Weise durchzieht. Die Vernunft ist für Nietzsche jene der intuitiven Vorstellung entgegengesetzte Vorstellungsart, „die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird“ (PHG, KSA 1.823), sie ist „die Befähigung Abstraktionen zu denken“ (PHG, KSA 1.843). Die Vernunft ist ein rechnendes Vermögen, auf das ein rechnendes und abmessendes Denken bzw. die Wissenschaft begründet ist. Wodurch unterscheidet sich das philosophische von dem wissenschaftlichen Denken? Durch „eine fremde, unlogische Macht, die Phantasie.“ (PHG, KSA 1.814) Sie beflügelt das Denken und ermöglicht ihm, im Fluge von Möglichkeit zu Möglichkeit zu springen und Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu erblicken, die die Reflexion durch Maß und Ordnung nachträglich als Gleichheiten zu erkennen und in einem kausalen Verhältnis festzulegen versucht.⁸⁴ Der Philosoph bedient sich nach Nietzsche zwar der Wissenschaft und des Beweisbaren, geht aber bald über sie hinaus, indem er auf einen metaphysischen Boden springt: Das ist laut Nietzsche „ein typisches Merkmal des philosophischen Kopfes.“ Die Wissenschaft hat keinen Feingeschmack und verzehrt sich danach, „alles um jeden Preis erkennen zu wollen“. Im Gegensatz dazu grenzt sich die Philosophie gegen die Wissenschaft ab, indem sie sich durch ein Hervorheben und Auswählen auf die wissenswürdigsten Dinge konzentriert. Der Philosoph ist „der Mann des schärfsten Geschmacks“⁸⁵ (PHG, KSA 1.816), dessen „eigentümliche Kunst“ sich als „ein scharfes Herausmerken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden“ ergibt. Die Philosophie bändigt also das blinde Begehren des Erkenntnistriebes durch die Hervorhebung der wichtigen und großen Erkenntnisse, und zwar durch eine „Gesetzgebung der Größe“: „und am meisten dadurch, daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet.“ (PHG, KSA 1.817) Die Aufgabe der griechischen Philosophen war also die Bändigung des Wissenstriebes. Sie erfüllten diese Aufgabe durch die Stärkung des Mythisch-Mystischen bzw. des Künstlerischen sowie durch den Rekurs auf eine Gesetzgebung der Größe. Durch die Hervorhebung des Künstlerischen interpretierten sie — wie oben dargestellt — außerdem den Prozess des Weltaufbaus in Analogie zum künstlerischen Prozess. Infolgedessen erarbeiteten sie eine Ästhetisierung der Welt, welche die Un-

 „Besonders aber ist die Kraft der Phantasie mächtig im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten: die Reflexion bringt nachher ihre Maßstäbe und Schablonen heran und sucht die Ähnlichkeiten durch Gleichheiten, das Nebeneinander-Geschaute durch Kausalitäten zu ersetzen.“ (PHG, KSA 1.814)  „Das griechische Wort, welches den „Weisen“ bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, Sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausmerken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigenthümliche Kunst des Philosophen aus.“ (PHG, KSA 1.816) Nietzsche kommt auf dieses Thema erneut in VM, KSA 2.448 f., zu sprechen.

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schuld des Werdens zur Folge hatte. Im Zusammenhang mit seiner idealisierten Vorstellung über die Griechen schreibt Nietzsche den griechischen Philosophen das Verdienst zu, eine neue Kultur aus der vorherigen geschaffen zu haben und überdies eine neue Daseinsform: die Philosophie oder genauer das philosophische Leben. Darin sieht Nietzsche den „inneren Zusammenhang und die Nothwendigkeit jeder wahren Kultur“, den herauszufinden er sich vorgenommen hat. Die Aufgabe der Philosophie besteht also für Nietzsche weder darin, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, noch das „Absolute mit dem Bewußtsein zu erfassen“ (PHG, KSA 1.847). Er ist vielmehr an der Bedeutung der Erfahrung im Erkenntnisprozess, dem Wert der Erkenntnis für das Leben und dem schöpferischen Potential des Menschen interessiert. Der Philosoph sucht den Gesammtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend, wie der Religiöse, nach Zwecken und Kausalitäten spähend, wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen fühlt, behält er dabei die Besonnenheit, sich, als den Wiederschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin, in geschriebenen Versen zu projiciren weiß. Was hier der Vers für den Dichter ist, ist für den Philosophen das dialektische Denken: nach ihm greift er, um sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrificiren. Und wie für den Dramatiker Wort und Vers nur das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute, so ist der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektiren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzutheilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache. (PHG, KSA 1.817)

Das bereits in Fatum und Geschichte und GT angepackte Problem, dass alles uns im Spiegel unserer Erlebnisse bzw. der eigenen Persönlichkeit entgegenkommt, erhält in Nietzsches Denken eine eindeutigere Gestalt, wie sich aus diesem Befund schließen lässt. Nietzsche hebt noch ausdrücklicher den inneren Zusammenhang zwischen der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst sowie des Wissenstriebs und des Kunsttriebs hervor. Er spielt aber nicht Kunst und Wissenschaft gegeneinander aus; er versucht vielmehr, beide zu versöhnen und als Komponente eines Weltbilds bzw. einer Daseinsform darzustellen. Diese Daseinsform ist deshalb die Philosophie, weil sie die Sinnlichkeit nicht preisgibt, die Einbildungskraft, die Strenge der Wissenschaft und die verklärende Macht der Kunst zur Hervorbringung eines sinnhaften und lebenswerten Lebensbilds einsetzt. In ihr kommt der Philosoph als lebendiges Subjekt zum Ausdruck. Er strebt nicht die Erkenntnis um jeden Preis und dementsprechend eine Metaphysik an. Dank seinem feinen Geschmack bzw. seiner Urteilskraft wählt er aus und unterscheidet das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Große vom Kleinen, alles, das zum besten Leben erkannt oder nicht erkannt werden muss. Aufgrund dieser besonderen Eigenschaft, die dem Lebensbedürfnis Vollzug leistet, bestimmt der Phi-

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losoph den Sinn des Lebens und wird der Philosophie das maßgebende Vorrecht zugesprochen: Die Philosophie wird zur „Gesetzgebung der Größe“.⁸⁶ Daher neigt Nietzsche immer mehr zur Einsicht, dass jede Weltanschauung das Resultat einer Anthropomorphisierung ist. Die Welt und das Leben werden mittels der Sprache anthropomorphisch gedeutet. Die Interpretation ist ein Übertragungsprozess, in dem der Mensch sich „durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches“ (PHG, KSA 1.847), die Existenz der Dinge nach menschlicher Analogie vorstellt. Vor diesem Hintergrund, der die in MA thematisierte „unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen“ vorwegnimmt, erweist sich die Interpretation zugleich als Aneignungsprozess, durch den der Mensch aus Lebensbedürfnissen und nach „ungeheurem Ringen mit der Noth“ (NL 8[92], KSA 7.257 f.) die Welt und das Dasein nach menschlichem Maßstab verklärt. Diesem in seinem Denken wiederkehrenden Thema widmet sich Nietzsche eingehend in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, wo er die hier nicht genau dargelegte strenge Notwendigkeit der so wichtigen Beziehung zwischen Kultur und Philosoph schildert. Wie wir sehen werden, wird in dieser Schrift der in Nietzsches Denken immer dringlichere Anspruch auf eine enge Verschränkung und ein aktives Verhältnis von Kunst, Philosophie, Kultur und Leben deutlicher und ausschlaggebend.

 „Die Wissenschaft stürzt sich, ohne solches Auswählen, ohne solchen Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse. Nun ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. „Das ist groß“ sagt sie und damit erhebt sie den Menschen über das blinde ungebändigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der Größe bändigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet.“ (PHG, KSA 1.816 f.)

4 Der ästhetische Ursprung der Erkenntnis und der Mensch als „künstlerisch schaffendes Subjekt“ in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne In der unpublizierten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne erweitert und radikalisiert Nietzsche seine bisherigen Überlegungen über die Sprachbildung und das ästhetische Verhältnis des Menschen zu den Dingen. Nietzsche setzt sich intensiv mit der das späte 19. Jahrhundert durchziehenden sinnesphysiologischen Debatte über die Sinneswahrnehmung auseinander. Er eignet sich — teilweise auch unreflektiert⁸⁷ — verschiedene Wahrnehmungstheorien an und adaptiert sie zu seinen eigenen Zwecken: den in GT mit Bezug auf den Gegensatz von Dionysischem und Apollinischem dargelegten Verklärungsgedanken auf der Grundlage einer erkenntnis- und sprachphilosophischen Problemstellung auszuarbeiten. Nietzsche interpretiert auf radikal subjektiv-konstruktive Weise den Prozess der Sinneswahrnehmung und geht von den kühnen Aussagen aus, dass einerseits der Intellekt „der Meister der Verstellung“ (WL, KSA 1.888) ist und andererseits der „Fundamentaltrieb des Menschen“ jener „Trieb zur Metapherbildung“ ist, „den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit dem Menschen selbst wegrechnen würde“ (WL, KSA 1.887). Der Intellekt ist laut Nietzsche durch und durch „menschlich“ und nicht ewig. Er hatte in der „Weltgeschichte“ einen Anfang und wird ein Ende haben, „denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.“ (WL, KSA 1.875) Er wurde dem Individuum „als Mittel zur Erhaltung“ beigegeben und „entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung“ (WL, KSA 1.876). „Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung“. Der Mensch erfand das Erkennen und nahm den Intellekt so pathetisch, „als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.“ (WL, KSA 1.875) Des Weiteren nimmt sich „der menschliche Intellekt“ innerhalb der Natur „kläglich, schattenhaft und flüchtig, zwecklos und beliebig“ (WL, KSA 1.875) aus. Dadurch, dass der Intellekt „über das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Werthschätzung“ erzeugt, legt er den „verblendende[n] Nebel über die Augen und Sinne der Menschen“ und täuscht „über den Werth des Daseins“ (WL, KSA 1.876). Der Mensch ist laut Nietzsche von der Natur, die ihm „das Allermeiste, selbst über seinen Körper“ (WL, KSA 1.877) verschweigt, in sein „Bewusstseinszimmer“ verbannt worden. Wenn der Mensch also wegen seines Intellekts „tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder“ (WL, KSA 1.876) und wegen der Natur in seinem „Bewusstseinszimmer“ eingeschlossen ist, drängt sich die Frage auf: „Woher, in aller Welt, bei dieser Cons-

 Dazu Sören Reuter, An der „Begräbnissstätte der Anschauung“. Nietzsches Bild- und Wahrnehmungstheorie in ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘, Basel 2009, S. 195 ff. https://doi.org/10.1515/9783110701890-007

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tellation der Trieb zur Wahrheit!“ (WL, KSA 1.877), „zum reinen Erkennen der Dinge“ (WL, KSA 1.882)? Wir erleben nach Nietzsche den Wahrheitstrieb in uns, können aber dessen Ursprung nicht zurückverfolgen. Diese Frage bleibt in der Schrift unbeantwortet, weil der Mensch von Natur aus so beschaffen ist, dass er tatsächlich keinen Zugang zur Wahrheit hat: „denn es ist nicht wahr, dass das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint“ (WL, KSA 1.884). Des Weiteren ist das „Ding an sich ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.“ (WL, KSA 1.880) Nietzsche widmet sich infolgedessen der Untersuchung vom „Gefühl der Wahrheit“ (WL, KSA 1.881). Dieses Gefühl entsteht aus der existentiellen Not, gesellschaftlich zu leben: „weil der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde.“ (WL, KSA 1.877) Dieser Friedensschluss hat die Entstehung von Wahrheit und Lüge zur Folge. Aus diesem Grund fühlt sich der Mensch dazu verpflichtet, etwas als wahr zu bezeichnen; daraus „erwacht eine moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung“ (WL, KSA 1.881). „Die Menschen fliehen dabei das Betrogenwerden nicht so sehr, als das Beschädigtwerden durch Betrug. Sie hassen auch auf dieser Stufe im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen.“ (WL, KSA 1.878) Nietzsche führt noch einen weiteren Grund für die Bestimmung der Wahrheit an. „In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahrheit. Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit“. In diesem Kontext führt uns Nietzsche vor Augen, dass wahr ist, was wir für wahr halten, weil es Wirkungen hat, weil es für uns lebensfördernd und lebensdienlich ist. Es gibt keine reine folgenlose Wahrheit, keine adäquate Erkenntnis, sondern nur eine vom menschlichen Intellekt erzeugte „Wahrheit“, d. h. nur Schein. Anders gesagt, ist jede Vorstellung eine Verstellung. Daher fokussiert sich Nietzsche auf die „Bildung der Begriffe“ (WL, KSA 1.879).Von diesem Standpunkt aus ist der Mensch ein Sprachbildner, der „nur die Relationen der Dinge zu den Menschen bezeichnet und zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe nimmt.“ (WL, KSA 1.879) Metapher und Wort ergeben sich zuerst als Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild und dann des Bildes in einen Laut. Nur am Ende kommt der Begriff zu Stande. Er ist das Resultat eines anthropomorphischen Übertragungsprozesses, „das Residuum einer Metapher“, und zwar deren Hart- und Starrwerden. Der Begriff entsteht — hier wiederholt und erweitert Nietzsche die auf dieses Thema bezogenen Reflexionen von PHG — nicht durch Logik, sondern durch Unlogik, d. h. „durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ bzw. „durch beliebiges Fallenlassen der individuellen Verschiedenheiten“ (WL, KSA 1.880). Die Logik, die Strenge und Kühle der Mathematik kommen nachträglich dazu, um die Begriffe in einen großen Bau nach strenger Regelmäßigkeit zu organisieren. Der Mechanismus der Verbegrifflichung erweist sich hier als durchaus komplex. Nietzsche führt noch zwei weitere Faktoren ein, die eine immer entscheidendere Rolle

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in seinem Denken spielen werden: die Gewohnheit⁸⁸ und die Vergesslichkeit. „Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und StarrWerden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse“ (WL, KSA 1.883) kann der Mensch wagen, eine ewige Wahrheit zu besitzen, auf die er sein Leben ausrichtet. Wie die Spinne spinnt oder die Biene ihren Bienenstock baut, schafft er Begriffe. Der Mensch erhebt sich aber über die Biene, weil er „aus dem weit zarteren Stoff der Begriffe“ baut, die er erst aus sich, nicht aus der Natur „fabriciren muss“ (WL, KSA 1.882). In der Fähigkeit, „die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen“ (WL, KSA 1.881), besteht Nietzsche zufolge nicht nur der Unterschied, sondern eben die Überlegenheit des Menschen über die Tiere. Da der Begriff eine menschliche Erfindung ist, verbürgt das Verhältnis eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde keine Notwendigkeit (WL, KSA 1.884). Dementsprechend ist auch ein Naturgesetz ein „Phantasieerzeugnis“, das nicht die Gesetzmäßigkeit der Natur beschreibt und deshalb uns nicht an sich bekannt ist, „sondern nur in seinen Wirkungen d. h. in seinen Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Relationen bekannt sind.“ (WL, KSA 1.885) Zeit- und Raumvorstellungen sowie die Zahlen sind nach Nietzsche durch „künstlerische Metapherbildung“ erzeugte Formen. Der aus den Metaphern konstituierte Bau der Begriffe „ist nämlich eine Nachahmung der Zeit- Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.“ (WL, KSA 1.886) Das Denken wird von Nietzsche als selbstbezüglich aufgefasst und überdies als „vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue“ dargestellt: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden MittelSphäre und Mittelkraft bedarf. (WL, KSA 1.884)

Der Mensch ist also ein „künstlerisch schaffendes Subjekt“ (WL, KSA 1.883), das Metaphern und Begriffe bildet, um eine Welt nach menschlichem Maß zu gestalten. Wie schon in PHG betont Nietzsche, dass der Mensch ein Sprachbildner ist. Er akzentuiert diesen Aspekt durch die Behauptung, der Mensch bestimme die „Wahrheit“ durch die

 „Selbst das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde ist an sich kein nothwendiges; wenn aber eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der gesammten Menschheit jedesmal in Folge desselben Anlasses erscheint, so bekommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig nothwendige Bild sei und als ob jenes Verhältniss des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Causalitätsverhältniss sei; wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurtheilt werden würde. Aber das Hart- und Starr-Werden einer Metapher verbürgt durchaus nichts für die Nothwendigkeit und ausschliessliche Berechtigung dieser Metapher.“ (WL, KSA 1.884)

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Sprache, um sein gesellschaftliches Leben zu kodifizieren. „Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an „Wahrheit“ sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Contrast von Wahrheit und Lüge.“ (WL, KSA 1.877) Unter diesen Bedingungen ergibt sich Nietzsches berühmte ästhetische Definition der „Wahrheit“: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (WL, KSA 1.880)

Eine solche „Wahrheit“ — in Anführungszeichen — ist die Wahrheit „innerhalb des Vernunft-Bezirkes“ (WL, KSA 1.883). Es handelt sich nicht um die Wahrheit als reine Erkenntnis des Wesens der Dinge, sondern um Wahrheit als Konvention. Sie ist kein adäquater Ausdruck aller Realitäten, sondern ein Erzeugnis des Triebes zur Metaphernbildung. Der Mensch vergisst dabei, dass er ein künstlerisches Subjekt ist, und verhält sich gegenüber den Dingen so, als ob sie an sich existent wären. Aufgrund dieser Vergesslichkeit und nach hundertjähriger Gewöhnung ist sich der Mensch nicht mehr darüber bewusst, dass er lügt. Durch diese Unbewusstheit kommt er zum „Gefühl der Wahrheit“ und stellt „jetzt sein Handeln als vernünftiges Wesen unter die Herrschaft der Abstractionen“ (WL, KSA 1.881). Als „vernünftiges Wesen“ bringt der Mensch, ursprünglich durch die Sprache und in späteren Zeiten durch die Wissenschaft, den Bau der Begriffe hervor. Er zielt darauf, „die ganze empirische Welt d. h. die anthropomorphische Welt“ in die unendlich komplizierten Begriffsgebäude „hineinzuordnen“ (WL, KSA 1.886), um in ihnen so einen Halt finden und vor diesem geordneten Horizont ein ruhiges und sicheres Leben führen zu können. Trotz der regulierten und starren neuen Welt der Begriffe wird der Fundamentaltrieb zur Metaphernbildung in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich einen neuen Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist. (WL, KSA 1.887)

Durch den Mythos und die Kunst kann der Intellekt das Begriffsgespinst bezwingen. Die Begriffe erweisen sich schließlich als „Begräbnissstätte der Anschauung“⁸⁹ (WL,

 Siehe dazu Reuter, An der „Begräbnissstätte der Anschauung“. Wie der Untertitel besagt, setzt sich Reuter in seiner Monographie mit Nietzsches Bild- und Wahrnehmungstheorie in ,Ueber Wahrheit und

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KSA 1.886), als „verflüchtigte Erzeugnisse“ des Triebes zur Metaphernbildung. Der Intellekt kann jetzt die Metaphern durcheinanderwerfen und die Grenzsteine der Abstraktion verrücken. Er wird so nicht mehr von Begriffen, sondern von Intuitionen gesteuert. Daher „copirt er das Menschenleben, nimmt es aber für eine gute Sache und scheint mit ihm sich recht zufrieden zu geben.“ (WL, KSA 1.888) Der von Intuitionen geleitete Intellekt ist frei geworden. Da aber der Mensch seine Intuitionen nicht ohne weiteres durch Worte ausdrücken kann, „redet er in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.“ (WL, KSA 1.888) „Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden und feiert dann seine Saturnalien; nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener.“ (WL, KSA 1.888) Ein solcher Intellekt ist nicht mehr Diener, sondern wird zum Herrn. Er muss nicht mehr dem „Nothbehelfe der Bedürftigkeit“ gehorchen. Das „Gebälk der Begriffe“ ist ihm „nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke“. Nietzsche unterscheidet also zwischen dem vernünftigen und dem intuitiven Menschen, die in einigen Zeitaltern „neben einander stehen, der eine in Angst vor der

Lüge im aussermoralischen Sinne‘ kritisch auseinander. Er analysiert Nietzsches Erkenntniskritik im Spannungsfeld der beiden Hauptströmungen der nachkantischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, des Idealismus und des Neukantianismus, und weist nach, wie Nietzsche auf der Grundlage des in seinem Zeitalter umstrittenen Topos der Sinneswahrnehmung den in WL vertretenen Gedanken des „ästhetischen Verhaltens des Menschen“ erarbeitet. Zu Recht bemerkt Reuter, dass dieser Gedanke ein „Erklärungsmodell ist, das die Wahrheit des sinnlichen Evidenzeindrucks als Lüge deutet und zugleich darlegt, dass und wie der Mensch seine Erklärungslügen als wahr auszugeben versucht.“ (S. 19) Darüber hinaus macht Reuter deutlich, dass Nietzsche die Metapher als „eine logisch-konstruktive Verstandesfunktion“ denkt, „die das Verhältnis zwischen der subjektiven Innen- und der objektiven Außenwelt als ein grundlegend rhetorisches definieren soll, rhetorisch in dem Sinne, als die Verstandesfunktion dem Anspruch einer ,adaequatio‘ zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt prinzipiell nicht zu genügen vermag.“ (S. 8) Unter dieser Voraussetzung „ist es für Nietzsche weder die Religion noch die Wissenschaft noch die Transzendentalphilosophie, sondern die ästhetische Erfahrbarkeit der Wirklichkeit, die sowohl dem strengen Materialismus als auch dem traditionellen Geistesbegriff entgegengesetzt wird und dem Leben Sinn zu verleihen vermag.“ (S. 201) Reuter bringt daher zum Ausdruck: „Sprache ist für Nietzsche weder nur ästhetischer Ausdruck innerer Zustände – wie bei Gustav Gerber – noch ein reines Mitteilungs- und Verständigungsmedium.“ (S. 23) Die Sprache wird also als Funktion des Erkenntnisvermögens begriffen und somit den Ambivalenzen und Widersprüchen der Erkenntnistheorie ausgesetzt (vgl. S. 188). Nietzsche setzt sich einerseits mit einem Idealismus auseinander, der die Erkenntnis als rein subjektive Konstruktion darstellt, andererseits mit denjenigen Physiologen, welche Erkenntnis als Übertragung physiologischer Vorgänge verstehen. Infolgedessen bemerkt Reuter zu Recht: „Diese Auseinandersetzung ist von der Überzeugung getragen, die Idee geistiger Selbstbestimmung nicht aufgeben zu können, gleichzeitig aber aktzeptieren zu müssen, dass Bewusstsein ein Phänomen darstellt, das einen physiologischen Grund hat. ,Ästhetisches Verhalten‘ heißt Netzsches Antwort auf diese Herausforderung, die sich dem philosophischen Denken im 19. Jahrhundert stellt.“ (S. 189)

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Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraction […]. Beide begehren über das Leben zu herrschen“ (WL, KSA 1.889). Durch das intuitive Denken gelangt man nicht zur Erkenntnis des Dings an sich, sondern zur Überwindung des Schmerzes durch die Schönheit und zur Schöpfung einer ästhetischen Kultur, in der dank der Herrschaft der Kunst die Äußerungen des Lebens nicht länger als Erzeugnisse der Not erscheinen. Während der vernünftige Mensch „das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen […], erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels, eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.“ (WL, KSA 1.889) Eine Analogie zwischen Leben, Natur und Kultur ist nur durch das Erlebnis, nicht durch die Erkenntnis möglich. Die Analogie gründet auf der Unschuld des Werdens sowie dem Kunst- und Wissenstrieb und bestimmt das ästhetische Verhältnis des Genies zur Kultur. In der Tat sind Wahrheit und Lüge moralische Erfindungen, die keinen absoluten Wert besitzen, weil sie Produkte des ästhetischen Subjekts sind. Und trotzdem bedingen sie den einzigen uns zur Verfügung stehenden Begriff von Wahrheit. In WL richtet Nietzsche seine Aufmerksamkeit auf das Verhältnis des Menschen zu den Dingen und gewinnt dadurch für sein ganzes Denken wesentliche Anhaltspunkte. Er führt uns vor Augen, dass das Verhalten der Menschen zu allen Dingen durch und durch ästhetisch ist. Der Zugang zum Wesen aller Dinge ist dem Menschen versperrt. Er kann nur seine Relationen zu den Dingen nach seinem menschlichen Maß bezeichnen. Dies geschieht in einem Übertragungsprozess von der Sphäre des Subjekts in die des Objekts. Dieser Übertragungsprozess spielt sich innerhalb des Vernunftbezirks ab. Es ist der Intellekt selbst, der, vom ihn innenwohnenden Trieb zur Metaphernbildung geleitet, zunächst Metaphern bildet. Die Begriffe sind nur deren Residuum. Der Intellekt ist nämlich laut Nietzsche „der Meister der Verstellung“, und Begriffe sind allmählich durch Vergesslichkeit und Gewöhnung kanonisch, verbindlich gewordene Metaphern. Wir erkennen das, was wir in die Dinge hineingesteckt haben. Ursprünglich ist also der Mensch kein vernünftiges Wesen, sondern ein „künstlerisch schaffendes Subjekt“ (WL, KSA 1.883), das der „frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft“ (WL, KSA 1.884) bzw. des Intellektes bedarf, um mittels der Metaphern, der Sprache und der Wissenschaft die Kluft „zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt“ zu überbrücken. Der Trieb zur Metaphernbildung, genauer: das schöpferische Behagen des Intellektes findet einen neuen Bereich seines Wirkens in der Kunst. Der Intellekt wird nicht mehr von Abstraktionen, sondern von Intuitionen geleitet. So erklärt sich die Gegenüberstellung des intuitiven und des vernünftigen Menschen, die den sich in GT auf metaphysischer Ebene abspielenden Gegensatz zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen auf einer anthropologischen Ebene ersetzt. Durch das intuitive Denken kann der Intellekt frei sein Begriffsgespinst spinnen und eine Kultur schaffen. In diesem Zusammenhang stellt Nietzsche die Wahrheit als eine Illusion vor. Der Trieb zur Wahrheit stammt — darin besteht auch die Originalität von Nietzsches Denkansatz — aus einer existentiellen und gesellschaftlichen Not. Die Wahrheit ist eine durch die Sprache kodifizierte Fiktion bzw. lebensfördernde Konvention. Sie entsteht aus

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dem Bedürfnis einer Rechtfertigung des Lebens und aus der Notwendigkeit, nicht durch Betrug geschädigt zu werden. Mit der hier entworfenen Themenkonstellation bringt Nietzsche einen neuen Zusammenhang hervor, der zur Grundlage seiner Philosophie wird. Wie wir im Folgenden sehen werden, nehmen die oben dargestellten Überlegungen eine wesentliche Rolle in Hinblick auf Nietzsches Aufgabe und sein neues Lebensbild ein.⁹⁰

 Nietzsche schafft damit auch die Grundlage für die später in M thematisierte „dichtende Vernunft“.

5 Die erziehende Wirkung der Philologie und der Geschichte in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben In den UB liefert Nietzsche eine erste Systematisierung der Themen, die er in PHG und WL anschnitt. Es geht ihm um die erziehende Wirkung der Philologie, und dabei richtet sich seine Aufmerksamkeit weiter auf die Kunst sowie auf das ästhetische Verhalten des Menschen zu den Dingen. Indem er das künstlerisch-schöpferische Potential des Menschen betont, zielt Nietzsche darauf, die plastische Kraft der Historie, der Philosophie und der Kunst ans Licht zu bringen und zuletzt das Leben als Kunst zu deuten. Seine programmatische Herangehensweise ans Altertum und die Gegenwart wird in seinen aufschlussreichen Überlegungen über die Aufgaben des Philologen in einer Notiz aus dem Jahr 1875 deutlich: Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accommodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Alterthum verstehen? Richtiger: aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte taxirt, abgeschätzt. So ist freilich das Erlebniss die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen – das heisst doch: erst Mensch sein, dann wird man erst als Philolog fruchtbar sein. Daraus folgt, dass ältere Männer sich zu Philologen eignen, wenn sie in der erlebnissreichsten Zeit ihres Lebens nicht Philologen waren. Überhaupt aber: nur durch Erkentniss des Gegenwärtigen kann man den Trieb zum klassischen Alterthum bekommen. Ohne diese Erkentniss – wo sollte da der Trieb herkommen? Wenn man zusieht, wie wenige Philologen es ausser denen, die davon leben, giebt, kann man schliessen, wie es im Grunde mit diesem Triebe zum Alterthum steht, er existirt fast nicht; denn es giebt keine uneigennützigen Philologen. So ist die Aufgabe zu stellen: der Philologie ihre allgemein erziehende Wirkung zu erobern. Mittel: Beschränkung des Philologenstandes, zweifelhaft ob die Jugend damit bekannt zu machen. Kritik des Philologen. Die Würde des Alterthums: sie sinkt mit euch: wie tief müsst ihr gesunken sein, da es diese Würde jetzt so wenig hat. (NL 3[62], KSA 8.31)

Dieses Notat lässt Nietzsches Herangehensweise an die Philologie und die Wesenszüge seiner Kulturkritik erkennen. Entscheidend ist hierbei die Antinomie der Philologie sowie die Unabdingbarkeit des Erlebnisses für den Philologen, das von jetzt an zur Grundlage des Erkennens in Nietzsches Denken wird. Es ist gerade der Mangel an Erlebnissen, den Nietzsche David Strauss zum Vorwurf macht: „Wenn man Strauss über die Lebensfragen reden hört, […] so erschreckt er uns durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in die Menschen“ (DS, KSA 1.204). Aus diesem Grund wertet Nietzsche die religiösen und philosophischen Ideen von Strauss ab und erklärt ihn zum Bildungsphilister. Er sei ein Vertreter jenes typisch wissenschaftlichen Menschen, der nicht nach dem Wozu, dem Wohin und dem Woher https://doi.org/10.1515/9783110701890-008

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frage. „Aber seine Seele erglüht bei der Aufgabe, die Staubfäden einer Blume zu zählen oder die Gesteine am Wege zu zerklopfen, und er versenkt in diese Arbeit das ganze, volle Gewicht seiner Theilnahme, Lust, Kraft und Begierde.“ (DS, KSA 1.202) Der wissenschaftliche Mensch versteht die Wissenschaft als eine Fabrik, in der „jede Minute-Versäumniss eine Strafe nach sich ziehe.“ Seine Aufgabe scheint also eine harte Arbeit zu sein: ein „otium sine dignitate“. Jetzt arbeitet er, so hart wie der vierte Stand, der Sclavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäftigung, sondern eine Noth, er sieht weder rechts noch links und geht durch alle Geschäfte und ebenso durch alle Bedenklichkeiten, die das Leben im Schoosse trägt, mit jener halben Aufmerksamkeit oder mit jenem widrigen Erholungs-Bedürfnisse hindurch, welches dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist. So steht er nun auch zur Kultur. Er benimmt sich, als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: und selbst im Traume wirft er sein Joch nicht ab, wie ein Sclave, der selbst in der Freiheit von seiner Noth, seiner Hast und seinen Prügeln träumt. (DS, KSA 1.202 f.)

Nietzsche deutet den wissenschaftlichen Menschen als ein „Paradox“. Er benimmt sich, „als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantirter Besitz.“ (DS, KSA 1.202) Dieser im Wesen der zeitgenössischen wissenschaftlichen Menschen liegenden Antinomie geht Nietzsche in der zweiten UB nach. In Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben stellt er heraus, „dass die Deutschen bis jetzt keine Cultur haben, so sehr sie auch reden und stolziren mögen.“ (HL, KSA 1.325) Was sie Bildung nennen, ist „nur eine Art Wissen um die Bildung und dazu ein recht falsches und oberflächliches Wissen gewesen“, ihr Ziel gar nicht der freie Gebildete, sondern der Gelehrte, und das „Resultat, recht empirisch-gemein angeschaut, der historisch-aesthetische Bildungsphilister“ (HL, KSA 1.326).Wegen der deutschen Bildung hat „der junge Mensch mit einem Wissen um die Bildung, nicht einmal mit einem Wissen um das Leben, noch weniger mit dem Leben und Erleben selbst zu beginnen.“ (HL, KSA 1.327) Vor diesem Hintergrund beabsichtigt Nietzsche, „den Werth und den Unwerth der Historie“ (HL, KSA 1.246) für das Leben zu bestimmen und überdies die Aufgabe der Philologie und der Historie festzusetzen. Sein Ausgangspunkt ist seine Erfahrung. So sagt Nietzsche im Vorwort: „Ich habe mich bestrebt eine Empfindung zu schildern, die mich oft genug gequält hat“, um „öffentlich über unsere Zeit belehrt und zurecht gewiesen zu werden.“ (HL, KSA 1.246) Seine „Empfindung“ rührt von der Betrachtung seiner Zeit. Er verurteilt ein Merkmal seiner Epoche — die historische Bildung — als ihre Krankheit und diagnostiziert die Heilmittel für diese Krankheit, um die Epoche zugunsten einer kommenden zu heilen. Nietzsches Aufgabe ist deshalb „unzeitgemäß“: „denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.“ (HL, KSA 1.247) Nietzsche führt vor, dass Geschichte aus einer existentiellen Not heraus entsteht, wie er es schon in GT für die olympische Götterwelt, in PHG für die Philosophie und in WL für die Wahrheit zeigte.

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Wir brauchen Historie „zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten That.“ (HL, KSA 1.245) Das heißt, „dass die Kenntniss der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft.“ (HL, KSA 1.271) Was ist aber Leben? Das ist der eigentliche Kerngedanke in Nietzsches Denken. Er führt zwei Vorstellungen vom Leben ein: Nach der ersten sei das Dasein „ein nie zu vollendendes Imperfektum“ und zwar „nur ein ununterbrochenes Gewesensein, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen.“ (HL, KSA 1.249) Mit implizitem Bezug auf Schopenhauer und auf den Spruch des Silen aus GT, sei das Leben „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht“ (HL, KSA 1.269), die die Geschichte vor Gericht zieht und sie ungnädig verurteilt: „Denn Alles was entsteht, ist werth, dass es zu Grunde geht. Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.“ An dieser Stelle kommt erstaunlicherweise erneut die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens vor, die Nietzsches Werk bis EH durchzieht. Zu einer solchen Erkenntnis führt eine Geschichte, die als Wissenschaft betrieben wird: Der Mensch will die Erkenntnis um jeden Preis und wird vom Wissenstrieb gedrängt, bis er auf das entsetzliche Wissen um die Sinnlosigkeit des Lebens stößt. Dasselbe würde dem Menschen passieren, wenn er sich an alles erinnern könnte, das in seinem Leben geschieht, oder wenn er entdecken würde, dass „die Eine Bedingung alles Geschehens, die Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden“ (HL, KSA 1.254) ist. „Ueberhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte“. Unter diesen Bedingungen wäre kein Leben möglich. Wie kann man mit dieser impasse umgehen? Durch das „Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden.“ (HL, KSA 1.250) Nietzsche warnt vor einer weiteren Gefahr der Wissenschaft. Wie schon in PHG kritisiert er, „dass der Deutsche keine Cultur hat“ (HL, KSA 1.328). Das ist eine „Notwahrheit“, die er der Notlüge des Glaubens an die aeterna veritas der deutschen modernen Erziehung entgegenstellt und in der „unsere erste Generation erzogen werden“ müsse. Die aeterna veritas — die Objektivität, nach der die moderne historische Bildung laut Nietzsche strebt — beherbergt die Illusion, dass das Bild, das die Dinge beim Menschen erzeugen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe (vgl. HL, KSA 1.290). Sie ist nichts anderes als eine „ewige Subjectlosigkeit“ (HL, KSA 1.284). Die moderne Bildung schwächt die Persönlichkeit des Individuums und treibt seine Instinkte aus, so dass „in dem Mangel der Herrschaft über sich selbst, in dem was die Römer impotentia nennen, sich die Schwäche der modernen Persönlichkeit verräth.“ (HL, KSA 1.285) Für Nietzsche ist die Geschichte nicht Weltprozess- oder Menschheitshistorie im Sinne einer Geschichte der Massen. Er plädiert nicht für eine Betrachtung der Massen, sondern der Einzelnen, „die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des Werdens bilden. Diese setzen nicht etwa einen Prozess fort, sondern

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leben zeitlos-gleichzeitig, Dank der Geschichte, die ein solches Zusammenwirken zulässt, sie leben als die Genialen-Republik, von der einmal Schopenhauer erzählt“ (HL, KSA 1.317). Damit geht die Aufgabe der Philologie in die der Geschichte über. „Die Aufgabe der Geschichte ist es, zwischen ihnen die Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren.“ Der Historiker soll nun zum Ausdruck bringen, „was in dem Vergangnen wissens- und bewahrenswürdig und gross ist“ (HL, KSA 1.294). „Der ächte Historiker muss die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, dass man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit übersieht.“⁸⁷ Er soll nicht eine „wandelnde Encyclopädie“ (vgl. HL, KSA 1.274), nicht „der wissenschaftliche Mensch und zwar der möglichst früh nutzbare wissenschaftliche Mensch“ (HL, KSA 1.326) sein. Das wäre der Gelehrte, „der historisch-aesthetische Bildungsphilister“, dem Nietzsche „de[n] frei Gebildete[n]“ entgegenstellt. Der „ächte Historiker“ deutet das Vergangene als Wissender der Gegenwart und Baumeister der Zukunft. Er zeigt, dass das Genie schon einmal möglich war und deshalb immer möglich sein kann. Nur wer sich „in die Geschichte grosser Männer hineinlebt“, kann nach Nietzsche „aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, [ihn] nicht reif werden zu lassen, um [ihn] zu beherrschen und auszubeuten.“ (HL, KSA 1.295) Historie ist also unverzichtbar, aber „jeder Mensch und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöthen eine gewisse Kenntniss der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie.“ (HL, KSA 1.271) Jede Art von Geschichtsschreibung hat, wie Nietzsche ausführt, ihr Pro und Contra. In der zweiten UB geht es ihm jedoch vielmehr darum, einerseits zu zeigen, dass „das Unhistorische und das Historische gleichermaassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig ist“ (HL, KSA 1.252), und andererseits den Grad des historischen Sinns zu bestimmen. Nietzsche wirft den Deutschen vor, keine wahre Bildung, sondern „nur eine Art Wissen um die Bildung“ (HL, KSA 1.325) zu haben, die zu einer falschen und oberflächlichen Wissenschaft geführt hat. „Falsch und oberflächlich nämlich, weil man den Widerspruch von Leben und Wissen ertrug, weil man das Charakteristische an der Bildung wahrer Culturvölker gar nicht sah: dass die Cultur nur aus dem Leben hervorwachsen und herausblühen kann.“ (HL, KSA 1.325 f.) Das in der ersten UB als dem Gelehrten innewohnende Paradox von Leben und Wissenschaft wird daher in der zweiten UB als Widerspruch von Leben und Wissen dargestellt, der sich in der deutschen Kultur zeige. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie kann sich aus dem Leben etwas Wertvolles entwickeln, wie eine Kultur erblühen? Nietzsches zweite Vorstellung des Lebens hilft bei der Beantwortung dieser Frage: Das Leben selbst ist

 Auf dieses Konzept geht Nietzsche in MA 221, „Die Revolution in der Poesie“, näher ein.

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ein Handwerk, „das aus dem Grunde und stätig gelernt und ohne Schonung geübt werden muss, wenn es nicht Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll! —“ (HL, KSA 1.327) Nur wenn wir davon ausgehen, dass das Leben eine Kunst ist, können wir die Ursachen der historischen Krankheit und ihre Heilmittel begreifen und infolgedessen den Grad des historischen Sinns festlegen. So ist die Krankheit bedingt durch ein „Uebermaass von Historie“. Sie „hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen“, so dass das Leben „nicht mehr versteht, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.“ (HL, KSA 1.329) Die Heilmittel heißen: das Unhistorische und das Überhistorische. Mit dem Worte „das Unhistorische“ bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen; „überhistorisch“ nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion. (HL, KSA 1.330)

Ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur vermögen aus dem Geschehenen, aus dem Erfahrenen nur aufgrund der plastischen Kraft Geschichte hervorzubringen, jener Kraft, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen,Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.“ (HL, KSA 1.251) Die plastische Kraft ermöglicht es dem Menschen, den analytischen Trieb zu bändigen, sich etwas von der Vergangenheit anzueignen und einzuverleiben, so dass er um sich „den Zaun einer grossen und umfänglichen Hoffnung, eines hoffenden Strebens“ (HL, KSA 1.295) ziehen und zugleich in sich „ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll“, formen und sich ein Ideal oder ein ideales Dasein bilden kann. So öffnet sich der Horizont eines jedes Menschen, vor dem er erst gesellschafts- und handlungsfähig wird. „Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden.“ (HL, KSA 1.251) Unter diesen Bedingungen soll die Geschichte die Menschen ermutigen, ehrlich zu sein. Ihre Aufgabe soll Nietzsche zufolge ermöglichen, dass durch sie [die Geschichte] die Persönlichkeiten „frei“ werden, soll heissen wahrhaftig gegen sich, wahrhaftig gegen Andere, und zwar in Wort und That. Erst durch diese Wahrhaftigkeit wird die Noth, das innere Elend des modernen Menschen an den Tag kommen, und an die Stelle jener ängstlich versteckenden Convention und Maskerade können dann, als wahre Helferinnen, Kunst und Religion treten, um gemeinsam eine Cultur anzupflanzen, die wahren Bedürfnissen entspricht und die nicht, wie die jetzige allgemeine Bildung nur lehrt, sich über diese Bedürfnisse zu belügen und dadurch zur wandelnden Lüge zu werden. (HL, KSA 1.281)

Ausgehend von seinen wahren Bedürfnissen, soll also der Einzelne seine Vergangenheit idealisieren und sie sich zum Vorbild machen. Dadurch setzt er sich einen Lebenszweck, der sein jetziges und zukünftiges Leben rechtfertigt. Er soll sich auf sich selbst konzentrieren und versuchen, den Sinn seines Daseins a posteriori zu rechtfertigen, auch auf die Gefahr hin, dass er daran zugrunde geht.

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Wozu die „Welt“ da ist, wozu die „Menschheit“ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern, es sei denn, dass wir uns einen Scherz machen wollen: denn die Vermessenheit des kleinen Menschengewürms ist nun einmal das Scherzhafteste und Heiterste auf der Erdenbühne; aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein „Dazu“ vorsetzest, ein hohes und edles „Dazu“. Gehe nur an ihm zu Grunde – ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen. (HL, KSA 1.319)

Um sich von der Last seiner Vergangenheit zu lösen, beginnt das Individuum einen Widerstreit mit seiner ererbten, angestammten Natur, mit dem Angezogenen und Angeborenen, und versucht, „eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur [anzupflanzen], so dass die erste Natur abdorrt.“ (HL, KSA 1.270) Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriore eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt – immer ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden und weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten sind. Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu thun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es thun zu können. Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es giebt sogar für die Kämpfenden, für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, dass auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird. – (HL, KSA 1.270)

Als Beispiel nennt Nietzsche die Griechen. Indem sie den Spruch des delphischen Orakels — „Erkenne dich selbst!“ — befolgten, lernten sie, sich auf ihre echten Bedürfnisse zu konzentrieren. So vermieden sie, dass aus ihrer Kultur ein Aggregat von fremden und vergangenen Kulturen wurde, und schufen stattdessen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus, aus Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit gegen sich selbst, aus „der höheren Kraft ihrer sittlichen Natur“ eine eigene Kultur „als eine neue und verbesserte Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, [die] Cultur als [eine] Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ (HL, KSA 1.334). Dies ist der griechische Begriff von Kultur, der sich dem Begriff einer als bloßen Dekoration des Lebens gedachten Kultur entgegenstellt. Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben liessen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvölker. (HL, KSA 1.333)

Die Stiftung einer neuen Kultur erweist sich als ein komplizierter Bildungsprozess, der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung voraussetzt. Ein Individuum bzw. ein Volk zielen auf die Erkenntnis ihrer echten Bedürfnisse und ihrer plastischen Kraft, um

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Selbstbeherrschung zu wahren oder zu erlangen. So lassen sich Affekte, Fähigkeiten, Gefühle oder Erlebnisse durch den Willen steuern, um sich aus dem inneren Chaos eine zweite Natur zu bilden. Im Falle eines Volkes ist die zweite Natur die Kultur und zwar, wie schon genannt, „eine neue und verbesserte Physis“. Aufs Ganze gesehen, liegt nach Nietzsche die Größe der Griechen in ihrer praktischen Auslegung des delphischen Spruchs, also in einer auf die Praxis bezogenen Interpretation. Sie schafften ihre Kultur aus einer existentiellen Not heraus, sie benötigten eine „Gesundheitslehre des Lebens“ (HL, KSA 1.331). Sie ordneten die Erkenntnis dem Leben⁸⁸ unter und unterschieden dementsprechend die wahren Bedürfnisse von den Scheinbedürfnissen, um sich aus dem inneren Chaos eine den wahren Bedürfnissen entsprechende Kultur durch die Kunst zu schaffen. In diesem Sinne ist Kultur „vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes.“ (DS, KSA 1.163) Da die deutsche Bildung den jungen Menschen abseits vom Leben stellt, muss er den Glauben an die Notwendigkeit dieser Bildung zerstören. Diese Zerstörung erweist sich als eine Sinnerfindung. Der Einzelne soll sich wieder „der einzigen Meisterin Natur“ zuwenden und seiner Begierde freien Lauf lassen, um „selbst etwas zu erfahren und ein zusammenhängend lebendiges System von eignen Erfahrungen in sich wachsen zu fühlen“ (HL, KSA 1.327). Die Sinnerfindung des Einzelnen ist nun eine Forderung und gleichsam eine Förderung des Lebens. In HL erbringt Nietzsche eine seiner bedeutendsten philosophischen Leistungen, indem er nicht nur die Geschichte als ästhetisches Phänomen bzw. als menschliche Erfindung betrachtet — das hatte vor ihm schon Jacob Burckhardt⁸⁹ getan —, sondern Leben überhaupt als Kunst interpretiert. Man kann den Menschen nun nicht mehr als „den stolzesten Müßiggänger des Glücks“ (DS, KSA 1.202) und seine ununterbrochene und erschöpfende Arbeit als ein „otium sine dignitate“ ansehen. Durch die Kunst löst Nietzsche die in der ersten UB behandelte Antinomie der Wissenschaft. Obwohl nach Nietzsche „jeder von uns“ seine Existenz a posteriori rechtfertigen könnte, ist nur der Genius durch sein höheres Maß an plastischer Kraft imstande, alle Lebensäußerungen eines Volkes in eine Einheit umzubilden, indem er das Leben durch den Schleier der Kunst umhüllt. Wenn also die erzieherische Aufgabe der Geschichte darin besteht, „zwischen ihnen [den Genien] die Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen“, weil „das Ziel der Menschheit nicht am Ende liegen [kann], sondern nur in ihren

 Vgl. HL, KSA 1.330 f.: „Soll nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben. Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eignen Fortexistenz hat. So bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; eine Gesundheitslehre des Lebens stellt sich dicht neben die Wissenschaft“.  Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 12. Aufl., Stuttgart 1978.

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höchsten Exemplaren“ (HL, KSA 1.317), ist die Aufgabe des Genius, wie wir im Folgenden sehen werden, die Schöpfung der Kultur.

6 Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Genius oder Nietzsches Aufgabe in Schopenhauer als Erzieher, die Wiedererzeugung Schopenhauers vorzubereiten Wenn Nietzsche in HL der Historie die Aufgabe zusprach, den Menschen die ihnen innewohnende plastische Kraft zu ermöglichen, um die Kultur als neue und verbesserte Physis zu Stande zu bringen und damit die Einheit der Kultur zu verwirklichen, weist er in Schopenhauer als Erzieher dieselbe Aufgabe dem Genie zu. Nietzsche geht davon aus, dass jeder Mensch sich bewusst ist, ein Unikum zu sein. Trotzdem benimmt er sich aus Trägheit wie ein Herdentier. Ihm fehlt, was Nietzsche später als „das intellectuale Gewissen“ bezeichnen wird.⁹⁴ Die junge Seele will aber den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen, ihre Singularität, ihr „wunderliches Dasein“ zu realisieren: Aber auch wenn uns die Zukunft nichts hoffen liesse – unser wunderliches Dasein gerade in diesem Jetzt ermuthigt uns am stärksten, nach eignem Maass und Gesetz zu leben […]. Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten; folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufälligkeit gleiche. Man muss es mit ihr etwas kecklich und gefährlich nehmen: zumal man sie im schlimmsten wie im besten Falle immer verlieren wird. (SE, KSA 1.339)

Das beste Mittel, „sich zu finden, aus der Betäubung, in welcher man gewöhnlich wie in einer trüben Wolke webt, zu sich zu kommen“, besteht nach Nietzsche darin, „sich auf seine Erzieher und Bildner zu besinnen. Und so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich mich zu rühmen habe, eingedenk sein Arthur Schopenhauers“ (SE, KSA 1.341). Wie in der zweiten UB, greift Nietzsche auch hier auf seine persönliche Erfahrung zurück, um ans Licht zu bringen, in welchem Gemütszustand, genauer: mit welchen „Nöthen, Bedürfnissen und Wünschen“ (SE, KSA 1.346) er die Philosophie Schopenhauers kennenlernte. Nietzsche hält an seiner Methode fest, aus seinem eigenen Leben die Größe Schopenhauers aufzuweisen und ihn „nach meinen Erfahrungen, als Erzieher darzustellen.“ (SE, KSA 1.375) Nietzsche zielt nicht auf die Verfassung eines philosophischen Systems. Er bemüht sich eher darum, durch die Werke Schopenhauers hindurchzusehen und sich den lebendigen Menschen vorzustellen (vgl. SE, KSA 1.350): „Das Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch Bücher gegeben werden.“ (SE, KSA 1.417) Für Nietzsche ist die einzige Kritik, der eine Philosophie unterzogen werden kann, nicht eine Kritik der Worte über Worte, wie sie in den Universitäten gelehrt wird, sondern der Versuch, „ob man nach ihr leben könne“ (SE, KSA 1.417). Es fällt dementsprechend beim Lesen von

 Siehe dazu M 149, KSA 3; FW 2 und 335, KSA 3; GM II 1– 3, KSA 5. https://doi.org/10.1515/9783110701890-009

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6 Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Genius

SE auf, dass Nietzsche nur sehr sparsam aus den Werken Schopenhauers zitiert und eher versucht, Schopenhauers Leben unter der Lupe seiner Erfahrungen in Betracht zu ziehen, um „jenen idealen Menschen hinzumalen, welcher in und um Schopenhauer, gleichsam als seine platonische Idee, waltet.“ (SE, KSA 1.376) Er bemüht sich darüber hinaus „zu sagen, wie von diesem Ideale aus ein neuer Kreis von Pflichten zu gewinnen ist und wie man sich mit einem so überschwänglichen Ziele durch eine regelmässige Thätigkeit in Verbindung setzen kann, kurz zu beweisen, dass jenes Ideal erzieht.“ Schopenhauer wird also zum Ideal erhoben. Wodurch und wozu aber soll er uns erziehen? Nietzsche geht vom Verhältnis des Genius zu anderen Menschen, zur Kultur und zur Natur aus. Der Genius ist in diesem Sinn das Ziel der Natur. Sie drängt sich zum Genius derart hin, „dass endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint.“ (SE, KSA 1.378) Durch die Erzeugung des Genius strebt die Natur „zu ihrer Erlösung von sich selbst“ (SE, KSA 1.382) hin und dadurch zu ihrer Vollendung. Nur beim Erscheinen des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen fühlt sie sich zum ersten Mal am Ziel: Sie verklärt sich bei dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was die Menschen „die Schönheit“ nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen verklärten Mienen ausspricht, das ist die grosse Aufklärung über das Dasein; und der höchste Wunsch, den Sterbliche wünschen können, ist, andauernd und offnen Ohr’s an dieser Aufklärung theilzunehmen. (SE, KSA 1.380)

Nur durch die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen macht die Natur allen Menschen „das Dasein deutsam und bedeutsam“ (SE, KSA 1.404), weil sie an sich verschwenderisch ist und es doch nicht versteht, „zu diesem Zwecke die besten und geschicktesten Mittel und Handhaben zu finden“. Während der Philosoph und der Künstler zur Selbsterkenntnis der Natur beitragen, indem sie der Unruhe ihres Werdens ein „reines und fertiges Gebilde“ entgegenstellen, erreicht die Natur durch den Heiligen ihre Selbsterfahrung. „Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und EinsGefühl in allem Lebendigen“ (SE, KSA 1.382).Vor diesem Hintergrund wird der Mensch „einen neuen Kreis von Pflichten entdecken“ sowie eine neue Aufgabe. Vor allen Dingen steht dies fest: jene neuen Pflichten sind nicht die Pflichten eines Vereinsamten, man gehört vielmehr mit ihnen in eine mächtige Gemeinsamkeit hinein, welche zwar nicht durch äusserliche Formen und Gesetze, aber wohl durch einen Grundgedanken zusammengehalten wird. Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten. (SE, KSA 1.381 f.)

Indem sich die Menschheit dank des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen ihrer selbst bewusst wird, indem sie die metaphysische Bedeutung der Natur und

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ihres Daseins begreift, kann sie „an Stelle des dunklen Drangs der Natur ein bewusstes Wollen setzen!“ (SE, KSA 1.387) Der Verweltlichung und dem gesellschaftlichen Atomismus seiner Zeit stellt also Nietzsche den Grundgedanken gegenüber, dass der Mensch mit seinen Pflichten nicht als vereinsamt zu verstehen, sondern mit ihnen in einer großen Gemeinsamkeit verbunden ist. Dem als Natur- und Kulturwesen zugleich interpretierten Menschen wird demnach eine entscheidende Aufgabe zugeteilt: „die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe.“ (SE, KSA 1.383 f.) Die Menschheit kann nicht auf das Genie verzichten, denn „das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen.“ (SE, KSA 1.374 f.) Die ungeheure Aufgabe, „alles Werdende zu zerstören, alles Falsche an den Dingen an’s Licht zu Bringen“ (SE, KSA 1.375), kann nur vom Genie bzw. von Schopenhauer vollzogen werden. Mit seinem Pessimismus brachte Schopenhauer unmittelbar zum Ausdruck, dass „wir in unserer gewöhnlichen Verfassung freilich nicht zur Erzeugung des erlösenden Menschen beitragen können, deshalb hassen wir uns in dieser Verfassung …“ (SE, KSA 1.383) Auch hielt er fest, dass „ein moderner Denker immer an einem unerfüllten Wunsche leiden wird“ (SE, KSA 1.361). Sein Gefühl verwirrt sich „in dem Zwiespalte des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Grösse des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur fragt: was ist das Dasein überhaupt werth?“ (SE, KSA 1.361) Schopenhauer schaute dagegen „hinab in die Versöhnung von Erkennen und Sein, hinein in das Reich des Friedens und des vereinten Willens“ (SE, KSA 1.358), und versuchte, die schwere, ja kaum lösbare Aufgabe zu erfüllen, über seine Zeit hinaus zu blicken, um das Dasein metaphysisch zu verstehen. Mit der Frage „Was ist das Leben überhaupt Wert?“ wollte er nicht sein heuchlerisches Zeitalter verurteilen, sondern das Leben überhaupt rechtfertigen. Er wollte als großer Denker, Richter und Wertmesser des Lebens angesehen werden, wollte „Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge sein“ (SE, KSA 1.360),⁹⁵ um den Wert des Lebens neu zu bestimmen. Zu diesem Zweck brachte er ein „regulatives Gesammtbild“ (SE, KSA 1.356) des Lebens hervor, so dass „durch ein hohes und verklärendes Gesammtziel“ (SE, KSA 1.357) die von den Menschen angestrebten Lebensgüter einen Sinn hätten bekommen können. Als Philosoph förderte er „eine werdende Cultur und die Erzeugung des Genius — das heisst das Ziel aller Cultur —“ (SE, KSA 1.358). Die erzieherische Wirkung Schopenhauers erweist sich also zuerst dadurch, „dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten.“ (SE, KSA 1.356) Er lehrt uns, gleich jedem großen Philosophen, aus dem Bild allen Lebens den Sinn unseres eigenen Daseins zu lernen — und umgekehrt: aus dem individuellen Dasein „die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens“ (SE, KSA 1.357) zu verstehen. Von diesem Standpunkt aus soll nach Nietzsche auch

 Nietzsche ist hier nah bei Schiller und Kant.

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Schopenhauers Philosophie immer zuerst ausgelegt werden: individuell, vom Einzelnen allein für sich selbst, um Einsicht in das eigne Elend und Bedürfniss, in die eigne Begrenztheit zu gewinnen, um die Gegenmittel und Tröstungen kennen zu lernen: nämlich Hinopferung des Ich’s, Unterwerfung unter die edelsten Absichten, vor allem unter die der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. (SE, KSA 1.357)

Eine weitere Besonderheit bei Schopenhauer besteht darin, dass er imstande war, die Gefahren seiner Zeit zu überstehen. Er bekämpfte in seiner Zeit das, „was ihn hinderte, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein.“ (SE, KSA 1.362) Indem er gegen seine Zeit kämpfte, erwies er sich als Förderer und Befreier des Lebens. Er hat das Leben von den Fesseln der Meinungen und Sitten befreit, denen die allermeisten aus Furcht und Faulheit oder aus schlechtem Gewissen gehorchen. „Und wie trost- und sinnlos kann ohne diese Befreiung das Leben werden!“ (SE, KSA 1.338) Schopenhauer zeigt jedem Menschen auf, „dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist“ (SE, KSA 1.337), und ermutigt ihn, „nach eigenem Maass und Gesetz zu leben“ (SE, KSA 1.339). Da unser Wesen „etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes“ (SE, KSA 1.341) ist, vermögen also unsere „Erzieher nichts zu sein als unsere Befreier. Und das ist das Geheimniss aller Bildung.“ Schopenhauer gehört zu solchen Menschen, „wie Cellini einer war, in denen alles, Erkennen, Begehren, Lieben, Hassen nach einem Mittelpunkte, einer Wurzelkraft hinstrebt und wo gerade durch die zwingende und herrschende Uebergewalt dieses lebendigen Centrums ein harmonisches System von Bewegungen hin und her, auf und nieder gebildet wird.“ (SE, KSA 1.342) Weil Schopenhauer bzw. der philosophische Genius sich als harmonische Ganzheit, als vielstimmiger Zusammenhang entpuppt, kann er als Vorbild für jedes Individuum gelten, das sein Handeln, Meinen und Begehren, in einem Wort: sein Leben in Einklang bringen will. Der Erzieher sollte nämlich „alle vorhandenen Kräfte [seiner Zöglinge] heranziehe[n], pflege[n] und untereinander in ein harmonisches Verhältniss bringe[n].“ (SE, KSA 1.342) Aus diesen Gründen erklärte Nietzsche Schopenhauer zu seinem Erzieher: Jener erziehende Philosoph, den ich mir träumte, würde wohl nicht nur die Centralkraft entdecken, sondern auch zu verhüten wissen, dass sie gegen die andern Kräfte zerstörend wirke: vielmehr wäre die Aufgabe seiner Erziehung, wie mich dünkte, den ganzen Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen. (SE, KSA 1.343)

Das gelingt einem Erzieher, indem er wieder lehrt, „einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemäss zu sein, das Wort im tiefsten Verstande genommen.“ Dadurch verwirklicht er eine seiner schwierigsten Erziehungsaufgaben: „die Aufgabe, einen Menschen zum Menschen zu erziehen!“ (SE, KSA 1.343) Mit seiner Ehrlichkeit, seiner Heiterkeit und seiner Beständigkeit (vgl. SE, KSA 1.350) widersetzte sich Schopenhauer den bestehenden Ordnungen und Formen, um die höhere Ordnung und Wahrheit, die in ihm lebten, zu ermöglichen. Daher tritt er in

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den feindseligsten Widerspruch zur von Universitätsprofessoren vertretenen „Wahrheit“, einem „Geschöpf, welches allen bestehenden Gewalten wieder und wieder versichert, niemand solle ihrethalben irgend welche Umstände haben“, denn sie sei bloß eine wirkungslose Wahrheit, eine „“reine Wissenschaft„“. Nietzsche aber wettert gegen die „Wahrheit“ als reine Wissenschaft. Sie ist „ein unmenschliches Abstractum“ (SE, KSA 1.344), „weil das Leiden eigentlich innerhalb ihrer Welt etwas Ungehöriges und Unverständliches, also höchstens wieder ein Problem ist“ (SE, KSA 1.394); es gibt für sie überall lediglich Probleme der Erkenntnis. Nietzsche besteht deswegen auf seiner Überzeugung, „dass die Philosophie in Deutschland es mehr und mehr zu verlernen habe, „reine Wissenschaft“ zu sein: und das gerade sei das Beispiel des Menschen Schopenhauer.“ (SE, KSA 1.351) Die Größe Schopenhauers liegt, im Lichte von Nietzsches Theorie betrachtet, ferner darin, dass er auch die Gefahren seiner Konstitution überwunden hat, nämlich „Vereinsamung“, „Verzweiflung an der Wahrheit“ und „Verhärtung im Sittlichen oder im Intellectuellen“. Er ist auch darin vorbildlich und erzieherisch, weil diese drei Gefahren Nietzsche zufolge jeden Menschen bedrohen. Jeder kann an ihnen zugrunde gehen. „Der Mensch zerreisst das Band, welches ihn mit seinem Ideal verknüpfte; er hört auf, auf diesem oder jenem Gebiete, fruchtbar zu sein, sich fortzupflanzen.“ (SE, KSA 1.360) So kann er „an sich selbst und im Aufgeben seiner selbst“ (SE, KSA 1.360) verderben. Nietzsche zufolge „heisst Leben überhaupt in Gefahr sein“. In einer Aufgabe versteckt sich also immer auch das Aufgeben. Ein Individuum geht immer das Risiko ein, der Aufgabe seiner Aufgabe preisgegeben zu sein. Trotzdem können „wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsere Zeit erziehen.“ (SE, KSA 1.363) Er war tatsächlich imstande, seine Aufgabe gemäß seinem „Wahlspruch vitam impendere vero“ zu leben. Für ihn gab es nur Eine Aufgabe und hunderttausend Mittel, sie zu lösen: Einen Sinn und unzählige Hieroglyphen, um ihn auszudrücken. Es gehörte zu den herrlichen Bedingungen seiner Existenz, dass er wirklich einer solchen Aufgabe, gemäss seinem Wahlspruche vitam impendere vero, leben konnte und dass keine eigentliche Gemeinheit der Lebensnoth ihn niederzwang. (SE, KSA 1.411)

Schopenhauer ist also vorbildlich und erzieherisch in vielerlei Hinsicht. Er lässt sich (so wie jeder schöpferische Genius) als „den sichtbaren Inbegriff aller schöpferischen Moral“ (SE, KSA 1.344), als Bildner und Erzieher verstehen, weil er nicht zwiespältig dachte und lebte und das Bild des eigenen und allgemeinen Lebens und des Menschen aus sich errichtete. Dass er selbst kein glückliches, aber doch ein heroisches Leben führte, ohne Zwiespalt zwischen Denken, Wollen und Fühlen, macht aus ihm ein aktives Vorbild für Nietzsche. Zusammen mit Rousseau und Goethe repräsentiert Schopenhauer eines der „drei Bilder des Menschen, welche unsre neuere Zeit hinter einander aufgestellt hat und aus deren Anblick die Sterblichen wohl noch für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eignen Lebens nehmen werden.“ (SE, KSA 1.369) Sic stantibus rebus stellt Nietzsche die Frage, ob es denn überhaupt möglich sei, „sich mit dem grossen Ideale des schopenhauerischen Menschen durch eine regel-

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6 Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Genius

mässige Selbstthätigkeit zu verbinden“ (SE, KSA 1.381). Dies geschieht, indem jedes Individuum die Erzeugung des Genius vorbereitet und fördert: einstweilen haben wir unsre Aufgabe und unsern Kreis von Pflichten, unsern Hass und unsre Liebe. Denn wir wissen, was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung auf den Schopenhauerischen Menschen zu machen, dass wir seine immer neue Erzeugung vorbereiten und fördern, indem wir das ihr Feindselige kennen lernen und aus dem Wege räumen – kurz dass wir gegen Alles unermüdlich ankämpfen, was uns um die höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns hinderte, solche Schopenhauerische Menschen selber zu werden. – (SE, KSA 1.383)

Die Aufgabe der Erzeugung des Genius hat daher eine zweifache Bedeutung: eine existentielle und eine kulturelle. Der Einzelne wird durch sein Mithelfen bestimmt und kommt „nur in der Unterwerfung unter eine solche Bestimmung zu dem Gefühl, einer Pflicht zu leben und mit Ziel und Bedeutung zu leben.“ (SE, KSA 1.403) Mit diesem Vorhaben kann er sich in den Kreis der Kultur stellen. In SE versucht Nietzsche, das Genie metaphysisch zu rechtfertigen. Er vertritt hierbei die These, dass der Mensch unter den Tieren dasjenige Tier sei, das der Natur zu ihrer Vollendung verhelfen könne. Das könne auf zweifache Weise geschehen: zum einen vom Standpunkt des Einzelnen aus, indem jeder an der Erzeugung des Genies mitwirkt; und zum anderen vom Standpunkt des Genies aus, indem es die Menschen von den herkömmlichen Sitten befreit und eine andere, auf einem neuen Bild des Lebens beruhende Kultur hervorbringt. Die Grundbedingung dazu ist, dass jeder ,seiner Aufgabe lebt‘. Es ist für Nietzsche entscheidend, dass jeder nach dieser Aufgabe handelt. Im Falle des Genius bzw. des Philosophen behauptet Nietzsche: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben.“ (SE, KSA 1.350) Beispielhaft kann nur das sichtbare Leben sein. Indem also ein Philosoph ,einer Aufgabe lebt‘, kann er frei, selbstständig und schöpferisch sein. Mittels der Kunst verleiht der Philosoph dem Fluss des Lebens eine Gestalt. Er formt die Natur nach menschlichem Maß. Das Resultat ist eine neue und verbesserte Physis, die Kultur als „verklärte Physis“ (SE, KSA 1.362), in der die existentielle Not der Menschen, „irgend wo einen Halt zu haben“ (SE, KSA 1.345), einen wirklichen Halt dadurch findet, dass er ,seiner Aufgabe lebt‘. Die Kultur erweist sich so als die höchste ästhetische Lebensform, in der jeder Mensch sich vor sich selbst über sein Dasein verantwortet⁹⁶ und seine Bedeutung und Bestimmung findet. Sucht der Mensch sein ubi consistam, findet er dies in der Kultur, in der er ,seiner Aufgabe leben‘ kann. Das Leben ist daher nicht nur ein künstlerischer, sondern auch ein moralischer Prozess, der eine Kultur zustande bringt, in der das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen in das Verhältnis des Genius zur Gesellschaft übergeht. In der Kultur koppeln sich das individuelle und das gemeinsame Leben und kommen zur Bewusstheit ihrer Verbindlichkeit und Interdependenz.

 „Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten“ (SE, KSA 1.339).

6 Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Genius

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Eines darf dabei nicht übersehen werden: Nietzsche ist sich bewusst, dass nichts an der Natur korrigiert werden darf. „Es ist freilich ein Streben, welches tief und herzlich zur Resignation hinleitet: denn was und wie viel kann überhaupt noch verbessert werden, am Einzelnen und am Allgemeinen!“ (SE, KSA 1.357) Schopenhauer als Genie ist vorbildlich und erzieherisch, weil er die Kunst versteht als „ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt“ ist (GT, KSA 1.151). Durch die Kunst schafft das Genie ein Bild des Lebens, um damit den „Glaube[n] an eine metaphysische Bedeutung der Kultur“ (SE, KSA 1.401) in den Menschen zu erwecken und aufrechtzuerhalten. Jedes Lebensbild und jede Kultur werden auf den Kopf gestellt, wenn ein Genie auf die Welt kommt, wie Nietzsche mit Berufung auf Emerson sagt: „Ein neuer Grad der Kultur würde augenblicklich das ganze System menschlicher Bestrebungen einer Umwälzung unterwerfen.“ (SE, KSA 1.426) Mit diesen Einsichten befindet sich Nietzsche auf dem Weg zu seiner Aufgabe einer Umwertung aller Werte.

Teil II: Die radikale Kritik des Daseins

Nietzsches Freigeisterei und seine Herausforderung „Philosoph des Lebens“ zu werden Wie Nietzsche 1882 in einem Brief an Lou Andreas-Salomé berichtet, bildet Menschliches, Allzumenschliches zusammen mit Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft „das Werk von 6 Jahren“ (Nr. 256, KSB 6.217), in dem er seine Freigeisterei vollzieht. Zum Zweck dieser Freigeisterei hinterfragt er das Dasein in Form der Bedingungen des menschlichen Lebens. Aufgrund von verschiedenen entscheidenden Selbsterfahrungen stellt sich Nietzsche dem Leben als derjenige, „welcher die allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat“ (MA, KSA 2.284). Nietzsches Selbsterfahrungen und ihre existentielle und intellektuelle Tragweite lassen sich in Hinblick auf seine Aufgabe aus dem Briefwechsel von 1875 bis 1879 belegen. Zu diesen entscheidenden Selbsterfahrungen ist die Trennung von Richard Wagner zu rechnen, die zugleich den Abschied von seinem ästhetisch-romantischen Pessimismus und Idealismus darstellt. Auch kommt der Verschlimmerung seiner Gesundheit eine große Bedeutung zu. All dies drängt Nietzsche in diesen Jahren dazu, ein immer einsameres Leben zu führen. Vermischte Meinungen und Sprüche und Der Wanderer und sein Schatten repräsentieren in dieser Hinsicht „Zeugnisse eines Rückzugs auf sich selbst“,⁹⁶ deren existentielle Konnotation im Briefwechsel deutlich erscheint. Besonders das innere Verhältnis zwischen Leben und Aufgabe wird hierbei ersichtlich. Nietzsche berichtet seinen engen Freunden und Bekannten über seinen Gesundheitszustand und seine Lebensumstände. Am 11. August 1875 schreibt er in einem Brief an Carl Fuchs: „Es gieng schlimm zu, ich merke es immer an der Art, wie ich mich zu meinen großen Plänen und zum Zusammenhang meines Lebens verhalte.“ (Nr. 479, KSB 5.100) Am selben Tag schreibt er an Malwida von Meysenbug: „ich mache Entwürfe über Entwürfe und suche mein Leben in einen Zusammenhang zu bringen – ich thue nichts lieber, nichts angelegentlicher, sobald ich nur einmal wieder allein bin.“ (Nr. 480, KSB 5.104) In den Jahren zwischen 1875 und 1879 neigt Nietzsche immer mehr dazu, allein zu sein. Sein schwankender Gesundheitszustand zwingt ihn, neue Orte aufzusuchen, deren Klima es ihm ermöglicht, seine immer akuter werdenden Magen- und Augenleiden zu ertragen und ein seinen intellektuellen Fähigkeiten gemäßes Leben zu führen. Er leidet aber „nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen.“ (KSB 5.104) Nimmt sein Leiden zu, nimmt sein Wille zum Leben ab und umgekehrt. Seine Krankheit zwingt ihn mehr und mehr zur „Überzeugung von dem Unwerthe des Lebens und dem Truge aller Ziele.“ (Brief an Carl von Gersdorff, Nr. 495, KSB 5.128) Wegen seiner Leiden zweifelt Nietzsche aber nicht nur an seinem Leben, sondern auch an seiner Aufgabe. Das Leben und die Aufgabe weisen also einen Doppelcharakter, eine gegenseitige

 Giorgio Colli, Nachwort zu MA II, KSA 2.711 f. https://doi.org/10.1515/9783110701890-010

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Nietzsches Freigeisterei und seine Herausforderung „Philosoph des Lebens“ zu werden

Abhängigkeit auf: Ist man gesund, kann man sich freuen und der Aufgabe stellen; ist man aber krank, wird alles in Zweifel gezogen und man will alles aufgeben. Ich war krank und zweifelte an meinen Kräften und Zielen; nach Weihnachten glaubte ich von allem lassen zu müssen und fürchtete nichts mehr als die Langwierigkeit des Lebens, das mit Aufgebung der höheren Ziele nur wie eine ungeheure Last drückt. Ich bin jetzt gesünder und freier, und die zu erfüllenden Aufgaben stehen wieder vor meinen Blicken, ohne mich zu quälen. (Brief an Malwida von Meysenbug, Nr. 518, KSB 5.148)

Es ist aber die Krankheit, die Nietzsche zur Selbstbeherrschung und zu neuen Lebensweisen anspornt (vgl. die Briefe Nr. 475, 488, 495). Mit der Zeit wird er durch die Krankheit anspruchsvoller, raffiniert im Urteilen, skeptischer und entschlossener im Leben. Er erkennt auch, dass er durch den übergroßen Zwang, den er in Basel auf sich selbst ausübte, krank geworden ist.⁹⁷ In diesem Seelenzustand ist seine Aufgabe, dass er ,seiner Aufgabe zu leben‘ hat, die ihn zum Leben anspornt: Ich habe meinem Amte und meiner Aufgabe zu leben – einem Herrn und einer Geliebten und Göttin zugleich: viel zu viel für meine schwache Kraft und tief erschütterte Gesundheit. Äußerlich gesehen, ist es ein Leben wie das eines Greises und Einsiedlers: völlige Enthaltung von Umgang, auch dem der Freunde, gehört dazu. Trotzdem bin ich muthig, vorwärts, excelsior! – (Brief an Reinhart von Seydlitz, Nr. 772, KSB 5.364)

Das Leiden verhilft Nietzsche zur Selbsterkenntnis. Er erlebt vor allem seine echten Bedürfnisse, seine Aufgabe und seine tägliche, unausweichliche Not, zu sich selbst zu kommen. Das alles geschieht in seiner gewählten Einsamkeit.⁹⁸ Die Gesundheit wieder gewonnen zu haben, heißt für Nietzsche, sich selbst, sein Ziel, seine Aufgabe und sein Vertrauen zum Leben wieder gefunden zu haben.⁹⁹ In dieser Phase erlebt er jene entscheidende Krise seines Lebens,¹⁰⁰ deren „Denkmal“  „Mir ist jetzt immer deutlicher geworden, dass es eigentlich der übergrosse Zwang war, den ich mir selbst in Basel anthun musste, an dem ich zuletzt krank geworden bin; die Widerstandskraft war endlich gebrochen. Ich weiss es, fühle es, dass es eine höhere Bestimmung für mich giebt als sie sich in meiner Baseler so achtbaren Stellung ausspricht; auch bin ich mehr als ein Philologe, so sehr ich für meine höhere Aufgabe, auch die Philologie selbst gebrauchen kann. „Ich lechze nach mir“ das war eigentlich das fortwährende Thema meiner letzten 10 Jahre.“ (Brief an Marie Baumgartner, Nr. 661, KSB 5.282)  „Können Sie mir jenes Gefühl – das unvergleichbare – nachfühlen, zum ersten Male öffentlich ein Ideal und sein Ziel bekannt zu haben, das Keiner sonst hat, das fast Niemand verstehen kann und dem nun ein armes Menschenleben genügen soll – so werden Sie mir auch nachfühlen, warum ich in diesem Jahre, sobald mein Beruf mich frei gibt, Einsamkeit brauche. Keinen Freund – Niemanden will ich dann, es ist so nöthig. Nehmen Sie dies, bitte, ohne Erörterung hin. –“ (Brief an Reinhart von Seydlitz, Nr. 721, KSB 5.326)  Ich „habe mich selbst dabei wieder gefunden. Das heißt nämlich das Vertrauen an meine Ziele, das Verpflichtetsein auf meine Aufgaben und den Muth der Gesundheit.“ (Brief an Heinrich Romundt, Nr. 521, KSB 5.153)  „[G]egen die Befreier des Geistes sind die Menschen am unversöhnlichsen im Haß, am ungerechtesten in Liebe. Trotzdem: ich will stille meinen Weg gehen und auf alles verzichten, was mich

Nietzsches Freigeisterei und seine Herausforderung „Philosoph des Lebens“ zu werden

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(EH, KSA 6.322) MA ist, und wird sich dadurch endgültig seiner höheren philosophischen Bestimmung bewusst. Eine ausführliche Darstellung von Nietzsches Seelenzustand lässt sich im Brief vom 15. Juli 1878 an Mathilde Maier ablesen: Verehrtestes Fräulein, es ist nicht zu ändern: ich muß allen meinen Freunden Noth machen – eben dadurch daß ich endlich ausspreche, wodurch ich mir selber aus der Noth geholfen habe. Jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft, welcher in Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen will – dazu eine ganz entsprechende Barockkunst der Überspannung und der verherrlichten Maßlosigkeit – ich meine die Kunst Wagner’s – dies Beides war es, was mich endlich krank und kränker machte und mich fast meinem guten Temperamente und meiner Begabung entfremdet hätte. Könnten Sie mir nachfühlen, in welcher reinen Höhenluft, in welcher milden Stimmung gegen die Menschen die noch im Dunst der Thäler wohnen ich jetzt hinlebe, mehr als je entschlossen zu allem Guten und Tüchtigen, den Griechen um hundert Schritt näher als vordem: wie ich jetzt selber, bis in’s Kleinste, nach Weisheit strebend lebe, während ich früher nur die Weisen verehrte und anschwärmte – kurz wenn Sie diese Wandelung und Krisis mir nachempfinden können, oh so müßten Sie wünschen, etwas Ähnliches zu erleben! Im Bayreuther Sommer wurde ich mir dessen völlig bewußt: ich flüchtete nach den ersten Aufführungen denen ich beiwohnte, fort in’s Gebirge, und dort, in einem kleinem Walddorfe, entstand die erste Skizze, ungefähr ein Drittel meines Buches, damals unter dem Titel „die Pflugschaar“. Dann kehrte ich, dem Wunsche meiner Schwester folgend, nach Bayreuth zurück und hatte jetzt die innere Fassung, um das Schwer-Erträgliche doch zu ertragen – und schweigend, vor Jedermann! – Jetzt schüttele ich ab, was nicht zu mir gehört, Menschen als Freunde und Feinde, Gewohnheiten Bequemlichkeiten Bücher; ich lebe in Einsamkeit auf Jahre hinaus, bis ich wieder, als Philosoph des Lebens, ausgereift und fertig verkehren darf (und dann wahrscheinlich muß) (Nr. 734, KSB 5.337 f.).

