Spielräume des Anderen: Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater [1. Aufl.] 9783839418390

Die postdramatische Wende bedeutete eine radikale Selbstreflexion des Theaters und seiner Mittel, die zu spezifischen Au

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Spielräume des Anderen: Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater [1. Aufl.]
 9783839418390

Table of contents :
Inhalt
Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater. Zur Einführung
I. Theatertexte
Mit der Axt im Theatergrab(en). Geschlecht, Sacrum, Macht und Tod bei Elfriede Jelinek
Gender und Ethnizität als differierende Prinzipien postdramatischer Figurenkonzeption in Elfriede Jelineks frühen Theatertexten
Lüsterne Gräfinnen, mörderische Liebhaber. Über Pornografie, Kannibalismus und orgiastische Gewaltexzesse in Elfriede Jelineks Bambiland/Babel und Rechnitz (Der Würgeengel)
Hybride Identitäten und postdramatische Tendenzen bei Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoğlu
›Die Kamera liebt dich‹. Konstruktionen von Identität und Alterität in Martin Crimps. The Treatment und Attempts on her life
II. Inszenierungspraktiken
Encountering a Classic as Other in post-Brechtian Performance. A Radical Fräulein Julie at the Berliner Ensemble in 1975
Polyphonie der Stimmen – Polyphonie der Geschlechter. Die Bühne als Hör-Raum im postdramatischen Theater Elfriede Jelineks
Königinnendrama und Postdramatisches Theater. Zur Eskalation der Rede in Friedrich Schillers Maria Stuart und Elfriede Jelineks/Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart
Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart. Die RAF als diskursive Projektionsfläche weiblicher politischer Macht
Der ›Einbruch von Realität‹. Behinderung im postdramatischen Theater Jelineks und Marthalers
Mythen weiblicher (Ohn-)Macht und ihre Demontage im Theater. Machträume bei Bobby Baker und Elfriede Jelinek
Das Theater der Anderen: Antigone
III. Gespräche
An der Schnittstelle. Theater und Performance zwischen. Theorie und politischem Aktivismus
›Keine besonders weibliche Handschrift‹

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Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen

Theater | Band 38

Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.)

Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-1839-6 PDF-ISBN 978-3-8394-1839-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Zur Einführung Nina Birkner/Andrea Geier/Urte Helduser | 9

I. T HEATERTEXTE Mit der A xt im Theatergrab(en) Geschlecht, Sacrum, Macht und Tod bei Elfriede Jelinek Artur Pełka | 23

Gender und Ethnizität als differierende Prinzipien postdramatischer Figurenkonzeption in Elfriede Jelineks frühen Theatertexten Anja Schonlau | 41

Lüsterne Gräfinnen, mörderische Liebhaber Über Pornografie, Kannibalismus und orgiastische Gewaltexzesse in Elfriede Jelineks Bambiland/Babel und Rechnitz (Der Würgeengel) Jan Süselbeck | 59

Hybride Identitäten und postdramatische Tendenzen bei Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoğlu Tobias Zenker | 79

›Die Kamera liebt dich‹ Konstruktionen von Identität und Alterität in Mar tin Crimps The Treatment und Attempts on her life Nina Birkner | 95

II. I NSZENIERUNGSPRAK TIKEN Encountering a Classic as Other in post-Brechtian Performance A Radical Fräulein Julie at the Berliner Ensemble in 1975 David Barnett | 111

Polyphonie der Stimmen – Polyphonie der Geschlechter Die Bühne als Hör-Raum im postdramatischen Theater Elfriede Jelineks Verena Ronge | 129

Königinnendrama und Postdramatisches Theater Zur Eskalation der Rede in Friedrich Schillers Maria Stuart und Elfriede Jelineks/Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart Anne Fleig | 143

Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart Die RAF als diskursive Projektionsfläche weiblicher politischer Macht Swantje Nölke | 165

Der ›Einbruch von Realität‹ Behinderung im postdramatischen Theater Jelineks und Mar thalers Urte Helduser | 177

Mythen weiblicher (Ohn-)Macht und ihre Demontage im Theater Machträume bei Bobby Baker und Elfriede Jelinek Karen Jürs-Munby | 195

Das Theater der Anderen: Antigone Katharina Pewny | 211

III. G ESPRÄCHE An der Schnittstelle Theater und Per formance zwischen Theorie und politischem Aktivismus Franziska Bergmann: Gespräch mit Gin/i Müller | 223

›Keine besonders weibliche Handschrift‹ Nina Birkner: Gespräch mit Rebekka Kricheldorf | 233

Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Zur Einführung Nina Birkner/Andrea Geier/Urte Helduser

»Ich will kein Theater, ich will ein anderes Theater«1 – mit dieser Forderung hat Elfriede Jelinek 1989 ihre Ablehnung des repräsentationalen Theaters bei gleichzeitigem Insistieren auf dem Theater als (autonomer) Kunstform pointiert zum Ausdruck gebracht. Diese Position ist paradigmatisch für das sogenannte ›postdramatische Theater‹, das als Kategorie eine Vielfalt von ästhetischen Tendenzen im Gegenwartstheater der (mindestens) letzten dreißig Jahre umfasst. Dabei zeigt das Präfix ›post‹ an, dass nicht mehr der schriftlich fixierte Text im Zentrum der Aufführungs- und Inszenierungspraxis steht, sondern alle theatralen Gestaltungsmittel – alle räumlichen, visuellen und akustischen Zeichen – als gleichrangige Elemente anerkannt werden (vgl. Drewes 2012: 72). Mit dieser ›Entliterarisierung‹ bzw. ›Retheatralisierung‹ des Theaters hat zugleich eine Öffnung zu anderen, nicht literarischen Formen des Theatralen (etwa Performance, Tanz, Happening) und eine Entgrenzung zu anderen Künsten und Medien (u.a. Film, Fotografie, Bildende Kunst, Musik, Tanz, Internet) stattgefunden. Der Begriff des postdramatischen Theaters bezieht sich zum einen auf bestimmte Inszenierungspraktiken. Kennzeichnend sind die Ablehnung der Vorherrschaft des literarischen Textes und damit korrelierend die Aufwertung der genuin szenischen Darstellungsmittel, die Auffassung 1 | Der Satz bildet die Überschrift zu einem Interview, das Anke Roeder mit der Autorin führte (Jelinek 1989). Zur programmatischen Bedeutung für Jelineks Werk siehe Janke 2007.

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von der ästhetischen und semiotischen Eigenständigkeit der szenischen Darstellung, die Absage an die Prinzipien der Mimesis und der Fiktion und damit die Bejahung einer nicht-repräsentationalen Ästhetik, die »dem Zuschauer andere Haltungen abfordert als die des Nachvollzugs einer Narration. Das Gegenwartstheater lässt vielmehr seine Wahrnehmung selbst zum Thema werden, indem es die Grenzen zwischen Fiktion und Realität und zwischen Zuschauern und Akteuren verschiebt oder mit der Aufmerksamkeit des Publikums« (Fischer-Lichte 2006: 6) spielt.2 Zum anderen verweist der Begriff auf solche »Tendenzen in der literarischen Praxis […], die postdramatische Schreibweisen in schriftlich fixierten Texten erkennen lassen« (Drewes 2012: 77). Wie unter anderem Gerda Poschmann herausgearbeitet hat, werden seit den achtziger Jahren in Theatertexten die für die dramatische Form konstitutiven Strukturprinzipien der »Figuration, Narration und Fiktion« (Poschmann 1997: 41) zunehmend kritisch genutzt. Im Extremfall werden ›Sprachflächen‹ ohne klare Trennung von Haupt- und Nebentext und ohne eindeutige Sprecherzuweisung verfasst. Den Stücken fehlt also die Wirklichkeit – im Sinne einer Realitätssimulation – als Referenzgröße (vgl. Jaeger 2007: 107). Indem das figurativ-narrative innere Kommunikationssystem etwa durch ein »selbstbezügliches Spiel mit der dramatischen Form, Irreführung der Rezipienten oder Verlagerung des Interesses auf die Funktion der Sprache« (Poschmann 1997: 56) dekonstruiert wird, tritt die Ebene der dargestellten Fiktion hinter die Wirkungs- und Materialebene der jeweiligen Theatertexte zurück. Auf diese Weise entsteht eine »Texttheatralität, die konventionell repräsentationale Verfahren theatraler Bedeutungserzeugung reflektiert. Objekt der kritischen Reflexion sind dabei das Drama, die Funktionsweise theatraler Bedeutungskonstitution und das System symbolischer Sprache« (Poschmann 1997: 98). In seiner einschlägigen, das postdramatische Theater zuerst historiografisch und systematisch erfassenden Studie (1999) konnte Hans-Thies Lehmann bereits ein umfangreiches Panorama von postdramatischen Ansätzen bei Autoren wie Rainald Goetz, Heiner Müller und Peter Handke oder Regisseuren wie Robert Wilson und Einar Schleef aufzeigen. Inzwischen ist dieses Spektrum noch deutlich erweitert worden. So haben von Lehmann noch nicht oder nur am Rande erwähnte Theaterschaffen2 | Vgl. hierzu exemplarisch den Band von Tigges/Pewny/Deutsch-Schreiner 2010.

Einführung

de wie René Pollesch, Christoph Schlingensief, Nicolas Stemann, Rimini Protokoll, She She Pop, Showcase Beat le Mot oder auf internationaler Ebene Meg Stuart, Katie Mitchell oder The Wooster Group verschiedene Spielarten des postdramatischen Theaters geprägt. Autorinnen wie Katja Brunner, Gesine Danckwart, Nora Mansmann, Kathrin Röggla, Barbara Weber oder Felicia Zeller3 lösen sich auf unterschiedliche Weise vom repräsentationalen Theatermodell, indem sie in ihren Texten nicht mehr auf ungebrochene Fiktionsherstellung zielen. Das Postdramatische – das mögen gerade auch Ansätze der Revision und der Historisierung belegen – kann inzwischen in der (deutschsprachigen) Theaterlandschaft als etabliert gelten.4 Als anderes Theater erweist sich das postdramatische Theater zunächst auf ästhetischer Ebene durch seine kritische Bezugnahme auf die theatralen Mittel des repräsentationalen Theaters und seine institutionellen Formen. Wie auf der ästhetischen wird aber auch auf der thematischen Ebene der Fiktions- bzw. Konstruktionscharakter alles Wirklichen reflektiert. Die postdramatischen Theatertexte und Aufführungen schaffen einen Erkenntnisraum, der den Zuschauern die soziokulturelle Konstruktion gesellschaftlicher Normen sowie deren psychische Verankerung und körperliche Manifestation im Subjekt bewusst macht. Insofern lassen sich die Auflösung der Einheit von Figuren und Verkörperung (z.B. durch Jelineks berüchtigte ›Textflächen‹) sowie die Verfahren des Antiillusionismus und der Sinndestruktion als Strategien einer Ästhetik des Anderen – der Alterität statt Identität – verstehen.5 Mit der kritischen Reflexion des traditionellen Theaters, wie sie pointiert in Jelineks programmatischer Forderung nach einem ›anderen Theater‹ zum Ausdruck kommt, korreliert also eine Auseinandersetzung mit kulturellen Alteritätsdiskursen.

3 | Zur jüngeren Generation der Theaterautorinnen vgl. den von Christine Kün­ zel herausgegebenen Porträt-Band (Künzel 2010). Künzel setzt ihre Be­s tands­a uf­ nah­m e in direkten Bezug zu Anke Roeders 1989 erschienenem Band Autorinnen: Herausforderungen an das Theater (Roeder 1989). 4 | Vgl. z.B. das Themenheft der Zeitschrift Theater heute mit dem Titel »Das Ver­ sprechen der Postdramatik« (Oktober 2008) sowie Primavesi 2004, Hoogen­b oom/ Karschnia 2007, Matzke/Weiler/Wortkamp 2012. Zur Kritik am nicht mehr drama­ tischen Theatertext vgl. Haas 2007. 5 | Vgl. dazu auch Finter 2004, bes. S. 237 sowie Eiermann 2009.

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Besonders evident mag dies zunächst im Hinblick auf die Dimension Geschlecht sein.6 Zentrale Impulse für das postdramatische Theater sind von (feministischen) Autorinnen wie Jelinek, Sarah Kane, Marlene Streeruwitz oder Dea Loher ausgegangen, die Geschlechterfragen zum Gegenstand ihrer Texte gemacht 7 und dies vielfach auch mit theatertheoretischen Überlegungen verbunden haben.8 Das manifestiert sich auch in der Inszenierungspraxis, wie vor allem Nicolas Stemanns vieldiskutierte Inszenierung von Jelineks Ulrike Maria Stuart (2006) zeigt (vgl. Gutjahr 2007 sowie die Beiträge von Fleig und Nölke in diesem Band). Die Dekonstruktion theatraler Weiblichkeitsmuster hat zudem im Zentrum postdramatischer Klassiker-Inszenierungen von Regisseuren wie Michael Thalheimer (Emilia Galotti, 2001; Medea, 2013) oder Nora Schlocker (Madame Bovary, 2011) gestanden. Spätestens seit der Jahrtausendwende dürften Konzeptionen des Anderen im Hinblick auf Ethnizität (auch im deutschsprachigen Theater) an Bedeutung gewonnen haben. Im Zuge von Globalisierungsdiskursen sind Themen wie Migration und Interkulturalität zunehmend in den Blick gerückt und damit Konstruktionen des ethnisch ›Anderen‹ innerhalb des westlichen Theaterkanons problematisiert worden.9 Zudem haben sich Formen des interkulturellen Theaters etabliert,10 die durch ästhetische Verfahren der Repräsentationskritik gekennzeichnet sind und somit als postdramatisch gelten können (vgl. Regus 2009: bes. 271-277). Schließlich ist mit dem postdramatischen Theater auch eine Hinwendung zu körperlicher Alterität, zur Thematisierung und Inszenierung des ›anderen‹, ›devianten‹ oder behinderten Körpers verknüpft (vgl. Lehmann 4 2008: 162-167). Man denke neben Christoph Schlingensiefs Theater6 | Vgl. hierzu auch die Sammelbände von Pailer/Schößler 2011 sowie Ellmeier/ Ingrisch/Walkensteiner-Preschl 2011. 7 | Zu Jelinek vgl. Schößler 2006, zu Loher vgl. Werner 2006, Sugiera 2004. 8 | Vgl. dazu die theaterpoetologischen Texte von Jelinek 1990 und Streeruwitz 1997 sowie Roeder 1989 und Künzel 2010. 9 | Vgl. z.B. Stefan Puchers Othello-Inszenierung (Hamburg, Thalia Theater 2004) oder Stücke wie Dea Lohers Unschuld und seine Inszenierung durch Michael Thalheimer (Deutsches Theater Berlin, 2011). 10 | Vgl. schon Lehmanns allerdings skeptische Bemerkungen zum ›interkulturellen Theater‹ im Epilog zu seinem Band (Lehmann 42008: 453-456). Zur Theaterund Dramengeschichte des ›Anderen‹ vgl. außerdem Balme 2001.

Einführung

arbeiten – seiner (gescheiterten) Operninszenierung von Moritz Eggerts Freax (Bonn 2007) bis hin zum TV-Projekt Freakstars 3000 (vgl. Koerner 2012) und seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Schauspielern mit Behinderung – an erfolgreiche und teils umstrittene Theaterproduktionen wie etwa Jérôme Bels 2013 zum Berliner Theatertreffen eingeladene Produktion Disabled Theater mit dem Zürcher Theater Hora. Inwiefern das postdramatische ›andere Theater‹ auch als ›Theater des Anderen‹ gelten kann, inwiefern es Alterität – in Bezug auf Geschlecht, Ethnizität oder Konstruktionen körperlicher Normalität – thematisch und in seinen ästhetischen Praktiken reflektiert, ist die leitende Frage des vorliegenden Bandes, die in Bezug auf Theatertexte und -theorien sowie in Bezug auf Inszenierungspraktiken verfolgt wird. Erweisen sich die Stücke Jelineks und ihre Inszenierungen immer wieder als ›Fluchtpunkt‹ der Diskussion, so widmen sich die hier versammelten Beiträge einem weiten Spektrum unterschiedlicher Spielarten der Postdramatik von den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Z U DEN B EITR ÄGEN Der erste Teil des Bandes widmet sich der Reflexion von Alterität in postdramatischen Theatertexten und -poetiken. Dabei wird analysiert, wie Alteritäten ästhetisch (de-)konstruiert werden. Zudem werden die Korrelationen zwischen den thematisierten Alteritäten und der ästhetischen Form der jeweiligen Theatertexte beleuchtet. Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Thematik und Ästhetik? Lassen sich Ähnlichkeiten, Differenzen und Interdependenzen zwischen verschiedenen Alteritäten beobachten – genauer: Gibt es spezielle Darstellungsformen für verschiedene, beispielsweise für ethnische und geschlechtsspezifische Alteritäten? Artur Pełka untersucht in seinem Beitrag die Thematisierung von Geschlecht und Macht in Jelineks Theater im Kontext der in ihren Texten leitmotivisch wiederkehrenden christlich-katholischen ›Sacrum‹-Motivik. Pełka zeigt Jelineks subversive Aneignung sakraler Symbolik von dem frühen Theatertext Krankheit oder Moderne Frauen (1987) über Macht nichts. Eine Trilogie des Todes (1999) bis hin zu Nicolas Stemanns Inszenierung von Ulrike Maria Stuart (2006) auf und macht deutlich, dass mit der ›textuellen Desakralisierung‹ eine ›Entsakralisierung des Theaters‹ einhergeht.

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Anja Schonlau geht anhand von Jelineks frühen Theatertexten der Frage nach, ob die Thematisierung ethnischer Alterität zu einer anderen Figuren- bzw. Stimmenkonzeption führt als die Thematisierung geschlechtsspezifischer Alterität. Sie arbeitet unter anderem am Beispiel von Wolken.Heim (1988) heraus, dass ethnische Alterität häufig in Form von Rassismus thematisiert wird, der wiederum von einem gesellschaftlichen Kollektiv – und zwar den Tätern – ausgeht. Das Kollektiv ist zwar heterogen, wird aber durch das zentrale historische Ereignis der Shoa an eine gemeinsame Erinnerungsarbeit gebunden: Es äußert sich daher in einer gemeinsamen Stimme und wird somit tendenziell als Sprachfläche dargestellt, während in der Auseinandersetzung mit Geschlechterdifferenzen eher als Prototypen und Popanze konzipierte Figuren auftauchen. Jan Süselbeck verfolgt in seinem Beitrag Parallelen zwischen Jelineks Theatertexten Bambiland (UA 2003), Babel (UA 2005) und Rechnitz (Der Würgeengel) (UA 2008), indem er die den Stücken inhärente Verknüpfung von sexueller Gewalt, Pornographie und Genozid beleuchtet und unter dem Aspekt der Konstruktion von Alterität deutet. Die für Jelineks Texte konstitutive Montagetechnik, mit der sie etwa das Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern in Rechnitz 1945 mit dem aufsehenerregenden Fall des ›Kannibalen von Rotenburg‹ aus dem Jahr 2007 verknüpft, interpretiert Süselbeck als eine auf die Verfahren der Kolportage rekurrierende Strategie der Emotionalisierung der Zuschauer. Tobias Zenker befasst sich mit Theatertexten deutsch-türkischer Autoren – mit Karagöz in Alamania (1982) und Karriere einer Putzfrau (1990) von Emine Sevgi Özdamar sowie mit Schwarze Jungfrauen (2006) von Feridun Zaimoğlu und Günter Senkel. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass die ästhetische Spezifik dieser Stücke in der Rezeption durch Zuschauer und Literaturkritik vorschnell im Sinne kultureller ›Andersheit‹ gedeutet worden ist. Dagegen lenkt Zenker den Fokus auf die literarästhetische Gestaltung der Theatertexte und zeigt, dass und mit welchen Mitteln hier die gängigen Vorstellungen vom ›Fremden‹ problematisiert werden. Nina Birkner setzt sich mit Martin Crimps The treatment (1993) und Attempts on her life (1997) auseinander, zwei Stücke, in denen die Schwierigkeiten der Identitätsfindung unter dem Einfluss der Massenmedien thematisiert werden. Dabei macht sie deutlich, dass das Subjekt bei Crimp mit zwei Problemen zu kämpfen hat. Es setzt sich erstens zu den vorherrschenden, vorwiegend medial geprägten Rollenmustern in Bezug und muss sich im Vergleich dazu notwendig als das ›Andere‹, von der

Einführung

Norm Abweichende, empfinden. Zweitens werden dem Individuum von ›anderen‹ bestimmte Attribute zugeschrieben – eine Festlegung, die für Crimp die Gefahr der Vereinnahmung oder der Stigmatisierung birgt. Der zweite Teil des Bandes widmet sich postdramatischen Inszenierungspraktiken. Da das postdramatische Theater nicht darauf zielt, einen Bedeutung generierenden Dramentext zu illustrieren, sondern das materielle Bühnengeschehen als gleichwertig neben den Text zu stellen, kommentieren bzw. dekonstruieren viele postdramatische Inszenierungen die in den jeweiligen Theatertexten thematisierten Alteritäten. Auch für die Performance-Kunst ist die Auseinandersetzung mit der soziokulturellen Konstruktion von Geschlecht, Ethnizität und körperlicher ›Normalität‹ konstitutiv. In den Beiträgen wird diskutiert, durch welche theatralen Akte Alterität kodiert bzw. Normen destabilisiert werden (Kleidung, Gestik, Proxemik, Sprechmodi etc.) und in welchem (Spannungs-)Verhältnis dabei Theatertext und Inszenierung bzw. Aufführung stehen. Hans-Thies Lehmanns Bestimmung des postdramatischen Theaters als ›post-Brechtsches‹ Theater bildet den Ausgangspunkt für David Barnetts Analyse einer frühen postdramatischen Inszenierung von August Strindbergs Fräulein Julie (1888) am Berliner Ensemble. Die Inszenierung von Bernhard Klaus Tragelehn und Einar Schleef aus dem Jahr 1975 wurde von der Kritik fast einhellig negativ besprochen und als ›modernistisches Experiment und Sakrileg am Erbe Brechts‹ verurteilt. Barnett untersucht die für die Inszenierung konstitutiven post-Brechtschen Elemente und begreift Strindbergs naturalistischen Einakter dabei als das ›Andere‹, mit dem sich die Regisseure spielerisch auseinandersetzen. Verena Ronge widmet sich den Theatertexten Jelineks aus bühnenpraktischer Perspektive: Indem Jelineks Textflächen das Sprechen von der Figur lösen, ermöglichen sie Inszenierungen und Aufführungen, die die soziale Konstruktion von Geschlecht deutlich machen. Auf dem Theater verweist das hybride, ortlose, von den Figuren gelöste Sprechen auf die Abwesenheit des Körpers und auf dessen diskursive Überformung. Die Dimension des Akusmatischen kreiert so einen ›dritten‹ Raum, der die Zuschauer für eine Wahrnehmungsoption jenseits binärer Geschlechtercodes sensibilisiert. Eine nochmalige Steigerung erfährt diese Konzeption in der Figur des Chores, die die durch das polyvoke Sprechen sowie die Auflösung von Körpergrenzen intendierte Entsemantisierung scheinbarer Bedeutungszusammenhänge auf die Spitze treibt.

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In ihrem Beitrag zu Jelineks/Stemanns Ulrike Maria Stuart (2006) verfolgt Anne Fleig die theatrale Reflexion weiblicher Machtansprüche als ›Sprechwut‹. Sie wird als Ausdruck weiblichen Machtanspruchs schon im Prätext zu Jelineks Stück, in Friedrich Schillers Maria Stuart (1800), zum Kennzeichen der Überschreitung von Geschlechternormen, mit dem die Konventionen der Gattung herausgefordert werden. Das wird in Jelineks/ Stemanns Ulrike Maria Stuart gesteigert: Hier tritt die als ›aggressive SelbstSetzung‹ fungierende ›Eskalation der Rede‹ in ein Spannungsverhältnis zur postdramatischen Figurendekonstruktion, durch die die weibliche Selbstermächtigung als bloßer Effekt der Rede demaskiert wird. Damit verweist die postdramatische Inszenierung, die mit Hilfe von Sprache die herrschenden (Geschlechter-)Normen zu dekonstruieren sucht, sich selbst in ihre Grenzen und setzt dieses ›Dilemma der Dekonstruktion‹ gleichsam in Szene. Mit Jelineks/Stemanns Ulrike Maria Stuart befasst sich auch Swantje Nölke, die die These vertritt, dass die für den Theatertext konstitutiven intertextuellen Verweise auf die RAF und Schillers Maria Stuart lediglich als Vehikel dienen, um die Frage nach den Möglichkeiten weiblicher Herrschaft diskursiv zu verhandeln. Durch Jelineks Montagetechnik und die postdramatischen Inszenierungselemente wird der Konstruktionscharakter sozialer Normen spielerisch aufgedeckt, ohne dass sich Autorin und Regisseur eindeutig (politisch) positionieren. Urte Helduser setzt sich mit körperlicher Alterität im postdramatischen Theater auseinander. Ausgehend von aktuellen Theaterproduktionen von und mit Menschen mit Behinderung und im Rekurs auf die Theatergeschichte des ›anderen Körpers‹ widmet sie sich der theaterästhetischen Reflexion von Behinderung in Jelineks Burgtheater (1985) und Christoph Marthalers Schutz vor der Zukunft (2005). In beiden Stücken dient der ›andere Körper‹ der Durchkreuzung der Bühnenfiktion und damit der Reflexion theatraler Repräsentation. Karen Jürs-Munby vergleicht dagegen die postdramatischen Performances der englischen Künstlerin Bobby Baker mit den nicht mehr dramatischen Theatertexten Jelineks im Hinblick auf ihre Auseinandersetzungen mit den Mythen weiblicher (Ohn-)Macht und deren Dekonstruktion auf dem Theater. Anhand Bakers Daily Life Series (1988-2001) und Jelineks Prinzessinnendramen (2002) macht Jürs-Munby deutlich, dass beide Künstlerinnen – trotz ihrer verschiedenen ästhetischen Prämissen und Produktionsweisen – zu ähnlichen künstlerischen Strategien greifen, um die herrschenden Geschlechterbilder als moderne Mythen zu demontieren.