Mit 34 Jahren sieht Nietzsche nun seine höhere Bestimmung vor Augen: Philosoph des Lebens zu sein oder zu werden. Er erlebt eine Lebenskrise, die ihn jedoch nicht umbringt, sondern härter macht. Indem er sich – dem Anspruch der zweiten UB gemäß – auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt, vermag er Ordnung in sein Leben zu bringen. All dies ergibt sich als eine Zäsur in Nietzsches Denken und Leben. Da ihm Einsamkeit nötig war, erweist sie sich als Lebensbedingung. Einsamkeit ist der existentielle Ausdruck, der auch als intellektueller Ausdruck des Pathos der Distanz, der Wahrheit und des Wahrheitssuchens verstanden werden kann. Es handelt sich um eine Distanzierung von Nietzsches vorheriger Lebenseinstellung und die Annahme einer neuen: Ich wenigstens fühle mich rüstiger und zu allem Guten entschlossener als je – auch zehnmal milder gegen Menschen, als in der Zeit meines früheren Schriftthums. In summa und im kleinsten

daran hindern könnte. Die Krisis des Lebens ist da: hätte ich nicht das Gefühl der übergroßen Fruchtbarkeit meiner neuen Philosophie, so könnte mir wohl schauerlich einsam zu Muthe werden. Aber ich bin mit mir einig.“ (Brief an Malwida von Meysenbug, Nr. 725, KSB 5.331)

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Nietzsches Freigeisterei und seine Herausforderung „Philosoph des Lebens“ zu werden

Einzelnen: jetzt wage ich es, der Weisheit nachzugehen und selber Philosoph zu sein; früher verehrte ich die Philosophen. (Brief an Carl Fuchs, Nr. 729, KSB 5.335)

Nietzsches Anspruch auf ein philosophisches Leben beginnt mit der Publikation von MA. Dieses Buch nimmt daher eine Schlüsselstellung in seiner Philosophie ein. In Bezug auf die frühen Schriften repräsentiert es den ersten reifen Versuch Nietzsches, den eigenen philosophischen Weg zur Befreiung des Geistes zu gehen.

7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches Aus den bisher analysierten Schriften Nietzsches lässt sich folgern, dass sein Denken vom Pathos der Wahrheit durchdrungen ist. Er geht davon aus, dass der Mensch durch einen Wahrheitstrieb gedrängt wird. Der Mensch strebt nach der Wahrheit und benötigt sie zugleich, um in einer Gesellschaft zu leben. Außerdem ist der Trieb zur Wahrheit ein dem Menschen innewohnender Erkenntnistrieb, der ihn zur Frage nach dem Sinn und Wert seines eigenen Lebens herausfordert. Da nach Nietzsche das Leben von Grund auf sinnlos ist und der Mensch trotzdem vom Lebenserhaltungstrieb gedrängt wird, muss der Mensch eine Wahrheit erdichten. Er tut das dank dem ihm innewohnenden Trieb zur Metaphernbildung. Nietzsche zufolge kann der Mensch in der Tat nichts anderes tun, als eine lebensdienliche Wahrheit zu erfinden. Er ist ein künstlerisch schaffendes Subjekt, das sich den Dingen gegenüber ästhetisch verhält. Der Mensch kann nicht das Wesen der Dinge erschließen; er kann nur seine Relationen zu den Dingen bezeichnen. Wenn ihn sein Wissenstrieb also zur Frage nach dem Wert des Lebens führt, kann er diesen Wert nur erfinden, indem er sich der verklärenden Kunst bedient. Diese Einstellung zum Leben ist bei Nietzsche ausdrücklich in Über das Pathos der Wahrheit, einer der 1872 geschriebenen Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, zusammengefasst. Hier behauptet Nietzsche, dass „die Wahrheit […] ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein“ scheint und den Menschen „zur Verzweiflung und zur Vernichtung treiben“ würde, wenn er „eben nur ein erkennendes Thier wäre“: Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich durch ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm die Natur nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste z. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches „Bewußtsein“ hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. O der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. „Laßt ihn hängen“, ruft die Kunst. „Weckt ihn auf“ ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer – vielleicht träumt er dann von den „Ideen“ oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntniß, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung. – (CV, KSA 1.760)

Der Wissenschaft stellt Nietzsche also die Kunst gegenüber. Das von Wissensgier bedingte existentielle Bedürfnis des Menschen nach einem nützlichen Lebensbild wird durch die Kunst nicht nur geschwächt, sondern sogar überwunden. Die Kunst ist eine plastische und verklärende Kraft, die dem Leben eine geistig-anthropomorphe Gestalt verleihen kann, die einheitlich, auf ein Ziel gerichtet und infolgedessen lehttps://doi.org/10.1515/9783110701890-011

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

benswert erscheint. Nur durch die Kunst kann sich der Mensch retten und ein glückliches Leben führen. In MA kehrt Nietzsche auf diese jugendliche, in Fatum und Geschichte geäußerte Einstellung zurück.Während er aber in Fatum und Geschichte noch meint: „Geschichte u. Naturwissenschaft, die wundervollen Vermächtnisse unsrer ganzen Vergangenheit, die Verkünderinnen unsrer Zukunft, sie allein sind die sichern Grundlagen, auf denen wir den Thurm unsrer Spekulation bauen können“ (KGW I 2.432), stellt er nun die grundlegende Frage nach dem Nutzen von Erkenntnis überhaupt auf philosophischer wie auf existentieller Ebene: Nietzsche fragt nach dem Wert des Lebens. Der Wissenschaft, die ihre Erkenntnisobjekte rein sachlich behandelt, stellt er die Philosophie entgegen, die Nietzsche als Spitze der gesamten Wissenspyramide ansieht. Neben der Philosophie stellt er die Kunst, denn sie „will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung geben; in [der Wissenschaft] sucht man Erkenntniss und Nichts weiter“ (MA, KSA 2.28). MA ist daher vom „Pathos des Wahrheit-Suchens“ gekennzeichnet: „In der That: das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.“ (MA, KSA 2.359) Das wird, noch vor aller inhaltlichen Betrachtung, schon aus Nietzsches aphoristischem Stil ersichtlich. Die hier zusammengestellten Aphorismen enthalten nämlich „nicht fertig gewordene Gedanken“ (MA, KSA 2.170), die noch einen unsicheren Horizont bilden und daher Wege zu verschiedensten weiteren Gedanken offenlassen. Trotzdem handelt es sich nur scheinbar um lose Gedanken. Die in aphoristischer Form dargestellten Überlegungen sollen vielmehr das Werden bzw. die Flüssigkeit und Komplexität des Denkens und Lebens ausdrücken und abbilden, die sich nicht mehr auf eine absolute Form zurückführen und an sie binden lassen. Die aphoristischen, noch nicht fest- und fertiggestellten Gedanken sind keine Trümmer der Abschaffung der metaphysischen Welt. Sie sind vielmehr die neuen geistigen Bausteine, die Nietzsche zur Hervorbringung einer neuen Kultur- und Lebensauffassung verwendet. Sie könnten auch als Ausdruck des Geflechts der Probleme und der „Polyphonie der Bestrebungen“ verstanden werden, die umso größer werden, „je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind.“ (MA, KSA 2.44)

7.1 Der Freigeist und seine Aufgabe MA ist daher „ein Buch für freie Geister“ — und zwar für den Freigeist, der sich als „sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel“ gesetzt hat, „zu aller Zeit so gut wie möglich zu erkennen“ (MA, KSA 2.75). Der Freigeist stellt sich dem gebundenen Geist entgegen, fühlt „den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb seines Geistes“ und sieht „im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellecten sein Ideal fast in einem geistigen Nomadenthum“ (VM, KSA 2.469). „Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung […]. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.“ (MA, KSA 2.190) Der Freigeist erforscht

7.2 Das historische Philosophieren und die unlogische Grundstellung

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durch die strengen Methoden der Wissenschaft die Gründe des herkömmlichen Wissens, um sich und die Menschheit von den Fesseln der Religion, der Moral und jeder Metaphysik zu befreien: „Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit Misserfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe die Anderen Glauben“ (MA, KSA 2.190). In hektischen Zeiten widmet sich der Freigeist der vita contemplativa; er nimmt sich „Zeit zum Denken und Ruhe im Denken“, um dadurch abweichende Ansichten zu erwägen. Aufgrund der selbständigen und vorsichtigen Haltung der Erkenntnis „hat er die ganz andere und höhere Aufgabe, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen.“ (MA, KSA 2.231) In der Tat ist die Abschaffung der Metaphysik nur die Vorbedingung, damit der Freigeist „an der Umschaffung der Ueberzeugungen, das heisst an der Cultur“ (VM, KSA 2.511), arbeiten kann. Infolgedessen bedient sich Nietzsche der psychologischen Beobachtung, um den Menschen, die Kultur und das Leben in allen Aspekten zu hinterfragen. Unter psychologischer Beobachtung versteht er „jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat“ (MA, KSA 2.59 f.). Die infrage gestellte Moral ist dabei nur ein Teil, wenngleich der Hauptteil eines umfangreichen und vielfältigen Forschungsgebietes. Es lässt sich so auch genealogisch erschließen, woher Nietzsches Aufgabe einer Umwertung aller Werte kommt. Sie hat ihre Wurzeln in der Arbeit an der Kultur, d. h. an der Umschaffung der Überzeugungen, die ihrerseits nicht den Anspruch auf eine un- oder amoralische Menschheit erhebt, sondern zu einer Moral der Einsicht führt, „welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine anderen haben durfte.“ (WS, KSA 2.573)

7.2 Das historische Philosophieren und die unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen Als Freigeist strebt Nietzsche also keine Rechtfertigung der Welt und des Daseins mehr an, sondern eine kritische Forschungsmethode, um beide einer radikalen Kritik zu unterziehen. Er fragt nach der Herkunft und den Anfängen der bisher tradierten Vorstellungen von Welt und Dasein, nicht um ihre metaphysischen, sondern menschlichen, allzumenschlichen bzw. sinnlichen Ursprünge zu enthüllen. Er geht davon aus, dass der metaphysischen Auffassung, die „die Entstehung des Einen aus dem Andern [z. B. Vernunft aus Unvernunft] leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm“ (MA, KSA 2.23), ein Irrtum der Vernunft zugrunde liegt. Um diesen Irrtum zu erkennen, brauchen wir „eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben.“ (MA, KSA 2.24) Eine solche das Leben in der Vielfalt seiner Formen analysierende Chemie solle ermitteln, dass „die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind.“ Die demaskierende Einstellung, die Rückführung der „ersten und letzten Dinge“ auf ihr „Menschliches, Allzumenschliches“ — „oder wie der gelehrte Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung“ (MA, KSA 2.57) — ist aber umso wesentlicher, weil Nietzsche zufolge „die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben“ (MA, KSA 2.60). Um die Chemie der Begriffe und Empfindungen zur Geltung zu bringen, greift Nietzsche auf „die allerjüngste aller philosophischen Methoden“ (MA, KSA 2.23) zurück, nämlich auf „die historische Philosophie, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist“. Die historische Philosophie ermöglicht es dem Erkennenden aufzudecken, dass „alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, […] im Grunde nicht mehr [ist], als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes.“ (MA, KSA 2.24) Von diesem Standpunkt aus bringt „der stetige und mühsame Prozess der Wissenschaft“ mittels einer „Entstehungsgeschichte des Denkens“ (MA, KSA 2.37) ans Licht, dass es keine unbedingten Wahrheiten, keine Erscheinung und kein Ding an sich sowie keinen freien Willen und keine moralische Schuld außer in unserer Vorstellung gibt. Die Welt und das Leben sind nicht teleologisch, d. h., sie sind nicht durch bestimmte metaphysische Zwecke oder ideale Endzustände ewig bestimmt: „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. — Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung“ (MA, KSA 2.25). Daraus lässt sich das anthropologische Prinzip folgern: „Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden“ (MA, KSA 2.29). Unter dem Kopf wird hier nicht nur das rationale Denken, sondern ebenso „Urtheil, Gedächtniss, Geistesgegenwart, Phantasie“ (WS, KSA 2.694) verstanden. In diesem Zusammenhang ist besonders Nietzsches Interpretation der „Logik des Traumes“ wichtig. Stark von der Lektüre der Physiologen seiner Zeit beeinflusst,¹⁰¹ behauptet er: „wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit.“ (MA, KSA 2.33) Die Logik des Traumes ist also „eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache […] — das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt“ (MA, KSA 2.34). Dieser falsche Schluss liegt der Vernunft zugrunde, die — zusammen mit der Phantasie — den an sich formlosen Stoff der Empfindungen sofort zu

 Ubert Treiber, Zur „Logik des Traums“ bei Nietzsche. Anmerkungen zu den Traumaphorismen aus MA, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 1– 41, und Andrea Orsucci, Orient-Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin 1996.

7.2 Das historische Philosophieren und die unlogische Grundstellung

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Formen und Begriffen verarbeitet. Des Weiteren lässt sich die Logik des Traumes auch auf das Gedächtnis anwenden. Es wird im Schlaf derart beeinträchtigt, „auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht“ (MA, KSA 2.31), dass, „willkürlich und verworren, wie es ist, es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten“ verwechselt. Dieser Prozess spielt sich nach Nietzsche bei jedem im Traum ab: „das schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen.“ (MA, KSA 2.32) Dieser irrtümliche innere Verlauf bestimmt die Voraussetzungen, auf denen laut Nietzsche die Logik beruht und „denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. […] die Voraussetzung der Gleichheit von Dingen und der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit“ (MA, KSA 2.31). Je weiter Nietzsche die Chemie realisiert, desto mehr stößt er auf die Grenzen der Erkenntnis. Sie sind nichts anderes als eine Übertragung von unbewussten oder bewussten Bedürfnissen und Empfindungen wie Lust und Schmerz in eine logische, begriffliche Sphäre. Die Logik stützt sich paradoxerweise auf unreines Denken. — Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. – Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. (MA, KSA 2.39)

Die Entdeckung des unreinen Denkens als Grundlage der Erkenntnis bringt zwei unausweichliche Konsequenzen mit sich. Zunächst führt sie zur Notwendigkeit des Ungerechtseins und damit zu einer der „unauflösbarsten Disharmonien des Daseins“: „ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können diess erkennen: diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.“ (MA, KSA 2.52) Zum anderen stößt man auf die Notwendigkeit des Unlogischen, genauer: auf die unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen: Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen. (MA, KSA 2.51)

An dieser Stelle darf man nicht Nietzsches reductio ad homini rationem übersehen. Die Natur wird nicht zum bloßen Forschungsobjekt des Erkennenden, sie ist keine „res extensa“. Vielmehr wird sie zur unlogischen Grundstellung des Menschen zu allen Dingen, der er als Vernunftwesen bedarf. Wenn man die unlogische Grundstellung

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

musikalisch als „Lage eines Akkordes mit dem untersten Ton als Grundton“ versteht und der Grundton die Vernunft ist, dann wird sofort klar, worin die „unauflösbarsten Disharmonien des Daseins“ bestehen. Auf Grundlage dieser Erkenntnis interpretiert Nietzsche Gut und Böse in Bezug auf den Menschen und lehnt die Theodizee ab: Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe „gut“ und „böse“ nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen. (MA, KSA 2.49)

Wenn Nietzsche also einerseits für die Unverantwortlichkeit und Unschuld des Menschen plädiert (vgl. MA, KSA 2.103), ist er sich andererseits dessen bewusst, dass die Wissenschaft, die „in der That den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundgenossen [braucht]“ (MA, KSA 2.43), der Skepsis zum mutmaßlichen Sieg verhelfen könnte. Das schließt ihm zufolge jedoch nicht eine Philosophie der logischen Weltverneinung aus, „welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt.“ (MA, KSA 2.50) Vor diesem Hintergrund weist die historische Philosophie zugleich ihre Frucht- und Furchtbarkeit auf, jenes Doppelgesicht also, „welches alle grossen Erkenntnisse haben“ (MA, KSA 2.61), und geht deswegen mit „der historischen Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit“ (MA, KSA 2.42) einher: „wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten?“ Nietzsches Absicht besteht, vor allem im Hinblick auf sein Spätwerk, darin, eine Philosophie der Weltbejahung zu schaffen. Zu diesem Zweck hebt er die positive Wirkung der Wissenschaft auf den Menschen hervor und geht von der These aus, dass — laut Titel des Aphorismus 256 von MA — „das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt“ wird. Der Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein. (MA, KSA 2.212)

Das Praktizieren einer strengen Wissenschaft dient dem Menschen zur Selbstdisziplinierung. Nietzsche ist demnach vom „Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse“ (MA, KSA 2.75) überzeugt — nicht im Sinn eines ewigen Friedens, sondern einer weisen Einstellung zu den menschlichen Bedürfnissen. Zu den Bedürfnissen zählt er nicht nur Hunger, Durst, Schlafen etc., sondern auch Angst, „die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil“ (MA, KSA 2.48), das sogenannte „metaphysische Bedürfnis“ und auch das Gefühl der Wahrheit sowie den Drang zur Freiheit als stärksten Trieb des Freigeistes. Bedürfnisse können durch eine Philosophie geschwächt oder getilgt werden, denn sie sind nicht unwandelbar, son-

7.2 Das historische Philosophieren und die unlogische Grundstellung

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dern angelernte, zeitlich begrenzte Bedürfnisse: „Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch befriedigt oder dass sie dieselben beseitigt.“ (MA, KSA 2.48) Der Erkennende nimmt daher eine neue Einstellung zu seinen Bedürfnissen ein. „Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen“ (MA, KSA 2.75). Die Erkenntnis, also „sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu erkennen, wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen.“ Aus diesen Gründen treibt Nietzsche mit den Leidenschaften eine Art Cultus: „Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln.“ (WS, KSA 2.569) Die Wissenschaft bringt im Menschen einen Zuwachs an Energie hervor, weil sie ihm tatsächlich Lust bereitet: „das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, [ist] mit Lust verknüpft“ (MA, KSA 2.209). Dies kommt dadurch zustande, dass „man sich dabei seiner Kraft bewusst wird“. Lust ist ein „Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung“ (MA, KSA 2.101), nach der nicht nur der Gläubige, sondern auch der Freigeist strebt: „Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen“ (MA, KSA 2.340). Über diese Lust hinaus richtet Nietzsche seine Aufmerksamkeit zudem auf diejenige Lust, die der Mensch im Umgang mit anderen Menschen gewinnt. Aus dieser neuen Gattung der Lust wächst der soziale Instinkt. ¹⁰² Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hieher gehört, schon von den Thieren her übernommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den Jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus. (MA, KSA 2.95)

Nietzsche beschränkt die Wirkung der Lustempfindung auf den Menschen nicht nur auf das aus ihr resultierende Machtgefühl und den sozialen Instinkt. In MA wird der Lust ebenfalls eine große Bedeutung zugesprochen, weil sie im Leben verwurzelt ist. Nietzsche ist der Ansicht: „Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben.“ (MA, KSA 2.101 f.) Nietzsches Bevorzugung der Wissenschaft in MA

 Für die Begründung der Gesellschaft siehe auch WS, KSA 2.560, 563, 567.

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

basiert zum Teil darauf, dass die moderne Wissenschaft verheißt: „so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich“ (MA, KSA 2.123). Wie wir bisher gesehen haben, hat Nietzsche in MA durch die historische Philosophie den sinnlichen Ursprung des Wissens und die naturale bzw. unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen ausfindig gemacht. Darüber hinaus hat er auch die entscheidende Rolle der Lust- und Schmerzempfindungen in Bezug auf Wertschätzungen betont. Das Unlogische ist zugleich der Ursprung der Erkenntnis und das, was den Menschen zum Leben antreibt, weil es seinem Leben Wert verleiht. Ein Leben ohne Lust und Schmerz, ohne das Unlogische ist nach Nietzsche undenkbar und auch gar nicht wünschenswert. Da die Wissenschaft dem Menschen Lust bereiten kann, bewertet Nietzsche sie positiv wie auch die Erkenntnis. Ihr reinigender Einfluss ermöglicht es dem Menschen, die wohltätigen Wirkungen zu erreichen, die er bisher der Metaphysik verdankte: „Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interessanter finden“ (MA, KSA 2.38). Nietzsche ist zuletzt davon überzeugt, „dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.“

7.3 Die Aufklärung als Fortsetzung der Renaissance und ihre Aufgabe Nachdem Nietzsche durch die Chemie den sinnlichen Ursprung der moralischen, religiösen und ästhetischen Begriffe und Empfindungen ans Licht gebracht hat, fragt er, was den Geist der Wissenschaft bis in seine Zeit daran gehindert hat, sich durchzusetzen. Nach wie vor zielt er „mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit“ auf die vollkommene Überwindung der Metaphysik. Der erste Schritt ist die Befreiung des wissenschaftlichen Geistes von dem wohlbekannten schopenhauerschen „metaphysischen Bedürfnis“. So erzielt man einen großen Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit und kann „dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren lassen“ (MA, KSA 2.47). Zwei historische Ereignisse verzögerten nach Nietzsche „um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften“ (MA, KSA 2.199): die von Luther geführte deutsche Reformation und die von der rousseauschen Philosophie durchdrungene Französische Revolution. Die deutsche Reformation ereignete sich „als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister“, die die Gegenreformation erzwangen, „das heisst ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes“. Die Reformation stellte sich den positiven, befreienden Kräften¹⁰³  Siehe MA, KSA 2.199: „Die italiänische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der

7.3 Die Aufklärung als Fortsetzung der Renaissance und ihre Aufgabe

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der italienischen Renaissance entgegen. Die ist für Nietzsche das entscheidende Ereignis, weil „die grosse Aufgabe der Renaissance nicht zu Ende gebracht werden konnte“, nämlich „das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes“. Des Weiteren lähmte und verzögerte die Französische Revolution den „Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwickelung auf lange“ (MA, KSA 2.299). In diesem Zusammenhang ist nicht zu verkennen, dass Nietzsche zwar den Krieg als unentbehrlich¹⁰⁴ ansieht, weil „die Cultur die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren kann.“ (MA, KSA 2.312) Er betont aber auch mit Nachdruck, dass „ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur.“ (MA, KSA 2.299) Ohne Revolution hätte die Aufklärung nach Nietzsche lange Zeit nur Einzelne umgebildet: „sodass sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte.“ (WS, KSA 2.654) Da die Aufklärung von ihrem revolutionären und gewaltsamen Wesen gelenkt wurde, ist ihre Gefährlichkeit dadurch fast grösser geworden, als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die grosse Revolutionsbewegung kam. Wer diess begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen. (WS, KSA 2.654)

Um die Metaphysik zu überwinden und den Geist der Aufklärung von der Revolution zu trennen, muss man über das historische Philosophieren — laut Titel des Aphorismus 20 von MA — „Einige Sprossen zurück“ gehen: „Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er [der Mensch] muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde“ (MA, KSA 2.41 f.). Demzufolge behauptet Nietzsche im Aphorismus 26: Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca,

Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit höchster sittlicher Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster.“  Siehe MA, KSA 2.312: „Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.“

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht (MA, KSA 2.47).

Dass Nietzsche neben Voltaire als Repräsentanten der Aufklärung Petrarca und Erasmus nennt, führt uns die Komplexität seines Aufklärungsbegriffs vor Augen. Er deutet die Aufklärung nicht als der Renaissance entgegengesetzt, sondern als deren Fortsetzung. In diesem Zusammenhang ist Petrarca einer derjenigen vorzüglichen und edlen Menschen, nach denen „in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei“¹⁰⁵ — und die trotzdem Vergnügen aus ihrer Belehrung ziehen. Darüber hinaus wurde dank „der Humanisten Wirkung“ und vor allem dank Erasmus eine Reformation der Kirche im weiteren Kontext einer „Reform des gesammten Geisteslebens“¹⁰⁶ in die Tat umgesetzt. Der dabei angestrebte Geist der Aufklärung ist hingegen durch Voltaire verkörpert.Voltaire wird von Nietzsche idealisiert und zu demjenigen Freigeist erhoben, der dank seiner stilistischen Vornehmheit und seines griechischen Ohrs als Brücke zur Klassizität und gleichzeitig als Symbol einer „maassvolle[n], dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte[n] Natur“ (MA, KSA 2.299) gilt, deren Antipoden „Rousseau’s leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen“ sind. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte […]; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, – aber die Zügel der Logik, nicht mehr des künstlerischen Maasses. (MA, KSA 2.182)

Nachdem die zwischen Renaissance und Aufklärung vorhandene Kontinuität ermittelt, die Aufklärung vom Geist der Revolution gereinigt und die metaphysischen Bedürfnisse überwunden worden sind, kann sich nun die Menschheit entwickeln. Nietzsches Auffassung vom Fortschritt liegt keine Teleologie zugrunde, sondern die  Siehe dazu NL 6[31], KSA 8.110: „Der grösste Verlust, der die Menschheit treffen kann, ist ein Nichtzustandekommen der höchsten Lebenstypen. So etwas ist damals geschehen. Eine scharfe Parallele zwischen diesem Ideal und dem christlichen. Zu benutzen die Bemerkung Schopenhauers: „vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe; sie sehn ein, dass in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei und sagen endlich mit Petrarca ,altro diletto, che ’mparar, non provo‘. Es kann damit sogar dahin kommen, dass sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaassen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloss Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich giebt.“ – Parerga I 439. Damit vergleiche man die Socratiker und die Jagd nach Glück!“  Siehe dazu NL 30[54], KSA 8.530 f.: „Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.“

7.3 Die Aufklärung als Fortsetzung der Renaissance und ihre Aufgabe

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Idee, dass der Fortschritt nicht notwendig, aber doch möglich sei. So ist Nietzsche der Ansicht, dass die Menschen mit Bewusstsein beschliessen [können], sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. (MA, KSA 2.45)

Ausschlaggebend dafür ist die historisch glückliche Lage, in der sich die Menschheit im 19. Jahrhundert befindet. Sie ermöglicht es den Menschen, sich autonom „ökumenische“ Ziele zu setzen: In Hinsicht auf die Vergangenheit geniessen wir alle Culturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten […]. In Hinsicht auf die Zukunft erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne Anmaassung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen […]: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will. (VM, KSA 2.457 f.)

Eine solche umfangreiche Betrachtung des schöpferischen Potentials der Menschheit sollte „endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vorbereiten, wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur.“ (WS, KSA 2.592) Trotz Nietzsches „positivistischer“ Aussage, dass man „in der jetzigen Zeit […] die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken“ (MA, KSA 2.115), bezieht sich sein Fortschrittsbegriff inhaltlich nicht auf die Gesetze der Natur oder der Geschichte, sondern nur auf die sich in der Seele des Menschen abspielende Entwicklung. Die von Auguste Comte vertretene „Dreistadientheorie“ wird dementsprechend von Nietzsche als Modell der inneren Entwicklung eines jeden Individuums eingesetzt. So spricht er im Aphorismus 272 von „Jahresringe[n] der individuellen Cultur“ und stellt den Fortschritt als Entwicklungsprozess von der Religion über die Metaphysik und die „als metaphysische künstlerisch verklärende Stimmung“ angesehene Kunst bis zur Wissenschaft vor. Der Fortschritt ergibt sich als das, was „sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen pflegt“ (MA, KSA 2.225), und zugleich als „die Recapitulation eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat.“ Ein solches dreistufiges Modell kennzeichnet auch die Entwicklung der Moral. In Aphorismus 94 von MA spricht Nietzsche von den „drei Phasen der bisherigen Moralität“. Er hebt nachdrücklich hervor, wie der Mensch auf der höchsten Stufe der Moralität vermöge der freien Herrschaft der Vernunft „nach seinem Maassstab über die Dinge und Menschen“ (MA, KSA 2.91) handeln kann: „Die Erkenntnis befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

als Collectiv-Individuum.“ Die Formel vom „Collektiv-Individuum“ hebt die Eigenart von Nietzsches Aufklärungsbegriff hervor, der auf der Befreiung des Individuums durch die historische Philosophie gründet und die Neugestaltung solcher Überzeugungen und somit eine neue Bildung anstrebt. Indem Nietzsche Comtes Dreistadientheorie psychologisch am Menschen anwendet, um die innere Entwicklung des geistigen Lebens zu deuten, erhebt er das menschliche Leben zum Interpretationsparadigma der Geschichte und Kultur, von dem sein Denken wesentlich durchdrungen ist. Von diesem Paradigma aus kann Nietzsche eine Brücke zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen schlagen und den Übergang von der Religion über die Metaphysik und Kunst bis zur Wissenschaft als „die gewöhnlichen Phasen der geistigen [Hervorhebung N.N.] Kultur“ (MA, KSA 2.224) deuten. In diesem Zusammenhang gewinnt die Aufklärung zusätzliche Bedeutung. Nachdem sie die Dogmen der Kirche und Metaphysik erschüttert hat, sammelt und steuert sie die menschlichen Gefühle und Bestrebungen in der Kunst, Politik und Wissenschaft, um die Gefahr einer Überreizung der Denkkräfte abzuwenden: Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. (MA, KSA 2.144)

Wie wir im Folgenden erörtern werden, ist es gerade eine derartige Aufklärung,¹⁰⁷ die nach der Abschaffung von Religion und Metaphysik eine Beseelung der Kunst fördern kann.

 Der von Nietzsche vertretene Aufklärungsbegriff lässt sich im Lichte der obigen Überlegungen nur teilweise mit demjenigen Kants oder dem Positivismus Comtes vereinbaren. Es handelt sich um einen sehr komplexen Begriff, in dem sich zudem Burckhardts Interpretation der Geschichte und Renaissance sowie Goethes Humanismus erkennen lassen. Nicht weniger bedeutsam ist ferner die Kritik der Moral durch die französischen Moralisten und Paul Rée. Es wäre vielleicht angemessener, von einer Interpretation der Aufklärung auszugehen, die Nietzsche absichtlich in Hinsicht auf den Kontext von MA und seiner eigenen philosophischen Ansprüche aufstellt. Er eignet sich die historische Aufklärung an und baut sie aus zu einer seinen eigenen philosophischen Ansprüchen entgegenkommenden Aufklärung. Zum Verhältnis von Nietzsche zu Kant siehe die aufschlussreiche Buchbesprechung von Hartwig Frank, Nietzsche und Kant, in: Nietzsche-Studien 35 (2006), S. 312– 320, und Marco Brusotti / Herman Siemens / João Constâncio / Tom Bailey (Hg.), Nietzsche’s Engagements with Kant and the Kantian Legacy, London 2017; zu Nietzsches Begriff der Aufklärung, seiner Rezeption und seinen Wirkungen Renate Reschke (Hg.), Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer, Berlin 2004, und Carlo Gentili / Volker Gerhardt / Aldo Venturelli (Hg.), Nietzsche-Illuminismo-Modernità, Firenze 2003.

7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen

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7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen In MA geht Nietzsche davon aus, dass die Philosophie für das Volk keinen Religionsersatz darstellt. Er ist davon überzeugt, dass diese Funktion „in der geistigen Oekonomie“ der Kunst zugewiesen werden muss. In der Tat ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. […] Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die Kunst viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen. (MA, KSA 2.48)

Außerdem stellt Nietzsche in Aphorismus 222 von MA die Idee eines Übergangs von der Religion zur Kunst und von der Kunst zur Wissenschaft als Entwicklung der Menschheit hin zu ihrer Befreiung dar: Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen. (MA, KSA 2.185 f.)

Es fällt auf, dass der Übergang von der Religion zur Kunst vollziehbar ist, weil die Kunst „das mit Empfindungen überladene Gemüth“ dadurch erleichtern kann, dass sie als „Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes“ gilt. Daneben ist nach Nietzsche der Übergang von der Kunst zur philosophischen Wissenschaft möglich, weil wir alles einverleibt haben, was uns die Kunst im Laufe der Geschichte bzw. des Lebens gelehrt hat, so dass es jetzt zu unserem Instinkt und zum Erkenntnistrieb geworden ist. Die Kunst hat durch Jahrtausende hindurch gelehrt, „Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, – diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Erkennens wieder an’s Licht.“ (MA, KSA 2.185) Aufs Ganze gesehen, bedeutet aber die Kunst für Nietzsche mehr als einen bloßen Religionsersatz für das Volk. Wenn er einerseits für den „Untergang der Kunst“ plädiert in dem Maße, wie sie noch metaphysisch und „künstlerisch verklärende Stimmung“ (MA, KSA 2.224) ist, fordert er andererseits nicht zwangsläufig auch ihre Vernichtung. Ihr Untergang kann als eine wahre, von der Aufklärung geförderte „Beseelung der Kunst“ gesehen werden. „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte.“ (MA, KSA 2.144) Was von der metaphysischen Kunst übrig bleibt, ist „die von ihr gepflanzte

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude“. Welcher Wert der Kunst beigemessen wird, soll im Folgenden erörtert werden. Nietzsche geht davon aus, dass — wie die historische Philosophie die Erbfehler der Philosophen — der Mensch eine aeterna veritas, etwas Gleichbleibendes in allem Strudel, ein sicheres Maß der Dinge sichtbar machen und beseitigen muss. Ebenso hat die „Wissenschaft der Kunst“ dem „Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung“ eines Kunstwerks „auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.“ (MA, KSA 2.141) Nietzsche hinterfragt die Kunst und das Genie, um beide von der Metaphysik zu befreien, und wendet seine Kritik auf den Geniekult und die Kunst als metaphysische Verklärung. Durch seine psychologische Beobachtung der „Seelen der Künstler und Schriftsteller“ entlarvt er, dass „das Cultus des Genius’ […] sehr häufig noch mit jenem ganz- oder halbreligiösen Aberglauben verbunden [ist], dass jene“ großen, überlegenen, fruchtbaren „Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig würden, als die übrigen Menschen.“ (MA, KSA 2.154). Dante Alighieri, Raffael, Michelangelo sowie die Künstler aller Zeiten [haben] in ihrem höchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. […] Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben habe (MA, KSA 2.180).

Man glaubt, dass der Genius einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt besitzt, der es ihm ermöglicht, ohne die Mühe und Strenge der Wissenschaft etwas Endgültiges und Entscheidendes über den Menschen und die Welt mitzuteilen. In der Tat ist seine Tätigkeit ähnlich derjenigen „des mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik.“ Alle diese Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie’s: aber keine ist ein „Wunder.“ (MA, KSA 2.152)

Infolgedessen warnt Nietzsche vor der Gefahr, die im Geniekult liegt, weil es das Genie hindert, „Kritik gegen sich selbst zu üben […]. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten …“ (MA, KSA 2.155)

7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen

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Genies bestehen nicht nur aus einem einzigen edlen Metall, wie Platon meinte, sondern aus einer Mischung von edlen und unedlen Metallen: Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten „eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muss“, dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und „aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht“: so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genie’s. (MA, KSA 2.210)

Darüber hinaus betont Nietzsche, dass niemand plötzlich zum Genie wird. Anerkennung und Größe kam den verschiedensten Personen zu. Sie „wurden Genies“ (vgl. MA, KSA 2.153) durch strengste, unermüdliche und andauernde Übungen — „unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.“ (MA, KSA 2.147) Genialität ist eine Eigenschaft, die durch einen langwierigen und komplexen Findungs- und Auswahlprozess sowie durch Mäßigung des Menschlichen und Allzumenschlichen, durch Selbstdisziplinierung erworben und raffiniert wird. Dieser Prozess weist zwar wissenschaftliche Merkmale auf, zeigt sich aber in der Hauptsache als künstlerischer Prozess. In diesem Zusammenhang legt Nietzsche viel Wert auf das schöpferische Potential der Kunst und hebt ausdrücklich hervor, dass „in der Bändigung der darstellenden Kraft, in der organisierenden Bewältigung aller Kunstmittel die eigentlich künstlerische That“ (MA, KSA 2.183) besteht. Weiter hält er fest, dass „die Handhabung und Verteilung des Stoffes, die neue Wendung alter Motive, alter Gedanken die ästhetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden, ist“ (vgl. MA, KSA 2.156). Das Genie ist also unter der Optik der Kunst zu begreifen. Das künstlerische Schaffen wiederum ist nicht mehr metaphysisch zu verstehen, d. h. als etwa creatio ex nihilo, sondern als die Fähigkeit, alte Motive und Gedanken durch eine gebändigte Darstellungskraft zu wählen, miteinander zu kombinieren und so schließlich in eine neue Ordnung zu bringen. In diesem komplexen Erfindungsprozess stellt der Künstler nicht „das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur“ (MA, KSA 2.185) dar. Er schafft Nietzsche zufolge keine wirklichen Charaktere, drückt nicht einmal die „Idee“ des Menschen aus, weil er „von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel“ versteht und „sehr oberflächlich“ generalisiert, wenn er ihm diesen oder jenen Charakter zuschreibt: „dieser sehr unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun“ er (vgl. MA, KSA 2.149 f.). Das ist ausschlaggebend für Nietzsches Auffassung vom künstlerischen Prozess, denn es handelt sich um einen von der Einbildungskraft gesteuerten Prozess der Neu- oder Umgestaltung durch Übung und Erfahrung — und trotzdem nicht um einen irrationalen oder vernunftwidrigen Prozess: „In Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine Urtheilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen.“ (MA, KSA 2.146) Wie lässt sich die Kunst jetzt verstehen? Welche Rolle entspricht ihr? Lässt sich ihr nach wie vor eine Aufgabe beimessen, nachdem Nietzsche die metaphysische Intuition zugunsten einer ordnenden Kraft abgelehnt hat?

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

Wenn Nietzsche auf der einen Seite für den Untergang der Kunst plädiert, beansprucht er eine Beseelung der Kunst auf der anderen. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Aufhebung oder Umdeutung der Kunst. Nietzsche will die Kunst durch das historische Philosophieren von ihrer metaphysischen Bedeutung befreien. Was von der Kunst übrig bleibt, ist die von ihr gelehrte Lebensfreude und die schöpferische Fähigkeit, durch einen komplexen Auswahl- und Kombinationsprozess Maß und Ordnung in die Dinge zu legen. Die Kunst hat also einen gemeinsamen Berührungspunkt mit der Wissenschaft: Beide bereiten den Menschen Lust. Das bringt Nietzsche besonders in VM zum Vorschein. Außerdem verdeutlicht er die moralische Haltung der älteren Meister, „welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern nothwendig mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten. —“ (VM, KSA 2.431)¹⁰⁸ In Aphorismus 119 von VM klärt Nietzsche die „Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken“ auf und stellt fest, dass der Geschmack von der Lust abhängig und die von den Kunstwerken bereitete Lust keine Entfesselung der Leidenschaft ist, sondern Vergegenwärtigung „durch eine gewisse Aehnlichkeit [der] Empfindung für alles Geordnete und Regelmässige im Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefinden zu danken hat“ (VM, KSA 2.428). Eine derart hervorgerufene Freude ist eng verbunden mit Vernunft und Erfahrung und zugleich durch beide bestimmt: Es ist „die Freude, zu verstehen, was ein Andrer meint; die Kunst ist hier eine Art Räthselaufgeben, das dem Errathenden Genuss am eigenen Schnell- und Scharfsinn verschafft.“ Zudem zeigt Nietzsche, dass es neben den verschiedenen Arten des künstlerischen Sinnes, dem Menschen Lust zu bereiten, eine feinere Art und zwar den Kult des Symmetrischen gibt, „in dem man also unbewusst die Regel und das Gleichmaass als Quelle seines bisherigen Glücks [verehrt]“ (VM, KSA 2.429). Bei einer gewissen Übersättigung dieser Freude „entsteht das noch feinere [Hervorhebung N.N.] Gefühl, dass auch im Durchbrechen des Symmetrischen und Geregelten Genuss liegen könne.“ Durch diese zweifache Art von Freude könnte man erklären, was Nietzsche zufolge der älteren Kunst und was der Seele der Gegenwart zugehörig ist. Während es damals Dichter und Künstler gab, deren Seelen über die Leidenschaften und Entzückungen hinausgingen, sind die modernen Künstler durch ihr „unablässiges Schaffenwollen und Nach-Aussen-Spähen“ nicht mehr imstande, „als Person schöner und besser zu werden, also sich selber zu schaffen“ (VM, KSA 2.421). Neue Dichter und Künstler unterscheiden sich von den älteren dahingehend, dass sie unter Umständen Befreier des Lebens sind, die anderen hingegen „Um- und Fortbildner des Lebens“ waren:

 Siehe VM, KSA 2.431: „das Maass, die Symmetrie, die Geringachtung des Holden und Wonnigen, eine unbewusste Herbe und Morgenkühle, ein Ausweichen vor der Leidenschaft, wie als ob an ihr die Kunst zu Grunde gehen werde, – diess macht die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus, welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern nothwendig mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten. —“

7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen

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Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Entfesseler des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene – Willens-Bändiger, Thier-Verwandler, MenschenSchöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens: während der Ruhm der Jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag. – (VM, KSA 2.452)

Weiterhin legt Nietzsche den Akzent nicht auf eine Entfesselung des Willens oder eine bloße Befreiung des Lebens, sondern auf die Bändigung des Willens zugunsten einer Um- und Fortbildung des Lebens. Dies ist die Aufgabe der am exemplarischen Fall Voltaire ausgelegten Aufklärung, dem modernen Geist die Zügel des künstlerischen Maßes — nicht der Logik — anzulegen. Auf diese Weise kann man Größe anstreben, nämlich „eine gleichmässige Ausbildung“ der Kräfte: „Sicherlich ist dem Menschen selber eine gleichmässige Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und glückbringender“, als „wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monströses Organ macht“ (MA, KSA 2.214). Gleich seiner in GT offenkundigen Absicht, eine Kunst für Künstler, nicht aber für Zuschauer oder Spezialisten zu bilden, bietet Nietzsche im unmetaphysischen Kontext von VM mutatis mutandis wieder eine Kunst gegen die Kunst der Kunstwerke auf. Damit wird die Aufgabe der Kunst festgesetzt. Die Kunst soll vor Allem und zuerst das Leben verschönern, also uns selber den Andern erträglich, womöglich angenehm machen: mit dieser Aufgabe vor Augen, mässigt sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche verbergen oder umdeuten, jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Aengste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das Bedeutende durchschimmern lassen. Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, die der Kunstwerke, nur ein Anhängsel: ein Mensch, der einen Ueberschuss von solchen verschönernden, verbergenden und umdeutenden Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt noch in Kunstwerken dieses Ueberschusses zu entladen suchen; ebenso, unter besondern Umständen, ein ganzes Volk. (VM, KSA 2.453 f.)

Verschönern, Verbergen, Umdeuten, in einem Wort: Verklären — sich auf die in diesem Aphorismus über die Kunst und ihre Aufgabe angestellten, verdichteten Überlegungen stützend, geht Nietzsche über das in MA vorgeschlagenen Modell des Doppelgehirns bzw. eines Zweikammersystems hinaus: „Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden.“ (MA, KSA 2.209) Der wesentliche Unterschied zwischen MA und VM liegt in der jeweils unterschiedlich gewichteten Hervorhebung von Wissenschaft und Kunst. Wenn Nietzsche in MA „die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen“ bezeichnet, welche „den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördert“ (MA, KSA

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

2.61) ohne Absicht auf letzte Zwecke,¹⁰⁹ ist die Kunst in VM dagegen imstande, „die Natur in ihrem organischen Bilden und Wachsenlassen nachzuahmen“ (VM, KSA 2.439). Ab VM sieht Nietzsche die Kunst nicht mehr als ordnende, das Leben rechtfertigende Tätigkeit an. Sie gilt als Interpretationsparadigma des Denkens. Durch ihre eigentümliche interpretatorische¹¹⁰ bzw. verklärende Wirkung ist die Kunst eine sinnstiftende Kraft, die es dem Menschen ermöglicht, dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Dies lässt sich aus den folgenden Aphorismen ablesen. In Aphorismus 33 von MA behauptet Nietzsche, dass die Menschen an den Wert des Daseins aus unreinem Denken glauben, weil sie die anderen Menschen übersehen und sich allein wichtiger als die Welt nehmen. Das Leben ist somit durch und durch sinnlos, und die Menschheit im Ganzen hat keine Ziele. Folglich kann der Einzelne im Verhältnis zum Ganzen keinen Trost und Halt finden, sondern nur Verzweiflung. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt […]: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. – Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten. (MA, KSA 2.53)

Verzweiflung und unreines Denken hängen nach Nietzsche vom Mangel an Phantasie ab. Die Phantasie — als das Kennzeichnen des Dichters — ist die einzige Fähigkeit, die zur Überwindung der Verzweiflung verhelfen kann. Nur die Einbildungskraft versetzt

 „Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das Zweckmässige erreichen, – aber ebenfalls ohne es gewollt zu haben.“ (MA, KSA 2.61)  Siehe dazu MA, KSA 2.183. Nietzsche stellt hier die Kunst dar, die ihr Werden und sich selbst interpretiert: „Ja, man hat die „unvernünftigen“ Fesseln der französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu finden; – und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei – was freilich höchst belehrend ist – alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden.“

7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen

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den Dichter bzw. den Menschen in die Lage, sich zu trösten.Wenn man diese Aussagen in Verbindung mit den oben erörterten, verklärenden Aufgaben der Kunst sieht, erweist sich der Dichter aufgrund seiner Kunstfertigkeit, ein ideales Bild der Menschheit zu malen, nach den in Aphorismus 99 von VM angestellten Überlegungen „als Wegweiser für die Zukunft“: Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maass in den Personen und deren Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fusse Ruhe und Lust giebt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaassung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend: – diess Alles wäre das Umschliessende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche Gemälde – das der immer wachsenden menschlichen Hoheit – machen würden. (VM, KSA 2.420)

Der Dichter der Zukunft soll seine überbordende dichterische Kraft und seinen Geschmack in der Auswahl und im Hervorheben des Großen und Bedeutsamen nutzen, um das Leben und die Zukunft neu zu werten und umzugestalten. Er soll an dem schönen Menschenbild fortdichten, das die Wesenszüge der großen Seelen seiner Zeit derart nachahmt, dass es „durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft.“ (VM, KSA 2.419) In GT erwies sich die Kunst noch „als rettende, heilkundige Zauberin“, die allein „jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen [vermag], mit denen sich leben lässt.“ (GT, KSA 1.57) Zweifelsohne bleiben in MA der Doppelcharakter der Kunst sowie ihre Tragik beibehalten. Sie stellt einerseits die gelungensten Exemplare der Menschen,¹¹¹ nicht aber den Gegensatz des menschlichen Wesens dar. Andererseits breitet sie über das Dasein den Schleier des unreinen Denkens aus.¹¹² Auch wenn die künstlerische Vorstellung in der Tat eine Verstellung ist, können wir nicht auf sie als Heil- und Trostmittel der höchsten Art verzichten. Trotzdem ist die Kunst nicht mehr nur eine beschauliche Tätigkeit. Ihre Aufgabe besteht nicht mehr in einem Verbergen und Verschönern der Hässlichkeit des Daseins, sie ist nicht mehr allein in der Sehkraft, sondern im Geschmack verankert. Sie ist also eine interpretatorische Kraft, die sich bei ihrer Auswahl des Geschmackssinns bedient. Der Geschmack ist nach Nietzsche „der wahre Mittler-Sinn“, der „die anderen Sinne oft zu seinen Ansichten der Dinge überredet und ihnen seine Gesetze und Gewohnheiten eingegeben hat.“ (WS, KSA 2.597) Er ist deshalb nicht nur eine Eigenschaft der Kunst, sondern der Philosophie überhaupt: Selig sind Die, welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist! – Und nicht nur selig, auch weise kann man nur vermöge dieser Eigenschaft werden: wesshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Mann

 Siehe dazu MA 114, KSA 2.117 f.  Siehe dazu MA 279, KSA 2.229.

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

des Geschmacks bedeutet, und Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu „Geschmack“ (Sophia) benannten. (VM, KSA 2.449)

Die Erhebung des Geschmacks zum Wesenszug der Kunst und Philosophie schlechthin ist eine weitere Differenz von VM zu MA. Der Geschmack ist nicht nur eine gustatorische Wahrnehmung oder ein Sinneseindruck. Er ist eine geistige Fähigkeit, ein subjektives Werturteil und hat dementsprechend die Doppelbedeutung von Sinnesorgan einerseits und abstraktem, subjektivem Sinn andererseits. Er ist ein künstlerischer und erkennender Sinn. Vor diesem Hintergrund „wird der gute Dichter der Zukunft nur Wirkliches darstellen und von allen phantastischen, abergläubischen, halbredlichen, abgeklungenen Gegenständen, an denen frühere Dichter ihre Kraft zeigten, völlig absehen. Nur Wirklichkeit, aber lange nicht jede Wirklichkeit! – sondern eine gewählte Wirklichkeit!“ (VM, KSA 2.426) Die geistige Leistung des Geschmacks besteht also nicht nur darin, es dem Dichter zu ermöglichen, bewusst zu unterscheiden und zu wählen, sondern auch darin, die Wirklichkeit darzustellen und zu verklären. Der Erkenntnisprozess kommt zustande, indem zunächst etwas probiert wird. Wenn es schmeckt, wird es langsam gekaut, bis es verdaut bzw. assimiliert ist. Solange etwas gekaut wird, soll man „beachte[n], was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt.“ (WS, KSA 2.597) Weiter achtet man auf die Befriedigung, die es verschafft, und die jeweilige Wirkung: ob es unsere Macht steigert oder herabsetzt. Das ist der Prozess der Aneignung. Er muss geübt werden, bis allmählich der eigene Geschmack in den einheitlichen, den großen Stil übergeht. Durch den Geschmack treten wir in unmittelbaren, in leiblichen Kontakt mit dem Erkenntnisobjekt. Es steht nicht mehr vor, sondern ist in uns: Wir kosten es und unterscheiden allmählich die Feinheiten. Ein raffinierter Geschmack braucht aber Zeit, d. h. Übung und Erfahrung, wie Nietzsche durch das Wort „Wiederkäuen“ zum Ausdruck bringt. Ein solcher Erkenntnisprozess gibt den Erkennenden ferner einer Gefahr preis: Er kann sich vergiften und zugrunde gehen. Die nach dem Geschmack gerichtete Erkenntnis kann nie rein objektiv sein, weil sie auf einem subjektiven Erkenntnisprozess beruht, der uns überdies jedes Mal verändert, weil wir uns durch ihn nach unserem jeweiligen Geschmack neue Erkenntnisse und Gedanken einverleiben. Daher ändern sich auch die Perspektiven, aus denen wir jeweils ein Objekt betrachten, und somit das Objekt selbst. Ein einziger Gedanke könnte unser ganzes Leben ändern, wie etwa der Gedanke der ewigen Wiederkunft Nietzsches Leben einschneidend umwandelte. Gedanken können sich in uns verwurzeln und zu unserer Aufgabe werden, so dass wir dieser Aufgabe leben‘, auch wenn wir dem Risiko ausgesetzt sein mögen, an ihr zugrunde zu gehen — diese Erkenntnis von Nietzsches Philosophie ist besonders bemerkenswert. Der Erkenntnisprozess ist also nicht allgemeingültig, weil er auf einem subjektiven Werturteil gründet: nicht vom Standpunkt des Erkennenden, weil er eine Auswahl nach seinem Geschmack trifft, und nicht vom Standpunkt des Erkannten, weil es nur insofern erkannt wird, als dass es einverleibt wird.

7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen

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Am Leitfaden des Geschmacks interpretiert, bekommt die Philosophie eine neue Bedeutung. Sie ist keine kontemplative Tätigkeit mehr, und das Wissen ist nicht mehr das alleinige „Schauen“ der vor dem Subjekt vorhandenen Ideen. Es handelt sich nicht mehr um die Einsicht der ewigen, unveränderlichen Wahrheiten oder Ideen, nicht einmal einer Erkenntnis, deren Allgemeingültigkeit auf den Formen a priori unserer Vernunft beruht. Erkenntnis beruht auf Geschmack, und der Erkenntnisprozess ist ein Experimental- und Einverleibungsprozess. Indem Nietzsche den Geschmack preist und ihn als Ausgangspunkt und Basis des Erkenntnisprozesses nimmt, legt er den Grund für eine experimentelle Erkenntnis am Leitfaden des Leibes. Nietzsche beansprucht insofern eine „Reduktion der Moral auf Aesthetik!!! Dies ist die Aufgabe – eine Fülle aesthetischer gleichberechtigter Werthschätzungen zu creiren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge.“ (NL 11[79], KSA 9.471)¹¹³ Da der Geschmack individuell und sinnlich ist, erweist sich der Erkenntnisprozess also als selbstbezügliche, auf die individuellen Bedürfnisse, Neigungen, Gefühle und selbstgestellten Ziele bezogene Interpretation. Aus diesem Grund nimmt Nietzsche in WS seine neue epistemologische und existentielle Einstellung zum Leben ein: „Gute Nachbarn der nächsten Dinge wieder zu sein.“ (WS, KSA 2.551) Wir müssen lernen, „die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich selbst“ zu schätzen. Dieser Aussage lässt sich eine bemerkenswerte Relevanz in Nietzsches Denken einräumen, wenn man sie im Lichte einer in Aphorismus 622 von MA geschriebenen Präzisierung liest: „Dinge (Erlebnisse).“ (MA, KSA 2.351) Deswegen ist für Nietzsche das „Lernens- und Erkennenswertheste […]: sich selber“ zu verstehen (WS, KSA 2.667), also sich selbst als Erfahrungsquelle: „Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung!“ (MA, KSA 2.235) In MA bekommt unser „eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss.“ (MA, KSA 2.236). In VM aber besteht der Wert des Lebens allein in der Kunst: Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe ausströmt, als Ueberschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung – das ist das Rechte, nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind. (VM, KSA 2.453)

Indem ein Denker seine inneren Kräfte und Gedanken in Einklang bringt, schafft er es, ein Leben nach den „guten Drei“ — gemäß dem Titel des Aphorismus 332 von WS — zu führen:

 Die erkenntnistheoretische wie moralische Tragfähigkeit des Geschmacks ist von Gadamer vor allem mit Bezug auf Kant aufschlussreich erläutert worden. Für ihn „ist das Phänomen des Geschmacks als ein geistiges Unterscheidungsvermögen zu bestimmen“ (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 7. Aufl., Tübingen 2010, S. 43). Während Nietzsche aber auf die Reduktion der Moral und die Ästhetik zielt und damit den Geschmack als rein individuelle, die Menschen voneinander unterscheidende Fähigkeit interpretiert, verfolgt Gadamer gerade eine normative und moralische Deutung des Geschmacks.

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

Ruhe, Grösse, Sonnenlicht, – diese drei umfassen Alles, was ein Denker wünscht und auch von sich fordert: seine Hoffnungen und Pflichten, seine Ansprüche im Intellectuellen und Moralischen, sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal erhebende Gedanken, sodann beruhigende, drittens aufhellende, – viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Antheil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die grosse Dreifaltigkeit der Freude herrscht (WS, KSA 2.697).

Ruhe, Größe und Sonnenlicht werden von Nietzsche als Eigenschaften angesehen, denen erhebende, beruhigende und aufhellende — nie reine — Gedanken entsprechen. Diese Eigenschaften und die ihnen entsprechenden Gedanken symbolisieren mithin die Merkmale der großen Geister. Sie drücken den idealen Lebenshorizont aus, den jeder Denker anstrebt und vor dem er seine weise und harmonische Lebensführung realisieren kann. Aus der Verwirklichung einer solchen Lebensführung gewinnt ein Denker eine Überfülle an Energie und schöpferischen Kräften, durch die er zu den Gedanken kommt, die das Leben verklären. Dass Nietzsche dabei von Gedanken spricht, ist nicht abwegig und sollte nicht verwundern. Sie sind ihm zufolge künstlerischer Herkunft: „unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste.“ (VM, KSA 2.452) Die Kunst ist also eine geistige, eine existentielle Tätigkeit. Das Medium, an dem alle drei Eigenschaften Anteil haben, ist die eigentliche Verklärung, denen Gedanken entsprechen, die dazu beitragen, dass „alles Irdische“, d. h. die nächsten Dinge sowie jedes menschliche Erlebnis, zur „Verklärung kommt“. Der Denker kann nur mittels eines vernünftig-ästhetischen Verhaltens seine echten Bedürfnisse erkennen und mäßigen. Durch den Erfolg dieser Mäßigung spürt er seine eigene Macht und spricht infolgedessen seinem Leben einen Sinn zu. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Verklärung wieder eine neue positive Bedeutung im Gegensatz zur „himmlischen Verklärung“ aus dem oben angeführten Aphorismus 220 (MA, KSA 2.180) und zur „künstlerisch verklärenden Stimmung“ aus dem ebenfalls oben angeführten Aphorismus 272 „Jahresringe der individuellen Cultur“ (MA, KSA 2.225). Die Kunst ist nicht mehr reine Betrachtung des Ur-Einen und der selbsterzeugten, lebensdienlichen Lüge und daher auch keine metaphysische Tätigkeit des Lebens. Wie wir gesehen haben, ist sie Nachahmung der Natur „in ihrem organischen Bilden und Wachsenlassen“ (VM, KSA 2.439). Sie muss nicht die Wahrheit verbergen, sondern als schöpferische Kraft eine lebensdienliche Wahrheit erfinden: Damit geht die oben erwähnte unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen in die schöpferische Grundstellung über. Da die Kunst Nachahmung des organischen Prozesses der Natur und nicht dieser Prozess selbst ist, ist sie nicht mehr als metaphysische Tätigkeit, sondern als eine existentielle Interpretation unter bestimmten Lebensumständen zu verstehen. Was sie auszeichnet, ist ihre Selbstbezüglichkeit. Was nämlich verklärt wird, ist nicht das Leben aufs Ganze gesehen, sondern das eigene Leben. Darum ist nach Nietzsche die Aufgabe, ein universelles und allgemeingültiges Bild des Lebens zu malen, nicht mehr möglich und sogar „unsinnig“:

7.4 Kunst als Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen

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Die Aufgabe, das Bild des Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und Philosophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig: auch unter den Händen der grössten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen aus einem Leben, nämlich aus ihrem Leben, entstanden – und nichts Anderes ist auch nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein „Das“ spiegeln. (VM, KSA 2.387).

Der unmetaphysische Ursprung der Verklärung erhellt, dass ein Denker in dem von ihm gemalten Bild des Lebens nicht das Sein, das Wesen aller Dinge, sondern immer nur ein aus seinen Erlebnissen geschaffenes Lebensbild zum Ausdruck bringt; dass ein Denker nach einer weisen und harmonischen Lebensführung strebt; dass alles Irdische durch eine geistige und künstlerische Herausforderung des Denkers an sich selbst zur Verklärung kommt; dass nur aus menschlichen Eigenschaften und dem menschlichen Geist sich die Dreifaltigkeit der Freude vollzieht. Eine derartige Trinität ist nicht die Offenbarung der metaphysischen Wahrheit, sondern der Freude des Denkers, nämlich als Gefühl seiner schöpferischen, sinnerfindenden Macht: Dies alles stellt eine wichtige Etappe in Nietzsches Denken und Leben dar. Er wendet sich daher von Schopenhauer und von Wagner ab.¹¹⁴ Durch die Begrifflichkeit der Dreifaltigkeit parodiert Nietzsche das Christentum und macht damit einen zweiten wichtigen Schritt zur Umwertung der Werte.

 Durch das historische Philosophieren wird die schopenhauersche Auffassung der Musik hinterfragt. Sie „ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt“ (VM, KSA 2.450). Die Befreiung der Aufklärung vom Geist der Revolution wirkt sich auch auf die Kunst bzw. die Musik aus, die Nietzsche vom Geist der Revolution entfesseln will, um ihr eine positive Bedeutung zuzusprechen. Zielscheibe von Nietzsches Kritik ist vor allem Wagners Musik. Der Geist seiner Musik „führt den allerletzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung“ (VM, KSA 2.451). Wagner huldigte dem Christentum, indem er den altheimischen Helden und Göttern „den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab.“ Nietzsche stellt also der alten Musik die wagnerische gegenüber. Während man in der bisherigen Musik tanzen musste, „wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang“ (VM, KSA 2.434), beabsichtigt Wagner mit seiner „unendlichen Melodie“ „eine andere Art Bewegung der Seele, welche […] dem Schwimmen und Schweben verwandt ist.“ Auch wenn die unendliche Melodie das Wesentliche aller seiner Neuerungen ist, hat in der Nachahmung solcher Kunst „die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert.“ (VM, KSA 2.435) Eine solche Musik führt nach Nietzsche zur Barbarei: „Sehr gross wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maass hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem allzu weiblichen Wesen der Musik, auch kein Maass mitzutheilen vermag.“ Nietzsche bezweckt eine Beseelung der Kunst — einer Kunst, die die Beherrschung aller Triebe und eine gleichmäßige Ausbildung aller Kräfte ermöglicht.

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

7.5 Die Aufgabe einer höheren Kultur Wie bisher erörtert, hat Nietzsche durch das historische Philosophieren das Werden des Lebens und den sinnlichen Ursprung der Begriffe und Empfindungen zum Vorschein gebracht. Außerdem hat er kenntlich gemacht, dass das Leben wertlos und die Menschheit im Ganzen ziellos ist. Daher ist die in der dritten UB Schopenhauer zugeschriebene Aufgabe, das Bild des Lebens zu malen, unsinnig geworden. Trotzdem ließe sich eine Philosophie der logischen Weltverneinung mit einer praktischen Weltbejahung vereinen. In Aphorismus 25 aus MA betont Nietzsche die neue Notwendigkeit: „Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite […], müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen.“ (MA, KSA 2.46) Er fügt entschlossen hinzu: Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.

Tatsächlich ist die Aufgabe der Kenntnis der Bedingungen der Kultur¹¹⁵ nicht nur den großen Geistern des nächsten Jahrhunderts übertragen. Schon ab MA versucht sich Nietzsche selbst an dieser ungeheuren Aufgabe. Die Kenntnis der Bedingungen der Kultur ist die Aufgabe, die er der Philosophie, der Kunst und dem freien Geist zuspricht. Zunächst bringt Nietzsche durch die Anwendung des historischen Philosophierens den sinnlichen Ursprung jeder Kultur ans Licht. In Aphorismus 245 schreibt er: „Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegränzte Ausdehnung aller einzelnen Ich’s, aller einzelnen Völker, waren dieser Mantel.“ (MA, KSA 2.204 f.) Die Kultur besteht in der „Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen“. Demzufolge ist zur Schöpfung einer neuen Kultur die Aufgabe der freien Geister ausschlaggebend, d. h. die Arbeit an der Umschaffung der Überzeugungen, also an der Kultur. Die vielen verschiedenen, der Schöpfung einer neuen Kultur zugrunde liegenden Kräfte, Bedürfnisse, Wünsche und Gedanken können nur durch den raffinierten und erfahrenen Geschmack des Genius beherrscht und geformt werden. Daher ist der „Geschmack“, die sophia bzw. die Weisheit unausweichlich — eine künstlerische wie auch eine erkennende. Nur durch sie können große Geiste die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten und Kulturen vergleichen, sie durchleben, die meisten absterben lassen und dann eine Entscheidung treffen. Zeitalter der Vergleichung. — Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die

 Vgl. Ulmer, Nietzsche, S. 12: „Was Nietzsches ganzes Denken bestimmt und hervortreibt, kann in einer Formel als der Wille zum großen Menschentum und zur höheren Kultur bezeichnet werden.“

7.5 Die Aufgabe einer höheren Kultur

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äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, – nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, – absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen VolksCulturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt. (MA, KSA 2.44 f.)

Der durch das ästhetische Gefühl bedingte Vergleich der Kulturen und die daraus folgende Auswahl machen also ihrerseits eine der Bedingungen der Kultur aus. Der Kultur kommt somit eine zentrale Rolle zu, weil sie allen Kräften, die die Menschheit zu ihrem Fortbestehen nötig hat, in eine systematische, harmonische Form bringen kann, indem jede einseitige Bevorzugung, sei es von Seiten der Wissenschaft, des Staates, der Kunst oder des Genius, verhindert wird. Aus diesem Grund erklärt Nietzsche für notwendig, dem Kult der Leidenschaften (vgl. WS 37) sowie „dem Cultus des Genius’ und der Gewalt, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite [zu] stellen: welcher auch dem [abschreckenden Allzumenschlichen] eine verständnissvolle Würdigung und das Zugeständniss, dass diess Alles nöthig sei, zu schenken weiss“ (VM, KSA 2.461). Aufs Ganze gesehen, beabsichtigt Nietzsche eine höhere Kultur, die sich als schöpferisches Feld und geistiger Bereich erweist, in dem das Genie durch Kunst und Wissenschaft einen auszeichnenden Anspruch auf eine gleichmäßige Ausbildung der Kräfte vollziehen kann. Aufgrund der oben gestellten Überlegungen lässt sich dieser Anspruch freilich nur durch eine umdeutende, interpretatorische Kunst verwirklichen, die zu den Bedingungen der Kultur gehört. Durch die Verklärung vermögen die großen Geister, der Menschheit ökumenische Ziele zu setzen, weil nur so die Natur nach den menschlichen Bedürfnissen und unter bestimmten Lebensbedingungen gedeutet werden kann. Die Kultur ergibt sich als verklärte Physis, als ein den echten Bedürfnissen des Menschen gemäß vergeistigtes Universum: Sie lässt sich als Mikro- und Makrokosmos gleichsam verstehen. Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur. – Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so

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7 Die Bedingungen einer höheren Kultur in Menschliches, Allzumenschliches

grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender Kraft, um nöthigenfalls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen. (MA, KSA 2.227 f.)

Die gleichmäßige Ausbildung der Kräfte des Menschen und der Kultur verweist auf das Prinzip des Gleichgewichts, das Nietzsche in Aphorismus 22 von WS als Gleichgewicht der sich innerhalb einer Gemeinde abspielenden Machtverhältnisse bezeichnet: „Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit.“ (WS, KSA 2.556) Nietzsches Herausforderung besteht mithin in der Arbeit an der Kultur, dem Kultur-Genius und allen anderen Menschen. Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen stellt er im anthropologischen Kontext¹¹⁶ von MA als Verhältnis des Einzelnen zur Kultur dar. Jedes Individuum findet in der Kultur seine Bestimmung: Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. (MA, KSA 2.236)

Die grundlegende Bedeutung von Nietzsches Einstellung zur Kultur lässt sich durch den bündigen Überblick zusammenfassen, den Karl Löwith in seinem berühmten Werk Von Hegel zu Nietzsche als Fazit des Kapitels über „das Problem der Bildung“ gegeben hat: „Zwischen dieser gegenwärtigen“ durch das historische Wissen absterbenden „und jener ehemaligen“ das Ideale anstrebenden Bildung „suchte Nietzsche nach einem Weg, zurück zu den wahren Bedürfnissen einer ursprünglichen Bildung, d. h. einer solchen, die den Menschen im Ganzen seiner leibhaftigen Menschlichkeit formt oder bildet. Seine Kritik der bestehenden Bildung ist so zuerst und zuletzt eine Kritik der bestehenden Humanität.“¹¹⁷

 1876 schreibt Nietzsche in einem Brief an Cosima Wagner: „[W]erden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in’s Bewusstsein getretene Differenz mit Schopenhauer’s Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen.“ (Nr. 581, KSB 5.210)  Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 329.

7.5 Die Aufgabe einer höheren Kultur

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Die von Nietzsche ab MA unternommene Arbeit an der Umschaffung und Umdeutung der Kultur stellt nur den ersten Schritt einer radikalen Kritik des Daseins dar und präfiguriert die Umwertung aller Werte.

8 Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen 8.1 Die Leidenschaft der Erkenntnis und das experimentelle Leben Am 31. Oktober 1880, bevor M veröffentlicht wird, schreibt Nietzsche an Franz Overbeck: „was liegt an mir!“ (Dies ist die Art, mir Muth zu machen.) Ich weiß nämlich sehr oft nicht, wie ich meine Schwäche (an Geist und Gesundheit und anderen Dingen) und Stärke (im Schauen von Aussichten und Aufgaben) miteinander ertragen könne. Meine Einsamkeit, nicht nur in Stresa, sondern in Gedanken ist außerordentlich. (Nr. 58, KSB 6.43)

Im Sommer 1881, nach der Publikation von M, schreibt er in einem Brief an seine Schwester: Ich werde Dich schwerlich abhalten können, meine „Morgenröthe“ zu lesen; so dachte ich über ein Mittel nach, auch dies für Dich und mich zum Besten zu werden. Lies das Buch also, wenn ich bitten darf, unter einem Gesichtspunkt, den ich allen andern Lesern gerade widerrathen würde, aus einem ganz persönlichen Sehwinkel (Schwestern haben zuletzt auch Privilegien) Suche alles heraus, was Dir verräth, was im Grunde Dein Bruder am meisten braucht, am meisten nöthig hat, was er will und was er nicht will. Lies dazu namentlich das fünfte Buch, wo vieles zwischen den Zeilen steht. Wohin alles bei mir noch strebt, ist nicht mit einem Worte zu sagen — und hätte ich das Wort, ich würde es nicht sagen. Es kommt auf günstige aber ganz unberechenbare Umstände an. (Nr. 131, KSB 6.107 f.)

Nietzsche ist getrieben von einer existentiellen Nötigung zum Denken. In den Vordergrund tritt dementsprechend der philosophische Ausdruck eines existentiellen Hintergrunds. Wie bereits erklärt, versucht er in jedem neuen Buch, seine Ansprüche und Ziele in eine einheitliche geistige Form zu bringen. So stellt er im fünften Buch von M die Frage: „Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen? Thut sie mehr, als einen stäten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu übersetzen […]? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist?“ (M, KSA 3.323) Um Nietzsches Aufgabe, auf die bei ihm alles hinausläuft, kennenzulernen, kann man von Aphorismus 54 ausgehen. Hier beschreibt er seine Aufgabe in knapper, orakelhafter Form: Die Gedanken über die Krankheit! – Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist Etwas! Und es ist nicht Wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe? (M, KSA 3.57)

https://doi.org/10.1515/9783110701890-012

8.1 Die Leidenschaft der Erkenntnis und das experimentelle Leben

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Nietzsche scheint eine Diät zu benötigen, eine bestimmte Philosophie, um wieder gesund zu werden. Paradoxerweise liegt der heilende Wirkstoff nach Nietzsche gerade im Zustand des kranken Menschen, dessen Verstand trotz furchtbarster Schmerzen ungetrübt bleibt. Es geht dabei um den Wert der Erkenntnis des Leidenden. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgend einer gefährlichen Phantasterei lebte: diese höchste Ernüchterung durch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureissen: und vielleicht das einzige Mittel. (M, KSA 3.105)

Das Leiden erweist sich als Erkenntnismittel, durch das der Leidende eine nüchterne Einsicht in die Dinge und sich selbst erhält. Was aber hat den Menschen krank gemacht? „Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so verstört!“ (M, KSA 3.328) „[D]urch Irrthümer über ihre Herkunft, ihre Einzigkeit, ihre Bestimmung, und durch Anforderungen, die auf Grund dieser Irrthümer gestellt wurden, [hat] sich die Menschheit hoch gehoben und sich immer wieder „selber übertroffen““ (M, KSA 3.261). Dieselben Irrtümer haben aber die Menschen verdorben: „Die Menschen sind leidende Geschöpfe geworden, in Folge ihrer Moralen“. Aus diesem Grund konzentriert sich Nietzsche in M, nach der bisher vor allem gegen die „historische Krankheit“ geführten Kritik, hauptsächlich auf die Kritik der Moral und des Christentums. Zu diesem Zweck radikalisiert er die in MA dem freien Geist zugeteilte Aufgabe, „die allgemeinste Erkenntnis und die Abschätzung des gesammten Daseins“ (MA, KSA 2.284) anzustreben, und bezweckt, „die Erkenntniss zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird.“ (M, KSA 3.137) In Nietzsches Denken und Leben wird zusehends die Idee wichtiger, dass „eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle“ (M, KSA 3.138). Der Abbau der herrschenden Moral erfordert Selbstaufopferung und setzt voraus, kein Mitleid gegen die Nächsten in Hinblick auf eine Steigerung der eigenen Macht zu haben. „Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir und die Nächsten einbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten.“ Die Machtsteigerung der Menschheit wäre nach Nietzsche eine Möglichkeit, das Glück zu vermehren. Sie könnte das Opfer von einigen „Individuen der gegenwärtigen Geschlechter“ zum Wohl der kommenden Geschlechter rechtfertigen. „Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen.“ Die Aufgabe als Herausforderung an sich selbst weist sich hier durch die Radikalität aus, dass sie auf Selbstaufopferung und Hingabe an eine ökumenische Aufgabe gerichtet ist, dass sie also zwingt, eigene Bedürfnisse und Interessen bis hin zur Opferung des eigenen Lebens zurückzustellen.

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8 Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen

Diese Radikalität und die existentielle Tragfähigkeit des Erkenntnistriebs fallen auf. In Nietzsche ist der „Trieb zur Erkenntnis“ so stark, dass er sich zu einer Leidenschaft wandelt. Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; – ja, vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen (M, KSA 3.264).

Es ist gerade diese neue Leidenschaft der Erkenntnis,¹¹⁸ die das Leben eines Philosophen kostbar und sinnvoll macht. An der Leidenschaft der Erkenntnis selbst zeigt sich der Doppelcharakter der Erkenntnis und des Lebens. Wenn Nietzsche einerseits glaubt, „dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müsste als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat“ (M, KSA 3.264 f.), muss man andererseits auch wissen, „dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht!“ Dies soll einen Denker jedoch nicht davon abbringen, sondern ihn anspornen, auf dem Weg der Wissenschaft fortzufahren. Dieses stetige Erkennen und Erraten — ohne Rücksicht auf sich selbst — gilt für Nietzsche sogar als Kennzeichen des modernen Denkers im Vergleich zum alten. Damals dachte man, die Welt sei auf den Menschen hin ausgerichtet und ihre Erkenntnis ein vom Menschen mit einem Schlag zu lösendes Rätsel: „Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lösen, – das war der geheime Wunsch: unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Columbus dachte man sich die Aufgabe“ (M, KSA 3.317). Die Lösung des Rätsels schien dem Philosophen als Lebensziel, und er fand nichts wünschenswerter, als „Alles für ihn zu Ende zu bringen!“ (M, KSA 3.318) Nietzsche kritisiert eine solche Art, Wissenschaft zu treiben, und behauptet, „dass sie mit einer höheren und grossmüthigeren Grundempfindung fürder-

 Die Leidenschaft der Erkenntnis bildet das Thema der monumentalen Monographie von Marco Brusotti, „Die Leidenschaft der Erkenntnis“. Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“, Berlin 1997. In seiner sorgfältigen wie quellenreichen Studie präsentiert Brusotti die Leidenschaft der Erkenntnis als Leitmotiv von Nietzsches „Freigeisterei“. Er zeigt die Denkentwicklung dieses Begriffs von M bis Z und die unterschiedlichen ethischen Entwürfe, die um ihn kreisen, auf. In der Leidenschaft der Erkenntnis geht die philosophische Erkenntnis mit der Lebensgestaltung einher. Damit zeigt Brusotti das enge Verhältnis dieser Leidenschaft zur Ästhetik auf: „Der leidenschaftliche Denker soll auch Künstler sein, Gestalter des eigenen Lebens.“ (S. VII) Philosophie erweist sich als „Diätetik“, als kunstvolle Lebensgestaltung des Alltags im Dienst des Denkens, die ihre Vollendung in EH findet. Die in den Jahren von M bis Z von Nietzsche entwickelten philosophischen Lebensformen sollen nach Brusotti „auf je eigene Weise der Tragödie nihilistischer Erkenntnis entkommen.“ Brusottis Abhandlung stellt uns zuletzt mit Nachdruck die von Nietzsche sich selbst immer wieder gestellte Frage, „inwieweit Selbsterkenntnis für die Selbstgestaltung nötig oder im Gegenteil entbehrlich ist.“ (S. 17)

8.1 Die Leidenschaft der Erkenntnis und das experimentelle Leben

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hin getrieben werden muss. „Was liegt an mir!“ – steht über der Thür des künftigen Denkers.“ Man darf aber nicht verkennen, dass Nietzsche nicht die Ansicht vertritt, die Erkenntnis um der Erkenntnis willen voran zu treiben. Wofür muss man sich also letztlich opfern? Das notwendige Opfer ist Nietzsche zufolge folgendes: Diese ernsten, tüchtigen, rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf längere Zeit versuchsweise ohne Christenthum zu leben, sie sind es ihrem Glauben schuldig, einmal auf diese Art einen Aufenthalt „in der Wüste“ zu nehmen, – nur damit sie sich das Recht erwerben, in der Frage, ob das Christenthum nöthig sei, mitzureden. (M, KSA 3.61)

Die Selbstaufopferung lässt sich hier so verstehen, dass man unzeitgemäß denkt und handelt, gegen die eigene und zugunsten einer kommenden, besseren Zeit. Nietzsche nimmt mittels der Metapher der Wüste einen seiner späten Hauptbegriffe vorweg: den des Nihilismus. Die Überwindung der Moral zwingt den Denker, den Nihilismus zu erleben. Er muss jahrelang ohne Christentum leben, „mit einer ehrlichen Inbrunst darnach, es im Gegentheile des Christenthums auszuhalten“, bis er sich weit von ihm entfernt hat. Nur dadurch, dass man etwas und ebenso sein Gegenteil erlebt hat, kann man das Recht erwerben, ein „Urtheil auf Grund einer strengen Vergleichung“ (M, KSA 3.62) abzugeben. Und das gilt hauptsächlich für alle Wertschätzungen der Vergangenheit: „Die zukünftigen Menschen werden es einmal so mit allen Werthschätzungen der Vergangenheit machen; man muss sie freiwillig noch einmal durchleben, und ebenso ihr Gegentheil, – um schliesslich das Recht zu haben, sie durch das Sieb fallen zu lassen.“ Ohne seinen sonst so polemischen Ton gegen das Christentum, gelassen und entschieden zugleich, wie man sich bei einer Morgenröte gestimmt fühlt, rechnet Nietzsche in M mit dem Christentum ab. Er hebt hervor, dass das Christentum eine sehr geistreiche Religion geworden ist, indem es sich mit der Macht verbunden hat. Es hat durch das Gefühl der Macht und der Ergebung den Menschen durch und durch vergeistigt und das Tier in ihm durch eine ausgedachte Lebensweise gebändigt. Dadurch hält das Christentum „fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, ja auch im Leibe wach; man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheueren Unmöglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealität.“ (M, KSA 3.60 f.) Es ist offenkundig, dass eine derartige Einstellung zum Leben in Widerspruch zu der des Freigeistes steht. Das veranlasst Nietzsche, die „Schönheit und Feinheit“ der Kirchenfürsten „in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe“ zu preisen und trotzdem zu fragen: „— Und diess Ergebniss menschlicher Schönheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wäre, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen? Und Höheres liesse sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen?“ (M, KSA 3.61) Die „Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe“ lässt sich mit der in der zweiten UB ersehnten „Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ in Kontinuität bringen und überdies mit der in MA herbeigewünschten

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8 Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen

„gleichmässigen Ausbildung aller Kräfte“, die zu einer höheren Kultur führt.Weiter ist bemerkenswert, dass Nietzsche die ungeheure Unmöglichkeit der Aufgabe und das blinde Gehorchen¹¹⁹ als Merkmal der christlichen Aristokraten betont. Die Übereinstimmung der Kurfürsten mit den gebundenen Geistern, denen Nietzsche in MA die freien Geister entgegenstellt, ist deutlich. So ergibt sich, dass die christlich ausgebildeten Aristokraten im Gehorsam leben, d. h. in dem Aufgeben ihrer Aufgabe. Im Gegenteil fordert Nietzsche jedoch, dass der zukünftige Denker ,seiner Aufgabe lebt‘ und Herr über sich selbst wird. Unter diesen Bedingungen ist der Denker also nicht ein Forscher im üblichen Sinne, sondern eher einer, der versuchsweise lebt: Er ist ein Versucher. Er kann über „keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft“ (M, KSA 3.266) verfügen, er „muss versuchsweise mit den Dingen verfahren“ und sich neue Lebensweisen durch das Experimentieren erschließen¹²⁰: Moralisches Interregnum. — Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile ablösen wird! – so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein! (M, KSA 3.274)

Im Einklang mit der in MA gestellten ungeheuren Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts, „eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlichen Maassstab für ökumenische Ziele“ (MA, KSA 2.46) zu finden, liegt die im neuen Kontext von M gestellte Aufgabe darin, „die Gesetze des Lebens und Handelns neu auf[zu]bauen“. Nietzsche schlägt vor, ein vorläufiges, ein experimentelles Leben zu führen, das zu dieser Aufgabe befähigen soll. Das Experiment soll kein theoretisches sein, sondern praktisch vollzogen werden: es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden! (M, KSA 3.147)

 Blinder Gehorsam liegt auch der Sittlichkeit zugrunde: Siehe dazu M 9, 19, 33 und 34.  Das versucht Nietzsche auch lebenspraktisch zu vollziehen. Während er in den Briefen aus den Jahren 1878/79 Einsamkeit braucht, um zu sich selbst zu kommen und ,seiner Aufgabe zu leben‘, beginnen ab 1880 die sogenannten Wanderjahre, in denen Nietzsche durch ganz Europa reist, um viele Orte zu testen, an denen er seine Leiden ertragen kann, und damit seine Genesung mit der Förderung seiner großen Aufgaben verknüpft (vgl. Nr. 125, KSB 6.102– 104).