Einführung

Katharina Pewny untersucht in ihrem Beitrag die Implikationen des Anderen in der phänomenologischen Philosophie Emmanuel Lévinas’ und macht dessen ethisches Modell für die Theaterwissenschaft fruchtbar: Am Beispiel von Lot Vekemans Theatertext Zus van – Schwester von (2005), einem Monolog der mythischen Ismene, der Schwester Antigones, zeigt sie auf, dass die Aufführungssituation als Begegnung mit dem ›Anderen‹ im Sinne Lévinas’ gelesen werden kann. Dem Publikum von Zus van wird in der Aufführungssituation ein Raum eröffnet, sich gegenüber dem verletzlichen Anderen, repräsentiert durch Ismene, zu verantworten – wodurch sich nach Lévinas wiederum das Menschliche konstituiert. Den Band schließen zwei Gespräche mit jüngeren Künstlerinnen ab. Franziska Bergmann spricht mit der Performancekünstlerin und politischen Aktivistin Gin/i Müller über ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konstruktionen von Geschlecht und die Möglichkeiten der Dekonstruktion (hetero-)normativer Wahrnehmungsweisen in ihren Arbeiten. Die Theaterautorin Rebekka Kricheldorf distanziert sich in ihrem Gespräch mit Nina Birkner von Konzeptionen weiblicher Autorschaft und macht gesellschaftliche Geschlechterklischees zu einem Gegenstand ihrer Stücke. Der vorliegende Band geht auf ein gemeinsames, an den Universitäten Jena, Marburg und Trier durchgeführtes Forschungsprojekt zu Gender und Genre im postdramatischen Theater zurück. Die Beiträge sind aus der im November 2010 veranstalteten internationalen Trierer Tagung Anderes Theater – Theater des Anderen hervorgegangen und wurden um weitere ergänzt. Leider ist es bei der Drucklegung zu unvorhersehbaren Verzögerungen gekommen. Die Herausgeberinnen danken den Autorinnen und Autoren für ihre Geduld. Für die Unterstützung des Drucks danken wir den Freunden und Förderern und dem Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, außerdem dem Historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum Trier. Für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung des Bandes möchten wir uns sehr herzlich bei Jessica Helbig, Marietta Kahle und Anja Thiele (Jena) sowie Raphael Heibel (Trier) bedanken.

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L ITER ATUR Balme, Christopher (Hg.) (2001): Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen: Francke. Drewes, Miriam (2012): »Theater jenseits des Dramas. Postdramatisches Theater«, in: Peter W. Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart: Metzler, S. 72-84. Eiermann, André (2009): Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste. Bielefeld: transcript. Ellmeier, Andrea/Ingrisch, Doris/Walkensteiner-Preschl, Claudia (Hg.) (2011): Gender Performances: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, Wien u.a.: Böhlau. Finter, Helga (2004): »Identität und Alterität: Theatralität der performativen Künste im Zeitalter der Medien«, in: Walter Bruno Berg/Klaus Kiewert/Florencia Martin u.a. (Hg.), Fliegende Bilder, fliehende Texte. Identität und Alterität im Kontext von Gattung und Medium, Frankfurt a.M.: Vervuert, S. 233-248. Fischer-Lichte, Erika/Gronau, Barbara/Schouten, Sabine (2006): »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit, S. 6-13. Gutjahr, Ortrud (Hg.) (2007): Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg: Königshausen & Neumann. Haas, Birgit (2007): Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien: Passagen-Verlag. Hoogenboom, Marijke/Karschnia, Alexander (Hg.) (2007): Na(ar) het theater – after theatre? Supplements to the International Conference on Postdramatic Theatre, Amsterdam: Amsterdam School of Arts. Jaeger, Dagmar (2007): Theater im Medienzeitalter. Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller, Bielefeld: Aisthesis. Janke, Pia (Hg.) (2007): Elfriede Jelinek: ›Ich will kein Theater‹. Mediale Überschreitungen, Wien: Praesens-Verlag. Jelinek, Elfriede (1989): »›Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater‹. Gespräch mit Elfriede Jelinek«, in: Anke Roeder (Hg.), Autorinnen: Herausforderungen an das Theater, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 141-160.

Einführung

Jelinek, Elfriede (1990): »›Ich möchte seicht sein‹«, in: Christa Gürtler (Hg.), Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik, S. 157-161. Jelinek, Elfriede (1997): »›Sinn egal. Körper zwecklos‹«, in: dies., Stecken, Stab und Stangl. Neue Theaterstücke. Mit einem Text zum Theater, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, S. 7-13. Koerner, Morgan (2012): »Subversions of the Medical Gaze: Disability and Media Parody in Christoph Schlingensief's Freakstars 3000«, in: Gabriele Mueller/James Martin Skidmore (Hg.), Cinema and social change in Germany and Austria, Waterloo, Ont.: Wilfrid Laurier University Press, S. 59-75. Künzel, Christine (Hg.) (2010): Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute, Berlin: Theater der Zeit. Lehmann, Hans-Thies (42008): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Matzke, Annemarie/Weiler, Christel/Wortelkamp, Isa (Hg.) (2012): Das Buch von der angewandten Theaterwissenschaft, Berlin u.a.: Alexander-Verlag. Pailer, Gaby/Schößler, Franziska (Hg.) (2011): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam u.a.: Rodopi. Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Niemeyer. Primavesi, Patrick (2004): »Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen«, in: Text + Kritik Sonderband XI, S. 8-26. Regus, Christine (2009): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus, Bielefeld: transcript. Roeder, Anke (Hg.) (1989): Autorinnen: Herausforderungen an das Theater, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schößler, Franziska (2006): »›Sinn egal. Körper zwecklos‹. Elfriede Jelineks Demontage des (männlichen) Theaterbetriebs«, in: Der Deutschunterricht 58, H. 4, S. 46-55. Streeruwitz, Marlene (1997): Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sugiera, Malgorzata (2004): »Beyond Drama: Writing for Postdramatic Theatre«, in: Theatre Research International 1, S. 16-28.

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Tigges, Stefan/Pewny, Katharina/Deutsch-Schreiner, Evelyn (Hg.) (2010): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld: transcript. Werner, Birte (2006): »Das Drama ist die Wirklichkeit. Theatertexte von Autorinnen der 1990er Jahre. Gesine Danckwart, Dea Loher, Theresia Walser«, in: Der Deutschunterricht 58, H. 4, S. 63-73.

I. Theatertexte

Mit der Axt im Theatergrab(en) Geschlecht, Sacrum, Macht und Tod bei Elfriede Jelinek Artur Pełka

Am Anfang war die Axt. Mit ihr schlägt Elfriede Jelinek in den frühen 80er Jahren, wie eine ihrer Theaterschriften kundgibt, auf das traditionelle Theater »drein« (Jelinek 1984: 15). Von Anbeginn steht die Autorin mit ihren Theatertexten und sie begleitenden theoretischen Reflexionen der herrschenden dramatisch-theatralen Form und Praxis kritisch gegenüber. In einem Interview von 1989 legt sie folgendes Statement ab: »Den Wunsch, Leben zu erzeugen auf dem Theater, der fast alle Schriftsteller angezogen hat, lehne ich ab. Ich will genau das Entgegengesetzte: Unbelebtes erzeugen. Ich will dem Theater das Leben austreiben. – Ich will kein Theater.« (Roeder 1989: 153) Der Wille nach einem »andere[n] Theater« (ebd.: 156) hängt generell mit ihrem Zweifel am Konzept der dramatischen Repräsentation zusammen. So verzichtet die Autorin bereits in ihren frühen Theatertexten auf Illusion, stattdessen wird hier eine idiomatisierte Kunstsprache zum eigentlichen Handlungsträger. Während die frühen Theatertexte mehr oder weniger den Kategorien des traditionellen Dramas zugeordnet werden können, tendiert Jelinek seit den 1990er Jahren zu einer nicht unproblematisch1 als ›postdramatisch‹ bezeichneten Schreibweise.2 In der Tat stehen ihre als ›Drama‹ oder ›Stück‹ deklarierten Werke eher der Prosa als Bühnentexten nah. So verzichtet Jelinek fast gänzlich auf Bühnenan1 | Vgl. z.B.: Haas 2007 und Raddatz 2011. 2 | Bezeichnend ist, dass seit dieser Wende Jelineks Theatertexte Erfolge feierten, was früher nicht unbedingt der Fall war. Zur postdramatischen Dimension von Jelineks Bühnenstücken im Kontext der aktuellen theaterwissenschaftlichen Debatte vgl. Klein 2007 sowie Lücke 2008, bes. 101-151.

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weisungen, Rollenverteilung und traditionelle Dialoge, die sie durch eine spezifische Art von Dialogizität ersetzt. Ihre Theatertexte konstituieren sich nämlich durch Reden, die keine Zwiegespräche darstellen, sondern in sich dialogisch sind, d.h. sogar vielstimmig in dem Sinne, dass im Redefluss eines Textes unterschiedliche, einander widersprechende Diskurse aufeinander treffen und derart zu Repliken geraten. Diese spezifische Dialogizität besitzt eine eigenartige alteritäre Dimension, denn der jeweils ›andere‹ Diskurs als Gegenrede ist nicht nur ein komplementäres Gegenstück einer vermeintlich eigentlichen oder ›wahren‹ Rede, sondern diese ist angewiesen auf und kontaminiert durch ihren angeblichen Widerpart. So heißt es bei Jelinek in ihrem Essay Theatergraben von 2005: »Warum nicht ein Theater der Zurückhaltung, wo Fremde zu Fremden Fremdes sprechen, nur aus andren Mündern, die auch fremd sind, aber wissen, was ein andrer gesagt hat? Fremdes sprechen, das nur irgendwann einmal einem vertraut war, der darin zu Hause war?« (Jelinek 2005) Diese formale Alterität korrespondiert mit entsprechenden Inhalten: Das zentrale und übergreifende Thema von Jelineks Theatertexten ist die Frage nach der individuellen und gemeinschaftlichen Identität im Kontext der Ab- und Ausgrenzung von (genderspezifisch, ethnisch, national, kulturell etc.) anderen, wodurch zwangsläufig entsprechende Binaritäten und Hierarchien (Herren – Knechte, Täter – Opfer usw.) zugleich evoziert und dekuvriert werden. Die von Jelinek für das Theater geschriebenen Texte, wie postdramatisch sie auch sein mögen, besitzen immer ein starkes dramatisches Potential, d.h., sie erscheinen als intentional entworfene Inszenierungen, die sich beinahe plakativ im Spannungsfeld von Performanz und Performativität ansiedeln lassen. Denn auch wenn die Texte konstitutiver Elemente des Dramas entbehren und zu ›Sprachflächen‹ mutieren oder sich im Extremfall als ›Sprachfluten‹ ausbreiten, verlangen sie nach Figuren. Entsprechend bekennt die Autorin in dem Jossi Wieler gewidmeten Text Die Leere öffnen: »Das Sprechen sind die Personen, deren Verhalten und deren Verhältnisse erst der Regisseur macht. Und die Personen muß er dann auch noch herstellen, nachdem er ihre Verhältnisse zueinander bestimmt hat. […] Meine Figuren gibt es nicht. Trotzdem, von irgendwoher müssen sie ja kommen, irgendwer muß ja zu Hause sein, wenn schon mal angeklopft wird, und meine Worte sind das, womit ich die

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Wurfgeschosse derer ausstatte, die grade auf der Bühne zu Hause sind […] Und sie sprechen, wie gesagt, immer, meine Figuren.« (Jelinek 2006)

Mit der eigenartigen Figuration im Theater Jelineks geht immer eine Geschlechterperformanz einher, d.h., geschlechtliche Identität erweist sich in den Texten der Autorin ständig als eine Inszenierung, welche entweder den gängigen Konventionen und Normen gemäß diskursive Regeln zitiert oder selbige in einer Art Maskerade auf den Kopf stellt. Derartiger Performanz ist stets eine Machtfrage inhärent, und zwar ist bei der Thematisierung geschlechtlicher Identitäten in Jelineks ›Sprachflächen‹, die in theatraler Umsetzung zwangsläufig nach einer Verkörperung im Schauspielerleib verlangen, permanent ein Machtanspruch im Spiel. Dieser ist deutlich – so meine These – mit dem christlichen bzw. katholischen Sacrum verbunden, welches sich Jelineks Figuren subversiv aneignen, um es der Transzendenz zu berauben. In dieser Hinsicht erscheint Jelineks ›Axt‹ als Werkzeug, mit dem auch der Baum der Erkenntnis samt seinen sexualpolitischen Konsequenzen zerschlagen wird. Ein solcher politischer Gestus geht zwangsläufig mit einer konsequenten Desakralisierung des Theaters einher: »Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. Ich will kein Theater.« (Jelinek 1990: 157)

Im Folgenden wird ein Bogen über Jelineks Gesamtwerk geschlagen und versucht, die Liaison zwischen Geschlechterperformanz, Machtthematik und Sacrumsubversion exemplarisch zu veranschaulichen.3 Diese thematische Triade zieht sich leitmotivisch bereits durch ihren frühen Bühnentext Krankheit oder Moderne Frauen (Jelinek 1987), in dem die verbrüderten Dr. Heidkliff und Dr. Hundekoffer mit ihren Lebensgefährtinnen einen regelrechten Geschlechterkampf führen. In einer der ersten Szenen des Theaterstücks erweckt die vampirische Protagonistin Emily die bei der Geburt ihres sechsten Kindes gestorbene Carmilla mit einem Vampirbiss zum Leben, wodurch sie sie als Komplizin im Geschlechterkampf gewinnt. Dabei vollzieht Emily eine göttliche Schöpfung im doppelten Sinne: Sie schenkt Carmilla das Leben und die 3 | Die Beispiele stammen vorwiegend von Pełka 2005.

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(vampirische) Unsterblichkeit. Dieser Akt, durch den sie sich zum Alfa und Omega, zum Demiurg und schließlich einer Postfiguration von Christus4 erhebt – denn beide sind durch ihre leibliche Auferstehung lebende Tote – wird von ihr direkt auf den eucharistischen Leib bezogen: »Ich bin der Anfang und das Ende. Von dem ich esse, der wird ewig leben.« (Ebd.: 22) Damit kehrt Emily die Formel Jesu »Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben« (Joh 6, 53) blasphemisch um: Sie ersetzt die Teilhabe der Gläubigen an der Auferstehung und dem ewigen Leben bei der Kommunion durch die Unsterblichkeit mittels des vampirischen Bisses. Indem Emily sich selbst zum Altarsakrament, zur Hostie, erhebt, bleibt das eucharistische Brot für sie – genauso wie für Carmilla – nur eine ›Backoblate‹. Die Hostie wird von den beiden Vampirinnen des Sacrums beraubt, auf ein bloßes Lebensmittel reduziert, welches aber eine unbeschränkte Mindesthaltbarkeitszeit besitzt und daher beständig ist, womit auf die Fortdauer des patriarchalischen Systems mit seinen »haltbaren Sakramenten« (Jelinek 1987: 42) angespielt wird. Es tauchen im Stück immer wieder Signale auf, die um das Abendmahl kreisen und auf die symbolische Ordnung der Religion hindeuten, welche der patriarchalen Kultur als Matrix zugrunde liegt. Diese Ordnung stützt sich auf Rituale, die Emily und Carmilla mit dem »[W]ühlen im Gasthaus in einer Speise« (ebd.: 42) assoziieren. Die (westliche) Zivilisation wird hierbei als Esskultur ausgestellt, in deren symbolischem Zentrum das Abendmahl als ›Herrenmahl‹ steht. Zwangsläufig negieren die weiblichen Figuren solche Rituale und sondern sich von dem patriarchal strukturierten System ab: Als Aussteigerinnen wollen sie »von den Menschen und ihren Gaststätten nicht abhängig« sein (ebd.: 42). Die Subversion der Eucharistie geschieht in dem Vampirinnen-Drama jedoch vordergründig nicht durch Pervertierung des heiligen Leibes, sondern des Blutes,5 das als Attribut der vampirischen Protagonistinnen zwangsläufig in den Mittelpunkt der Dekonstruktion rückt. Dabei korrespondiert das Blut, welches den Vampirinnen aus dem Mund tropft, 4 | Der Vampir Emily kann nicht nur als eine Postfiguration des Blut-Diebes Antichrist, sondern auch als Gegenstück zu Christus gesehen werden, denn beide sind durch ihre leibliche Auferstehung lebende Tote. Zu dieser Parallele vgl. Pohl 1985. 5 | Das eucharistische Brot wird – als Metapher für den Körper der Frau – zum Motiv in Jelineks Roman Lust (1989). Vgl. Kremer 1994: 166f.

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deutlich mit dem Monatsblut. Beides assoziieren die männlichen Protagonisten mit ekelerregender Flüssigkeit, welche zu einem negativen Tabu wird. Auf diese Art und Weise wird hier ein Topos beschworen, der die menstruierenden Frauen mit dem Stigma der Unreinheit und Krankheit belegt.6 Diese Zuschreibung, die das Monatsblut zum Wahrzeichen der Frau macht, artikuliert Hundekoffer: »In einer Frau muß jeder unwillkürlich das Blut sehen.« (Ebd.: 51) Das in vielen Gesellschaften präsente Tabu des Menstruationsbluts, welches eng mit der Sexualität verknüpft ist, kennzeichnet eine Ambivalenz. In patriarchalen Kulturen wird das Monatsblut entweder als ›gefährlich‹ verdammt oder als ›heilig‹ verehrt,7 es wird zum Symptom »von Bosheit und Giftigkeit«8 und gleichzeitig zum Symbol für die schöpferische Macht von Frauen.9 Mit dieser Dichotomie zwischen ›bösem‹ und ›göttlichem‹ Blut spielt Jelineks Text: Bei Hundekoffer und Heidkliff ruft das Blut einerseits eine negative Konnotation hervor, andererseits wird es – als lebensspendende Substanz – begehrt und zum Lebenselixier fetischisiert, denn wie Heidkliff bekennt: »Die Frau verliert monatlich mehr Blut, als ein Mann mit dem Mund zu sich nehmen könnte« (ebd.: 56). Jelinek beschwört die Polysemantik des Blutes hauptsächlich, um die der Menstruation zugeschriebenen Klischees zu zerstören. Das Blut, welches die Frauen ›unrein‹ und ›krank‹ machen soll, wird plötzlich zum Kraftspender. Diese Umkehrung beunruhigt die beiden Männer, was Hundekoffer artikuliert: »Das Blut wird viel. Einmal ist es dann soweit, daß die Gattin aus ihm Kraft zieht. Sie wird plötzlich durch ihr rinnendes Blut nicht länger geschwächt. Dieses Säugetier!« (Ebd.: 51) Das Blut 6 | Vgl. z.B. Fischer-Homberger 1984: 34-70. 7 | Eine plausible Erklärung für die Diffamierung des Monatsblutes liefert Barbara Walker (1993: 613): »In vielen Mythen entspringt das Leben aus dem Menstruationsblut der großen Göttin, weshalb es später in männlichen Religionen verdammt werden mußte.« 8 | Fischer-Homberger 1984: 38. 9 | »Die Menschen glaubten schon seit ihren frühesten Kulturen, daß die geheimnisvolle Magie der Schöpfung dem Blut innewohne, das Frauen in offensichtlicher Harmonie mit dem Mond von sich gaben und das manchmal im Mutterleib verblieb, um zu einem Kind zu ›gerinnen‹. Männer betrachteten dies Blut mit heiliger Furcht; sie sahen es als Essenz des Lebens, die unerklärlicherweise ohne Schmerzen vergossen wurde und männlicher Erfahrung ganz fremd war« (Walker 1993: 698).

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verleiht den Frauen tatsächlich Stärke und somit sind sie fähig, mit den Männern zu konkurrieren, gar ›männlich‹ zu wirken: »Ich glaube: Dadurch, daß meine Frau Carmilla jetzt Blut ißt, hat sie etwas Männliches bekommen, das mir nicht gefällt.« (Ebd.: 52) In dieser Sequenz erfolgt eine Demythologisierung des theologischen Diskurses um das Frauenblut, indem es mit dem Blut Christi gleichgestellt wird, dessen Transsubstantiation in der katholischen Kirche nur von geweihten männlichen Priestern vollzogen werden kann und fast ausschließlich von ihnen getrunken wird. Während im Alten Testament das Blut als »des Leibes Leben« (Lev 17, 11) galt, weswegen der jüdische Bund zwischen Gott und Mensch durch das Blut der Opfertiere gegründet wurde, übernahm das Christentum die Maxime »ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung« (Heb 9, 22), wobei nun das Blut Christi – als Opferblut im Wein der Eucharistie sublimiert – zum Symbol der Erlösung und Bindeglied der Blutsgemeinschaft wurde.10 Dieses zentrale Ritual des Christentums wird von Carmilla als verkappte, auf widersprüchliche Prämissen gestützte Theophagie verspottet: »Ein Buch hat ihnen klug gesagt: Christ sein, das heißt gegen den Vampir als Prinzip sein. Der Christ darf kein Blut trinken, das einem anderen gehört als seinem Vorgesetzten« (Jelinek 1987: 48). Die Anmaßung der Vampirinnen, sich mit der Kirche und mit Gott zu vergleichen, kann von den Männern nur in Bezug auf das Kreuzopfer Christi akzeptiert werden. Sie mahnen daher die Frauen: »Ihr könnt, wenn ihr wollt, die Wundmale Christi aufweisen. Und was macht ihr daraus?« (Ebd.: 57) Dieser Vergleich, in dem die Menstruation mit den Wunden der Kreuzigung assoziiert wird, reduziert die Frauen auf leidende Märtyrerinnen, wobei dieser Status gleichzeitig Erniedrigung und Vergöttlichung impliziert.11 Emily und Carmilla versuchen allerdings, sich nicht 10 | Die Symbolik des Blutes, welche in der jüdischen wie christlichen Religion als Grundlage der sozialen Integration gilt, weist zugleich große Differenzen auf, wie etwa Christina von Braun eruiert: »Der unterschiedliche Umgang mit den Bildern des Blutes prägte zutiefst die jüdisch-christliche Geschichte, und gerade die unterschiedlichen Bilder der Blutsgemeinschaft brachen im christlichen Antijudaismus und Antisemitismus immer wieder auf gewalttätige Weise an die Oberfläche.« (Braun 2000: 23) 11 | Marlies Janz interpretiert »die Wundmale« psychoanalytisch als Stigma der »kastrierten Frau« (Janz 1995: 90). Der Vergleich mit dem weiblich konnotierten

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auf den Opferstatus festschreiben zu lassen: Sie nehmen Blut auf, statt es – als Zeichen der Fruchtbarkeit bzw. der Bereitschaft zur Fortpflanzung – auszustoßen. Ihr Beharren auf der vampirischen Existenz – auch als Verleugnung des Weiblichen – muss jedoch letztlich scheitern. Zu einem »Doppelgeschöpf« (ebd.: 72), als Metapher für die weibliche Solidarität bzw. einen Frauenseparatismus,12 verschmolzen, fallen sie schließlich den Männern zum Opfer, welche sich als siegreiche Kannibalen entpuppen. Krankheit oder Moderne Frauen spürt im Dogma und Ritus des Abendmahles patriarchale Machtstrukturen auf. Ihre De(kon)struktion, die vordergründig auf die De-Symbolisation des Blutes abzielt, führt kulturelle Zuschreibungen, welche das Weibliche konstituieren, ad absurdum. Die Matrix der Einverleibung vom (heiligen) Leib und Blut wird zugleich auf die gesamte soziale Wirklichkeit als Vorgang der Machtstärkung und -demonstration ausgeweitet. Dieser wird bei Jelinek mit der zugespitztprovokativen Metapher des Kannibalismus umschrieben, die latente faschistoide Züge der Gesellschaft einschließt. Auffällig oft ist diese Implikation den Theatertexten Jelineks inhärent. Geschlecht, Faschismus und Sacrum werden beispielsweise in dem 1999 erschienenen Theatertext Macht nichts. Eine Trilogie des Todes (Jelinek 1999) kurzgeschlossen. Der Text – eine Art Lesebühnenstück13 – besteht aus zwei Monologen und einem Dialog, die als Trilogieteile nach den Schubertliedern Erlkönigin, Der Tod und das Mädchen und Der Wanderer benannt wurden.14 Heiland impliziert indessen nicht nur die Opferbereitschaft und das Leiden, sondern auch das Mütterliche, wobei die blutenden Wunden Christi als Quelle der Fruchtbarkeit, als ›nährender Busen‹ erscheinen. Zur Verknüpfung des Weiblichen mit Jesus in der christlichen Symbolik vgl. Walker Bynum (1996). 12 | Das ›Doppelgeschöpf‹ spielt gleichzeitig ironisch auf die biblische Vorstellung von der Ehe als »ein Fleisch« (1. Mose 2, 24) an. 13 | So heißt es in der »Nachbemerkung« zu der Trilogie: »für das Theater gedacht, aber nicht für eine Theateraufführung« (Jelinek 1999: 85). 14 | Den Mittelteil Der Tod und das Mädchen bildet ein Dialog zwischen einem Jäger und einem Schneewittchen, die Züge von Martin Heidegger und der Autorin selbst aufweisen. Der die Trilogie abschließende Teil Der Wanderer ist als Monolog von Jelineks Vater konzipiert (vgl. Jelinek 1999: 86-90). Jelinek rekurriert hier auf einige Motive ihrer früheren Werke, die um das Zentralthema der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus kreisen, indem sie die Täter und Opfer sprechen lässt.