8.2 Erkennen, Erdichten, Erleben

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Jedes Experiment kommt auf den je individuellen Geschmack und die je individuelle Begabung an. Dem Geschmack kommt also weiterhin eine existentielle Bedeutung zu. Er befähigt den Denker, das Leben zu werten: „Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen und nöthigenfalls ihn zu decretiren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich gross“ (M, KSA 3.296). Nietzsche strebt also keine radikale Verneinung der Moral an. Er hinterfragt jedoch ihre Grundvoraussetzung, dass „die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen“ (M, KSA 3.91): — Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht – vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin —, dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen. (M, KSA 3.92)

Die Moral stützt sich nach Nietzsche nicht auf absolute Gründe. Das führt ihn zu folgendem Schluss in Aphorismus 104: „Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen.“ (M, KSA 3.92) Der hohe Anspruch eines experimentellen Denkens und Daseins ist bei allen wichtigen Angelegenheiten das Umlernen oder Umfühlen unserer anerzogenen Gewohnheiten, nämlich „gerade dann pathetisch zu fühlen und uns in’s Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte!“ (M, KSA 3.95)

8.2 Erkennen, Erdichten, Erleben In Kontinuität zu seiner in MA durchgeführten „Chemie“ und vor allem zu seiner Forderung, „wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge“ zu werden (WS, KSA 2.551), betont Nietzsche in Aphorismus 44 von M den unüberbrückbaren Unterschied zwischen bisherigen Denkern und ihm in Hinblick auf die verschiedenen Arten, das Verhältnis des Ursprungs der Dinge zu ihrer Bedeutung zu verstehen. — dass ehemals die Forscher, wenn sie auf dem Wege zum Ursprung der Dinge waren, immer Etwas von dem zu finden meinten, was von unschätzbarer Bedeutung für alles Handeln und Urtheilen sei, ja, dass man stets voraussetzte, von der Einsicht in den Ursprung der Dinge müsse des Menschen Heil abhängen: dass wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprunge nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen betheiligt sind; ja, dass alle unsere Werthschätzungen und „Interessirtheiten“, die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren, je mehr wir mit unserer Erkenntniss zurück und an die Dinge selbst heran gelangen. Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu: während das Nächste, das Um-uns und

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In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Räthsel und Reichthümer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ältere Menschheit nichts träumen liess (M, KSA 3.51 f.).

Im Gegensatz zu MA, wo Nietzsche in Einklang mit Goethe noch die „allerhöchste Kraft“ der „Vernunft und Wissenschaft des Menschen“ (MA, KSA 2.220) preist, sondiert er in M das Innere des Menschen. Was uns am nächsten liege, sei nämlich nicht nur „das Um-uns“, sondern auch „das In-uns“. Nietzsche blickt daher auf unsere Vernunft und Erfahrung sinnbildlich als auf Götter, die in uns sind (vgl. M 35), und überdies zusehends auch auf „das Gefühl der Macht“. Wie in MA, beobachtet Nietzsche an sich selbst den Vorgang seiner Gefühlsregungen und kommt zu dem Schluss, dass die sogenannten moralischen Handlungen und Urteile nie aus einem Motiv heraus vollzogen oder gefällt werden. Es handelt sich vielmehr um „ein polyphones Wesen“ (M, KSA 3.126), um einen Kampf der Triebe gegeneinander, „in welchem unser Intellekt Partei nehmen muss.“ (M, KSA 3.99) Im Einklang mit Schopenhauer, sieht Nietzsche den Intellekt als Instrument der Triebe an. Man kann zwar durch den Intellekt „eine Macht über den Trieb erlangen“ (M, KSA 3.97) und ihn zugleich schwächen, dass man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen will, steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines anderen Triebes, welcher ein Rival dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält (M, KSA 3.98).

Der in uns sich abspielende Vorgang ist also physiologischen und nicht moralischen oder vernunftgemäßen Ursprungs — ihm liegt nicht die Ordnung der Vernunft zugrunde. Dies wird eingehend in Aphorismus 119 geschildert. Nietzsche ist davon überzeugt, dass wir nicht zu einer vollständigen Erkenntnis der unserem Wesen innewohnenden Triebe und Gesetze gelangen können. Die Triebe ernähren sich von unseren Erfahrungen, „aber das ganze Kommen und Gehen dieser Ereignisse steht ausser allem vernünftigen Zusammenhang mit den Nahrungsbedürfnissen der gesammten Triebe“ (M, KSA 3.111). Während etwa der Hungertrieb nur durch Nahrung gestillt wird, sind die moralischen Triebe weniger anspruchsvoll, denn sie geben sich auch mit geträumter Nahrung zufrieden. Nietzsche geht gar davon aus, „dass unsere Träume eben den Werth und Sinn haben, bis zu einem gewissen Grade jenes zufällige Ausbleiben der „Nahrung“ während des Tages, zu compensiren.“ (M, KSA 3.112) Solche Träume sind Erdichtungen, welche unseren Trieben […] Spielraum und Entladung geben […], sind Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, sehr freie, sehr willkürliche Interpretationen von Bewegungen des Blutes und der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Decken, von den Tönen der Thurmglocken, der Wetterhähne, der Nachtschwärmer und anderer Dinge der Art. (M, KSA 3.112 f.)

8.2 Erkennen, Erdichten, Erleben

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Der Traum nimmt eine Schlüsselstellung in Nietzsches Philosophie ein. Er dient Nietzsche als Muster, um den sich im Menschen abspielenden Prozess des Denkens zu erhellen. Während er aber in Aphorismus 13 von MA von einem Prozess des Denkens spricht, der dadurch zustande kommt, dass der Verstand im Bunde mit der Phantasie die vermeintliche Ursache aus der Wirkung heraus erschließt und sie sich der Wirkung entsprechend vorstellt, ist in M die Rede von einer „dichtenden Vernunft“, die sich die verschiedenen Ursachen für dieselben Nervenreize vorstellt, nachdem unsere Triebe die Nervenreize interpretiert und deren Ursachen nach ihren Bedürfnissen angesetzt haben. Auch dabei lässt sich von der unlogischen bzw. physiologischen Grundstellung des Menschen zu allen Dingen sprechen. Dass nämlich der „Text“ der physiologischen Prozesse unseres Leibes im Schlafen so verschieden commentirt wird, dass die dichtende Vernunft heute und gestern so verschiedene Ursachen für die selben Nervenreize sich vorstellt: das hat darin seinen Grund, dass der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er gestern war, – ein anderer Trieb wollte sich befriedigen, bethätigen, üben, erquicken, entladen, – gerade er war in seiner hohen Fluth, und gestern war ein anderer darin. (M, KSA 3.113, vgl. MA 630)

Unter diesen Bedingungen führt Nietzsche aus, „dass auch unsere moralischen Urtheile und Werthschätzungen nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang sind, eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu bezeichnen“, und „dass all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist.“ Am Beispiel der Logik des Traumes legt Nietzsche auch die Logik des moralischen Urteilens aus. Bemerkenswert und entscheidend für sein Denken ist das aus diesen Überlegungen gezogene Fazit, dass Erlebnisse im Grunde genommen Erdichtungen sind: „— Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt! Oder muss es gar heissen: an sich liegt Nichts darin? Erleben ist ein Erdichten? —“ (M, KSA 3.114) Diese Einsicht wird in Aphorismus 121 dadurch untermauert, dass Nietzsche den Intellekt als Spiegel darstellt, in dem regelmäßig etwas zu sehen ist, das man als Ursache und Wirkung benennen kann. Dies lässt sich nicht endgültig begreifen, weil wir nur „Bilder“ und keine Wesen sehen können. „Wir haben ja Nichts gesehen, als die Bilder von „Ursachen und Wirkungen“! Und eben diese Bildlichkeit macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich!“ (M, KSA 3.115; siehe auch M 243) Vor diesem Hintergrund erweist sich die dichtende Vernunft als Vorstellungsvermögen, genauer als performatives Vermögen, das einem physiologischen Vorgang eine fiktive Einheit oder Form zuweist, die zwar dem Leben einen Sinn und den Dingen einen Wert beimisst, die aber das Wesen der Dinge nicht trifft. Die performative und sinnstiftende Leistung des Intellekts wird an folgender Stelle deutlich, die die Erkenntnis des Leidenden thematisiert: Die ungeheure Spannung des Intellectes, welcher dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz, den alle

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8 Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen

neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. (M, KSA 3.105)

Erkennen ist in diesem Zusammenhang also die „Thätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes“ (M, KSA 3.321) und damit ein Verklärungsprozess. Erleben, Erdichten und Erkennen stimmen miteinander überein. Nietzsche folgert, dass es nichts an sich gibt, „wohl aber Seelenzustände, in denen wir die Dinge ausser und in uns mit solchen Worten belegen.“ (M, KSA 3.189 f.) Dass hier die Rede von „Seelenzuständen“ und nicht nur von Trieben und Bedürfnissen ist, weist auf die Komplexität des Denkens in Nietzsches Philosophie hin. Das ästhetische Verhältnis des Menschen zu allen Dingen wird nicht rein physiologisch, sondern auch geistig gedacht. Das Erlebnis, auf das sich Nietzsche in M konzentriert und dessen Rolle in seiner Philosophie von nun an ausschlaggebend ist, trägt maßgeblich zur Bedeutung des Seelenzustands bei. Die sich von Tag zu Tag anhäufenden und aufquellenden „Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken über sie und Träume über diese Gedanken“ (M, KSA 3.283 f.) bilden einen unermesslichen Reichtum, dessen Schwere jedoch nicht selten alles Glück erdrückt. Wenn auf der einen Seite die Sinne den Horizont konstruieren, vor dem wir die Welt messen und empfinden, machen auf der anderen unsere Erlebnisse den Maßstab aus, nach dem wir unser Leben und das aller anderen Geschöpfe¹²¹ sowie den Wert unseres Denkens und des Denkens aller anderen Menschen messen. Dies wird ersichtlich insbesondere in Bezug auf Nietzsches boshafte (und billige) Urteile über Kant und Schopenhauer. „Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist“ (M, KSA 3.285), so ist das Denken Kants und Schopenhauers keine „leidenschaftliche Seelen-Geschichte“: „es giebt da keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen.“ (M, KSA 3.286) Das sei vor allem bei Kant zu erkennen. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Zeit, Etwas zu erleben, – ich denke, wie billig, nicht an grobe „Ereignisse“ von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. (M, KSA 3.286)

 Vgl. M, KSA 3.110: „Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, messen wir nun die Welt, wir nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart und Jenes weich: diess Messen nennen wir Empfinden, – es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Nach der Menge von Erlebnissen und Erregungen, die uns durchschnittlich in einem Zeitpuncte möglich sind, misst man sein Leben, als kurz oder lang, arm oder reich, voll oder leer: und nach dem durchschnittlichen menschlichen Leben misst man das aller anderen Geschöpfe, – es sind Alles, Alles Irrthümer an sich!“

8.2 Erkennen, Erdichten, Erleben

127

Ein Erlebnis lässt sich also von zweierlei Standpunkt aus verstehen: als „das Um-uns“ bzw. Ereignis oder Vorkommnis wie in Aphorismus 119 oder als „das In-uns“ bzw. ein „von jemandem als in einer bestimmten Weise beeindruckend erlebtes Geschehen“. Im ersten Sinn ist Erlebnis etwas am eigenen Leib Erfahrenes. Im zweiten Sinn heißt Erlebnis, etwas im eigenen Leib zu erfahren. Das Erlebnis als Erleben der innersten Umwälzung des Gemüts und der Erkenntnis (vgl. M, KSA 3.285) wird zum Kriterium der Wahrheit: Diese kleinen Wahrheiten! — „Ihr kennt diess Alles, aber ihr habt es nie erlebt, – ich nehme euer Zeugniss nicht an. Diese ‚kleinen Wahrheiten‘! – sie dünken euch klein, weil ihr sie nicht mit eurem Blute bezahlt habt!“ – Aber sind sie denn gross, desshalb, weil man Zuviel dafür bezahlt hat? Und Blut ist immer ein Zuviel! – „Glaubt ihr? Was ihr geizig mit Blute seid!“ (M, KSA 3.289)

Wie erwähnt, stellt Nietzsche die Vernunft neben die Erfahrung und weist zudem auf das Machtgefühl hin. Das Machtgefühl als Seelenzustand der Liebe zur Macht bestimmt nach Nietzsche das Temperament eines Menschen; es ist sein „Dämon“: „Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, – nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen.“ (M, KSA 3.209)¹²² Das Gefühl der Macht lässt sich politisch,¹²³ aber nicht ontologisch interpretieren. In Aphorismus 23 erzählt Nietzsche die Entstehungsgeschichte dieses Gefühls. Es hat seinen Ursprung in seinem Gegensatz, der Ohnmacht, und repräsentiert denjenigen kulturellen Wesenszug des Menschen, durch den er in seiner Entwicklung am feinsten geworden ist: Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, dass es jetzt hierin der Mensch mit der delicatesten Goldwage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur. (M, KSA 3.34 f.)

Zu dieser Geschichte gehört auch das „Machtgelüste“, das aber vom Gefühl der Macht unterschieden werden muss. Das Machtgelüste lässt sich als eine Entartung des Machtgefühls verstehen, die den „Fanatismus“ und alle seine negativen Konsequenzen hervorgerufen hat und hervorrufen wird: In dieser Ungeduld und dieser Liebe aber kommt jener Fanatismus des Machtgelüstes wieder zum Vorschein, welcher ehemals durch den Glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, entzündet wurde und der so schöne Namen trug, dass man es daraufhin wagen konnte, mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein (Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen und ganze höhere Culturen wie die von Peru und Mexiko auszurotten). Die Mittel des Machtgelüstes haben sich verändert, aber der selbe Vulcan glüht noch immer, die Ungeduld und die unmässige Liebe wollen ihre Opfer: und

 Nietzsche könnte sich auf Heraklits Spruch „ethos anthropo daimon“ berufen.  Aus ihm her rührt das Recht: „So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade.“ (M, KSA 3.101) Auf das Recht stützen sich in M 189 die Gesellschaft und die „große Politik“.

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8 Die Aufgabe in Morgenröthe, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen

was man ehedem „um Gottes willen“ that, thut man jetzt um des Geldes willen, das heisst um dessen willen, was jetzt am höchsten Machtgefühl und gutes Gewissen giebt. (M, KSA 3.180)

Wenn das Machtgelüste aus Ungeduld und unmäßiger Liebe entsteht und die Menschen zu unmenschlichen Taten aufhetzt, wird das Gefühl der Macht durch die Vernunft gemäßigt, so dass es nicht zum Machtgelüste wird. Strebt Nietzsche in MA 56 nach dem „Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse“, so hat er in M den „Sieg über die Kraft“ im Visier: Erwägt man, was bisher Alles als „übermenschlicher Geist“, als „Genie“ verehrt worden ist, so kommt man zu dem traurigen Schlusse, dass im Ganzen die Intellectualität der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss: so wenig Geist gehörte bisher dazu, um sich gleich erheblich über sie hinaus zu fühlen! Ach, um den wohlfeilen Ruhm des „Genie’s“! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der Kraft auf den Knieen – nach alter Sclaven-Gewohnheit – und doch ist, wenn der Grad von Verehrungswürdigkeit festgestellt werden soll, nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! Aber für ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen, ja zumeist wird noch das Messen des Genie’s für einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schönste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht, – nämlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen. Noch immer ist der grosse Mensch gerade in dem Grössten, was Verehrung erheischt, unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn: sein Sieg über die Kraft bleibt ohne Augen und folglich auch ohne Lied und Sänger. Noch immer ist die Rangordnung der Grösse für alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt. (M, KSA 3.318 f.)

In diesem Aphorismus überdenkt Nietzsche noch einmal, was er in MA 260,¹²⁴ VM 99 und WS 332 darstellte. Die in Aphorismus 260 als Merkmal der Größe vorgestellte gleichmäßige Ausbildung der Kräfte ist nur durch die Vernunft zu erreichen — eine Vernunft, die dichtend ist und dem Genie zu seiner eigenen Bändigung, zur Reinigung seiner Phantasie, zur Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen verhilft. Eine dichtende Vernunft schließt Kritik und Wissenschaft nicht aus. Sie ist im Gegenteil reinigend und zugleich schöpferisch und ermöglicht es dem Genie, einerseits unsere moralischen, religiösen und ästhetischen Empfindungen und Vor-

 „Das Vorurtheil zu Gunsten der Grösse. – Die Menschen überschätzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine gleichmässige Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und glückbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Production kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.“ (MA, KSA 2.214)

8.2 Erkennen, Erdichten, Erleben

129

stellungen zu reinigen, um andererseits neue Ideale zu ersinnen. Ideale sind Nietzsche zufolge „farbige Bilder, wo Vernunftgründe noth thäten“ (M, KSA 3.313). Ein Ideal bildet etwas ab, das es nicht gibt, aber geben könnte. Insofern ist ein Ideal auch ein Leitbild: ein Bild, nach dem man denkt und handelt. Es ist ein Ziel, dem man höchsten Wert zuerkennt, eine Idee, nach deren Verwirklichung man strebt. Das von Nietzsche in M angestrebte Ziel stimmt mit der Aufgabe überein, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen. Der einzige, der das neue Ideal der Menschheit vorwegnehmen kann, ist wie in VM 99 der Dichter. Dichter sind „Astronomen des Ideals“: „— Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: – Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen!“ (M, KSA 3.321) Durch die dichtende Vernunft kann ein Genie sich reinigen, mäßigen und dementsprechend durch seine schöpferische Macht ein neues Lebensbild gestalten. Das Genie ist zu einer neuen Verklärung fähig: „Transfiguration. — Die rathlos Leidenden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten, – diess sind die drei Grade, in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt – und auch Raffael dürfte es jetzt nicht mehr: er würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen.“ (M, KSA 3.21) Die Welt wird nicht mehr als Kosmos betrachtet, sondern als solcher erfunden: Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; – möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben! (M, KSA 3.320)

So wird vollends deutlich, dass Erkennen, Erleben und Erdichten eins und zugleich das Ergebnis eines experimentellen Lebens sind.

9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“ als neue Aufgabe in Die fröhliche Wissenschaft Die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung. (FW, KSA 3.469)

9.1 Der Ursprung der Erkenntnis und die neue Aufgabe In Kontinuität mit der Notwendigkeit vom „historischen Philosophieren“ (MA, KSA 2.25) in MA, stellt Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft erneut die Frage: „Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre „Existenz-Bedingungen“ betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, – ist diess schon zu Ende erforscht?“ (FW, KSA 3.379) Schon im ersten Aphorismus geht er dieser Frage nach und behauptet: „Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen, ich finde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit: Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt.“ (FW, KSA 3.369) Weiter behauptet Nietzsche, in den Menschen sei „Nichts älter, stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher …, als jener Instinct, – weil dieser Instinct eben das Wesen unserer Art und Heerde ist.“ In diesem Zusammenhang ist der schädlichste Mensch für die Arterhaltung „bewiesener Maassen“ der allernützlichste, „denn er unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne welche die Menschheit längst erschlafft oder verfault wäre.“ (FW, KSA 3.369) Nietzsche will aber keine neue Ontologie einführen, denn auch wenn „der Trieb der Arterhaltung, von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor[bricht]“, ist er „im Grunde Trieb, Instinct, Thorheit, Grundlosigkeit.“ (FW, KSA 3.371) Dieser Gedankengang lässt sich dadurch erklären, dass Nietzsche, wie gesagt, davon ausgeht, dass der Mensch einer Rechtfertigung des Lebens bedarf, um nicht am Wissen um die Sinnlosigkeit und Zwecklosigkeit des Lebens zugrunde zugehen. Es ist für ihn notwendig, dass alles, was geschieht, „auf einen Zweck hin gethan erscheine und [ihm] als Vernunft und letztes Gebot einleuchte“. Zu diesem Zweck „tritt der ethische Lehrer auf, als der Lehrer vom Zweck des Daseins“, dessen Bedeutung entscheidend ist. Laut Nietzsche hat dieser Lehrer durch sein immer neues Erscheinen ein neues Bedürfnis in der menschlichen Natur eingepflanzt: „eben das Bedürfniss nach dem immer neuen Erscheinen solcher Lehrer und Lehren vom „Zweck“.“ (FW, KSA 3.372) Der Trieb der Arterhaltung ergibt sich insofern als „Wesen“ des Menschen, als er zu einem neuen Bedürfnis und daher zu einer neuen „Existenz-Bedingung“ des Menschen geworden ist. Der Mensch ist allmählich zu einem phantastischen Thiere geworden, welches eine ExistenzBedingung mehr, als jedes andere Thier, zu erfüllen hat: der Mensch muss von Zeit zu Zeit https://doi.org/10.1515/9783110701890-013

9.2 Erkenntnis als Existenzbedingung

131

glauben, zu wissen, warum er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die Vernunft im Leben! (FW, KSA 3.372)

Zu den Existenzbedingungen zählt auch das Bewusstsein, das ausschlaggebend für das Verständnis von Nietzsches Begriff der Erkenntnis bzw. des Denkprozesses ist. Gegen die verbreitete Ansicht, dass das Bewusstsein den „Kern des Menschen“ darstelle, meint Nietzsche in Aphorismus 11, dass sich die Menschheit dank des erhaltenden Verbandes der Instinkte behauptet hat. Das wäre allein durch die „Bewusstheit“ nicht möglich gewesen, denn sie „ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran.“ (FW, KSA 3.382) Dass die Bewusstheit als „Einheit des Organismus“ überschätzt und verkannt wurde, hat zwar „die grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist.“ (FW, KSA 3.383) Trotzdem „haben sich“ die Menschen, obwohl sie „die Bewusstheit schon zu haben glaubten, […] wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben – und auch jetzt noch steht es nicht anders!“ Nur dann, wenn man sich all dessen bewusst ist, kommt eine neue Aufgabe ins Bewusstsein des Menschen: Es ist immer noch eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch deutlich erkennbare Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen, – eine Aufgabe, welche nur von Denen gesehen wird, die begriffen haben, dass bisher nur unsere Irrthümer uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrthümer bezieht! (FW, KSA 3.383)

Diese neue „Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“, bestimmt die von Nietzsche am Ende seiner Befreiung des Geistes in FW gestellte Aufgabe. Sie wirft viele neue Probleme auf und ermöglicht so auch neue Einsichten in Nietzsches Philosophie. Sie überschneiden sich derart, dass sie einen ganz neuen Kontext bilden, der der Erkenntnis, der Wissenschaft, der Kunst, dem Leben und dem Denker entscheidende Konturen in Hinblick auf die letzte Phase von Nietzsches Denkens hinzufügt.

9.2 Erkenntnis als Existenzbedingung In FW stellt sich Nietzsche der Erkenntnis in verschiedenen Hinsichten. Zunächst ließe sich seine Antwort auf die Frage „Was heißt Erkennen?“ folgendermaßen zusammenfassen: Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab. (FW, KSA 3.472)

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9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“

Dieser Verlauf und der Kampf der Triebe werden in Aphorismus 333 erläutert. Mit Berufung auf Spinozas berühmten Satz „non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere“, ist für Nietzsche „intelligere“ bzw. erkennen „die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden […]. Ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-,Verwünschen-wollens“ (FW, KSA 3.558). Er beabsichtigt, das Erkennen nicht „als etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes“ (FW, KSA 3.559), sondern als „ein gewisses Verhalten der Triebe zu einander“ zu erklären. Nietzsche setzt sich somit der verbreiteten Ansicht entgegen, dass das bewusste Denken als das Denken überhaupt gilt. Seiner Meinung nach verläuft vielmehr „der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt“ (FW, KSA 3.559). Er schließt daraus, dass es in unserem kämpfenden Innern „gewiss nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes [gibt], wie Spinoza meinte“, und dass „das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, die unkräftigste und desshalb auch die verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens“ ist. Es gibt also kein Denken an sich als Gegensatz zu den Trieben. Das Denken entsteht aus den vielen verschiedenen und gegeneinander kämpfenden Trieben, spielt sich als bestimmtes Verhalten der Triebe zueinander ein und ab. Was als bewusstes Denken bezeichnet wird, ist letztlich nur eine bestimmte Art des Denkens. Ob in diesem Prozess der verbindlichen Macht der Instinkte (gemäß Aphorismus ¹²⁵ 11) oder der Vernunft (gemäß Aphorismus 21)¹²⁶ die Rolle eines „Regulators“ zuzuweisen sei, lässt sich anhand der in FW veröffentlichten Aphorismen nur vermuten. Es ist aber offensichtlich, dass das Denken als ein hochkomplexer und weder allein auf das Bewusstsein noch auf die Vernunft beschränkter Verlauf zu deuten ist. Nietzsche lehnt auch die Vorstellungen einer göttlichen Vernunft und eines auf einem freien Willen beruhenden Handelns¹²⁷ ab, deren letzte Motive aufgrund einer das

 „Wäre nicht der erhaltende Verband der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen: oder vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr!“ (FW, KSA 3.382)  „Sonst nämlich hätte man sehen müssen, dass die Tugenden (wie Fleiss, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den andern Trieben halten lassen wollen.“ (FW, KSA 3.391)  In Aphorismus 127 entschleiert Nietzsche die „uralte Mythologie“ von Schopenhauer, „dass Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei“ (FW, KSA 3.483), und stellt an ihre Stelle diese Sätze: „erstens, damit Wille entstehe, ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig. Zweitens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des interpretirenden Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet; und ein und derselbe Reiz kann als Lust oder Unlust interpretirt werden. Drittens: nur bei den intellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille; die ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts davon.“ Damit widerlegt Nietzsche Schopenhauers Glauben an die Einfachheit und Unmittelbarkeit alles Wollens und unterscheidet sich darin von ihm.

9.2 Erkenntnis als Existenzbedingung

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bewusste Denken begrenzenden, nicht als völlig freien, sich selbst entsprungenen Aktivität der gedeuteten Vernunft¹²⁸ unergründlich bleiben. Durch eine derart beschränkte Vernunft sind wir nicht einmal imstande, etwas zu erklären — wir können nur beschreiben. Und doch können wir besser als zuvor beschreiben, weil wir „da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt [haben], wo der naive Mensch und Forscher älterer Culturen nur Zweierlei sah, „Ursache“ und „Wirkung“, wie die Rede lautete“ (FW, KSA 3.472). Damit haben wir aber Nietzsche zufolge nichts begriffen, sondern nur „das Bild des Werdens vervollkommnet“. Wir können gar nichts anderes tun, als „Alles erst zum Bilde [zu] machen, zu unserem Bilde!“ (FW, KSA 3.473) Vor uns steht ein Kontinuum, das unser Intellekt „nach unserer Art als willkürliches Zertheilt- und Zerstücktsein“ bzw. nach Ursache-Wirkungsverhältnissen wahrnimmt. Der kontemplative Mensch unterliegt dementsprechend einem Wahn: Er glaubt, „als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist“. (FW, KSA 3.540) Der kontemplative Mensch ist zwar vom „handelnden Menschen“ bzw. dem Schauspieler zu unterscheiden, er ist jedoch kein bloßer Betrachter. Nietzsche spricht ihm neben der „vis contemplativa“ die „vis creativa“ zu. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. (FW, KSA 3.540)

Aus diesen Gründen ist der kontemplative Mensch „der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens“, und seine „erfundene Dichtung“ wird „fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt.“ (FW, KSA 3.540) Dies führt Nietzsche zu zwei Ergebnissen: Die Welt ist erstens eine erfundene Dichtung. Allem — der Natur, die an sich immer wertlos ist, sowie dem Leben —, das in der Welt einen Wert hat, wurde ein Wert gegeben, geschenkt, geschaffen. Zweitens betrachtet Nietzsche „die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der

 Dass Nietzsche in FW die Vernunft auf das bewusste Denken beschränkt, lässt sich aus einem Vergleich zwischen den Aphorismen 11 und 110 entnehmen. Nietzsche schreibt in Aphorismus 110: „Der Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit grösserem Glücke.“ (FW, KSA 3.469) In Aphorismus 11 lautet es: „Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nöthig wäre, „über das Geschick“, wie Homer sagt.“ (FW, KSA 3.382)

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9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“

Dinge“ (FW, KSA 3.473), deren Entwicklung zu unserer Selbsterkenntnis, nicht aber zur Erkenntnis der Naturgesetze beiträgt. Das Überraschende: Schon vor den folgenden Werken erzielt Nietzsche in FW ein bestimmendes Ergebnis in Bezug auf die Erkenntnis in Aphorismus 110, wo er exemplarisch den Ursprung der Erkenntnis erläutert. Er geht davon aus, dass der Intellekt die längsten Zeiten hindurch nichts als Irrtümer erzeugt hat. Die Irrtümer, die sich als nützlich und arterhaltend erwiesen, wurden „immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand“ (FW, KSA 3.469). In diesem Verlauf trat die Wahrheit erst sehr spät auf, und „es schien, dass man mit ihr nicht zu leben vermöge“. Alle höheren Funktionen unseres Organismus, „die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrthümern“; „jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntniss zu den Normen.“ So erwies sich die Wahrheit „als die unkräftigste Form der Erkenntniss“. Nietzsche geht es nicht um die Wahrheit an sich, sondern um die „Kraft der Erkenntnis“, die in ihrer „Einverleibtheit“ und „ihrem Charakter als Lebensbedingung“ besteht und sich deshalb nicht am „Grade von Wahrheit“ messen lässt: „Also: die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung.“ (FW, KSA 3.469) Des Weiteren hebt Nietzsche hervor, dass durch die allmähliche Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis die Unmöglichkeit der Existenz jener Menschen deutlich wurde, die gleich der Weisheit der Eleaten daran glaubten, „dass ihre Erkenntniss zugleich das Princip des Lebens sei.“ (FW, KSA 3.470) Es ergab sich „auch ihr Leben und Urtheilen als abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles empfindenden Daseins.“ Durch das Disputieren und Zweifeln an der Nützlichkeit und Unnützlichkeit bestimmter Prinzipien für das Leben „füllte sich allmählich das menschliche Gehirn mit Urtheilen und Ueberzeugungen“, so dass „in diesem Knäuel Gährung, Kampf und Machtgelüst entstand.“ Durch diesen physiologisch-geschichtlichen Verlauf wandelte sich die Erkenntnis in eine Leidenschaft, wurde zum Wahrheitstrieb und als solche zum Bestandteil des Lebens, d. h. zur Lebensbedingung: Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die „Wahrheiten“; der intellectuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde —: das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die Ueberzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Misstrauen, der Widerspruch eine Macht, alle „bösen“ Instincte waren der Erkenntniss untergeordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten, Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des Guten. Die Erkenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrthümer auf einander stiessen, beide als Leben, beide als Macht, beide in dem selben Menschen. Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat. (FW, KSA 3.470 f.)

9.2 Erkenntnis als Existenzbedingung

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Die in M eingeführte Leidenschaft der Erkenntnis wird von Nietzsche in FW „genealogisch“ erläutert. Sein zentrales Ergebnis lautet: „Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.“ (FW, KSA 3.480) Die Erkenntnis ist ein lebenserhaltender Trieb, eine lebenssteigernde Macht und damit mehr als ein Mittel: Sie ist eine Existenzbedingung. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, – es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! – Diess zu Gunsten der Kritik. (FW, KSA 3.545)

So sind unsere neuen Bedürfnisse, ist unser neues Leben das Verneinende, nicht unsere Vernunft. „Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an’s Licht.“ Damit stellt Nietzsche fest: „Existenz-Bedingungen kann man nicht widerlegen: man kann sie nur – nicht haben!“ (NL 1[2], KSA 10.9) Gerade in diesem neuen Zusammenhang kündigt Nietzsche in Aphorismus 125 den Tod Gottes an und stellt in Aphorismus 341 die Hypothese der „Wiederkunft des Gleichen“ auf. Gott tritt nicht länger als brauchbare Wahrheit auf. Den Tod Gottes muss man nicht rational beweisen, weil er kraftlos geworden ist — er gehört nicht mehr zu den Existenzbedingungen. Dagegen ist die Wiederkunft als neue lebenserhaltende und lebenssteigernde Wahrheit und zugleich als Mittel, sie uns einzuverleiben, das neue Schwergewicht.¹²⁹ Der Tod Gottes stellt keine pauschale Negation der Moral dar, sondern ihre ewige, absolut genommene Voraussetzung. Indem der Mensch neue Wertschätzungen schafft, schafft er eine neue Moral: „Aber vergessen wir auch diess nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge“ zu schaffen.“ (FW, KSA 3.422) Das Leben ist laut Nietzsche im vollen „Umfang“ moralisch: Umfang des Moralischen. — Wir construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung. (FW, KSA 3.474)

In diesem neuen und facettenreichen Zusammenhang stellt Nietzsche „die letzte Frage um die Bedingung des Lebens“ und versucht gleichermaßen experimentell auf sie zu antworten: „die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.“ (FW, KSA 3.471)

 Vgl. NL 11[141], KSA 9.494– 496.

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9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“

9.3 Kunst und Leben Es wird deutlich, dass sich die oben angeführte Frage auf erkenntnistheoretischer wie auf praktischer Ebene stellen lässt: Sie ist sowohl Frage als auch Experiment. Wie bereits in MA und in M, begnügt sich Nietzsche auch in FW nicht damit, nur zum Ursprung der geerbten Existenzbedingungen des Menschen zurückzugehen. Er sucht nach neuen Lebensbedingungen und zugleich nach der Möglichkeit, sie in die Praxis umzusetzen. Dies führt ihn dazu, „die heikeligste aller Fragen“ aufzuwerfen, nämlich „ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann – und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte“ (FW, KSA 3.379). Die Wissenschaft gibt uns ein „intellectuelles Gewissen“, wie Nietzsche in Aphorismus 335 schreibt, das ein Gewissen hinter unserem Gewissen ist. Durch das „intellectuelle Gewissen“ können wir feiner denken, besser beobachten und mehr über den leiblichen Ursprung unseres moralischen Handelns lernen: „Dein Urtheil „so ist es recht“ hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen“ (FW, KSA 3.561). Wir müssen lernen, dass jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt, – dass unsere Meinungen von „gut“, „edel“, „gross“ durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist, – dass sicherlich unsere Meinungen, Werthschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören, dass aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: – über den „moralischen Werth unserer Handlungen“ aber wollen wir nicht mehr grübeln! […] Wir … wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer sein zu können, – während bisher alle Werthschätzungen und Ideale auf Unkenntniss der Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Redlichkeit! (FW, KSA 3.563)

Es ist also naheliegend, dass Nietzsche durch die Physik nicht bezweckt, das Wesen der Dinge zu erschließen. Sein Ziel ist vielmehr die Selbstbeobachtung sowie, gemäß dem Anspruch in WL, die Beobachtung des Verhältnisses des Menschen zu allen Dingen. Die Physik ist eine Wissenschaft, die sich einer experimentellen Methode bedient. Wenn man also durch die Wissenschaft seine Meinungen und Wertschätzungen reinigen und sich so eine experimentelle Haltung angewöhnen kann, kann man nicht durch die Physik allein unmittelbar neue, eigene Gütertafeln schöpfen und neue Lebensweise erfinden. Denn das, was uns zu ihr zwingt, unsere Redlichkeit, kann uns auch zu Ekel und Selbstmord führen. Nachdem man, von der Redlichkeit angetrieben, durch die Wissenschaft den menschlich-allzumenschlichen, den leiblichen Ursprung unserer Wertschätzungen nachgewiesen hat — dass also „das All durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile getroffen“ wird

9.3 Kunst und Leben

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(FW, KSA 3.468) —, kann man die durch die Wissenschaft vermittelte „Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“ (FW, KSA 3.464) nur noch durch die Kunst aushalten. Wir brauchen die Kunst als Gegenkraft gegenüber unserer Redlichkeit, und nur durch die Kunst als „guten Willen zum Scheine“ können wir den Konsequenzen der Redlichkeit — Ekel und Selbstmord — ausweichen. Die Kunst macht unser Dasein erträglich und lebenswert, weil sie es verklärt. „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können.“ (FW, KSA 3.464) Neben das uns durch die Wissenschaft gegebene „intellectuelle Gewissen“ ist immer das uns durch die Kunst gegebene „gute Gewissen“ zu stellen, also neben die „vis contemplativa“ die „vis creativa“. Eine Vernichtung bringt immer eine neue Schöpfung mit sich: „Nur als Schaffende können wir vernichten!“ (FW, KSA 3.422) Nachdem wir den Künstlern die Mittel abgelernt haben, „uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswerth zu machen, wenn sie es nicht sind“ (FW, KSA 3.538), sollten wir weiser als die Künstler sein und über sie hinausgehen. „Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.“ Zu einer solchen Verklärung des Lebens bedarf man einer Erziehung: „Die Erziehung verfährt durchweg so: sie sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vortheil, aber „zum allgemeinen Besten“ in ihm und über ihn herrscht.“ (FW, KSA 3.392) Wie Nietzsche mehrfach betont hat, wird durch die Erziehung „mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran“ (FW, KSA 3.530) eine „zweite Natur“ angenommen, die zu einer Gewohnheit und damit wieder zur „ersten Natur“ wird. Anders ausgedrückt, legt man „Vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch Mehrerer und zuletzt ein Bedürfniss Aller wird.“ (FW, KSA 3.407) Nietzsche beansprucht aber keine ausgleichende Erziehung, sondern eine Selbstdisziplinierung und -bildung. Der Einzelne muss notwendig „seinem Charakter „Stil geben““ (FW, KSA 3.530). Er soll „seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwenden“ (FW, KSA 3.393), so dass in ihm die verschiedenen Triebe, „zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in Einem Menschen zu fühlen!“ (FW, KSA 3.473 f.) Erst vor diesem Hintergrund lässt sich Nietzsches Begriff des „großen Befreiers“ verstehen: „jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei!“ (FW, KSA 3.553) Es zeigt sich die existentielle Bedeutung der Erkenntnis. Für Nietzsche „ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. „Das Leben ein

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9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“

Mittel der Erkenntniss“ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen!„ Eine fröhliche Wissenschaft ist also mehr als eine Forschungsmethode oder ein Unterrichtsfach. Sie ist eine experimentelle Lebensweise. Das Merkmal einer fröhlich gewordenen Wissenschaft ist die Bewusstheit, dass „nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft unter die Mittel und Nothwendigkeiten der Arterhaltung [gehört]!“ (FW, KSA 3.372) Der Schmerz gilt dabei als Erkenntnisquelle: „der Schmerz fragt immer nach der Ursache, während die Lust geneigt ist, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen.“ (FW, KSA 3.384) „Dies ist Consequenz von der Leidenschaft der Erkenntniß: es giebt für ihre Existenz kein Mittel, als die Quellen und Mächte der Erkenntniß, die Irrthümer und Leidensch auch zu erhalten, aus deren Kampfe nimmt sie ihre erhaltende Kraft.“ (NL 11[141], KSA 9.495) Die fröhliche Wissenschaft ist also dadurch bestimmt, dass zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte und die practische Weisheit des Lebens hinzufinden, dass ein höheres organisches System sich bildet, in Bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige Alterthümer erscheinen müssten. (FW, KSA 3.474)

Summa summarum stellt sich Nietzsche in FW eine neue Aufgabe und leitet aus ihr sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ab. Er verfolgt dabei den Zweck, abschließend zu beweisen, dass „der Gesammt-Charakter der Welt in alle Ewigkeit Chaos [ist], nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.“ (FW, KSA 3.468) Er will beginnen dürfen, „uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“ (FW, KSA 3.469) Oder, wie er im Nachlass notiert: „Meine Aufgabe: Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff „Natur“ gewonnen hat.“ (NL 11[211], KSA 9.11) Die Vernatürlichung des Menschen setzt eine Entmenschung der Natur zum Zweck voraus, „das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“. FW bildet also für Nietzsche die Vollendung seiner Befreiung des Geistes, und zugleich erweist sie sich als das Werk, in dem er die Hauptfragen seines bisherigen Philosophierens radikal formuliert und auf sie zu antworten versucht. Zur Befreiung des Geistes trägt auch die Notwendigkeit von Nietzsches neuer Aufgabe bei. Es ist gerade „die allmächtige Gewalt“ seiner Aufgabe, die ihn endgültig von der herkömmlichen Moral, Philosophie und Religion sowie von Wagner trennt.¹³⁰ Davon

 Vgl. FW 279, KSA 3.524: „Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir uns nie wieder, – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert!“ Dass Wagner der Adressat dieses Aphorismus sein könnte, lässt sich

9.3 Kunst und Leben

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befreit, kann sich Nietzsche endlich ein höheres Ziel stellen. In einem Briefentwurf an Malwida von Meysenbug schreibt er: Ich sitze hier inmitten tiefer Wälder und habe eben die Correctur meines letzten Buches zu besorgen; es führt den Titel „die fröhl.W˂issenschaft>“ und bildet den Schluß jener Gedanken-Kette, welche ich damals in Sorrent zu knüpfen anfieng […]. Mein Leben gehört jetzt einem höheren Ziele und ich thue nichts mehr, was dem nicht frommt. Errathen kann es Keiner und verrathen darf ˂ich> es jetzt selber noch nicht! Aber daß es eine heroische Denkweise verlangt (und durchaus keine religiös-resignierte), will ich Ihnen, und Ihnen gerade am liebsten eingestehen. (Nr. 264, KSB 6.223)

Die in MA begonnene Befreiung des Geistes kommt in FW zu ihrer maßgebenden Etappe. Die Abschaffung der Metaphysik, die Demaskierung des triebhaften Ursprungs der Moral, die Entdeckung, dass Erkennen, Erleben und Erdichten ein sind, die Verschränkung von vis contemplativa und vis creativa, die Bewusstheit, dass die Kraft der Wahrheit in ihrer Einverleibung liegt: All dies trägt zum neuen Bild eines experimentellen Lebens bei. Nietzsches seine ganze Philosophie durchziehende Leidenschaft der Erkenntnis, das Pathos der Wahrheit sowie sein unablässiges Fragen und Versuchen nehmen hier endgültig die Form des Experimentierens ein. Es geht dabei nicht um irgendeine Frage oder irgendein Experiment, sondern darum, das Leben — sich selbst, die Überlieferung, die Wahrheit, die Moral und die Metaphysik — auf die Probe zu stellen, um die Kraft seiner Lebensbedingungen zu erproben. Alle Wahrheit ist ein Produkt der Geschichte und des individuellen Erlebens zugleich. Weil sie vom Erleben und von der Geschichte bestimmt und immer wieder aufgelöst wird, ist sie im Grunde eine Illusion. Das Experiment ist Nietzsche zufolge die unausweichliche Voraussetzung, um die in FW gestellte Aufgabe in die Tat umzusetzen. Hier zeigt sich einerseits die entscheidende Bedeutung der Kraft der Erkenntnis zur Bestimmung der Wahrheit und andererseits des Zeiterlebens zur Bestimmung der Geschichte: Es kommt der Prozess zutage, wie das Geschehen durch das Experiment zum Leben wird. So zeigt sich zuletzt nicht nur der Charakter des Experimentierens, sondern auch, dass das Experiment selbst zur Lebensbedingung wird, das Leben selbst ein Experiment ist, das auf die Entdeckung der Existenzbedingungen zielt. Als für das Experiment entscheidend erweisen sich also die Kraft des experimentandum und die Macht, die vis creativa des Experimentators. Dies ist nur möglich auf dem Grund des individuellen Lebens. Bei Nietzsche nimmt also die Individualität eine immer zentralere Stellung und eine immer ausschlaggebendere Bedeutung ein. Im dritten Teil wird sichtbar, dass dieses Experiment nicht ohne Folgen bleibt. Es bringt eine tiefe Infragestellung, Umdeutung, Umformung, Verklärung und Umwer-

aus einem 1882 an Franz Overbeck adressierten Brief ersehen, in dem Nietzsche seinem Freund mitteilt: „Unsere Lebens-Aufgaben sind verschieden; ein persönliches Verhältniß bei dieser Verschiedenheit wäre nur möglich und angenehm, wenn Wagner ein viel delikaterer Mensch wäre.“ (Nr. 192, KSB 6.161 f.)

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9 „Das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“

tung mit sich. Damit ist der erste Stein zu Nietzsches Konzept der Umwertung aller Werte und des Willens zur Macht gelegt.

Teil III: Überfülle des Lebens, Übermaß der Kräfte und Umwertung aller Werte

10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra Schaffen: das ist die grosse Erlösung vom Leiden und des Lebens Leichtwerden (Z, KSA 4.110) Wer nicht lügen kann, weiss nicht, was Wahrheit ist (Z, KSA 4.361)

10.1 Der Anspruch auf Selbstverwirklichung Mit MA, M und FW hat Nietzsche die Hauptfragen seiner Philosophie aufgeworfen und sich zum Ziel gesetzt, Philosoph des Lebens zu werden. Er hat den Menschen und die tradierten Wertschätzungen von verschiedenen Standpunkten aus hinterfragt und ihren nicht metaphysischen, sondern historischen, psychologischen und triebhaften Ursprung kenntlich gemacht. Am Ende seiner Freigeisterei erlebt Nietzsche das ungeheure Ereignis Europas und der Menschheit im Allgemeinen: den Tod Gottes. Seine neue Aufgabe zeichnet sich im 7. Aphorismus von FW ab: die Notwendigkeit der Erforschung der „Existenz-Bedingungen“ und ein jahrhundertelanges Experiment, „ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann“ (FW, KSA 3.379). Dass es aber keine ewigen, absoluten Werte gibt und jede Teleologie hinfällig geworden ist, heißt nicht, dass die Menschheit zugrunde ginge. Nach Nietzsche ist dies für den Menschen vielmehr ein guter Grund, um seine Kräfte, Erkenntnisse, Gefühle und Ansprüche auf Autonomie auf die Probe zu stellen. Seine Antwort ist, das Leben als Mittel zur Erkenntnis einzusetzen, mit der Absicht, ein experimentelles Leben zu führen, in dem die Kunst die entscheidende Rolle als verklärende Kraft spielt. Da die Menschheit nicht von Gott, sondern von sich selbst gesteuert wird, lässt sich, wie zu Beginn von Teil II erörtert, die historische Frage nach der unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit stellen: „wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten?“ (MA, KSA 2.42) Die Antwort auf diese Frage besteht nach Nietzsche in der neuen Aufgabe der größten Geister des nächsten Jahrhunderts. Sie sollen eine grundlegende Kenntnis der Bedingungen der Kultur als wissenschaftlichen Maßstab für ökumenische Ziele ermitteln. Nietzsche will nicht bloß die Bedingungen der Kultur, sondern diejenigen Existenzbedingungen feststellen, die eine höhere Kultur ermöglichen. Zu diesen Existenzbedingungen gehört die unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen, der Irrtum, das Lügen mitsamt dem Wissen um die Notwendigkeit des Lügens für das Leben, der Erkenntnistrieb bzw. die Leidenschaft der Erkenntnis, der schöpferische Trieb bzw. die schöpferische Kraft, die Kunst bzw. die Verklärung, die dichtende Vernunft und die experimentelle Haltung des Menschen zum Leben. Letztlich erweist sich der Mensch als „künstlerisch schaffendes Subjekt“ (WL, KSA 1.883), das Werte zu seiner Selbsterhaltung und Selbstüberwindung schafft und schaffen muss. Er ist „der Messende“ (WS, KSA 2.554), weil er das Maß und das Messen entdeckt hat https://doi.org/10.1515/9783110701890-014

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

und zwangsläufig benötigt, um seinem Leben einen Wert zu verleihen und es so lebenswert erscheinen zu lassen. Damit er sich aber der Aufgabe widmen kann, „die Gesetze des Lebens und Handelns neu auf[zu]bauen“, muss er ein experimentelles Leben führen. Der Mensch muss Ernüchterung erleben und versuchsweise mit den Dingen verfahren, um sich, auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnend, einen neuen Horizont schaffen zu können. Er muss daher zunächst seine Kraft auf sich als Kunstwerk verwenden, um sich selbst zu beherrschen und Herr in seiner eigenen Werkstatt zu werden. Der Mensch strebt nach seiner Selbstverwirklichung. Er will der werden, der er ist, der Einmalige, der Unvergleichbare, der Sich-selber-Gesetzgebende, Sich-selber-Schaffende (FW, KSA 3.563). Dies können aber nach Nietzsche die allerwenigsten. Genau deswegen ist Z „ein Buch für Alle und Keinen“. In ihm macht Nietzsche die Bedingungen der Selbstverwirklichung ausfindig. In Kontinuität mit der in FW 335 erhobenen Forderung, „beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln“ (FW, KSA 3.563), geht es auch in Z darum, alte Tafel zu zerbrechen und neue zu schaffen, wie auch am längsten Abschnitt „Von neuen und alten Tafeln“ deutlich wird. Nietzsche bringt sein neues Lebensbild durch einen Dichter, durch Zarathustra zum Ausdruck und stellt, statt weitere Fragen aufzuwerfen, in dieser Schrift seine Hauptgedanken vor: den Willen zur Macht, den Übermenschen, die ewige Wiederkehr des Gleichen und die große bzw. kleine Vernunft des Leibes. Damit liefert er uns neue Anhaltspunkte, die dem Menschen bei einer Um- und Neuorientierung vor dem neuen, unmetaphysischen Lebenshorizont dienen. Z ist also kein Buch mehr über „die ästhetische Wissenschaft“ (GT, KSA 1.25), wie sich noch von GT behaupten lässt, sondern ein Kunstwerk. Nietzsche versucht hier, die bisher von ihm gefundenen Lebensbedingungen in einem einheitlichen Sinnbild zusammenzuführen. Obgleich er von der Verklärungskraft der Kunst überzeugt ist, zielt er nicht mehr auf eine metaphysische Rechtfertigung der Welt und des Daseins, sondern auf die in FW gestellte Aufgabe, „das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“ (FW, KSA 3.383), es zu verwirklichen. Aus diesem Grund sucht man in Z vergeblich nach einem Konzept oder einer neuen Formulierung der Aufgabe. Zu Beginn und am Ende des vierten und letzten Buchs und damit am Ende der ganzen Schrift sagt Zarathustra: „Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!“ (Z, KSA 4.408) In dieser aussagekräftigen Behauptung, die zugleich Nietzsches neuen philosophischen Anspruch beinhaltet, ertönt die von ihm bereits in der Zeit von Fatum und Geschichte gespürte Tragik des Schaffens: „o, niederreißen ist leicht, aber aufbauen!“ (KGW I 2.433) und die existentielle Herausforderung der Aufgabe: „Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens.“ (KGW I 2.431 f.) Nietzsche zielt auf tatsächliche Wirkung ab, er will die Wirkung am Menschen. Er macht daher mit Z den ersten Schritt zur Verwirklichung seiner ab JGB benannten Aufgabe einer „Umwerthung der Werthe“. Zu diesem Zweck geht er der Sinnfrage, der Rolle des Leibes und der Bedeutung der Kunst in der Erkenntnis nach, wie sich im Folgenden zeigen wird.

10.2 Der Tod Gottes und der Sinn des Lebens

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10.2 Der Tod Gottes und der Sinn des Lebens Das in FW angekündigte „ungeheure Ereigniss“ (FW, KSA 3.481), der Tod Gottes, klingt auch in Z durch. Bereits zu Beginn seines ersten „Untergangs“ wundert sich Zarathustra, dass der alte Heilige „in seinem Walde noch Nichts davon gehört hat, dass Gott todt ist!“ (Z, KSA 4.14) Für Zarathustra aber lebt der alte Gott nicht mehr: „der ist gründlich todt“ (Z, KSA 4.326). Wie kann man aber einen Gott töten? Indem man nicht mehr an ihn glaubt oder denkt. Gott ist eine Mutmaßung, ein Gedanke, eine nicht mehr gültige und inzwischen unverbindliche Wahrheit wie, nach der prägnanten Wendung von WL, „eine Metapher, die abgenutzt und sinnlich, kraftlos geworden ist“. Wenn es aber keinen Gott mehr gibt, „wer tränke alle Qual dieser Muthmaassung, ohne zu sterben? Soll dem Schaffenden sein Glaube genommen sein und dem Adler sein Schweben in Adler-Fernen?“ (Z, KSA 4.110) Der Schaffende ist, wie Nietzsche immer wieder deutlich gemacht hat, von der Gefahr bedroht, zugrunde zugehen. Ein gottloses Leben ist außerdem gefährlich und sinnbedürftig. In „Von tausend und Einem Ziele“ stellt Zarathustra fest: „Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel.“ (Z, KSA 4.76) Zarathustra will aber der Menschheit ein Ziel geben. Er ist der Bahnbrecher einer neuen Zeit: „Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“ (Z, KSA 4.19) In einer unmetaphysischen, gottlosen Welt geht es nicht mehr um Sinnfindung, sondern um Sinnerfindung. Hinsichtlich dieses Paradigmenwechsels und in Bezug auf die philosophische Tradition sagt Zarathustra: „Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn: ein Possenreisser kann ihm zum Verhängniss werden. Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.“ (Z, KSA 4.23) „Der Übermensch ist der Sinn der Erde.“ (Z, KSA 4.14) Deswegen fragt Zarathustra seine Brüder: „Könntet ihr einen Gott schaffen? […] Könntet ihr einen Gott denken?“ (Z, KSA 4.109) Diese Fragen sind rhetorisch. Statt einer Antwort seiner „Brüder“ findet man Forderungen Zarathustras: „aber ich will, dass euer Muthmaassen nicht weiter reiche, als euer schaffender Wille. […] Aber ich will, dass euer Muthmaassen begrenzt sei in der Denkbarkeit.“ Zarathustra fordert auch den „Wille zur Zeugung“. Trotz der Aufforderung Zarathustras vermag der Mensch es noch nicht, Gott oder Übermensch zu schaffen oder selbst zu sein. Er könnte sich jedoch selbst zum Vater und Vorfahren des Übermenschen wandeln. Er sollte daher seine eigenen „Sinne zu Ende denken“, so „dass Alles verwandelt werde in Menschen — Denkbares, Menschen — Sichtbares, Menschen — Fühlbares!“ (Z, KSA 4.110) In einem nachgelassenen Fragment notiert Nietzsche: „Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht mehr — er muß es leugnen oder schaffen.“ (NL 1[86], KSA 10.194) Das lässt sich mit Zarathustras Aussage verbinden: „Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das Schaffende.“ (Z, KSA 4.65) Was der Mensch Welt nannte, das soll erst von

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

ihm geschaffen werden: seine Vernunft, sein Bild, sein Wille, seine Liebe (vgl. Z, KSA 4.110). Wie lässt sich nach dem Tod Gottes die Zukunft denken? Wie kann man der Menschheit neue Ziele setzen? Der Tod Gottes ist eng mit der Sinnfrage verbunden. Dem Leben ein Ziel und einen Sinn zu geben, heißt zugleich, die Welt neu und nach menschlichen Maßstäben schaffen. Dazu muss der Mensch seine Sinne zu Ende denken: Er muss den Leib bedenken. Er hat, im Gegensatz zu den „Hinterweltlern“, auf die Stimme des gesundes Leibes zu hören: „Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde“ (Z, KSA 4.38). Der Leib nimmt im Zarathustra eine Schlüsselstellung ein.

10.3 Der schaffende Leib und seine Werk- und Spielzeuge In „Von den Verächtern des Leibes“, einer der prägnanteren und dichteren Rede von Z, wird die Idee des Leibes geschildert. Bei der Lektüre dieser Rede werden auf den ersten Blick Nietzsches Absichten deutlich, die bisher vollzogenen Gedanken über Vernunft, Bewusstsein und Unbewusstsein auf den Leib zurückzuführen, sie am und im Leib zu verankern. Der Mensch ist für Nietzsche Leib durch und durch¹³¹: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“ (Z, KSA 4.40) Damit will Nietzsche beim Denken und Handeln aber nicht die Vernunft ausschließen und verwerfen. Er will, wie gezeigt, den alten Vernunftbegriff abschaffen und einen neuen einführen. Wie Zarathustra sagt: „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiss denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat?“ (Z, KSA 4.40) Der Mensch ist also kein irrationales Wesen. Vielmehr ist der Leib „eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.“ (Z, KSA 4.39) Zu dieser Vielheit gehört auch die „kleine Vernunft des Leibes“, also der Geist oder das Ich: „Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.“ (Z, KSA 4.39) Dass Zarathustra hier von einer großen und einer kleinen Vernunft des Leibes spricht, heißt nicht, dass er damit wieder einen Leib-Seele-Dualismus einführt. Man könnte die Unterscheidung als Ausdruck oder Gleichnis verstehen, um den sich als Kampf der Triebe gegeneinander und größtenteils unbewusst abspielenden Prozess des Denkens zu erklären, den Nietzsche von MA bis FW beschreibt. Im Unterschied zu den früheren Werken wird in Z der kämpferische und mitunter zum Frieden kommende Prozess des Denkens als Kampf zwischen dem, der befiehlt, und dem, der gehorcht, geschildert. Darauf baut Nietzsche sein Konzept des Willens zur Macht und später in GM das Paradigma der

 Neben dem Verweis auf das Johannes-Evangelium ist auch der griechische Begriff des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον (zōon logon ekhon), als animal rationale einzubeziehen.

10.3 Der schaffende Leib und seine Werk- und Spielzeuge

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Herren- und Sklavenmoral. Das Selbst und das Ich, die große und die kleine Vernunft, der Leib und der Geist oder die Seele sind nur Relationsbegriffe: Begriffe also, die ausschließlich in einem vielfältigen, wechselseitigen Zusammenhang Sinn ergeben. Was die Rolle der kleinen Vernunft in diesem Zusammenhang betrifft, bleibt sie, wie am exemplarischen Fall von M 119 erörtert, im schopenhauerschen Sinne ein Mittel der Instinkte. Neu dabei ist aber die Einsicht, dass auch der Sinn neben dem Geist ein Werkzeug der großen Vernunft des Leibes ist: „Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst.“ (Z, KSA 4.39) Nicht zufällig betrachtet Nietzsche den Geist und die Sinne als Werk- und Spielzeuge der großen Vernunft des Leibes: Sie sind die wirksamsten Mittel, durch die der Mensch die Wahrheit oder die Illusion bilden kann, die es ihm ermöglicht, sich im Leben zu erhalten und zu steigern. Illusionen sind daher nicht nur Sinnestäuschungen, sondern auch Täuschungen der Vernunft. Gefühle und Gedanken sind auf den Leib angewiesen und dienen sogar seinen Zwecken: Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. „Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich’s und der Einbläser seiner Begriffe.“ Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Schmerz!“ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu eben soll es denken. Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Lust!“ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich freue – und dazu eben soll es denken. (Z, KSA 4.40)

Nietzsche geht also davon aus, dass das Selbst „das Gängelband des Ich’s und der Einbläser seiner Begriffe“ oder, nach M 119, „der Souffleur“ der kleinen Vernunft ist. Über seine Bemerkungen in M und FW hinaus behauptet er, dass der Geist wie auch die Wertschätzungen und Gefühle ein Produkt des Leibes sind: „Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.“ (Z, KSA 4.40) Selbst wenn der Leib auch ohne Geist schöpferisch ist, kann er nicht auf den Geist verzichten, wenn er sich die Welt nach menschlichem Maßstab zurechtmachen will. Dass der Geist als „Hand des Willens“ geschaffen wird, ist der unwiderlegbare Hinweis, dass der Geist das einzige und unverzichtbare Mittel ist, das dem Leib zur Steigerung der Kräfte verhelfen und den Willen mächtiger machen kann. Nur durch den Geist vermag der Leib die Welt zu interpretieren und sie, im weitesten Sinn des Wortes, zu „manipulieren“: „Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich’s Beherrscher.“ (Z, KSA 4.39 f.) Um besser zu begreifen, was Nietzsche unter „Geist“ versteht, ist die Rede „Von der schenkenden Tugend“ besonders hilfreich: Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: „Alles für mich.“ Aufwärts fliegt unser Sinn: so ist er ein Gleichniss unsres Leibes, einer Erhöhung Gleichniss.

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

Solcher Erhöhungen Gleichnisse sind die Namen der Tugenden. Also geht der Leib durch die Geschichte, ein Werdender und ein Kämpfender. Und der Geist – was ist er ihm? Seiner Kämpfe und Siege Herold, Genoss und Wiederhall. Gleichnisse sind alle Namen von Gut und Böse: sie sprechen nicht aus, sie winken nur. Ein Thor, welcher von ihnen Wissen will! Achtet mir, meine Brüder, auf jede Stunde, wo euer Geist in Gleichnissen reden will: da ist der Ursprung eurer Tugend. Erhöht ist da euer Leib und auferstanden; mit seiner Wonne entzückt er den Geist, dass er Schöpfer wird und Schätzer und Liebender und aller Dinge Wohlthäter. (Z, KSA 4.98 f.)

Unmittelbar fällt das Wort „Sinn“ auf. Es ist uns bereits dreimal begegnet: zunächst in Bezug auf den Übermenschen, der „der Sinn der Erde“ ist; zweitens in Bezug auf den Leib: Er ist „eine Vielheit mit Einem Sinne“; drittens im Plural bezogen auf den Leib: „Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne“. Im letzten Fall scheint die Bedeutung des Wortes deutlich, bei den beiden anderen Fällen lässt sich über dessen Bedeutung streiten. Der Übermensch könnte etwa die Bedeutung der Erde, deren Ziel, Zweck oder Wert sein. Was könnte außerdem mit den Worten Zarathustras gemeint sein: „Aufwärts fliegt unser Sinn: so ist er ein Gleichniss unsres Leibes, einer Erhöhung Gleichniss“? Was bedeutet hier „Sinn“? Wenn der Sinn ein Gleichnis für den Leib ist, könnte er lediglich die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung bezeichnen. Stattdessen ist jedoch unser Bewusstsein oder unsere Sinnesart gemeint. Interessant dabei ist, dass das Wort „Sinn“ auf den Geist hinweist. Der aufwärts fliegende Sinn ist ein Gleichnis für die Erhöhung des Leibes. Der Leib „erhöht“ sich aber auch, wenn der Geist in Gleichnissen reden will. Dies geschieht laut Zarathustra, indem der Leib „mit seiner Wonne den Geist entzückt, dass er Schöpfer wird und Schätzer und Liebender und aller Dinge Wohlthäter.“ In dieser grundlegenden Aussage Zarathustras liegt Nietzsches neue Be- und Aufwertung des Leibes. Wenn man die Stelle mit der Etymologie des Wortes „Geist“ und dem verbindet, was Nietzsche über den Schmerz in FW sagt, stößt man auf überraschende Ergebnisse. Geist bedeutet etymologisch, im Mittelhochdeutsch, „Erregung, Ergriffenheit“ oder im gesteigerten Sinne „Ekstase“. Indem der Leib „mit seiner Wonne den Geist entzückt“, regt er ihn an, inspiriert ihn. So entwickelt sich ein lebhaftes Interesse für die Welt und das Leben. Der Leib ist begeistert, und, aus diesem Überschuss an Kräften, in diesen erhöhten Zustand versetzt, wird die kleine Vernunft des Leibes „Schöpfer und Schätzer und Liebender und aller Dinge Wohlthäter.“ Das Personalpronomen „er“ könnte aber auch auf den Leib hinweisen. In diesem Fall wäre ein freudig erregter Leib begeistert, in seinen Kräften gesteigert und infolgedessen ein schaffender Leib.¹³² Er fragt sich nach dem Grund seines Leidens, interpretiert die Welt so, dass sein Leben lebenswert wird. Durch den Geist sucht der Leib nach einem Weg und Sinn, um sich mehr freuen zu können und

 Dies lässt sich auch belegen an einer Stelle in EH mit Bezug auf Z: „— die Muskel-Behendheit war bei mir immer am grössten, wenn die schöpferische Kraft am reichsten floss. Der Leib ist begeistert: lassen wir die „Seele“ aus dem Spiele …“ (EH, Z 4, KSA 6.341)

10.3 Der schaffende Leib und seine Werk- und Spielzeuge

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nicht mehr zu leiden. Er verklärt also das Leben und die Welt: Er verleiht ihnen Schönheit. „Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass sie aus eurem Borne zurückströmen sollen als die Gaben eurer Liebe.“ (Z, KSA 4.98) Nur durch den Geist vermag die große Vernunft bzw. das Selbst zu erreichen, was sie bzw. es am meisten will: „— über sich hinaus zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst.“ (Z, KSA 4.40) Die geistige Erhöhung des Leibes ist ein Über-sich-hinausSchaffen und, nach den Worten Zarathustras, zugleich eine Auferstehung. Jede neue Geburt setzt eine Reinigung voraus. Der Geist ist für den Leib unentbehrlich, damit er sich reinigen und damit erhöhen kann: „Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die Seele fröhlich.“ (Z, KSA 4.100) Wovon aber soll der Leib sich reinigen? Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück – ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn! Hundertfältig verflog und vergriff sich bisher so Geist wie Tugend. Ach, in unserm Leibe wohnt jetzt noch all dieser Wahn und Fehlgriff: Leib und Wille ist er da geworden. Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tugend. Ja, ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und Irrthum ist an uns Leib geworden! Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein. Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und über der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn. Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein! (Z, KSA 4.100)

Der Leib will sich vom Unwissen und Irrtum befreien, die ihn bisher bestimmt haben. Er will den über ihn bisher dominierenden Unsinn, den „Ohne-Sinn“, in einen „Menschen-Sinn“ umwandeln, indem er sich in den produktiven Zustand der Begeisterung versetzt. Dieser Zustand ist nicht mehr, wie etwa bei Schopenhauer, ein Zustand der Kontemplation, in dem das absolute Subjekt das absolute Objekt der Erkenntnis betrachtet. Bei Nietzsche handelt es sich um den schöpferischen Zustand par excellence. Der Leib geht über sich hinaus, weil er über sich hinausschaffen will. Er will der Erde neue Werte und einen neuen Sinn, den „Menschen-Sinn“ zusprechen. Der Mensch erlöst sich vom Leiden nicht dadurch, dass er das Wesen der Welt ästhetisch betrachtet, sondern indem er die Welt und das Leben ästhetisch umformt, verklärt. Er beglückt sich durch sein Schaffen und rechtfertigt dadurch sein Leben: „Schaffen: das ist die grosse Erlösung vom Leiden und des Lebens Leichtwerden.“ (Z, KSA 4.110) Vor diesem Hintergrund lässt sich die Sensualität des Künstlers nicht mehr verurteilen. Die Sensualität ist kein rein physiologischer Rauschzustand. Es geht um die psychologische und philosophische Perzeptibilität, die dem Künstler zur Schöpfung eines Kunstwerks verhilft, das seinerseits den Betrachter begeistern und ihn infolgedessen in einen schöpferischen Geisteszustand versetzen kann. Nietzsche will bewusst reizen, herausfordern, Wirkungen erzielen. Wie sollen wir aber den Leib anse-

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

hen? Ist er mit dem Selbst gleichzusetzen? Oder muss man sie voneinander trennen? Das ist eine vexata questio in der Nietzsche-Forschung, den Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes. Es ist zunächst zu beachten, dass Nietzsche den Leib nicht unter die Lupe der Biologie oder anderer Einzelwissenschaften nimmt. Er betrachtet den Leib nicht als Organismus, Körper oder Nervensystem, und daher kann man auch nicht von Naturalismus, Biologismus oder einer Organismus-Ontologie sprechen. Stattdessen könnte man das Selbst als „Selbst des menschlichen Leibes“ oder als „das leibliche Selbst“ ¹³³ begreifen. Das Selbst ist jene sinnerfindende Funktion, die dem kognitiven und vor-kognitiven Chaos jeweils eine Richtung gibt, damit sich der Leib als Individuum oder als „individuelle Leiblichkeit“ erkennen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint das Selbst bzw. der Leib als „Leib-Organisation“, als Polarität von Kräften, als hochkomplexes und dynamisches Wechselspiel und Zusammenwirken vieler verschiedener Prozesse von Kräften, die jeweils auf ein Ziel ausgerichtet sind und das Wachstum von Machtgefühlen¹³⁴ anstreben. Auch wenn wir uns nur durch die „kleine Vernunft“, den Geist, einen Zugang zu uns selbst verschaffen, vermittelt der Geist uns keine absolute Wahrheit: Er bildet nach Nietzsche Illusionen, er ist Meister der Verstellung. Auch hier gilt, dass es einen von vornherein feststehenden Sinn nicht gibt. Er ergibt sich aus der Reaktion des Leibes auf gesellschaftliche, soziale und kulturelle Prozesse oder Herausforderungen, in die er ständig involviert ist. Wenn der Mensch nicht allen denkbaren Herausforderungen ausgesetzt bleiben und nicht dauernd sein Dasein aufs Spiel setzen will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein selbst geschaffenes Spiel zu spielen.

10.4 Der Mensch als der Schätzende und der Wille zur Macht Am Leitfaden des begeisterten, schaffenden Leibes erklärt Nietzsche den Schaffensprozess als Prozess der Wertsetzung. Wie aber kommt ein solcher Prozess zu Stande? Das stetige Vergleichen, Bezwingen, Erobern und Zerstören des Selbst wird in Z nicht bloß physiologisch gedeutet. Obwohl Zarathustra sagt, „der Geist ist ein Magen“ (Z, KSA 4.258), versucht Nietzsche über den physiologischen und psychologischen Sinn der Interpretation hinauszugehen, um auch über einen kulturellen und hermeneutischen Sinn nachzudenken. Wie gezeigt, ist der Geschmack nach Nietzsche die philosophische Eigenschaft schlechthin. In PHG bezeichnet er „die eigenthümliche Kunst des Philosophen“ als „ein scharfes Herausmerken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden“ (PHG, KSA 1.816), und in VM 170 betont er, dass die Griechen „den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Mann des Geschmacks bedeutet, und  Vgl. Günter Abel, „Bewußtsein – Sprache – Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes“, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 1– 43.  In einer Nachlassstelle von 1888, die die Überschrift „Der Wille zur Macht als Leben“ trägt, nennt Nietzsche den Organismus einen „nach Wachsthum von Machtgefühlen ringende[n] Complex von Systemen“ (NL 14[174], KSA 13.362).

10.4 Der Mensch als der Schätzende und der Wille zur Macht

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Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu „Geschmack“ (Sophia) benannten“ (VM, KSA 2.449). In Z bringt Nietzsche die Selbstbezüglichkeit und die Spannung zum Ausdruck, die diese künstlerische und erkennende Eigenschaft auszeichnet. „Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wagschale und Wägender; und wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und Wägende leben wollte!“ (Z, KSA 4.150 f.) Die von Zarathustra geschilderte „Dreifaltigkeit“ des Geschmacks bzw. Schmeckens verweist unmittelbar auf die „Dreifaltigkeit“ des Leibes und zwar auf den Streit zwischen Leib, Selbst und Ich. Nietzsche begnügt sich aber nicht damit, nur den Geschmack am Leitfaden des Leibes zu erklären. Er deutet das ganze Leben als Interpretationsvorgang, also als „Streit um Geschmack und Schmecken.“ (Z, KSA 4.150) Wozu benötigt der Mensch Werte? Warum hat er sie nötig? Will er mit der Wertschätzung den Streit um Geschmack und Schmecken beilegen? In „Von der SelbstÜberwindung“ heißt es, dass das, was die Menschen bzw. die Weisesten „treibt und brünstig macht“ (Z, KSA 4.146), der „Wille zur Wahrheit“ sei. Zarathustra erläutert, dass es um den „Willen zur Denkbarkeit alles Seienden“ geht: „Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will’s euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.“ Erkenntnis von und Wille zur Wahrheit sind tatsächlich Wertschätzung von und Wille zur Zeugung. Eben das ist aber für Zarathustra nichts anderes als Wille zur Macht: „Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen.“ In „Von tausend und Einem Ziele“ bringt Zarathustra den dichten wie vieldeutigen Zusammenhang zwischen Schaffen und Schätzen zum Ausdruck: Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich „Mensch“, das ist: der Schätzende. Schätzen ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden! Wandel der Werthe, – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss. Schaffende waren erst Völker und spät erst Einzelne; wahrlich, der Einzelne selber ist noch die jüngste Schöpfung. Völker hängten sich einst eine Tafel des Guten über sich. Liebe, die herrschen will, und Liebe, die gehorchen will, erschufen sich zusammen solche Tafeln. (Z, KSA 4.75)

Die Schöpfung wird also als Kennzeichen des Menschen ausgelegt, das mit der Vernichtung einhergeht. Sie wird dem Schätzen und der Wertschätzung gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang deutet Nietzsche den Menschen als Schätzenden. Diese Idee hatte er bereits in der Zeit von WS, als den Menschen als den Messenden interpretierte:

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

Der Mensch als der Messende. — Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Maass und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das Wort „Mensch“ bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner grössten Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmessbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen. (WS, KSA 2.554)

Schon hier erweist sich der Seelenzustand der Aufregung, Ergriffenheit und Begeisterung als schöpferischer. Es taucht auch die Ambivalenz der Wertschätzung auf. Schätzen ist Schöpfen und Erfinden. Erfinden heißt, durch Forschen und Experimentieren etwas Neues hervorbringen, aber auch, sich etwas Unwahres, Unwirkliches auszudenken, zu fantasieren. Darauf geht der letzte Satz des zitierten Aphorismus ein. Nietzsche stellt in MA den großen Geistern der Zukunft die Aufgabe der Ermittlung „einer alle bisherigen Grade übersteigenden Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlichen Maassstab für ökumenische Ziele“ (MA, KSA 2.46) und deutet gleichzeitig den Menschen als Messenden, weil er die Erkenntnis der Bedingungen der Kultur erlangen muss, um den wissenschaftlichen Maßstab für ökumenische Ziele zu bestimmen. In Z ist dieser normative Anspruch überwunden und ersetzt durch das experimentelle Leben. Der Mensch ist also nicht der Messende, sondern der Schätzende, der alles ohne exaktes Messen, nur auf individuelle Erfahrung gestützt, näherungsweise bestimmt und nicht den gleichen Wert auf alles legt. Er versucht, einen Sinn, einen „Menschen-Sinn“ in die Dinge hineinzulegen. Es zeigt sich erneut, was schon in M 119 deutlich wurde: „Erleben ist Erdichten“. Die Schöpfung ist keine creatio ex nihilo, sondern die Formung und die Organisation einer bereits bestehenden „Materie“. Während es sich in MA um die Umdeutung und Neuinterpretation der Tradition handelt (vgl. den Aphorismus „Die Revolution in der Poesie“), besteht die Schöpfung ab Z in der Vernichtung der alten Werte und deren Ersetzung durch das Hervorbringen einer einheitlichen Form, die aus dem inneren Chaos des Genies hervorgeht. Die Schöpfung ist somit zugleich eine andauernde, nach einem Sinn gerichtete Organisation des inneren Chaos, die jeder vollzieht, der sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt. Sie besteht darin, einer Vielheit eine Form und damit einen Sinn zuzusprechen: was gut und böse ist, das weiss noch Niemand: – es sei denn der Schaffende! — Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst schafft es, dass Etwas gut und böse ist. (Z, KSA 4.246 f.)

In Z bedeutet das Schöpfen aber nicht nur Ordnen, Umschaffen, Umdeuten, Auslegen, Zurechtmachen, sondern auch Über-sich-hinaus-Schaffen. Gerade dadurch kommt die Sinnerfindung zustande. Die große Vernunft des Leibes braucht die kleine Vernunft bzw. den Geist, um zu planen, was sie entwickeln und erreichen will. Zu diesem Plan gehören hauptsächlich die Kräfte, diejenigen Werte und Vorstellungen auszudenken, die dem Leben eine lebensdienliche Bedeutung verleihen, die das Leben begehrenswert machen. Nietzsche betont im oben zitierten Aphorismus: „Mit diesen Vorstel-

10.5 „Der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“

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lungen stiegen sie [die Menschen] in Bereiche hinauf, die ganz unmessbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen.“ (WS, KSA 2.554) Dies lässt sich am Beispiel des Aphorismus 355 aus dem fünften Buch der FW verdeutlichen. Hier geht es Nietzsche um den Erkenntnisprozess. Er geht von der Frage aus: „was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es, wenn es „Erkenntniss“ will?“ (FW, KSA 3.593) Die Antwort lautet: „etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden.“ (FW, KSA 3.594) Auch die Philosophen scheinen nach Nietzsche keine andere Antwort als die des Volkes zu haben. Hinter der Erkenntnis verbirgt sich ein „Sicherheitsgefühl“. Das Bedürfnis nach Erkennen ist „eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, fragwürdigen Etwas aufzudecken, dass uns nicht mehr beunruhigt“. Das Bekannte ist nicht eine „Tatsache des Bewusstseins“, „der inneren Welt“, es ist nicht einmal als Objekt zu nehmen, wie es bei den „natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente – unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte —“ der Fall ist. „Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu „erkennen“, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als „ausser uns“ zu sehn …“ Vor diesem Hintergrund lässt sich am Leitfaden des Leibes die Ambivalenz der Erfindung und die Vieldeutigkeit des Sinns erklären und eine neue Bedeutung daraus gewinnen: die interpretatorische. Es geht genauer um die hermeneutische Stellung des Leibes. Es ist der Leib und zwar das Selbst, der bzw. das die Welt nach seinen Bedürfnissen und Gefühlen, seinem Für und Wider, seinem Willen zur Macht interpretiert.¹³⁵

10.5 „Der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“ Will man den Willen zur Macht, den Willen zur Wahrheit und den Willen zur Zeugung auf eine prägnante Formel bringen, lässt sich wohl keine bessere finden als die folgende: „der Wille zur Macht, – der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.“ (Z, KSA 4.147) Dass Nietzsche den Willen zur Macht als Lebenswillen deutet, heißt nicht, dass er Leben, Leib und Menschen von einem bloß physiologischen Standpunkt auslegen will — im Gegenteil. Zarathustra sagt vom Geist: „Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen“ (Z, KSA 4.134). Das Leben kann also kein bloß physiologischer Prozess sein. Es ist ein hochkomplexer menschlicher Prozess, in dem sich Gehorchen und Befehlen, Vernichten und Schöpfen, Leid und Freude mit dem Ziel der Steigerung der Kräfte abspielen. Leben „opfert sich um Macht“ und ist das, „was sich immer selber überwinden muss.“ (Z, KSA 4.148) Dass es sich dabei um einen geistigen Prozess handelt, zeigt sich dadurch, dass Leben

 Der Wille zur Macht ist „auch in seiner größten Reichweite nichts anderes als eine Selbstauslegung des Menschen“ (Volker Gerhardt, „Art. Wille zur Macht“, in: Henning Ottmann (Hg.), NietzscheHandbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2000, S. 351– 355, S. 354).