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In dem diese Trilogie eröffnenden Teil lässt die Autorin »[e]ine berühmte Schauspielerin, die tot ist« (ebd.: 7), das Wort ergreifen, wodurch sie ihre 1982 mit dem Bühnenstück Burgtheater initiierte kritische Auseinandersetzung mit der in den Nationalsozialismus verwickelten Schauspielerin Paula Wessely sowie deren Familie literarisch fortsetzt.15 Es wird hier die Auferstehung der Burgtheaterschauspielerin imaginiert, die »eben nicht totzukriegen ist und daher einfach weiterredet« (ebd.: 85). Die wie ein innerer Monolog strukturierte Redeflut gestaltet sich zu einer ad spectatores gerichteten theatralischen Rolle, welche quasi eine Gewissensforschung mit einer höhnisch-spöttischen Geste zum Ausdruck bringt. Zwei Hauptmotive konstituieren den Kreislauf dieses Monologs und sättigen ihn mit ineinander verschachtelten Bedeutungsschichten. Das erste Motiv, bereits im Titel des Erlkönigin-Dramoletts präsent, beschwört durch die Anspielung auf Goethes Ballade eine dämonische, todbringende Macht herauf. In der einzigen Regieanweisung zu diesem Text wird das Fleisch als zweites Leitmotiv unterstrichen: »Ab und zu schneidet [die Schauspielerin] sich ein Stück Fleisch heraus und wirft es ins Publikum« (ebd.: 7). Das mythische, hier männlich konnotierte Dämonische der Volksballade unterliegt dabei einer Transformation: Zum einen wird es – verweiblicht – in die Gestalt der Schauspielerin hineinprojiziert,16 zum anderen symbolisch mit der Potenz der faschistischen Verführung im Sinne Michael Tourniers17 aufgeladen und als solches mit dem dem ganzen Text zugrunde liegenden realgeschichtlichen Hintergrund kurzgeschlossen. Als Gefolgsfrau der Machthaber ist sich die ›Erlkönigin‹ ihrer Gewalt bewusst: Anmaßend verkündet sie ihre Überlegenheit – auch mit einer non-omnis-moriar-Überzeugung dem Tode gegenüber, was in eine Selbst15 | Vgl. Pełka 2002 sowie zur Karriere Wesselys ausführlich Steiner 1996. 16 | Diese Verweiblichung schließt gewissermaßen an die seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland geführte Diskussion über die Täterrolle der Frauen an. Vgl. z.B. Haug: 1981. 17 | Der Roman Erlkönig von Michael Tournier erzählt die Lebensgeschichte des psychopathisch-pädophilen Abel Tiffauges, der im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft gerät und die Aufgabe erhält, ›reinrassige‹ blonde Knaben für die SS-Schule zu rekrutieren. Für Tournier ist der Goethesche Erlkönig, der einen Jungen mit Gewalt zu verführen versucht, das prägnante Symbol des Naziregimes. Im Roman nennt ein Altertumsforscher die Ballade Goethes »Quintessenz der deutschen Seele« (Tournier 1972: 196).

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vergöttlichung mündet: »Ich bin eine in drei Personen, wie Gott.« (Ebd.: 15) Diese Theomorphisierung spiegelt hyperbolisch die abgöttische Verehrung der Schauspielerin seitens des Publikums wider, gleichzeitig wird sie auf ihre Angehörigen ausgeweitet, welche in Dreierkonfigurationen – sakrilegisch zu Dreifaltigkeiten stilisiert – ständig in den Text eingeblendet werden. In den Vordergrund treten dabei ihre »drei Abkömmlinge« (ebd.), Töchter »ihrer drei« (ebd.: 14), die als populäre Theater- und Filmdarstellerinnen mit der berühmten Mutter identifiziert werden.18 Vor der Folie von Goethes Erlkönig-Topos erscheinen die Töchter als Handlanger der verführerischen Macht. Darüber hinaus fungieren sie als Schnittpunkt zwischen dem Erlkönig- und dem Fleischmotiv, indem sie von der Mutter-Schauspielerin als »[s]aftige Fleischstücke« (ebd.: 13) bezeichnet werden. Damit und durch die Analogie zu Gottes Spruch »Fleisch aus deinem Fleische« (1. Moses 2, 23) in der Genesis wird der Schöpfungsmythos aufgerufen und somit die Kreatürlichkeit der Erlkönigin hervorgehoben. Letztlich wird mit dem Fleisch-Motiv auf die Transsubstantiationslehre rekurriert und – als Pendant zur Subversion der Dreieinigkeit – pervertiert. Die Erlkönigin stürzt die Erlösungsgeschichte um und imaginiert ihre eigene mediale Auferstehung: »Das Fleisch ist sozusagen stofflich geworden […] nun soll es also eifrig im Fernsehen auferstehen« (Jelinek 1999: 17f.). In Erlkönigin wird das Menschenfleisch als Schauspielerleib fokussiert, der für das Publikum eine sakrale Dimension annimmt, die sich aber – oder gerade deswegen – als dämonische Macht der ideologischen Bevormundung entpuppt, wobei die Machtperformanz der Schauspielerin als ihre Funktionalisierung im Dienste der Ideologie bloßgestellt wird. Mit der Figur der Erlkönigin hebt Jelinek zugleich performativ den binären Geschlechterdiskurs auf. Während sich die Erlkönigin in ihrer Machtbestrebung ›vermännlicht‹, erscheint Andi, eine der Figuren aus Ein Sportstück (Jelinek 1997), ›verweiblicht‹. In dem so genannten »Zwi18 | So etwa: »Drei Generationen von mir, Uroma, Oma, ich und es geht weiter« (Jelinek 1999: 13) als Anspielung auf Wesselys Töchter (Elisabeth Orth, Maresa und Christiane Hörbiger) und Enkel (d.h. Elisabeths Sohn Cornelius Obonya und Maresas Sohn Manuel Witting, die ebenfalls bekannte Schauspieler sind) sowie auf ihre Tante Josefine Wessely (eine berühmte Burgtheater-Schauspielerin) oder »Nun sind wir alle drei tot« (ebd.: 16) als Anspielung auf Paula Wesselys Mann (Attila Hörbiger) und Schwager (Paul Hörbiger).

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schenbericht« in der Mitte dieses Textes wird eine bizarre Art Pietà arrangiert: »Die alte Frau sitzt in altmodischer Unterwäsche, Combinaige, Gesundheitsschuhe etc. auf einem Stuhl und hat den Leichnam ihres Sohnes Jesus, hier immer Andi genannt, der im Bodybuilderhöschen ist, auf ihren Schoß gebreitet. […] Im Hintergrund, hell erleuchtet, ein Foto Arnold Schwarzeneggers, es können auch kurze Filmszenen mit ihm projiziert werden, immer wieder.« (Jelinek 1997: 75, Hervorh. i.O.)

Der christliche Topos der Schmerzensmutter Maria mit dem gekreuzigten Sohn auf dem Schoß – hier um den Gott-Vater ergänzt – wird in ein groteskes Tableau transponiert. In diesem Bild kommt es zur Ersetzung des toten Gottessohnes durch einen toten Sportler, bei dem es sich um den wegen einer Überdosis anabolischer Steroide verstorbenen Bodybuilder Andreas Münzer handelt.19 Die Pervertierung der Erlösungsgeschichte via Sport potenziert hier zusätzlich die Umschreibung des Gott-Vaters durch den Erfolgsbodybuilder und Hollywood-Star Arnold (resp. Arnie) Schwarzenegger. Das tertium comparationis dieser blasphemischen Übertragung stützt sich nicht nur auf die Massenverehrung des christlichen Gottes und des Sportlers, sondern es rekurriert auch auf die Kreatürlichkeit beider. Arnie kann theomorphisiert werden, weil er – Gott ähnlich – schöpferisch wirksam ist, da er »sich selbst geschaffen hat« (ebd.: 88). Auch die mediale (Re-)Präsentation des österreichischen Sport-Götzen und des christlichen Gottes weist eine Gemeinsamkeit auf: Sowohl das Poster mit dem Terminator-Star als auch das Heiligenbildnis des Gott-Vaters bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern fungieren als Codes des Ideellen, welche als Wanddevotionalien gleichermaßen zum Andachtsgegenstand werden. Das Sport-Idol ersetzt für Andi tatsächlich den göttlichen Schöpfer, welcher übrigens »mit [dem] Körper rein gar nichts zu tun [hat]. Was er […] gegeben hat, ist nichts« (ebd.: 95). Schwarzenegger kompensiert für Andi nicht nur die weltliche, sondern auch die metaphysische Autorität und daher wird er als Abgott inthronisiert: »Aber er [Schwarzenegger, A.P.] ist nicht Jesus, dem ich ja auch in unserer Wohnküche begegnet bin. So hatte ich Vergleichsmöglichkeiten. Mein Gott, der andre ist ja mein 19 | Vgl. Bartens 1999.

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Gott, der Arnie! Nicht der Gott, den Sie wahrscheinlich meinen, wenn Sie wütend sagen: mein Gott!« (Ebd.: 94) Die erzieherisch-göttliche Trainingsinstanz Arnie erweist sich jedoch als abwesende Macht, der selbständig nachzueifern ist, denn – Andi gibt diszipliniert zu – »ihm nachbilden muß ich mich ganz allein« (ebd.: 88). In der Tat also wird der Kraftsportler »der Führer und der Angeführte in einer Person« (ebd.: 103), der eigene Herr und Meister, wobei diese Rolle nur aufgrund der Gleichsetzung mit dem Idol möglich ist: »Bitte, ich kenne Arnie, als wäre er einer von mir, als wäre er ich« (ebd.: 94). Das Identifizieren, welches schon durch die angleichende Namensgebung (Arnie-Andi) sinnfällig wird, setzt die Übernahme der Eigenschaften und Aufgaben des Götzen voraus. In dieser Hinsicht eignet sich Andi göttliche Züge von Arnie an, wird wie jener zum Selbstschöpfer mit dem Telos, sich zu seinem ›Ebenbild‹ zu kreieren.20 Der Muskel-Körper als eine zweite, richtige Haut wird zur sportivmodischen und schützenden Bekleidung, welche gleichzeitig eine geschlechtsdifferenzierende Aufgabe erfüllt. Andi offenbart nämlich: »In aller Heimlichkeit habe ich mir meine Männlichkeit angezogen« (ebd.: 92) und fühlt sich in seiner Kreation wie vom »selbstgezeugten Mannstum[] umkleidet« (ebd.: 92). So verkörpert Andi beinahe paradigmatisch Judith Butlers Satz: »Gender is what is put on.« (Butler 1990: 282)21 Darüber hinaus ist dieses Sich-Selbst-Erzeugen als eine Art der Anmaßung an die göttliche Kreatürlichkeit evident und wird als eine männliche MannSchöpfung lesbar, welche die göttliche Erschaffung eines Adam nachahmt und somit den Status von Andi als Herrn der Schöpfung bestätigen soll. Schließlich dient der Muskel-Körper – genauso wie die geschlechtsspezifische Kleidung – nicht nur als Indikator der Geschlechterdifferenz, er erschafft sie vielmehr erst. Die Muskulatur wird zur Grundlage der Identitätskonstruktion mit dem Anspruch auf den ›echten‹ Diskurs über die Männlichkeit. Allerdings muss der Körper des Bodybuilders als Mus20 | Im Text ist sowohl eine Anspielung auf die Genesis (1. Mose 1, 26) als auch auf Nietzsches ›Übermenschen‹ lesbar: »Wir basteln uns einen Mann aus fünf Substanzen, stand auf dem Lehrplan für den Übermenschen« (Jelinek 1997: 92). 21 | Das vieldeutige Verb ›to put on‹ (= u.a. inszenieren/anziehen/aufsetzen) unterstreicht sowohl die theatral-performative als auch die vestimentäre Dimension des doing-gender.

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terkörper prinzipiell »in der Pose einer Revuetänzerin« (Jelinek 1997: 103) zur Schau gestellt werden. Er wird zwangsläufig zum Schauplatz einer kulturellen Performanz und somit dem Körper eines weiblichen Models, einer Stripteasetänzerin oder gar Prostituierten verwandt, wie Andi verzweifelt zum Ausdruck bringt: »Da kommt man doch glatt in die Lage einer Frau, nur weil man sich beruflich immer wieder ausziehen muß« (ebd.: 98). Die Muskulatur unterstützt also paradoxerweise Diskurse und Praktiken der Pop-Kultur wie beispielsweise die Metrosexualität, für die die Zerstreuung der Geschlechterdifferenz markant ist.22 Diese QuasiVerweiblichung, welche den Diskurs der Männlichkeit de facto bloßstellt, enthüllt darüber hinaus eine andere Affinität zu Praktiken, die traditionell als ›weiblich‹ definiert werden, und zwar zu dem Phänomen der streng kontrollierten Ernährung. Das obsessive Streben nach dem Wunschkörper erzwingt für Andi seine eigene Diätetik: »Nichts Schlechtes, Schmutziges essen, das ist überhaupt die Hauptsache« (ebd.: 99). Andi fungiert als der ›zeitgenössische Christus‹ – nicht zuletzt, weil er sich selbst durch Sport von der Lebensmisere erlösen will (vgl. Bartens 1999: 116). Seine Theaterrolle als sakrilegisches Pendant zu Jesus impliziert, dass er – ähnlich dem Gottessohn – einem Diskurs zum Opfer gefallen ist. Als Quasi-Märtyrer erhofft er – freilich mit einer sportlich-obsessiven Rhetorik – seine Auferstehung: »Vielleicht werde ich auferstehen! Wenn Jesus das konnte, dann schaffe ich es auch noch! Ich muß eben härter trainieren.« (Jelinek 1997: 103) Diese Hoffnung ist zugleich mit dem Glauben an die Anerkennung des symbolischen Stellenwertes seines Körpers nach dem Muster des Kruzifixes verbunden. Seinen Monolog schließt Andi mit folgendem Wunsch ab: »Aber mein Körper wird mich hoffentlich würdig vertreten können.« (Ebd.: 104) Die Usurpation des Sacrums als Mittel der Machtergreifung führt Jelineks Figuren ins Leere. Ihre mannigfaltigen Theomorphisierungen verleihen ihnen lediglich eine Scheinmacht. Was letztlich herrscht, ist der Tod. Dieser Pessimismus breitet sich im Laufe der Jahre in Jelineks Theatertexten immer mehr aus und findet zumeist auch eine entsprechende Bühnenrealisierung. So setzt Nicolas Stemann in seiner berühmten Inszenierung von Ulrike Maria Stuart23 2006 am Hamburger Thalia Thea22 | Vgl. etwa Heasley 2005. 23 | Im Folgenden wird aus einer Video-Aufnahme der Inszenierung zitiert, denn der Theatertext wurde bis auf einen kurzen, auf der Homepage der Autorin präsen-

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ter einen tiefst pessimistischen Schlussakzent. Am Ende der Aufführung erscheint auf der Bühne der Regisseur in persona mit einer blonden Zopfperücke, wodurch er quasi in die Rolle der Autorin Jelinek schlüpft, deren Porträt nun auf der Bühnenhinterwand erscheint. Auf einem Stuhl sitzend, liest Stemann mantraartig einen Text vor, bei dem es sich um eine Art Testament Ulrike Meinhofs handelt. Sein mit Verzweiflung, Enttäuschung und Verbitterung durchtränkter Monolog, der auf die Todesumstände der Terroristin Bezug nimmt, beschwört unter anderem die gescheiterte Selbstvergöttlichung der RAF: »[D]as hat noch nie ein Mensch gewusst, dass wenn er seine Götter umbringt, keine neuen für ihn auferstehen. Wir sind die letzten dieser Götter.« Insgesamt bringt der Monolog eine resignative Todessehnsucht zur Sprache – als den einzigen Ausweg aus dem Nichts ins Nichts. Die Bitterkeit der Szene wird durch die Figur des gealterten Andreas Baader potenziert, der kurz davor als »Engel in Amerika« mit Riesenfittichen auftaucht und mit arrogant misogynen Sprüchen changiert: »Ihr blöden Weiber und Euch gibt’s bis auf die Kleider nicht, die von den Ausgebeuteten erzeugt, was Euch erwartet ist der Tod.« Die Figur des zynischen »Engel Gottes« erscheint als Inkarnation der Allwissenheit, die der Baum der Erkenntnis symbolisiert.24 Seine Überheblichkeit – »Aufschwingen darf sich allein der Engel« – deutet nicht zuletzt auf das Scheitern des Feminismus hin, was die Aufführung ohnehin an vielen Stellen thematisiert. Baaders vulgäre Beschimpfungen der Frauen als »Fotzen« sind schließlich auch an die Autorin adressiert, zumal ihr Foto an der Theaterwand mit dem während der Vorstellung mehrmals projizierten Porträt von Meinhof deutlich korrespondiert. Die Verzweiflung des Endmonologs bildet eine Parallele zu Jelineks Zweifel an der Möglichkeit einer Weltveränderung durch Literatur, die in ihrer Nobelpreisrede dem Stockholmer Publikum als Videomitschnitt auf großen Leinwänden präsentiert wurde. Diese Skepsis wird von der Autorin in den letzten Jahren zunehmend als Unwissen inszeniert: »Ich weiß nicht, tierten Ausschnitt nicht veröffentlicht und wird es höchstwahrscheinlich nie. Im Falle von Ulrike Maria Stuart stellen Jelineks »Textmassen« (Stemann 2007: 123) für die Regie postdramatischerweise lediglich einen Ausgangsstoff dar, der erst durch ihre Transformation zu einem aufführbaren ›Theatertext‹ wird. Somit fungiert die Autorin als eine Art spiritus movens des autonomen Bühnenwerks, was der literaturzentrierten Theaterkritik oft große Schwierigkeiten bereitet. 24 | Vgl. Junker 21994.

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was passieren muß, bis endlich was passiert!« heißt es am Schluss von Ulrike Maria Stuart. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts«, so endet der bereits zitierte Essay Theatergraben. Und doch durch die radikale Ablehnung der ›Wahrheit‹ vom Baum der Erkenntnis erweist sich das vermeintliche Unwissen Jelineks als eine existentielle Philosophie der (Ohn-)Macht: Sich über die Macht hinwegzusetzen, bedeutet, über den Abgrund zu springen. Entsprechend pointiert die Autorin ihren Theatergraben: »Man ist ohne Macht, aber man weiß, daß da etwas ist, das man an fiktive Personen, die von realen Personen verkörpert werden, weitergibt, zur Verleugnung der Ohnmacht? [sic!] Über die Ohnmacht hat man ja keine Macht, sonst wäre sie ja Macht und man würde ein Theater nicht brauchen. […] Besitz bleibt einem nicht freiwillig, und das Leben schon gar nicht, [deswegen, A.P.] ist der Sprung über den Graben und auf die Bühne unvermeidlich geworden. Er ist nicht mehr zu umgehen. Alle Auswege sind versperrt. Da man ohnmächtig ist, merkt man auch das nicht, aber man weiß auch in der Ohnmacht: man will wieder Macht. Wieder an die Macht kommen, um jeden Preis. Und wären es nur Figuren auf der Bühne, die an unserer statt damit ausgestattet werden, aber nur, weil wir es ihnen erlauben. Das ist unsre Macht.« (Jelinek 2005)

Die breit gefächerte textuelle Desakralisierung der symbolischen Kultur, die von Anbeginn an Jelineks Theatertexten inhärent war und derart auch immer die Gestaltung der szenischen Aufführungen bestimmt, korrespondiert mit der Entsakralisierung des Theaters selbst. Gerade durch die Nivellierung seines ›sakralen Geschmacks‹ kann das Theater als privilegierter Ort fungieren, der in der Begegnung mit den anderen, die wir selbst sind, erlaubt, die Kluft zwischen der (postmodernen) Skepsis gegenüber einem autonomen Subjekt und dem Wunsch nach Handlungsfähigkeit zu überbrücken. Derart überwindet der symbolische ›Sprung über den Graben‹ den Sündenfall, indem er letztlich doch ein Wissen verleiht, das Macht ist.

Mit der A xt im Theatergrab(en)

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Mit der A xt im Theatergrab(en)

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Gender und Ethnizität als differierende Prinzipien postdramatischer Figurenkonzeption in Elfriede Jelineks frühen Theatertexten Anja Schonlau

Wenn das postdramatische Theater durch Alterität(en) geprägt wird, dann stellt sich die Frage, ob es ästhetisch eine Rolle spielt, welche Alterität im Fokus des Stücks steht. Führt die Thematisierung ethnischer Alterität zu einer anderen Form als genderbezogene Alterität? Eines der zentralen Merkmale des postdramatischen Theaters ist seine Abkehr von der traditionellen, am Charakter orientierten Figurenkonzeption zugunsten von schwer unterscheidbaren Stimmen, Zitatcollagen bzw. insgesamt antidialogisch orientierten Strukturen.1 Die »Figuration« gehört, wie Gerda Poschmann formuliert, neben »Narration« und »Fabel« zu den rückläufigen Prinzipien im ›nicht mehr dramatischen Theatertext‹ (Poschmann 1997: 177). Die Leitfrage dieser Untersuchung lautet darum: Führt die Thematisierung ethnischer Alterität im postdramatischen Theatertext zu einer anderen Figuren- bzw. Stimmenkonzeption als die Thematisie1 | Ich verwende im Folgenden auf der Metaebene den Begriff ›Figur‹ (vgl. dazu Pfister 112001: 221f.), auf der Objektebene der einzelnen Figurenkonzeptionen unterscheide ich zwischen Personifikation, Typus, Charakter, Stimmen oder Chiffre. Als ›Charakter‹ bezeichne ich eine individualistische, psychologisch ›komplexe‹ Figurenkonzeption. Pfister verwendet für diese Figurenkonzeption den Begriff ›Individuum‹ und bezieht ›Charakter‹ auf reale Personen im Sinne von ›Wesensart‹ (vgl. ebd.: 245 u. 221f.). ›Individuum‹ als Oberbegriff birgt allerdings die gleiche Verwechslungsgefahr wie ›Charakter‹, so dass dieser von Pfister vorgeschlagene neue Oberbegriff keine Verbesserung bringt.

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rung genderbezogener Alterität? Dieser Frage soll anhand der Theatertexte Elfriede Jelineks nachgegangen werden, deren Werk unterschiedliche Alteritäten zentral behandelt. Hans-Thies Lehmann zählt Jelinek zu den Autoren, die »Texte her[stellen], in denen Sprache nicht als Figurenrede – soweit es definierbare Figuren noch gibt –, sondern als autonome Theatralik in Erscheinung tritt.« (Lehmann 1999: 14) Der Begriff ›Alterität‹ wird im Folgenden als kulturelle Alterität aufgefasst, deren Stigmatisierung »motiviert [ist] durch das Interesse an der Aufrechterhaltung einer mit den Normen der Ausgangskultur kompatiblen Identität, um Dominanzansprüche zu legitimieren.« (Horatschek 3 2004: 11) Daraus folgen »curious interrelationships between figures for racial and sexual Otherness«. (Gates 1986: 16) Bereits das antike Drama stellt Alterität dar, sei es als komisches Element in der griechischen Komödie, z.B. in der Figur des punischen Kaufmanns Hanno in Plautus’ Komödie Poenulus (vgl. Blänsdorf 2001: 21f.), sei es als leidvolle Erfahrung in Euripides’ Tragödie Medea (431 v.  Chr.), deren Protagonistin sich als ›Barbarin‹ abgelehnt sieht. Das ›postdramatische Theater‹ (Lehmann) bzw. der ›nicht mehr dramatische Theatertext‹ (Poschmann) bildet Alterität nicht (mehr) durch das Mimesis-Prinzip ab. Statt Handlung, Figuren, Dialog und Raum/Zeit-Strukturen sind für die entsprechenden Theatertexte und -inszenierungen der 1970er bis 1990er Jahre ›simultane Informationsflutung durch Enthierachisierung der Theatermittel‹, die Ausstellung des Körpers statt der Rolle und die Präsentation von ›Sprache als Rhythmus oder Klang‹ kennzeichnend (vgl. Schößler 2004: 16). Der Begriff ›postdramatisch‹, bei Lehmann eine genuin theaterwissenschaftliche Kategorie, wird im Folgenden nicht in erster Linie auf Inszenierungen, sondern auf Theatertexte angewendet (vgl. dazu Schößler 2004: 14f.). Jelineks Werk ist »mindestens teilweise dem postdramatischen Paradigma verwandt« (Lehmann 1999: 25). Ihre einzelnen Arbeiten können in unterschiedlichem Maße als postdramatisch bezeichnet werden. Ausgehend von Bertolt Brechts Theaterverständnis wendet sich die Autorin bekanntlich gegen das aristotelische Theater und damit auch gegen die ›Einheit‹ der Figuren bzw. ihre Gestaltung als komplexe Charaktere, die sich an den Eigenschaftskatalogen antiker Rhetorik orientieren (vgl. Asmuth 6 2004: 87). Wogegen Jelineks Theatertexte sich allerdings nicht richten, ist die Figur als Typus. Denn diese Figurenkonzeption entspricht ihrem Interesse an »Schemata«, so dass »an den Figuren Strukturen aufgezeigt werden können.« (Lücke 2008: 104) Der Typus steht dramengeschichtlich