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

„Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch“. Daher ist der Wille zur Zeugung „Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren,Vielfacheren“. Das als notwendiger Prozess der Zwecksetzung resultierende Leben hat Nietzsche zweifelsohne aus seiner Auffassung vom Menschen als Schätzenden bzw. als das zwecksetzende, sinnbedürftige Tier abgeleitet. Leben ist also, wie in der Nietzsche-Forschung bekannt ist, ein Interpretationsvorgang. Von Belang ist an dieser Stelle ein nachgelassenes Notat aus dem Winter 1883/84: Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang, heißen wir „Leben“. Zu diesem Ernährungs-Vorgang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles sogenannte Fühlen, Vorstellen, Denken, d. h. 1) ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte 2) ein Zurechtmachen derselben nach Gestalten und Rhythmen 3) ein Abschätzen in Bezug auf Einverleibung oder Abscheidung. (NL 24[14], KSA 10.650 f.)

Dem als Interpretationsvorgang aufgefassten Leben kommt eine ästhetische Bedeutung zu. Nietzsche sagt durch Zarathustra: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in’s Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen.“ (Z, KSA 4.152) Das Leben ist insofern Aneignung, ein Versuch, sich selbst und die Welt denkbar und lebenswert zu machen. Ist Schönheit das Erscheinen der Macht, dann ist der Interpretationsprozess als Verklärungsprozess zu verstehen d. h. als Sinnerfindenden Prozess unter Lebensbedingungen. Z ist daher ein Werk, das unter der Perspektive der Kunst auszulegen ist: „Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als „Verewigen““ (NL 7[54], KSA 12.313) — aber auch als lebensdienliche Lüge. In diesem Zusammenhang gewinnen der Übermensch und die ewige Wiederkehr des Gleichen an Bedeutung. Da die alten Werte unbrauchbar geworden sind, hat Nietzsche versucht, der Menschheit nicht bloß neue Werte, sondern einen neuen Sinnhorizont¹³⁶ zu  Die Notwendigkeit, einen Horizont zu bauen, in den man das Leben und das Handeln einbeziehen kann, so dass ihnen einen Sinn zukommt, durchzieht Nietzsches Philosophie. Hier nochmals die Textstellen, die diese Einsicht Nietzsches vergegenwärtigen: In GT wird durch die Verklärung ein lebensförderndes Lebensbild zustande gebracht, um dem Werden den Charakter des Seins aufzudrücken. Zu diesem Zweck greift man auf den Mythos zurück: „Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist.“ (GT, KSA 1.148) In der zweiten UB schreibt Nietzsche: „Ein gewisses Uebermaass von Historie vermag das Alles, wir haben es gesehen: und zwar dadurch, dass sie dem Menschen durch fortwährendes Verschieben der Horizont-Perspektiven, durch Beseitigung einer umhüllenden Atmosphäre nicht mehr erlaubt, unhistorisch zu empfinden und zu handeln. Er zieht sich dann aus der Unendlichkeit des Horizontes auf sich selbst, in den kleinsten egoistischen Bezirk zurück und muss darin verdorren und trocken werden: wahrscheinlich bringt er es zur Klugheit: nie zur Weisheit.“ (HL, KSA 1.323) Er fährt weniger später fort: „Mit dem Worte „das Unhistorische“ bezeichne ich die Kunst

10.5 „Der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“

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schaffen, vor dem der Mensch sein schöpferisches Potential frei einsetzen kann: „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht.“ (NL 7[54], KSA 12.312) Dass es sich dabei um Erfindungen handelt, deren Ziel die Überwindung des Lebens als sinnloses Werden und Vergehen ist und die es demnach als sinnvoll erscheinen lassen, lässt sich durch eine vielzitierte Nachlassstelle von 1885 bestätigen: „Die Vergröberung als Grundmittel, um Wiederkehr, identische Fälle erscheinen zu lassen; bevor also „gedacht“ wurde, muß schon gedichtet worden sein, der formende Sinn ist ursprünglicher als der „denkende““ (NL 40[17], KSA 11.636). Das ist eine Leistung der „Leib-Organisation“. Der höchste Wille zur Macht ist derjenige Wille, dessen Grundzug der formende und vereinfachende Sinn ist. Somit ist die ewige Wiederkunft eine Machtäußerung, durch die der Philosoph sein „Herrenrecht“ gewinnt.¹³⁷ Übermensch und ewige Wiederkunft des Gleichen sind Gestaltungen, Gleichnisse, die auf den Willen zur Macht ihres Schöpfers hinweisen. Sie sind auf Nietzsches Absicht zurückzuführen, den unerschöpflich zeugenden Lebenswillen unter nicht metaphysischen Bedingungen der Menschheit anthropologisch und historisch zu deuten.

und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen; „überhistorisch“ nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion. Die Wissenschaft – denn sie ist es, die von Giften reden würde – sieht in jener Kraft, in diesen Mächten gegnerische Mächte und Kräfte; denn sie hält nur die Betrachtung der Dinge für die wahre und richtige, also für die wissenschaftliche Betrachtung, welche überall ein Gewordnes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges sieht; sie lebt in einem innerlichen Widerspruche ebenso gegen die aeternisirenden Mächte der Kunst und Religion, als sie das Vergessen, den Tod des Wissens, hasst, als sie alle Horizont-Umschränkungen aufzuheben sucht und den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens hineinwirft.“ (HL, KSA 1.330) Der späte Nietzsche legt die jugendlich-metaphysischen Ansprüche ab. Für ihn ist die Kunst nicht mehr metaphysisch zu verstehen. Sie ermöglicht es dem Philosophen, eine Hypothese aufzustellen, eine Perspektive zu entwickeln und mit ihr zu experimentieren bzw. sie auf die Probe zu stellen, um herauszufinden, inwiefern die Perspektive oder der Horizont als Lebensbedingung geeignet ist. „Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die „Natur“ in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, – welche die Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. „Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst“ – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder „kategorisch“ ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das „sonst“ – ), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier „Mensch“, an den Menschen.“ (JGB, KSA 5.109 f.)  „Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen „das ist das und das“, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.“ (GM, KSA 5.259)

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

10.6 Der befreiende Wille: Freiheit und Zeitlichkeit Auf Basis der bisher behandelten Themen hat sich die ausschlaggebende Rolle des Willens im Zarathustra herausgestellt. Wille ist immer Wille zur Macht, ist Wille zur Denkbarkeit der Welt und des Daseins, zur Schöpfung neuer Werte, zur Erfindung des Sinns des Lebens, zur Erzeugung der Kultur. Der Wille zur Macht als unerschöpflich zeugender Wille macht auch „das Wesen“ des Lebens aus. Wie sich zeigen wird, liegt dem Willen zur Macht nicht nur eine schöpferische, verklärende, sondern auch eine befreiende Kraft zugrunde: Wollen befreit. Der Wille zielt auf die Steigerung der Kräfte und auf Macht, weil er die Freiheit anstrebt. In „Auf den glückseligen Inseln“, in einem begeisterten Zustand versetzt, sagt Zarathustra: „Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit – so lehrt sie euch Zarathustra.“ (Z, KSA 4.111) Damit der Wille aber befreiend wird, muss er sich selbst befreien. Dazu muss sich der Geist mehrfach verwandeln: Der Wille wird befreiend erst am Ende des Verwandlungsprozesses des Geistes, genauer nach den drei Verwandlungen des Geistes, die Zarathustra in seiner ersten Rede schildert: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ (Z, KSA 4.29) Das Kamel ist „das lastbare Thier“, dessen Geist sagt: „Du sollst“. Der Geist, der sich Freiheit erbeuten und Herr in seiner eigenen Wüste sein will (Z, KSA 4.30), wird zum Löwen: „Der Geist des Löwen sagt „Ich will“.“ (Z, KSA 4.30) „Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.“ In der letzten Verwandlung wird der Geist vom „raubenden Löwen“ zum Kind. Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene. (Z, KSA 4.31)

Während der Löwe durch seine Macht „Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen“ (Z, KSA 4.30) vermag, kann das Kind „neue Werthe schaffen“. Das Kind symbolisiert einen Ja-Sagenden, einen seinen eigenen Willen und seine selbstgeschaffene Welt wollenden Geist. Das Kind ist ein freier Geist, es ist der Schaffende. Inwiefern lässt sich hier aber von Freiheit sprechen? Diese Frage ist berechtigt, weil man bei Nietzsche weder von einer absoluten Wahrheit noch von absoluten Werten oder einem absoluten Sinn des Lebens sprechen kann und dementsprechend auch nicht die Rede von einer absoluten Freiheit ist. Die dreifache Verwandlung des Geistes verweist auf die dreifache innere Verwandlung des Menschen, die Nietzsche in MA 272, „Jahresringe der individuellen Cultur“, geschildert hat. In diesem Aphorismus untersucht er, mit Berufung auf die Dreistadientheorie von Comte, die innere Entwicklung des Lebens des Menschen und deutet die Stadien dieser Entwicklung als religiös, künstlerisch und wissenschaftlich. Im Zarathustra spricht er nicht mehr von einer Entwicklung, sondern von einer Ver-

10.6 Der befreiende Wille: Freiheit und Zeitlichkeit

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wandlung, die sich als Befreiung und Freiheit des Geistes bzw. des Willens ergibt. Es geht Nietzsche, wie schon für M gezeigt, nicht um eine rationale, wissenschaftliche Erschließung des Wesens der Welt und des Lebens, sondern um eine Sinnerfindung, die er in Z dem Willen zuspricht. Aufs Ganze gesehen, setzt Freiheit Selbstdisziplinierung und Leiden¹³⁸ voraus. Zudem ist nicht zu verkennen, dass sich der Geist nicht dadurch verwandelt, dass er neue Einsichten oder ein höheres Bewusstsein oder Gewissen erreicht, sondern dadurch, dass er einen immer stärkeren schaffenden Willen gewinnt. Was sich zuerst verwandelt, ist der Wille. Der Geist verwandelt sich nur aufgrund der Verwandlung des Willens. Das entspricht der Leibauffassung in Z: „Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.“ (Z, KSA 4.40) Anders gesagt, steuert im Lebensvollzug nicht der Geist, sondern der Wille, weil er Ziele und Zwecke setzen kann.¹³⁹ Er ist ein zwecksetzendes Vermögen.¹⁴⁰ Nietzsche betont es zwar nur wenig, aber es ist nicht zu übersehen, dass im Lebensvollzug auch der Geist eine unausweichliche Leistung erbringt. So hält Nietzsche in einem Notat von 1883/84 fest: „Schaffen – als Auswählen und Fertig-Machen des Gewählten. (Bei jedem Willens-akte ist dies das Wesentliche“ (NL 24[5], KSA 10.645). Auch wenn der Wille vielleicht etwas ohne den Geist auszuwählen vermag, kann er beim „Fertig-machen“ doch nicht auf den Geist verzichten. Diese Interdependenz zwischen Wille und Geist bezieht sich auf die oben durchgeführten Überlegungen über die dichtende Vernunft und geht von der in diesem Paragraphen erörterten Verwandlung des Geistes aus. Dass es keine absolute Freiheit gibt, bringt die Konsequenz mit sich, dass sich Freiheit nur als Freiheit von etwas oder zu etwas bestimmen lässt.¹⁴¹ In „Vom Wege des

 „Schaffen – das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden. Aber dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth und viel Verwandelung.“ (Z, KSA 4.110) „Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin.“ (Z, KSA 4.111) „Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen“ (Z, KSA 4.134).  „Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren“ (Z, KSA 4.148).  Vgl. dazu Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 182 ff.  Diese Unterscheidung findet sich bereits bei Kant: Laut ihm dient die Vernunft nicht nur dazu, das Wissen zu lenken, sondern auch zum Handeln. Deshalb befasst sich Kant neben der in der ersten Kritik analysierten theoretischen Vernunft auch mit der praktischen Vernunft, die unser moralisches Verhalten regelt. Die Grundannahme der Kritik der praktischen Vernunft bleibt unverändert: Moral ist nichts, das dem Menschen von außen auferlegt wird, sondern etwas, das in ihm ist. Sie kommt in der Sprache des Gesetzes und der Pflicht zum Ausdruck, jedoch keiner unterdrückenden Pflicht: Kant spricht von einer Moral, die zugleich vom und für den Menschen ist und sich durch Freiheit, Unbedingtheit, Universalität und Notwendigkeit auszeichnet. Kant bemüht sich, mit anderen Worten, beide Konzepte der Freiheit und der Pflicht des moralischen Handelns zu kombinieren, und argumentiert, dass kein Handeln als moralisch bezeichnet werden kann, wenn es nicht das Ergebnis einer freien Wahl ist und im Einklang mit dem ethischen Gesetz steht, das dank der Universalität, die es auszeichnet, jeder als wesentlichen Leitfaden für sein Handeln fühlt. Bei Nietzsche hingegen fehlt diese

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

Schaffenden“ wird das besonders deutlich.¹⁴² Der Schaffende soll in die Vereinsamung gehen, um den Weg zu sich selbst zu suchen. Der Einsame, der seinen Weg geht, gelangt zu sich selbst, wenn er die geerbten Gewohnheiten und Sitten abschüttelt und endlich imstande ist, autonom zu denken und zu handeln. Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes? (Z, KSA 4.81)

Die Autonomie des Schaffenden besteht nicht nur in einer Selbstgesetzgebung, sie ist zugleich die Fähigkeit, sich von alten, nicht mehr brauchbaren Werten zu befreien, so dass sich der Schaffende neue Ziele setzen kann. Das deutet Nietzsche in „Von alten und neuen Tafeln“ an: Ich lehrte sie all mein Dichten und Trachten: in Eins zu dichten und zusammen zu tragen, was Bruchstück ist am Menschen und Räthsel und grauser Zufall, — — als Dichter, Räthselrather und Erlöser des Zufalls lehrte ich sie an der Zukunft schaffen, und Alles, das war —, schaffend zu erlösen. Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles „Es war“ umzuschaffen, bis der Wille spricht: „Aber so wollte ich es! So werde ich’s wollen —“ — Diess hiess ich ihnen Erlösung, Diess allein lehrte ich sie Erlösung heissen. – — (Z, KSA 4.248 f.)

Dieser Befund ist von ausschlaggebender Bedeutung, weil hier auch Nietzsches Zeitbegriff ansetzt. Schaffen ist für Nietzsche in diesem Kontext Umdeutung der Vergangenheit und Profilierung der Zukunft nach dem eigenen Willen. Beide Zeiträume gehen aus wie auch immer gearteten gegenwärtigen Herausforderungen hervor. Die Umdeutung der Vergangenheit zugunsten einer neuen Zukunft, die Nietzsche in der zweiten UB als „unzeitgemäß“ bezeichnete, erweist sich hier als Prozess der Selbstüberwindung bzw. des Über-sich-hinaus-Schaffens. Er ist sowohl dem Übermenschen¹⁴³ als auch dem Leben¹⁴⁴ zu eigen. Aus der Perspektive des sich der Vergröberung als Grundmittel bedienenden formenden Sinnes erscheint das Werden als Zeit. Nietzsche konzipiert die Zeit nicht als Gesamtheit der ablaufenden Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen oder Jahre, auch nicht als „eine abstrakte Folge von Momenten gleichzeitig

transzendentale Dimension, weil, wie sich im Folgenden zeigen wird, jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht.  Die Verbindung des Kindes mit dem Schaffenden ist explizit: „Aber du willst den Weg deiner Trübsal gehen, welches ist der Weg zu dir selber? So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu! Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen?“ (Z, KSA 4.80)  Zarathustra selbst ist „frei von“, denn er ist ein „Löwe“ (Z, KSA 4.408). Nur der Übermensch ist „frei zu“.  „Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.““ (Z, KSA 4.148)

10.6 Der befreiende Wille: Freiheit und Zeitlichkeit

159

ablaufender Ereignisse“.¹⁴⁵ Das Zeitmaß ist nicht das notwendige und regelmäßige Verhältnis von Ursache und Wirkung. Zeit bemisst sich für Nietzsche vielmehr danach, was der Wille sich aneignet „nach dem Reichtum oder der Armut des Sinns, der in ihr erfahren wird“,¹⁴⁶ und zugleich nach der angestrebten Macht, im weitesten Sinne des Wortes. Zeit wird also in Bezug auf Sinn, Erfahrung und Wille bestimmt. Z ist, wie in der Nietzsche-Forschung schon mehrfach festgestellt wurde, von der Vorstellung der „rechten Zeit“ (Z, KSA 4.93) durchdrungen. Bestimmend sind die Erfahrungen des Torwegs, der Intuition der ewigen Wiederkehr, der Verwandlungen des Geistes und des befreienden Willens, der stillsten Stunde, diejenigen Erfahrungen also, nach denen sich der Wille zur Macht einen Sinnzusammenhang schafft, in dem das Werden als Zeit empfunden und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgegliedert wird. Zeiterfahrung und Zeitbestimmung sind somit unbedingt auf Willen zur Macht angewiesen. Aufgrund einer bestimmten Erfahrung, die ein jeder als sinnvoll empfindet, wird eine Vorstellung der Welt und des Daseins erarbeitet, in der sich alles neu und nach einem bestimmten Sinn einfügt.Wenn von Zeit die Rede ist, geht es also nicht um eine wissenschaftliche Auffassung der Wiederkehr,¹⁴⁷ sondern um Zeiterleben, das auf die Hervorbringung eines neuen Sinnzusammenhangs unter bestimmten Lebensbedingungen ausgerichtet ist. Nietzsche zielt dabei nicht auf eine Erneuerung des Vergangenen, sondern auf dessen Auflösung und Überwindung. Die von ihm skizzierte „distensio animi“ strömt, wie bei Augustin, aus der Innerlichkeit des Menschen. Sie ist aber nicht im Transzendenten, sondern im Willen zur Macht, zur Selbstauflösung und Selbstüberwindung verankert. Menschen und Völker streben Selbstgestaltung an, werden zu ihr herausgefordert. Und Selbstgestaltung schließt Selbstauflösung und Selbstüberwindung ein und lässt sich auch durch die Aneignung der Zeit zum Vollzug bringen. Eine solche Vorstellung der Zeit ist daher immanent, individuell und selbstbezogen, bedingt durch bestimmte Lebensbedingungen und, mag es auch paradox er-

 Werner Stegmaier, „Zeit der Vorstellung. Nietzsches Vorstellung der Zeit“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41.2 (1987), S. 202– 228. Stegmaier geht in seinem eindringlichen und maßgebenden Aufsatz von folgender These aus: „Newton hat darum aller Physik eine wirkliche ,absolute‘ Zeit vorausgesetzt, Kant umfassender und zugleich vorsichtiger, aller Erfahrung die ,Vorstellung der Zeit‘ (KrV A 30). ,Ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit‘ (A 37), doch ich kann mir zwar alles durch sie, aber nichts ,unter‘ ihr vorstellen. […] Das Neue an Nietzsches Thematisierung der Zeit ist gerade, dass er nicht so sehr von, der‘ Zeit oder von ,der‘ Vorstellung der Zeit spricht, sondern von Vorstellungen, die ihre Zeit haben. Er macht die Zeit, um die es ihm geht, nicht unmittelbar zum Gegenstand, weil er sie damit schon vergegenständlichen wurde. Stattdessen soll gezeigt werden, dass die Begriffe, die im Zentrum seiner Philosophie stehen, die Begriffe des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen, vom Vorstellen und seiner Zeit handeln“ (S. 203 f.).  Stegmaier, „Zeit der Vorstellung“, S. 207.  Es ist unbedingt zu beachten, dass die zahlreichen Überlegungen über eine wissenschaftliche Charakterisierung der ewigen Wiederkehr nur im Nachlass zu lesen sind. Es ist nicht zu verkennen, dass solche Notizen nicht unabsichtlich Fragmente geblieben sind:Versuche, nicht durchgeführte bzw. gewagte Experimente.

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10 Nietzsches Herausforderung in Also sprach Zarathustra

scheinen, immer nur eine Vorstellung auf Zeit, denn auch sie wird von Nietzsche als Experiment interpretiert.¹⁴⁸ Wie Stegmaier zurecht bemerkt: „Sie hält sich vielmehr im Geflecht ihrer individuellen, unablässig sich wandelnden, „lebendigen“ Bedingungen. Sie hält sich so lange, bis dieser Wandel eine kritische Grenze überschreitet und das Geflecht sein charakteristisches Muster verliert. Nur in einem solchen Muster ist sie überhaupt fassbar. Es spielt sich unter gewissen Randbedingungen ein und verschiebt sich unter veränderten Bedingungen oder löst sich auf, „hält ein“. Ein Muster des Geschehens kennzeichnet insofern eine Epoche.“¹⁴⁹ Nur unter diesen Bedingungen lässt sich von Geschichte reden: „Geschichte ist erfüllte Zeit, Zeit ein Moment der Fülle der Geschichte. Das aber macht es schwer, von ,der‘ Zeit zu reden. In einer rechten Zeit bekommt eine Welt Sinn“,¹⁵⁰ erscheinen eine Welt und ein Dasein als sinnvoll. Eine solche Leistung lässt sich nur durch die Kunst erbringen. Nur durch den formenden Sinn „wird die rechte Zeit zu komplexen Einheiten gestaltet“.¹⁵¹ Dadurch erfährt der Wille zur Macht seine Freiheit. Schließlich ist zu beobachten, dass die Zeit einen existentiellen Charakter hat: Der fortwährende Wechsel von Werden und Vergehen der Augenblicke macht die Zeit aus. Nietzsche interpretiert dieses Wechselspiel der Augenblicke als etwas Wirkendes, das sich immer nur als Widerstreit der Kräfte äußert. Der Augenblick und das Kräftespiel besitzen keine Kraft an sich, keinen vorbestimmten Sinn. Sie sind keine absolute Größe. Sie haben aber Kraft inne in Momenten, in denen der Mensch sich von etwas oder jemanden herausgefordert fühlt, etwas Entscheidendes erfährt und will, solange er es erfährt und will. Dem Augenblick weist Nietzsche eine praktische Bedeutung zu: Er bezeichnet ein entscheidendes, wirkungsvolles und -mächtiges Erlebnis, auf dem Entscheidungen beruhen, die es dem Menschen erlauben, zu versprechen und Verantwortlichkeit zu übernehmen. Von dieser dezidiert unmetaphysischen Perspektive aus ist Zarathustras (und Nietzsches) Erfahrung der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu verstehen. Bei diesem Erlebnis wird eine Entscheidung im Hinblick auf die Aufgabe getroffen. Zeit ist also Zeiterleben: Im Zeiterleben werden Zeit als Zeitlichkeit und Sinn als Lebenssinn erfahren. Zeitlichkeit ist demnach nicht mystisch besetzt als Privatgefühl der Endlichkeit und Vergänglichkeit des irdischen Daseins, sondern zeigt sich als der Charakter von allem, was in einem Sinnhorizont verstanden bzw. verklärt wird. Daher spricht Nietzsche von „der rechten Zeit“: Er bestimmt die Zeit nach Aufgabe, Erlösung, Erlebnis, Experiment, Kunst, Sinn und Willen zur Macht. Dass Nietzsche im Zarathustra dem Willen zur Macht eine solche Schlüsselstellung einräumt, kann daran liegen, dass nach Nietzsche der Wille das rein Individuelle und daher eine Notwendigkeit ist.¹⁵² Er ist das, was das individuelle Leben bedingt. Nur wenn man der Widersprüchlichkeit, Vielfalt und Leidenschaftlichkeit des Lebens     

Vgl. FW, KSA 3.570. Stegmaier, „Zeit der Vorstellung“, S. 211. Stegmaier, „Zeit der Vorstellung“, S. 206. Stegmaier, „Zeit der Vorstellung“, S. 207. Vgl. Z, KSA 4.248.

10.6 Der befreiende Wille: Freiheit und Zeitlichkeit

161

einen Sinn beimessen und ihn realisieren will, kann man tugendhaft und mächtig werden und sich gleichsam angespornt fühlen, neue Gedanken hervorzubringen, um die Sinnerfindung zu verwirklichen. Freiheit wird daher zu einem dynamischen Begriff. Sie ist zudem das Dynamische am Menschen: Sie drückt die Fähigkeit des individuellen Willens zur Macht aus, den Zufall ins Schicksal umzudeuten, zu verklären¹⁵³: Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, und diese Wende aller Noth euch Nothwendigkeit heisst: da ist der Ursprung eurer Tugend. Wahrlich, ein neues Gutes und Böses ist sie! Wahrlich, ein neues tiefes Rauschen und eines neuen Quelles Stimme! Macht ist sie, diese neue Tugend; ein herrschender Gedanke ist sie und um ihn eine kluge Seele: eine goldene Sonne und um sie die Schlange der Erkenntniss. (Z, KSA 4.99)

Vor diesem Hintergrund ergibt sich Zarathustras Aufgabe: „Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall.“ (Z, KSA 4.179) Eine solche Aufgabe fordert alle Kräfte heraus. Einer solchen Herausforderung ist vielleicht nicht einmal Zarathustra, sondern nur der Übermensch — oder die neuen Philosophen — gewachsen, denn Zarathustra ist noch ein brüllender „Löwe“ (Z, KSA 4.408), zu dem „des Übermenschen Schönheit […] als Schatten“ (Z, KSA 4.112) kam.

 Vgl. Z, KSA 4.268 f.

11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse 11.1 Moral als Problem Nach der Publikation des vierten und letzten Buchs von Z nimmt Nietzsche sich vor, die von ihm während der Entstehungszeit von Z entworfenen Gedanken zunächst als Fortsetzung von MA und dann von M auszuarbeiten, bis er sie schließlich unter dem Titel Jenseits von Gut und Böse veröffentlicht. In einer zwischen dem Sommer 1886 und dem Frühjahr 1887 entworfenen Vorrede zu JGB stellt Nietzsche dieses Buch in Kontinuität zu seinem Gesamtwerk und insbesondere zum Zarathustra vor. Er schreibt, dass dieses Buch, wie auch alle anderen, „nur von meinen eigenen Erlebnissen“ redet — „es ist ein Stück meines Hinter-mir.“ (NL 6[4], KSA 12.232 f.) Es gehört „jener räthselreichen Zeit [an], in der „Also sprach Zarathustra“ entstand“. Das sollte aber nicht dazu veranlassen, JGB als „Commentar zu den Reden Zarathustra’s“ zu verstehen, vielleicht aber doch als „eine Art vorläufiges Glossarium, in dem die wichtigsten Begriffs- und Werth-Neuerungen jenes Buchs – eines Ereignisses ohne Vorbild, Beispiel, Gleichniß in aller Litteratur – irgendwo einmal vorkommen und mit Namen genannt sind.“ (NL 6[4], KSA 12.234) JGB kann also nur in gewissem Sinn als Kommentar oder als Glossar zu Z gedeutet werden; laut dem Untertitel ist das Buch vielmehr ein „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“,¹⁵⁴ das die Themen und die Aufgabe von GM vorwegnimmt. Außerdem weist JGB eine gewisse Distanz zu Z auf: So geht insbesondere der Z auszeichnende assertorische Ton in JGB wieder in einen fragenden über. Nietzsche schreibt: „Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen.“ (JGB, KSA 5.15) Nietzsche greift viele der seit MA behandelten Fragen wieder auf. Er betont aber nicht nur, dass „der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato’s Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich“ (JGB, KSA 5.12), und dass aller Dogmatik irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen (JGB, KSA 5.11 f.)

zugrunde liegt. Er stellt hauptsächlich die Frage nach dem Wert der Wahrheit und der Moral:

 Über Nietzsches Zukunftsphilosophie in JGB macht Andreas Urs Sommer, Kommentar zu Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“, Berlin 2016, aufschlussreiche Bemerkungen. Er schildert Nietzsches Ziel neuer Denk- und Schreibformen, neuer Gesetzgebung und neuer Lebensformen. https://doi.org/10.1515/9783110701890-015

11.1 Moral als Problem

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Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich „zur Wahrheit“? – In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? (JGB, KSA 5.15)

Nietzsche inszeniert sich als den Ersten, der in der Geschichte der Philosophie die Moral auf radikale Weise infrage gestellt hat. Die Moral ist für ihn zunächst ein Problem. Exemplarisch wird ihre Problematizität im fünften Hauptstück ausgeführt, in dem Nietzsche der „Naturgeschichte der Moral“ nachgeht. In Aphorismus 186 zeigt er auf, dass die „Moral-Philosophen“ sich mit der Moral als „Wissenschaft“ befassten, denn „sie wollten die Begründung der Moral“ (JGB, KSA 5.105), und sie infolgedessen „in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig“ (JGB, KSA 5.106) waren. Daher bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: – als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen „Wissenschaft der Moral“ fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe.

Obwohl es der Wissenschaft der Moral an Argwohn und Akribie mangelte, glaubten die Moralphilosophen, die Moral begründen zu können, weil sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten — „die Moral selbst aber galt als „gegeben“.“ Nietzsche entlarvt den solcher Begründung zugrundeliegenden Glauben. Hinter der Forderung einer Begründung der Moral verbirgt sich nämlich „nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe“. Als Beispiel nennt Nietzsche Schopenhauer und seine selbstgestellte Aufgabe: „Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer „Wissenschaft“, deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden …“ Schopenhauers Anspruch auf eine Begründung der Moral durch das von ihm als „das eigentliche Fundament der Ethik“ angesehene Prinzip — „der Grundsatz über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva“ — ist nach Nietzsche das, was eigentlich begründet werden soll. Weil die Philosophen die Moral jedoch nicht als problematisch ansahen, lag ihnen „jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung“ fern. Die Methode, die man eigentlich beim Problem der Moral einzusetzen hätte, ist laut Nietzsche die der Vergleichung und Beschreibung vieler Moralen: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehen, − und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, − als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral. (GM, KSA 5.105)

Durch die Forderung einer Beschreibung und eines Vergleichs der Moralen stellt sich Nietzsche der Geschichte der Philosophie und insbesondere Schopenhauer entgegen. Man könnte gar sagen, dass er, gerade indem er sich eine neue und der Schopenhauers entgegengesetzte Aufgabe stellt, vollends Abschied von Schopenhauer und seiner Philosophie nimmt. Die Beschreibung der Moral stützt sich auf die psychologische Methode. Nietzsche greift die Entstehungs- bzw. Naturgeschichte der Moral auf und setzt die Psychologie ein: „Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen.“ (JGB, KSA 5.39) Er sieht sie „als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht“ (JGB, KSA 5.38). Nietzsche strebt also nach einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung und Vivisektion des moralischen Glaubens und von den Gefühlen, Instinkten und Bedürfnissen, die in den moralischen Vorurteilen Ausdruck finden — denn die Moralen sind „eine Zeichensprache der Affekte“ (JGB, KSA 5.107). Unter Naturgeschichte ist also weder ein Verlauf von Ereignissen noch eine rein wissenschaftliche Naturauffassung zu verstehen. Nietzsche hat keine Be-, sondern eine Ergründung der Natur, der Welt und des Menschen im Sinn. Wie Kant, aber mutatis mutandis will Nietzsche eine Antwort auf eine der Urfragen der Philosophie geben: „Was ist der Mensch?“ Er versucht, der Welt und dem Menschen auf den Grund zu gehen, sie zu erforschen, und zielt darauf, sie als „Willen zur Macht“ zu fassen. Auf dieser Basis will Nietzsche die Verhältnisse des Menschen zur Kultur, zur Gesellschaft, zur Welt und zu sich selbst deuten. So zeigt sich sein Forschungsobjekt: „in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist“ (JGB, KSA 5.107), wird „Moral als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen „Leben“ entsteht. —“ (JGB, KSA 5.34). Der philosophische Anspruch auf eine Beschreibung der Moral öffnet einen neuen philosophischen Kontext und führt zu neuen Ergebnissen, wie im Folgenden zu erörtern sein wird. Indem Nietzsche den Wert der Moral hinterfragt, stellt er sich zugleich anderen umstrittenen philosophischen Fragen, nämlich der Frage nach der Rangordnung, der Vernatürlichung des Menschen und des Perspektivismus.

11.2 Die Komplexität des Willens: Wille zur Macht und Leben Um seine Hypothese und seine physiologischen und psychologischen Überlegungen zu untermauern, erarbeitet Nietzsche seinen Begriff des Wollens bzw. Willens. In Aphorismus 19 beschreibt er den Willen auf physiologischer Ebene. Im Gegensatz zu Schopenhauer scheint ihm Wollen vor Allem etwas Compliciertes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist […]: in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl

11.2 Die Komplexität des Willens: Wille zur Macht und Leben

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des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem „weg“ und „hin“ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine“ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen“, sein Spiel beginnt. (JGB, KSA 5.32)

Als „Ingredienzen“ des Willens nennt Nietzsche eine Mehrheit von Gefühlen und „einen commandierenden Gedanken“. Der Wille ist aber „nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s.“ Befehlen geht jedoch mit Gehorchen einher. Ein Vorherrschen des einen oder des anderen spielt sich in jedem Menschen und in jeder Gesellschaft ab. Nietzsche fügt hinzu, dass wir „zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind“ (JGB, KSA 5.32 f.) und dass beide Affekte jeweils von verschiedenen Gefühlen begleitet sind. Bei allem Wollen handelt es sich „schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler „Seelen““ (JGB, KSA 5.33) und auf der Grundlage des Leibes, denn „unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen“. Wie im Zarathustra versucht Nietzsche auch hier, das Leben am Leitfaden des Leibes auszulegen. Er geht von der „Realität“ unserer Triebe aus und versucht so, „unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht“ (JGB, KSA 5.55). Diese Passage ist fundamental. Wille ist Triebleben, und Wille zur Macht ist eine Grundform des Willens, nämlich die „Ausgestaltung und Verzweigung des Trieblebens“. Der entscheidende Begriff ist der der Wirkung. Der Wille kann als „wirklich“ angenommen, kann geglaubt werden, weil er auf andere Willen wirkt. Es entsteht daher ein Ursache-Wirkung-Verhältnis, das es ermöglicht, die resultierenden, miteinander verbundenen Wirkungen als „Wirklichkeit“ und Gesamtheit von Wirkungen zu verstehen. Es ist aber nicht zu verkennen, dass Wille nur auf Wille, nicht auf Stoff wirkt: Es handelt sich dabei um eine „Willens-Wirkung“. Mittels der Fokussierung auf eine besondere Art des Trieblebens des Menschen bzw. auf den Willen zur Macht versucht Nietzsche, sowohl eine mechanistische als auch eine transzendentale und idealistische Lehre zu vermeiden. Gesetzt, „dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht.“ (JGB, KSA 5.55) So könnte man die Welt als Wille zur Macht auslegen: „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben „Wille zur Macht“ und nichts ausserdem.“ Dass sich aus dieser Behauptung Nietzsches Absicht einer ontologischen Interpretation der Welt und des Lebens erschließen lässt, ist ein Trugschluss. Er setzt den Ausdruck „intelligiblen Charakter“ in Anführungszeichen und benutzt überdies den Konjunktiv. Er stellt eine Hypothese auf. Dabei ist eins nicht zu übersehen: Der Wille wird nicht als „causa sui“ gedacht. Ursache und Wirkung sind reine Begriffe, d. h. „conventionelle Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung.“ (JGB, KSA 5.36) Weiterhin ist also

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

jeder Begriff eine Erdichtung.¹⁵⁵ Den Naturforschern, die im Denken naturalisieren und dementsprechend Ursache und Wirkung fehlerhaft verdinglichen, so dass der Natur eine Normativität unterstellt wird, stellt Nietzsche seine philosophische Interpretation entgegen. Er versucht, „die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen“. Dieser Versuch ist nicht nur erlaubt, sondern „vom Gewissen der Methode aus, geboten.“ Er gründet laut Aphorismus 13 auf die logische Methode der Prinzipiensparsamkeit: Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht —: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza’s —). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss. (JGB, KSA 5.27 f.)

Anhand seiner Hypothese, dass die Welt und das Leben Wille zur Macht seien, versucht Nietzsche außerdem, das menschliche Leben als Wille zur Macht zu interpretieren. Er stellt sich dieser Interpretation aus einer physio-psychologischen Perspektive und „nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll“ (JGB, KSA 5.38). Der Erhaltungstrieb ist also nach Nietzsche nicht der Haupttrieb eines Lebewesens. Jedes Lebewesen und insbesondere der Mensch bezweckt stattdessen eine Steigerung der Kräfte. Das wird auch in Aphorismus 44 deutlich: Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in’s Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein „Geist“ – ) unter langem Druck und Zwang sich in’s Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste: – wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte

 Siehe dazu den Aphorismus 21, JGB, KSA 5.35 f.: „Man soll nicht, „Ursache“ und „Wirkung“ fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt – ) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie „wirkt“; man soll sich der „Ursache“, der „Wirkung“ eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung. Im „An-sich“ giebt es nichts von „Causal-Verbänden“, von „Nothwendigkeit“, von „psychologischer Unfreiheit“, da folgt nicht „die Wirkung auf die Ursache“, das regiert kein „Gesetz“. Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese ZeichenWelt als „an sich“ in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch.„

11.3 Das Problem der Rangordnung

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am Menschen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein Gegensatz: – wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so viel sagen, und befinden uns jedenfalls, mit unserm Reden und Schweigen an dieser Stelle, am andern Ende aller modernen Ideologie und HeerdenWünschbarkeit: als deren Antipoden vielleicht? (JGB, KSA 5.61 f.)

Dieser Befund ist von erheblicher Bedeutung. Nietzsche deutet die Erhöhung der Menschheit als geistige Entwicklung: Der Mensch hat sich verfeinert und ist verwegen geworden, weil Härte, Gewaltsamkeit, Gefährlichkeit und Furchtbarkeit des Lebens seinen Geist, seine „Erfindungs- und Verstellungskraft“ lange unterdrückt und gezwungen haben. Ein solcher Prozess wird von Nietzsche ausdrücklich als Steigerung des Lebenswillens zum unbedingten Macht-Willen interpretiert. Leib und Leben sind nach wie vor so eng miteinander verbunden, dass sich ebenso das Leben am Leitfaden des Leibes wie auch der Leib am Leitfaden des Lebens interpretieren lassen. Hier ist Aphorismus 259 relevant: Leben selbst ist Nietzsche zufolge „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung“ (JGB, KSA 5.207). Nietzsche bringt zum Ausdruck, was einen lebendigen und nicht absterbenden Körper kennzeichnet: „er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, – nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist.“ (JGB, KSA 5.208) Infolgedessen nimmt Nietzsche an, dass die Welt „einen „nothwendigen“ und „berechenbaren“ Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht.“ (JGB, KSA 5.37) Diese Behauptung zieht grundlegende Konsequenzen nach sich. Es gibt demnach keine Freiheit oder Unfreiheit des Willens. Tatsächlich handelt es sich „im wirklichen Leben nur um starken und schwachen Willen“ (JGB, KSA 5.36). Auf der Grundlage eines sich auf die Komplexität der verschiedenen Affekte und Gefühle sowie auf die immanente und zwiespältige Komplementarität von Befehlen und Gehorchen stützenden Willens sollte sich der Philosoph laut Nietzsche das Recht nehmen, „Wollen an sich schon unter den Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen „Leben“ entsteht. —“ (JGB, KSA 5.33 f.) Vor diesem Hintergrund erweist sich der Wollende als ein jeder, „der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt“ (JGB, KSA 5.33). Dies verweist auf das Problem der Rangordnung.

11.3 Das Problem der Rangordnung Auf der Grundlage seiner Hypothese und seines Willensbegriffs legt Nietzsche die Moral, die Gesellschaft und die Geschichte aus. Die Moral unterscheidet sich in eine Herren- und eine Sklavenmoral, und die Gesellschaft scheint dementsprechend in zwei Kasten gegliedert zu sein: die Herren und die Sklaven. Auf dem Unterschied von

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

Herren und Sklaven sowie von Herren- und Sklavenmoral gründet die in JGB geforderte „Typenlehre der Moral“. In einer Welt, die Wille zur Macht ist und in der Leben als Aneignungsprozess verstanden wird, erweist sich die Sklaverei und die Ausbeutung als „organische Grundfunktion“ des Lebendigen und als „das Ur-Faktum der Geschichte“ zugleich: Die „Ausbeutung“ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in’s Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. – Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, – als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! – (JGB, KSA 5.208)

Woran unterscheidet sich ein Herr von einem Sklaven? Was ist ihr jeweiliges Merkmal? Anders gefragt: „Was ist vornehm?“ Diesen Fragen widmet sich Nietzsche im letzten Abschnitt von JGB und gibt auf sie vielschichtige Antworten. Er stellt sich ihnen zunächst von einem im weitesten Sinne des Wortes physiologischen Standpunkt. Er erkennt erstens an, dass die Ausbeutung die organische Funktion des Lebendigen ist. Zweitens stellt er einen Vergleich zwischen der organischen Funktion des Lebendigen und dem Ur-Faktum der Geschichte an, um vom Naturgeschehen aus die Geschichte zu interpretieren. In Aphorismus 260 gewinnt Nietzsche eine weitere Perspektive zur physiologischen und historischen Unterscheidung zwischen Herren- und Sklavenmoral: Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und Sklaven-Moral; – ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. (JGB, KSA 5.208)

In diesen Worten kommt unmittelbar zum Ausdruck, dass das Ur-Faktum der Geschichte nicht nur auf das als Wille zur Macht angesehene Leben, sondern auch auf die die Moralen kennzeichnende Grundunterscheidung in Herren- und Sklavenmoral sowie auf den innerhalb der Seele des Menschen sich abspielenden Kampf zwischen Befehlendem und Gehorchendem gründet. Nietzsche versucht Schritt für Schritt, das Geschehen als Geschichte zu deuten. Um die Frage zu beantworten, was vornehm ist, vergegenwärtigen wir den bereits zitierten ikastischen Gedanken: „man muss gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung“ (JGB, KSA 5.207). Nach Nietzsche hat jede höhere Kultur auf der Erde begonnen, indem die barbarischen Völker die zivilisierten unterworfen haben. Dies

11.3 Das Problem der Rangordnung

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geschah erstaunlicherweise dadurch, dass die barbarischen Völker seelisch kräftiger als die zivilisierten waren: „Die vornehme Kaste war im Anfang immer die BarbarenKaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, – es waren die ganzeren Menschen“ (JGB, KSA 5.206).¹⁵⁶ Nietzsche ist der Meinung, „dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen gelegt worden sind“ (JGB, KSA 5.209). In diesem Zusammenhang „[fühlt sich] die vornehme Art Mensch als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt „was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich“, sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend.“ (JGB, KSA 5.209) Nietzsche betont: „— Die Mächtigen sind es, welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfindung.“ (JGB, KSA 5.210) Anders ausgedrückt: „es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen“ (JGB, KSA 5.213). Vornehm sind also die Herren, weil sie erfinderisch, d. h. wertschaffend sind: Darin besteht ihre Macht bzw. ihr Wille zur Macht. Jeder Herr und jedes Volk schafft jeweils verschiedene Werte und Gütertafeln, aus denen sich die Verschiedenheit der Menschen folgern lässt.¹⁵⁷ Zudem nimmt Nietzsche die Rangordnung nicht nur aus einem physiologischen und historischen Gesichtspunkt unter die Lupe, sondern auch aus einer psychologischen Perspektive. Er will feststellen, ob und inwieweit ein Mensch vornehm ist, indem er dessen Seele auslotet und die der Seele zugehörige Rangordnung ans Licht bringt: „Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen“ (JGB, KSA 5.217). Daraus ergibt sich, dass man, um eine Rangordnung aufzustellen, zunächst den Wert und Rang eines Menschen erkennen muss, nämlich „wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte.“ (JGB, KSA 5.146) Durch die Hervorhebung der Rangordnung will Nietzsche sich dem demokratischen Gleichheitsprinzip und dem moralischen Imperativ Kants entgegensetzen und die aus Natur, Geschichte und Seele resultierende Unterschiedlichkeit der Menschen feststellen: „Man muss die Moralen zwingen, sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in’s Gewissen schieben, – bis sie endlich mit einander darüber in’s Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: „was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig“. —“ (JGB, KSA 5.156)

 Eine Anspielung auf die in PHG dargestellten Philosophen ist naheliegend. Der Philosoph steht immer im Hintergrund, die Antike gilt als Ideal.  „Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich […] in der Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit einander uneins sind“ (JGB, KSA 5.115).

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

Die Rangordnung vermittelt außerdem die in der Vergangenheit dominierenden Werte einer Gesellschaft, eines Volkes oder eines Zeitalters. Dies geschieht durch „den sechsten Sinn“ des 19. Jahrhunderts, den „historischen Sinn“ bzw. die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, de[n] „divinatorische Instinkt“ für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte. (JGB, KSA 5.157 f.)

Als divinatorischer Instinkt ist der historische Sinn jener Sinn, durch den man die wirkenden Kräfte auf die Werte bezieht, die das Leben lebenswert machen, und es uns als solcher ermöglicht, Zugänge zu vergangenen Kulturen und Lebensweisen zu schaffen. Durch den historischen Sinn kann man die in der Vergangenheit wirkenden Kräfte erkennen, sie aufeinander und auf die Gegenwart beziehen und dem Chaos der Ereignisse eine einheitliche, sinnstiftende Gestalt verleihen. So lässt sich das Geschehen als wirkendes Relationsgefüge von Willen zur Macht, d. h. als Geschichte interpretieren. Durch die Erkenntnis einer bestimmten Rangordnung strebt Nietzsche ferner nach einem besseren Verständnis seines Zeitalters. Er ist der Meinung, dass man sich in seinem Zeitalter an einem Wendepunkt der Geschichte befindet, an dem sich neue Kräfte zeigen. Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das „Individuum“ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, SelbstErlösung. (JGB, KSA 5.216)

Die alte Moral ist nicht mehr verbindlich, und die Kräfte der Individuen sind „in’s Ungeheure aufgehäuft“, so dass „der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben.“ (JGB, KSA 5.209) Wegen des Zusammenbruchs der alten Moral kehren die Zustände wieder, in denen die Moral ihren Ursprung hatte. Anstelle der nun unbrauchbaren und unverbindlichen Werte treten die vornehmen Individuen wieder hervor. Das Individuum, von dem die Rede ist, ist das Genie bzw. der Philosoph. Die Rangordnung seiner Seele entspricht nach Nietzsche der Hierarchie der höchsten Probleme. Im Hinblick auf die Rangordnung lässt sich also erraten, ob jemand Philosoph ist oder nicht: „Es giebt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme gemäss ist; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein.“ (JGB, KSA 5.148) Mit der Parallele zwischen einer inneren, das Individuum betreffenden und einer äußeren Hierarchie der Werte schlägt Nietzsche eine Brücke zwischen dem Individuum bzw. dem Philosophen und dem Ganzen. Vor diesem Hintergrund offenbart sich Nietzsches Hauptinteresse an der Rangordnung. Er strebt nicht nur nach der physiologischen, psychologischen und historischen Bedeutung der Rangordnung, sondern auch nach einem Interpretationspa-

11.3 Das Problem der Rangordnung

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radigma. Er will die auslegende Kraft und die existentielle Bedeutung der Rangordnung hervorheben. Am Leitfaden der Rangordnung versucht Nietzsche, eine neue Theorie aufzustellen, um die Geschichte neu zu interpretieren und damit zugleich die Lebensbedingungen der Seele des Menschen und vor allem des Philosophen herauszufinden und zu ergründen. „Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht.“ (JGB, KSA 5.222) Der Philosoph fühlt sich also von seinem Leben und seinem Zeitalter zu seiner Aufgabe herausgefordert, er sieht in ihr seine eigentliche Not. Das ist das Erste, was ein Philosoph nötig hat. So stellt Nietzsche die kühne, ja skandalöse These auf: Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, – dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag (JGB, KSA 5.206 f.).

Durch das Paradigma der Rangordnung,von dem JGB durchdrungen ist und auf das es teilweise gründet, zieht Nietzsche, wie bereits Platon in der Politeia an einem exemplarischen Fall, eine Parallele zwischen der Gesellschaft und der Seele des Menschen. Das gemeinsame Merkmal der Gesellschaft und der Seele ist das Pathos der Distanz, dessen existentielle Bedeutung Nietzsche betont: Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst-Überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. (JGB, KSA 5.205)

Das Pathos der Distanz ist der Zustand der Selbstüberwindung, also der gesellschaftliche bzw. existentielle Zustand, der den Menschen in die geistige Lage versetzt, über sich hinauszugehen. Erst dann kann der Mensch schöpferisch werden und über sich hinaus schaffen. Da das Pathos der Distanz das Verlangen nach immer neuer Distanzerweiterung innerhalb der Seele, die fortgesetzte Selbstüberwindung der Menschen und die Herausbildung immer höherer Zustände bildet, erweist es sich als existentieller Zustand der Herausforderung des Menschen bzw. Philosophen an sich

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

selbst und an die Menschheit. An der Wertschöpfung und der Rangordnung der geschöpften Werte misst Nietzsche den Wert eines Menschen und einer Gesellschaft. Nur der Philosoph kann verbindliche Gütertafeln aufstellen, weil er einen anderen Rang als der Durchschnitt der übrigen Menschen besitzt. Außerdem benötigt man einen Maßstab zur Aufstellung einer Rangordnung. Dieser ist nach Nietzsche der Geschmack, der jedoch seinerseits immer subjektiv ist. Damit ist jeder Wert sowie jede Rangordnung subjektiv. Das Teilen der Werte gründet auf das Mitteilen derselben,¹⁵⁸ und die Mitteilbarkeit beruht ihrerseits auf gemeinsamer Erfahrung: „Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben.“ (JGB, KSA 5.221) So lässt sich abschließend die Frage stellen: Wie kann eine Rangordnung zwischen Menschen verschiedener Ränge verstanden und mitgeteilt werden? Die Berechtigung dieser Frage kommt bei Nietzsche durch die Ambivalenz des Wortes „gemein“ zum Ausdruck: Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s Gemeine! – zu kreuzen. (JGB, KSA 5.222)

Die Rangordnung findet bei Nietzsche keine definitive Lösung und bleibt dementsprechend problematisch. Sie repräsentiert Nietzsches eigentliches Problem, wie er 1886 in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von MA schreibt (MA, Vorrede 7, KSA 2.21 f.). Die Unlösbarkeit dieses Problems liegt hauptsächlich darin, dass sich jede Rangordnung einerseits auf den Geschmack stützt, durch den man misst und Werte schafft, und andererseits auf das Individuum, an dem man misst oder das selbst misst. Summa summarum ist jede Rangordnung durch und durch subjektiv, auch wenn sie von vielen Individuen,Völkern oder sogar Zeitaltern akzeptiert und vertreten wird: Sie gründet im homo-mensura-Konzept.¹⁵⁹

 Dem Problem der Mitteilung geht Nietzsche im berühmten Aphorismus 354 von FW nach, den er im 1886 beigefügten fünften Buch veröffentlicht.  Damit ist gemeint, dass die Rangordnung ein Relationsbegriff ist und auch nichts anderes sein kann: „Moral als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen „Leben“ entsteht. —“ (JGB, KSA 5.34). Eine Rangordnung entsteht im Verhältnis zu ihrem Schöpfer, sei er ein Individuum oder ein Volk.

11.4 Das Perspektivische als Grundbedingung des Lebens

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11.4 Das Perspektivische als Grundbedingung des Lebens Der aporetische Charakter der Rangordnung erweist sich auch, wenn man diesem Problem logisch nachgeht. Versucht man, es auf der Ebene der Logik zu lösen, verfällt man wieder in eine Dogmatik, d. h. in die von Nietzsche selbst immer wieder kritisierten Vorurteile der Philosophen. Das Problem ist hingegen durch und durch existentiell. Es geht Nietzsche nicht darum, ein Gesetz ausfindig zu machen, aus dessen Form die Gesamtheit der Normen a priori abzuleiten wäre. Die Wissenschaft kann keine absolute Wahrheit ausfindig machen. Laut Aphorismus 344 aus dem fünften Buch der FW beruht auch die Wissenschaft auf einem Glauben, auf einem unbedingten Willen zur Wahrheit: „es giebt gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft.“ (FW, KSA 3.575) Aus diesem Grund stellt Nietzsche in JGB nicht die Frage: „“wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?““ (JGB, KSA 5.25) Eine derartige Frage sollte durch folgende ersetzt werden: „“warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?““ Laut Nietzsche wäre endlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht „möglich sein“: wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die PerspektivenOptik des Lebens gehört. (JGB, KSA 5.25 f.).

Die Formulierung eines logischen, sinnerfindenden Urteils wird also angesichts der „Perspektiven-Optik des Lebens“ betrachtet. Die Notwendigkeit eines Urteils liegt daher nicht in seiner logischen Schlüssigkeit und Wahrheit oder in seiner bloßen Nützlichkeit. Ein Urteil ist notwendig, wenn es „Daseins-bedingend“ ist (vgl. JGB, KSA 5.215). Ihm kommt eine genuin existentielle Notwendigkeit zu: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt gibt. Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten“ (JGB, KSA 5.53). Daraus lässt sich folgern, was Nietzsche bereits in der Vorrede claris litteris ausgedrückt hat: „das Perspektivische [ist] die Grundbedingung alles Lebens“ (JGB, KSA 5.12). Der perspektivische Charakter des Daseins tritt in den Vordergrund der Philosophie Nietzsches. Wie sich auch aus der 1886 geschriebenen Vorreden zur neuen Auflage seiner Schriften folgern lässt, wird hier das Perspektivische zum epistemologischen und existentiellen Grund aller Erkenntnis. Nietzsche thematisiert dies in Aphorismus 374 von FW exemplarisch und anthropologisch konnotiert: Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte […]. Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. (FW, KSA 3.627)

Wie Nietzsche in einer vielzitierten Nachlassstelle aus dem Jahr 1886 notiert, gibt es keine Tatsachen, nur Interpretationen. Er setzt sich den Positivisten radikal entgegen und behauptet, dass sich kein Faktum an sich feststellen lässt. Es gibt nicht einmal ein „Subjekt“ der Interpretation, das bloß Dichtung, Hypothese, Auslegung ist. Hieraus folgt: Soweit überhaupt das Wort „Erkenntniß“ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne „Perspektivismus“. Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte. (NL 7[60], KSA 12.315)

Hinsichtlich des auf verschiedenen Bedürfnissen beruhenden und daher nicht auf einen Metastandpunkt reduzierbaren perspektivischen Charakters des Lebens¹⁶⁰ betont Nietzsche mehrmals im Laufe seines Spätwerks, dass es dabei um seine Gedanken geht. Er markiert das Possessivpronomen, weil er nicht mit anderen Philosophen verwechselt werden will, aber auch, weil er sich bewusst ist, dass seine Theorie des Lebens als Wille zur Macht nur ein Versuch, eine Hypothese ist,¹⁶¹die auf dem Glauben an die Kausalität des Willens gründet: „so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen.“ (JGB, KSA 5.55) Vor diesem Hintergrund tritt die epistemologische, anthropologische und existentielle Bedeutung des Perspektivismus hervor. Eine Perspektive ist nicht nur eine Raumsicht oder ein Ausblick, sondern auch eine Aussicht — auf die Zukunft. In einer Perspektive richtet der aktiv formgebende Lebenswille alles auf etwas Bestimmtes aus. Das Auge sieht in eine Richtung, es fokussiert sich auf etwas, und alles, was in Betracht kommt, wird zweckmäßig unter einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Aus diesem zweckmäßigen Blickwinkel ist das Sichtbare zu einem Ganzen geordnet. Der Wille spielt dabei die maßgebende Rolle. Der Mensch sieht die Dinge nicht einfach

 Zu Recht hat Claus Zittel gegen die Möglichkeit Stellung bezogen, dass die Perspektivität als Erkenntnisbedingung einen Metastandpunkt einnimmt (Claus Zittel, „Art. Perspektivismus“, in: Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, S. 299 – 301; siehe auch Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, 2. Aufl., Würzburg 2000). Mit Bezug auf Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge 1985, betont er, „dass der Perspektivismus N.s gerade impliziere, keine höheren Standpunkte mehr zuzulassen.“ (S. 300)  In den Notaten nimmt Nietzsche einen assertorischen, in den veröffentlichten Werken einen hypothetischen Ton an. Dass man diesen entscheidenden Aspekt von Nietzsches Denken in der Nietzsche-Forschung unterschätzt oder sogar übersehen und nicht streng zwischen Werk und Nachlaß unterschieden hat, hat zweifelsohne zu Fehlinterpretationen geführt. Zum Beispiel wurde Nietzsche infolgedessen als Naturalist oder Metaphysiker im traditionellen Sinne verstanden.

11.5 Vernatürlichung

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anders, als sie sind: er will sie anders sehen,¹⁶² denn sein Leben ist „gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist“ (JGB 9, KSA 5.21 f.).¹⁶³

11.5 Vernatürlichung Von dieser Hypothese und der Einsicht des Perspektivischen als Grundbedingung des Lebens ausgehend, stellt Nietzsche in JGB die These auf: „Fast Alles, was wir „höhere Cultur“ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; jenes „wilde Thier“ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht.“ (JGB, KSA 5.166) Der Philosoph, „der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist“ (JGB, KSA 5.160), interpretiert die Welt und das Dasein „als Künstler und Verklärer der Grausamkeit“ (JGB, KSA 5.167). Nietzsche schildert den Verklärungs- bzw. Vergeistigungsprozess in zwei Aphorismen. Obwohl er in Aphorismus 3¹⁶⁴ behauptet, dass „das meiste bewusste Denken eines  Aufschlussreich dazu sind Nietzsches Betrachtungen in Z II, Von tausend und Einem Ziele, und GM III 12.  Den existentiellen und kritischen Grundzug des Perspektivismus bei Nietzsche behandelt Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Er geht davon aus, dass der Mensch nach Nietzsche von einem „Sinnbedürfnis“ getragen ist. Der Mensch versucht experimentell, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Denkens und Handelns zu geben. Mit Berufung auf Dilthey, behauptet Kaulbach, dass Nietzsche der überlieferten Idee einer „Objektwahrheit“ eine „Sinnwahrheit“ gegenüberstellt, die nicht auf einem absoluten, allgemeingültigen, objektiven Wissen, sondern auf einer individuellen Sinn-Notwendigkeit beruht. Aus einer derartigen Wahrheit wird eine Weltperspektive hervorgebracht, deren Gültigkeitsanspruch „nicht auf ihre theoretische ,Wahrheit‘, sondern auf ihre Bedeutsamkeit für eine bestimmte Stufe und Verfassung des Lebens gegründet werden darf.“ (S. X) Durch ein experimentelles philosophisches Verfahren wird der „Versuch“ gemacht, eine Weltperspektive philosophisch zu entwerfen, durch die „das Denken die Aufgabe zu erfüllen trachtet, dem ,Leben‘ jeweils in seiner Gegenwart die ihm nötige Welt zu ver-schaffen. Vom Erfolg des Versuches hängt es ab, ob das Leben gelingt oder nicht.“ Weiter betont Kaulbach die entscheidende Rolle der Vernunft bei Nietzsche in der Schöpfung einer Sinnwahrheit. Der Mensch kann durch eine „ästhetische“ bzw. „dionysische Vernunft“ seine Grenzen ständig überschreiten. Daher kann er eine Überlegenheit über die jeweils aufgebaute Perspektive gewinnen und sich auf einen höheren Standpunkt stellen. Auf diese Weise erfüllt die dionysische Vernunft durch ihr Experimentieren die Sinnmotivation des Willens, eine Sinnperspektive zu entwickeln und sich für diese zu entscheiden, um das Leben zu rechtfertigen: „das dionysische Denken entwirft die Welt der ewigen Wiederkehr.“ (S. 297) Die metaphysische Perspektive der ewigen Wiederkehr des Gleichen erfüllt das Bedürfnis des Menschen nach dem Sinn seiner Stellung zum Sein, indem sie dem Menschen einen Sinn für seine Existenz verschafft und dafür sorgt, dass nicht alles umsonst ist. Zudem nötigt diese Perspektive den Menschen zu einem besonderen Verhalten. Da alles wiederkehrt, ist der Mensch herausgefordert, jeden Augenblick seines Lebens zu wollen. Daher ist er einerseits zu einem autarken Schaffen aufgefordert, sich selbst einen den Nihilismus überwindenden Sinn zu schaffen; andererseits ist der Mensch für alles, was er tut und denkt, verantwortlich.  „So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist „Bewusstsein“ in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, – das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

Philosophen durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen“ ist (JGB, KSA 5.17) und dass hinter aller Logik Wertschätzungen stehen, d. h. „physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben“, geht er über die rein physiologische Deutung hinaus und betont, dass „das Lernen uns [verwandelt], es thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss „erhält“ —: wie der Physiologe weiss.“ (JGB, KSA 5.170) In seinem „umgedrehten Platonismus“ gelten also als Stimulans zum Denken auch das Hässliche, der Widerspruch, die Grausamkeit und der daraus resultierende Seelenzustand des Leidens. Das Leiden ist nicht nur ein bloßer Schmerz, es ist das Erleben von Schmerzen. Das große Leiden züchtet den Menschen zum Selbstbewusstsein und zur Selbstbeherrschung bzw. Selbstschöpfung, weil der Leib sich nach dem Ursprung seines Leidens fragt und in einer großen Spannung der Seele versucht, dem inneren Chaos eine Form zu geben. Dank dieser Spannung der Seele im Unglück bekommt sie Stärke, Erfindsamkeit, Tiefe, Maske, Geist, List und Größe, die alle dem Menschen zur Selbstüberwindung, Selbsterlösung und Selbsterhöhung verhelfen. Wie in Z, betont Nietzsche auch hier, dass der Mensch Schöpfer und Geschöpf zugleich ist.¹⁶⁵ In Aphorismus 230 erläutert er, wie sich dieser Prozess abspielt und was ihn bedingt: Nietzsche nennt ihn den „Grundwillen des Geistes“. Der Geist will sich täuschen lassen, aber zugleich andere Geister täuschen und sich vor ihnen verstellen. Er besitzt jenen beständigen „Druck und Drang einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, – gerade durch seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt!“ (JGB, KSA 5.168) Der Grundwille des proteischen — also des wandlungsfähigen und vielseitigen — Geistes wird aussagekräftig erklärt: Das befehlerische Etwas, das vom Volke „der Geist“ genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu

geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.“ (JGB, KSA 5.17)  Siehe dazu auch Aphorismus 225: „Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: – versteht ihr diesen Gegensatz?“ (JGB, KSA 5.161)

11.5 Vernatürlichung

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vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück „Aussenwelt“ willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer „Erfahrungen“, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, – auf Wachsthum also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner „Verdauungskraft“, im Bilde geredet – und wirklich gleicht „der Geist“ am meisten noch einem Magen. (JGB, KSA 5.167 f.)

Den Proteuskünsten des Geistes wirkt aber „jener sublime Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen will“ (JGB, KSA 5.168). Von diesem Erkenntnistrieb angetrieben, erkennt der Erkennende unter der Oberfläche den schrecklichen „Grundtext homo natura“ (JGB, KSA 5.169). Damit stoßen wir wieder auf Nietzsches Aufgabe der Vernatürlichung des Menschen: Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: „du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!“ (JGB, KSA 5.169)

Die als Zurücksetzen des Menschen in die Natur gekennzeichnete Vernatürlichung¹⁶⁶ ist keine absolute Identifikation des Menschen mit der Natur. Es geht Nietzsche nicht um eine Rückkehr zur Natur oder ein Leben gemäß der Natur. Vielmehr will er die unmoralische, triebhafte Herkunft des Menschen ans Licht bringen. Statt bloß eine Erkenntnistheorie zu liefern, hat Nietzsche am Leitfaden des Willens zur Macht die Perspektivenlehre der Affekte und die Moral als „Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen „Leben“ entsteht. —“ (JGB, KSA 5.33 f.) Er plädiert also, wie gezeigt, nicht für eine Anarchie der Instinkte, sondern für eine auf die Physiologie und Psychologie gestützte Interpretation des Menschen. Nietzsche behauptet, dass die Natur indifferent ist. Der Mensch dagegen will different sein: Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist?

 Zu diesem Thema vermittelt aufschlussreiche Bemerkungen Andrea Christian Bertino, „Vernatürlichung“. Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder, Berlin 2011.

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? (JGB, KSA 5.21 f.)

Den Menschen zurück in die Natur zu übersetzen heißt, ihn jenseits von Gut und Böse im außermoralischen Sinn zu begreifen. Wenn es keine absolute Werte, keinen absoluten Sinn, keine absolute Wahrheit gibt, wenn jede Macht ihre letzten Konsequenzen zieht, ist der Perspektivismus eine plausible Hypothese zur Interpretation des Lebens. Jede Differenz ist eine Perspektive: Sie setzt eine Perspektive voraus, bringt eine mit sich und fordert mitunter heraus, eine neue hervorzubringen. Daher bedingt das Perspektivische das Leben, ist die Grundbedingung des Lebens. Dass sich das als Wille zur Macht aufgefasste Leben als Indifferenz und zugleich als Differentsein-Wollen erweist, ist kein logischer Widerspruch, denn obwohl der Mensch als natürliches Wesen indifferent ist, will er es nicht. Der Sinn des Lebens entsteht also aus dem menschlichen Wollen. Er wird vom Menschen nach seinen geistigen Nötigungen, eigentlichen Bedürfnissen und Ansprüchen geschaffen. Sinn ist immer auf Zeit und durch einen bestimmten — kulturellen, gesellschaftlichen usw. — Kontext bestimmt und daher nicht teleologisch zu begreifen. Um die geistige Spannung des Menschen zwischen dem Indifferent-Sein und dem Different-sein-Wollen zu kennzeichnen, hat Nietzsche den aussagekräftigen Ausdruck bzw. die übermoralische Formel vom Pathos der Distanz geprägt. Die hier beschriebene Spannung verweist unmittelbar auf das Problem der Rangordnung. Nietzsches Anspruch auf die Vernatürlichung verweist schließlich auf seine eigentliche Aufgabe: die Umwertung aller Werte.

11.6 Die neuen Philosophen Die Vernatürlichung des Menschen zielt, näher betrachtet, nicht auf eine bloße Verdinglichung der Natur und des Menschen, sie sind nicht das Objekt wissenschaftlicher Forschung. Nietzsche will vielmehr das Triebhafte und das Schöpferische am Menschen ausfindig machen. Zu diesem Zweck erweist sich als notwendig, „die HerrenAufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie“ (JGB, KSA 5.131) über die Wissenschaft neu herzustellen. Dazu nimmt Nietzsche die Aufgabe der Wissenschaft und ihre Absicht, sich von der Philosophie zu befreien, unter die Lupe. Er geht davon aus, dass die „Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens“ ist (JGB, KSA 5.129). Den wissenschaftlichen Menschen „liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, ja „die Zeit“ selbst, abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu überwältigen: eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann.“ (JGB, KSA 5.145) Die Aufgabe einer Überwältigung der Vergangenheit verweist zwar auf Zarathustras Absicht einer Umschaffung der Geschichte und Umdeutung von allem „Es

11.6 Die neuen Philosophen

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war“ in ein „So wollte ich es“. Trotzdem unterscheiden sich die Aufgabe der Wissenschaft und die Aufgabe von Zarathustras Dichtung streng voneinander. Die Aufgabe wissenschaftlicher Forscher und idealer Gelehrter — von denen Nietzsche die Philosophen unterscheidet — besteht darin, irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen – das heisst ehemaliger Werthsetzungen, Werthschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeit lang „Wahrheiten“ genannt werden – festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen. (JGB, KSA 5.144 f.)

Wissenschaftler sind für Nietzsche nur Werkzeuge der Philosophen. Philosophie ist eben nicht als „Kritik und kritische Wissenschaft — und gar nichts ausserdem“ (JGB, KSA 5.143) anzusehen und darf nicht, wie die Wissenschaft, „auf „Erkenntnistheorie“ reduzirt“ (JGB, KSA 5.131) werden. Als Erkenntnistheorie ist die Wissenschaft zwar nützlich, weil sie „die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, also „der Seele““ (JGB, KSA 5.73) entlarvt. Sie kann aber nicht herrschen, also dem Menschen zur existentiellen Sinngebung verhelfen. Wie sich einer Notiz aus den Jahren 1880/81 entnehmen lässt, „kann [die Wissenschaft] nicht befehlen, Weg weisen! sondern erst wenn man weiß wohin?, kann sie nützen.“ (NL 8[98], KSA 9.403)¹⁶⁷ Von entscheidender Bedeutung für Nietzsches Philosophieauffassung ist, dass es das Vorrecht der Philosophie und des Philosophen ist, das „Wohin“, das Ziel, den Sinn zu bestimmen. Der Unterschied zwischen Philosophen und Wissenschaftlern ist also epistemologischer und existentieller Art. Die Philosophen bedienen sich anderer Methoden, beanspruchen andere Ziele, setzen sich eine andere Aufgabe und führen ein anderes Leben. Der eigentliche Philosoph verlangt „von sich ein Urtheil, ein Ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Werth des Lebens“ (JGB, KSA 5.132). Sein Recht und seine Pflicht zu diesem „Gesammt-Werturteil“ gründen auf seinen „umfänglichsten – vielleicht störendsten, zerstörendsten – Erlebnissen“. Er muss „oft zögernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben suchen.“ (JGB, KSA 5.132 f.) Der Philosoph führt, wie Nietzsche bereits in SE hervorhebt, ein gefährliches Leben. Die Gefahr liegt darin, dass er sich große, ökumenische, die ganze Menschheit umspannende Ziele setzt, die oft über seine Kräfte hinausgehen, die aber auch teilweise oder gänzlich missverstanden werden und unvermittelbar sind. Außerdem versucht er unablässig, seine Ziele und Aufgaben durch Experimente zu verwirklichen, und geht so das Risiko ein, an ihnen zugrunde zu gehen. Er „lebt „unphilosophisch“ und „unweise“, vor Allem unklug, und fühlt die

 „Die Wissenschaft hat viel Nutzen gebracht, jetzt möchte man, im Mißtrauen gegen die Religionen und Verwandtes, ihr ganz unterwerfen. Aber Irrthum! Sie kann nicht befehlen, Weg weisen! sondern erst wenn man weiß wohin?, kann sie nützen. Im Allgemeinen ist es Mythologie zu glauben, daß die Erkenntniß immer das was der Menschheit am nützlichsten und unentbehrlichsten sei, erkennen werde – sie wird eben so sehr schaden können als nützen – die höchsten Formen der Moralität sind vielleicht unmöglich bei voller Helle.“ (NL 8[98], KSA 9.403)

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens: – er risquirt sich beständig, er spielt das schlimme Spiel …..“ (JGB, KSA 5.133) Der Philosoph ist unzeitgemäß, weil er, so Nietzsche, „sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste“ (JGB, KSA 5.145). Er ist das böse Gewissen seiner Zeit: Darin hat er seine „harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse [seiner] Aufgabe gefunden.“ Die an seiner Zeit geübte Kritik ist nicht mehr nur reiner Selbstzweck. Der Philosoph strebt vielmehr nach dem Wissen, „um eine neue Grösse des Menschen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung“ (JGB, KSA 5.145 f.) zu finden. Darin liegen Wert und Größe seiner Aufgabe und seine eigene Größe zugleich. Nietzsche entwirft das Ideal des Philosophen so, dass „gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff „Grösse“ hineingehören“ müssen (JGB, KSA 5.146). Die philosophische Bedeutung der Aufgabe der Philosophen gewinnt erhebliche Bedeutung durch Nietzsches Auffassung von der Philosophie. Unter ihr versteht er eine „eigentliche Macht der Geistigkeit, eigentliche Tiefe des geistigen Blicks“ (vgl. JGB, KSA 5.195), oder, wie er an einer anderer Stelle sagt: „Philosophie ist [der] tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima.“ (JGB, KSA 5.22) Die geistige Schöpfung wird also nicht der Wissenschaft und dem Wissenschaftler, sondern der Philosophie und dem Philosophen zugeschrieben. Daher verlangt die philosophische Aufgabe, wie bereits im Zarathustra betont, dass der Philosoph „Werthe schaffe“ (JGB, KSA 5.144). Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen „so soll es sein!“, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr „Erkennen“ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht. – Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben? …. (JGB, KSA 5.145)

Dem Philosophen wird hier dasselbe Merkmal zugesprochen, das Platon ihm im Symposium gibt: Er ist ein „Wesen, welches entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen“ (JGB, KSA 5.133). Seine Größe zeichnet sich zudem dadurch aus, „ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein [zu] können“ (JGB, KSA 5.147), wie Nietzsche es schon in PHG ähnlich skizziert. Er weiß sich selbst zu disziplinieren, kann sich selbst seine Gesetze geben und daher in einer entgötterten Welt Gesetzgeber und Befehlender sein. Die neuen Philosophen sind somit imstande, am Menschen als Künstler zu gestalten. Nach Nietzsche ist die Notwendigkeit der Philosophen existentiell begründet — praktisch wie politisch zugleich. Das wird insbesondere aus seiner Auseinandersetzung mit der Naturgeschichte der Moral und seinem Zeitalter ersichtlich. Er bringt durch sie die Krankheit der Menschheit und Europas ans Licht. Es ist „die Krankheit des Willens“, dass „das Meiste von dem, was sich heute als „Objektivität“, „Wissenschaftlichkeit“, „l’art pour l’art“, „reines willensfreies Erkennen“ in die Schauläden

11.6 Die neuen Philosophen

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stellt, nur aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung ist, – für diese Diagnose der europäischen Krankheit will ich einstehn. —“ (JGB, KSA 5.139) Die Gründe einer durchaus möglichen „Gesammt-Entartung des Menschen“ (JGB, KSA 5.127) sind insbesondere bei den Religionen bzw. der Kirche und bei den Sozialisten zu suchen, die das Ideal der Gleichheit aller Menschen vertreten und den Menschen damit „zum vollkommenen Heerdenthiere“ (JGB, KSA 5.128) verkleinern. In Aphorismus 62 wendet Nietzsche gegen die Religionen und die Kirche ein, dass „es sich immer theuer und fürchterlich [bezahlt], wenn Religionen nicht als Züchtungs- und Erziehungsmittel in der Hand des Philosophen, sondern von sich aus und souverän walten, wenn sie selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen.“ (JGB, KSA 5.81) Die souveränen Religionen gehören zu den Hauptursachen, „welche den Typus „Mensch“ auf einer niedrigeren Stufe festhielten, – sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehen sollte.“ (JGB, KSA 5.82) So zeigt sich die Aufgabe der Religionen: „Alle Werthschätzungen auf den Kopf stellen“. Das gilt vor allem für die katholische Kirche: „die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde und das Irdische verkehren – das stellte sich die Kirche zur Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich „Entweltlichung“, „Entsinnlichung“ und „höherer Mensch“ in ein Gefühl zusammenschmolzen.“ All dem versucht Nietzsche mit einer neuen Aufgabe entgegenzuwirken. Diese lässt sich — in Bezug auf Aphorismus 230 — als Notwendigkeit verstehen, dass auch bei unseren Tugenden — „Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen“ — „der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus erkannt“ (JGB, KSA 5.169) wird. Nietzsches Anspruch auf eine Vernatürlichung des Menschen ist eine Umwertung der Werte. Er bezweckt gezielt eine solche „Umwerthung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge“ (JGB, KSA 5.126 f.). Der neue Philosoph zeigt sich als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat: dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände bedienen wird. (JGB, KSA 5.79)

Die neuen Philosophen sind höhere Menschen, die eine höhere Pflicht, eine höhere Verantwortlichkeit und eine schöpferische Machtfülle und Herrschaftlichkeit besitzen. Wie lässt sich aber die Aufgabe einer „Gesammt-Entwicklung“ der Menschheit vollziehen? Dazu ist nach Nietzsche vor allem die Erziehung oder Züchtung des Menschen nützlich und nötig — im doppelten Sinne. Auf der einen Seite ist die Züchtung eine Bedingung für die Entstehung und Permanenz der neuen Philosophen. Wer sich der Gefahr der Entartung bewusst ist, die die neuen Philosophen und alle Menschen in der demokratischen und christlichen Gesellschaft eingehen, der „fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist“ (JGB, KSA 5.127). Die Arbeit am Menschen ist deshalb möglich und nötig, weil der er nicht als „vollkommene Heerdenthier“, sondern als „das noch nicht festgestellte Thier“(JGB, KSA 5.81) anzusehen ist. Auf der anderen Seite sind die neuen Philosophen selbst die Erzieher: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen? – Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und „ewige Werthe“ umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher „Geschichte“ hiess, ein Ende zu machen – der Unsinn der „grössten Zahl“ ist nur seine letzte Form —. (JGB, KSA 5.126)

Die Umwertung, die neue Gesetzgebung, die Schöpfung neuer Gütertafeln und die Gestaltung des Gewissens lassen sich nicht nur durch die Erziehung einer neuen Art Mensch, sondern auch, theoretisch wie praktisch, durch einen Kampf erreichen: Die neuen Philosophen müssen den Kampf gegen Platon, „gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden – denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ —“ (JGB, KSA 5.12 f.) in Europa kämpfen, um „eine prachtvolle Spannung des Geistes“ zu schaffen, „wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen.“ Die vom Krieg verursachte Spannung wird vom europäischen Menschen als Notstand, nämlich als Not des Geistes empfunden.¹⁶⁸ Aus dieser existentiellen Not geht die Aufgabe einer Umwertung aller Werte hervor: „wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel …..“ (JGB, KSA 5.13) In JGB stellt Nietzsche zum ersten Mal die Aufgabe einer Umwertung aller Werte dar und zeigt ihren Hintergrund und ihre Notwendigkeit deutlich auf. Er zieht eine Parallele zwischen Natur und Leben, indem er beide als Willen zur Macht kennzeichnet. Das bedeutet aber keine ontologische Übereinstimmung der Natur zum Dasein. Obwohl beide als Verklärungsprozess gedeutet werden können, erweist sich, wie geschildert, die Natur als ein Indifferent-Sein und der Mensch als ein Differentsein-Wollen. Der Wille zur Differenz umschließt den Zustand der Selbstüberwindung bzw. das Pathos der Distanz. Der Mensch ist ein hochkomplexes Lebewesen, in dem sich triebhafte und geistige Prozesse abspielen. Das zeigt sich auch am Willensbegriff:

 Nietzsche versteht Krieg hauptsächlich als Geisterkrieg. Sicher vertritt er die Notwendigkeit einer großen Politik und einer Klassengesellschaft. Es ist aber nicht zu verkennen, dass der Geisterkrieg dabei seine Leitidee ist. Er strebt eine Oligarchie des Geistes, nicht aber die Gründung des Dritten Reichs an (vgl. Kapitel 14.4).