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der Komödie nahe und »verkörpert schematisierte Verhaltensdispositionen, genauer typologisch unterscheidbare Eigenschaften« (Scheffer 2010: 56), die sich an der »zeitgenössischen Charakterologie und Sozialtypologie« orientieren oder sich auf »vorgeprägt[e] dramatisch[e] Typen« beziehen (Pfister 2001: 245). Die Jelinek-Forschung hat wiederholt herausgestellt, dass die Auflösungserscheinungen in Jelineks Figurenkonzeption auf postmoderner Theorie basieren, so dem Trivialmythen-Konzept von Roland Barthes, dem Diskursverständnis Michel Foucaults und Jacques Derridas Dekonstruktion des Artaudschen ›Theaters der Grausamkeit‹. Jelinek selbst bezeichnet »die jeweiligen Figuren« ihrer Theatertexte in dem Essay Sinn egal. Körper zwecklos (1997) als »Zeugen meiner Anklage gegen Gott und Goethe« (Jelinek 32004: 10). Sie benennt damit pointiert ihre moralische und ästhetische Funktion. In dem älteren Theater-Essay Ich schlage sozusagen mit der Axt drein von 1984 erklärt die Autorin: »Wenn ich Theaterstücke schreibe, dann bemühe ich mich nicht, psychologisch agierende Personen auf die Bühne zu stellen. […] Ich vergrößere (oder reduziere) meine Figuren ins Übermenschliche, ich mache also Popanze aus ihnen. […] Ich bemühe mich darum, Typen, Bedeutungsträger auf die Bühne zu stellen, etwa im Sinn des Brechtschen Lehrstücks.« (Jelinek 1984: 14)

Jelinek fährt fort: »Auf der Bühne interessieren mich nicht Charaktere mit dem Nimbus von ›Persönlichkeit‹, sondern Prototypen« (ebd.: 14). Im Weiteren werden diese Figurenbezeichnungen gemäß dem Jelinekschen Verständnis der Figurentypen verwendet, Prototypen im Sinne von schematisierten bzw. typisierten Figuren, Popanze im Sinne von Figuren, die eine (menschliche) Person nicht illusionistisch nachahmen, sondern menschliche Eigenschaften in ihren Dimensionen verzerrt darstellen. Dieser Aufsatz fragt nach dem Verhältnis von spezifischen Inhalten und ihrer Form: Jeder der Jelinekschen Theatertexte setzt sich mit genderbezogener und/oder ethnischer Alterität auseinander. Im Folgenden sollen diejenigen Stücke auf ihre Figurenkonzeption hin untersucht werden, die beide Alteritäten besonders stark fokussieren. In chronologischer Reihenfolge wird kurz auf einschlägige Phänomene in den Theatertexten Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften, Clara S. Musikalische Tragödie, Burgtheater und Krankheit oder Moderne Frauen hingewiesen. Die besondere Aufmerksamkeit der Untersuchung gilt dann Wolken.Heim, der Heidegger-›Tragödie‹ Totenauberg,

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ihrem Satyrspiel Raststätte oder Sie machens alle und zuletzt Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit. Abschließend wird untersucht, ob sich das Ergebnis insgesamt auf das postdramatische bzw. das nicht mehr dramatische Theater beziehen lässt. Prototypen und Popanze bevölkern schon Jelineks erstes Drama Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften von 1977, das sechs Jahre vor dem ersten theoretischen Theateressay entstanden ist. Nora erscheint hier in Bezug auf ihre Figurenkonzeption nicht als Fortsetzung der Ibsenschen Nora. Ibsens Protagonistin ist wie alle Figuren in Nora oder Ein Puppenheim (1879) ungebrochen als illusionsfördernder Charakter angelegt, der den soziologisch/literarischen ›Typus Kindfrau‹ aufgreift. Dagegen ist Jelineks Nora eine Typenfigur, deren Auseinandersetzung mit dem ›Typus Kindfrau‹ metapoetische Züge hat. Als Prototyp macht sie den eigenen intertextuellen Status als Figur ebenso explizit – »Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen« (Jelinek 62005: 9) – wie ihren weiblichen wie dramatischen Rollen-›Typus‹, an dem sie scheitert: »Nora: Das kleine Mädchen blickt hechelnd zur Tür und fragt, welches schöne Spiel wir heute spielen« (ebd.: 37). Indem die Figur ihren Typus benennt und in der dritten Person spricht, bricht sie mit dem grundlegenden dramatischen Prinzip – aber auch die Typenfigur braucht den Dialog. Die Frau erscheint als das Andere zum Prinzip Mann, der durch Macht definiert ist, als Objekt im Verhältnis zum Subjekt. Nora ist zu Beginn des Stücks auf der Suche nach ihrer Identität, nach ›Selbstfindung‹. Nachdem sie den Arbeitsmarkt durch ihr kleinbürgerliches Innerlichkeitsdenken mit dem ›Liebes-Markt‹ vertauscht, endet sie als erneut vom ehemals verlassenen Ehemann abhängiges Objekt und eben nicht als Subjekt. Die folgenden Theatertexte Clara S. Musikalische Tragödie aus dem Jahr 1981, Burgtheater von 1985 und Krankheit oder Moderne Frauen von 1987 verfahren in Bezug auf die Figuren nach ähnlichen Prinzipien. Zwar treibt die Autorin ein komplexes Spiel mit fiktiven Figuren, wie dem Vampir Carmilla und historischen Personen wie Clara Schumann, Emily Bronté und Paula Wessely, aus denen sie »dezentralisierte, multiple Figuren (Figurencluster, Figurenkompilation, Kippfiguren)« entwickelt (Lücke 2008: 126). Es handelt sich aber bei allen Figuren um Prototypen im Jelinekschen Sinne. Mögen auch die phatischen Kanäle zwischen den Figuren gestört sein, die Dialoge selbst funktionieren. Die Theatertexte Cla-

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ra S. und Krankheit oder Moderne Frauen thematisieren genderbezogene Alterität. Burgtheater zeigt die schmierenkomödiantische Verstrickung der Wessely-Hörbiger-Familie in den Faschismus. Die Dialoge sind geprägt von der bösen Spannung zwischen einer grotesken österreichischen Heimatverzuckerung mit Deutschtümelei und beiläufigen rassistischen Äußerungen bzw. konkreten Hinweisen auf die Shoah. Auch wenn hier ethnische Alterität thematisiert wird, lässt sich in Bezug auf die Figurengestaltung kein wesentlicher Unterschied zu den früheren Stücken feststellen, in denen genderbezogene Alterität im Vordergrund steht. Bei der Darstellung einer Schauspielerfamilie das Figurenprinzip noch weiter ästhetisch in Frage zu stellen, erscheint auch nicht sinnvoll, weil das Motiv ›Schauspieler‹ einzelne Sprecher nahelegt, die potentiell verschiedene Rollen spielen können. In der letzten Szene fällt jedoch ein für die leitende Fragestellung interessantes Phänomen auf: Das Stück endet damit, dass alle Figuren sich um die sterbende Käthe versammeln. Sie singen eine Hymne, in der mit österreichischem Kunstakzent »Das Judensternderl. Mamsch und Papsch. Das Musikazett« (Jelinek 62005: 189) kommentarlos aneinandergereiht wird. Ihr Gesang endet gemütvoll mit »Grieß enk Gott alle miteinander« (ebd.: 189). Aus den einzelnen Prototypen wird hier ein Chor, der die faschistische Durchdringung des österreichischen Schmierentheaters als Kollektiv repräsentiert. Diese Beobachtung führt zu dem ersten Stück, das sich zentral mit ethnischer Alterität befasst. Jelineks 1988 uraufgeführter Theatertext Wolken.Heim gehört zu den seltenen Texten, deren innovative Ästhetik den provokativen Inhalt potenziert. Zum einen gilt er als Ergebnis einer »vollkommen neu[en] Theaterästhetik«, zum anderen präsentiert er kommentarlos national-chauvinistisches Gedankengut (Lücke 2008: 126). Der Text besteht aus einer Zitatmontage der deutschen Geistesgeschichte vom deutschen Idealismus bis zur RAF, also aus Zitaten von »Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus Briefen der RAF von 1973-1977«, wie der Text abschließend selbst ausweist (Jelinek 32004: 158). Die Zitattechnik changiert zwischen präzisen Übernahmen bis hin zu völlig sinnumkehrenden Veränderungen. Diese neue Theaterästhetik besteht in dem radikalen Bruch mit gängigen Dramenkonventionen; dieser Text kennt keine Figuren, keine Handlung und keinen Dialog. Er besteht aus 23 Absätzen von einer halben bis zu zwei Buchseiten Länge. Die Absätze markieren einzelne Stimmen oder auch ein Stimmenkollektiv, wie die sprachliche Heterogenität der Zitate in den Absätzen nahe legt. Diese werden von Je-

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linek harmonisiert, aber nicht vollständig gelöscht. Figuren lassen sich aus diesen stilistischen Differenzen nicht konstruieren. Der Text verabschiedet sich vom aristotelischen Dramenbegriff, aber nicht vom Theater. Umstritten ist, inwieweit das theatrale Prinzip des Textes dem Wechselgesang eines Chores entspricht, was zu den Anfängen des antiken Theaters zurückführen würde. Ein Individuum kennt der Text nicht, nur das Kollektiv bzw. die Stimmen im Diskurs. Allen Stimmen ist gemeinsam, dass sie sich einem ›Wir‹ zugehörig fühlen, d.h. im ganzen Text spricht nur eine, wenn auch heterogene Interessengruppe. Poschmann nimmt dagegen an, dass es sich um eine »Diskurs- oder Verlautbarungsinstanz [handelt], die sich keineswegs ausschließlich als ›Wir‹ darstellt und unbestimmt bleibt.« (Poschmann 1997: 274) Die gemeinsame Ausrichtung der Stimmen besteht in national-chauvinistischem und auch rassistischem Gedankengut. Zentraler Gegenstand des Textes ist das Verhältnis von Identität und Alterität; Marlies Janz spricht von einem »Alterität explizit ausschließenden Identitätsdiskurs« (Janz 1997: 231). Alterität wird hier als ethnische Alterität definiert; die Stimmen behaupten ihre Identität: »[W]ir sind bei uns. Wo lebt Leben sonst?« (Jelinek 32004: 137) Und sie behaupten sie durch Abgrenzung von Alterität: »Wir schaudern vor den andren« (ebd.: 137). Dabei ist Heimat die Bedingung der Identität, d.h. das Fremde ist das räumlich Fremde, das von außen kommt. Wer die anderen sind, wird an zwei Stellen explizit gemacht: Das ethnisch Fremde wird als Rasse und/oder Nation definiert: Einmal sind es »Die Neger« (ebd.: 141), einmal »die slawische Nation« (ebd.: 143). Das sind die anderen, denn: »Wir sind nicht die andren« (ebd.: 141). Hier wechseln Fragmente aus »teils beschädigten und beschädigenden Diskursen« (Janz 1997: 230). Die Sprechenden konstituieren ihre Identität durch Sprache, nämlich durch den Rekurs auf das einschlägige Vokabular einer Heimat- und Bodenideologie: »Bei uns, im Boden sind wir heimisch.« (Jelinek 32004: 146) Das Identitätsbeharren des Kollektivs steigert sich gegen Ende des Stücks zur Aggression gegen ›das Fremde‹: »Nur wir wohnen hier. Tödlich ist unser Boden den Fremden« (ebd.: 147). Das Stück endet mit der deutschen Identitätsbehauptung als Tunnelblick, aus dem der als deutsches Symbol konnotierte Wald erwächst: »Wir aber. Wir schauen mit offenen Augen und suchen immer nur uns. Wachsen und werden zum Wald« (ebd.: 158). Das Theaterstück Wolken.Heim präsentiert einen ideengeschichtlichen Abriss vom deutschen Idealismus bis zur deutschen Blut- und Bodenideologie als figurenfernes, heterogenes Stimmenkollektiv, d.h. ethnische Alterität