11.6 Die neuen Philosophen

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Der Wille ist ein Komplex von Fühlen und Denken und dem Affekt des Kommandos. Mit der Gleichsetzung von Schätzen, Schaffen und Wollen wird die Moral auf die Ästhetik zurückgeführt. Nietzsche beansprucht keinerlei Normativität, sondern zielt auf eine Moral, die kein „System von sittlichen Grundsätzen,Werten und Normen [ist], von denen sich die Menschen in ihrem Verhalten zueinander leiten lassen“ (DWDS). Moral ist für Nietzsche „eine Zeichensprache der Affekte“ (JGB, KSA 5.107), die die Herrschaftsverhältnisse bestimmt. Darin liegt etwas Entscheidendes: Konzentriert sich Nietzsche im Zarathustra noch hauptsächlich auf die Befreiung des Willens von der Vergangenheit und auf eine Umdeutung vom „so war es“ zum „so wollte ich es“, lenkt er jetzt seine Aufmerksamkeit auf die „Freiheit zu etwas“ und spricht vom „so soll es sein“. Genau dies ist das Ergebnis des Pathos der Distanz und des Different-sein-Wollens des Menschen. Es geht darum, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft unter der Perspektive des Willens zu verstehen. Das Geschehen interpretiert er als wirkendes Relationsgefüge von Willen zur Macht, d. h. als Geschichte. Das zeigt sich auch an der Vernatürlichung: Sie bedeutet, einerseits das Triebhafte und Schöpferische und andererseits das Gewissen und die Verantwortung des Menschen hervorzuheben. Diese Erkenntnis ist von ausschlaggebender Bedeutung. Die neue umgewertete Moral ist aus verschiedenen Perspektiven nötig: aus praktischer, politischer, geschichtlicher und nicht zuletzt aus der Lebensperspektive. „Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das „Individuum“ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung.“ (JGB, KSA 5.216) Nietzsches Überlegungen bleiben nicht auf rein theoretischer oder individueller Ebene. Er versucht, die Geschichte Europas zu interpretieren und spricht von Gesamtentartung und Gesamtentwicklung als europäischen Phänomenen. Der Einzelne muss Stellung zum Ganzen nehmen: Sie bedingen sich gegenseitig. Der Philosoph muss ein Gesamtwerturteil fällen, um der Gesamtentartung zugunsten einer Gesamtentwicklung durch Erziehung entgegenzuwirken. Dies ist die Aufgabe von sehr freien Geistern, von guten Europäern. Dementsprechend komplex ist Nietzsches Begriff der Freiheit: Sie umfasst Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschlüssen, Last und Pflicht, Interpretation und Sinnerfindung, Selbstdisziplinierung und Selbstexperiment sowie Verantwortlichkeit und Souveränität. Auch wenn der Mensch durch und durch Leib und, dem Zarathustra zufolge, eine Vielheit mit einem Sinn ist, dessen Spiel- und Werkzeug der Geist ist, und der Geist nach JGB eine Erfindungs- und Verstellungskraft darstellt, lässt sich Nietzsche nicht als bloßer Nihilist, Irrationalist oder Immoralist abtun. Wille zur Macht ist Wille zum Sinn.¹⁶⁹

 Wir unterscheiden den Willen zum Sinn, wie ihn Viktor E. Frankl, Der Wille zum Sinn, Bern 2015, geprägt hat, von demjenigen Nietzsches. Bei Frankl findet der Wille seine Vollendung und Universalität in der Religion, in der Transzendenz. Frankl stützt sich auf Husserls Phänomenologie und Schelers

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11 Die Umwertung der Werte in Jenseits von Gut und Böse

Wertphilosophie. Bei Nietzsche trifft jeder Wille seine Entscheidung und hat ein bedingend-bedingtes Verhältnis zu dem Kontext, in dem er vorkommt.

12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift. Das eigentliche Problem vom Menschen in Zur Genealogie der Moral 12.1 Das Problem der Moral: Eine Streitfrage In JGB hat sich gezeigt, dass die Moral erstens eine Zeichensprache der Affekte ist, dass sie zweitens Herrschaftsverhältnisse festzustellen und zu bestimmen versucht, und dass drittens die neuen Philosophen auf ein Gesamtwerturteil über das Leben abzielen, um die Gesamtentwicklung der Menschheit zu steuern. In der Genealogie der Moral geht Nietzsche darauf ein. In der Vorrede entwirft er eine Genealogie des Problems der Moral, das seine Schriften und sein Dasein durchzieht. Er erklärt ausführlich, dass er dabei seine alten jugendlichen Gedanken über die Herkunft der moralischen Vorurteile wieder aufnimmt. Weiter betont er den nicht aleatorischen Ursprung des Problems der Moral: Solche Probleme sind „aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Grundwillen der Erkenntniss“ (GM, KSA 5.248) entstanden und haben sich langsam und beständig entwickelt. GM setzt die Kenntnis aller vorigen Werke voraus, auf die in der Schrift systematisch verwiesen und von denen den Lesern geraten wird, sie zu lesen, gar sie „wiederzukäuen“. Entwürfe dieser Gedanken kann man in Fatum und Geschichte finden und ihren „ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck“ (GM, KSA 5.248) in MA. Mit der Zeit sind die Gedanken reifer geworden, so dass Nietzsche in den drei Abhandlungen der Genealogie versucht, ihnen eine einheitliche Form zuzuweisen, indem er seine „Herkunfts-Hypothesen“ (GM, KSA 5.251) mittels „der Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“ (GM, KSA 5.315) bestätigen will. So formuliert er seine programmatische Fragestellung bzw. seine neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben […], wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. (GM, KSA 5.253)

Solch eine Grundfrage muss von vornherein existentieller und philosophischer Art sein. Sie stimmt mit der eigentlichen „Zukunfts-Aufgabe des Philosophen“ überein, der Nietzsche zufolge alle Wissenschaften vorzuarbeiten haben: „diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das Problem vom Werthe zu lösen hat, dass er die Rangordnung der Werthe zu bestimmen hat. —“ (GM, KSA 5.289) Hier tritt klar hervor, was Nietzsche lebenslang nötigt und so sein Leben bestimmt: die von seiner Jugend an glühende Not einer Kritik der Moral, die sich allmählich in die Frage nach dem Wert der Moral wandelt. Diese Frage wird aber von Nietzsche nicht nur als Grundfrage seiner Philosophie, sondern auch als die Streitfrage gestellt, die die Menschheit herhttps://doi.org/10.1515/9783110701890-016

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12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift

ausfordern und die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spalten wird. Die Streitfrage macht GM zur „Streitschrift“.

12.2 Die epistemologischen Gründe der Genealogie und deren existentielle Bedeutung Um die Bedingungen und Umstände, unter denen die moralischen Werte gewachsen sind und sich entwickelt und verschoben haben, zu beleuchten, geht Nietzsche von der Hypothese aus, dass die moralischen Werte keinen ontologischen, sondern einen physiologischen und psychologischen Ursprung haben. Sie sind unter bestimmten Lebensumständen von den Menschen erdichtet worden und haben sich dann so entwickelt, dass sie die Geschichte der Menschheit bestimmt und neue Lebensbedingungen verursacht haben. Nietzsche versucht, in den drei Abhandlungen der Genealogie jeweils aus verschiedenen Perspektiven dem Ursprung der moralischen Werte nachzugehen. Zu diesem Zweck erarbeitet er eine auslegende Methode: die Genealogie. In der ersten Abhandlung richtet Nietzsche seine Aufmerksamkeit auf den Gegensatz von Gut und Böse und führt eine etymologische Untersuchung dieses Gegensatzes durch. Er ist davon überzeugt, dass „definirbar nur Das [ist], was keine Geschichte hat.“ (GM, KSA 5.317) Ein Begriff „stellt in der That gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von „Sinnen““. Die Geschichte eines Begriffs „krystallisirt sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysiren und, was man hervorheben muss, ganz und gar undefinirbar ist.“ Daher kann man zweierlei an einem Begriff unterscheiden: „einmal das relativ Dauerhafte an [ihm], den Brauch, den Akt, das „Drama“, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das Flüssige an [ihm], den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft.“ (GM, KSA 5.316) Diese Duplizität des Begriffs ist, näher betrachtet, existentiellen Ursprungs und handlungsorientiert. Wenn der Sinn eines Begriffes flüssig und damit undefinierbar ist, lässt sich auch dessen historischer Verlauf weder erklären noch definieren. Der Begriff ist also das Produkt der Interpretation. Dieser Schluss wirkt sich auch auf die Genealogie aus: So stellt Nietzsche seine Abhandlungen gezielt nicht als allgemeingültige Erklärungen, sondern als Hypothesen oder Interpretationen dar. Jeder moralische Wert oder Begriff ergibt sich durch eine „gleiche Begriffs-Verwandlung“ (GM, KSA 5.261), die aber nicht geschieht als notwendige Erscheinung einer sich in der Geschichte entwickelnden Idee bzw. Vernunft, sondern als plötzliche und zufällige Veränderung: die ganze Geschichte eines „Dings“, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. (GM, KSA 5.314)

12.2 Die epistemologischen Gründe der Genealogie

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Nietzsche will dieser Verwandlung nachgehen, um ihre Bedingungen ans Licht zu bringen. Die Flüssigkeit der Form und des Sinnes könnte in diesem Zusammenhang als Grundphänomen alles Lebens feststehen: „Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der „Sinn“ der einzelnen Organe“ (GM, KSA 5.315). Diese Flüssigkeit¹⁷⁰ des Sinnes ist auf den „Hauptgesichtspunkt der historischen Methodik“ (GM, KSA 5.315) angewiesen, dass sich in jedem Geschehen ein Machtwille abspielt,¹⁷¹ der alles für die Steigerung seiner Kräfte opfert. Dementsprechend handelt es sich für Nietzsche bei jeder Entwicklung um einen Überwältigungsprozess, in dem ein Wille zur Macht sich einer kleineren Potenz bemächtigt und ihr von sich aus den Sinn einer Funktion aufprägt, um wiederum eine größere Macht zu erreichen. Indem sich der Wille zur Macht die kleinere Macht aneignet, bildet er ihren Sinn und Zweck um, richtet beide um, löscht beide aus. Es handelt sich bei jedem Geschehen darum, dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige „Sinn“ und „Zweck“ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss. (GM, KSA 5.313 f.)

 An der Flüssigkeit des Sinnes setzt Werner Stegmaier an, um eine „Philosophie der Fluktuanz“ aus ihr zu gewinnen. Stegmaier will seine These mit Rekurs auf GM II 12 und vor allem auf eine Nachlassstelle aus dem Jahr 1888 untermauern, wo Nietzsche zur „Kritik des Mechanismus“ notiert: „Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz. Gerade, daß es kein mezzo termine giebt, darauf beruht die Berechenbarkeit.“ (NL 14[79], KSA 13.258) Stegmaier zieht daraus die folgende Schlussfolgerung: „Ein mezzo termine wäre ein allgemeiner Begriff, der die individuellen Willen zur Macht miteinander vermittelt und darum außer ihnen als ein Drittes vorausgesetzt wird. Dies, die Synthesis von Zweien durch ein ihnen gegenüber unbedingtes Drittes zu denken, ist aber das Grundkonzept des abendländischen Platonismus. Nach Platon und noch nach Kant ,ist ein Drittes nötig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann‘ (KrV A 155), bei Platon die Idee, bei Kant dann die Einheit der Apperzeption […]. Die Einheit von Zweien hängt nicht von einem Dritten ab, sondern kommt aus der Kraft von Einem, das ,in jedem Augenblick seine letzte Konsequenz zieht‘“ (Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, S. 310 f.). Dass jede Einheit individuell ist und bei Nietzsche von Horizontverschiebungen die Rede ist, lässt sich zu Recht mit Stegmaier behaupten. Nach eingehender Überprüfung lässt sich jedoch schwerlich die These einer „Philosophie der Fluktuanz“ im Sinne Stegmaiers vertreten. Das „mezzo termine“ gibt es sehr wohl bei Nietzsche: Es ist der Leib bzw. das Selbst mit seiner dichtenden Vernunft und Verklärungskraft, an dessen Leitfaden Erkenntnis und Leben interpretiert werden. In diesem Sinn kann man auch Nietzsches Philosophie als „umgedrehten Platonismus“ sehen.  Im Gegensatz zur darwinistischen Tendenz, die Entwicklung der Menschheit nach dem Prinzip der Anpassung zu deuten, stellt Nietzsche sie auf die Grundlage einer formgebenden Aktivität. Nietzsche zufolge ist die Anpassung etwas Zweitrangiges. Sie wird nicht ausgelöscht, sondern neu interpretiert, indem Nietzsche sie in den Hintergrund rückt. Sie wird als eine reaktive Kraft im Gegensatz zu der aktiven Kraft des Willens zur Macht angesehen, der „das Wesen des Lebens“ ist.

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12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift

Die Entstehung und Entwicklung eines Dings, Brauchs oder Organs deutet Nietzsche als Aufeinanderfolge von mehr oder minder voneinander abhängigen Überwältigungsprozessen, zu deren Bedingungen auch „das theilweise Unnützlichwerden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehen von Sinn und Zweckmässigkeit, kurz der Tod gehört“ (GM, KSA 5.315). Der Interpretationsprozess ähnelt dem sich in der Natur abspielenden Überwältigungsprozess des Willens zur Macht. Zum Wesen alles Interpretierens gehört „das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen“ (GM, KSA 5.400). Dieser Prozess ist keiner kausalen Logik unterworfen. Nietzsche hebt hervor, dass es sich nicht um „einen logische[n] und kürzeste[n], mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichte[n] progressus“ (GM, KSA 5.314) handelt. Es ist stattdessen eine Überfülle von Kräften an der Arbeit, bei der der Wille eine bestimmende Rolle spielt. Die „Objektivität“ der Interpretation einer im Laufe der Geschichte angestrebten Zucht und Vorbereitung des Intellekts ergibt sich durch das „Anders-sehn-Wollen“ aus verschiedenen, entgegengesetzten Perspektiven. Die sogenannte „Objektivität“ liegt hingegen nicht im „Indifferent-Sein“ der Natur. Sie wird von Nietzsche nicht als „interesselose Anschauung“ verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. (GM, KSA 5.364 f.)

Ins Zentrum von Nietzsches Philosophie rückt die Einsicht, dass Denken ein perspektivischer Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen ist. Damit löst sich der herkömmliche Begriff von „Objektivität“ auf. Affekte sind nun diejenigen „aktiven und interpretierenden Kräfte“ (GM, KSA 5.365), durch die der Intellekt etwas begreifbar macht. Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen“; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff“ dieser Sache, unsre „Objektivität“ sein. Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castriren? …

Nietzsche hebt weiterhin die existentielle Bedeutung der Erkenntnis hervor. Sie ist Interpretation, und Interpretation hat nicht nur ihren Ursprung, sondern auch ihre Wirkung in den Affekten und im Willen. Wenn man im Erkenntnisprozess davon absieht, wird dem Intellekt seine schöpferisch wirkende Kraft entzogen, werden jedoch nicht die Wissenschaft oder die Logik pauschal abgeschafft. Es wird vielmehr nur ihre Rolle im Erkenntnisprozess beschränkt: Die Logik ist nicht das Ziel, sondern nur ein Mittel, das dem Leben zu seiner Selbsterhaltung und -steigerung verhilft, indem sie alles berechenbar und verbindlich macht. So ist der Überwaltigungs- bzw. Interpretationsprozess ein Verkärungsprozess. Denn den prinzipiellen Vorrang haben „die

12.2 Die epistemologischen Gründe der Genealogie

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spontanen, angreifenden, übergreifenden, neuauslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte, auf deren Wirkung erst die ‚Anpassung‘ folgt“ (GM, KSA 5.316). Die Begriffsverwandlung bzw. Sinnverschiebung, auf der die genealogische Methode gründet, erfolgt nach der in der Genealogie befolgten „Regel“, „dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff auslöst“ (GM, KSA 5.264). So entnimmt Nietzsche in der etymologisch ausgeführten Analyse der ersten Abhandlung den moralischen Gegensatz „gut und böse“ dem „politischen“ Gegensatz „gut und schlecht“. Er zeigt, dass der politische Vorrang durch das Pathos der Distanz in den seelischen übergeht, nämlich durch „das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältniss zu einer niederen Art, zu einem „Unten““ (GM, KSA 5.259). Wie schon in JGB, hebt Nietzsche die seelische Überlegenheit der Guten hervor, die er als starke und volle Naturen kennzeichnet, „in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist“ (GM, KSA 5.273). Dabei ist bemerkenswert, dass derartige Naturen aus einem Pathos handeln und sich dieses Pathos der Distanz als schöpferischer Zustand erweist. Solche Naturen agieren nämlich nicht aus Nützlichkeit, sondern aus Notwendigkeit, d. h. „instinktiv“. Sie sind vom seelischen Zustand des Pathos der Distanz angetrieben, aus dem heraus „sie sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen [haben]“ (GM, KSA 5.259). Aus diesem Grund verkörpern „die Guten das Herausquellen oberster rang-ordnender, rang-abhebender Werthurtheile“. Es sind laut Nietzsche „“die Guten“ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.“ Unter einem psychologischen Gesichtspunkt haben die Vornehmen sich also auf sich selbst zurückbesinnt, von sich aus den Grundbegriff „gut“ erdacht und von dieser Position aus eine Vorstellung vom Begriff „schlecht“ entwickelt. Die Begriffsverwandlung, die nach Nietzsche zweitausend Jahre lang in Europa herrschte, wurde vom Sklavenaufstand in der Moral verursacht. Durch ihn setzte sich eine priesterliche Aristokratie durch, die im Gegensatz zu den Vornehmen zuerst den Grundbegriff „böse“ mit Bezug auf ihre Feinde konzipierte und sich dann von diesem aus selbst als das „Gute“ imaginierte. Sie hat sich vom „Bösen“ aus als „Nachbild und Gegenstück“ den „Guten“ vorgestellt, und erst so konnten „sich die Werthungs-Gegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen“ (GM, KSA 5.265). Die Begriffsverwandlung ist also das Werk des schöpferischen, wertsetzenden Ressentiments: Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“: und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese

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nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. (GM, KSA 5.270 f.)

Auch beim Ressentiment spielt der Wille eine maßgebende Rolle. Wegen des Sklavenaufstands tritt das Ressentiment an die Stelle des die Vornehmen auszeichnenden Pathos der Distanz, des „Anders-sein-Wollens“. Nietzsche bezeichnet es als „Nichtanders-sein-Wollen“. Die aus diesem Lebenszustand geschöpften Werte sind heteronome Werte. Sie entstehen aufgrund einer Reaktion bzw. einer von einem Gegenideal verursachten Aktion: Das „Gute“ der Moral des Ressentiments wird als „Nachschöpfung“ vom „Schlechten“ geschafft. Infolgedessen ist „schlecht“ „das Original, der Anfang, die eigentliche That in der Conception einer Sklaven-Moral.“ (GM, KSA 5.274) Im Sinne der Moral des Ressentiments ist „schlecht“ „eben der „Gute“ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment.“ Dies hat laut Nietzsche in der Geschichte eine Umwertung der Werte heraufbeschwört, der er mit einer anderen Umwertung der Werte entgegenwirken will. Darum spricht Nietzsche sich die Umwertung aller Werte als Aufgabe zu. Dieser Aufgabe kommen in der Genealogie, in Nietzsches ganzem Werk und Leben sowie in der Geschichte Europas deshalb eine philosophische Bedeutung und eine geschichtliche Wirkung zu, weil sie dem Gesetz des Lebens, der Selbstaufhebung und Selbstüberwindung, folgt: „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen „Selbstüberwindung“ im Wesen des Lebens“ (GM, KSA 5.410). Folgende Schlussfolgerungen können festgehalten werden: Der sich in jedem Geschehen abspielende Machtwille ist ein seelischer Vorgang, dessen Resultat eine Begriffsverwandlung ist. In einer solchen Verwandlung spielen die Affekte zwar eine große Rolle; der Vorgang ist aber nicht bloß physiologisch, weil er sich als Affektinterpretation ergibt. Außerdem wird jede Interpretation vom Pathos der Distanz hervorgebracht. Dieses Pathos ist der schöpferische, wertsetzende und sinnerfindende Zustand schlechthin. In ihm schafft der Mensch seine Perspektive. Die Perspektive ist daher nicht nur eine Sicht oder ein Standpunkt zum Leben, sondern eine interpretatorische Einstellung auf die Vergangenheit und Gegenwart und eine Aussicht auf die Zukunft. Eine Interpretation ist schließlich immer nur eine Sinnerfindung unter bestimmten Lebensumständen. Nur unter diesen Bedingungen lässt sich das Geschehen als Geschichte deuten und kann die Geschichte ein wirksamer Verlauf sein, in dem jede Macht ihre letzte Konsequenz zieht.

12.3 Schuldbewusstsein und schlechtes Gewissen

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12.3 Schuldbewusstsein und schlechtes Gewissen In der zweiten Abhandlung geht es um die Entwicklung des Schuldbewusstseins und des schlechten Gewissens, die psychologisch analysiert werden. Nietzsche meint, dass der Mensch immer versucht hat, das „Übel“ und Leiden des Lebens zu rechtfertigen. Er behauptet: „Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens“ (GM, KSA 5.304). Um das Leiden rechtfertigen zu können, war der Mensch genötigt, Götter und Zwischenwesen aller Höhe und Tiefe zu erfinden, die sich beim Anblick von Übeln anboten. Seiner zeitgenössischen Kultur, „wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten gegen das Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes Fragezeichen“, empfiehlt Nietzsche, „sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das Leidenmachen nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder zum Leben sah.“ (GM, KSA 5.303)¹⁷² Die Menschheit schämte sich damals noch nicht für ihre Grausamkeit. Im Gegenteil: Sie schuf sich durch die Grausamkeit ein Gedächtnis. Der Mensch brauchte es, um sein aktives Vermögen des Vergessens auszugleichen und damit über die Zukunft im Voraus zu verfügen. So ist der Mensch imstande, sich anderen Menschen zu verpflichten: Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben, das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst berechenbar, regelmässig, nothwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich als Zukunft gut sagen zu können! (GM, KSA 5.292)

In diesem Geschehen spielen sich gesellschaftliche, politische und ökonomische Prozesse ab.¹⁷³ Nietzsche stellt aber auch die psychologischen Bedingungen des Vergesellschaftungsprozesses dar. Er will eine Interpretation des sich im Menschen abspielenden Vorgangs der „Einverleibung“ und „Einverseelung“ vorlegen. Aus diesem Grund hebt er, wie beschrieben, die positiven Auswirkungen des Leidens auf die Lebensgestaltung hervor und weist darauf hin, dass die Vergesslichkeit „keine blosse vis inertie“ ist: „sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in

 Nach der Perspektive ausgerichtet, das Leiden als Verlockung zum Leben anzusehen, hat sich eine höhere Kultur herausgebildet. Nietzsche geht von den früher bereits in GT über M bis JGB beobachteten, immer weiter wachsenden „Vergeistigung und „Vergöttlichung“ der Grausamkeit“ aus, „welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht).“ (GM, KSA 5.301)  Vgl. Volker Gerhardt, „,Schuld‘, ,schlechtes Gewissen‘ und Verwandtes (II 4– 7)“, S. 81– 95, und Otfried Höffe, „,Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf.‘ (II, 1– 3)“, in: Otfried Höffe (Hg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004, S. 65 – 79.

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uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt“ (GM, KSA 5.291). Die Vergesslichkeit sorgt durch ihre positive Kraft dafür, dass die seelische Ordnung aufrechterhalten wird. Sie „schliesst zeitweilig die Thüren und Fenster des Bewusstseins […], damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren,Voraussehn,Vorausbestimmen (denn unser Organismus ist oligarchisch eingerichtet)“. Der Mensch wird als „das notwendig vergessliche Thier“ (GM, KSA 5.292) definiert: Er „hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll“. Dabei ist die erstrangige Bedeutung hervorzuheben, die Nietzsche dem Gedächtnis und dem Willen zuweist. Er bezeichnet es als „Gedächtnis des Willens“. Es ist „keineswegs bloss ein passivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks, nicht bloss die Indigestion an einem ein Mal verpfändeten Wort, mit dem man nicht wieder fertig wird, sondern ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“. Es ist ein durch Übung geschichtlich erworbenes Vermögen, das dem Willen zur Zwecksetzung hilft. Das gilt auch für das Schuldgefühl: Der moralische Hauptbegriff „Schuld“ ist existentieller Herkunft. Nietzsche zufolge ist der Begriff aus dem materiellen Begriff der „Schulden“ hervorgegangen, abseits jeder Spekulation über Freiheit oder Unfreiheit des Willens. „Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, hat seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person.“ (GM, KSA 5.305 f.) Die Begriffe vom Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Ausgleich und von der Verpflichtung haben sich auf die anfänglichen Gemeinschaftskomplexe übertragen, bis man bei der ersten Form der Gerechtigkeit angelangte: „Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu „verständigen“ – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. —“ (GM, KSA 5.306 f.) Daher ist die Gerechtigkeit nicht nur ein Ausgleich inter pares, sondern zugleich ein Gewaltakt, den eine Übermacht auf eine niedere Macht ausübt. Gerechtigkeit ist von einem historischen Standpunkt gesehen der Kampf der aktiven Mächte gegen die Reaktiven. Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden […] den Kampf gerade wider die reaktiven Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen. Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiment ein Ende zu machen. (GM, KSA 5.311 f.)

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In dieser Entwicklung der Gerechtigkeit sind zwei Ergebnisse entscheidend. Einerseits zeigt Nietzsche, dass im Verhältnis des Gläubigers zu seinem Schuldner das Denken zu einem „Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen“ (GM, KSA 5.306) geworden ist: „hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines VorrangsGefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein.“ Dies ist die Basis einer jeden Zivilisation, und daher bezeichnete „der Mensch sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das „abschätzende Thier an sich“.“ Mit der Zeit richtet es sein Messen und Abschätzen auf sich selbst und auf seine Verhältnisse zu den anderen Menschen, bis es sein Vermögen in ein Wertmaß umdeutet. Das abschätzende Tier interpretiert nach Zahl und Maß sowie nach Wert und Sinn die Welt und sein Leben. Es beschließt Gesetze, die sein gesellschaftliches Handeln rechtlich und moralisch regulieren. Unter den Bedingungen eines wertsetzenden, messenden und Mächte vergleichenden Denkens entwickeln sich die Gesellschaft,¹⁷⁴ die Politik und die Kultur, deren Siegel die Aufrichtung des Gesetzes ist, also „die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt […] als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe“ (GM, KSA 5.312). Nietzsche kommt dabei zu folgender Schlussfolgerung: An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinns, an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts „Unrechtes“ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. (GM, KSA 5.312)¹⁷⁵

Dass es kein Recht oder Unrecht an sich gibt und dass der Mensch in seiner Entwicklung durch das Gesetz Recht und Unrecht festlegt, zeigt denjenigen menschlichen Willen, sich von der Natur und vom Leben abzuheben, den Nietzsche in JGB und GM als Pathos der Distanz bezeichnet hat. Aus der historischen und psychologischen Entwicklung des Schuldbegriffs und der Gerechtigkeit hat sich der Begriff der Strafe ergeben; bei näherer Betrachtung erweist er sich als vom schlechten Gewissen bedingt. Versprechen und Verpflichtung entwickeln sich hin zur „Verpfändung“. Dies vollzieht sich auf psychologischer

 „So steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern.“ (GM, KSA 5.307)  „Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring’s, dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. —“ (GM, KSA 5.312 f.)

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Ebene: Die Strafe wird als Vergeltung bezeichnet, als die Äquivalenz, „dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen“ (GM, KSA 5.299 f.). Der Gläubiger genießt so den „Vorgeschmack eines höheren Rangs“ (GM, KSA 5.300) und nimmt „an einem Herren-Rechte theil“. Wie kommt aber das schlechte Gewissen aus dem Schuldgefühl zustande? Zur Beantwortung dieser Frage hilft eine Vergegenwärtigung von Nietzsches „Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden“ (GM, KSA 5.295): „“Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss„“. Das Kennzeichen der oben untersuchten Ausdichtung des Gedächtnisses wird hier zum Merkmal der Herkunft des Schuldgefühls, der Strafe und des schlechten Gewissens: „Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz […]. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches! —“ (GM, KSA 5.302) Nietzsche interpretiert also, wie erwähnt, die Geschichte des Menschen im Lichte der Grausamkeit als Sublimierung der Grausamkeit. Ausschlaggebend ist in dieser Geschichte auch die Gründung des Staats: Dieser beginnt durch einen Gewaltakt, wenn „eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren“ (GM, KSA 5.324), einer ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung eine feste Form bzw. einen Sinn in Bezug auf das Ganze aufprägt.¹⁷⁶ Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler, die es giebt: – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein „Sinn“ in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist. (GM, KSA 5.325)

Auf diese Weise verschafft der Druck der Künstlergewaltsamkeit den Mächtigen „latent“ ein ungeheures Quantum Freiheit, aus dem sich aber das schlechte Gewissen entwickelt: „Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.“ (GM, KSA 5.325) Das schlechte Gewissen ist ein Wille zur Macht, der sich nicht mehr nach außen bzw. in Bezug auf andere Menschen und Dinge frei auslassen kann und sich daher zum Inneren des Menschen wendet. Ein solcher Wille zur Macht ist nicht mehr aktiv, also  Nietzsche führt aus, dass „der älteste „Staat“ demgemäss als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war.“ (GM, KSA 5.324)

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nicht mehr imstande, aus eigener Kraft seine schöpferischen Fähigkeiten nach außen anzuwenden, sondern reaktiv. Er ist ein schwacher Wille, der unter einem äußeren Druck nach innen zurücktritt und sich eine imaginäre Welt schafft. Die Zwangsjacke der Gesellschaft und des Friedens, die immer unpersönlicher werdende Gerechtigkeit, nach der man nicht mehr Person an Person, Macht an Macht, sondern den Einzelnen an der Gesellschaft misst, der Druck der Künstlergewaltsamkeit der Mächtigen, das kausale Denken, „die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, […] auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr „Bewusstsein“, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ“ (GM, KSA 5.322): Dies alles hat den Instinkt der Freiheit und damit den Willen zur Macht zurückgedrängt, ins Innere eingekerkert, so dass er sich zuletzt nur noch an sich selbst entladen und auslassen kann. Das schlechte Gewissen wird, anders gesagt, vom guten Gewissen verursacht. Es ist die Konsequenz eines unterdrückten Instinktes der Freiheit bzw. Willens zur Macht.¹⁷⁷ Psychologisch betrachtet, wird der Ursprung des schlechten Gewissens als Verinnerlichung bezeichnet: „Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne.“ (GM, KSA 5.322) Die Verinnerlichung ist eines der wesentlichen Ergebnisse der Genealogie: Hier löst sich der politische in den seelischen Vorrangsbegriff auf. Das privatrechtliche Verhältnis des Schuldners zu seinem Gläubiger wird von Nietzsche zudem als Paradigma benutzt, um das Verhältnis „der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren“ auszulegen. Aus diesem Verhältnis entsteht eine juristische Verpflichtung der lebenden Generation gegenüber der vorangegangenen, die auf einer Schuld gründet. Sie gründet auf einer Schuld, weil „das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, und man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat“ (GM, KSA 5.327). Die beste Form der Rückzahlung ist der Gehorsam, „denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle“ (GM, KSA 5.328). Auch der Gehorsam ist psychologischer Herkunft, weil er aus der Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht entstand. Nietzsche zieht daraus die äußersten Konsequenzen: Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende gelangt: so müssen schliesslich die Ahnherrn der mächtigsten Geschlechter durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst in’s Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein: – der Ahnherr wird zuletzt nothwendig in einen Gott transfigurirt.Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der Furcht! …

Die Transfiguration des Schuldgefühls kulminiert im christlichen Gott. Durch ihn schuf der Mensch des schlechten Gewissens sein Ideal. Er „hat sich der religiösen  „Eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist – und nicht, wie in jenem grösseren und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen.“ (GM, KSA 5.326)

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Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben“. Daher hat er seine tierischen Instinkte als Schuld gegen Gott umgedeutet. Die „wahnsinnige traurige Bestie“, der Mensch, hat durch „eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat“, verhindert, eine „Bestie der That“ zu sein: „welche Widernatur, welche Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee!“(GM, KSA 5.332 f.) Der Mensch hat durch sein Messen und Abschätzen ein Gewissen gebildet. Es tritt hier die Paradoxie der Aufgabe der Natur, „das eigentliche Problem vom Menschen“ hervor. Der Mensch hat seine amoralische Natur in eine moralische umgewandelt, indem er seinen Instinkten keinen freien Raum gelassen hat. Er hat sich durch furchtbare Schmerzen ein Gedächtnis geschaffen, um sich selbst zu disziplinieren. Dann hat er die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, indem er festgestellt und durchgesetzt hat, was erlaubt und was verboten ist. So hat er sein „Können“ und „Müssen“ in ein „Dürfen“ uminterpretiert. Was für ihn notwendig und lebensbestimmend war, also seine Bedürfnisse, sein „Können“ und „Müssen“, rückt in den Hintergrund, und erst so kann sein „Dürfen“ in den Vordergrund treten. Der Mensch hat sich also etwas verboten. Das bringt psychologische und historische Konsequenzen mit sich: Aus historischem Blickwinkel sind die Gründung des Staats und die Installation des Gesetzes aus zweierlei Gründen entscheidend: „von nun an wird das Auge für eine immer unpersönlichere Abschätzung der That eingeübt“ (GM, KSA 5.312) und die Gewalt wird in der Strafe sublimiert.¹⁷⁸ Auf die Dauer misst man nicht mehr Person an Person, sondern das Individuum an der Gesellschaft. Daher werden die Werte nicht mehr von den Mächtigen verkörpert, sondern von den Gesetzen oder Institutionen, die den Individuen vorschreiben, was sie dürfen und was nicht. Je mehr Macht und Selbstbewusstsein einer Gesellschaft zunehmen, desto eher nimmt man an, dass die Fehler des Einzelnen nicht gefährlich für das Bestehen des Ganzen sein können. Die Gerechtigkeit wird also unpersönlicher, wandelt sich in Gnade um und „endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts.“ (GM, KSA 5.309) Die Selbstaufhebung der Gerechtigkeit ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Selbstaufhebung der Moral.

12.4 Die Ambivalenz der asketischen Ideale In der dritten Abhandlung von GM geht Nietzsche der Bedeutung des asketischen Ideals nach, um herauszufinden, was durch das Ideal zum Ausdruck kommt: „Nicht was dies Ideal gewirkt hat, soll hier von mir an’s Licht gestellt werden; vielmehr ganz

 Die Gewalt bleibt in der Strafe bestehen, aber sublimiert „in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit“ (GM, KSA 5.300).

12.4 Die Ambivalenz der asketischen Ideale

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allein nur, was es bedeutet, worauf es rathen lässt, was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Missverständnissen überladne Ausdruck ist.“ (GM, KSA 5.395) Die historischen und sozioökonomischen Überlegungen der ersten beiden Abhandlungen über die Herkunft von „gut und böse“, „gut und schlecht“, dem Schuldgefühl und dem schlechten Gewissen treten in den Hintergrund zugunsten verschiedener physio- und psychologischer Betrachtungen. Nietzsche Definiert in den ersten beiden Abhandlungen den Menschen noch als das vergessliche Tier, das „abschätzende Thier an sich“ (GM, KSA 5.306), also als das Tier, das versprechen darf. Diese drei Ausdrücke entsprechen drei Wesenszuständen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte mittels einer strengen, grausamen Selbstzucht und Selbstbeherrschung erreicht hat, so dass er ein gesellschaftliches und kulturelles Leben führen konnte. In der dritten Abhandlung geht Nietzsche nun von der Ansicht aus, dass der Mensch „das leidgwohnteste Tier“ ist, das im Laufe seiner Geschichte „das kranke Thier“ (GM, KSA 5.367) geworden ist. Dieser Zustand liegt Nietzsche zufolge nicht nur daran, dass der Mensch durch den psychologischen Prozess der Verinnerlichung das schlechte Gewissen erfunden hat, sondern auch daran, dass der Mensch „der grosse Experimentator mit sich“ ist: Er hat „mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert [Hervorhebung N.N.] als alle übrigen Thiere zusammen genommen“ und ist infolgedessen „das am meisten gefährdete, das am Längsten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren“. Als Schutz- und Heilmittel hat er das asketische Ideal erfunden: das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. (GM, KSA 5.366)

Obwohl das asketische Ideal aus dem Instinkt eines degenerierenden Lebens hervorgeht, ist es ambivalent: In ihm verstecken sich sowohl die intakten Instinkte des Lebens als auch der Wille zum Nichts. Das asketische Ideal ist lebensfeindlich: „hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen“ (GM, KSA 5.363). Daher bildet das asketische Ideal die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen ab, das seine Verkörperung im asketischen Priester findet. Der Asket verneint das Leben, indem er sich ein anderes Leben vorstellt, das er dem Leben der anderen entgegenstellt und es so verurteilt. Sein Pathos der Distanz ist das Verlangen nach einem „Anders-Sein“ oder „Anderswo-Sein“. Der im asketischen Ideal vorhandene Selbstwiderspruch, dass das Leben sich selbst ablehnt, ist nach Nietzsche, physiologisch betrachtet, nur ein scheinbarer. Denn tatsächlich ist das asketische Ideal auch „ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens“ (GM, KSA 5.366), wie sich

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wiederum am Fall des asketischen Priesters erkennen lässt. „[D]ieser Verneinende“ ist zwar der „anscheinende Feind des Lebens“,gehört aber zugleich „zu den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens …“ Seine Aufgabe besteht darin, die Gesunden von den Kranken zu trennen und sie zu trösten und zu pflegen: Der asketische Priester muss uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück. Er muss selber krank sein, er muss den Kranken und Schlechtweggekommenen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen, – um sich mit ihnen zu verstehen (GM, KSA 5.372).

Wenn das asketische Ideal als Schutz- und Heilmittel wirkt, besteht die psychologische Tragweite des asketischen Priesters in seiner Fähigkeit, das Leiden in ein Schuldgefühl umzudeuten. Er liefert dem Leidenden Gründe für sein Leiden und bestimmt die Schuld als den einzigen Grund für das Leiden. So wird der Leidende zum Sünder. Der Mensch erhält vom asketischen Priester „den ersten Wink über die „Ursache“ seines Leidens: er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn …“ (GM, KSA 5.389) Als wirksamstes Mittel zur Betäubung der lähmenden Schmerzhaftigkeit dient ihm die „Ausschweifung des Gefühls“(GM, KSA 5.385). Sie wird durch das Schuldgefühl erreicht, also durch einen Affekt. In der Ausschweifung des Gefühls liegt der physiologische Ursprung des Ressentiments: „Hierin allein ist, meiner Vermutung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz durch Affekt“(GM, KSA 5.374). Nietzsche hält also fest, dass „das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Gefühls-Ausschweifung“ (GM, KSA 5.388) arbeitet und der asketische Priester „der Richtungs-Veränderer des Ressentiment“ (GM, KSA 5.373) ist: „Diesen Sprengstoff so zu entladen, dass er nicht die Heerde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit“. Die Errungenschaft der Affektmedikation wirkt zwar gut gegen die Depression, doch handelt es sich bei ihr nur um die Bekämpfung, Linderung und Betäubung des Unlustgefühls: „man dürfte selbst nicht einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe.“ (GM, KSA 5.376) Das Resultat ist aus psychologisch-moralischer Sicht „Entselbstung“, „Heiligung“ und „Hypnotisirung“. Dennoch hat „der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den asketischen Priester zum Mindesten versucht […], die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung auszunützen.“ (GM, KSA 5.375) Der asketische Priester hat seinerseits die Schmerzen durch „die Freude des Freude-Machens (als Wohlthun, Beschenken, Erleichtern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen)“ (GM, KSA 5.383) zu heilen versucht. In dieser Hinsicht hat er durch „Nächstenliebe“ „im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosirung,

12.5 Nihilismus und Atheismus

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– des Willens zur Macht“ (GM, KSA 5.383) bewirkt. Der asketische Priester zeichnet sich also dadurch aus, dass er das Leiden und die Vergangenheit derart neu interpretiert und bestimmt, dass sich die Verinnerlichung des Schuldgefühls vollzieht. Er setzt dem Menschen zwar neue Ziele und eine Umwertung der Werte in Gang, die jedoch durch und durch lebensverneinend und nihilistisch ist.

12.5 Nihilismus und Atheismus Das asketische Ideal ist also ambivalent, weil es lebensverneinend und lebensschützend zugleich ist. Im Grunde ist das Ideal Ausdruck eines degenerierenden Lebens, denn es kann zwar das Leiden lindern und bekämpfen und den Menschen betäuben: Es hat jedoch „nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden […], nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein [bekämpft], – das muss unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben.“ (GM, KSA 5.337) Das asketische Ideal kann also gar nicht das Leiden heilen und besiegen. Es hat Europa infiziert und ist das Merkmal einer ganzen Epoche, weil es die Umwertung der Werte bewirkt hat. Nietzsche beschränkt sich aber nicht auf die Anamnese und Diagnose der Krankheit des Menschen und Europas. Er will eine Therapie, eine Lösung finden. Dazu stellt er die Frage, ob die moderne Wissenschaft vielleicht das Gegenstück zum asketischen Ideal sein kann. Seine Antwort fällt aber negativ aus. Die moderne Wissenschaft kann dem asketischen Ideal nicht entgegenwirken, sie ist „vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form“ (GM, KSA 5.396 f.). Das ist sie in zweierlei Hinsicht: erstens, weil sie nicht interpretiert, „sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt“ … Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht!“ (GM, KSA 5.406) Zweitens, wie Nietzsche an verschiedenen Stellen ausführlich erläutert,¹⁷⁹ schließt die Wissenschaft den Glauben an das asketische Ideal ein. Was zu ihr zwingt, ist der unbedingte Wille zur Wahrheit: das ist der Glaube an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit, wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal). Es giebt, streng geurtheilt, gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein „Glaube“ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (GM, KSA 5.400)

Wie das asketische Ideal ist auch die Wissenschaft ein Mittel zur Selbstbetäubung. In der Wissenschaft versteckt sich das schlechte Gewissen, „sie ist die Unruhe der Ide-

 Vgl. etwa Aphorismus 344, das fünfte Buch der FW, die Vorrede zur zweiten Auflage von M und den „Versuch zu einer Selbstkritik“.

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allosigkeit selbst, das Leiden am Mangel der grossen Liebe, das Ungenügen an einer unfreiwilligen Genügsamkeit“ (GM, KSA 5.397), wie auch das asketische Ideal „Mangel an Maß, Widerwillen gegen Maß“ (GM, KSA 5.395) ist und die Ausschweifung des Gefühls als Heilmittel nutzt. In GM stellt Nietzsche die Hypothese auf, dass der Wille zur Wahrheit sich physiologisch, psychologisch, historisch und philosophisch als das asketische Ideal „in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern“ (GM, KSA 5.409) erwiesen hat. Die Wissenschaft kann also nicht natürlicher Antagonist des asketischen Ideals sein, weil sie nicht wertschaffend ist: „Sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf „ (GM, KSA 5.402). In dieser Hinsicht verhält sie sich zum asketischen Ideal „durchaus noch nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar.“ Darüber hinaus ist der Mensch durch die Wissenschaft nicht „weniger bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Räthsels von Dasein geworden“ (GM, KSA 5.404). Er glaubt nicht mehr „an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen“. Er ist „Tier“ geworden, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott („Kind Gottes“, „Gottmensch“) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s „durchbohrende Gefühl seines Nichts“?… Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg – in’s alte Ideal? …

Wegen des asketischen Ideals und des asketischen Priesters paart sich der große Ekel vor dem Menschen mit dem großen Mitleid mit dem Menschen. Daher kommt „unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt, der „letzte Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus“ (GM, KSA 5.368), aus dem sich der Atheismus ergibt.¹⁸⁰ Im „unbedingten redlichen Atheismus“ entbehrt der Geist jegliches Ideals. Deswegen ist der Atheismus nicht das Gegenteil dieses Ideals, sondern stellt, wie die moderne Wissenschaft, eine Erscheinungsform des Nihilismus¹⁸¹ dar und zwar „nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen

 „(Nach derselben Logik des Gefühls heisst in allen pessimistischen Religionen das Nichts Gott.)“ (GM, KSA 5.382)  Vgl. dazu Eike Brock, Nietzsche und der Nihilismus, Berlin 2015. In seinem Buch geht Brock der Komplexität des Nihilismus als Sinnverlust, Sinnvakuum oder Sinndefizit nach. Der Nihilismus ergebe sich im Wesentlichen als „ein mehrdimensionales Phänomen. Er weist insgesamt drei Dimensionen auf: eine kulturelle, eine anthropologische und schließlich, da es sich um ein negatives Selbsturteil handelt, auch eine existenzielle. Nietzsches Überlegungen dringen weit in alle drei Dimensionen vor.“ (S. 387) Aus diesem Grund „resultiert der Nihilismus (oder resultiert gerade nicht) aus einem bestimmten Verhältnis zu sich selbst oder auch: Er ist ein bestimmtes Selbstverhältnis — eben ein nihilistisches.“ (S. 388) Schließlich gehöre der Nihilismus zum Wesen des Menschen: Er sei nicht ein bloß kulturelles Phänomen, sondern tauche, als die äußerste Möglichkeit des selbstbezüglichen (bzw. des Selbst-bezüglichen) Verhaltens notwendigerweise vor uns auf.“ (S. 10)

12.6 Die Frage nach dem Wert der Wahrheit und die Selbstaufhebung der Moral

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und inneren Folgerichtigkeiten“ (GM, KSA 5.409). Da die Wissenschaft eine Erscheinungsform des asketischen Ideals ist, sind beide „nothwendig Bundesgenossen“. Wenn eines infrage gestellt wird, wird es auch das andere,¹⁸² so dass „eine Werthabschätzung des asketischen Ideals unvermeidlich auch eine Werthabschätzung der Wissenschaft nach sich zieht“ (GM, KSA 5.402). Wenn der Glaube an die Wahrheit, auf dem die Wissenschaft beruht, als Problem bewusst wird, tritt auch die Moral als Problem ins Bewusstsein.¹⁸³

12.6 Die Frage nach dem Wert der Wahrheit und die Selbstaufhebung der Moral Aus dem Wissen um die Problematizität der Wahrheit ergibt sich die Selbstaufhebung der Moral: „An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde“ (GM, KSA 5.410). Das ist die letzte Konsequenz einer langen moralischen Zucht zur Wahrheit, der christlichen Wahrhaftigkeit, die, nachdem sie einen Schluss nach dem anderen gezogen hat, „am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst, [zieht]. […] Dergestalt gieng das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu Grunde gehn, – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses.“ (GM, KSA 5.410) Im Kontext der Selbstaufhebung der Moral stellt der Atheismus eine „Katastrophe“ dar: „— er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet.“ (GM, KSA 5.409) Nietzsche meint das wortwörtlich. Das Wort „Katastrophe“ stammt aus dem altgriechischen „katastrophé“, Umkehr,Wendung, vor allem „Wendung nach unten“, d. h. „zum Schlimmen“. Sie weist auf eine plötzliche, schnelle, endgültige Wendung hin, die aber für Nietzsche nicht nur negativ sein muss. Er sieht die Notwendigkeit, dass die Philosophie endlich zum Bewusstsein darüber kommt, „inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf“. Lässt der Glaube an die Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz nach, so taucht die Wahrheit als Problem auf, und damit wird die Aufgabe von GM bestimmt:

 Vgl. GD, Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ (GD, KSA 6.81)  „Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (— denn noch weiss ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre? … An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde: jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele …“ (GM, KSA 5.410 f.)

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12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift

— Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, giebt es auch ein neues Problem: das vom Werthe der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe —, der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen … (GM, KSA 5.401)

In dieser Frage ertönt die von Nietzsche in JGB 11 aufgeworfene Frage, warum der Glaube an synthetische Urteile a priori nötig sei. Der Mensch bedarf des Glaubens an die Wahrheit zum Handeln und zum gesellschaftlichen Leben. Darin besteht der Wert der Wahrheit, nicht in ihrer logischen Stringenz, begrifflichen Objektivität oder ihrem absoluten Wesen. Die Wahrheit ist viel wert, weil sie die Welt denkbar und den Menschen berechenbar macht. Durch sie bekommt der Mensch das Gefühl, dass er jegliches Ding, Geschehen und sich selbst in Besitz nehmen und so über die Dinge und sich selbst so verfügen kann, dass er versprechen darf. Aufhebung ist bei Nietzsche kein zentraler Begriff wie bei Hegel. Man könnte sagen, dass Nietzsche mit den Kategorien von Einheit und Totalität arbeitet, aber nicht im hegelschen Sinne. Bei ihm sind diese Kategorien nicht die Modi des Geistes, sich geschichtlich zu entfalten, sondern das Mittel des Menschen, sich die Welt und das Leben anzueignen und berechenbar zu machen. Sie gehören nicht zum Wesen des absoluten Geistes, sondern sind Merkmale der dichtenden Vernunft. Wenn bei Nietzsche gelegentlich die Rede von entgegensetzten Kräften oder von der Gegenüberstellung von Einheit und Totalität ist, ist das nicht im Sinne der Dialektik zu verstehen, sondern einer Polarität. Auch wenn Nietzsche die Selbstaufhebung zum Prinzip des Lebendigen erhebt, um abwegige Assoziationen zur hegelschen Dialektik zu vermeiden, sollte man besser von Selbstgestaltung sprechen. Sie könnte als Prozess gefasst werden, der Selbstauflösung und Selbstüberwindung einschließt. ¹⁸⁴

12.7 Der Sinn des Lebens Die Selbstaufhebung der Moral deutet auf die Umwertung aller Werte hin. Sie ist zweifelsohne die Besinnung auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: „welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre? …“ (GM, KSA 5.410) Diese Frage gewinnt ihre philosophische Relevanz durch die Infragestellung des Wertes der Wahrheit. Nietzsche beschäftigt sich mit diesem Problem in philosophischer Hinsicht besonders in den letzten Paragraphen ‒ vom 23. bis zum 28. ‒ der dritten Abhandlung der GM. Im letzten Abschnitt bringt er die sinnstiftende Bedeutung des asketischen Ideals für das Leben zum Ausdruck. Der Mensch wird als das krankhafte und leidende, das leidgewohnteste Tier gekennzeichnet, das ein „Wozu“ in seinem Leben benötigt. Es mangelt ihm an einem Ziel, einem Sinn. Er fragt sich: „Wozu der Mensch überhaupt? Wozu leiden?“ Einen Sinn, ein „Dazu“ bietet ihm ge Vgl. dazu Ingo Christians, „Art. Selbst“, in: Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, S. 264 f.

12.7 Der Sinn des Lebens

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rade das asketische Ideal, durch das der Mensch nun sein Leiden und sein ganzes Leben rechtfertigen kann. Im asketischen Ideal „war das Leiden ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu.“ (GM, KSA 5.411) Auch wenn dies unter der Perspektive des als Schuld ausgelegten Leidens neues geistiges Leiden mit sich brachte, war der Mensch gerettet. Er hatte endlich einen Sinn, konnte etwas wollen: „der Wille selbst war gerettet.“ (GM, KSA 5.412) Die Ambivalenz des asketischen Ideals und des Atheismus gründen auf der Ambivalenz der Moral: „Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift“ (GM, KSA 5.253). Obgleich der Wille zum Nichts Hass gegen das Menschliche, „Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst ausdrückt“ (GM, KSA 5.412), bedeutet — das Alles […], wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille! … Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen …

Die Bedeutung der asketischen Ideale besteht also darin, dass das Leben selbst zum Problem wird. Das Problem muss philosophisch angepackt werden, man muss ihm gezielt entgegenwirken. Nietzsche meint, dass in der Tat eine Veränderung in der Geschichte möglich und man in seinem Zeitalter in der umgekehrten Bewegung begriffen ist. Das Schuldbewusstsein lässt in dieser Hinsicht immer mehr nach. Sein erheblicher Niedergang folgt dem Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott: „ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zu einander. —“ (GM, KSA 5.330) Wer diesen umgekehrten Versuch zustande bringen könnte, wäre nach Nietzsche ein Atheist, ein Antichrist, vergleichbar mit Zarathustra, dem Gottlosen. Er wäre stark genug, „die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.“ (GM, KSA 5.335) Wer dies könnte, würde dem Leben und der ganzen Geschichte eine neue Form, eine neue Ordnung, einen neuen Sinn aufprägen und somit die Zukunft des Menschen in neue Bahnen lenken.

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12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift

12.8 Der Ursprung des Gewissens, der Philosoph und das souveräne Individuum Die Bedeutung des asketischen Ideals ist noch nicht erschöpft. Ihm kommt dadurch eine solche Relevanz zu, dass sich die Philosophie lange Zeit in ihm versteckt hat, damit sie in irgendeiner Weise bestehen konnte: „das asketische Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient, – er musste es darstellen, um Philosoph sein zu können, er musste an dasselbe glauben, um es darstellen zu können.“ (GM, KSA 5.360) Der Philosoph findet also im asketischen Ideal seine Existenzbedingung und den Weg zur Steigerung seiner Kräfte. „Jedes Thier, somit auch la bête philosophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht“ (GM, KSA 5.350). Wenn der Philosoph Ruhm, Fürsten und Frauen zugunsten von Ruhe, Einsamkeit und Stille meidet, handelt es sich nicht um eine Entbehrung. Seine „dominirende Geistigkeit“ agiert als sein „dominirender Instinkt“ (GM, KSA 5.352). So will es sein dominierender Instinkt: „eben [sein] „mütterlicher“ Instinkt ist es, der hier zum Vortheil des werdenden Werkes rücksichtslos über alle sonstigen Vorräthe und Zuschüsse von Kraft, von vigor des animalen Lebens verfügt: die grössere Kraft verbraucht dann die kleinere.“ (GM, KSA 5.355) Es ist der Kampf entscheidend, den der Philosoph in seinem Inneren zu seiner Selbstdisziplinierung, Selbstüberwindung und zur Schaffung neuer Werte kämpft.¹⁸⁵ Vor diesem Hintergrund zeigt sich die volle philosophische Tragweite des asketischen Ideals. Sie besteht nicht nur darin, dass der Philosoph es als „Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit“ (GM, KSA 5.351) erachtet, nicht einmal darin, dass er durch dieses Ideal den moralischen Akt der Selbstdisziplinierung, Selbstüberwachung und Selbstüberwindung lernt. Die philosophische Bedeutung des asketischen Ideals besteht vor allem darin, dass es dem Philosophen wie dem Priester ermöglicht, dem Leiden einen Sinn zu verleihen. Es ist ein System der Interpretation. Nietzsche führt uns vor Augen, dass das asketische Ideal „ein geschlossenes System von Wille, Ziel und Interpretation ist und zwar ein zu Ende bedachteres System von Interpretation, das es je gab!“ Das asketische Ideal hat ein Ziel, nach dem es alles unerbittlich interpretiert: es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen

 „Denn sie fanden in sich alle Werthurtheile gegen sich gekehrt, sie hatten gegen „den Philosophen in sich“ jede Art Verdacht und Widerstand niederzukämpfen. Dies thaten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, die erfinderische Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-Neuerer, welche es nöthig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung glauben zu können.“ (GM, KSA 5.359 f.)

12.8 Der Ursprung des Gewissens, der Philosoph und das souveräne Individuum

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habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu Einem Ziele … (GM, KSA 5.396)

Von einem psychologischen Standpunkt aus kulminiert der historische Prozess der Zivilisation, der zugleich der Prozess der Verinnerlichung ist, in der Erfindung des Gewissens.Von seinem „von der Natur „anders-sein-wollen““ angetrieben schafft sich der Mensch ein Gedächtnis und ein Gewissen, auf die er allmählich sein Denken und Handeln beschränkt (vgl. GM, KSA 5.322). Er macht sich zum messenden Tier und gibt nicht mehr seiner Gewalt und seinen Bedürfnissen freien Raum, sondern schätzt, vergleicht und misst, bevor er handelt, was er machen kann, soll und darf. Mit der Zeit findet er Begriffe und Haltungen, die ihm ermöglichen, in einer Gesellschaft zu leben und ihre Vorteile zu genießen. Er gewöhnt sich an die Begriffe und Haltungen, bis sie zu Wesen der Dinge und Gewohnheiten bzw. Sitten werden. Der Mensch macht sich also berechenbar und kann daher den anderen Menschen Rechenschaft über sich selbst ablegen und zugleich von anderen Menschen Rechenschaft verlangen. Aus diesem Grund darf er versprechen. Unter der Zwangsjacke der Sittlichkeit wird die Gewalt immer mehr vergeistigt und verinnerlicht, bis sie das schlechte Gewissen hervorbringt: Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine „Seele“ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des „schlechten Gewissens“. (GM, KSA 5.322 f.)

Das „schlechte Gewissen“ ist nach Nietzsche „die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand.“ (GM, KSA 5.321 f.) Auf dem schlechten Gewissen beruht nach Nietzsche das Christentum. Der Mensch hat in Gott seine Furcht sublimiert und ihn zu seinem moralischen Ideal erhöht. Dadurch hat er sich von sich selbst entfremdet, weil er eine fiktive Welt erschafft, an der er sein Leben misst und beurteilt. Der Mensch leidet infolgedessen an sich selbst. Das ist nach Nietzsche „die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte.“ (GM, KSA 5.323) Trotzdem ist laut Nietzsche das schlechte Gewissen „eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist.“ (GM, KSA 5.327) Der Mensch wird aufgrund des schlechten Gewissens „ein interessantes Tier“:

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12 Eine Streitfrage für eine Streitschrift

„er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei …“ (GM, KSA 5.323 f.) Am Ende des ungeheuren Prozesses der Sozietät und ihrer „Sittlichkeit der Sitte“ lässt sich fragen, wozu sie das Mittel war: Ihr Schaffensprozess war nur das Mittel zum souveränen Individuum, dem Herrn des freien Willens: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. (GM, KSA 5.293)

Das souveräne Individuum nimmt eine zentrale Stellung in GM ein. Es ist „der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens“ (GM, KSA 5.294) und hat darin sein „Werthmaass“. Es hat eine selbstbeherrschte Persönlichkeit, der deswegen „auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen notwendig in die Hand gegeben ist.“ Daher ist ein solcher Mensch jemand, „der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst „gegen das Schicksal“ aufrecht zu halten“. Ist es jedoch nicht widersprüchlich, dass das souveräne Individuum, insofern es „das autonome übersittliche Individuum“ ist, wirklich versprechen darf? Diese scheinbare Kontradiktion lässt sich lösen, indem man sich Nietzsches Anspruch auf eine höhere Kultur, nicht jedoch auf ihre pauschale Abschaffung vergegenwärtigt. Nietzsche will zwar die christliche Moral abschaffen, nicht aber die Moral als solche. Er beansprucht, wie wir im Folgenden sehen werden, eine Umwertung aller Werte und damit eine verklärte Natur und neue Kultur. Keine Kultur und keine Moral kann auf Versprechen und Verantwortlichkeit, Gesetze und Normen verzichten. Diese sollen aber von Menschen verkörpert werden. Solche Menschen sollen als Vorbilder gelten wie die griechischen Götter: „diese Wiederspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das Thier im Menschen sich vergöttlicht fühlte und nicht sich selbst zerriss, nicht gegen sich selber wüthete!“ (GM, KSA 5.333) Deswegen ist Nietzsches souveränes Individuum ein Mensch, in dem Selbstdisziplinierung, die Freiheit zur Verantwortlichkeit und das Gewissen zum dominierenden Instinkt geworden sind: Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt: – wie wird er ihn heissen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort dafür bei sich nöthig hat? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveraine Mensch heisst ihn sein Gewissen …

12.9 Die Kunst als Gegenbewegung: Von der Aufklärung zur Verklärung

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Das souveräne Individuum ist der Typus Mensch, den Nietzsche dem asketischen Priester entgegenstellt. Beide gehen von der existentiellen Notwendigkeit aus, das Leiden umzudeuten. Der eine legt das Leben als Strafzustand aus, der andere bringt die Unschuld des Werdens ans Licht. Der eine hat durch den Einsatz seiner schöpferischen Kräfte den Nihilismus zustande gebracht, der andere kann über den Nihilismus hinausgehen, indem er die schöpferischen Kräfte zur Selbstüberwindung verwendet. Wenn der asketische Priester der Richtungsveränderer des Ressentiments und damit der Förderer der christliche Umwertung der Werte ist, ist das souveräne Individuum seinerseits der Richtungsveränderer des guten Gewissens und damit der Befürworter einer neuen Umwertung der Werte.

12.9 Die Kunst als Gegenbewegung: Von der Aufklärung zur Verklärung In Anbetracht dieser Ergebnisse und ihrer Vorrede ergibt sich die Genealogie als philosophische Vollendung der von Nietzsche in Fatum und Geschichte entworfenen Aufgabe einer radikalen Kritik der Moral und des Christentums, der ab MA unternommenen Aufgabe einer radikalen Kritik der Moral sowie der Kultur durch die Chemie der moralischen, religiösen und ästhetischen Begriffe und Empfindungen zum Zweck einer „alle bisherigen Grade übersteigenden Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele“ (MA, KSA 2.46). In MA ging Nietzsche von der Frage aus: „wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen?“ (MA, KSA 2.23) Er erhob die Forderung nach „einer Entstehungsgeschichte des Denkens“, in der „der stetige und mühsame Process der Wissenschaft“ (MA, KSA 2.37) seinen höchsten Triumph hätte feiern können. In GM werden die Bedingungen der Kultur ermittelt. Auf der Basis einer „BegriffsVerwandlung“ und einer Verwandlung des „Vorrang-Begriffs“ erklärt Nietzsche den Ursprung und die Entwicklung der Moral, des Rechts, der Wissenschaft, des Christentums und der Philosophie. Das Resultat ist die Perspektivierung der Moral. Die Moral vollzieht sich erstens auf Zeit und unter bestimmten Lebensbedingungen,¹⁸⁶ ist zweitens eine Perspektive unter anderen und lässt sich drittens selbst aus verschiedenen Perspektiven deuten. Der letzte Fall kommt beim asketischen Ideal exemplarisch zum Vorschein. Im Grunde genommen ist jedes Phänomen nicht die Entwicklung eines Sinnes, sondern eine Synthesis von Sinnen bzw. Perspektiven. Das asketische Ideal zeigt sich physiologisch als Betäubung des Unlustgefühls, Erregung des Willens zur Macht und Krankheit, psychologisch als Verinnerlichungsprozess und Vergeistigung der Grausamkeit, soziologisch als Geburt und Entwicklung der Ge Vgl. dazu ausschlaggebend die Werkinterpretation von Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral, Darmstadt 1994, und Werner Stegmaier, „Die Bedeutung des Priesters für das asketische Ideal. Nietzsches ,Theorie‘ der Kultur Europas (III 11– 22)“, in: Höffe (Hg.). Friedrich Nietzsche, S. 149 – 162.

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rechtigkeit, der Gesellschaft und des Staats sowie geschichtlich als Entwicklung der Zivilisation, Krankheit Europas und Selbstaufhebung der Moral. Diese Perspektivierungen sind deshalb möglich, weil sich der Mensch im Laufe der Geschichte immer vielfältiger und geistiger entwickelt hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Nietzsches Behauptung, dass die höhere Kultur als „Vergeistigung der Grausamkeit“ (GM, KSA 5.301) zu verstehen ist. Ergebnisse und Bedingungen dieser Vergeistigung und Schöpfungen des Willens zur Macht sind Gedächtnis, Bewusstsein, Gewissen, Vernunft sowie Glauben, Wahrheit, Gerechtigkeit und Schuld. Im Laufe der Entwicklung der Menschheit wird der Mensch zum abschätzenden Thier an sich. Abschätzen, Messen und Vergleichen bekommen mit dem Hervorbringen der Vernunft eine besondere, verhängnisvolle Bedeutung, die laut Nietzsche ein spätes Ergebnis der menschlichen Entwicklung ist. Am Ende der mühsamen und grausamen Zucht des Menschen „kam man endlich „zur Vernunft“! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller „guten Dinge“! …“ (GM, KSA 5.297) Die Entwicklung des Denkens bzw. der „Vernunft“ geht Nietzsche zufolge mit der der Moral einher. Gleich dem Denken hat die Moral ihren Anfang im rechtlichen Verhältnis des Gläubigers zu seinem Schuldner. Der Mensch schöpft sich ein Gedächtnis und ein Gewissen und macht sich durch sein Messen, Vergleichen und Abschätzen berechenbar. Der gemäß Vernunft und Gewissen denkende und handelnde Mensch ist nicht mehr Raub-, sondern Haustier — er ist zahm und zivilisiert. Die Zivilisation und ihre Kultur, deren Träger aus Ressentiment handeln, können keinen Fortschritt der Menschheit hervorbringen: Gesetzt, dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als „Wahrheit“ geglaubt wird, dass es eben der Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubthiere „Mensch“ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten, so müsste man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Cultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass deren Träger zugleich auch selber die Cultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegentheil nicht nur wahrscheinlich – nein! es ist heute augenscheinlich! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit – sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! (GM, KSA 5.276)

Was für Nietzsche hochproblematisch und als Produkt des degenerierenden Instinktes des Lebens scheint, ist der Prozess, in dem die Vergeistigung durch den asketischen Priester in eine Verinnerlichung übergeht. Wenn der daraus resultierende Vorteil der Vergeistigung die Selbstdisziplinierung ist, ist der Nachteil eine Verdrängung des Instinkts der Freiheit bzw. des Willens zur Macht durch die Verinnerlichung.¹⁸⁷

 „[E]ben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der

12.9 Die Kunst als Gegenbewegung: Von der Aufklärung zur Verklärung

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Während die vornehmen, stärkeren Menschen, die Menschen des guten Gewissens, die degenerierenden Instinkte der ihnen unterstehenden Schwächeren mittels der Zwangsjacke der Gerechtigkeit und der Gesellschaft bewältigen wollten, erreichten sie auf Dauer nur das Umgekehrte. Daher ist aus dem guten Gewissen das schlechte und aus diesem das asketische Ideal und dessen Verkörperung, der asketische Priester, hervorgegangen. In diesem Kontext bezeichnet Nietzsche das asketische Ideal als die gefährlichste Krankheit des Menschen: Dass dasselbe [das asketische Ideal] in dem Maasse, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, in Sonderheit überall dort, wo die Civilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine grosse Thatsache aus, die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen, zum Mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem „Ende“). (GM, KSA 5.366)

Das Raubtier ist zu einem Haustier, zum kränksten Tier geworden. In ihm entsteht und verwurzelt sich ein Selbstwiderspruch: „Leben gegen Leben“. Wie gezeigt, ist das asketische Ideal ambivalent. In ihm kommt nicht nur der Selbstwiderspruch des Menschen, sondern auch die Grundtatsache des menschlichen Willens zum Ausdruck: „Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ (GM, KSA 5.339). Hier wird ein wichtiges Merkmal der Philosophie Nietzsches sichtbar: die Tragik des Lebens. Der Mensch hat sich durch eine strenge, auf Kausalverhältnissen und Regelmäßigkeit beruhende Zucht derart berechenbar gemacht, dass er endlich nur als Haustier imstande ist, gesellschaftlich zu leben. Er hat durch die Vernunft seine Existenz derart vergeistigt, dass er Wertetafeln hervorgebracht und die Not und Notwendigkeit der Natur durch das „Sollen“ und „Dürfen“ ersetzt hat. Er hat sich dadurch der Natur entgegengesetzt, versteht sich nicht mehr als Naturwesen, hat sich entfremdet. Durch die Vergeistigung der Grausamkeit hat er sein ganzes Leben nach einem Jenseits, einem völlig imaginierten Dasein ausgerichtet. Der Mensch lebt daher in einem dauernden Konflikt mit seinen vitalen schöpferischen Kräften — seinen echten Bedürfnissen, Grundtrieben, Gefühlen, Leiden — und mit der Natur. Er fühlt sich ständig von ihr herausgefordert, sie zu überwinden. Dementsprechend erlebt der zivilisierte Mensch einen Überdruss am Leben, eine Ermüdung und wünscht sich das „Ende“. Der Mensch hat sich selbst und die Natur wissenschaftlich seziert, katalogisiert und anthropomorphisiert. Trotzdem — oder vielleicht deswegen — leidet er an sich selbst. Darin liegt das eigentliche Problem des Menschen und die Paradoxie der Aufgabe der Natur, „ein Thier heranzuzüchten das versprechen darf“. Die rück-

Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist – und nicht, wie in jenem grösseren und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen.“ (GM, KSA 5.326)

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sichtslose Kritik, die Verneinung geht Hand in Hand mit der Bejahung. Mit Berufung auf die berühmten und vielzitierten Verse von Hölderlins Patmos — Nietzsches Lieblingsdichter — lässt sich festhalten: „wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Tatsächlich spricht Nietzsche dem Tier, das versprechen darf, auch eine positive Bedeutung zu. Es gibt Individuen, die durch eine strenge Übung die Selbstbeherrschung erlangt haben. Sie sind imstande, Rechenschaft vor sich selbst abzulegen, und dürfen daher versprechen. Solche souveränen Individuen sind starke ausgeglichene Menschen, die mit ihren aktiven Kräften versuchen, „der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen [Hervorhebungen N.N.].“ (GM, KSA 5.311) Das souveräne Individuum wirkt also dem asketischen Priester entgegen. Er kann nicht nur das kreative Potential des Menschen freilegen, sondern auch es maßvoll einsetzen und dadurch eine neue Kultur gestalten. Nietzsche versucht, auf ein Gegenideal hinzuweisen, und fragt im Laufe der dritten Abhandlung eindringlich: „Das asketische Ideal drückt einen Willen aus: wo ist der gegnerische Wille, in dem sich ein gegnerisches Ideal ausdrückte?“ (GM, KSA 5.395) Nietzsche setzt als Gegenteil zum asketischen Ideal die Kunst ein: „— die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft“ (GM, KSA 5.402). In diesem Befund findet sich ein Thema, das Nietzsche bereits in WL anriss: die Fähigkeit der Kunst zu täuschen, ohne zu schaden. Dies geschieht, wie ausgeführt, indem die Kunst den Intellekt durch Intuition steuert, im Gegensatz zur Wissenschaft, die den Intellekt an allgemeingültige und unbestreitbare Begriffsschranken bindet. Dazu kommt in GM die Idee der Flüssigkeit des Sinnes. Der Interpretationsprozess und der Prozess der Steigerung der Kräfte bleiben daher offen. Der Mensch kann nicht nur sich selbst, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft und die Lebensbedingungen anders interpretieren, sondern auch neue Lebensmöglichkeiten erschließen. So kann der von Intuitionen geleitete Intellekt frei schöpfen, weil er die Welt und das Leben zurückbesinnend auf die wahren Bedürfnisse des Menschen interpretiert und nicht dem Begriffsgespinst der Wissenschaft gehorchen und sich ihm unterstellen muss. Ein derartiger Intellekt ist kein kastrierter, sondern ein überaus schöpferischer. Er ist eine „dichtende Vernunft“, die aus dem Leib heraus, also autonom und nicht heteronom bzw. von einer äußeren Instanz geleitet, die Welt und das Leben interpretiert. Dies hat eine psychologische Konsequenz: Die dichtende Vernunft hat das gute Gewissen an der Seite, weil sie wertschöpfend und zugleich bejahend ist. Der Mensch fühlt sich als Sinnerfinder und Sinnurheber zugleich und ist damit zufrieden, kann frei seine Kräfte nach außen auslassen. Er ist autonom und aktiv, und es entsteht deswegen in ihm kein schlechtes Gewissen. Im philosophischen Zusammenhang von GM hinsichtlich der als Vergeistigungsprozess der Schmerzhaftigkeit des Menschen ausgelegten Geschichte der Menschheit kommt der dichtenden Vernunft eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Sie ermöglicht es dem Menschen, die Lust an der Grausamkeit zu sublimieren.

12.9 Die Kunst als Gegenbewegung: Von der Aufklärung zur Verklärung

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Vielleicht ist es sogar erlaubt, die Möglichkeit zuzulassen, dass auch jene Lust an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu sein brauchte: nur bedürfte sie, im Verhältniss dazu, wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer gewissen Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich in’s Imaginative und Seelische übersetzt auftreten und geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, dass von ihnen her auch dem zartesten hypokritischen Gewissen kein Verdacht kommt (das „tragische Mitleiden“ ist ein solcher Name; ein andrer ist „les nostalgies de la croix“). (GM, KSA 5.303 f.)

Durch die Kunst kann der Mensch all seine Instinkte und vor allem sein Leiden vergeistigen und verklären, indem die Sinnlichkeit nicht aufgehoben, sondern nach Maß transfiguriert wird. Damit tritt sie nicht als Reiz ins Bewusstsein, wie Nietzsche es am Beispiel von Schopenhauer zum Ausdruck bringt: der Anblick des Schönen wirkte offenbar bei ihm als auslösender Reiz auf die Hauptkraft seiner Natur (die Kraft der Besinnung und des vertieften Blicks); so dass diese dann explodirte und mit einem Male Herr des Bewusstseins wurde. Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, dass jene eigenthümliche Süssigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz „Sinnlichkeit“ ihre Herkunft nehmen könnte, (wie aus derselben Quelle jener „Idealismus“ stammt, der mannbaren Mädchen eignet) – dass somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfigurirt und nicht als Geschlechtsreiz mehr in’s Bewusstsein tritt. (GM, KSA 5.355 f.)

Geist und Sinnlichkeit schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Das eine ist die Voraussetzung des anderen, das Schöne erregt den Willen und infolgedessen den Geist. Die Kunst ermöglicht uns, mit aller Macht unseres Willens und Geistes die höchste Vergeistigung und Versinnlichung unseres Lebens anzustreben und zustande zu bringen. Die Abschaffung der asketischen Ideale und mithin der Wissenschaft öffnet uns neue Handlungsmöglichkeiten: „wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu „idealisiren“! …“ (GM, KSA 5.408) Die Genealogie geht nicht bloß auf die Entstehungsgeschichte der Moral zurück, sie setzt auch neue Ziele für die Menschheit: Sie stellt einen raffinierten und komplexen Interpretationsprozess dar. Sie bietet ein Mittel, um die zweitausendjährige Geschichte der Menschheit aufzuklären und zugleich einen neuen Lebenssinn zu entwickeln. Dies lässt sich daraus schließen, dass sie nicht die Vernunft, sondern den Willen als „zwecksetzendes Vermögen“ ans Licht bringt. In GM beschränkt Nietzsche seine Analyse nicht allein auf die Interpretation der Geschichte der Menschheit als Vergeistigung des Leidens, die später zur Verinnerlichung wird und damit in der Selbstaufhebung der Moral endet. Nietzsche beansprucht auch eine Überwindung der herkömmlichen Moral, indem er die Geschichte und das Leben als Prozess der Selbstaufhebung bzw. Selbstauflösung und der Selbstüberwindung zugleich auslegt. Daher bestimmt er die Auflösung des Glaubens an Gott und die nicht mehr brauchbare religiöse und moralische Rechtfertigung des Lebens auf der einen sowie den Atheismus auf der andern Seite als historische und philosophische Bruchstelle der Geschichte der Menschheit. Der Atheismus ist eine Katastrophe im negativen wie posi-

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tiven Sinn des Wortes. Als Vollzug der Selbstaufhebung der Moral ist er auch ein neuer Anfang. Die Selbstaufhebung der Moral deutet auf die Umwertung aller Werte hin, und in dieser Hinsicht bewirkt die Katastrophe eine Zeiten- und Wertewende. Nietzsche will die ganze Erde „idealisieren“ und versucht, die dichterische Kraft der Kunst für eine neue Gestaltung des Menschen bzw. eine neue Einstellung zum Dasein und zur Moral einzusetzen. Er will die Existenzbedingungen ermitteln, die, indem sie einverleibt werden, dem Leben einen neuen Sinn, eine neue Gestalt verleihen¹⁸⁸ — die „der immer wachsenden menschlichen Hoheit“. Er will also, wie mehrfach betont, das Leben verklären. Daher bringt die Selbstaufhebung der Moral eine Überwindung der Aufklärung mit sich. Die „Aufklärung“ will das Dunkel beseitigen, ist Kampf gegen die Finsternis und rein epistemisch gefasst. Die „Verklärung“ hingegen gibt der Gestalt des Lebens einen besonderen, einen positiven Schein. Verklärung arbeitet mit Licht und Schatten, mit den untersten und obersten Instinkten des Lebens. Sie widerspricht der Aufklärung nicht, sondern führt sie fort, indem sie das Licht konzentriert. Die Verklärung des Lebens bietet also die Chance zur Selbstgestaltung und damit auch zur Steigerung der Lebenskräfte. Sie ist Aufklärung mit ästhetischen Mitteln. Verklärung wird von Nietzsche nicht im religiösen Sinne vom Schein der Herrlichkeit eingesetzt. Sie verweist nicht auf den visuellen Aspekt der Verwandlung und des Leuchtens

 Vgl. VM 99, KSA 2.420: „Der Dichter als Wegweiser für die Zukunft — So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, Einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft: – und diess nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmässige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, dass sie gegen die Luft und Gluth der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne, würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisirende Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maass in den Personen und deren Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fusse Ruhe und Lust giebt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaassung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend: – diess Alles wäre das Umschliessende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche Gemälde – das der immer wachsenden menschlichen Hoheit – machen würden. – Von Goethe aus führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor Allem einer viel grössern Macht als die jetzigen Dichter, das heisst die unbedenklichen Darsteller des Halbthiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und Unmässigkeit, besitzen.“

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(„claritas“ als Manifestation göttlicher Vollkommenheit), sondern bezeichnet den Interpretationspozess unter bestimmten Lebensbedingungen. Die Verklärung soll keine Aufklärung vermitteln, also eine völlige Erklärung oder Belehrung, sondern etwas verschönern, also derart stilisieren oder interpretieren, dass es sich erlösend und beglückend zugleich auswirkt. Anders als in den Evangelien verursacht die Verklärung keine Erschütterung: Die Erstere dient vielmehr, die Letztere zu überwinden. Die Verklärung arbeitet nicht mit den Unterscheidungen wahr und falsch oder gut und böse, sondern mit stark und schwach, Macht und Ohnmacht, Sinn und Wert, Glück und Leiden, Experimentieren und Zu-Grunde-Gehen oder aktiven und von Ressentiment geleiteten Reaktionen auf Herausforderungen. Nietzsche betont dabei den Seelenzustand der Aufregung, Ergriffenheit und Begeisterung als schöpferischen Zustand. Er spricht von Verklärung hauptsächlich aus der Sicht des Verklärenden, nicht des Verklärten oder des zu Verklärenden. Da für Nietzsche die Geschichte der höheren Kultur mit der Vergeistigung der Grausamkeit übereinstimmt, ist die Verklärung der psychologische und interpretatorische Prozess, dem Leiden eine positive, lebensfördernde Bedeutung zuzusprechen. Dadurch formt Nietzsche das Leiden ins Wissen¹⁸⁹ und Gewissen um und bietet eine alternative, lebensfördernde Interpretation des Leidens im Vergleich zur christlichen. Durch die Kunst hebt Nietzsche das Schöpferische und das Performative des Lebens hervor. Sie eignet sich am besten für die Flüssigkeit des Sinns, eine lebensfördernde, wertschaffende Interpretation des Lebens, die Steigerung der Kräfte und das Experimentieren. Die Kunst täuscht erstens, ohne zu schaden, verschönert zweitens das Leben, erhebt drittens, ordnet viertens das Chaos zu einer eigenen, individuellen Form, tröstet und rettet fünftens, transformiert sechstens die „Natur“ in Kultur, bietet siebtens dem Menschen die Chance, neue Lebensmöglichkeiten zu erschließen und versetzt achtens den Menschen in den Zustand der Souveränität bzw. der Selbstverantwortung und der Selbstüberwindung. Sie modifiziert nichts am Wesen des Menschen und der Dinge (wenn sie auch vom Wesen reden mag), sondern verleiht dem Menschen die Möglichkeit, sein Selbst als Leib-Organisation und sich selbst als leidgewohntes, sinnbedürftiges und sinnerfindendes Tier zu erfahren, das ein Gedächtnis und Gewissen durch unablässige Sublimierung der Grausamkeit erlangt, damit es versprechen und sich in Aussicht auf die Zukunft stellen darf. Die Verklärung bezeichnet damit das gestaltende, performative Verhältnis des Menschen zum Leben. Die maßgebliche philosophische Bedeutung der Aufgabe der Umwertung aller Werte und die Radikalität ihrer insbesondere im Schlussaphorismus von GM geschilderten existentiellen Herausforderung geht aus der unheimlichen Erfahrung der Sinnleere und des von ihr bewirkten Pathos hervor: „so hatte der Mensch, das Thier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; „wozu Mensch

 „Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen“ (Z, KSA 4.134).

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überhaupt?“ – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres „Umsonst!““ (GM, KSA 5.411) Damit rückt die lebensdienliche Brauchbarkeit und Notwendigkeit der Sinnerfindung in den Vordergrund: „Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ (GM, KSA 5.339) Nietzsche fordert hier nicht zur vom schopenhauerschen Pessimismus angestrebten Willensverneinung auf. Er stellt dagegen fest, dass sich dem Menschen die Grundtatsache seines Willens, sein „horror vacui“, durch die Erfahrung der Sinnleere offenbart, die zugleich die Erfahrung des Sinnlosen wird. Der Sinnleere bzw. Sinnlosigkeit ausgesetzt, verfällt der Mensch in tiefe Bestürzung: Er erlebt und erkennt das eigentliche Problem des Willens — das Sinnproblem — und erfährt sich überdies als sinnbedürftiges und sinnerfindendes Wesen zugleich. So wird die Sinnfrage nicht, wie bei vielen Philosophen, in Bezug auf die Vernunft, sondern als eine Frage des Willens gestellt: Sinn verweist daher nach Nietzsche zunächst nicht auf ein theoretisches, sondern auf ein praktisches, existentielles Problem. Im „Sinn“ verdichtet sich die Komplexität des Menschen; Sinn verweist auf alle Eigenschaften des Menschen. Die Besonderheit liegt darin, dass sich Nietzsche bei Einsetzung des Sinnbegriffs nicht begnügt, auf eine einzelne Sphäre hinzuweisen. Er versucht, die Flüssigkeit, Vielseitigkeit, Leiblichkeit, Geistigkeit und Übertragbarkeit dieses Begriffes zusammenzuhalten. Hinsichtlich der ersten Bedeutung des Wortes, Sinn als Sinnesorgan, könnte man den Geschmack nennen: Bei Nietzsche ist Geschmack nicht einfach gustatorische Wahrnehmung, also bloßer Sinneseindruck. Er bedeutet stattdessen in der Hauptsache: subjektives Werturteil. Auch wenn Sinn als Verständnis, Aufgeschlossenheit oder Empfänglichkeit für etwas, als „Sinn für etwas“ begriffen werden kann, beruht er bei Nietzsche auf der Komplexität der Leib-Organisation. Dasselbe gilt, wenn man Sinn als Denken begreift: Wir können nur dann etwas denken, wenn wir etwas erdichtet haben. Daher sind das Denken und die Gedanken nicht das Ergebnis eines rationalen Kalküls, sondern eines Prozesses, der sich als Vorgang der Übersetzung von Reizen in Empfindungen, von Empfindungen in Vorstellungen oder Bilder, von Vorstellungen in Interpretationen und Handlungen abspielt. Zudem wirkt dieselbe Komplexität auch beim Erkenntnisprozess, in dem es um Einnahme, Assimilation, Transformation, Auswahl unter bestimmten Lebensbedingungen und Einverleibung geht. Nietzsche bleibt nie bei bloßer Physiologie stehen. Bei ihm ist zwar alles im Leib verankert, das heißt aber nicht, dass alles rein physiologisch geschieht: Nichts kommt von selbst und auf neutrale Weise zum Vollzug. Es wird von jedem Vorgang eine Interpretation abverlangt. Der Sinn hat also eine Doppelbedeutung von Sinnesorgan und abstraktem Sinn. Die eine spielt immer auf die andere an, ist auf die andere bezogen. Der Sinn als etwas Sinnliches ist nicht nur etwas, das wahrgenommen oder angeschaut werden kann, sondern etwas, das erlebt wird und dadurch Sinn ergibt.

12.9 Die Kunst als Gegenbewegung: Von der Aufklärung zur Verklärung

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Was Sinn ergibt, ist nichts, was nach dem logischen Verhältnis von Ursache und Wirkung verstanden werden kann, sondern etwas, das auf etwas anderes nach eigenen Bedürfnissen und Existenzbedingungen bezogen wird. Sinn ist vor diesem Hintergrund selbstbezogen, auf Zeit, Beziehungs-Sinn und daher Perspektive. In GM wird die radikalste, die verhängnisvollste Herausforderung aufgeworfen, der der Mensch ausgesetzt sein kann: die Sinnlosigkeit des Lebens und die durch sie bedingte Notwendigkeit einer Sinnerfindung. Was für Sinnzusammenhänge und Sinngeflechte der Mensch sich auch ausdenken mag, er bleibt ein leidendes Tier. Die Kunst bietet ihm die Möglichkeit, das Leiden auszuhalten oder es sogar durch ein positives Selbstgefühl zu überwinden. Auch dieser Zustand hat aber seine Zeit: Er dauert an, bis das gesponnene Netz des Scheins, der Schleier der Ewigkeit, das „Ideal“ nicht mehr brauchbar ist, bis die lebensfördernde Anziehungskraft also nicht verloren ist. Schließlich ist noch die unauflöslicheVerschränkung von Kunst und Moral zu betonen. Nietzsche legt das Sinnproblem existentiell aus und erkennt die zentrale Bedeutung des „horror vacui“. Er setzt sich im Zuge dessen mit der ganzen antiken und christlichen Tradition auseinander.¹⁹⁰ Das zentrale Problem ist die Überwindung des „horror vacui“, also die Überwindung des von der Sinnlosigkeit des Lebens verursachten Leidens der Menschen und die daraus folgende Erschütterung. Das Sinnproblem bedarf zwar der Kunst und Verklärung zur Sinnerfindung,¹⁹¹ dies aber nur in Hinblick auf eine Umwertung aller Werte. Nietzsche versucht, dieses Problem durch die Umwertung der Werte zu lösen. Er kämpft gegen seine Angst, gegen Ressentiment und Frustration, wagt ein neues Experiment und fordert damit die kommende Menschheit heraus. Seine Aufgabe der Umwertung aller Werte ist also eine Herausforderung. Nietzsche ist gezwungen, auf sein von der Erfahrung der Sinnlosigkeit verursachtes inneres Leiden zu reagieren. Seine Reaktion ist nicht die eines Menschen des Ressentiments. Er verinnerlicht nicht das Leiden, sondern nutzt es konstruktiv, indem er seine Kräfte und zwar sein auslegendes und schöpferisches Potential freilegt. Durch die Abschaffung der Metaphysik gelangt Nietzsche zur Unschuld des Werdens, die er in GM in die verhängnisvolle Formel bringt: „“Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“ […]. Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? kennt er den Minotauros dieser Höhle aus Erfahrung?“ (GM, KSA 5.399) Damit fordert Nietzsche sich selbst und die Menschheit heraus, über sich

 Hier sind nur Aischylos, das Buch Kohelet und Schopenhauer zu nennen.  Vgl. NL 9[48], KSA 12.359: „das Feststellen zwischen „wahr „ und „unwahr“, das Feststellen überhaupt von Thatbeständen ist grundverschieden von dem schöpferischen Setzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen, Wollen, wie es im Wesen der Philosophie liegt. Einen Sinn hineinlegen – diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch übrig, gesetzt daß kein Sinn darin liegt. So steht es mit Tönen, aber auch mit Volks-Schicksalen: sie sind der verschiedensten Ausdeutung und Richtung zu verschiedenen Zielen fähig. Die noch höhere Stufe ist ein Zielsetzen und darauf hin das Thatsächliche einformen, also die Ausdeutung der That und nicht bloß die begriffliche Umdichtung.„

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hinauszugehen und einen lebensfördernden Sinn zu erfinden. Jeder von uns spürt den Widerspruch der Furcht- und Fruchtbarkeit dieser Herausforderung. Dieser verwirrende, unheimliche Satz reizt zur Tat und ist Anlass, tätig zu werden. So zeigt sich, wie viel Wahrheit ein Geist ertragen und einverleiben kann, inwiefern er gefährlich leben und experimentieren kann, ohne zugrunde zu gehen oder sogar der Bewusstheit des Scheiterns zum Trotz. Die existentiellen Konsequenzen derartiger Herausforderungen sind die Aktion und die Reaktion. Dass alles erlaubt ist, zeigt, dass, egal wie ein Geist darauf reagiert, er auf eines nicht verzichten kann: auf die Kunst, die Moral, das Recht und eine mühsame, alle Kräfte beanspruchende Selbstbeherrschung. Indem sich die Aufgabe als Herausforderung erweist, kommt ihre existentielle und wesentliche Bedeutung zum Ausdruck. Was den Menschen antreibt, ist weder rationales Kalkül noch ein Gefühl oder Reiz, sondern ein Zustand, sein Hang, Verhältnisse zu anderen Menschen, Dingen oder zu sich selbst zu verknüpfen und sie so zu bestimmen, dass somit das Leben wert- und sinnvoll wird, damit der Mensch handeln kann. In Z hat Nietzsche am Leitfaden des Leibes tiefe Überlegungen über seinen Begriff vom Geist entworfen, „Wille zur Wahrheit“, „Wille zur Zeugung“ und „Wille zur Macht“ eng miteinander verbunden und infolgedessen Schätzen, Schaffen und Wollen miteinander gleichgesetzt. Diese Gedanken werden in GM verschärft und gewinnen enorm an Prägnanz. Nietzsche versucht hier, die Herrschaftsverhältnisse, die das Dasein ausmachen, ans Licht zu bringen und zu bestimmen. Er schildert die Gesamtentartung des Menschen, deutet dessen angeblich bevorstehende Gesamtentwicklung und versucht, die Bedingungen festzustellen, die Erstere abhalten und Letztere fördern. Nietzsche stellt sich daher die Aufgabe der Umwertung aller Werte und beansprucht, durch das Performative am Willen zur Macht, durch Bildung und Kunst das Geschehen in Geschichte umzuwandeln. Dies vollzieht sich aber nicht ohne Moral, nämlich nicht ohne Gewissen und Verantwortlichkeit, nicht einmal ohne Vernunft und die Bewusstheit des Perspektivischen als Grundbedingung des Lebens. Nur unter diesen Bedingungen lässt sich von Freiheit reden. Zur Freiheit gehört Stärke des Willens, Härte, die Fähigkeit zu langen Entschließungen, Last, Pflicht und Vernunft sowie Selbstopferung und Selbstbeherrschung, Selbstüberwindung und Sinnerfindung, Täuschung, gutes Gewissen und Pathos der Distanz sowie Riskieren und Scheitern. Auch das, was Nietzsche in GM anbietet, ist nach wie vor seine Interpretation, seine Verklärung. Und so endet GM denn auch mit Auslassungspunkten: Auch die Aussage, „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen …“, zeigt sich als Herausforderung an sich selbst und an die Leser, Alternativen hervorzubringen.¹⁹²

 Vgl. dazu Andreas Urs Sommer, „Wissenschaft und Askese beim späten Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, Abschnitte 23 bis 28“, in: Ipseitas 6.1 (2020), S. 21– 30.

13 Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss … (GD, KSA 6.108)

13.1 Der Naturalismus in der Moral und die physiologische Auffassung des Lebens Der im letzten Abschnitt von GM erhobenen Forderung einer unbefangenen Hand, um die ganze Erde zu „idealisieren“, und dem grundlegenden Sinnbedürfnis, die Lebensbedingungen zu ermitteln und einen Menschentypus zu bilden, um dem Nihilismus entgegenzuwirken, kommt Nietzsche ab der Götzen-Dämmerung nach. Mit diesem Werk beginnt er seine bejahende Phase und zeigt — der Untertitel verrät es —, „wie man mit dem Hammer philosophiert“: Es handelt sich um eine „grosse Kriegserklärung“. Es werden Fragen mit dem Hammer derart gestellt, dass „das, was still bleiben möchte, laut werden muss …“ (GD, KSA 6.57) Zu diesem Zweck horcht Nietzsche „ewige Götzen“ aus, „an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, – es giebt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen … Auch keine hohleren … Das hindert nicht, dass sie die geglaubtesten sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze …“ (GD, KSA 6.58) Es fällt unmittelbar auf, dass die ewigen Götzen nichts anderes als die bisher vom Menschen ewig vermeinten Ideale sind. Ideale sind abzuschaffen, weil „es mehr Götzen als Realitäten in der Welt [gibt]“ (GD, KSA 6.57). Nietzsche greift auf die im Laufe seines geistigen Schaffens immer häufiger eingesetzte Physiologie als privilegierten Zugang zur Realität zurück.¹⁹³ Von ihrem Standpunkt aus bewertet er die Ergebnisse seines Denkens. Der Mensch, die Gesellschaft, die Moral, die Geschichte usw. werden auf der Grundlage von Sinnen,¹⁹⁴ Instinkten und Kräften interpretiert. Daher betont Nietzsche das erkenntnistheoretische Potential unserer Sinne als Werkzeuge

 Nietzsche bezieht sich auf die in seiner Zeit populärste Wissenschaft, die Physiologie.Vgl. Orsucci, Orient-Okzident.  „Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen!“ „Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, – sie lügen überhaupt nicht.Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer … Die „Vernunft“ ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht … Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare“ Welt ist die einzige: die „wahre Welt“ ist nur hinzugelogen …“ (GD, KSA 6.75) https://doi.org/10.1515/9783110701890-017

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der Beobachtung und spricht vom ersten Instinkt des Geistes, dem Selbsterhaltungsinstinkt (vgl. GD, KSA 6.104), vom verstehenden und erratenden Instinkt des Menschen (GD, KSA 6.118) und vom Ursachentrieb (GD, KSA 6.92). Die systematische Anwendung der Physiologie auf sein Denken ermöglicht es Nietzsche, eine für ihn plausible Lösung dessen zu finden, was ihm am meisten erschreckt und herausfordert: „die décadence“, die ganz Europa betrifft und die Philosophie und die Moral seit Platon bestimmt hat. Die Formel der décadence lautet: „Die Instinkte bekämpfen müssen.“ (GD, KSA 6.73) Dasselbe kennzeichnet die Moral: „Moral, wie sie bisher verstanden worden ist – wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formulirt wurde als „Verneinung des Willens zum Leben“ – ist der décadence-Instinkt selbst, der aus sich einen Imperativ macht: sie sagt: „geh zu Grunde!“ – sie ist das Urtheil Verurtheilter …“ (GD, KSA 6.86) Nietzsche zufolge beruht die „DécadenceMoral“ auf einer „physiologische[n] Thatsächlichkeit: […] Disgregation der Instinkte!“ (vgl. GD, KSA 6.133 f.) Die décadence durchtränkt das menschliche Leben derart, dass „das Pathos sich verändert [hat], nicht bloss die Intellektualität.“ (GD, KSA 6.105) Das bedeutet, dass der Ernst, die Tiefe, „die Leidenschaft in geistigen Dingen abwärts geht“. Zugleich wird die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand immer kleiner, die Vielheit der Typen immer geringer, und „der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben“ (GD, KSA 6.138), das Pathos der Distanz lässt immer mehr nach. Das bleibt nicht ohne Folgen, sondern wirkt sich maßgeblich auf die Gesellschaft aus: Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit … Alle unsre politischen Theorien und StaatsVerfassungen, das „deutsche Reich“ durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, FolgeNothwendigkeiten des Niedergangs; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Ideal … (GD, KSA 6.138 f.)

Die décadence und ihre Überwindung machen das Hauptthema von GD aus. An ihr werden der Fortschritt und, wie folgend erörtert, der Wille zur Macht, die Kunst, die Freiheit, die Geschichte und das Individuum gemessen. Physiologisch gesehen, wird die décadence zum Phänomen des absteigenden Lebens und daher mit dem Christentum identifiziert. Einer solchen widernatürlichen Moral bzw. dem Christentum stellt Nietzsche aber nicht die Abschaffung der Moral im Ganzen entgegen. Er plädiert assertorisch für einen Naturalismus in der Moral: — Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von „Soll“ und „Soll nicht“ erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade

13.2 Nietzsches Begriff der Freiheit

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gegen die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt „Gott sieht das Herz an“, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens … Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat … Das Leben ist zu Ende, wo das „Reich Gottes“ anfängt … (GD, KSA 6.85)

Um einen solchen Naturalismus zu verstehen, ist es hilfreich, von der Aussage auszugehen, dass das Leben laut Nietzsche aus einer auf- und einer absteigenden Linie besteht (vgl. dazu GD, KSA 6.131). Diese Dichotomie konstituiert das thematische Gefüge, in das Nietzsche sein Denken in GD einordnet und das er bisher versucht hat, unter verschiedenen Perspektiven, nämlich psychologisch, geschichtlich, philosophisch und etymologisch, zu interpretieren.¹⁹⁵ Die Gegenüberstellung der „gesunden“ und der „widernatürlichen Moral“ macht zudem auch das Paradigma für die Gegenüberstellung der Moralisten und der Immoralisten aus. Die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine DegenerirtenIdiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat! … Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein. (GD, KSA 6.87)

Eine Moral, deren Wert absolut ist, die letzten Endes nicht auf das aufsteigende Leben zurückgeführt wird, ist lebensfeindlich.

13.2 Nietzsches Begriff der Freiheit und seine Stellung zur Frage nach dem Sinn des Lebens Dasselbe gilt Nietzsche zufolge für die Gesellschaft. Eine physiologisch entartete Gesellschaft ist auch politisch und moralisch entartet. In ihr ist der „Fortschritt“ eine „Schritt für Schritt weiter in der décadence“ gerichtete Entwicklung und der Freiheitsbegriff ein „seinen Instinkten überlassensein“ (GD, KSA 6.143 f.). Der modernen Gesellschaft sind jene Instinkte abhandengekommen, „aus denen Institutionen, aus denen Zukunft wächst […]. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man „Freiheit“.“ (GD, KSA 6.141) Daher ist „unser moderner Begriff „Freiheit“ ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.“ (GD, KSA 6.143) Nach Nietzsche ist Freiheit gerade das Gegenteil: „Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält.“ (GD, KSA 6.139) Der Freiheitsbegriff ist einer der bedeutsamsten in Nietz-

 Ein passendes Beispiel dafür ist GM und der hier hervorgehobene Unterschied zwischen Herrenund Sklavenmoral.

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sches Philosophie. Trotzdem wurde er in der Nietzsche-Forschung nicht genug beachtet. Wir haben bereits versucht, ihm auf die Spur zu kommen, und dabei festgestellt, dass Nietzsche, wie einige Philosophen vor ihm, von Freiheit im doppelten Sinn redet: Freiheit von und zu etwas. In GD wird die Freiheit im Zusammenhang mit dem Krieg untersucht. Der freie Mensch wird in Aphorismus 38 aus den „Streifzügen eines Unzeitgemässen“ als Krieger angesehen. Nur der Krieg erzieht zur Freiheit, weil er sie auf extreme Weise erzwingt: Sie wird durch den Krieg angestrebt und erkämpft. Dementsprechend sind die freigewordenen Menschen diejenigen, die nach ihrem stärksten Instinkt, ihrem Willen zur Macht handeln. Je nachdem, ob es sich um einen starken oder einen schwachen Willen handelt, wird Freiheit definiert als die Fähigkeit oder „Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren“ (GD, KSA 6.83). Der Wille zur Macht paralysiert unter seinem eisernen Druck alle anderen Instinkte, um „zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden.“ (GD, KSA 6.143) Ein derartiger Wille ist etwa der „Wille zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum“ (GD, KSA 6.141). Auf ihm beruhen die Institutionen. Eines ist dabei nicht zu übersehen: Der Krieg ist deshalb etwas wert, weil er zunächst im Inneren des Menschen stattfindet, gefühlt und zum Zweck der Selbstbeherrschung gekämpft wird. Das wird von Nietzsche am Beispiel unseres „inneren Feindes“ geschildert: Nur indem wir uns dem Feind entgegensetzen, fühlen wir uns notwendig, werden wir erst notwendig. Außerdem ist man nur schöpferisch, „nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt …“ (GD, KSA 6.84) Der Krieg bringt uns in Gefahr, und es ist gerade „die grosse Gefahr […], die uns zwingt, stark zu sein …“ (GD, KSA 6.140) Daraus wird der Grundsatz abgeleitet: „man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie“ und dementsprechend die Freiheit verstanden „als Etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man erobert …“ Bei Individuen und Völkern misst sich deshalb die Freiheit „nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben.“ (GD, KSA 6.140) Nietzsche sieht den Fortschritt als „Rückkehr zur Natur“ an, „aber nicht im Sinne von Zurückgehen, sondern von Hinaufkommen“ (GD, KSA 6.150). Man könnte daraus schließen, dass der Fortschritt die Selbstüberwindung sei, zu der uns die große Gefahr, die wir in uns erleben, zwingt. Der Wert der Freiheit und überhaupt von jeder Sache liegt also „nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, – was sie uns kostet.“ (GD, KSA 6.139) Man wird frei, wenn man den Instinkten, „die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern“ (GD, KSA 6.140), ein Maß auferlegen kann. Anders gesagt, setzt die Freiheit eine strenge, mühsame und beständige Selbstdisziplinierung als ihre Grundbedingung voraus. Nietzsche sagt emphatisch: „Man hat auf das grosse Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet …“ (GD, KSA 6.84) An dieser Stelle lassen sich folgende Fragen aufwerfen: Ist das große Leben das ganze Leben? Kann man vom Wert des Lebens im Allgemeinen reden? Ist das Leben

13.2 Nietzsches Begriff der Freiheit

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überhaupt etwas wert? Nietzsches letzte Antwort auf die seine ganze Philosophie durchdringende Frage nach dem Wert des Lebens lautet: Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen … (GD, KSA 6.86)

Daraus folgt, „dass der Werth des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde“ (GD, KSA 6.68). Es folgt weiter, dass „von Seiten eines Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit [bleibt]“ und dass wir trotzdem genötigt sind, Werte in unserem Leben anzusetzen. Ohne Werte kommen wir im Leben nicht aus.¹⁹⁶ Es gibt lebensfördernde und lebensverneinende Werte, und wenn das Leben durch uns wertet, geht es Nietzsche hauptsächlich darum, welche Art von Leben die angesetzten Werte darstellen. Urteile über das Leben sind zuletzt nur „Symptome“ einer bestimmten Art von Leben: „Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, – an sich sind solche Urtheile Dummheiten.“ (GD, KSA 6.68) Indem er nicht vom Leben „an sich“, sondern vom auf- oder niedergehenden Leben spricht, bildet Nietzsche die „metaphysische“ Frage „Ist das Leben überhaupt etwas wert?“ in die „physiologische“ Frage „Welche Art von Leben bringt ein Individuum zur Erscheinung?“ und in die „psychologische“ Frage „Welche Art von Leben drückt ein Werturteil über das Leben aus?“ um. Die neue Dichotomie der Instinkte des Lebens tritt an die Stelle der bisher die Nietzsche-Forschung dominierenden, berühmten und vielkommentierten Unterscheidung zwischen der „wahren“ und der „scheinbaren“ Welt. Nietzsches physiologische Interpretation des Lebens dient der Aufwertung des Leibes: man muss den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht „gehen lassen“, genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles verinnerlicht. Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an

 Die hier zum Ausdruck gebrachte Idee, dass das Leben ein Prozess der Wertsetzung ist, hat Nietzsche bereits 1882 in der Entstehungszeit von Z entworfen: „234. Der Werth des Lebens liegt in den Werthschätzungen: Werthschätzungen sind Geschaffenes, nichts Genommenes, Gelerntes, Erfahrenes. Das Geschaffene muß vernichtet werden, um dem neu-Geschaffenen Platz zu machen: zum Lebenkönnen der Werthschätzungen gehört ihre Fähigkeit, vernichtet zu werden. Der Schöpfer muß immer ein Vernichter sein. Das Werthschätzen selber aber kann sich nicht vernichten: das aber ist das Leben.“ (NL 5[1], KSA 10.214)

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13 Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung

der rechten Stelle beginnt – nicht an der „Seele“ (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus … Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte – sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. – (GD, KSA 6.149)

Nietzsche spielt dabei wohl mit der Semantik des Wortes „Leib“, das in seiner alten Bedeutung „Leben“ war. Der Leib ist nach wie vor der Leitfaden der Erkenntnis und des Lebens. Er öffnet wie bei Schopenhauer den eigentlichen Zugang zu uns und zur Welt. Wenn aber bei Schopenhauer der Leib der Erkenntnis des Wesens der Welt und des Menschen dient, dient er bei Nietzsche mutatis mutandis der Interpretation des Daseins und der Welt. Interpretiert Nietzsche Leben und Natur bisher in Analogie zum Leib, so versucht er jetzt, als Ausgangspunkt das Leben zu nehmen. Damit beabsichtigt er nicht, einen pauschalen ontologischen Naturalismus oder Vitalismus zu etablieren. Indem er den Einzelnen auf das Ganze bezieht, will Nietzsche die Lebensbedingungen zur Gestaltung einer Kultur zu ermitteln, um dem Einzelnen einen Halt im Leben zu geben, die Steigerung der Kräfte zu gewährleisten, einen Zugang zur Geschichte zu verschaffen und sein Handeln und Denken sinnvoll zu gestalten.

13.3 Das Leben als Sinn der Kunst Die physiologische Auffassung des Lebens lässt sich auch auf die Kunst übertragen, die Nietzsche in Anschluss an GM als Gegenstück der décadence versteht. Nach der neuen Formulierung aus GD ist die Kunst „das grosse Stimulans zum Leben“ (GD, KSA 6.127), und zwar in dreifacher Hinsicht: erstens weil ihre physiologisch unumgängliche Vorbedingung der Rausch ist, durch den die Affekte des Menschen erregt und gesteigert werden.¹⁹⁷ Zweitens beruhen der Wille zur Macht und das ästhetische Urteil auf dem Gefühl des Schönen und des Hässlichen: „Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen […]. Sein Gefühl der Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz – das fällt mit dem Hässlichen, das steigt mit dem Schönen …“ (GD, KSA 6.124) Drittens wählt die Kunst etwas aus, bildet es um, hebt es hervor, bejaht und preist es. Der Rausch des Willens ist „der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens.“ (GD, KSA 6.116) Es geht dabei wie im Zarathustra um Begeisterung — im berauschten Zustand ist der Mensch erregt und gesteigert. Er folgt seinem inneren Zwang, seinem untersten Instinkt, dem „der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung“ (GD, KSA 6.123), und stellt seine Hauptzüge heraus, so dass er damit die Dinge verwandelt, „bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-müssen in’s Vollkommne ist – Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als  Siehe dazu GD, Streifzüge 8 – 10, KSA 6.116 f.

13.3 Das Leben als Sinn der Kunst

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Vollkommenheit.“ (GD, KSA 6.117) Das Gleiche spielt sich im Gefühl des Schönen ab: „Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit“ (GD, KSA 6.123). In diesem schöpferischen Zustand beschenkt er die Dinge mit Schönheit: „Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft: das Urtheil „schön“ ist seine Gattungs-Eitelkeit …“ Auf diese Weise vermenschlicht und idealisiert der Mensch die Dinge: — Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vorgang Idealisieren. Machen wir uns hier von einem Vorurtheil los: das Idealisiren besteht nicht, wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures Heraustreiben der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden. (GD, KSA 6.116)

Der Prozess des Idealisierens zeichnet die Kunst derart aus, dass sie die Passionen selbst idealisiert bzw. vergeistigt. „Der Begriff „Vergeistigung der Passion““ (GD, KSA 6.82) bezeichnet die Zeit, in der die Passionen „sich mit dem Geist verheirathen, sich „vergeistigen““ und dadurch alles, was wir tun, nachdenklicher, schonender, klüger wird. Nietzsche zielt damit nach wie vor auf eine Aufwertung der Sinnlichkeit, deren Vergeistigung Liebe heißt. Vor diesem Hintergrund werden immer wieder Instinkte, Begierden und Gefühle zu „Wurzeln“ des Lebens. Ihre Ausrottung würde eine Verneinung des Lebens bedeuten. Dies wäre der Ausdruck eines schwachen Willens, eines degenerierten Menschen, einer lebensfeindlichen Gesellschaft. Physiologisch gesprochen, wäre es ein „Castratismus“, wie man ihn, in Einklang mit den in GM durchschauten asketischen Idealen, in der Praxis der Kirche findet: Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne: ihre Praktik, ihre „Kur“ ist der Castratismus. Sie fragt nie: „wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?“ – sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. – Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist lebensfeindlich … (GD, KSA 6.83)

Die Hauptrolle der Kunst bei der Lebensgestaltung wird immer deutlicher und entscheidender. Eine bejahende, die Sinnlichkeit vergeistigende, vergöttlichende, verschönernde Praxis kann nur durch die Kunst erlangt werden, die bestimmte Wertschätzungen durch ihre ästhetischen Urteile „stärkt oder schwächt“. Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann …? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben? auf eine Wünschbarkeit von Leben? – Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehen? – (GD, KSA 6.127)

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13 Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung

Der Sinn der Kunst ist also das Leben und die Wünschbarkeit von Leben. Der Künstler geht von der Sinnlichkeit aus, richtet all seine schöpferischen Kräfte nach dem und auf das Leben aus. Seine ästhetischen Urteile, seine Kunstwerke, seine künstlerische Auffassung des Lebens und sein Interpretieren ist keinesfalls interesselos, sinnlos. Er bezweckt mit seinem künstlerisch-geistigen Schaffen eine Vermenschlichung oder Vergeistigung des Daseins und will das Leben nicht nur denkbar, begreifbar und berechenbar, sondern auch desiderabel machen. Dies ist sein unterster Instinkt und seine höchste Leistung zugleich.

13.4 Die Psychologie des tragischen Künstlers Dass der Künstler die Dinge idealisiert, bedeutet nicht, die Welt in eine „wahre“ und eine „scheinbare“ zu unterscheiden, wie das Christentum und der Idealismus es taten. Es ist auch kein Widerspruch, dass der Künstler den Schein höher als die Realität schätzt: „Denn „der Schein“ bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur … Der tragische Künstler ist kein Pessimist, – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch …“ (GD, KSA 6.79) Die Dinge, die Welt, das Leben zu idealisieren, vermenschlichen, vergeistigen und interpretieren heißt, sie zu verklären. Der tragische Künstler weiß von vornherein, dass das Leben problematisch, furchtbar und fragwürdig, sogar aporetisch ist. Er negiert nicht das Leben, sondern stellt sich ihm und verklärt es. Auf diese Weise verleiht er dem Leben eine positive Bedeutung und einen positiven Sinn. Gerade dies tut der Künstler exemplarisch im dionysischen Zustand: Im dionysischen Zustande ist das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (— ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). (GD, KSA 6.117)¹⁹⁸

Dass die Kunst in Richtung Leben strebt und der Künstler einen inneren Kampf kämpft und sich durch die Werte „schön“ und „hässlich“ ein Wunschbild vom Leben schafft, das das Leben kostbar und sinnreich macht, zeigt die psychologische Seite der physiologischen Auffassung des Lebens auf. Die Vergeistigung der Dinge gehört sowohl zur Physiologie als auch zur Psychologie des Menschen bzw. des Künstlers.

 Die Unfähigkeit, nicht zu reagieren, ist nicht das Kennzeichen eines schwachen, degenerierten Willens. Man muss dabei den Kontext beachten: Im dionysischen Zustand ist diese Unfähigkeit „die Leichtigkeit der Metamorphose“: „Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig.“ (GD, KSA 6.118)

13.4 Die Psychologie des tragischen Künstlers

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Ist aber die Vergeistigung nicht ein Symptom des niedergehenden Lebens? Denn Nietzsche geht in Aphorismus 14 aus den Streifzügen eines Unzeitgemässen davon aus, dass der Gesamtaspekt des Lebens nicht die Notlage, sondern die Üppigkeit ist. Er wendet daher gegen Darwins Theorie ein, dass es nicht bloß ums Leben, sondern um das reine Streben nach Macht geht. Außerdem zeigt sich im Leben der Fortschritt nicht als Sieg der Starken, im Gegenteil: Die Schwachen sind geistig stärker als die Starken. In diesem Kontext ist ausgerechnet der Geist, „die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend)“ (GD, KSA 6.121), entscheidend. Der Verdacht, dass der Geist das absteigende Leben in sich birgt und zur Erscheinung bringt, wird auch von der Tatsache gestützt, dass „mimicry“ von Nietzsche für gewöhnlich als Kennzeichen eines schwachen Willens angesehen wird. Das stellt aber keinen Widerspruch dar. Die Vergeistigung der Dinge würde sich nur als Symptom des entarteten Lebens erweisen, wenn man den Geist verabsolutiert und man dem „großen Irrtum“ erliegt, die Vernunft nicht als Mittel, sondern als Ursache¹⁹⁹ der Erkenntnis zu verstehen. Nietzsche ist sich daher dessen bewusst, dass es notwendig ist, neben die Vernunft die Kunst zu stellen.²⁰⁰ Die angeführten Bemerkungen über den tragischen Künstler sind in dieser Hinsicht außerordentlich wichtig. Er verklärt das Leben und feiert in der Verklärung seine Saturnalien. Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt – dieser siegreiche Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der heroische Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, – ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. – (GD, KSA 6.127 f.)

Mit den Saturnalien ist das Wissen verbunden, dass die Kunst täuscht, aber ohne zu schaden, sondern derart, dass auch der Unsinn sinnhaft wird, weil er dem Menschen Freude bringt, ihn entspannt und befreit.²⁰¹ Indem der Künstler die Dinge verklärt und

 „Der Mensch hat seine drei „inneren Thatsachen“, Das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, – er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die „Dinge“ als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?“ (GD, KSA 6.91)  Siehe vor allem FW 290.  Vgl. dazu Aphorismus 213 aus MA: „Freude am Unsinn. – Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung in’s Gegentheil, des Zweckmässigen in’s Zwecklose, des Nothwendigen in’s Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das

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13 Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung

damit dem Leben einen Sinn gibt, übt er seine pia fraus, sein Recht zur Lüge aus.²⁰² Schließlich ist nicht zu verkennen, dass Nietzsche eine reine Vergeistigung der Dinge im Sinne einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Wesens der Dinge von Beginn an verwirft. Wie gezeigt, betrachtet Nietzsche die Wissenschaft als epochales Phänomen. Sie ist die letzte Phase des Nihilismus, den man nur hemmen oder beschleunigen, aber nicht aufhalten kann.²⁰³ Nietzsche stellt der Wissenschaft bzw. dem Nihilismus die Kunst als Gegenstück, als Stimulans zum Leben entgegen und versucht, prometheisch die Bedingungen vorzubestimmen, die es uns ermöglichen würden, aus dem Nihilismus herauszutreten und so eine neue Gesellschaft, ein neues Leben zu schaffen. Damit kommen wir wieder an die Stelle, von der Nietzsche ausging: GT. Hier stellt Nietzsche das dar, was zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, nämlich eine tiefsinnige Wahnvorstellung, […] jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist. (GT, KSA 1.99)

Sieht Nietzsche in GT die Kunst „als Schutz und Heilmittel“ (GT, KSA 1.101) an, um „die tragische Erkenntniss“ ertragen zu können, erweisen sich die Kunst und die Verklärung in GD als der schöpferische, dionysische Zustand schlechthin. An diesem dionysischen Zustand betont Nietzsche den Willen, „über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst …“ (GD, KSA 6.160) Er schätzt also weiterhin das Pathos und die Zeugung, insbesondere die künstlerische Schöpfung: In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die „Wehen der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz … Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die „Qual der Gebärerin“ geben … Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg … (GD, KSA 6.159 f.)

Durch das Dionysische errät Nietzsche „die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters“ (GD, KSA 6.160), und so geht die physiologische Auffassung in eine psy-

gewöhnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste.“ (MA, KSA 2.174). Dazu auch FW, Vorrede.  Siehe dazu GD, KSA 6.102.  „Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (— dies meine Definition des modernen „Fortschritts“ …) Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. —“ (GD, KSA 6.144)

13.4 Die Psychologie des tragischen Künstlers

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chologische über. Es wäre wohl sinnvoller, von einer ästhetischen Auffassung des Lebens zu sprechen, die beide in sich einschließt. Vom Standpunkt einer tragischen Erkenntnis aus hat man das nötig, was man vernichten muss. Man vernichtet, um etwas Neues zu schaffen. Schaffen und Vernichten sind aufeinander angewiesen — und dementsprechend beide auf die Zeit. Wir schaffen immer neue Ideale, nachdem wir die alten abgeschafft haben und umgekehrt. Der Mensch lebt nie ohne Ideale, weil er einer Rechtfertigung des Daseins und der Welt bedarf. Er ist ein Lebewesen, das durch seine dichtende, „Ideale“ schaffende Vernunft die Welt und das Dasein nach seinen Bedürfnissen interpretiert und sich zurechtmacht. Wenn Nietzsche sagt: „— ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft …“ (GD, KSA 6.160), muss man sich vergegenwärtigen, was Zarathustra in Bezug auf sich selbst sagt: „Die Dichter lügen und Zarathustra ist ein Dichter.“ Nietzsche ist selbst ein Dichter, nicht nur, weil er Gedichte schreibt, sondern auch, weil er sich selbst als Dichter bezeichnet („Nur Narr! Nur Dichter!“). Er lügt, ließe sich hinzufügen, aber ohne schaden zu wollen. Dies wird am Beispiel von Goethe ersichtlich: Ein solcher freigewordner Geist [Goethe] steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft. – (GD, KSA 6.152)

Achtet man auf die Sperrungen im Zitat, fällt die Nötigung des Glaubens auf. Was Nietzsche hier auf den Namen Dionysos tauft, ist nicht die Idee, der Begriff, sondern ausschließlich der Glaube, dass sich „im Ganzen“ alles erlöst und bejaht. Das ist das höchste aller möglichen Glaubensbekenntnisse. Um diese Aussage und ihre Konsequenzen zu verstehen, ist auf Nietzsches Wahrheitsbegriff zurückzugehen: Die Wahrheit ist für Nietzsche ein „Für-wahr-Halten“ und verbirgt in sich Hoffnungen und Wirkungen auf die Zukunft und den Glauben. Obwohl der Mensch davon ausgeht, er sei imstande, die Welt und das Leben zu begreifen, weil er durch seine Begriffe die Wahrheit und das Wesen der Dingen treffen könne, stellt die Logik, auf der die Erkenntnis beruht, wie Nietzsche 1887 notiert, den Versuch dar, „nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar zu machen …“ (NL 9[97], KSA 12.391) Wie bereits bei JGB betont, geht es Nietzsche nicht darum, ob eine wahre, der Wirklichkeit adäquate Erkenntnis möglich wäre. Er ist der Ansicht, dass es nur Irrtümer gibt. Daher untersucht er die Wahrheit — wie im Falle der Urteile a priori — aus der Perspektive ihrer Funktionalität für und ihrer Wirkung auf das Leben. Ihn interessiert, ob die Wahrheit eine Überzeugung oder eine Lüge, ob sie lebensverneinend oder lebenssteigernd ist. In diesem Zusammenhang ist die psychologische Erklärung der Ursachesetzung der Wahrheit ausschlaggebend, die Nietzsche im Abschnitt über „die vier grossen Irrthümer“ gibt:

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die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie „für wahr hält“. Beweis der Lust („der Kraft“) als Criterium der Wahrheit. – Der Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl. Das „Warum?“ soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. (GD, KSA 6.93)

Wahrheit wird also nicht rational ermittelt, sondern nach existentiellen Kriterien festgestellt. Die von uns für naturgemäß gehaltene Normativität geht aus einem triebhaften Bedürfnis hervor, dem Ursachen-Trieb, und drückt eine Art von Ursache aus. Sie ist das Resultat eines Auswahlprozesses, in dem der Mensch auf die Befreiung von seinem Furchtgefühl zugunsten eines Lustgefühls abzielt. Das, was man für wahr hält, hat eine bedingende, lebenssteigernde Funktion und gewinnt daher an pragmatischer Plausibilität.²⁰⁴ Die Wahrheit ist ein Experiment, nicht im Sinne einer Überprüfung, sondern eines Ausprobierens. In GD schreibt Nietzsche: „Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des „Glaubens“).“ (GD, KSA 6.61 f.) Glaube und Sinn lassen sich vom Willen unterscheiden. Diese Unterscheidung liegt nicht in der Differenz zwischen einer objektiv beweisbaren Tatsache und einer inneren Überzeugung, einem Fürwahrhalten von Dingen, die objektiv nicht bewiesen sind, denn es ist — wie gezeigt — Nietzsches Einsicht, die Welt sei „Wille zur Macht und nichts außerdem“, eine Hypothese, eine Dichtung. In Bezug auf das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen könnte man vielleicht vermuten, dass Nietzsche die Sinnsetzung als Willensschwäche betrachtet. Der Ausdruck der Willensstärke ist dagegen die Sinnerfindung und zugleich die Kraft, passend zu handeln und auf andere Menschen zu wirken. Der Wille zur Macht kann nicht anders als Sinnerfindung sein: Das stützt sich auf die bisher durchgeführte Interpretation und insbesondere auf Nietzsches Aussage, dass die Welt „einen „nothwendigen“ und „berechenbaren“ Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht.“ (JGB, KSA 5.37) So lässt sich Nietzsches Behauptung deuten, die Frage nach dem Sinn des Lebens sei keine philosophische Frage.

13.5 Der Einzelne und das Ganze Das Verhältnis, das Nietzsche in der letzten bejahenden Phase seines Philosophierens am meisten interessiert und ins Zentrum seiner Betrachtungen rückt, ist das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen. In dessen Bestimmung liegt das Wirkungspo-

 Dazu Pietro Gori, Nietzsche’s Pragmatism. A Study on Perspectival Thought, Berlin 2019.

13.5 Der Einzelne und das Ganze

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tential von Nietzsches Philosophie. Er geht davon aus, dass „die Wirklichkeit uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels [zeigt]“ (GD, KSA 6.86), so dass es naiv wäre zu bestimmen, wie der Mensch sein oder dass er anders sein sollte. Daher ist „die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ein spezifischer Irrthum“ (GD, KSA 6.87). Nietzsche fährt fort: „Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird.“ Diese Aussage ist, wie jede andere auch, nur in Bezug auf ihren Kontext auszulegen. In GD wird das Individuum auf das Ganze bezogen und in diesem Verhältnis interpretiert. Jeder gehört zum Ganzen und ist in Bezug auf das Ganze zu denken, denn „es giebt Nichts ausser dem Ganzen!“ (GD, KSA 6.96) Den Einzelnen auf das Ganze zu beziehen, heißt Nietzsche zufolge, das Schuldgefühl zu relativieren und dementsprechend die Welt vom Schuldgefühl zu erlösen. Der Mensch wird damit von der Verantwortlichkeit befreit, dass mit ihm der Versuch gemacht wird, „ein „Ideal von Mensch“ oder ein „Ideal von Glück“ oder ein „Ideal von Moralität“ zu erreichen“.Wie in Bezug auf den Wert des Lebens gezeigt: „es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen …“ Nietzsches „Lehre“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst (— der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als „intelligible Freiheit“ von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. […] Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als „Geist“ eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt … (GD, KSA 6.96 f.)

Damit will Nietzsche keinen Determinismus oder Mechanismus in seine Philosophie einführen. Er lehnt die Teleologie ab und zielt auf den bejahenden Zustand des amor fati. Gegen die christliche Moral, die die Welt verurteilt und moralisiert, will Nietzsche die Notwendigkeit des Lebens bejahen. Er fördert jene Ökonomie des Lebens, „welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der kranken Vernunft im Priester verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht“ (GD, KSA 6.87). Daher versucht Nietzsche, das Individuum aus der Perspektive des Lebens zu beurteilen. Er deutet das Individuum nicht als einen „Ring der Kette“ wie in MA, sondern als Ausdruck der ab- oder aufsteigenden Linie des Lebens: Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth

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ausserordentlich, – und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das „Individuum“, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrthum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein „Ring der Kette“, nichts bloss Vererbtes von Ehedem, – er ist die ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch … Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (— Krankheiten sind, in’s Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als möglich wegnimmt. Er ist bloss noch deren Parasit … (GD, KSA 6.131 f.)

Dass es die ab- oder aufsteigende Linie des Lebens verkörpert, ist für das Individuum selbst zwar lebensbestimmend, aber nur auf physiologischer Ebene, und auf diese Weise ist er ein Stück fatum. Was der Einzelne psychologisch, philosophisch und geschichtlich zustande bringen kann, liegt zum großen Teil in seinen Händen. Der Einzelne hat zwar eine sich auf das Ganze beziehende Individualität, er verflüchtigt sich damit aber nicht in das Ganze: Er bekommt vielmehr eine notwendige Stelle als Teil des Ganzen. Das Ganze hingegen ist nicht bloß die Gesellschaft oder die Kultur: Es ist vielmehr das Leben, das sich jeweils ab- und aufsteigend entfaltet und sich geschichtlich in schwachen und starken Individuen ausdrückt. Nietzsche sieht die Werte daher als Symptome des Lebens an, belegt die Kluft zwischen schwachen und starken Menschen physiologisch und kommt damit seiner Forderung einer Rangordnung nach. So stellt er das Leben als Gesamtleben dar und gewinnt dadurch ein Paradigma, an dem er die individuellen Existenzen messen und rechtfertigen kann. Die äußersten Extreme der Hierarchie sind auf der einen Seite der Parasit,²⁰⁵ dem der Sinn vom und das Recht zum Leben verloren ging, und auf der anderen Seite das Genie, die höchste Verkörperung des aufsteigenden Lebens. Nietzsches Absicht ist, eine Rechtfertigung des Wertes der Genies zu geben: Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen.Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „öffentlicher Meinung“! (GD, KSA 6.145)

13.6 Die Umwertung aller Werte als „Schicksal von Aufgabe“ Durch den Rekurs auf die allgemeine Perspektive des Lebens will Nietzsche der Größe des Menschen selbst mehr Aufmerksamkeit schenken. Große Menschen kämpfen  „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn.“ (GD, KSA 6.134)

13.6 Die Umwertung aller Werte als „Schicksal von Aufgabe“

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große Kriege, weil sie nach der großen Befreiung streben, trotz der großen Gefahr, der sie sich aussetzen. Die Größe des Menschen besteht aber auch in der Fähigkeit, dem Leben einen großen Stil zu verleihen. Wie Nietzsche am Beispiel des Architekten zum Ausdruck bringt, handelt es sich um einen „Willensakt“ und „Rausch des grossen Willens“, der im Kunstwerk sein höchstes Gefühl der Macht zum Ausdruck bringt: Der Architekt stellt weder einen dionysischen, noch einen apollinischen Zustand dar: hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspirirt; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich. – (GD, KSA 6.118 f.)

Der exaltierte Ton in GD und die ständige Hervorhebung der großen Gefahr, der großen Männer, des großen Stils, des zu kämpfenden großen Krieges, der angestrebten großen Befreiung, in einem Wort: des großen Lebens veranlasst zur Frage: Was haben große Menschen in die Tat umzusetzen? Die Antwort lautet: lange und große Aufgaben. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die „Liebe“, – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. (GD, KSA 6.142)

Dem abstrakten Gesamtleben gibt Nietzsche die konkrete Form der Ehe, der Gesellschaft und der Menschheit. Das Ganze ist die Gesellschaft, die Nietzsche als „dauerhafteste Organisationsform“ versteht, die auf dem Herrschaftstrieb gründet und in der jede Institution einen Sinn bekommt. Damit diese Organisationsform als Ganze für sich funktionieren kann, ist es unausweichlich, sich ihre Vorbedingungen einzuverleiben, so dass sie als Instinkte in den Menschen wachsen. Dazu braucht man nicht nur lange Aufgaben, sondern auch Erzieher, die die Gesellschaft als Ganze bilden können, indem sie ihre höchste Form umgestalten: die Kultur. Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die jasagend ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu thun hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen: das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. (GD, KSA 6.108)

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13 Der Einzelne und das Ganze in der Götzen-Dämmerung

Durch diese drei Aufgaben gewöhnt sich der Mensch die Ruhe, die Geduld und das Ansich-herankommen-Lassen an. Das ist die unumgängliche „Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die Hand bekommen.“ Diese Geistigkeit war das, „was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein An-sich-herankommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen.“ (GD, KSA 6.152) Goethe ließe sich daher als Erzieher, freier Geist und überdies als europäisches Ereignis und Experiment einer Überwindung des 18. Jahrhunderts verstehen: Goethe – kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (— letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (— in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe’s), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich … Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, – er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend … (GD, KSA 6.151)

Goethes Rückkehr zur Natur bedeutet, dass er wieder ein guter „Nachbar der nächsten Dinge“ wird. Dem Menschen ist seine Leiblichkeit am nächsten. Goethe verkörpert das Genie, das der in seiner Zeit zur Krankheit gewordenen Entsinnlichung eine Vergeistigung und Vervielfältigung der Sinnlichkeit entgegenstellt, indem er der Feinheit, der Fülle und Kraft der Sinne das Beste vom Geist bot, das er hatte. Die Vergeistigung der Sinnlichkeit setzt eine Selbstdisziplinierung voraus, die sich ihrerseits als Selbstschöpfung und Selbstverklärung erweist, wie sich aus einer Nachlassstelle folgern lässt: „es ist ein Merkmal der Wohlgerathenheit, wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an „den Dingen der Welt“ hängt: – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.“ (NL 37[12], KSA 11.587 f.) Was bei Goethe unmittelbar zum Ausdruck kommt, ist die Idee, dass die Verklärung des Genies nicht nur lebensbedingend, sondern auch lebensbedingt ist. Aus diesem Grund diszipliniert sich das Genie zur Ganzheit. Nietzsche verleiht der Aufgabe des Philosophen vor diesem Hintergrund eine doppelte Bedeutung: Sie be-

13.6 Die Umwertung aller Werte als „Schicksal von Aufgabe“

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ruht auf der einen Seite auf der individuellen Lebensnotwendigkeit des Philosophen, unbrauchbare, lebensfeindliche Werte abzuschaffen und neue, lebensfördernde zu erfinden. Auf der anderen Seite beruht sie auf der geschichtlichen Notwendigkeit der Wertesetzung. Indem „im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht“ und infolgedessen die Aufgabe in Hinblick auf die Gesellschaft, die Menschheit und die Geschichte gestellt wird, wird sie zu einer „Berufung“.²⁰⁶ Ein Mensch, der sich als Teil des Ganzen fühlt, sieht seine Arbeit als Berufung. Das Genie hingegen, das sein Handeln in den Verlauf der Geschichte einbezieht, fühlt sich als berufen und ,lebt seiner Aufgabe‘: Es erlebt sich als lebensbedingt und -bedingend zugleich. Dementsprechend konzipiert das Genie sein Leben und seine Aufgabe als Schicksal: „— Eine Umwerthung aller Werthe, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln.“ (GD, KSA 6.57) Wie für EH noch zu erörtern ist, legt Nietzsche seine Aufgabe der Umwertung aller Werte als Lebensaufgabe und als Herausforderung an die Menschheit aus.

 „Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss …“ (GD, KSA 6.108)

14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“. Ecce homo: Nietzsches Leben als die Geschichte einer Selbstverwirklichung der welthistorischen Aufgabe von einer Umwertung aller Werte Sobald es möglich wäre, durch einen starken Willen die ganze Weltvergangenheit umzustürzen, sofort träten wir in die Reihe unabhängiger Götter (Fatum und Geschichte, KGW I 2.436).

14.1 Philosophie als „eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte“: Ein Rückblick Ecce homo zählt — zusammen mit Der Antichrist — zu den berühmt-berüchtigtsten Werken Nietzsches. EH ist, wenn man so will, der Stein des Anstoßes, über den die Kritik oft gestolpert ist.Wie ist dieses Buch also zu betrachten? Handelt es sich um eine Prophezeiung, eine deutschfeindliche Invektive, ein psychopathologisches Dokument? EH widerfährt erst Gerechtigkeit, wenn man feststellt, dass Nietzsche die Lebensbedingungen seines eigenen Denkens erzählt.²⁰⁷ Die unverkennbar philosophische Bedeutung der (Auto‐)Biographie für die Geisteswissenschaften hebt einer der bedeutendsten deutschen Philosophen hervor, der zugleich Nietzsches Zeitgenosse war: Wilhelm Dilthey.²⁰⁸ Dilthey bezieht sich wie Nietzsche auf Goethe, der im Vorwort seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit behauptet: Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.²⁰⁹

EH erweist sich als Spitze einer geistig aufsteigenden, leidenschaftlichen Klimax, die eine nicht zu übersehende, lange und (un)willkürliche Vorgeschichte hat, deren leidenschaftliche Etappen die Erfahrungen und deren geistige Etappen die Schriften sind.²¹⁰ Nietzsche spitzt diese Einsicht zu. Er deutet sie sogar um. Was er auf seine

 Hier setzt Werner Stegmaier, „Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens zur Deutung von ,Der Antichrist‘ und ,Ecce homo‘“, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 163 – 183, ein.  Siehe dazu Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der Geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1981.  Goethe, Werke, Jubiläumsausgabe, Bd. V, hg.v. Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1998, S. 11.  An dieser Stelle lässt sich eine Parallele zwischen Nietzsche und Montaigne ziehen. „Essais“ heißt nach Montaigne Erfahrungen, nicht Versuche. Montaigne beabsichtigt, die in den Schriften der alten und modernen Autoren ausgedrückten menschlichen Erfahrungen aufzuspüren und sie anhand ihrer eigenen Erfahrungen auf die Probe zu stellen. Damit will er auch sich selbst auf die Probe stellen https://doi.org/10.1515/9783110701890-018

14.1 Philosophie als „eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte“: Ein Rückblick

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Vergangenheit wirft, ist nicht ein bloßer Rückblick. Er inszeniert sein Leben. In EH führt Nietzsche uns also seine Selbststilisierung vor. Er wendet sich sich selbst und uns nicht als sich selbst, als empirischer Autor, sondern als „Autor-Persona“ zu.²¹¹

und die Erfahrungen erzählen, die ihn dazu gebracht haben, sein Gleichgewicht zu erreichen. Aber die Betrachtung des Menschen bestimmt sich bei ihm immer schärfer als die Betrachtung des einzelnen Menschen, der er selbst ist. Daher wird das Philosophieren zu einer fortwährenden Selbsterkenntnis. Diese Übung zur Selbsterforschung betrifft auch Nietzsche und wird in EH deutlich.  Maßgeblich dazu: Christian Benne / Enrico Müller, „Das Persönliche und seine Figurationen bei Nietzsche“, in: Christian Benne / Enrico Müller (Hg.), Ohnmacht des Subjekts — Macht der Persönlichkeit, Basel 2014. In diesem zum Geleit des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes geschriebenen, systematischen Essay gehen die Autoren davon aus, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause sei. Sie schildern infolgedessen „die originelle Alternative Nietzsches auf das von ihm delegitimierte Subjekt“. Zu diesem Zweck wird eine Darstellung von Nietzsches Personen- und Persönlichkeitskonzeption vorgelegt, in der die Ohnmacht des Subjekts als Voraussetzung zur Macht der Persönlichkeit gedeutet wird. Sie stellen die historische Semantik des Terminus ,persona‘ und die begriffsgeschichtlichen Etappen seiner Karriere dar. Eine entscheidende Rolle wird der Kunst zugesprochen: Sie wird nicht als Mittel, sondern als „Modus“ der persönlichen Entwicklung interpretiert (S. 33), und das ermöglicht Benne und Müller, Nietzsche eine textuell vermittelnde Aufbietung seiner Persönlichkeit zuzuschreiben: „Namentlich in seinen letzten Texten hat sich Nietzsche als derjenige Denker dargestellt, in dem die Grundfragen der europäischen Philosophie gleichsam kulminieren, in dessen Person sie exemplarisch ausgetragen werden müssen.“ (S. 16) Dies erweist sich als eine Strategie, „seine Gedanken selten ad rem, vorzugsweise ad hominem zur Geltung zu bringen“, die sich nach Benne und Müller auf Sokrates zurückführen lässt: „in ihm ist das Philosophische der europäischen Tradition irreduzibel personalisiert.“ (S. 17) Nietzsches personalisierendes Verfahren sei also seine „Krieg-Praxis“: Philosophische Probleme treten in Personen auf, werden an ihnen offenbart. Die Autoren behaupten, dass „es unter solchen Voraussetzungen keine Person jenseits der personae, kein authentisches Individuum hinter den Masken gibt, sondern vielmehr eine Persönlichkeit, die sich situations- und adressatenadäquat ihrer Masken zu bedienen weiß. Wird die Persönlichkeit dergestalt ins Zentrum der Reflexion gerückt, also von Vornherein dem wechselnden Rollenverhalten der Person Rechnung getragen, dann wird eben damit aber auch das philosophische Feld, das in der europäischen Tradition als ein Wissen vom Allgemeinen bestimmt ist, selbst zum Problem. Die programmatische Unpersönlichkeit einer sich als Lehre vom Erkennen auslegenden Philosophie könnte ihrerseits eine Grenze im Verstehen anzeigen.“ (S. 18 f.) Wenn somit das autonom und rational handelnde Subjekt abgeschafft wird, tritt an seine Stelle „nicht der Leib, sondern das Selbst bzw. Person und Persönlichkeit ein“: Sie sei „jene dritte Instanz, die nicht etwa eine vermittelnde ist, sondern jene, von der her Leib und Seele erst ihren Sinn erhalten.“ (S. 19) Um das Risiko des Selbst zu verdinglichen oder zu verflüchtigen, zu beschwören, überhöht Nietzsche laut Benne und Müller das „Selbst zum poetischen Prinzip per se: das ,schaffende Selbst‘ ist damit eigentlich eine Tautologie, denn wo das Selbst nicht mehr schafft, schafft es sich ab.“ (S. 50 f.) Durch ständige textuelle und paratextuelle Hinweise bezwecke Nietzsche eine Selbstthematisierung, in der es „eben nicht um ihn als empirischen Autor geht, sondern um die grundsätzliche Frage nach dem Persönlichen in der Philosophie.“ (S. 54) In diesem Zusammenhang komme das das Denken Nietzsches fortan kennzeichnende „Neue“ ins Licht: „die offensive (mytho-poietische) Personalisierung des eigenen Denkens und Schreibens, die persönliche Auseinandersetzung mit anderen namentlich genannten Philosophen und Künstlern, die hyperbolische Autogenealogie. Ecce homo ist nur die konsequenteste Ausprägung einer Entwicklung, die seit Der Wanderer und sein Schatten Gestalt findet.“ (S. 53) Diese Nietzsche-Deutung hat folgende Konsequenzen: die Lehre eines Philosophen als „Ausdruck einer spezifischen Persönlichkeit“, „die Persönlichkeit als Lebensexperiment“ (S. 28), „die Transformation der Philosophiegeschichte zur Per-

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

Dass Nietzsche in EH rekonstruiert, dichtet, „wie man wird, was man ist“, sollte also nicht verwundern, ebenso wenig die Tatsache, dass er am Ende seiner geistigen Existenz behauptet: „amor fati ist meine innerste Natur“ (EH, KSA 6.363) und: „sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich „anders“ wollen — das ist […] die grosse Vernunft selbst“ (EH, KSA 6.273). Das wird nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Nietzsche sich bereits als Achtzehnjähriger mit den Themen „Fatum und Geschichte“ und „Willensfreiheit und Fatum“ befasste und, wie gezeigt, im Laufe seines Schaffens implizit oder explizit den Fragen nach der Stellung des Einzelnen zur Kultur und Geschichte, nach der Freiheit des Menschen und nach dem Sinn des Lebens nachging. Wenn man Nietzsches Schriften langsam liest, sie „wiederkäut“, kann man überall Stellen entdecken, an denen er die lebensphilosophische Relevanz des inneren Geschehens eines Philosophen und die Lebensbedingungen seines Denkens in Betracht zieht. In SE interessiert er sich insbesondere für den „heroischen Lebenslauf“ eines Philosophen. Der Philosoph bzw. der Mensch leidet am Leben und fragt sich nach dessen Sinn. Aus diesem Grund „muss er in die Tiefe des Daseins hinabtauchen, mit einer Reihe von ungewöhnlichen Fragen auf der Lippe: warum lebe ich? welche Lection soll ich vom Leben lernen? Wie bin ich so geworden wie ich bin und weshalb leide ich denn an diesem So-sein?“ (SE, KSA 1.374) Der Mensch kann das Rätsel seines Lebens nur aus dem Sein lösen, „im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen.“ (SE, KSA 1.375) Damit taucht eine ungeheure Aufgabe vor seiner Seele auf: „alles Werdende zu zerstören, alles Falsche an den Dingen an’s Licht zu bringen.“ Vor diesem Hintergrund bringt Nietzsche das Exemplarische und Erzieherische bei Schopenhauer zum Ausdruck: Für ihn gab es nur Eine Aufgabe und hunderttausend Mittel, sie zu lösen: Einen Sinn und unzählige Hieroglyphen, um ihn auszudrücken. Es gehörte zu den herrlichen Bedingungen seiner Existenz, dass er wirklich einer solchen Aufgabe, gemäss seinem Wahlspruche vitam impendere vero, leben konnte und dass keine eigentliche Gemeinheit der Lebensnoth ihn niederzwang: – es ist bekannt, in welcher grossartigen Weise er gerade dafür seinem Vater dankte – (SE, KSA 1.411).

Von hohem Belang in Hinblick auf Nietzsches Einsicht einer Selbstverwirklichung in seiner intellektuellen Autobiographie sind auch die Aphorismen 263 und 513 aus MA, die vorwegnehmen, was später in EH ausführlich aufgezeigt wird: Begabung. – In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet. (MA, KSA 2.219)

sönlichkeitserklärung in philosophischer Absicht“ (S. 25) und „die Rückführung scheinbar allgemeiner Unterscheidungen auf letztlich persönliche Entscheidungen“ (S. 24). Summa summarum lässt sich aus dieser beachtlichen Nietzsche-Interpretation ein für uns doch nicht allzu wünschenswertes Fazit ziehen: die europäische Logos-Philosophie mit einer autoreferentiellen Mythopoiesis ersetzen zu wollen.

14.1 Philosophie als „eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte“: Ein Rückblick

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Das Leben als Ertrag des Lebens. – Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie. (MA, KSA 2.323)

Im Aphorismus 185 von VM wagt Nietzsche in Anlehnung an Schopenhauer die faszinierende Hypothese, dass das Streben der Menschheit nach Erkenntnis ihres historischen Verlaufs als Streben nach Genialität im Ganzen erkennbar wird, wenn Genialität „in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an das SelbstErlebte besteht“. Daher könnte die Historie der Menschheit als „kosmisches Selbstbewusstsein“ verstanden werden: Genialität der Menschheit. – Wenn Genialität, nach Schopenhauer’s Beobachtung, in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des gesammten historischen Gewordenseins – welches immer mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat – ein Streben nach Genialität der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein. (VM, KSA 2.460 f.)

In EH kommt Nietzsche implizit auf diese Hypothese zurück, indem er feststellt, dass seine Umwertung der Werte die Menschheit zu einer Selbstbesinnung herausfordert. In M 481 beurteilt Nietzsche die Prägnanz vom Denken eines Philosophen in Bezug auf die Erlebnisse und das Leiden und betont, dass eine Philosophie je origineller und sinnvoller wird, desto mehr sie „eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte“ ist: Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist: so sind die erstgenannten Denker im Nachtheil: ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus, es giebt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele (M, KSA 3.285).

Dies gilt nach Nietzsche besonders für die Philosophie Kants: Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Zeit, Etwas zu erleben, – ich denke, wie billig, nicht an grobe „Ereignisse“ von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. (M, KSA 3.286)

Nietzsche misst die Tragweite von Philosophien und Philosophen also eher an ihrer Seele als an ihrem Geist. Das Entscheidende einer Philosophie ist somit das Erlebte, ihre existentielle Bedeutung. Merkmale eines Philosophen sind seine Einsamkeit, seine Ruhe und Muße, seine schicksalhaften Erlebnisse, die damit einhergehende Leidenschaft der Erkenntnis und nicht zuletzt sein leidenschaftlich schöpferischer

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

Zustand. Die Philosophie ist also eine unwillkürliche, leidenschaftliche Seelengeschichte. Dies alles bestimmt die Vorlage, nach der Nietzsche sein Kunstwerk dichtet: Also sprach Zarathustra. Nietzsche legt Zarathustra im Abschnitt „Von alten und neuen Tafeln“, dessen Bedeutung Nietzsche in EH dadurch kennzeichnet, dass er seine Entstehung anekdotisch erzählt, folgende Worte in den Mund: Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde? — die Stunde meines Niederganges, Unterganges: denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen gehn. Dess warte ich nun: denn erst müssen mir die Zeichen kommen, dass es meine Stunde sei, – nämlich der lachende Löwe mit dem Taubenschwarme. Inzwischen rede ich als Einer, der Zeit hat, zu mir selber. Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber. – (Z, KSA 4.246)

Die Einsamkeit und Muße Zarathustras, sein ruhiges Warten auf das Zeichen seines Niedergangs lassen sich als Pendant zu der Begeisterung und Dankbarkeit dem Leben und dem dionysischen Zustand gegenüber deuten, den Nietzsche in der letzten Schaffensphase seines Lebens erfährt und aussagekräftig zu Beginn von EH beschreibt. In JGB 6 kommt Nietzsche auf die Auffassung der Philosophie als leidenschaftliche Seelengeschichte zurück und schreibt, dass jede große Philosophie „das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB, KSA 5.19) ist und „dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist.“ (JGB, KSA 5.19 f.) Im sich im Inneren des Menschen abspielenden Kampf der Triebe, den Nietzsche auf der Grundlage seiner „Lehre“ des Willens zur Macht deutet, ist jeder Trieb herrschsüchtig und will sich gegenüber den anderen durchsetzen. Jeder Grundtrieb bedient sich der Erkenntnis als Mittel, um sein „Interesse“ zu verfolgen. Ich glaube demgemäss nicht, dass ein „Trieb zur Erkenntniss“ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde – ) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, – und dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu philosophiren. – Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn – „besser“, wenn man will —, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen „Interessen“ des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der „hoffnungsvolle“ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilze-

14.1 Philosophie als „eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte“: Ein Rückblick

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kenner oder Chemiker macht: – es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. (JGB, KSA 5.20)

Dem unpersönlichen Charakter des Wissenschaftlers setzt Nietzsche das Persönliche des Philosophen entgegen: „Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist – das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind.“ Das „Wesen“ eines Philosophen, das „Wer-er-Ist“ wird von der Rangordnung seiner inneren Triebe bestimmt. Daher ist jede Philosophie der Ausdruck eines Willens zur Macht und eine ab- oder aufsteigende Linie des Lebens, also lebensfördernd oder -verneinend. In jeder Philosophie kommt zum Ausdruck, aus welcher Not heraus und in Hinblick auf welchen Sinn ein Philosoph seine Gedanken hervorgebracht hat. In der dritten Abhandlung von GM zieht Nietzsche unter anderem den Philosophen als Typus in Betracht und spricht ihm auf der Grundlage des asketischen Ideals zwei Wesenszüge zu: es besteht insgleichen eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vormachen. Beides gehört, wie gesagt, zum Typus; fehlt Beides an einem Philosophen, so ist er – dessen sei man sicher – immer nur ein „sogenannter“. (GM, KSA 5.350)

Nietzsche interpretiert dies so: „Jedes Thier, somit auch la bête philosophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht“. Am Ende des Aphorismus unterstreicht Nietzsche: Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen? Meine Antwort ist – man wird es längst errathen haben: der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint nicht damit „das Dasein“, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fiam! … (GM, KSA 5.351)

Mit diesem „fiam!“ verdichtet Nietzsche, was er später in EH und AC dichten wird: seine Selbstverwirklichung. Je mehr Nietzsche den Typus des Philosophen konturiert, desto mehr kennzeichnet er sich selbst. Er strebt zusehends nach der leidenschaftlichen Bestimmung seines Lebens. In GD wird dieses Streben so gebieterisch, dass er schreibt: „Man muss wissen, wer man ist …“ (GD, KSA 6.116) Wie bereits gesehen, wird die in MA angesprochene Begabung allmählich zu einer Berufung²¹² und damit zum Schicksal.

 Siehe dazu GD, Deutsche 5, KSA 6.108: „— Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss …“ und EH, MA 3, KSA 6.325: „Damals errieth ich

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

Nietzsche interpretiert „die ganze Geschichte“ als „die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten „sittlichen Weltordnung““ (EH, Schicksal 3, KSA 6.367). Die Aufgabe der Umwertung aller Werte ist keine Hypothese und kein Anspruch, sondern Nietzsches „Handwerk“: „Götzen (mein Wort für „Ideale“) umwerfen – das gehört schon eher zu meinem Handwerk.“ (EH, Vorwort 2, KSA 6.258) Vor- und rückwärts blickend, führt Nietzsche uns sein Gewordensein vor Augen und zeigt uns zugleich „das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht …“ (EH, Klug 9, KSA 6.293) Er schildert, welche Instinkte in ihm im Dienste seiner Selbstsucht arbeiteten und welche Probleme der Erziehung und Selbstzucht er anpacken musste. Er antwortet auf die Frage, „wie man wird, was man ist“, indem er uns die Vorbedingungen darstellt, die jeweils an der Entfaltung seiner Berufung und Aufgabe mitwirkten: — Inzwischen wächst und wächst die organisirende, die zur Herrschaft berufne „Idee“ in der Tiefe, – sie beginnt zu befehlen, sie leitet langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich erweisen werden, – sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen aus, bevor sie irgend Etwas von der dominirenden Aufgabe, von „Ziel“, „Zweck“, „Sinn“ verlauten lässt. – Nach dieser Seite hin betrachtet ist mein Leben einfach wundervoll. Zur Aufgabe einer Umwerthung der Werthe waren vielleicht mehr Vermögen nöthig, als je in einem Einzelnen bei einander gewohnt haben, vor Allem auch Gegensätze von Vermögen, ohne dass diese sich stören, zerstören durften. Rangordnung der Vermögen; Distanz; die Kunst zu trennen, ohne zu verfeinden; Nichts vermischen, Nichts „versöhnen“; eine ungeheure Vielheit, die trotzdem das Gegenstück des Chaos ist – dies war die Vorbedingung, die lange geheime Arbeit und Künstlerschaft meines Instinkts. (EH, Klug 9, KSA 6.294)

EH ist eine Selbstdarstellung der vielen entscheidenden Erlebnisse, durch die Nietzsche eins geworden ist. Daher könnte EH als die „Seelen-Geschichte“ — im Sinne der langen, geheimen Arbeit und Künstlerschaft des Instinkts der Selbst-Wiederherstellung (EH, KSA 6.267) — gedeutet werden, die Nietzsches welthistorische Aufgabe einer Umwertung aller Werte sinnhaft macht. Die Aufgabe zeigt sich als Lebensaufgabe, weil sie sinnstiftend und erkenntnisleitend zugleich ist.

14.2 „Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe …“ In EH führt Nietzsche uns die Existenzbedingungen seines Denkens und seiner Aufgabe vor Augen. In diesem Buch vollzieht sich nicht zuletzt das Experiment, das in PHG abgebrochen wurde: nämlich das Bild eines Philosophen durch die Auswahl

auch zuerst den Zusammenhang zwischen einer instinktwidrig gewählten Thätigkeit, einem sogenannten „Beruf“, zu dem man am letzten berufen ist – und jenem Bedürfniss nach einer Betäubung des Öde- und Hungergefühls durch eine narkotische Kunst, – zum Beispiel durch die Wagnerische Kunst.“

14.2 „Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe …“

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einiger seiner Lehren und Anekdoten zu zeichnen, in denen seine Persönlichkeit und das, was zu seinem Innersten gehört, deutlich sichtbar wird.²¹³ Zu diesem Zweck erzählt Nietzsche seine Philosophie, wie er sie verstanden und gelebt hat. Was seine Persönlichkeit ausmacht, sind die Erfahrungen und Existenzbedingungen, die seine Aufgabe bestimmt haben und von ihr zugleich bestimmt wurden. Dies rückt er in EH in den Vordergrund. Nietzsche beschreibt sich als jemand, der in Fragen der décadence erfahren ist: — Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung, – sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, dass ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabirt. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des „Um-die-Ecke-sehns“ und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der Alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine „Umwerthung der Werthe“ überhaupt möglich ist. – (EH, Weise 1, KSA 6.265 f.)

Nietzsches Kenntnis der décadence beruht also auf seiner Erfahrung und zugleich auf seiner erlernten Meisterschaft, Perspektiven umzustellen. Die doppelte Optik, von der aus er jeweils das Leben erfährt, gründet auf einer „doppelten Herkunft“: er ist „décadent zugleich und Anfang“ (EH, Weise 1, KSA 6.264). Er kann daher von Selbstüberwindung und décadence sprechen, weil er nicht nur beide kennt, sondern beide ist. Das in GM und GD angelegte Paradigma der Geschichte als Kampf der aufund absteigenden Linie des Lebens gegeneinander wird von Nietzsche in EH auf sein Leben übertragen. Aus diesem physiologischen Zustand erklärt Nietzsche „jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet. Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür, – ich kenne Beides, ich bin Beides.“ (EH, Weise 1, KSA 6.264)

 Vgl. PHG, KSA 1.803: „Dieser Versuch, die Geschichte der älteren griechischen Philosophen zu erzählen, unterscheidet sich von ähnlichen Versuchen durch die Kürze. Diese ist dadurch erreicht worden, daß bei jedem Philosophen nur eine ganz geringe Anzahl seiner Lehren erwähnt wurde, also durch Unvollständigkeit. Es sind aber die Lehren ausgewählt worden, in denen das Persönliche eines Philosophen am stärksten nachklingt, während eine vollständige Aufzählung aller möglichen überlieferten Lehrsätze, wie sie in den Handbüchern Sitte ist, jedenfalls Eins zu Wege bringt, das völlige Verstummen des Persönlichen. Dadurch werden jene Berichte so langweilig: denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anecdoten herauszuheben, und gebe das Uebrige preis.“

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

Nietzsches Erkenntnis und Einzigartigkeit gründen auf seiner verhängnisvollen Existenz. Neben dieser doppelten Herkunft tritt eine andere Existenzbedingung hervor: die Krankheit, der Nietzsche seine Weisheit verdankt. Sie befähigte ihn erst, die „Heiligkeit der Seele“ zur Seite zu schieben und den Leib zu bedenken. Daher hat er die allerersten Instinkte des Lebens gegen die „Seele“ und den „Geist“ und die strenge Selbstsucht und -zucht gegen den „Selbstlosen“, die „Entpersönlichung“ und die „Nächstenliebe“ so verehrt, dass er sich sein Leben lang Fragen der Ernährung, des Orts und Klimas widmete. Die Auswahl eben von Ernährung, Ort und Klima bedingt seine Aufgabe, weil nur in einem energischen Leibeszustand „der animalische vigor“ so groß wird, „dass jene in’s Geistigste überströmende Freiheit erreicht wird, wo Jemand erkennt: das kann ich allein …“ (EH, Klug 2, KSA 6.282) Zudem wird Nietzsche durch die Krankheit skeptisch, wählerisch und anspruchsvoll. Die Krankheit brachte ihn zur Vernunft, zwang ihn „zum Nachdenken über die Vernunft in der Realität“ (EH, Klug 2, KSA 6.283). Sie verfeinerte seine „Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung“ (EH, Weise 1, KSA 6.266) und gab ihm „Finger für nuances“. Dank dieser Verfeinerung seines Denkvermögens wurde Nietzsche sich seiner auf- und absteigenden Linie des Lebens bewusst und konnte sich von der décadence bzw. vom Ressentiment befreien. „Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment – wer weiss, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin! Das Problem ist nicht gerade einfach: man muss es aus der Kraft heraus und aus der Schwäche heraus erlebt haben.“ (EH, Weise 6, KSA 6.272) Die Selbsterlösung vom Ressentiment bewies für Nietzsche, dass er im Grunde doch gesund war. Deswegen wurde die zu seinem Wesen gehörende Krankheit zu einem Stimulans für das Leben, für ein „Mehr-Leben“. Aus diesem Willen zur Gesundheit und zum Leben formte Nietzsche seine Philosophie.²¹⁴ Er bringt zum Ausdruck, dass seine Philosophie aus seinem „Instinkt der Selbst-Wiederherstellung“ hervorgegangen ist, und will damit ein für alle Mal ihren existentiellen Ursprung nachweisen. Philosophie ist, wie bereits für JGB erörtert, nicht „Kritik und kritische Wissenschaft — und gar nichts ausserdem“ (JGB, KSA 5.143), sondern der Inbegriff einer Überfülle von Kräften, höchst bedeutsamen Erlebnissen und dem Willen zur Gesundheit und zur Macht. Die Brücke zwischen Philosophie und Leben besteht in der Erfahrung, nicht im Begriff. Philosophie ist eine lange Erfahrung der décadence und

 Siehe dazu EH, Weise 2, KSA 6.266 f.: „Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein. So in der That erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie… Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung …“

14.3 Die „dionysische Aufgabe“ und ihre Existenzbedingungen

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zugleich eine harte, ausdauernde Übung, sich von ihr frei zu machen. Alle Kräfte eines Philosophen sind unaufhörlich herausgefordert, nicht um ein System des Wissens aufzubauen, sondern um die Gesamtprobleme des Lebens anzupacken und das Leben verlockend zu machen: Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisirt und idealisirt wurde, sehr anders ansehn als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer grossen Namen kam für mich an’s Licht. – Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser. Irrthum (— der Glaube an’s Ideal —) ist nicht Blindheit, Irrthum ist Feigheit … Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntniss folgt aus dem Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich … Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloss Handschuhe vor ihnen an … Nitimur in vetitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit. – (EH, Vorwort 3, KSA 6.258 f.)

Wie im Kapitel zu JGB gezeigt, ist Erfahrung die unabdingbare Voraussetzung zum Verstehen.²¹⁵ Gefühle und Erfahrungen schaffen einen privilegierten, hermeneutischen und existentiellen Zustand, um sich selbst, das Leben, die Philosophie und die Geschichte zu hinterfragen, zu ergründen und zu verstehen. Dass Erkenntnis aus Mut folgt, zeigt, dass bei einem Philosophen die Kraft des Denkens, die Absichten, die er verfolgt, und die Neigung, die er zum Denken besitzt, notwendig sind. Wenn Philosophie, wie Nietzsche mit Bezug auf Ovid sagt,²¹⁶ eine „Wanderung im Verbotenen“ ist und es darum geht, wie viel Wahrheit ein Geist erträgt und wagt, dann ist sie in diesem Sinne nicht nur ein Experiment, sondern auch eine existentielle Herausforderung.²¹⁷

14.3 Die „dionysische Aufgabe“ und ihre Existenzbedingungen Die unlösbare Beziehung zwischen Erkenntnis und Existenz findet ihren prägnantesten Ausdruck in Z: „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos.“ (EH, Z 8, KSA 6.348). Ausgerechnet die Entdeckung des Dionysischen ist die entscheidende Erfahrung, mit der Nietzsche bereits in der Entstehungszeit von GT die Kluft zwischen dem Individuum und dem Ganzen bzw. der Geschichte überbrückt: „Ich hatte zu meiner innersten Erfahrung das einzige

 „Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben.“ (JGB, KSA 5.221)  Ovid, Amores III, 4, 17: „nitimur in vetitum semper cupimusque negata“.  In dieser Hinsicht kommt Nietzsche Kant sehr nahe. Beide betonen die entscheidende Rolle des Mutes im Denken und Handeln. Siehe dazu Kants berühmte Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung.

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

Gleichniss und Seitenstück, das die Geschichte hat, entdeckt, – ich hatte ebendamit das wundervolle Phänomen des Dionysischen als der Erste begriffen.“ (EH, GT 2, KSA 6.311) Neben der höchsten, der dionysischen Bejahung des Lebens schreibt sich Nietzsche außerdem zu, „die Moral selbst als décadence-Symptom“ entdeckt zu haben. Dies ist, fährt er fort, „eine Neuerung, eine Einzigkeit ersten Rangs in der Geschichte der Erkenntniss.“ Deshalb bezeichnet er sich als den Ersten, der „den eigentlichen Gegensatz“ des Lebens und der Geschichte sah: — Ich sah zuerst den eigentlichen Gegensatz: – den entartenden Instinkt, der sich gegen das Leben mit unterirdischer Rachsucht wendet (— Christenthum, die Philosophie Schopenhauers, in gewissem Sinne schon die Philosophie Platos, der ganze Idealismus als typische Formen) und eine aus der Fülle, der Überfülle geborene Formel der höchsten Bejahung, ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst … Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermüthigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrecht erhaltene.²¹⁸

Am Gleichnis des Phänomens des Dionysischen stellt Nietzsche einen Parallelismus zwischen der Geschichte und seinen inneren Erfahrungen an, auf dessen Grundlage er beide deutet. Z ist hier von ausschlaggebender Bedeutung: In diesem Werk kommt das zum Ausdruck, „worin der Knoten im Schicksal der Menschheit eingeknüpft ist“ (EH, Z 5, KSA 6.342). Beim Erzählen der Geschichte Zarathustras (vgl. EH, Z 1, KSA 6.335) klärt Nietzsche zunächst die physiologischen und psychologischen Existenzbedingungen zur Schaffung dieses Werks. Als Vorzeichen oder Vorbedingungen nennt er „eine plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung meines Geschmacks, vor Allem in der Musik […]; eine Wiedergeburt in der Kunst zu hören“ (EH, Z 1, KSA 6.335), das ihm im höchsten Grade innewohnende „jasagende Pathos par excellence, von mir das tragische Pathos genannt“ (EH, Z 1, KSA 6.336), nach dem „der Schmerz nicht als Einwand gegen das Leben [gilt]“ und „alles Entscheidende „trotzdem“ entsteht“ (EH, Z 2, KSA 6.337), „die grosse Gesundheit“²¹⁹ und die Begeisterung des Leibes: „die  „Dieser Anfang ist über alle Maassen merkwürdig. Ich hatte zu meiner innersten Erfahrung das einzige Gleichniss und Seitenstück, das die Geschichte hat, entdeckt, – ich hatte ebendamit das wundervolle Phänomen des Dionysischen als der Erste begriffen. Insgleichen war damit, dass ich Sokrates als décadent erkannte, ein völlig unzweideutiger Beweis dafür gegeben, wie wenig die Sicherheit meines psychologischen Griffs von Seiten irgend einer Moral-Idiosynkrasie Gefahr laufen werde: – die Moral selbst als décadence-Symptom ist eine Neuerung, eine Einzigkeit ersten Rangs in der Geschichte der Erkenntniss. Wie hoch war ich mit Beidem über das erbärmliche Flachkopf-Geschwätz von Optimismus contra Pessimismus hinweggesprungen!“ (EH, GT 2, KSA 6.311)  „Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen – heisst es daselbst – wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft, wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wünschbarkeiten erlebt und alle Küsten dieses idealischen „Mittelmeers“ umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des

14.3 Die „dionysische Aufgabe“ und ihre Existenzbedingungen

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Muskel-Behendheit war bei mir immer am grössten, wenn die schöpferische Kraft am reichsten floss.“ (EH, Z 4, KSA 6.341) Anhand der Begeisterung des Leibes und der großen Gesundheit führt Nietzsche uns die ungeheure Verschwendung aller Kräfte vor Augen, „die jede schöpferische That, jede That aus dem Eigensten, Innersten, Untersten heraus zur Voraussetzung hat.“ (EH, Z 5, KSA 6.342) So lässt sich auch „das psychologische Problem im Typus Zarathustra“ (EH, Z 6, KSA 6.345) verstehen: In Zarathustra sind Schöpfen und Vernichten, Nein-Sagen bzw. Verneinen und Ja-Sagen so eng miteinander verbunden, dass das eine nicht ohne das andere auskommt — Vernichten und das Zerbrechen von Werten gehört zur Schöpfung. Daher ist der Typus Zarathustra trotz seiner vernichtenden Seite „der Gegensatz eines neinsagenden Geistes“: „Aber das ist“, so Nietzsche, „der Begriff des Dionysos selbst.“ Das eigentliche Merkmal von Zarathustra ist sein Wille zur Zeugung, sein inbrünstiger Schaffenswille und die von ihm auch im Erkennen gefühlte Lust am Zeugen und Werden. Er ist der „jasagendste aller Geister“ (EH, Z 6, KSA 6.343), ein Born, aus dem „die höchsten und die untersten Kräfte der menschlichen Natur“ hervorströmen. Gleich Nietzsche ist auch Zarathustra auf der ungeheuren Leiter des Lebens auf- und niedergestiegen; „er hat weiter gesehn, weiter gewollt, weiter gekonnt, als irgend ein Mensch.“ (EH, Z 6, KSA 6.343) Aus diesem Grund hat er den Menschen überwunden und fühlt sich als „die höchste Art alles Seienden“; der Begriff „Übermensch“ wird in ihm „höchste Realität“.²²⁰ Darin liegt die Größe seines Lebens. Zudem sind „in ihm alle Gegensätze zu einer neuen Einheit gebunden.“ (EH, Z 6, KSA 6.343) Zarathustra ist ein Bildner, der durch sein Werk über die Menschheit hinausgehen will. Er will den Menschen und das von der Philosophie und dem Christentum hervorgebrachte Ideal vom Menschen abschaffen bzw. überwinden. Deshalb ist ihm der Mensch „eine Unform, ein Stoff, ein hässlicher Stein, der des Bildners bedarf.“ (EH, Z 8, KSA 6.348) Zarathustra strebt also nicht nach einer neuen Weltanschauung oder der Erkenntnis des Seins. Er beansprucht für sich die Macht bzw. die Kunst, dem hässlichen Stein Mensch eine neue Form einzumeißeln: Er will den Menschen verklären und ein neues Bild von ihm in die Tat umsetzen. „Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner Bilder! Ach, dass es im härtesten, hässlichsten Steine schlafen muss!“ (EH, Z 8, KSA 6.349) So zeigt sich der Sinn von allem „Dichten und Trachten“ von Zarathustra: Er dichtet alles in eins und trägt zum Zwecke einer neuen Zukunft Ideals zu Muthe ist, insgleichen einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Göttlich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zu allererst Eins nöthig, die grosse Gesundheit – eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss …“ (EH, Z 2, KSA 6.337 f.)  „— Hier ist in jedem Augenblick der Mensch überwunden, der Begriff „Übermensch“ ward hier höchste Realität, – in einer unendlichen Ferne liegt alles das, was bisher gross am Menschen hiess, unter ihm. Das Halkyonische, die leichten Füsse, die Allgegenwart von Bosheit und Übermuth und was sonst Alles typisch ist für den Typus Zarathustra ist nie geträumt worden als wesentlich zur Grösse. Zarathustra fühlt sich gerade in diesem Umfang an Raum, in dieser Zugänglichkeit zum Entgegengesetzten als die höchste Art alles Seienden“ (EH, Z 6, KSA 6.344).

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

alles zusammen, was bisher nur Bruchstück ist. Sein Dichten besteht in einer Umdeutung der Geschichte, im Umschaffen von allem „Es war“ in ein „So wollte ich es“: Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue. Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall. Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Räthselrather und der Erlöser des Zufalls wäre! Die Vergangnen zu erlösen und alles „Es war“ umzuschaffen in ein „So wollte ich es!“ – das hiesse mir erst Erlösung! (EH, Z 8, KSA 6.348)

Die Erfindung eines neuen Menschenbildes und die Umschaffung der Vergangenheit bzw. der Geschichte ist die eigentliche Aufgabe von Zarathustra, die sie auch für Nietzsche ist (vgl. EH, Z 8, KSA 6.348). Mit Z meint Nietzsche ein Werk geschaffen zu haben, das als Maßstab gelten könne, die ganze Geschichte und sein Leben zu beurteilen: Dieses Werk steht durchaus für sich. Lassen wir die Dichter bei Seite: es ist vielleicht überhaupt nie Etwas aus einem gleichen Überfluss von Kraft heraus gethan worden. Mein Begriff „dionysisch“ wurde hier höchste That; an ihr gemessen erscheint der ganze Rest von menschlichem Thun als arm und bedingt. (EH, Z 6, KSA 6.343)

Zarathustra versteht sich als Ereignis und als „Akt einer ungeheuren Reinigung und Weihung der Menschheit“ (EH, GT 4, KSA 6.315), die durch die Selbstüberwindung der Moral zustande kommen. Dies geschieht, wie im Folgenden zu erörtern ist, zuletzt durch Nietzsche selbst.

14.4 „Der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tragende Geist“ Im letzten Abschnitt von EH geht Nietzsche der Frage „Warum ich ein Schicksal bin“ nach und schreibt: Um abzuschätzen, was ein Typus Mensch werth ist, muss man den Preis nachrechnen, den seine Erhaltung kostet, – muss man seine Existenzbedingungen kennen. Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge —: anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht der Art, um jeder Zeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger der Art, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmüthigen Händen jeder Zeit gefallen zu lassen. (EH, Schicksal 4, KSA 6.368)

Die Guten sind nach Nietzsche décadent, weil sie Begriffe wie „wahre Welt“, „Jenseits“, „Sünde“, „freier Wille“, „Seele“, „Geist“, „selbstlos“, „Entpersönlichung“ und „Nächstenliebe“ erlogen und den Leib und das Leben in seinen ersten Instinkten verachteten: „daher die Umwerthung aller Werthe ins Lebensfeindliche, daher die

14.4 „Der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tragende Geist“

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Moral … Definition der Moral: Moral – die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen – und mit Erfolg.“ (EH, Schicksal 7, KSA 6.373) Dabei teilt Nietzsche der vom Christentum vollbrachten Umwertung der Werte eine ausschlaggebende Bedeutung zu: Sie hat „die einzige Welt“ entwertet, „die es giebt, – um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrig zu behalten!“ (EH, Schicksal 1, KSA 6.374) Indem aber die vom Christentum durch die Geschichte hindurch verübte Lüge entdeckt wird, kommt zugleich die Wahrheit zutage, die in Nietzsche selbst Genie und Fleisch geworden ist. Als „der erste Immoralist“ (EH, Schicksal 3, KSA 6.366) setzt er sich daher radikal „den Guten“ entgegen. Die Lüge der „Guten“ will er durch die von ihm entdeckte Wahrheit ersetzen: — Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. – Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist […]. Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – roch … (EH, Schicksal 1, KSA 6.365 f.)

Die Entdeckung der Wahrheit ist nicht das Auffinden von etwas Verborgenem. Entdeckung lässt sich hier eher als Erfindung verstehen. Dass Wahrheit Erfindung und Zurechtmachen ist, wurde bereits ausführlich gezeigt. Dennoch ist es hilfreich, um die Übereinstimmung der Wahrheit mit der Erfindung auch in EH zu untermauern, noch einmal die Aufmerksamkeit auf den Typus Zarathustra zu lenken. Wie „Plato sich des Sokrates bedient [hat], als einer Semiotik für Plato“ (EH, UB 3, KSA 6.320), ebenso hat sich Nietzsche des Zarathustra als einer Semiotik für Nietzsche bedient. Das heißt aber nicht, dass Nietzsche gänzlich mit Zarathustra identifiziert werden muss, sondern dass Nietzsche sich mit Zarathustra nach seinem Bild einen Typus zurechtgemacht hat. Er hat zunächst „die ganze Geschichte“ als „die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten „sittlichen Weltordnung““ (EH, Schicksal 3, KSA 6.367) gedeutet und Zarathustra in diesen Zusammenhang einbezogen: Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk […]. Zarathustra schuf diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt. (EH, Schicksal 3, KSA 6.367)

Weil Zarathustra die Moral schuf, ist er erfahrener und wahrhaftiger als sonst ein Denker, um die Moral als Irrtum zu erkennen. Schöpfen und Erkennen wiederum sind eng miteinander verbunden: Das eine schließt das andere ein, denn das eine ist das andere. Daher kennt und entdeckt Zarathustra die Wahrheit, weil er sie gedichtet, weil er sie geschaffen hat. So schafft er ein neues Bild des Menschen, des Lebens und der Geschichte. Er, der ein Dichter ist, wird im Vergleich zu Goethe, Shakespeare und Dante bezeichnet „als Einer, der die Wahrheit erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal“ (EH, Z 6, KSA 6.343), als „der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tragende Geist“ (EH, Z 6, KSA 6.345). Für Nietzsche bedeutet der Zarathustra seine lebensbedingende Selbstüberwindung: „Die Selbstüberwindung

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra.“ (EH, Z 6, KSA 6.343) Die schöpferischen Kräfte, die Nietzsche im Laufe seines Denkens dem Volk,²²¹ dem Genie oder Zarathustra verliehen hat, zeichnen ihn jetzt selber aus: „Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt, indem er zulässt, indem er vertraut.“ (EH, Bücher 2, KSA 6.267) Mit einem Wort ist Nietzsche ein Philosoph, einer, der „distinguirt“, ein „gentilhomme“, der „ein Gefühl für Distanz im Leibe hat“ und „überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht“ (EH, WA 4, KSA 6.363). Gleich jedem großen Dichter schöpft Nietzsche „nur aus seiner Realität“ (EH, Klug 4, KSA 6.287) und setzt alles, was er erlebt, in eine geistige Form um: „ich [musste] instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren, den ich in mir trug.“ (EH, GT 4, KSA 6.313 f.) Die geistige, schöpferische Kraft ist die Vorbedingung der Kraft zur Tat: „Aber die Kraft zur mächtigsten Realität der Vision ist nicht nur verträglich mit der mächtigsten Kraft zur That, zum Ungeheuren der That, zum Verbrechen – sie setzt sie selbst voraus …“ (EH, Klug 4, KSA 6.287) Nietzsche „projiziert“²²² den inneren Kampf zwischen seiner dionysischen Wahrheit und der christlichen Lüge derart auf die Geschichte, dass seine Aufgabe einer Umwertung aller

 „Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf: man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden, ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zu betäuben.“ (GT, KSA 1.23)  „Man höre den welthistorischen Accent, mit dem auf Seite 30 der Begriff „tragische Gesinnung“ eingeführt wird: es sind lauter welthistorische Accente in dieser Schrift. Dies ist die fremdartigste „Objektivität“, die es geben kann: die absolute Gewissheit darüber, was ich bin, projicirte sich auf irgend eine zufällige Realität, – die Wahrheit über mich redete aus einer schauervollen Tiefe. Auf Seite 71 wird der Still des Zarathustra mit einschneidender Sicherheit beschrieben und vorweggenommen; und niemals wird man einen grossartigeren Ausdruck für das Ereigniss Zarathustra, den Akt einer ungeheuren Reinigung und Weihung der Menschheit, finden, als er in den Seiten 43—46 gefunden ist. —“ (EH, GT 4, KSA 6.314 f.)

14.4 „Der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tragende Geist“

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Werte einen welthistorischen Akzent bekommt.²²³ Die Umwertung ist nicht mehr bloß eine Hypothese oder ein Anspruch, sondern Nietzsches Handwerk und, nochmals gesagt, ein „Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit“ (EH, Schicksal 1, KSA 6.365). Dem rückwärtsgerichteten Weg des Nihilismus setzt Nietzsche mit seiner dionysischen Philosophie den Weg aufwärts entgegen. Er stellt sich als frohen Botschafter dar, der der Menschheit wieder Hoffnung, Aufgaben und Ziele gibt. So versteht er sich als Schicksal: „Und allen Ernstes, Niemand wusste vor mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Cultur – ich bin deren froher Botschafter … Eben damit bin ich auch ein Schicksal. – —“ (EH, GD 2, KSA 6.355) Damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: EH repräsentiert in Nietzsches Schaffen die Phänomenologie seiner Seele bzw. seines Geistes. In diesem Buch bringt Nietzsche die Erforschung seiner „Seele“, die „Erscheinungsformen“ und die „Existenz-Voraussetzungen“ zum Ausdruck, unter denen seine Philosophie und seine Aufgabe überhaupt erst entstanden und gediehen,²²⁴ wie in Bezug auf die dritte und vierte UB zum Vorschein kommt: — In Anbetracht, dass damals mein Handwerk das eines Gelehrten war, und, vielleicht auch, dass ich mein Handwerk verstand, ist ein herbes Stück Psychologie des Gelehrten nicht ohne Bedeutung, das in dieser Schrift plötzlich zum Vorschein kommt: es drückt das Distanz-Gefühl aus, die tiefe Sicherheit darüber, was bei mir Aufgabe, was bloss Mittel, Zwischenakt und Nebenwerk sein kann. Es ist meine Klugheit, Vieles und vielerorts gewesen zu sein, um Eins werden zu können, – um zu Einem kommen zu können. Ich musste eine Zeit lang auch Gelehrter sein. – (EH, UB 3, KSA 6.320 f.)

Die Aufgabe bildet das Leitmotiv von EH sowie von Nietzsches Leben in einem Ausmaß, dass sich behaupten lässt, dass Nietzsche ,seiner Aufgabe gelebt‘ hat. An ihr misst und beurteilt er sein Leben, die philosophischen Ansprüche und Ergebnisse anderer Philosophen und die ganze Geschichte der Menschheit. Sie leitet physiolo-

 Siehe dazu EH, Schicksal 1, KSA 6.366: „Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist.“  Vgl. GM III 10, KSA 5.360: „Drücken wir den ganzen Thatbestand in kurze Formeln zusammen: der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die früher festgestellten Typen des contemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur möglich zu sein: das asketische Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient, – er musste es darstellen, um Philosoph sein zu können, er musste an dasselbe glauben, um es darstellen zu können. Die eigenthümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige, entsinnlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Philosophen-Attitüde an sich Geltung gewonnen hat, – sie ist vor Allem eine Folge des Nothstandes von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entstand und bestand: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht möglich gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Missverständniss.“

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gisch, psychologisch, hermeneutisch und historisch sein Leben und bedingt sein Denken und seine Entscheidungen. Physiologisch drückt sie Nietzsches Instinkt der Selbsterhaltung aus. Sie ist entscheidend bezüglich der Wahl von Ort, Klima und Ernährung: Es steht Niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den Stoffwechsel, seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima Jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann: er bekommt sie nie zu Gesicht. Der animalische vigor ist nie gross genug bei ihm geworden, dass jene in’s Geistigste überströmende Freiheit erreicht wird, wo Jemand erkennt: das kann ich allein … (EH, Klug 2, KSA 6.282 f.)

Die Wahl von Ort, Klima und Ernährung bestimmt das Dasein derart, dass „keine Gefahr grösser [ist,] als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen“ (EH, Klug 9, KSA 6.293). Aus psychologischer Sicht ist ein Mensch mit dieser Aufgabe imstande, diejenigen Qualitäten, Tüchtigkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln, die zu ihrer Vollendung unentbehrlich sind. Zu diesem Vermögen „gehört die Härte des Hammers, die Lust selbst am Vernichten in entscheidender Weise“ (EH, Z 8, KSA 6.349). Hermeneutisch gesehen, drückt sie den Instinkt der Selbstverteidigung und der Selbstsucht und -zucht aus. Sie ist der dominierende Instinkt, der Nietzsche gebieterisch zu den höchsten und gefährlichsten Entscheidungen zwang.²²⁵ Nietzsche ist sich dessen aber nicht immer gänzlich bewusst. Zu den Voraussetzungen seiner Aufgabe gehört nämlich, „dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Werth, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege, die Verzögerungen, die „Bescheidenheiten“, der Ernst, auf Aufgaben verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen.“ (EH, Klug 9, KSA 6.293) Historisch betrachtet, kommt die Wechselwirkung von Aufgabe und Geschichte zum Vorschein: Die selbstgestellte Aufgabe bedingt zwar die Geschichte, ist aber ihrerseits auch von der Geschichte bedingt. Nietzsche will sich durch seine Aufgabe also nicht als Philosophen zelebrieren. Er zielt vielmehr darauf ab, die Menschheit aus dem Nihilismus zu ziehen. Zu diesem Zweck beansprucht er „[e]ine Aufgabe gross genug, die Völker wieder zu binden.“ (EH, WA 2, KSA 6.360) Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt —, diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, dass sie durchaus nicht göttlich regiert wird, dass vielmehr gerade unter ihren heiligsten Werthbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbniss, der décadence-In-

 Siehe dazu EH, MA 3, KSA 6.324 f.

14.4 „Der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tragende Geist“

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stinkt verführerisch gewaltet hat. Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werthe ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. (EH, M 2, KSA 6.330)

Die Aufgabe bestimmt also nicht nur das Leben des Einzelnen bzw. des Philosophen, indem sie ihnen einen Sinn zuweist, sondern auch die Geschichte der Menschheit. Sie soll nach Nietzsche eine Wertewende bewirken, die sich zugleich als eine Zeitenwende und Katastrophe erweist: „— Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm …“ (EH, Schicksal 8, KSA 6.373) Wie in JGB will Nietzsche den geschichtlichen Prozess des Nihilismus beschleunigen. Das soll sich durch die Entfesselung eines „Geisterkriegs“ (EH, Schicksal 1, KSA 6.366) vollziehen, in dem der Philosoph eine bestimmende Rolle und eine bestimmte Aufgabe hat. Er sucht sich einen gewaltigen Gegner oder ein Problem und fordert ihn bzw. es zum Zweikampf heraus. „Die Aufgabe ist nicht, überhaupt über Widerstände Herr zu werden, sondern über solche, an denen man seine ganze Kraft, Geschmeidigkeit und Waffen-Meisterschaft einzusetzen hat, – über gleiche Gegner …“ (EH,Weise 7, KSA 6.274) Das Dasein als Selbstgestaltung stellt einen schöpferischen Prozess dar. Damit lässt sich das Leben nicht durch mathematisch formulierbare Gesetze oder äußerliche, wissenschaftliche Kriterien messen und beurteilen, sondern nur als Geschichte erzählen. So wird auch die Zeit nicht quantitativ gedacht, sondern qualitativ erlebt. Es geht nicht um die objektive, physikalische Zeit der Einzelwissenschaften. Es handelt sich um Zeiterleben, um Lebenszeit. Das treffendste Beispiel dazu ist Zarathustras Anspruch, das „so war es“ in das „so wollte ich es“ umzuwandeln. In EH wagt Nietzsche, seine Erlebnisse in einen verständlichen und provozierenden Zusammenhang zu bringen, in dem er seine Persönlichkeit ins Spiel bringt. Nietzsche erzählt sich und uns sein Leben und stellt sich und uns vor, was er kann, soll, will oder hoffen darf und unter welchen Bedingungen sich das vollziehen lässt. Daran lässt sich das Dasein messen. Wenn wir auf Nietzsches geistige Entwicklung zurückblicken, finden wir Sokrates, Platon, Kant, Hegel, Schopenhauer, Spinoza, Christus und Wagner als Gegner auf Augenhöhe, mit denen er sein Leben lang einen Geisterkrieg geführt hat. Seine Aufgabe erschöpft sich aber nicht in einer strengen Auseinandersetzung mit alten und zeitgenössischen Philosophen oder Genies. Er will auch auf die Zukunft, auf die kommende Menschheit wirken. Weil Nietzsche mit der Umwertung aller Werte die schwerste Forderung an die Menschheit stellt, die je an sie gestellt wurde, scheint es ihm in EH notwendig, auch seine Persönlichkeit²²⁶ vorzustellen und zu zeigen, wer er

 Dass ein großer Denker in seiner Autobiographie von seinen Erfahrungen redet, wird bestätigt durch das, was Carl Gustav Jung im Prolog seiner Autobiographie schreibt: „Im Grunde genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt in die

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14 „Und so erzähle ich mir mein Leben“

ist.²²⁷ Die Forderung an die Menschheit ist eine existentielle Herausforderung an jeden. Darüber soll man sich nicht täuschen: „Hat man mich verstanden? – Was mich abgrenzt, was mich bei Seite stellt gegen den ganzen Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung an Jedermann enthält.“ (EH, Schicksal 7, KSA 6.371) Bis FW hat Nietzsche versucht, mit seiner Philosophie einen Sinn ins Leben und in die Geschichte zu legen. Ab Z wagt er das Experiment, seinen Willen ins Leben und in die Geschichte zu dichten. Zu diesem Zweck spricht er vom Willen zur Macht, von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, vom Übermenschen, ab JGB und GM vom Nihilismus, von der Kunst als Stimulans des Lebens und von seiner lebensphilosophischen Aufgabe einer Umwertung aller Werte, während er in EH seine Selbststilisierung inszeniert. Wichtig dabei ist: All das ist Dichtung, Hypothese. Und trotzdem übt Nietzsche einen geradezu verstörenden, verhängnis- wie verheißungsvollen, attraktiven und zugleich abstoßenden Einfluss auf uns aus.

vergänglichen einbrach. Darum spreche ich hauptsächlich von den inneren Erlebnissen. […] Ich kann mich nur aus den inneren Geschehnissen verstehen. Sie machen das Besondere meines Lebens aus, und von ihnen handelt meine ,Autobiographie‘“ (Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, aufgez. u. hg.v. Aniela Jaffé, Düsseldorf 2011, S. 18 f.).  „In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin.“ (EH, Vorwort 1, KSA 6.257)

15 Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen Herausforderung Eine unerträgliche Spannung liegt Tag und Nacht auf mir hervorgebracht durch die Aufgabe, die auf mir liegt und die absolute Ungunst aller meiner sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: das ist die Hauptsache. (Briefentwurf an Franziska Nietzsche, 17. Februar 1888, Nr. 995, KSB 8.256)

15.1 Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche am Leitfaden seiner selbstgestellten philosophischen Lebensaufgabe Wir haben Nietzsches Philosophie unter dem Gesichtspunkt seiner Aufgabe dargestellt und ausgelegt. In seinen Schriften stellt sich Nietzsche die Aufgaben einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt und des Daseins, einer radikalen Kritik der Welt und des Daseins, einer neuen Wertsetzung und schließlich einer Umwertung aller Werte. Die Aufgabe hat sich als der hermeneutische Standpunkt erwiesen, von dem aus Nietzsche seine Philosophie aufbaut und entwickelt. Sie ist zugleich Nietzsches „ubi consistam“ (vgl. den Brief an Carl Fuchs, 14. Dezember 1887, Nr. 963, KSB 8.210) und das, was ihn von anderen Philosophen unterscheidet. Bereits seit Fatum und Geschichte und Willensfreiheit und Fatum stellt sich Nietzsche eine Aufgabe und weist ihr eine maßgebliche Bedeutung zu. Als Achtzehnjähriger wird er sich der Untauglichkeit der überlieferten moralischen Werte bewusst. Er erahnt die Sinnlosigkeit des Lebens und fühlt sich von diesem Mangel herausgefordert. Er bleibt jedoch nicht in einem kontemplativen, resignativen Zustand versunken, sondern nimmt eine positive Einstellung zum Leben an und versucht, einen eigenen Weg zur Abschaffung des Christentums und zur Schöpfung neuer Werte einzuschlagen. Er denkt über die Willensfreiheit des Menschen nach, über die Spielräume einer selbstständigen Lebensbestimmung des Individuums im Verhältnis zum Ganzen. So stellt er sich einerseits die Aufgabe einer Abschaffung der überkommenen Auffassung der Welt und der christlichen Werte, andererseits die Aufgabe der Einrichtung einer neuen, auf Naturwissenschaft und Geschichte beruhenden Denkweise. Mit der geistigen Luzidität eines erfahrenen Philosophen ist sich der junge Nietzsche bereits darüber im Klaren, was seine selbstgestellte Aufgabe existentiell von ihm abverlangt: „Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens.“ (KGW I 2.432) Diesen Versuch vollzieht Nietzsche nicht im zwar vorgesehenen, aber letztlich nicht mehr geschriebenen und publizierten Werk Der Wille zur Macht, sondern in den Schriften von 1888/89 und insbesondere in EH. Von Anfang an ist die Aufgabe für ihn nicht etwas, das man zugeteilt bekommt, sondern etwas, das aus eigener existentiellen Not entsteht: Sie kommt aus einer theoretischen und existentiellen Problemstellung hervor https://doi.org/10.1515/9783110701890-019

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15 Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen Herausforderung

und ist zugleich eine konstruktive Einstellung und Reaktion auf die verhängnisvolle Sinnlosigkeit des Lebens. Nietzsches Aufgabe ist also keine amtliche, sondern eine selbstgestellte Lebensaufgabe. Die Aufgabe ist das, was ihm im Leben einen Halt gibt und infolgedessen ein hohes Selbstgefühl und den Mut verschafft, die überlieferten und hinfällig gewordenen Werte abzuschaffen und neue Anhaltspunkte zum Aufbau eines neuen Lebenshorizonts zu gewinnen, der neue Spielräume zum Denken und Handeln verschafft. Huldigt der junge Nietzsche noch den Führungsmächten seines Zeitalters — Geschichte bzw. Historismus und Wissenschaft —, setzt er sich einige Jahre später sehr kritisch mit ihnen auseinander. Ab 1868 plant Nietzsche, eine Dissertation über „die Teleologie nach Kant“ zu verfassen. Auch wenn er diese Arbeit nicht schrieb, war er sich doch der eigentlichen philosophischen Aporie seiner Zeit — der Kluft zwischen Sein und Sollen — und der Notwendigkeit, diese zu überbrücken oder aufzulösen, sehr bewusst. Die philosophische Auseinandersetzung mit dieser Aporie findet erst in GM ihre charakteristische Form. Während die Philosophen im 19. Jahrhundert auf metaphysische Grundlagen nicht verzichten können oder wollen, baut Nietzsche sein Denken auf das Prinzip, dass das Sein ein „X“ ist. Die ersten Anhaltspunkte zur Kritik von Wissenschaft und Geschichte gewinnt er bereits in GT. Diese Schrift zeichnet sich durch ihre Komplexität aus. Nietzsche legt in ihr die Welt und das Leben sowie das Werden und die Kultur als ästhetische Phänomene in einem schöpferischen und künstlerischen Prozess aus. Er bezweckt eine philologische und philosophische Auslegung der Tragödie, eine Kritik der zeitgenössischen Kultur, eine Wiederbelebung der tragischen Kultur, die sich um die Kunst und insbesondere die wagnerische Musik (das Gesamtkunstwerk) dreht, und nicht zuletzt eine ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt. In den Mittelpunkt wird der Mensch in seinem — im weitesten Sinn des Wortes — „pathologischen“ Zustand gestellt. Was ihn gekennzeichnet, sind Selbsterfahrung und Selbstgestaltung. Er erfährt das von der Weisheit des Silen zum Ausdruck gebrachte konstitutive Leid und die Sinnlosigkeit des Daseins und zugleich die inneren und schöpferischen Zustände von Traum und Rausch. Auch erfährt er die Not, mit dem beständigen Werden und Wandel der Welt und seiner eigenen Existenz fertig zu werden. Er sehnt sich nach Selbstauflösung und Rechtfertigung: Das ist seine Aufgabe. Eine solche Leistung ist nur durch die Kunst zu vollziehen. Der Kunst, genauer der Musik kommt eine doppelte Funktion zu: Sie ist einerseits das Medium zum direkten Zugang zum Wesen der Dinge, zum schopenhauerschen Willen zum Leben, und andererseits der Modus des Daseins, denn der Mensch ist ein leidendes und zugleich schöpferisches Wesen. In der Tragödienschrift beruft sich Nietzsche nicht nur auf das Pathos des Ödipus, sondern auch auf die Kühnheit, Entschlossenheit und die die Götter herausfordernde und schaffende Macht des Prometheus. Der Künstler, der Mensch ist im Stande, die in der Selbsterfahrung erlebte und durch die Zwecklosigkeit des Lebens verursachte Erschütterung, das heftige Verlangen nach Erlösung, die Lust am Ab- und Aufbauen zu verklären. Trotz des von Nietzsche unterstellten Irrationalismus vollzieht sich die Verklärung nicht beim Hervorheben des Dionysischen oder

15.1 Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche

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des Apollinischen. Vor dem Hintergrund der von Heraklit vertretenen spannungsgeladenen Einheit der Gegensätze plädiert Nietzsche für das Nebeneinander beider Kräfte. Er bezweckt eine Befreiung von der Maske im doppelten Sinn²²⁸: sich von tradierten Werten,Vorurteilen und Konventionen zu befreien sowie frei zur Schöpfung neuer Werte zu sein, die das Leben sinnvoll und erträglich machen. Verklärung ist demnach eine Interpretation der Welt und des Daseins, die es dem Menschen ermöglicht, zu einer Wertschätzung des Lebens und zu einem aktiven Selbstgefühl zu gelangen. Im Lichte der Verklärung interpretiert Nietzsche das Werden, den Wandel der Welt und das menschliche Leben derart, dass sich dem Menschen die Möglichkeit einer Selbstauslegung und Selbstgestaltung bietet. In seiner „Artisten-Metaphysik“ ist das Schöpferische das Merkmal des Werdens und des Wandels der Welt und zugleich das des Menschen. In der unvollendeten Schrift WL analysiert Nietzsche Wahrheit und Lüge weder auf der Grundlage der Logik noch der Moral, sondern auf Grundlage der Kunst und in der Perspektive des Lebens. Sie ergeben sich daher als Existenzbedingungen, sind selbstbezogen und zeitbedingt. Wahrheit wird zur Lüge, und Lüge wird zur Wahrheit, denn Wahrheit bedeutet ein Etwas-für-wahr-Halten und ist das Ergebnis des ästhetischen Verhältnisses des Menschen zu allen Dingen. Dieses Verhältnis bekommt in der zweiten unvollendeten Schrift PHG maßgebende Bedeutung. Hier wird das Persönliche als das Schöpferische und der Geschmack als das auswählende Vermögen schlechthin hervorgehoben. Damit rückt Nietzsche das Existentielle, das Persönliche ins Zentrum seiner Philosophie: Gelehrt werden kann das, was ein Philosoph an sich selbst erlebt hat. Die Lehre ist der Ausdruck der spezifischen Persönlichkeit eines Philosophen.²²⁹ In den UB werden neben Religion und Geschichte auch Bildung — eine der führenden Institutionen in Deutschland unter Bismarck — und Wagners Musikauffassung — das Gesamtkunstwerk — einer scharfen Kritik unterzogen und Denken und Handeln auf der Grundlage des Lebens eruiert. In SE werden die Universitätsphilosophie, die Macht, der Staat und die Fremdheit der Wissenschaft dem Leben gegenüber kritisch dargestellt. Nietzsche wird sich der Aufgabe als Herausforderung bewusst: Er ist der Erzieher, der nach einer selbstgestellten Aufgabe lebt. Die Aufgabe und die Herausforderung werden von jetzt an zu Grundbedingungen des Lebens des Philosophen bzw. des Erziehers. Nietzsche versucht im Laufe seines geistigen Schaffens, seine selbstgestellte Aufgabe zu lösen, gewinnt dadurch neue grundlegende philosophische Einsichten und stößt zugleich auf weitere, tiefere Problemstellungen. Dies wird ausgehend von MA besonders deutlich. Von dieser Schrift an wendet sich Nietzsche ab von der in GT unter dem Einfluss von Wagner und Schopenhauer vertretenen „Artisten-Metaphysik“

 Dazu nach wie vor maßgeblich: Gianni Vattimo, Il soggetto e la maschera. Nietzsche e il problema della liberazione, 3. Aufl., Milano 1999.  Vgl. Benne / Müller, „Das Persönliche und seine Figurationen bei Nietzsche“.

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15 Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen Herausforderung

sowie von der in den UB dominierenden Metaphysik des Genius. Er erachtet die Kunst nicht mehr als die höchste Aufgabe und eigentlich metaphysische Tätigkeit des Lebens (vgl. GT, KSA 1.24) und beansprucht nicht einmal mehr, die in der dritten UB als im schopenhauerschen Sinn philosophisch anerkannte Aufgabe zu erfüllen, das Bild des Lebens zu zeichnen. Er geht von nun an von einer nicht metaphysischen Auffassung der Welt und des Daseins aus, konzentriert sich auf die der Kultur, den gesellschaftlichen Verhältnissen sowie den Denk- und Handlungsprozessen zugrundeliegenden Kräfte. Was ihn fasziniert, ist, wie gezeigt, das ästhetische Verhältnis des Menschen zu den Dingen und insbesondere seine Übersetzungskraft: Übersetzung von Reizen in Empfindungen, von Empfindungen in Vorstellungen oder Bilder, von Vorstellungen in Handlungen. Infolgedessen fordert er die Menschheit und die großen Geister zu einer neuen, ungeheuren Aufgabe heraus: Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts. (MA, KSA 2.46)

Nietzsche arbeitet also weiterhin an der Kultur. Anders aber als in seinen vorherigen Schriften will er die Kultur nicht mehr als Kunstwerk des Genies rechtfertigen, sondern sie einer radikalen Kritik unterziehen. Er arbeitet deshalb an der Ermittlung der für den Menschen, der Gesellschaft und der Kultur grundlegenden Bedingungen und an der Umschaffung der der Kultur zugrundeliegenden Überzeugungen und Vorurteile oder, wie er später sagt, an der Umwertung der Werte. Daher fordert Nietzsche zu einer neuen methodologischen und zugleich existentiellen Einstellung zum Problem des Lebens auf: „Gute Nachbarn der nächsten Dinge wieder zu sein“ (WS, KSA 2.551). Er greift auf eine „Chemie“ der Begriffe und Empfindungen, auf ein historisches Philosophieren zurück und erörtert den sinnlichen Ursprung der ästhetischen und moralischen Begriffe und Empfindungen. Nietzsche bringt ans Licht, was er bereits in WL ausführte: den triebhaften, ästhetischen Ursprung des Denkens und die unlogische ästhetische, schöpferische Grundeinstellung des Menschen zu allen Dingen. In diesem Kontext ist „Vernunft aus Unvernunft entstanden“, und das auswählende Vermögen ist nicht die Vernunft, sondern, wie schon in PHG, der Geschmack. Ferner entdeckt Nietzsche, dass die Kultur nicht auf einer a priori erkannten Wissenschaft, sondern auf der Eintracht der einander widerstrebenden Mächte gründet, die ihrerseits die gleichmäßige Ausbildung aller Kräfte des Individuums widerspiegelt. Wesentliche Anhaltspunkte dazu gewinnt Nietzsche in M und FW. Dabei wird insbesondere der Vernunft und der Erfahrung große Aufmerksamkeit geschenkt. Nietzsche will die Lebensbedingungen des Denkens ermitteln und die Vernunft neu interpretieren. Die neue Vernunft ist eine „dichtende Vernunft“ (M, KSA 3.113), die als „Organ“ des Leibes zum Ausgleich der Kräfte ausgelegt wird. Es handelt sich um ein performatives Vermögen, durch das das Individuum, sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnend, seine inneren, einander widersprechenden Gefühlsregungen in-

15.1 Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche

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terpretiert und organisiert, um damit dem Leben seine Weltinterpretation aufzuprägen. In das Zentrum von Nietzsches Denken rückt auch die Erfahrung, der er eine besondere Bedeutung und Rolle zuspricht: Erfahrung ist Selbsterfahrung. In der Trilogie der Freigeisterei bringt Nietzsche die Bewusstheit der Endlichkeit bzw. die Bedingtheit und Bezogenheit des Menschen zum Ausdruck: Unsere Gedanken und Handlungen sind keine Erscheinungen eines intelligiblen Charakters; sie werden vielmehr immer unter bestimmten Lebensbedingungen und aus dem jeweiligen Umgang des Individuum zu sich selbst, zur Gesellschaft und zu allen kulturellen Phänomenen hervorgebracht. Die Selbsterfahrung wird demnach zur individuellen, sinnlichen und sinnhaften Deutung der Welt und des Daseins. Um seiner Aufgabe, nämlich die Gesetze des Denkens und Handels aufzustellen, zu entsprechen, deutet Nietzsche Selbsterfahrung als Experiment. In einem Zeitalter, in dem das Experiment allmählich auch in den Mittelpunkt der Forschung rückt, erhebt Nietzsche das Experiment zum Prinzip des Lebens. Er will die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen und setzt zu diesem Zweck seine experimentelle Philosophie ein. Auch für Nietzsche ist Erkenntnis auf Auslegung und Erfahrung — wie etwa bei Kant und Schopenhauer — angewiesen. Die Auslegung ist aber nicht Entdeckung und Erklärung eines ursprünglichen Sinnes, ist keine Sinnfindung. Auslegung ist Interpretation, ist ein Prozess individueller Sinnerfindung am Leitfaden von Existenzbedingungen. ²³⁰ Der Erkenntnisprozess und das Handeln sind

 Die hermeneutische Relevanz von Nietzsches Philosophie ist jeweils von Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, und Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation, herausgearbeitet worden. Nach Figl erweist sich das „Interpretieren“ als „ontologisches Geschehen“, nach Hofmann die „Perspektivität“ als „fundamentale Ermöglichungsbedingung der Interpretativität“. Zum Thema Interpretation bei Nietzsche vermittelt auch Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, relevante Einsichten: In seiner bedeutenden Monographie deutet er das hermeneutische Programm von „Wahrheit und Methode“ in dasjenige von „Text und Methode“ um. Benne geht von einer „Arbeitshypothese“ aus, „die sich aus den unterschiedlichen Analysen von Nietzsches Schriften fast zwangsläufig ergibt, nämlich dass es in der Tat verschiedene Domänen der Interpretation und Auslegung gibt, deren Differenzierung vor der relativ neuen allgemeinen hermeneutischen Theorie noch zum Allgemeingut gehörte. Das Kriterium zur Unterscheidung dieser Domänen war und ist der Grad ihrer Textualisierung“ (S. 12). Er betont die modifizierende Kraft der Interpretation und fordert auf, „zwischen einem wenig revolutionären Interpretationsbegriff und einer wegweisenden Interpretationspraxis [zu] unterscheiden.“ In Anlehnung an Günter Abels Monographie: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin 1984, und zugleich über sie hinausgehend, versucht Benne, Nietzsches Interpretationsbegriff aus dem Prokrustesbett zu entfesseln, an das ihn Dekonstruktionismus und Hermeneutik gebunden hatten. Benne plädiert für die Relevanz von jener philologischen Praxis der Textauslegung, nach der der Text zwar ein Tatbestand ist, der aber als factum brutum der Philologie nicht missverstanden werden darf. „Der Text ist“ — laut Benne — „eine Interpretation, die sich von anderen Auslegungsweisen durch die strenge Methode unterscheidet, mit deren Hilfe sie gewonnen wurde.“ Unter diesen Bedingungen „gibt es auch einen ,Text‘ der Kultur, des Leibes und der Welt, der vor der eigentlichen Interpretation erst aus den Fakten bzw. Zeichen konstruiert werden muss“ (S. 24). Die Analyse des philologischen Zeitgeistes, die stark auf Nietzsches philologische Praxis gewirkt hat, die Erörterung der bedeutenden Arbeiten über Nietzsches Interpretationsbegriff und die Feststellung der Unterscheidung verschiedener Domänen der Interpretation und Aus-

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15 Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen Herausforderung

immer nur ein Experimentieren, das auf individuelle Bedürfnisse und einen bestimmten Kontext angewiesen ist. Dazu werden die Bedürfnisse von einer dichtenden Vernunft umgedeutet, reguliert, organisiert und vereinheitlicht. Was wir erkennen, ist letztlich das, was wir erlebt und erdichtet haben: „Erleben ist Erdichten“ (vgl. M, KSA 3.113). Erkenntnis ist also Interpretation im Sinne von Sinnerfindung und zwar von Wertschätzung unter bestimmten Lebensbedingungen. Zu den durch die Experimentalphilosophie herausgestellten Existenzbedingungen zählen „die Leidenschaft der Erkenntnis“ und die „Einverleibung“: Die eine ist die Grundbedingung, die andere das Ziel jeglichen Experiments. Beide werden zum Kriterium der Wahrheit. Darüber hinaus werden das Existentielle und die Radikalität der Herausforderung deutlich, denn entscheidend ist, wie viel Wahrheit ein Geist ertragen und wagen kann. So ist der Mensch nicht mehr ein „animal metaphysicum“, sondern „der Messende“. Damit fallen Sinn und Wert zusammen: Was das Leben verständlich macht und ihm ein Ziel zuspricht, ist zugleich auch das, was es wertvoll macht. Von den Werken der sogenannten Freigeisterei an denkt Nietzsche den Sinn des Lebens um. Sinn und Wert sind derart in diesen neuen Kontext verschränkt, dass sie ineinander übergehen. Wertvoll heißt nach Nietzsche lebensfördernd, und das wird eben durch das Experiment bestimmt. Das, was uns nicht umbringt, macht uns stärker und ist nur dank der Einverleibung möglich. In diesem Sinne kann man etwas für wertvoll halten. Auch ist Nietzsches Aufklärung zu bedenken: Er greift auf sie zurück, um die „Entstehungsgeschichte des Denkens“ (vgl. MA 16 – 18) der angeblich objektiven Wirklichkeit des Historismus entgegenzustellen, in der die Psychologie eine entscheidende Rolle spielt. Mit diesem Wissen werden Petrarca, Erasmus und Voltaire sowie die Moralisten und Schopenhauer begreiflich: Sie sind nicht nur und auch nicht hauptsächlich aus theoretischer Sicht, sondern in erster Linie existentiell bedeutsam, denn sie haben die Einsamkeit, Freiheit, Selbsterfahrung und Leidenschaft der Erkenntnis als Existenzbedingungen festgelegt und nach ihnen gelebt. So zeigen sich legung am „Grad ihrer Textualisierung“ ermöglichen es Benne, „die Eigenart von Nietzsches Werks aus dem Kontrast zum theoretischen und praktischen Umfeld der Philologie“ zu belegen und Anhaltspunkte für eine „Rephilologisierung“ der Literaturwissenschaft im Sinne „eines philosophisch-literaturwissenschaftlichen Austausches, der in der quellenbasierten Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaft seinen Ausgangspunkt nimmt“ (S. 23), zu gewinnen. Aufschlussreich zum Thema Interpretation ist auch Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. In seiner Arbeit verweist Stegmaier auf die Autoren, die in der Nietzsche-Forschung Nietzsches Philosophie der Interpretation behandelt haben. Er verweilt vor allem bei den Arbeiten von Johann Figl und Günter Abel. Stegmaier betont einerseits, dass der Ansatz beim Interpretationsbegriff schon eine längere Tradition hat. Andererseits hebt er hervor, dass weder bei Figl noch bei Abel die existentielle Bedeutung der Interpretation berücksichtigt wird. Stegmaier spricht dagegen zu Recht von einer Interpretation als „Erkenntnis unter Lebensbedingungen“ (S. 314). Nach Stegmaier neigt Nietzsche „in seinem späteren Werk dazu, seine Begriffe der Moral, der flüssigen Form und des Willens zur Macht in Begriffe der Interpretation zu übersetzen. Er entgrenzt dadurch den herkömmlichen Interpretations-Begriff, macht aus dem Begriff des bloßen Dolmetschens und Verdeutlichens eines ursprünglichen Sinns den Begriff eines ursprünglichen Schaffens von Sinn.“ (S. 311) Stegmaier sagt selbst jedoch nicht, worin diese Lebensbedingungen bestehen.

15.1 Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche

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die philosophischen Bedingungen der Kultur nach Nietzsche: das Persönliche, das Schöpferische und das Experiment, nämlich Erkennen, Erleben und Erdichten. Der Einsicht, dass es keine reine Erkenntnis und kein weltloses Ich gibt und dementsprechend alles Interpretation ist, folgen gravierende Konsequenzen für Nietzsches Philosophieren: Erstens lässt sich seine Aufklärung nur in Bezug auf sein Konzept der Verklärung denken. Zweitens fordern die Existenzbedingungen von einem Individuum immer ein bestimmtes, ästhetisches Verhalten zu sich selbst und den jeweiligen Umständen. Die Gleichsetzung von Erkennen, Erleben und Erdichten liegt Nietzsches Spätwerk zugrunde. In Z legt er die Kritik der Kultur beiseite und entwirft sein Bild des Lebens. Er kommt auf seinen in WL und MA theoretisierten Begriff des Menschen zurück und bezeichnet den Menschen als den Schätzenden. Der Erkenntnisprozess ist offenkundig ein Schöpfungs- und Wertschätzungsprozess. Anstatt von Existenzbedingungen zu sprechen, nimmt er als Ausgangs- und Endpunkt der Erkenntnis den Leib bzw. das Selbst: Er bzw. es tritt als „eine Vielheit mit einem Sinne“ und als eine sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen großer und kleiner Vernunft ergebende Instanz auf. In Nietzsches Zeitalter bindet die Wissenschaft die Wahrheit an äußere Kriterien. Der Wissenschaftler und der Mensch werden heteronom gesteuert. Um die Autonomie des Menschen geltend zu machen, kann Nietzsche nicht mehr an das Bewusstsein oder die Seele anknüpfen wie andere Philosophen. Der Leitfaden der Erkenntnis wird nach Nietzsche das Selbst bzw. der Leib, dem daher eine Schlüsselstellung in seiner Philosophie insbesondere ab Z zukommt. Nietzsche zieht den Leib als Leib-Organisation in Betracht. Er huldigt nicht der Wissenschaft und zielt auch nicht auf eine Verdinglichung des Leibes, sondern versucht, seiner Komplexität gerecht zu werden. Ihm geht es freilich nicht darum, einen neuen Naturalismus einzuführen, sondern er will nach wie vor deutlich machen, dass Erkenntnis auf die oben genannten Lebensbedingungen angewiesen und von ihnen bedingt ist. Die philosophische Relevanz des Leibes ist bei Nietzsche so maßgebend, dass sich die Bedeutung und die Rolle des Geistes für das Leben nur dann erschließt, wenn man den Leib bedenkt.²³¹ Es wird allmählich deutlich, dass die Grundlage von Nietzsches späterer Aufgabe der Umwertung aller Werte in einer am Leitfaden des Leibes durchgeführten Erkenntnis besteht. Der Leib zeigt sich als eine große Vernunft, deren Werkzeug der Geist bzw. die kleine Vernunft ist: „Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.“ (Z, KSA 4.39) Leib und Geist sind nicht ontologisch voneinander zu unterscheiden, sondern ineinander verschränkt und voneinander abhängig. Auf der einen Seite ist der Geist eine Hervorbringung des Leibes: „Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.“ (Z, KSA 4.40) Auf der anderen Seite ist

 „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.“ (Z, KSA 4.39)

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der Geist das „Organ“ des Willens. Das bedeutet, dass der Wille durch den Geist wirken kann, insbesondere wenn der Leib seinen höchsten schöpferischen Zustand der Begeisterung erreicht. Dem Geist wird somit gerade in der Leibperspektive eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zugesprochen, denn nur durch ihn kann der Wille die Welt, das Dasein und die Kultur handhaben, umschaffen und umwerten. Auch wenn sich der Leib Achten und Verachten, Lust und Weh ohne den Geist schöpfen kann, ist ihm der Geist unentbehrlich, wenn er eine neue Wertetafel und Rangordnung schaffen muss. Im Lichte dieser Aufwertung des Leibes als schöpferischer Organismus wird deutlich, was Nietzsche unter Willen zur Macht versteht: „der Wille zur Macht, – der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.“ (Z, KSA 4.147). Kants entscheidende Frage „Was ist der Mensch?“ beantwortet Nietzsche so: Der Mensch sei „der Schätzende“, weil er zwar Werte benötige, sie aber nach seinen echten Bedürfnissen schaffe. Indem Nietzsche versucht, „dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen“, interpretiert er das Leben als „Wille zur Macht“ und „ewige Wiederkehr des Gleichen“. Damit zielt er auf eine Umdeutung und neue Vorstellung des Menschen als Übermenschen, den er als „Sinn der Erde“ bezeichnet. Auch die Hauptfrage von Z ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Nietzsche geht von dem in FW angekündigten Tod Gottes aus und fordert zur Schöpfung neuer Gesetze des Lebens heraus. Der Tod Gottes ist eine Metapher der Metaphysik im weitesten Sinne des Begriffs. Nicht nur Moral und Religion, sondern auch die Wissenschaft steht als allgemeines, rationales, objektives und notwendiges Wissen, als absolute Wahrheit im Kreuzfeuer der Kritik. Zelebriert das 19. Jahrhundert den Triumph der Wissenschaft als sinnstiftende oder sinnfindende Macht, entlarvt Nietzsche diese „Lüge“ und den Glauben an das Bestehen einer absoluten Wahrheit, die der Wissenschaft zugrunde liegt. Er versucht, dem Menschen, der Geschichte und dem Leben durch den Übermenschen, die ewige Wiederkehr des Gleichen und den Willen zur Macht einen Sinn zu verleihen. Wesentliche Bedeutung misst er dem Willen bei. Der „unerschöpfte zeugende LebensWille“ ist der Befreier, der Schaffende und Wertschätzende. Er ist nicht nur ein zwecksetzendes Vermögen: Er ist das eigentliche Vermögen, das Geschehen und den Zufall in Geschichte und Notwendigkeit²³² umzuschaffen, indem er in eins dichtet und

 „Oh du mein Wille! Du Wende aller Noth, du meine Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! Du In-mir! Über-mir! Bewahre und spare mich auf zu Einem grossen Schicksale! Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare dir für dein Letztes auf, – dass du unerbittlich bist in deinem Siege! Ach, wer unterlag nicht seinem Siege! Ach, wessen Auge dunkelte nicht in dieser trunkenen Dämmerung! Ach, wessen Fuss taumelte nicht und verlernte im Siege – stehen! – — Dass ich einst bereit und reif sei im grossen Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwellendem Milch-Euter: – — bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen: ein Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach seinem Sterne: – — ein Stern bereit und reif in seinem Mittage, glühend, durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: – — eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! Oh Wille, Wende aller Noth, du meine Nothwendigkeit! Spare mich auf zu Einem grossen Siege! – — Also sprach Zarathustra.“ (Z, KSA 4.268 f.)

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zusammenträgt, was Bruchstück, Rätsel und grauser Zufall ist: „Die Vergangnen zu erlösen und alles „Es war“ umzuschaffen in ein „So wollte ich es!“ – das hiesse mir erst Erlösung!“ (Z, KSA 4.179) Durch den Willen kann der Mensch seine existentielle Not und seine Erlebnisse, Fiktionen, Projektionen und seine Perspektive als Aussicht auf die Zukunft in ein Schicksal umdeuten und umwandeln. Daher geht es Nietzsche um mehr als um das „Administriren“ (vgl. GM, KSA 5.316); es geht um Dirigieren. Der Dirigent ist nach Nietzsche der Wille, der nicht als Stellvertreter bzw. Verwalter der Triebe und Wünsche zu denken ist. Als „Complex von Fühlen und Denken“ und vor Allem als „Affekt des Commando’s“ (JGB, KSA 5.32) setzt der Wille Zwecke nach Lebensbedingungen und steuert alles, das sich im Innern des Menschen abspielt, auf ein Ziel hin. Dies ist nur möglich, wenn man Existenz und Geschichte anhand einer selbstgewählten Aufgabe, einer individuellen Herausforderung gestaltet. Der Wille befreit, weil er dem Menschen ermöglicht, sich von seiner Vergangenheit zu befreien und neuen Raum für neue Schöpfungen zu schaffen: Die Geschichte ist nicht ein vom Menschen unabhängiges Geschehen, sondern das, was vom menschlichen Willen bedingt wird und zugleich den Willen bedingt und seine Wirkungen notwendig feststellt. Durch den Willen erdichtet der Mensch seine facta nicht nur als ficta,²³³ sondern als fata und fatum um.²³⁴ Nietzsche will durch sein Werk auf die Geschichte wirken, auch wenn er dadurch auf sein Glück verzichtet: „Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!“ (Z, KSA 4.408) Er will wirken und fordert daher sich selbst, seine Leser und die Menschheit heraus. Die Z durchdringende Idee des Willens als schöpferische, wertschätzende und -setzende Kraft wird in JGB bekräftigt. Nietzsche stellt in Aphorismus 19 den Willen als etwas Kompliziertes dar: „der Wille ist nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s.“ (JGB, KSA 5.32) Des Weiteren nimmt er im Aphorismus 36 von der Einsicht ausgehend, dass

 „Facta! Ja Facta ficta! – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben gewirkt. Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt, – ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung.“ (M, KSA 3.224 f.)  „Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man überwunden hat, – alles Andere ist Geschwätz, „Litteratur“, Mangel an Zucht. Meine Schriften reden nur von meinen Ueberwindungen: „ich“ bin darin, mit Allem, was mir feind war, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissimum. Man erräth: ich habe schon Viel – unter mir … Aber es bedurfte immer erst der Zeit, der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei mir sich regte, etwas Erlebtes und Ueberlebtes, irgend ein eigenes Factum oder Fatum nachträglich für die Erkenntniss abzuhäuten, auszubeuten, blosszulegen, „darzustellen“ (oder wie man’s heissen will).“ (MA, KSA 2.369)

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„wir zu keiner anderen „Realität“ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander —“ (JGB, KSA 5.54), als Hypothese an: „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben „Wille zur Macht“ und nichts ausserdem. —“ (JGB, KSA 5.55) Daher kann man das Denken und das Fühlen nicht von dem „Wollen“ trennen, und die Verschränkung von Leib und Geist kommt erneut zutage. Jedem Willen wohnt ein Sinnbedürfnis, eine Not des Geistes inne, die verschärft und gereizt wird, wenn das Leben selbst zum Problem wird. Dies lässt sich an der beabsichtigten Vernatürlichung des Menschen verdeutlichen, die jedoch zunächst eine Entidealisierung desselben voraussetzt, damit der Mensch wieder im Grundtext homo natura gedacht werden kann. Die Vernatürlichung ist zwar eine Zurücksetzung des Menschen in die Natur. Sie repräsentiert aber keine absolute Identifikation des Menschen mit der Natur oder ein der Natur gemäßes Leben. Nietzsche zielt mit diesem Ausdruck vielmehr darauf, die amoralische, triebhafte Herkunft, die daraus folgende Unschuld des Menschen und das Schöpferische an ihm ans Licht zu bringen. Die kennzeichnende Grundhaltung des Menschen zur Natur ist überdies „das Pathos der Distanz“ resp. der Wille, different zu sein. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Nietzsche den Menschen als „das noch nicht festgestellte Thier“ (JGB, KSA 5.81) und stellt explizit die Aufgabe einer Umwertung aller Werte. Diese Aufgabe kann aber nur von neuen Philosophen durchgeführt werden, weil sie stark genug zur Umwertung der Werte sind.²³⁵ Wer eine Umwertung der Werte verwirklichen und der Menschheit neue ökumenische Ziele geben will, kann ohne Philosophie nicht auskommen — denn, wie Nietzsche an einer aussagekräftigen Stelle in JGB schreibt, „Philosophie ist [der] tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima.“ (JGB, KSA 5.22) Auch in JGB kommt das Existentielle und das Experimentelle, in einem Wort: das Persönliche zum Vorschein. Den Philosophen wird Wert nicht aufgrund ihrer Lehren beigemessen, sondern weil sie diejenigen sind, die von sich ein Urteil nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Wert des Lebens verlangen, die durch die umfänglichsten Erlebnisse hindurchgegangen sind, die die Verantwortung zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens fühlen und die sich beständig riskieren.²³⁶ Im Zeitalter der Wissenschaft will Nietzsche die Wissenschaft entthronen und der Philosophie wieder die Orientierungsrolle zusprechen. Dieses philosophische Kunststück versucht Nietzsche auch in GM: Er nimmt den Menschen, seinen Willen und die Moral noch einmal unter die Lupe, nicht nur um

 Nietzsche kennzeichnet diese Philosophen als Geister, „stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und „ewige Werthe“ umzuwerthen, umzukehren“ (JGB, KSA 5.126). Sie können „in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt.“ Das Ziel der neuen Philosophen ist demnach, „dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem MenschenWillen zu lehren“.  Siehe dazu JGB 6, 205, 211, 212, 213 (KSA 5.32, 144– 149).

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ihren triebhaften Ursprung ans Licht zu bringen, sondern um die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Moral und ihrer Selbstauflösung zu deuten und eine Interpretation des Menschen zu liefern. Er kommt auf den in MA, M und FW eruierten Prozess der Übersetzbarkeit zurück und verfeinert in GM seine Untersuchung, indem er betont, dass die moralischen Begriffe in der Geschichte keine lineare und notwendige Entwicklung hatten, sondern einer Begriffswandlung unterlagen. Die Veränderungen sind immer plötzlich geschehen und hinterließen viele Lücken in der Entwicklung, so dass die ganze Geschichte der moralischen Begriffe flüssig, undefinierbar und daher nur interpretierbar ist. Nietzsche zeigt, dass die moralischen Begriffe ursprünglich einen politischen Vorrang hatten, der dann allmählich in einen seelischen überging. Dies lässt sich exemplarisch am asketischen Ideal nachvollziehen, dem Nietzsche eine psychologische, historische und hermeneutische Bedeutung zuspricht. Das asketische Ideal wird zunächst als feindselig verurteilt, weil es lebensfeindlich und -verneinend ist. Es hat in der Geschichte der Moral eine Umwertung verursacht, die sich im Menschen verinnerlicht hat und das Ressentiment in ihm wachsen ließ: Der Mensch konnte seine Kräfte nicht mehr nach außen auslassen und hat infolgedessen das destruktive Potential seiner Kräfte nach innen gewendet. Deswegen ist das asketische Ideal die Ursache eines „mörderischen“, verhängnisvollen Nihilismus. Dieses Ideal bringt — wie der asketische Priester — „einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens“ (GM, KSA 5.412) zum Ausdruck. Dennoch hat das asketische Ideal auch eine positive Bedeutung: Es hat nämlich den Willen selbst gerettet und es damit dem Menschen ermöglicht, der Sinnlosigkeit des Lebens und des Leidens einen Sinn, ein „Dazu“ zuzusprechen. Dank diesem Ideal konnte der Mensch das Leben rechtfertigen und etwas wollen, sich ein Ziel setzen. Dem Philosophen selbst verhilft das asketische Ideal zur Selbsterfahrung und Selbstgestaltung. Er lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint nicht damit „das Dasein“, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fiam! … (GM, KSA 5.351)

Sinn und Wert sind nach wie vor gekoppelt: Durch den Willen wird das Leben verständlich, weil es wertvoll wird. Dieser Anspruch auf Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung kommt nur durch die Überwindung des Nihilismus bzw. durch einen Akt der Selbstaufhebung der Moral zustande: „In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, – die Selbstaufhebung der Moral. – —“ (M, KSA 3.16)²³⁷ Die Ge-

 „Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt „was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?“ … Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (— denn noch weiss ich von keinem Freunde): welchen

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nealogie erweist sich zudem auch als Experiment, um die „geschichtliche“ Herkunft des Nihilismus und der décadence ans Licht zu bringen und zugleich eine entgegengesetzte Macht zur Überwindung des Nihilismus zu ermitteln. Eine solche Gegenmacht ist nicht die Wissenschaft, sondern nach wie vor die Kunst und die in diesem Zusammenhang als Verklärung gedeutete Philosophie: Es giebt, streng geurtheilt, gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein „Glaube“ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (GM, KSA 5.400)

Damit der Philosoph ein Recht auf Dasein gewinnt, muss er die Tragik des Lebens erfahren, ständig mit neuen Lebensweisen experimentieren, sein Leben riskieren und sich ein Gedächtnis und ein Gewissen bilden. So wird er zu einem souveränen Individuum. Solche Individuen sind nicht dadurch gekennzeichnet, dass sie zerstören, vernichten oder versklaven. Sie haben hingegen das gute Gewissen, sich selbst zu verpfänden: Sie dürfen versprechen. Der Mensch kann ein gutes Gewissen nur durch die Kunst ausleben, denn sie täuscht, ohne zu schaden. So wagt Nietzsche den ersten kühnen und entscheidenden Versuch, seine Philosophie in die Geschichte einzubeziehen. Mit GM legt er die Basis zur in EH dargestellten Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung. Bis FW hat Nietzsche versucht, mit seiner Philosophie einen Sinn ins Leben und in die Geschichte zu legen. Ab Z wagt er das Experiment, seinen Willen ins Leben und in die Geschichte zu dichten. Zu diesem Zweck interpretiert er in GM die europäische Geschichte als Geschichte der Moral, deren Selbstaufhebung sich in ihm und seinesgleichen vollzieht. Das zum Problem gewordene Dasein und die von Nietzsche selbstgestellte Aufgabe einer Umwertung aller Werte betreffen aber nicht nur Nietzsche als Individuum: Sie sollen jeden von uns angehen. Wir müssen uns damit konfrontieren, weil es um unsere Selbsterfahrung und Selbstgestaltung geht. Deshalb ist die Umwertung aller Werte das Herausforderndste. Damit aber die Hypothese, die Welt und das Leben seien Wille zur Macht, wirksam werden kann, versucht Nietzsche, auch die Natur seiner Philosophie nach auszulegen. In GD konturiert er die Natur als etwas, „das durch uns wertet“ und sich in zwei Linien trennt: die ab- und die aufsteigende Linie des Lebens. Unter dieser Voraussetzung kann Nietzsche den Nihilismus überwinden, weil er beide erlebt hat und daher beide ist. Seine Physiologie erscheint als Versuch, eine gelingende außermoralische Verbindung des Menschen mit der Natur herzustellen. Dass Nietzsche hier keinen Naturalismus im metaphysischen Sinn ver-

Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre? … An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde: jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele …“ (GM, KSA 5.410 f.)

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tritt,²³⁸ lässt sich einem bedeutungsvollen Aphorismus aus Sprüche und Pfeile entnehmen: „Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des „Glaubens“).“ (GD, KSA 6.61 f.) Diese Aussage verweist auf die Forderung der Selbstverwirklichung. Für sie benötigt man Selbstdisziplinierung. Beide lassen sich nur auf der Basis einer strengen und beständigen Selbsterforschung und Selbsterfahrung vollziehen. Nietzsche fügt sich somit in die Reihe jener Denker ein, deren Motto die heraklitische Aussage ist: „Ich habe mich selbst erforscht“ (DK 22 B 101). Solche Denker sind neben Heraklit, Sokrates, Platon, Seneca, Horaz, Augustin, Erasmus, Montaigne, Kierkegaard, Pascal, Spinoza, Schopenhauer,²³⁹ Feuerbach, Rousseau,  Zu Nietzsches Naturbegriff vgl. Abel, Bewußtsein – Sprache – Natur. Das Thema Natur bei Nietzsche wird von Abel in Zusammenhang mit Bewusstsein und Sprache analysiert. Er erörtert Nietzsches Naturalismus bzw. Naturalisierung des Menschen, wie er sie im Aphorismus JGB 230 vornimmt, anhand eines Kontinuum- und Emergenz-Modells mit Rekurs auf das Ereignis/Prozess-Modell und unter Einschluss der Figur subjektloser Ereignisse. Dies führt laut Abel zu einer „Naturalisierung jenseits der Dichotomie von transzendenter Metaphysik und reduktionistischem Physikalismus.“ (S. 7) Abel bringt ans Licht, dass „die Naturprozesse bei Nietzsche als die dynamischen Prozesse eines komplexen Zusammenspiels von Kräftezentrierungen aufgefaßt werden.“ (S. 3) In diesen Modellen geht man „von einem kontinuierlichen Spektrum dessen“ aus, „was auf die eine oder andere Weise existiert bzw. geschieht, vom äußersten Rand des Anorganischen über das Organische bis zu mentalen Zuständen, Bewußtsein, Sich-bewußt-werden, kognitiven und anderen geistigen Aktivitäten und zu Handlungsentwürfen und deren Ausführung. Das Organische erscheint so als entwicklungsgeschichtliche und kontinuierliche Vorstufe des Bewußtseins.“ (S. 6) In seiner Interpretation spricht Abel nicht von ,Dingen‘ im Sinne von Raum-Zeit-Stellen besetzenden ,materiellen Körpern‘, sondern von ,Ereignissen‘ resp. ,Prozessen‘ (siehe S. 11). „Nietzsches Welt- bzw. Naturbegriff kann durch die Figur hochkomplexer dynamischer Wechselwirkungen vieler ,lebendiger‘ und ,intelligenter‘ Kräfte-Organisationen charakterisiert werden. In Nietzsches neuer Auslegung der Wirklichkeit werden diese prozessualen Kräfte-Organisationen als Willen-zur-Macht-Kräfte qualifiziert“ (S. 12). Siehe auch Abel, Nietzsche. Zu Nietzsches Konzept der Kraft bei Nietzsche vermittelt auch Christians, „Art. Selbst“, feine Einsichten. Er bemerkt ausdrücklich, dass Nietzsche es vermeidet, „Kraft“ begrifflich festzustellen. Stattdessen behandelt er sie im Hinblick auf für sein Denken zentrale Fragen: „wie Kraft wirkt, wie sie sich verwandeln lässt (durch Auslassung, Entladung, Aufstauung, Stärkung, Schwächung, Sublimierung) und in welchen Formen sie auftreten kann.“ (S. 265) Christians hebt dabei die praktische Bedeutung der Kraft hervor: Nietzsche, so Christians, „konzipiert den Begriff der Kraft in der Weise, wie Kräfte selbst wirken und werden.“ (S. 265) Dies sei entscheidend: „Wie ein Organismus sich nur aufbauen kann, indem er anderes sich einverleibt, so kann jemand geistig nur produktiv sein, wenn er von anderen angeregt wird.“ (S. 265) Aufgrund einer „künstlerisch-philosophischen Grundhaltung“ lässt sich behaupten, dass „über Kraft nur angemessen gesprochen werden kann, wenn man sie selbst ausübt und wenn man sie im Leser anregen will — Kraft also auch im wörtlichen Sinne mitteilt.“ (S. 265) Dieses Konzept wird von Nietzsche im Frühwerk konzipiert und in den Werken der 1880er-Jahre in die Begriffe vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen integriert. Siehe auch Ingo Christians, Reiz und Sporn des Gegensatzes. Zu Friedrich Nietzsches Konzeption der Kraft, Würzburg 2002, und Helmut Heit, „Naturalizing Perspectives. On the Epistemology of Nietzsche’s Experimental Naturalizations“, in: Nietzsche-Studien 45 (2016), S. 56 – 80.  Vgl. NL 35[11], KSA 7.811 f.: „Schopenhauer ist einfach und ehrlich, er sucht keine Phrasen und keine Feigenblätter, sondern sagt einer in Unehrlichkeit verkümmerten Welt „seht, das ist wieder einmal der Mensch!“ Welche Kraft haben alle seine Conceptionen, der Wille (der uns mit Augustin,

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Goethe und die französischen Moralisten, um nur einige von Nietzsche selbst zitierte Philosophen zu nennen. Das Resultat der Selbsterfahrung bei Nietzsche sind bestimmte Lebensbedingungen: Herausforderung, Pathos der Distanz, Leidenschaft der Erkenntnis, dichtende Vernunft und Experiment. Mit diesem Wissen lassen sich die zentrale Stellung und die philosophische wie existentielle Prägnanz der Aufgabe und ihrer Herausforderung bei Nietzsche begreifen. Damit sind wir wieder auf Erkennen, Erleben, Erdichten gelangt: Dieser grundlegenden Korrelation widmet Nietzsche 1886 in den Vorreden zur neuen Auflage seiner Schriften — GT, MA I und II, M und FW — besondere Aufmerksamkeit. In den Vorreden wird das Existentielle gebieterischer. Nietzsche macht darin in erster Linie deutlich, dass er in seinen Schriften von seinen Erlebnissen redet. Er zielt darauf, die „Optik des Lebens“ zum Ausgangspunkt seines Denkens zu machen und eine Antwort auf „die Frage nach dem Verhältniss von Gesundheit und Philosophie“ (FW, KSA 3.347) zu geben. Im Versuch einer Selbstkritik betont Nietzsche, dass er in seinem jugendlichen Buch GT zum ersten Mal seinen „Selbsterlebnissen“ (GT,Versuch 2, KSA 1.13) Ausdruck verliehen hat. Ihm bot sich ein neues Problem dar: „das Problem der Wissenschaft“. Er stellt die entscheidende Frage: was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen – die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? (GT, Versuch 1, KSA 1.12 f.)

Nietzsche fragt weiter, ob der dem wissenschaftlichen Optimismus entgegengesetzte Pessimismus notwendig das Zeichen „der ermüdeten und geschwächten Instinkte“ und nicht vielmehr das Zeichen der Stärke sei: „Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströ-

Pascal, den Indern verbündet), die Verneinung, die Lehre vom Genius der Gattung; er hat in der Darstellung keine Unruhe, sondern die helle Tiefe des Sees, der unbewegt ist oder leicht seine Wellen schlägt, während die Sonne über ihm liegt. Er ist grob wie Luther. Er ist bis jetzt das strengste Muster eines deutschen Prosaschreibers, keiner hat es so ernst mit der Sprache und der Pflicht, die sie auferlegt, genommen.Wie viel Würde und Grösse hat, kann man e contrario sehen, wenn man seinen Nachahmer Hartmann sieht (der sein eigentlicher Gegner ist). Seine Grösse ist ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen Scholastik. Das Studium der Viertelsphilosophen nach ihm ist nur deshalb anziehend, um zu sehen, wie sie sofort auf die Stelle gerathen, wo das gelehrtenhafte Für und Wider, wo Grübeln, Widersprechen, aber nichts weiter, vor allem nicht zu leben erlaubt ist. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso die barbarisirende Kraft der Wissenschaften, er erweckt das ungeheuerste Bedürfniss, wie Sokrates der Erwecker eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist vergessen gewesen, ebenso welche Bedeutung die Kunst für das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem in Widerspruche, was jetzt als Cultur gilt: Plato zu allem, was damals in Griechenland Cultur war. Er ist vorausgeschleudert.“

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mender Gesundheit, aus Fülle des Daseins?“ (GT,Versuch 1, KSA 1.12) Das Problem der Wissenschaft verweist auf die Rolle der Kunst bei den alten Griechen. Nietzsche fragt, wozu die Griechen die Kunst nötig hatten. Sie war die eigentliche Retterin des Menschen vor einer Verneinung des Willens. Gegen Schopenhauer plädiert Nietzsche nicht für die Kunst als Quietivum, sondern als jene Kraft, die die Steigerung der Kräfte des Menschen fördert und damit dem Menschen ein positives Selbstgefühl verleiht und ein wertvolles Leben ermöglicht. Die Fragen nach der Bedeutung der Wissenschaft und der Kunst bei den Griechen setzen eine wesentliche Frage voraus: „das grosse Fragezeichen vom Wert des Daseins“ (GT,Versuch 1, KSA 1.12). An der Frage nach dem Wert und Sinn des Lebens zeigt sich auch die Aufgabe, „an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten Male herangewagt hat, – die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens ….“ (GT,Versuch 2, KSA 1.14) Dies ist nicht nur Nietzsches Aufgabe, sondern auch die Perspektive, die sein Spätwerk charakterisiert. In den Vorreden zu MA I und II scheint Nietzsche derart auf die Aufgabe angewiesen, dass er den Weg zu seiner Aufgabe als Weg zu sich selbst bezeichnet. Er erprobt nicht nur neue Wege, er stellt sich selbst auf die Probe. Es ist leicht, seinen eigenen Weg von Zeit zu Zeit zu verlieren. Es ist laut Nietzsche aber unmöglich, seiner eigenen Aufgabe auszuweichen oder zu entschlüpfen, und man büßt teuer, am Recht auf seine Aufgabe gezweifelt zu haben²⁴⁰: Man wird krank. Der Krankheit kommt, wie bereits ausgeführt, eine maßgebliche hermeneutische und dementsprechend lebensdienliche Bedeutung zu: Sie lehrt uns, das Dasein zu hinterfragen, sie vertieft uns.²⁴¹ Die Krankheit fordert uns heraus. An ihr wird deswegen das Pathos der Distanz ersichtlich: Unser Different-sein-Wollen besteht nämlich auch in unserer Kraft, die Krankheit umzudeuten und zu überwinden. Im Leiden fragt sich das Individuum nicht nur nach dem Sinn des Lebens, es sucht einen Sinn, wenn es wieder gesund werden will. Es schont seine Gesundheit, indem es sich nicht schont. Gesundheit erscheint als die wiedergewonnene Herrschaft über sich selbst durch einen „zähen Willen zum Leben“ (MA, KSA 2.375). Die Gesundheit ist das Zeichen eines schöpferischen Lebens und zugleich die Belohnung des Lebens für den langen Krieg, den wir gegen uns selbst geführt haben, und für den Sieg über „den Pessimismus der Lebensmüdigkeit“. Mit der Gesundheit bekommt man vom Leben auch die Aufgabe zurück: „Wir bekommen endlich dafür seine grossen Geschenke, vielleicht auch sein grösstes, das es zu geben vermag, – wir bekommen unsre Aufgabe wieder zurück. – —“

 Dazu: MA II, Vorrede, KSA 2.373 f.  „Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des grossen Verdachtes, der aus jedem U ein X macht, ein ächtes rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem letzten … Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz „verbessert“ —; aber ich weiss, dass er uns vertieft.“ (FW, KSA 3.350)

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Nietzsches Nachdenken über Gesundheit und Krankheit und ihr Verhältnis zum Leben haben in erster Linie eine interpretative Bedeutung. Wie Nietzsche am deutlichsten in der Vorrede zur zweiten Auflage von FW behauptet, hat ihn das Leiden so vertieft und so zum Problematischen gereizt, dass er das ganze Leben anzweifelte: „Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem.“ (FW, KSA 3.350) Mittels der grundlegenden Bedeutung der Gesundheit als Lebensbedingung bzw. als einer wiedergegewonnenen gestalterischen, verklärenden Kraft wirft Nietzsche die Frage auf, ob die Geschichte der Philosophie nicht als Geschichte einer Auslegung und eines Missverständnisses des Leibes verstanden werden könnte: Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei es von Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die Frage nach dem Werth des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn; und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen in Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von Bedeutung innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und Psychologen um so werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt, des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle, Mächtigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls vom Ende, seines Willens zum Ende. Ich erwarte immer noch, dass ein philosophischer Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes – ein Solcher, der dem Problem der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn hat – einmal den Muth haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze zu bringen und den Satz zu wagen: bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um „Wahrheit“, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben … (FW, KSA 3.348 f.)

Nur auf der Grundlage von Nietzsches Begriffen von Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht und Leben lässt sich die Bedeutung der Aufgabe einer Umwertung der Werte deutlich machen. Es ist nicht die Wahrheit als oberste, ewige und unwiderlegbare Instanz, die das Leben bestimmt, sondern das, was „einverleibt“ werden kann, ohne vernichtend, sondern „lebenserhaltend“ und „lebenssteigernd“ zu wirken. Daher gelten als Lebensbedingungen: Irrtum, Wahrheit und Lüge, Leiden, Gesundheit und Krankheit, das Pathos der Distanz, das Experiment, das Perspektivische, Erkennen, Erdichten und Erleben sowie die Kunst. Die Kunst ist nach Nietzsche die Gegenbewegung gegen den Nihilismus. Sie ermöglicht es dem Menschen, einen Horizont zu schaffen, in den er sein Leben einbeziehen, ihm einen Sinn verleihen und infolgedessen gedeihen kann. Durch die Kunst kann sich der Philosoph alles, was er braucht, „künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten“ (MA, KSA 2.14). Nur durch die Kunst und das von ihr erzeugte gute Gewissen kann der Mensch bzw. der Philosoph derart gesund werden, dass er auf alle herausfordernden Fragen und Probleme eingehen kann. Im „physiologischen“ Sinne ist der

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Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften […] eben das Zeichen der grossen Gesundheit, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! (MA, KSA 2.18)

Gerade in Bezug auf die Kunst ist die Aufgabe philosophisch relevant. Nietzsche deutet die Kunst als Verklärung: Sie ist der Prozess der Stilisierung und Verfeinerung des Daseins und der Vergeistigung bzw. „Transformation“ der Natur in Kultur. Dies zeigt sich exemplarisch beim Philosophen. In seinem geistigen Schaffen wählt der Philosoph seinem Geschmack nach und unter bestimmten Lebensbedingungen etwas aus, arbeitet es aus, verwirft, deutet um, wertet um, gestaltet neu, verleibt ein. Nur durch seine schöpferischen Kräfte kann der Philosoph seinem Leben einen individuellen Sinn verleihen und damit das Leben lebenswert machen. Der Kunst kommt also eine ausschlaggebende Bedeutung und vorrangige Rolle zu. Sie ist nicht nur „das Stimulans“, sondern die eigentliche „Ermöglicherin“ des Lebens: Sie ist diejenige Kraft, die das Performative des Denkens sowie die lebensdienliche Notwendigkeit der Illusion durchblicken und verwirklichen lässt und die Verhältnisse der Menschen zueinander bestimmt. Sie ist ferner die einzige Kraft, die es dem Menschen ermöglicht, dem mörderischen, nihilistischen Sinnverlust schöpferisch und zwar durch einen Überschuss an Kräften entgegenzuwirken. Die als Verklärung verstandene Kunst ist also die Gegenbewegung gegen die Auswirkung des Wahrheits- und Gottesverlusts und damit eine Selbstüberwindung des Nihilismus. In diesem Kontext ist die Aufgabe der Umwertung aller Werte zu begreifen: Weil die Aufgabe aus der Not des Geistes stammt und zugleich zur Not des Geistes wird, erweist sie sich als Herausforderung. Sie ist die Herausforderung eines Philosophen an sich selbst und an die Menschheit. Die Herausforderung ist damit der existentielle Grundzustand des Menschen in seiner Lebenswelt. Der Mensch fühlt sich von der Sinnlosigkeit des Lebens herausgefordert, einen eigenen Lebenshorizont zu schaffen, vor dem er sinnvoll agieren kann. Auf diese existentielle und philosophische Herausforderung reagiert Nietzsche, indem er seinen Zustand und seine Erfahrungen in die geistigste Form umwandelt und mittels seiner philosophischen Werke die Welt in eine Lebenswelt verklärt: Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. (FW, KSA 3.349)

Dass die Aufgabe das Denken wie das Leben Nietzsches bestimmt, zeigt sich auch in seinem Briefwechsel. Aus ihm lässt sich ablesen, dass die Aufgabe Nietzsche krank gemacht hat und ihn auch wieder gesund machen kann. Nietzsche misst seine Freunde und Vorbilder²⁴² und seine Schriften an ihr (vgl. die Briefe Nr. 1111, 1119 und

 „Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, dass alle Philosophen unter der Verführung der

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1135 aus dem Jahr 1888). Sie ist der Wendepunkt, an den die Geschichte angelangt ist, und bewirkt eine Wert- und eine Zeitenwende. Durch seine Aufgabe fordert Nietzsche ferner die Menschheit derart heraus, dass sie zeigen muss, wie viel Wahrheit sie ertragen und wagen kann. Nietzsches Aufgabe ist ferner eine Lebensaufgabe: Sie wird vom Leben bestimmt und bestimmt das Leben, ist Lebensbedingung. Die Aufgabe, die auf mir liegt, ist trotzdem meine Natur – so daß ich jetzt erst einen Begriff von dem habe, was mein mir vorbestimmtes Glück war. Ich spiele mit der Last, welche jeden Sterblichen zerdrücken würde … Denn das, was ich zu thun habe, ist furchtbar, in jedem Sinne des Wortes: ich fordre nicht Einzelne, ich fordre die Menschheit mit meiner entsetzlichen Anklage als Ganzes heraus; wie auch die Entscheidung fällt, für mich oder gegen mich, in jedem Fall haftet unsäglich viel Verhängniß an meinem Namen … (Brief an Elisabeth Förster, Nr. 1145, KSB 8.474)

Obgleich Nietzsche an einigen Stellen seiner Briefe und Schriften seine philosophische Lebensaufgabe als ein „Geschenk“ des Lebens oder als seine „Natur“ bezeichnet, sollte man die Aufgabe nicht als etwas Angeborenes und dementsprechend teleologisch verstehen. Es handelt sich um eine selbstgestellte und immer neu zu erprobende Aufgabe. Exemplarisch dafür ist die folgende Stelle aus der Vorrede zu MA II: Hier soll das Gleichgewicht, die Gelassenheit, sogar die Dankbarkeit gegen das Leben aufrecht erhalten werden, hier waltet ein strenger, stolzer, beständig wacher, beständig reizbarer Wille, der sich die Aufgabe gestellt hat, das Leben wider den Schmerz zu vertheidigen und alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung und andrem Moorgrunde gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen. (MA, KSA 2.374)

In EH ergibt sich eine enge Korrelation zwischen der theoretischen und der existentiellen Bedeutung der Aufgabe. Nietzsche beabsichtigt, den geistigsten Willen zur Macht, d. h. seinen Willen zur Schöpfung und zur Umwertung der Werte, in diesem Werk exemplarisch zum Ausdruck zu bringen. Er interpretiert sein Leben als Seelengeschichte im Lichte seiner Selbsterfahrung und Lebensaufgabe. Nietzsche erzählt sich selber und seinen Lesern seine Erlebnisse, also das, was sein Leben und Denken bestimmt hat und zugleich die zukünftige Geschichte der Menschheit bestimmen oder beeinflussen kann. Er erzählt die Herkunft seiner „Lehren“, die er dort gesucht hat, wo er am meisten gelitten und sich am stärksten herausgefordert gefühlt hat. Nietzsche verleiht der schöpferischen Tat einen Ausdruck, durch den seine Erzählung zur Ge-

Moral gebaut haben, auch Kant —, dass ihre Absicht scheinbar auf Gewissheit, auf „Wahrheit“, eigentlich aber auf „majestätische sittliche Gebäude“ ausgieng: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kant’s zu bedienen, der es als seine eigne „nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose“ Aufgabe und Arbeit bezeichnet, „den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen“ (Kritik der reinen Vernunft II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegentheil! – wie man heute sagen muss. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicher Weise, auch in Bezug auf dessen werthvollere Seiten geblieben ist.“ (M, KSA 3.13 f.)

15.1 Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche

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schichte wird. Damit will er sich von den anderen Philosophen und der Menschheit abheben: Seine Lebensaufgabe ist sein „Fatum“ und sein philosophisches Merkmal, also das, was ihm nötig war und dem er sich allein stellen konnte. So skizziert Nietzsche sein Leben als die Geschichte einer Selbstverwirklichung der welthistorischen Aufgabe der Umwertung aller Werte. An dieser Stelle lässt sich eine kühne Bemerkung wagen: Da das Pathos der Distanz das Verlangen nach immer neuer Distanzerweiterung innerhalb der Seele, die fortgesetzte Selbstüberwindung der Menschen, die Herausbildung immer höherer Zustände bezeichnet, erweist es sich als existentieller Zustand der Herausforderung eines Menschen oder Philosophen an sich selbst und an die Menschheit. Die von Nietzsche gebrauchte Formel vom Pathos der Distanz gewinnt ihren existentiellen Aspekt als Herausforderung. Wenn das Pathos der Distanz das Different-sein-Wollen und die Notwendigkeit einer Rangordnung umfasst, so bringt die Herausforderung das Different-sein-Müssen, die Notwendigkeit einer Selbsterfahrung und Selbstgestaltung mit sich. Die Aufgabe beinhaltet demnach nicht nur eine Herausforderung: Sie wird zur Herausforderung. Der Philosoph wird, mit Gottfried Benn gesprochen, ständig von der „formfordenden Gewalt des Nichts“²⁴³ herausgefordert. So befreit er sich vom Dogmatismus der Tradition und schafft neuen Raum zur Schöpfung neuer Werte. Er kann nun frei handeln und versuchen, dem Leben einen neuen Sinn zu verleihen. Indem Nietzsche den Prozess des Freiwerdens des Menschen im Zarathustra als Verwandlung des Geistes darstellt, hebt er hervor, dass die Freiheit immer vom Wissen um die „Unschuld des Werdens“ begleitet ist. Auf diese Weise ist der Mensch frei. Er ist, mit Kant gesprochen, frei von etwas und zugleich frei zu etwas. Anders als bei Kant bezieht sich Nietzsche auf den Leib und den Willen. Dem „Ich denke“ als Gesetzgeber der Natur und der Moral im transzendentalen Sinne setzt Nietzsche den Leib als Leib-Organisation gegenüber. Die Befreiung schließt Selbstauflösung und Selbstüberwindung ein und ist deshalb die Freisetzung des Willens für eine neue, selbstgestellte Lebensaufgabe. Durch seine Aufgabe will der Philosoph seinem Leben und der Menschheit eine Richtung und einen Sinn geben. Die Befreiung des Willens setzt auch die Freisetzung seiner schöpferischen Kräfte im Dienst des Leibes voraus. Nur durch die Verklärung vermag der Philosoph nämlich, seinen Willen in die Dinge zu legen und „dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen“. An dieser Sinnerfindung erweist sich die Größe eines Menschen und Philosophen.²⁴⁴ Nietzsche geht es also um eine Umwertung, Verklärung und Sinnerfindung und nicht um eine elementare Bejahung des bereits Vorhandenen und ewig Bestehenden,

 Gottfried Benn, Rede zur Aufnahme in die Akademie der Künste, Berlin, 5. April 1932, in: Gesammelte Werke, hg.v. Dieter Wellershoff, Bd. 1, Stuttgart 1992, S. 438. Die Lektüre dieses erhellenden Essays verdanke ich Steffen Dietzsch.  Vgl. MA, KSA 2.324: „Grösse heisst: Richtung-geben. – Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.“

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wie es noch bei den Stoikern²⁴⁵ und mutatis mutandis bei Heidegger der Fall war. In seiner suggestiven, systematischen wie ontologischen Interpretation bezieht Heidegger Nietzsche in die Geschichte der Metaphysik ein: „Die Metaphysik denkt das Seiende im Ganzen nach seinem Vorrang vor dem Sein. Alles abendländische Denken seit den Griechen bis zu Nietzsche ist metaphysisches Denken.“ (Nietzsche I, S. 430) In seiner nach wie vor aufschlussreichen Nietzsche-Interpretation geht Heidegger davon aus, dass Philosophie sich „in der Gestalt einer ständigen Frage“ (I, S. 2) herausstelle. Daher unterscheide er zwei Fragen in der Geschichte der Philosophie: „Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins“ und „die Leitfrage der Philosophie: ,Was ist das Seiende?‘“ Nietzsche bleibe in der Leitfrage verhaftet, entwickle sie²⁴⁶ und bringe damit die Metaphysik zur Vollendung. Zu diesem Zweck dichte Nietzsche Übermenschen, Willen zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen als neue Wesensbestimmungen des Seienden aus. Heidegger räumt der Vernunft bei Nietzsche ein dichtendes Wesen ein: „Die Kategorien der Vernunft sind Horizonte der Ausdichtung, welche Ausdichtung dem Begegnenden erst jene freie Stelle einräumt, von der aus und auf die gestellt es als ein Beständiges, als Gegenstand zu erscheinen vermag.“ (I, S. 529) Nietzsche gehe in der Entfaltung des metaphysischen Wesens des abendländischen Denkens so weit, dass er den Leib zum Leitfaden der Weltauslegung bestimme. Seine Philosophie sei daher ein Anthropomorphismus. Am Leitfaden des Leibes ergebe sich, in welcher Art und Weise Nietzsche das Seiende im Ganzen verstehe, nämlich als Chaos: „,Chaos‘, die Welt als Chaos besagt: das Seiende im Ganzen relativ auf den Leib und sein Leiben entwerfen.“ (I, S. 511) Und weiter: „Das Sein ist abgedrängt zugunsten des Werdens, dessen Werde- und Bewegungscharakter sich als Wille zur Macht bestimmt.“ (I, S. 591) In seinem tiefsten Wesen sei also der Wille zur Macht „nichts anderes als die Beständigung des Werdens in die Anwesenheit.“ (I, S. 592)²⁴⁷ Daher sei Heidegger zufolge der Wille zur Macht das Seiende und die ewige Wiederkehr des Gleichen das Sein. Zur Aufgabe des Philosophen schreibt Heidegger weiter:

 In seinen Epistulae morales ad Lucilium schreibt Seneca: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“ (Wenn du einwilligst, führt dich das Schicksal, wenn nicht, zwingt es dich) (Ep. 107, 11).  „“Entwicklung“ ist nicht biologisch gemeint im Sinne von Entstehung, sondern metaphysisch als Entfaltung ihres Wesens.“ (Heidegger, Nietzsche I, S. 525)  Vgl. Heidegger, Nietzsche I, S. 592: „[A]ber er [Nietzsche] will das Werden gerade und allem zuvor als das Bleibende — als das eigentlich ,Seiende‘; seiend nämlich im Sinne der griechischen Denker. Nietzsche denkt so entschieden als Metaphysiker, daß er dies auch weiß. Daher beginnt eine Aufzeichnung, die erst im letzten Jahre, 1888, ihre endgültige Form erhielt (,Der Wille zur Macht‘, n. 617), also: ,Rekapitulation: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht.‘“ In der von Colli und Montinari herausgegebenen kritischen Gesamtausgabe wird der oben genannte Befund ohne die Überschrift „Rekapitulation“ und als Notat übertragen. Die Überschrift war ein Textzusatz, eine Interpolation und daher eine Fälschung der Herausgeber von Der Wille zur Macht, der Heidegger aufgrund unzureichender philologischer Kriterien auf den Leim ging.

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Und dennoch ist da ein Zusammenstoß. Freilich nur für den, der nicht Zuschauer bleibt, sondern selbst der Augenblick ist, der in die Zukunft hineinhandelt und dabei das Vergangene nicht fallen läßt, es vielmehr zugleich übernimmt und bejaht. Wer im Augenblick steht, der ist zweifach gewendet: für ihn laufen Vergangenheit und Zukunft gegeneinander. Er läßt das Gegenläufige in sich zum Zusammenstoß kommen und doch nicht stillstehen, indem er den Widerstreit des Aufgegebenen und Mitgegebenen entfaltet und aushält. Den Augenblick sehen, heißt: in ihm stehen. (I, S. 277)

Der Philosoph sei also derjenige, der augenblicklich den Zusammenstoß des Vergangenen, d. h. des Mitgegebenen, und des Zukünftigen, d. h. des Aufgegebenen, übernehme, ihn entfalte und aushalte,²⁴⁸ so dass er damit „in den Ring der ewigen Wiederkehr einrückt, jedoch so, daß er den Ring miterringt und mitentscheidet.“ (I, S. 401)²⁴⁹ — Der Philosoph ist freilich derjenige, der ,seiner selbstgestellten Aufgabe lebt‘. Die Eigenart der Aufgabe besteht bei Nietzsche in ihrer Verschränkung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und in der Auslegung dieser Frage am Leitfaden des Leibes. Wenn man dem Ursprung von Nietzsches Anspruch auf eine eigene Aufgabe genealogisch nachgeht, kommt unmittelbar zum Vorschein, dass er das ihm zum Problem gewordene Leben radikal infrage und sich aus existentieller Not und aufgrund seiner Entfremdung und innerer wie äußerer Spannung eine Aufgabe stellt, mit der er sein Bedürfnis nach einem Lebenssinn auszugleichen versucht. Im Hinblick auf die Sinnfrage tritt die Aufgabe in ihrer Begrifflichkeit zum Vorschein. Umgekehrt wird in der Erschließung der Begrifflichkeit der Aufgabe deutlich, inwiefern Nietzsche die Frage nach dem Sinn des Lebens existentiell behandelt. Er ist an der Verschränkung von Denken und Leben interessiert, um dem Leben und dem Leib auf die Spur zu kommen. Indem man die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Aufgabe aufeinander bezieht, stößt man auf die Existenzbedingungen und den leibhaften Sinn der Erkenntnis. Nietzsche bietet uns scharfsinnige und aufschlussreiche Hinweise, unter

 Vgl. Heidegger, Nietzsche I, Kapitel „Augenblick und ewige Wiederkehr“, S. 393 – 401, insbesondere S. 400.  Die praktische Bedeutung von Heideggers Philosophie ist fragwürdig. Die Entscheidung ist nach Heidegger eine Bejahung, die nur aufgrund eines beschaulichen Denkens ihre Gültigkeit bekommt: „Nietzsche steht in einer Entscheidung so wie alle abendländischen Denker vor ihm. Er bejaht mit ihnen die Vormacht des Seienden gegenüber dem Sein, ohne zu wissen, was in solcher Bejahung liegt. Aber zugleich ist Nietzsche derjenige abendländische Denker, der die Bejahung dieser Vormacht des Seienden unbedingt und endgültig vollzieht und dadurch in die härteste Schärfe der Entscheidung zu stehen kommt. Das wird darin sichtbar, daß Nietzsche in seinem einzigen Gedanken vom Willen zur Macht die Vollendung des neuzeitlichen Zeitalters vorausdenkt.“ (Heidegger, Nietzsche I, S. 429) Weiterhin aktuell und zutreffend ist Ernst Tugendhats Kritik an Heideggers Wahrheitsbegriff: „Wenn Wahrheit Unverborgenheit besagt, so wie Heidegger das Wort versteht, dann kommt es darauf an, daß ein Weltverständnis sich überhaupt eröffnet, nicht daß wir es kritisch prüfen“ (Ernst Tugendhat, „Heideggers Idee von Wahrheit“, in: Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein 1984, S. 431– 448). Vgl. auch Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2. Aufl., Berlin 1970.

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welchen Bedingungen Sinn entsteht und was das Ergebnis einer Sinnerfindung ist. In dieser Hinsicht bekommt die Transfiguration höchste Bedeutung: An ihr zeigt sich das Schöpferische am Menschen, die Umgestaltung der Welt in eine Lebenswelt, des Geschehens in Geschichte und der Natur in Kultur. An der Aufgabe wird der Prozess der Sinnerfindung offenkundig. Jede Sinnerfindung entsteht auf der Grundlage des Leibes. Der individuelle Lebensvollzug wird des Weiteren analysiert, um dessen Sinnstruktur ans Licht zu bringen. Es geht nicht darum zu zeigen, dass menschliches Verstehen den Charakter des Seinsverständnisses hätte (Heidegger und Ulmer) oder es Erkenntnisse und Bedeutungsstrukturen enthalte, die unabhängig von jeglicher empirischen Erfahrung möglich wären. Menschliches Verstehen besitzt vielmehr den Charakter der Sinnerfindung, die ihrerseits aus bestimmten Lebensbedingungen entsteht und darunter gleichsam vollzogen wird. Es ist nicht zu verkennen, dass Nietzsche immer explizit von seinen Erlebnissen spricht und von ihnen aus die Geschichte interpretiert und die neue Aufgabe der Philosophie bestimmt. „Sinn“ ist also Lebenssinn. ²⁵⁰ Die Herausforderung erweist sich als (Nietzsches) existentieller Grundzustand hin zum Leben, zum Umgang mit anderen Menschen und zur Welt. Sie ist nicht nur eine Bedrohung, sondern ein kreativer Zustand, der den Menschen zum Denken und Handeln treibt und daher auf Wirkungen zielt. Jenseits aller „Lehren“ eines Philosophen, bringt die Herausforderung dessen Wesenszug zum Ausdruck: ein gesteigertes und zur Steigerung der Kräfte zugleich anspornendes Lebensgefühl, wie Nietzsche in AC mittels seiner exemplarischen Interpretation von Jesus und der trinitarischen Symbolik schildert: Aber es liegt ja auf der Hand, was mit den Zeichen „Vater“ und „Sohn“ angerührt wird — nicht auf jeder Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort „Sohn“ ist der Eintritt in das Gesammt VerklärungsGefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort „Vater“ dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl.“ (AC, KSA 6.206 f.)

 Vgl. Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 13: „Sinnvoll oder sinnlos, mit einem spezifischen Sinn ausgestattet oder nicht, ist Realität nur als menschlich angeeignete, im Lichte humaner Interessen und ihrer Symbole gedeutete Realität. Auf dieser Einsicht aufbauend, lassen sich drei verschiedene, aufeinander bezogene Bedeutungsebenen des Sinnbegriffs unterscheiden: 1. Sprachlicher Sinn (die Bedeutung eines Satzes), 2. Handlungssinn (der Sinn einer Handlung als die Erfüllung ihres Zwecks) und 3. Lebenssinn (die übergreifenden Orientierungen der Lebenspraxis eines einzelnen oder einer sozialen Gruppe). Der gemeinsame Gesichtspunkt, der die symbolische Vermitteltheit des menschlichen Realitätszugangs, die Tatsache, dass in jeder symbolischen Repräsentation Wirklichkeit nicht einfach widerspiegelt, sondern gedeutet wird.“ Zum Sinnbegriff im hermeneutischen Sinne siehe auch die lehrreiche Monographie von Emil Angern, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2011.

15.1 Rückblick: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bei Nietzsche

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Und die Praktik: Dieser „frohe Botschafter“ starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um „die Menschen zu erlösen“, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterliess: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus … Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses thun … […] Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen … Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, – ihn lieben … (AC, KSA 6.207 f.)

Philosophie ist bei Nietzsche hauptsächlich ein „Fragen“, aber nicht im Sinne eines „An-Denkens“, wie Heidegger es versteht, sondern im Sinne eines „Versuchens“ und „Verlangens“. Philosophie ist Umdeuten, Experimentieren, Verklären, Umwerten, Einverleiben, ein Sich-beständig-Riskieren und Different-sein-Wollen. In diesem Kontext ist Nietzsches philosophische Alternative zum Historismus zu bedenken. Nach der historischen Schule bedeutet Verstehen das vernünftige Begreifen der Geschichte. Nietzsche beruft sich hingegen auf den von Schopenhauer vertretenen, ins Psychologisch-Physiologische gewandten subjektiven Idealismus und auf die Schlüsselstellung von Leib und Willen. Anders als Schopenhauer, versteht Nietzsche den Willen nicht metaphysisch und will ihn auch nicht verneinen. Er zielt vielmehr auf die Befreiung des Willens durch die Kunst ab. Nietzsche will die Welt verklären, nicht erklären. Verklären heißt: die Welt und das Leben nach den eigenen und echten Bedürfnissen interpretieren, den Wert der Werte umwerten, Sinn als Lebenssinn umdeuten und den Willen in die Geschichte hineinlegen, also das Werden als Geschichte seines Willens, als gemäß seinem Willen vorgestelltes Geschehen deuten. So erklärt sich auch der Untertitel von EH „Wie man wird, was man ist“: Was man ist, wird man nach den jeweiligen Experimenten, die man durchgeführt hat, um auf die jeweils in Angriff genommenen Herausforderungen eine lebensförderliche Antwort zu geben und die Frage nach dem Sinn des Lebens jeweils neu zu stellen und auszulegen. Experimentieren verweist auf das Erleben, und Erleben verweist auf Kunst und auf Erkenntnis bzw. Erdichten. Man kann nur etwas erkennen und davon reden, insofern man es erlebt und das Erlebte in die Dinge projiziert hat. Dementsprechend ist Erkenntnis bzw. Wahrheit ein Etwas-für-wahr-Halten, ein Etwas-gelten-Lassen unter bestimmten Lebensbedingungen, damit es sich sinnvoll und lebenssteigernd auf uns auswirkt. Denken ist ein Übertragungsprozess von einer sinnlichen zu einer sinnhaften, sinnvollen, sinnausgestatteten Sphäre. Unter diesen Bedingungen kann man Nietzsche zufolge vom Verstehen reden: Verstehen ist ein sinnerfindender Interpretationsprozess unter bestimmten Lebensbedingungen. Nietzsches Denken hebt sich an einem entscheidenden Punkt trotz vieler Gemeinsamkeiten auch von der Wertphilosophie ab: Die Wertphilosophie ergänzt Ontologie durch Axiologie und will damit die Kluft zwischen Sein und Sollen durch Sein

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und Gelten überbrücken.²⁵¹ Nietzsche hingegen ersetzt Ontologie durch selbstbezogene Axiologie und hält sich nur am Gelten fest.²⁵² Hierbei bedient er sich der Kunst zur Interpretation der Welt und des Lebens. Eine solche Interpretation ist von einem pragmatischen Aspekt gekennzeichnet. Sie ist eine Lebenskunst als individuelle Lebensgestaltung unter bestimmten Lebensbedingungen: eine Transformation und zwar Transfiguration.²⁵³ Auch wenn eine solche Interpretation nicht als rationell oder rational gelten kann, ist sie nicht irrational, sondern vernünftig. Der Vorwurf des Irrationalismus ist also abzulehnen, denn Nietzsche versucht, zwar die Vernunft radikal zu beschränken, sie aber nicht zu verwerfen. Er bemüht sich einen neuen Begriff der Vernunft als dichtende Vernunft zu bestimmen. Obwohl Nietzsche sich zuletzt auf keine Normativität stützt und für ihn die Leib-Organisation bei der Selbstgestaltung entscheidend ist, sollte die Rolle der Kunst nicht überschätzt und sie als Modus der Selbstgestaltung, nicht als Wesen des Menschen verstanden werden. Nur durch eine auf Kunst angewiesene Vernunft kann der Mensch ein Maß im Leben erreichen. Nur wenn der Mensch sich auf die Welt und das Dasein verklärend einstellt, kann er sich entwickeln.²⁵⁴ Vor diesem Hintergrund ist also Philosophie nach Nietzsche Wertschätzung und Sinnerfindung, die auf praktische Kennzeichen angewiesen ist: Selbsterfahrung und Selbstgestaltung bzw. Selbstdisziplinierung. Wie das Leben ist die Philosophie im Ganzen ein Verklärungsprozess, der alle Kräfte des Menschen zur Selbsterfahrung und Selbstgestaltung und zugleich zur Erfindung eines Gesamtsinnes in Anspruch nimmt.  Dazu stellt Schnädelbach als Antworten auf die nichtmetaphysische, verwissenschaftlichte Welt und Leben zweierlei dar: den Unterschied von Objektwert und Wertobjekt bei Lotze und die Wertethik von Scheler. Diese Autoren haben laut Schnädelbach die Ontologie durch eine Axiologie ergänzt.  Das gilt vor allem für den späten Nietzsche: „Wahrheit ist das, was einer bestimmten Lebensform aus ihrer Perspektive am dienstlichsten scheint“ (JGB 4, KSA 5.18). Zudem gilt für Nietzsche, was erlebt, und erdichtet für wahr gehalten wird.  Vgl. dazu Nicola Nicodemo, „Dem Leben einen Sinn geben. Nietzsches Lebenskunst am exemplarischen Fall von Ecce homo“, in: Günter Gödde / Nikolaos Loukidelis / Jörg Zirfas (Hg.), Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S. 199 – 208.  Nietzsche vertritt nicht die Einsicht, dass die Kunst das Wesen des Menschen ausmacht und Leben, Erkenntnis und Geschichte gänzlich irrational sind. Er beansprucht einen neuen Vernunftbegriff, der die Kunst und das ästhetische Verhältnis des Menschen zu den Dingen berücksichtigt. Nur in den nachgelassenen Schriften und Notaten spricht Nietzsche von Fantasieren und Dichtung. Nicht zufällig sind die genannten Überlegungen Fragmente geblieben: Versuche, nicht durchgeführte Experimente. Zweitens ist auch das, was Zarathustra „lehrt“, aufmerksam und vorsichtig zu analysieren: „“bei Allem ist Eins unmöglich – Vernünftigkeit!“ Ein Wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, – dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein Wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls— tanzen. Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt: – — dass du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler! —“ (Z, KSA 4.209 f.) Hier könnte Vernünftigkeit im Sinne von Vernünftig-Sein gedeutet werden: Nietzsche gesteht die Bedeutsamkeit der Sinnhaftigkeit bzw. der Weisheit für die Erkenntnis und die Lebensführung zu.

15.2 Ausblick: Herausforderungen an alle und keinen

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Verklärung ist jedoch nicht metaphysisch zu verstehen: Sie ändert nichts am Wesen der Dinge. Sie verändert die Einstellung des Menschen zur Welt und zum Dasein durch und durch. Von einem existentiellen Standpunkt aus gesehen, ist nun Leben bzw. Philosophie Herausforderung und die Aufgabe einer Umwertung aller Werte ist der Weg zu sich selbst: Sie zeigt, was er allein kann,²⁵⁵ womit er Perspektiven umstellt und sich kompromittiert und wie man wird, was man ist.

15.2 Ausblick: Herausforderungen an alle und keinen Bevor wir zum Schluss kommen, soll ein Passus aus der Vorrede zu MA II untersucht werden: Einsam nunmehr und schlimm misstrauisch gegen mich, nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei gegen mich und für Alles, was gerade mir wehe that und hart fiel: – so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder, der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den Weg zu „mir“ selbst, zu meiner Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, für das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsre Aufgabe erweist, – dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen, für jede vorzeitige Bescheidung, für jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehören, für jede noch so achtbare Thätigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt, ja für jede Tugend selbst, welche uns gegen die Härte der eigensten Verantwortlichkeit schützen möchte. Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf unsre Aufgabe zweifeln wollen, – wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar und furchtbar zugleich! Unsre Erleichterungen sind es, die wir am härtesten büssen müssen! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns keine Wahl: wir müssen uns schwerer belasten, als wir je vorher belastet waren … (MA II, Vorrede, KSA 2.373 f.)

In Anbetracht der vorgelegten Interpretation erscheint die Aufgabe als Leitmotiv von Nietzsches Denken und Dasein. Sie ist die Instanz, die dem Menschen einen Halt im Dasein und zugleich Anhaltspunkte zur Bildung eines Lebenshorizonts bietet. An der Aufgabe misst Nietzsche zudem seine schöpferischen Kräfte, hebt sich durch sie von anderen Philosophen ab, versucht, die verwobenen Fäden seines Daseins zu entwirren — auch auf die Gefahr hin, sie zu verwirren —, um es nach seinen Lebensbedingungen zu formen, unterteilt die Zeit der Geschichte und provoziert die Menschheit oder zumindest seine Leser. Er fordert seine Leser nachdrücklich auf, ihn in Bezug zu seiner Aufgabe, und damit in Bezug auf die Geschichte, zu verstehen und zu deuten.²⁵⁶  „Der animalische vigor ist nie gross genug bei ihm geworden, dass jene in’s Geistigste überströmende Freiheit erreicht wird, wo Jemand erkennt: das kann ich allein …“ (EH, KSA 6.282) Aus diesem Befund lässt sich ablesen, wie eng Denken und Handeln, das Theoretische und das Praktische bei Nietzsche miteinander verflochten sind.  Siehe dazu die prägnanten Worte Nietzsches in EH, Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6.373 f. Hier lässt sich Nietzsches Anspruch ablesen, durch die Aufgabe eine Zeit- und Wertewende zu bewirken.

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15 Rückblick und Ausblick: Erlebnis und Versuch einer radikalen Herausforderung

Nietzsche bekommt die Aufgabe nicht von außen zugeteilt, sondern er stellt sie sich selbst. Sie ist der Angelpunkt, aus dem er seine Persönlichkeit bildet. Der Aufgabe kommt demnach eine existentielle Bedeutung zu: Nach ihr werden Gedanken, Gefühle, Handlungen und Ansprüche ausgerichtet, so dass dem Leiden ein Sinn zugesprochen und dementsprechend das Leben sinnvoll und lebenswert werden kann. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Kunst als Verklärung bzw. Stilisierung seiner Selbst zur Sinnerfindung. Von der Perspektive der Kunst aus interpretiert Nietzsche auch die Erkenntnis und konzentriert sich dabei auf den Erkennenden und den Erkenntnisprozess. Um diesen Prozess zu verdeutlichen, verweist Nietzsche auf die Doppelbedeutung des Sinnlichen. Es geht ihm um Einnahme, Assimilation, Verdauung, Wiederkäuen, Geschmack als Sinneseindruck und subjektives Werturteil sowie die Übersetzbarkeit von Empfindungen in Begriffe. Das daraus folgende Kriterium der Wahrheit ist existentiell konnotiert: Wahr ist, was ein Geist ertragen oder wagen kann, was das Dasein erträglich macht und die schöpferischen Kräfte zur Steigerung bringt. Wahrheit ist also wie die Erkenntnis ein Überwältigungsprozess, eine Machtäußerung, ein Zeichen des Willens zur Macht.²⁵⁷ Nietzsche hat mit seiner Philosophie, die neue Perspektiven öffnet und neue Kontexte schafft, gravierende Probleme aufgeworfen. Darunter ist die Frage, mit der Nietzsche sich, insbesondere in seiner letzten Schaffensphase, entschlossen und unermüdlich auseinandersetzte und die er in Aphorismus 357 der FW als schopenhauerische und europäische Frage bezeichnet: „Hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn?“ Der Kontext, den Nietzsche entwickelt und in dem er diese Frage stellt, ist bemerkenswert: In diesem Aphorismus werden Leibniz, Kant und Hegel als „philosophische Deutsche“ dargestellt, weil sie „dem Bedürfnisse der „deutschen Seele““ zustimmten. Sie haben jeweils dem Menschen „einen tieferen Sinn und reicheren Werth“ zugesprochen, indem Leibniz das Ich vom Bewusstsein trennte, Kant den wissenschaftlichen Anspruch, durch eine am Leitfaden der Kausalität durchgeführte Erkenntnis ins Wesen der Dinge einzudringen, radikal beschränkte, und Hegel die Geschichte als Entwicklung im Lichte des „Werdens“, nicht des „Seins“ deutete. Jeder von ihnen hat somit entscheidend zur „deutsche[n] Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung, Selbsterfassung“ beigetragen. Leibniz, Kant und Hegel setzt Nietzsche aber Schopenhauer entgegen. Wenn die ersten drei Philosophen Ereignisse der deutschen Seele waren, war Schopenhauer Nietzsche zufolge ein europäisches Ereignis. Er verstand die Natur, die Geschichte und den Menschen nicht teleologisch. In ihm kommt „ein endlich und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens“ zum Ausdruck, „der folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet…“ Damit, fährt Nietzsche fort,  „Wahrheit“ ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden von etwas, „an sich“ fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den „Willen zur Macht“ (NL 9[91], KSA 12.385).

15.2 Ausblick: Herausforderungen an alle und keinen

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„wenn irgend womit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung.“ Schopenhauer „mit seinem Pessimismus, das heisst dem Problem vom Werth des Daseins“, hat die Frage gestellt. Mit seiner Antwort ist er trotzdem „in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekündigt war“ steckengeblieben. Schopenhauers Frage wird laut Nietzsche, „ein paar Jahrhunderte brauchen, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden.“ Die Frage nach dem Sinn des Lebens bekommt eine entscheidende Bedeutung, wenn sie im Kontext der existentiell erschütternden Erfahrung der Sinnleere des Daseins aufgeworfen wird: Wenn ein Mensch „verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben.“ (HL, KSA 1.250) So stellt Nietzsche fest: „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen …“ (GM, KSA 5.412) Wie geschildert, zeigt sich dem Menschen bei der Erfahrung der Sinnleere die Grundtatsache seines Willens, sein „horror vacui“. Er erlebt und erkennt damit das eigentliche Problem des Daseins und des Willens: das Sinnproblem. Ausgerechnet aus dieser Selbsterfahrung erweist sich Sinn als Lebenssinn. Aus der Sinnfrage und der Aufgabe ergeben sich zudem einige Paradoxien. Um seine Aufgabe zu stellen, setzt sich Nietzsche in Verhältnis zum Ganzen. Er entwirft trotzdem seine Vorstellung nicht aus dem Ganzen, sondern aus seinen Lebensbedingungen. Dies bringt die Einsicht mit sich, dass, obwohl sich der Einzelne auf das Ganze bezieht und versucht, sich im und am Ganzen zu bestimmen, es sein ästhetisches, künstlerisches Verhältnis zum Ganzen ist, das das Ganze bestimmt. Infolgedessen macht der Einzelne den Sinn für das Ganze aus, nicht umgekehrt. Wie könnte man bei Nietzsche vom Ganzen, vom Individuum und von ihrem Verhältnis sprechen, wenn nicht unter den jeweiligen Bedingungen des Individuums? Das Ganze wird von der Perspektive des Einzelnen bestimmt und als Ganzes von ihm gedacht, trotz der steten Auseinandersetzung des Einzelnen mit den Herausforderungen des Ganzen. Auch der Versuch, die Erkenntnis am Leitfaden der Kausalität als Wissenschaft aufzubauen, ist zum Scheitern verurteilt: Wir gelangen damit zwangsläufig zu den Grenzen der Wissenschaft, „an denen sie in Kunst umschlagen muss“ (GT, KSA 1.99). Kunst und Wissenschaft bilden einen Kreis, dem man nicht entkommen kann. So klingt paradox: „Man muß selbst die Illusion wollen – darin liegt das Tragische.“ (NL 19[35], KSA 7.428)²⁵⁸ Dies lässt sich auch auf die Aufgabe übertragen: Weil Nietzsche sein Leben lang und im Laufe seines Philosophierens eine universelle Aufgabe beansprucht, stößt er schließlich auf den individuellen Charakter des Lebens. Er spricht  Vgl. MA II, Vorrede, KSA 2.376: „— Dass ich schliesslich meinen Gegensatz gegen den romantischen Pessimismus, das heisst zum Pessimismus der Entbehrenden, Missglückten, Ueberwundenen, noch in eine Formel bringe: es giebt einen Willen zum Tragischen und zum Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist.“

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daher von seiner Aufgabe und findet ohne den Rekurs auf seine Interpretation des Daseins und der Welt als Wille zur Macht keinen Bezugspunkt, um ihr allgemeine Verbindlichkeit und einen umfassenden Geltungsanspruch zuzusprechen. Dasselbe betrifft die Frage nach dem Sinn des Lebens: Sie ist eine universelle Frage, auf die es unzählige individuelle Antworten gibt. Sie bezeichnet einerseits einen Wendepunkt in der Geschichte der Moral und im Denken Europas. Andererseits ist Nietzsche der Meinung, „dass der Werth des Lebens nicht abgeschätzt werden kann“ (GD, KSA 6.68) und dass „von Seiten eines Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit [bleibt]“. Wir können dennoch nicht anders, als Werte in unserem Leben anzusetzen — das Leben selbst wird als Wert- und Sinnerfindungsprozess interpretiert. Trotz Nietzsches Anliegen, eine verallgemeinerbare Aufgabe und Antwort auf die Sinnfrage zu geben, stößt er unausweichlich auf individuelle Ansichten. Auch wenn es paradox klingen mag, ist der Anspruch auf allgemeinverbindliche Gesetze des Denkens und Handelns nur von einem individuellen Standpunkt aus und unter bestimmten Lebensbedingungen möglich, ja nötig. Auch der Zeitbegriff ist paradox. In Z kommt eine zyklische Zeitvorstellung zum Ausdruck — Zarathustra warnt aber vor sich selbst und vor allem, was er sagt. Die Warnung gilt für alle, die glauben, dass die ewige Wiederkunft wissenschaftliche Bedeutung haben kann. Wie gezeigt, ist die Zeit von einem existentiellen und experimentellen Standpunkt aus anzusehen. Zeit wird als Zeitlichkeit bestimmt. Somit bleibt Sinn auf individuelle Zeiterleben bezogen und als Lebenssinn ausgelegt. Es drängt sich die Frage auf, ob die Paradoxien mit Rekurs auf den Begriff der Selbstaufhebung oder Selbstauflösung aufzulösen sind. Einen Ausweg könnte es mit dem Rekurs auf den Perspektivismus geben: Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt „es giebt nur Thatsachen“, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum „an sich“ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. „Es ist alles subjektiv“ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das „Subjekt“ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort „Erkenntniß“ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne „Perspektivismus“. Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte. (NL 7[60], KSA 12.315)

Die auf einen Sinn ausgerichtete Perspektive zeigt sich als Einheit, genauso wie das Individuum, das seinem Leben einen Sinn gibt. Nach eingehender Untersuchung erscheint auch das Subjekt als Perspektive und Erdichtung. Nicht die Perspektive, sondern das Perspektivische ist die Grundbedingung des Lebens. Jede Perspektive kann das Licht in einem Punkt so kanalisieren, dass Raumwirkung entsteht. Wenn aber die von der Perspektive erzeugte Orientierung aufgrund ihrer Zerstreuung zum

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Vorteil einer Vielzahl von Richtungen verloren geht, löst sich der Begriff des Sinns auf? Oder können wir ausgerechnet in dieser Situation vom Sinn des Daseins sprechen? Vom Standpunkt des Perspektivismus aus geht es Nietzsche nicht um die Perspektive des Perspektivismus oder darum, eine umfassende, den anderen Perspektiven überlegene Weltperspektive herzustellen. Darüber hinaus wird mit dem Perspektivismus nicht die Sinnlosigkeit des Lebens angeprangert. Eigenart, Kraft und Wirkung des Perspektivismus liegen gerade darin, dass es unzählige Sinne gibt. Vor dem Hintergrund des Perspektivismus bekommt die existentielle Sinnfrage auch eine andere Bedeutung: Es geht nicht darum, ob das Leben einen Sinn oder Wert hat, sondern darum, was im Leben Sinn hat oder etwas wert ist und warum es so ist. Auf diese Weise ist Sinn Beziehungs-Sinn, kann man von einer Perspektive reden. Die Aufgabe ist vor diesem Hintergrund der perspektivische Vermittlungspunkt, an dem sich Theorie und Praxis, Denken und Handeln, Erkenntnis und Leben, Individuum und Gesellschaft schneiden, weil die Aufgabe alles dadurch bestimmt, dass der Mensch durch sie zum Denken und Handeln auf- und herausgefordert wird und zugleich auf andere Herausforderungen reagieren kann. Wenn aber Sinn Lebenssinn unter bestimmten Lebensbedingungen oder Beziehungssinn ist und es unzählige Sinne gibt, warum findet man in Nietzsches Werken viele Stellen, bei denen von einem universellen Sinn die Rede ist? Auch dabei gilt zu beachten, dass nach Nietzsche dem Leben der Sinn vom Genie, vom souveränen Individuum, vom Philosophen usw. verliehen wird. Sein Denken ist selbstbezüglich, und obwohl er auf die Menschheit und die Gesellschaft wirken will, verachtet er sie und lebt immer mehr in Einsamkeit. Nietzsches Denken geht andererseits trotzdem nicht sämtlicher gesellschaftlicher Bezug ab. Er verschiebt den Fokus vom Genius auf Genien. Die einzige Gesellschaft, der er wertschaffende Kraft und Wirkung zutraut, ist die der Genien. Im Aphorismus 245 aus JGB lassen sich nach Nietzsche, der „auseinanderlösenden Politik“ der „Politiker des kurzen Blicks“ und des „Nationalitäts-Wahnsinns“ zum Trotz, deutliche Anzeichen erkennen, „dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen“ (JGB, KSA 5.201 f.). Ein Versuch, der schopenhauerischen und europäischen Sinnfrage eine Antwort zu geben, wird eben von den Genien gemacht: Durch die Arbeit ihrer Seele versuchen sie, die durch den Pessimismus Schopenhauers verursachte tiefe Erschütterung durch eine neue Verklärung der Welt und des Daseins zu überwinden. Wenn man das Dasein aber verklärt, geht man nicht das Risiko ein, es zu verharmlosen und sich damit zum Herdentier abzuwerten? Obwohl die Herstellung einer SinnPerspektive eine individuell existentielle Einstellung ist, bezweckt Nietzsche nicht zwingend „eine Autarkie des eigenen Sinnschaffens“.²⁵⁹ Dies wird plausibel, wenn

 Eindringlich und lehrreich und trotzdem abweichend dazu Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, S. 231: „Der Perspektive der ewigen Wiederkehr bürdet Nietzsche mehrere

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man die Verklärung als kollektives Werk und den Verklärungsbegriff bei Nietzsche als Spezifizierung des Konzepts der Transformation interpretiert.²⁶⁰ In der Herausforderung drücken sich (Ohn‐)Machtverhältnisse aus, sie ist selbst eine (Ohn‐)Machtäußerung. In diesem Zusammenhang ist die Aufgabe der perspektivische Fluchtpunkt, in den alle Ansprüche, Gegensätze und Paradoxien zusammenzulaufen scheinen, so dass sich das Selbst als ein auf eine Ganzheit bzw. Gesellschaft bezogenes, auswirkendes und durch sie herausgefordertes Individuum denkt und handelt. Nietzsche bestimmt das Dasein also nach den Gesichtspunkten Aufgabe, Erlösung, Erlebnis, Experiment, Kunst, Sinn, Wille, Persönlichkeit, Zeiterleben und Wirkung der Gesellschaft. Es ist ein unablässiger Prozess, weil er auf dem Perspektivischen als Grundbedingung des Lebens, dem Denken als Übertragungsprozess

Weisen der Wirkung philosophischer Bedeutsamkeit für den Menschen auf, der ihr ausgesetzt wird. Sie soll z. B. als Appell, als Erziehungsmittel, geradezu als Mittel der Züchtung künftiger Menschen wirken, aber auch Symbol einer Herausforderung zur Autarkie des eigenen Sinnschaffens sein. Diese Perspektive will nicht nur Sinn gewähren, sondern zu einem Sinn-verhalten nötigen, welches sich zum Sinnschaffen bekennt. Sie stellt an den modernen Menschen die Zumutung, so auf die nihilistische Situation zu reagieren, daß er sich durch sie zu einer höchsten sinnschaffenden Möglichkeit herausfordern läßt. Das Bild der ewigen Wiederkehr hat die Bedeutung eines Symbols für die Aufforderung, das Nichts geradezu zu wollen, um Freiheit zum Schaffen des den Nihilismus überwundenen Sinns zu gewinnen. Amor fati, die Liebe zum Geschick ist als Bejahung nicht nur des einmal erlebten Fatums mit Entschluß seines Leidens zu verstehen, sondern als leidenschaftliches Bekenntnis zu dessen ewiger Wiederkehr.“  Martin Saar, „Jenseits der Revolte — Nietzsche als Denker und Kritiker sozialer Transformation“, in: Heit / Thorgeirsdottir (Hg.), Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation, S. 93 – 111. In seinem aufschlussreichen Beitrag bietet Martin Saar eine Rekonstruktion von Nietzsches Veränderungsdenken in Bezug auf die anderen Transformationsprogramme seiner Epoche. Hierbei scheint Saar die Pointe zu sein, dass „Subjekt“, „Selbst“ oder „Individuum“ der Transformation „gerade nicht Name für eine Gegebenheit ist, die so oder so ist, sondern Name für einen Ort (bzw. eine Instanz), an dem (bzw. an die) sich die Herausforderung stellt, so oder anders werden zu können.“ (S. 103) Saar betont die kollektive Dimension, auf deren Basis die Transformation bei Nietzsche geschehe. Subjekt der Veränderungen zu sein heißt, dass das Subjekt zwar mit den Anderen nicht verschmolzen ist, aber doch nicht von ihnen isoliert, „nicht unabhängig, aber sich aus Abhängigkeiten herauswindend“ (S. 103). Laut Saar wird das Individuum einer existentiellen Dialektik unterzogen: „Das Selbst findet sein Telos genau nicht monologisch oder introspektiv in sich, sondern in der Erfahrung einer Herausforderung oder Negation seiner selbst durch einen Anspruch, der von außen nach innen führt.“ (S. 108; dazu auch S. 105) Saar bestreitet nicht, dass Transformationsprozesse bei Nietzsche auch agonale Seiten haben: Sie sind „Überwältigungsprozesse“ (GM II 12, KSA 5.314), die aufgrund von „Durchsetzungswillen“ zustande kommen. Bei solchen Transformationsprozessen ist zu beobachten, dass „das Selbst der alleinige Ort ist, an dem sich dieses existenzielle Drama der Veränderung entscheidet“ (S. 106). Der Austausch und die Interaktion des Individuums mit den Anderen sind nicht zu verkennen. Jedes neue, andere Selbst wird „ein Selbst im Kontext, ein Subjekt in einem gesellschaftlichen Feld sein“, und die Notwendigkeit jedes Umsturzes „bleibt bezogen auf die Notwendigkeit, eine andere Welt und Gesellschaft für ein anderes, mögliches Selbst zu erzeugen“ (S. 107). Im Kontext der vielen Optionen der Transformationsstrukturen im späten 19. Jahrhundert bezeichnet Saar Nietzsches Transformationsgedanken als „radikale Selbsttransformation statt Revolution, eine Politik des Selbst oder der Transfiguration statt Revolte“ (S. 109).

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triebhaften Ursprungs, dem Pathos der Distanz als Grundstimmung bzw. Grundhaltung und der Herausforderung als Grundzustand beruht. Dies alles zeigt sich als stets dem Risiko ausgesetztes Experiment, an dem der Großmut und die Bewusstheit des Denkers zum Ausdruck kommt, „dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals beschämt, oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd – zum Opfer bringt.“ (M, KSA 3.276) Die daraus folgende Konsequenz ist, dass „gerade desshalb Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in’s Auge fassen [können], welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!“ (M, KSA 3.294) Vor diesem Hintergrund wird nun der ausschlaggebende existentielle Aspekt von Nietzsches Aufgabe deutlich: ihre lebensfördernde und zugleich herausfordernde Kraft. Die Aufgabe entsteht aus einer Lebensnot, aus einer Not des Geistes, die Nietzsche im Laufe seines Lebens und seines philosophischen Schaffens jeweils als Mangel, als Ausgleich oder als Überfülle an schöpferischen Kräften erfährt. Die Aufgabe entsteht aber nicht nur aus einer Not: Sie wird zur Not. Sie ist das, was nötig ist, weil sie das Leben bedingt. Daher ist eine solche Aufgabe eine Lebensaufgabe: Sie bestimmt Nietzsches Denken und Leben und treibt sie voran, indem sie eine Steigerung der Kräfte und ein positives Selbstgefühl ermöglicht. Sie kann nun also als Antriebskraft und sinnerfindende Einstellung zum Leben festgehalten werden. Durch die Aufgabe lässt sich die philosophische Quintessenz und der Inbegriff eines Denkers begreifen, denn durch sie verbindet sich im Individuum und Philosophen das Individuelle, das Pluralistische und das Universelle.²⁶¹ Sie zeigt, dass sich der Wille einen lebensfördernden Sinn schafft, obwohl es keine Teleologie gibt. So stoßen wir auf Nietzsches „skandalöse“²⁶² Herausforderung: „Nichts ist wahr, alles ist

 „Die Deutschen haben zwei Mal, als eben mit ungeheurer Tapferkeit und Selbstüberwindung eine rechtschaffne, eine unzweideutige, eine vollkommen wissenschaftliche Denkweise erreicht war, Schleichwege zum alten „Ideal“, Versöhnungen zwischen Wahrheit und „Ideal“, im Grunde Formeln für ein Recht auf Ablehnung der Wissenschaft, für ein Recht auf Lüge zu finden gewusst. Leibniz und Kant – diese zwei grössten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europa’s! – Die Deutschen haben endlich, als auf der Brücke zwischen zwei décadence-Jahrhunderten eine force majeure von Genie und Wille sichtbar wurde, stark genug, aus Europa eine Einheit, eine politische und wirtschaftliche Einheit, zum Zweck der Erdregierung zu schaffen, mit ihren „Freiheits-Kriegen“ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon’s gebracht, – sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt, den Nationalismus, diese névrose nationale, an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europa’s, der kleinen Politik: sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie haben es in eine Sackgasse gebracht. – Weiss Jemand ausser mir einen Weg aus dieser Sackgasse? … Eine Aufgabe gross genug, die Völker wieder zu binden? …“ (EH, KSA 6.360)  Ein Skandal ist ein ,anstoß- und aufsehenerregendes Vorkommnis‘, von Griech. skándalon (σκάνδαλον) ,Anstoß‘, ,Verführung‘, auch ,Stolperstein‘, eigentlich ein ,aufgehängtes oder frei herabhängendes Holz‘, ,Auslösevorrichtung einer Tierfalle‘, ,losschnellendes Gerät‘, in der Bibel (Septuaginta) die ,Versuchung, die der Teufel dem Menschen in den Weg legt‘, von den Kirchenvätern

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erlaubt.“ (GM, KSA 5.399) Von dieser Besinnung ausgehend, will Nietzsche die Menschheit nicht in den Abgrund stürzen. Er wagt vielmehr das philosophische Experiment, freie Geister zu erfinden bzw. beschwören, durch die „der erste Versuch gemacht wird, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln könne.“ (MA, KSA 2.105) In diesem Zusammenhang erlangt die Umwertung aller Werte ihre philosophische Prägnanz auch für das zeitgenössische Denken. Wenn „Philosophie der tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima“ (JGB, KSA 5.22) ist, ist der Wille zur Macht nicht der Wille zur Ausbeutung und Vernichtung, sondern der Wille zur Sinnerfindung. Wie Nietzsche uns in EH vor Augen führt, wird die angestrebte Macht als Herausforderung erlebt und durch eine Auseinandersetzung erkämpft. Die Herausforderung hat eine doppelte Bedeutung: Sie ist Aufruf zum Zweikampf und zugleich das Verlangen, dass etwas oder jemand hervorkommt. Jeder sucht sich einen starken Gegner oder ein starkes Problem aus und fordert ihn oder es zum Zweikampf heraus: „Die Aufgabe ist nicht, überhaupt über Widerstände Herr zu werden, sondern über solche, an denen man seine ganze Kraft, Geschmeidigkeit und Waffen-Meisterschaft einzusetzen hat,— über gleiche Gegner … „ (EH, Weise 7, KSA 6.274) Der Wille zur Macht ist also ein Wille zu einem „Geisterkrieg“²⁶³ nach dem Motto, dass man nur an Gegensätzlichkeiten, an Widerständen wächst.²⁶⁴ Die Herausforderung ist kein bloß physiologischer Reiz, keine physiologische Stimulation. Einerseits bringt sie die Größe und den Mut eines Menschen zum Ausdruck, wie viel Wahrheit ein Geist ertragen und wagen kann. Andererseits fordert sie zu einem Geisterkrieg heraus, der nach Nietzsche kein Ideologiekrieg, keine Revolution und kein Klassenkampf ist, sondern eine Umwertung aller Werte, ein Konkurrenzkampf der Perspektiven.²⁶⁵ Nur durch einen solchen Geisterkrieg lässt sich die Umwertung der Werte zustande bringen. In ihm zeigen sich die Größe des Daseins, die Überschreitung der Kräfte und die übernommen in Kirchenlat. scandalum ,Fallstrick‘, ,Ärgernis‘, ,Verführung zum Bösen‘ (vgl. Vulgata Matth. 18, 7).  Dieser ist ein „Krieg ohne Pulver und Dampf, ohne kriegerische Attitüden, ohne Pathos und verrenkte Gliedmaassen“ (EH, KSA 6.323). Der Nationalismus ist nach Nietzsche „die culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt“ (EH, KSA 6.360), und damit die Verewigung der kleinen Politik.  Nietzsche strebt nicht nach einer Beseitigung, sondern nach einer „Vergeistigung der Feindschaft“: Man muss den Wert der Feindschaft begreifen. Dies hat philosophische und politische Bedeutung zugleich: „Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur j u n g unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt …“ (GD, KSA 6.84) Unter diesen Bedingungen gilt die „Vergeistigung der Feindschaft“ als „ein grosser Triumph über das Christenthum“, und so lässt sich der Sinn von Nietzsches Behauptung erschließen: „Man hat auf das grosse Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet …“ Im von Nietzsche gewünschten „Geisterkrieg“ haben die neuen Philosophen eine leitende Rolle und eine bestimmende Aufgabe (vgl. Kapitel 11.6).  Für eine systematische Erörterung von Nietzsches Denken als Konkurrenzkampf der Perspektiven vgl. das aufschlussreiche Buch von Claudia Ibbeken, Konkurrenzkampf der Perspektiven. Nietzsches Interpretation des Perspektivismus, Würzburg 2008.

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große Herausforderung, die über die Grenzen einer individuellen Aufgabe hinausgeht. Der Geisterkrieg ist unentbehrlich, um eine universelle bzw. gemeinsame Aufgabe anzustreben, zu gewinnen und durchzuführen. Ein solcher Krieg der Geister²⁶⁶ hat auch heute noch philosophische Tragweite. Um diese Aktualität zu verstehen, muss man über Nietzsches Anspruch auf Universalität hinausgehen und den Geisterkrieg als Voraussetzung zur Umstellung, zum Austausch und zum Pluralismus der Perspektiven begreifen. Heutzutage ist immer weniger die Rede von einem Universum und immer mehr von einer globalen Welt. Bezeichnet die Universalität²⁶⁷ eine Ganzheit, in der alles zusammengefasst und in eins gekehrt ist, umfasst die Globalität²⁶⁸ eine Pluralität, in der alle nicht in eins, sondern einander zugekehrt und aufeinander ausgerichtet sind. Wenn man die Absolutheit und Universalität des Denkens abschafft, legt und hält man dessen Pluralität frei. Eine globale Welt ist daher eine Welt, in der ein Konkurrenzkampf der Perspektiven entsteht, durch den über den jeweiligen Sinn des Lebens verhandelt werden kann. Dies ist nur möglich auf der Basis einer Umwertung aller Werte. Das war Nietzsches Lebensaufgabe und Herausforderung an sich selbst, und das ist nach wie vor Nietzsches Herausforderung an die Menschheit. Es könnte schließlich die große Aufgabe unseres Jahrhunderts sein, denn wir sind mit dieser Aufgabe noch nicht fertig geworden. Schließt Nietzsches Aufgabe also die Aufgabe seines Denkens ein? Sind wir an „der rechten Zeit“, sie umzuwerten, aufzulösen, zu überwinden? Gibt es etwas an Nietzsches Philosophieren, das umgewertet werden soll? Sollen wir den Willen zur Macht als Selbstbehauptung in der Sinnleere begreifen und die Umwertung des Kampfbegriffs und des Konkurrenzkampfs der Perspektiven bezwecken?²⁶⁹ Sollten wir eher von der Annahme ausgehen, dass wir laut Gottfried Benn „der formfordernden

 „In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“. —“ (FW, KSA 3.574)  Universal, von Lat. ūniversus ,ganz‘, ,sämtlich‘, eigentlich ,in eins gekehrt‘, ,in eine Einheit zusammengefasst‘, vgl. Lat. ūnus ,ein‘, ,einzig‘ und versus, von Lat. vertere ,kehren‘, ,wenden‘, ,drehen‘, ,umdrehen‘.  Global, ,die ganze Erde umspannend‘, ,weltweit‘, ,allgemein‘, ,in groben Zügen‘ (20. Jh.). Auf einer Kugel sind nicht alle „in Eins“, sondern alle einander zugekehrt, denn es gibt keinen in sich absoluten Anhaltspunkt.  Dazu Rauh, Im Labyrinth der Geschichte, S. 289: „Selbst die Geschichte des abendländischen Denkens ist weithin eine Gewaltgeschichte, ein Begriffskampf — seit dem Logos Heraklits, der ,widerstrebender Einklang‘ ist und von der Spannung zwischen Gegensätzen lebt. Der johanneische Logos dagegen ist gewaltlos, Licht in den Finsternis, von den Menschen vertrieben, weil er das Wesen der Gewalt ans Licht bringt. Der Logos des Heraklits fordert Opfer, der Logos des Johannes gibt sich selbst zum Opfer. Nur Verzicht auf Gewalt wird zur Lichtung inmitten der menschlichen Leidensgeschichte.“

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Gewalt des Nichts“ ausgesetzt sind, von der her unausweichlich „auch noch das Vernichtende Welt wird“, wie uns Reiner Maria Rilke suggeriert? Wäre auf diese Weise eine Umwertung des Relativismus zu beanspruchen, aufgrund derer wir uns auf die Relation konzentrieren können und zur Bewusstheit gelangen, dass das, was uns entbindet und voneinander trennt, dasselbe ist, was uns bindet, uns zusammenbringt, dass Entbindung zugleich Bindung ist? Wäre daher die Relativität nicht weniger als abwertende Perspektivierung des Lebens, sondern als lebensfördernde Einstellung zum Leben zu verstehen? Damit sind wir schließlich zur Aufgabe unserer Arbeit gelangt. Sie soll keine Aufgaben zuteilen, sondern Herausforderungen bieten. Sie muss provozieren.

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Personenregister Abel, Günter 150 f., 257 f., 258 f., 265 f. Angern, Emil 274 f. Aristoteles 2, 58 Augustin 159, 265 Ayer, Alfred J. 9 f. Bailey, Tom 102 f. Benn, Gottfried 271, 285 Benne, Christian 40 f., 235 f., 255 f., 257 f. Bertino, Andrea Cristian 177 f. Brock, Eike 200 f., 287 Brusotti, Marco 22, 102 f., 120 f. Burckhardt, Jacob 75 f. Calderon 111 Campioni, Giuliano 38 f. Christians, Ingo 202 f., 265 f. Christus 251 Constâncio, João 102 f. Dietzsch, Steffen 271 f., Dilthey, Wilhelm 8 f., 13, 20, 175 f., 187 f., 234 Dühring, Eugen 8 f., Dummett, Michael 4 f., 6 f. Emerson, Ralph Waldo 8 f., 31, 37, 51 f., 83 Erasmus 100, 258, 265 Erne, Thomas 51 f., 288 Fazio, Domenico M. 36 f. Fehige, Christoph 8 f., 9 f. Fellmann, Ferdinad 10 f. Feuerbach, Ludwig 8 f., 9, 31, 37, 265 Figl, Johann 23 f., 257 f., 258 f. Fischer, Kuno 9 Frank, Hartwig 102 f. Frankl, Viktor E. 183 f. Frege, Gottlob 4 f., 7 f. Gadamer, Hans-Georg 111 f. Gentili, Carlo 38 f., 102 f. Gerhardt, Volker 8 f., 21 – 23, 26 f., 49 f., 102 f., 153 f., 157 f., 191 f. Gödde, Günter 276 f.

https://doi.org/10.1515/9783110701890-021

Goethe, Johann Wolfgang von 8 f., 19 f., 81, 102 f., 111, 124, 126, 212, 227, 232, 234, 237, 247, 266 Gori, Pietro 228 f. Haase, Marie-Luise 24 Hartmann, Nikolai 8 f., Hartmann, Karl Robert Eduard von 266 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 2, 4, 20, 21, 202, 251, 278, Heidegger, Martin 11 – 14, 20, 24, 272 – 275 Heilinger, Jan-Christoph 22 f. Heinrichs, Johannes 8 f. Heit, Helmut 51 f., 265 f., 282 f. Helmholtz, Hermann von 9 Heraklit 45, 56 – 58, 217 f., 255, 265, 285 f. Höffe, Otfried 191 f., 207 f. Hofmann, Johann Nepomuk 23 f., 257 f. Homer 38 – 39, 111, 133 f. Horaz 265 Hoyer, Timo 37 f. Husserl, Edmund 4 f., 7 f. Ibbeken, Claudia

284 f.

Jaspers, Karl 11 – 14, 23 Johannes 146 f., 285 f., Jung, Carl Gustav 251 f. Jung, Matthias 10 f., 274 f. Kant, Immanuel 4, 6, 19 f., 20 – 22, 41, 47, 55 f., 58, 79 f., 102 f., 111 f., 126, 155 f., 157 f., 159 f., 164, 187 f., 229, 232 f., 237, 243 f., 251, 254, 257, 270 f., 271, 278, 283, Kaulbach, Friedrich 20 – 21, 23, 175 f., 281 f. Kierkegaard, Søren 265 Klausen, Søren Harnow 1 f., 6 f., 7 Kleinert, Markus 51 f. Lampert, Laurence 25 f. Lange, Albert Friedrich 9, 36, 37, Leibniz, Gottfried Wilhelm von 11, 278, 283 f. Lichtenberg, Georg Christoph 41 f. Lotze, Hermann 5 – 6, 276 f. Loukidelis, Nikolaos 22 f., 276 f. Löwith, Karl 1, 34 f., 116

Personenregister

Maurer, Reinhart 23 f. Meggle, Georg 8 f. Montaigne, Michel de 234 f., 265 Müller, Enrico 49 f., 235 f., 255 f. Müller, Klaus-Detlef 234 f. Nehamas, Alexander 174 f. Newton, Isaac 159 Nicodemo, Nicola 46 f., 276 f. Orsucci, Andrea 94 f., 217 f. Ottmann, Henning 153 f., 174 f., 202 f. Ovid 243 Overbeck, Franz 118, 139 f. Pascal, Balise 126, 237, 265, 266 f. Platon 11 f., 58, 105, 126, 171, 180, 182, 187 f., 218, 229, 237, 247, 251, 265, 266 f. Petrarca 99, 100, 258 Plessner, Helmut 3 f. Pöggeler, Otto 273 f. Racine, Jean 111 Rauh, Horst Dieter 1 f., 285 f. Reibnitz, Barbara von 45 f. Reschke, Renate 102 f. Reuter, Sören 62 f., 65 – 66 f. Riccardi, Mattia 36 f. Rickert, Heinrich 6 Rilke, Reiner Maria 286 Rousseau, Jean-Jaques 81, 126, 237, 265 Russell, Bertrand 8 f. Saar, Martin 282 f. Scheler, Max 6, 183 f., 276 f. Schelling, Friedrich 1, 4, 21

291

Schnädelbach, Herbert 1 f., 3 f., 5 f., 6, 9 f., 10 f., 276 f. Schopenhauer, Arthur 8 – 10, 35, 36 f., 41, 45 f.,47, 48, 55 f., 56, 58 f., 71, 72, 77 – 83, 113, 114, 124, 126, 132 f., 149, 163, 164, 211, 215 f., 218, 222, 236, 237, 251, 255, 257, 258, 265 – 267, 275, 278, 279 Schuez, Peter 51 f. Seneca 39, 265, 272 f. Siemens, Hermann 102 f. Sokrates 44, 226, 235 f., 244 f., 247, 251, 265, 266 f. Sommer, Andreas Urs 162 f., 216 f. Sophokles 111 Spinoza, Baruch 126, 132, 166, 232, 237, 251, 265 Stegmaier, Werner 24, 159 f., 160, 187 f., 207 f., 234 f., 258 f. Theokrit 111 Thorgeirsdottir, Sigridur 51 f., 282 f. Tongeren, Paul van 46 f. Treiber, Ubert 94 f. Tugendhat, Ernst 273 f. Ulmer, Karl

13 – 20, 24, 25 f., 114 f., 274

Vattimo, Gianni 255 f. Voltaire 100, 107, 258 Wagner, Richard 43, 47, 87, 89, 113, 116 f., 138, 251, 255 Wessels, Ulla 8 f., 9 f. Wittgenstein, Ludwig 4 f., 7 f. Zirfas, Jörg 276 f. Zittel, Claus 174 f.

Sachregister Aufgabe 10, 13, 24 – 27, 34, 40, 42, 48 ff., 70, 77, 81 ff., 87 – 92, 93, 110, 112, 118 ff., 122, 129, 131, 139, 144, 160, 171, 178 ff., 182, 190, 213 ff., 232 ff., 240 ff., 248 ff., 253 – 286 Aufklärung 5, 7, 22, 98 ff., 103 ff., 207 ff., 258 ff

Herausforderung 10, 26 ff., 50, 87 ff., 116, 119, 144, 161, 171 ff., 215 ff., 233, 243, 252, 253 – 286

Beziehungs-Sinn 48, 54 Bildung/Kultur 34 f., 41 ff., 48, 54 ff., 67, 70 – 76, 78, 82 ff., 93, 114 – 117, 168, 206, 213, 231, 255, 259

Krankheit 35, 87 ff., 118 ff., 180 ff., 199, 203 ff., 232, 242, 267 ff., 277 Kunst 34 – 40, 41 – 53, 57, 59 ff., 62 – 69, 73, 75, 83, 91, 103 – 113, 136 – 141, 143, 154, 160, 207 – 216, 222 – 228, 235 f., 254 ff., 267 ff., 275 ff.

Dichtende Vernunft 125 ff., 143, 157, 187, 202, 210, 227, 256 ff., 266, 276 Einverleibung 110, 135, 139, 191, 258 Erfahren/Erfahrung 1 ff., 25 ff., 44, 60, 70, 74 ff., 105 ff., 123 – 129, 152 ff., 159 ff., 172, 191, 213 ff., 241 ff., 256 ff., 264, 274, 279 Erleben/Erlebnis 22, 36, 43, 46 – 48, 67, 94, 112, 121, 123 – 129, 139, 160, 237, 253 – 282 Erziehung 37 f., 77 ff., 137, 181 ff., 255 Ewige Wiederkehr des Gleichen 11 ff., 25, 110, 135 ff., 154 ff., 160, 227, 260, 280 ff. Existenz/Leben 5, 23, 27, 36 ff., 42, 47 ff., 69, 71 ff., 81 ff., 87 ff., 94, 97 ff., 102, 108, 111 ff., 118 – 123, 133, 135, 136 – 142, 145 ff., 151, 153 ff., 164 – 172, 177 ff., 183, 203 ff., 209, 211, 216 ff., 219 – 224, 230, 235 ff., 242, 251, 258, 260 ff., 269, 277 – 286 Existenzbedingungen 131, 135, 143, 241, 243 ff., 246, 255 ff., 273 Experiment 7, 26, 112 ff., 123 ff., 135 ff., 143 ff., 160, 215 ff., 228, 232, 240 ff., 252 ff., 257 ff., 264 ff., 282 ff. Freigeist 87 ff., 92 ff., 97, 100, 258 Freiheit 25, 33, 77, 92 ff., 156 ff., 183, 194 – 195, 205 ff., 216, 219 ff., 258, 271 Genealogie 31, 185 ff., 211 Geschmack 60, 106, 109 ff., 122 ff., 150 – 151, 172, 214, 255, 269 Geist 146 ff., 156 ff., 167, 176 ff., 183, 200, 211, 216, 223, 225, 232, 237, 259 ff., 278 https://doi.org/10.1515/9783110701890-022

Interpretation 24U, 25 ff., 61, 111 ff., 150 ff., 165 ff., 173 ff., 186 – 196, 204, 214 ff., 221 ff., 255 ff., 276

Lebensaufgabe 24 – 25, 233, 240, 254, 270 ff., 283 ff. Lebensbedingungen 24 ff., 103 ff., 115, 136 ff., 144 ff., 154, 159 ff., 171, 188, 207, 213 ff., 234 ff., 256 ff., 270, 274 ff. Lebensformen/Daseinsformen 1, 3, 18, 25 – asketischer Priester 197 – 216, 263 – das philosophische Leben 60 ff. – das souveräne Individuum 204 – 207, 210 – der Dichter (als Wegweiser für die Zukunft) 109 ff., 212 – der gute Europäer 182 ff., 278 ff. – der kontemplative Mensch 133 – die neuen Philosophen 178 ff. – Genius 75 – 83, 104, 114 ff., 281 – Künstler 47, 49 ff., 78, 104 ff., 222 – 228, 254 – künstlerisch schaffendes Subjekt 61 ff. – Philosoph 49 ff., 59 ff., 78 ff., 87 – 90, 167, 170 ff., 179 ff., 204 ff., 236 ff., 248 ff., 264 ff. – Wissenschaftler 38, 179 ff., 239, 259 – Zarathustra 144 ff., 158 f., 203, 227, 238, 245 ff. Lebensgestaltung 191, 223, 276 Lebenssinn 25, 160, 211, 273 ff., 279 ff. Leib 146 – 153, 157, 165 ff., 176, 183, 187 f., 214, 222, 259 ff., 271 ff. Leidenschaft der Erkenntnis 54, 118 – 123, 134 ff., 139, 143, 237, 258, 266 Machtverhältnisse 116, 167, 282 Mensch 6, 31 ff., 50, 62 – 67, 70, 79, 82, 91, 103, 133, 143 ff., 146, 150 – 152, 155,

Sachregister

164 ff., 175 f., 176 ff., 182, 182 – 217, 220, 223, 227, 229 ff., 245, 254, 258 ff., 271, 276 Moral 31, 34, 50 ff., 93, 101 ff., 111, 119 ff., 135, 139, 157 f., 162 – 164, 167 ff., 180, 183, 185 – 191, 201 – 208, 211, 215, 217 – 219, 229, 244, 247 ff., 263, 271 Nihilismus 10, 11 ff., 23, 121, 199 – 207, 217 ff., 226 ff., 249 ff., 263 – 269 Paradox 70,72, 279 ff. Pathos der Distanz 47, 50, 89, 171 ff., 182 ff., 189 – 199, 216 ff., 262, 267, 271, 283 Persönlichkeit 3, 33, 54 f., 60, 71, 206, 235 – 243, 251, 255, 278 Perspektive 160, 166, 174, 178, 183, 190, 207, 215, 230, 278 ff., 280 ff. Perspektivische, das 173 – 178, 268, 280 ff. Perspektivismus 174, 178, 280 ff. Philosophie 10, 20, 59 ff., 92 ff., 109 ff., 178 ff., 201, 209, 234 – 243, 252, 262 ff., 275 ff Rangordnung 167 – 178, 230, 239 Rechte Zeit 156 – 161, 285 Selbsterfahrung 27, 49 ff., 253 – 277 Selbstgestaltung 49 ff., 159, 202, 212, 251, 253 – 277 Selbstverwirklichung 24, 41 ff., 143 ff., 234 – 252, 265 Sinn 1 – 27, 42, 49 ff., 73 ff., 79, 96, 108 ff., 123 ff., 145 – 150, 152 ff., 159 ff., 170 ff., 178, 186, 193, 202 ff., 213 ff., 228, 252, 258 ff., 269, 274, 279 ff. Sinnbegriff 10 ff., 214, 274, 278

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Sinnerfindung 26 ff., 75, 145 – 161, 190, 214 ff., 228, 253 – 286 Sinnfrage/Frage nach dem Sinn des Lebens 1 – 27, 42, 60 ff., 73 ff., 91, 145 ff., 156, 178, 214, 219 – 222, 236, 267, 273 ff., 278 ff. Übermensch 11, 17, 24, 145 – 148, 154 ff., 161, 245, 252, 260 Umwertung aller Werte 12, 16, 24, 26, 83, 93, 113, 140, 162 – 184, 190, 199, 207, 213 – 216, 230 ff., 234 – 240, 248 ff., 259, 262 ff., 269 ff., 277, 284 ff. Verklärungsprozess 27, 46, 126, 154 ff., 182, 276 ff Verklärung /Verklärungsbegriff 10, 46 – 52, 104, 112 ff., 129, 137 – 143, 154 f., 207 – 216, 225, 232, 254 ff., 264, 269 – 277, 281 ff. Wahrheit 1 – 26, 63 ff., 71, 79 ff., 91 ff., 111 ff., 127, 134 – 135, 139, 150 ff., 162, 173, 201 ff., 227 ff., 243, 247, 255 ff., 268, 273 f., 275, 278 Wert 258, 2633 Wille zur Macht 11, 24, 26, 150 – 168, 178 ff., 183, 187, 190, 194, 216, 218 ff., 228, 260, 280, 284 Wissenschaft 38 ff., 50 ff., 71, 75, 81, 91 ff., 103 ff., 120, 124, 133 ff., 143, 163, 178 ff., 199 ff., 211, 226, 254 ff., 279 Zeit 26, 48, 158 ff., 178, 251, 280 Zeitbegriff/Zeitvorstellung 156 – 161, 280 Zeiterleben 25 ff., 139, 156 – 161, 251, 280 Zeitlichkeit 12, 156 – 161, 280