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wird hier als ›Fläche‹ behandelt.2 Diese radikale Ästhetik ethnischer Alterität in Wolken.Heim ist eine Ausnahme im Werk Jelineks, die die Autorin so nicht wiederholt. Im Untersuchungszusammenhang kommt es auf die Tendenz der Darstellung an: Stellt Jelinek ethnische Alterität im Theatertext tendenziell antidialogisch dar? Das Heideggerstück Totenauberg von 1991 arbeitet – personenbezogen wie das bereits erwähnte Burgtheater – mit Anlehnungen an Hannah Arendt und Martin Heidegger. Es besteht aus aneinandergereihten Monologen von typisierten Figuren, die lose aufeinander reagieren. Bärbel Lücke bemerkt zur Figurenkonzeption: »Vielmehr sind alle dramatis personae des Stücks überhaupt keine reinen Personen. Allerdings – ihre Depsychologisierung, Entindiviualisierung und der Scheindialog, den sie führen, machen sie und das, was sie sagen, aber auch nicht zu reinen ›Sprachflächen‹« (Lücke 2008: 132f.). Weder ›reine Sprachflächen‹ noch ›reine Personen‹ – Jelinek vermag es, die konkrete Figurenkonzeption in Totenauberg unbestimmt zu halten; die Figuren werden zu ›Textträgern‹ (vg. Poschmann 1997: 306f.). Gezeigt werden vier Bilder, die einen Naturbegriff und ein damit verbundenes ›Reinheitsgebot‹ thematisieren, das seinen Ursprung im deutsch-faschistischen Denken hat. Schon das erste Bild problematisiert das Prinzip der singulären Figur: Die auf Arendt bezogene Frau hat eine Doppelgängerin auf einer Leinwand; der auf Heidegger bezogene Mann tritt in einem Gestell auf und erscheint dadurch materiell vergrößert. Gerade für diese Figur bietet sich die Jelineksche Bezeichnung Popanz an. Hier agiert aber kein Popanz mit anderen Figuren, sondern die langen, einsamen Monologe der Figuren verleihen der Struktur des Theaterstücks einen antidialogischen Charakter. Das Satyrspiel zur Tragödie Totenauberg bietet die Gelegenheit zur Umkehrprobe: Die schwarze Komödie Raststätte oder Sie machens alle von 1994 thematisiert genderbezogene Alterität. Hier sind die Frauen und Männer aus zwei Mittelstands-Pärchen jeweils getrennt auf der Suche nach sexueller Intensität durch das ›Tier in uns‹. Die Konzeption dieses 2 | Der Begriff der ›Sprachflächen‹, von Jelinek selbst in die Diskussion gebracht und um den Begriff ›Sprachschablonen‹ ergänzt, ist in der Forschung mittlerweile umstritten, nicht zuletzt wohl aber auch deswegen, weil Jelinek sich inzwischen ausdrücklich wieder von ihm abgewendet hat (vgl. Münchner Kammerspiele 2006/07: 9). Wenn er hier und im Folgenden verwendet wird, bezieht er sich allein auf die antidialogische Form von Textpassagen.

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Stücks variiert die traditionelle Komödienpoetik, entsprechend sind die Figuren als Typen angelegt. Der Theatertext verfügt über ein Personenverzeichnis mit den Eigennamen der Figuren, in dem auch Tiere wie ein Bär und ein Elch aufgeführt werden, die sich im Handlungsverlauf (auch) als Menschen erweisen. Jelinek beginnt die Farce mit einem typischen Komödienmotiv. Zwei Frauen verabreden sich zur Intrige gegen ihre Männer; diese Pärchenkonstellation kennt schon die Commedia dell’arte. Bei Jelinek lassen die Frauen ihre Männer an einer Autobahn-Raststätte halten, um zwei potentielle, per Inserat aquirierte Sexualpartner zu treffen – ein Verwechslungsspiel à la Die Fledermaus mit umgekehrten Geschlechterrollen.3 Die Dialoge zwischen den Frauen funktionieren problemlos, ihre Wechselreden schließen präzise aneinander an: »Isolde: Dass unsere Männer auch immer erregt werden, wenn ihnen außer der Reihe etwas passiert! Einen Mercedes zum Stillstand zu bringen, und wäre es in einem vorstädtischen Zimmer, kann doch nicht solch ein Problem sein. Claudia: Immerhin keine Kleinigkeit.« (Jelinek 32004: 71)

Die Kommunikation zwischen den Figuren verläuft also störungsfrei, Claudia reagiert direkt auf die vorhergehende Figurenrede Isoldes. Ebenso gut funktionieren die Dialoge zwischen Kurt und Herbert. Nur wenn die Paare miteinander reden, scheitern die Figuren im Gespräch und der Zuschauer hat einen deutlichen Informationsvorsprung. Auch dies entspricht dem traditionellen Komödienverfahren und stellt die oben erwähnte Typenkonzeption der Figuren nicht in Frage, die auch dezidiert einer traditionellen Komödienpoetik entspricht. Die Frauen reden über die Männer und die Männer über die Frauen. Dabei sind sich die weiblichen und männlichen Figuren jeweils ähnlich, aber ihre Reden sind nicht beliebig austauschbar. Isolde und Claudia sind auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität, die nicht »so beispiellos normal« sein soll (ebd.: 72). Die Männer verdeutlichen, wie fremd ihnen ihre Frauen sind und wie fremd sie selbst ihnen geblieben zu sein glauben. Eine künstliche Fremdheit durch eine sexuelle Begegnung, bei der beide als Tiere verkleidet sind, führt nicht zur Erfüllung. »Isolde: Enttäuschendes Erlebnis« (ebd.: 122). Erst als die Frauen ein Video von ihren sexuellen Erlebnissen 3 | Der Untertitel bezieht sich auf Mozarts/Da Pontes Così fan tutte (Lücke 2008:133).

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sehen, erkennen sie ihre Männer wieder und können ihren Erfahrungen etwas abgewinnen. Das erweiterte Wissen über den anderen bleibt folgenlos, Frauen und Männer bleiben sich in ihrem Begehren fremd. Alle Figuren, mögen sie nun sporadisch in Elch- oder Bärenfällen stecken oder durch parallele Konstellationen gedoppelt werden, sind Prototypen und/ oder Popanze, das Stück weist keinerlei antidialogische Tendenz auf. Die Umkehrprobe bestätigt also den bisherigen Befund; Jelineks Theatertexte zeigen bei ethnischer Alterität eine antidialogische Tendenz, bei genderbezogener Alterität treten Figuren in Form von Prototypen und/oder Popanzen auf. Franziska Schößler hat allerdings darauf hingewiesen, dass Jelinek hier durchaus auch ethnische Alterität thematisiert: Elch und Bär, die ›ultimative Lust versprechen‹, sind »Kolonisatoren des Ostens« (Schößler 2004: 51). Im Unterschied zu den bislang untersuchten Theatertexten liegt der Fokus aber hier nicht auf der Shoah, hierin scheint die entscheidende Differenz für eine antidialogische Darstellung zu liegen. Zwei Jahre nach Raststätte erregt ein weiterer Theatertext, der ethnische Alterität zentral behandelt, aufgrund der Auseinandersetzung mit einem aktuellen Mordfall große Aufmerksamkeit: Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit von 1996 thematisiert die Reaktionen der österreichischen Öffentlichkeit auf den heimtückischen Mord an vier jungen Roma im Burgenland. Die Männer sind 1995 bei dem Versuch, in einem Steinbruch ein Schild mit der Aufschrift ›Roma, zurück nach Indien‹ zu entfernen, gestorben, weil ein hinter dem Schild verstecktes Sprengstoffpaket detonierte. Die Kommentare in der österreichischen Öffentlichkeit zu diesem Verbrechen zeugten z.T. von großer Fremdenfeindlichkeit. Der Theatertext scheint auf den ersten Blick einer ›konventionellen‹ Dramenästhetik zu entsprechen, welche – um mit Poschmann zu sprechen – die dramatische Form ›problemlos nutzt‹ (vgl. Poschmann 1997: 44f. u. 66). Das Stück verfügt über Figuren, Nebentext, Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Die Dramenkonzeption hat allerdings deutliche Brüche, die über den Talkshow-Charakter des Stücks hinausgehen: In das Stück führt ein Moderator ein, dessen mäandernder Eingangsmonolog die dialogische Qualität des konventionellen Dramas karikiert. Diese Figur wird mit ›Einer, Egal wer‹ bezeichnet, was signifikant für die beliebige Namensgebung der Figuren ist. Zwar trägt die – zunächst – positive Identifikationsfigur Margit S. einen Namen. Aber die eigentliche Hauptfigur ›Der Fleischer‹ kann dann auch schon einmal Stangl heißen, wie sie selbst thematisiert; Stangl hieß der Kommandant von Treblinka. Diese

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Beliebigkeit ist Programm, jede Figur und damit jeder kann ein Stangl sein oder auch ein Staberl, der Kolumnist der österreichischen Kronen Zeitung. Jeder kann ein Täter sein, der das ethnisch Fremde durch Worte und Taten zerstört. Entsprechend bevölkern im Übrigen namenlose ›Kunden‹, ›Kundinnen‹ ›andere Kunden‹, ›eine Frau‹, ›ein Mann‹ und ein Inlineskater den Bühnenraum. Die Namenlosigkeit der Figuren bzw. die Austauschbarkeit ihrer Namen deutet es schon an: Ein Dialog findet nicht statt. Alle Reden sind in den Bühnenraum gerichtet. Welche Figur was sagt, ist beliebig. Aus der Figurenrede lassen sich nur wenige Informationen über den jeweiligen Sprecher-Typus entnehmen. Es gibt im Stück keine Antworten auf aufgeworfene Probleme. Und Fragen werden vom Fragenden selbst beantwortet. Allenfalls der Fleischer deutet in seiner Rolle als Talkshow-Moderator einen Bezug zu Margit S. an; diese minimale Beziehung erscheint aber durch ihre mediale Professionalität ebenso beliebig. Inhaltlich ist der Tenor eindeutig: »Wir stehen auf Leichen, und jetzt sind halt noch vier dazugekommen, damit wir nicht aus der Übung kommen« (Jelinek 32004: 39f.). Dass es sich um Tote handelt, deren Ermordung darauf beruht, dass sie als ethnisch fremd definiert worden sind, wird nicht explizit gemacht, sondern unausgesprochen vorausgesetzt. Der Fleischer zitiert allerdings die Schildaufschrift: »Roma zurück nach Indien« (ebd.: 25), wodurch der rassistische Kontext des aktuellen Mordes deutlich eindeutig wird. Hier geht es konkret um das, was in Totenauberg gegen Ende anklang: Die Zuschreibung ethnischer Fremdheit ist ein tödliches Etikett, das zur Ermordung führt. Dass dieser brutale gesellschaftliche Konsens ohne Aggressionen präsentiert und durch rosawollige Gemütlichkeit behäkelt wird, verstärkt die Aussage noch. Auch Stecken Stab und Stangl ist also ein Theatertext, der die Darstellung ethnischer Alterität funktional mit der Auflösung von Figuren verbindet. Akzentuiert wird diese Darstellung durch eine deutliche Medienkritik aufgrund des Talkshow-Charakters des Stücks. An dieser Stelle des Jelinekschen Werkes – im Jahre 1996 – wird die Theatertextanalyse abgeschlossen; das poetische Prinzip ist deutlich geworden. Christina Schmidt hat ausgehend von Stecken, Stab und Stangl bis zu Ein Sportstück (1998) und er nicht als er (zu, mit Robert Walser) (1998) konstatiert, dass die »personal identifizierbare Figur und mit ihr die dialogisch organisierte dramatische Rede« zugunsten von Sprachflächen »verschwunden« ist (Schmidt 2000: 65). Einen Zusammenhang zwischen

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Inhalt und Form stellt sie nicht her. Es ist anzunehmen, dass Jelinek die gezeigte Poetik des Frühwerks im Weiteren neu und anders besetzt.4 Das gilt sicherlich für den Theatertext Über Tiere (2006), der aus einem weiblichen Monolog und einem Zuhälter/Freier-Dialog besteht und für den das oben geschilderte Prinzip nicht in gleicher Weise gilt. Spätestens ab 2005 verfolgt Jelinek explizit eine veränderte Figurenästhetik. In der Vorrede zu Ulrike Maria Stuart (2005) erklärt sie, die Figuren seien »nicht einfach die berühmten, mir inzwischen längst lästigen Sprachflächen, sondern Produkte von Ideologie.« (Münchner Kammerspiele 2006/07: 9) Abschließend ist nach den Gründen dafür zu fragen, warum unterschiedliche Alteritäten zu unterschiedlichen Figurenkonzeptionen in Jelineks frühem postdramatischem Theater führen. Die Thematisierung ethnischer Alterität ist durch die Shoah an ein zentrales historisches Ereignis gebunden, dessen gesamtgesellschaftliche Verantwortung eingefordert wird. Daraus folgt, dass rassistische Morde jüngeren Datums, wie sie von Jelinek mit dem Mord an den vier Roma-Männern in Stecken, Stab und Stangl thematisiert werden, immer auf das gesellschaftliche Kollektiv – hier meist Österreich – bezogen werden. Die Figuren werden darum auch formal tendenziell als Kollektiv dargestellt und Rassismus bzw. Nationalismus historisch als Produkt verschiedener geistesgeschichtlicher Diskurse oder aktuell als Zusammenklang leicht differierender Stimmen zur gemeinsamen Volksstimme betont. Jelineks Theater der ethnischen Alterität entspricht Heiner Müllers ›Theater der Täter‹ insoweit, als es Täterfiguren oder -stimmen sind, die agieren und sprechen. Mittlerweile beherrschen die Massenmedien die kollektive Erinnerung. Wenn Jelineks Theatertexte über ethnische Alterität gleichzeitig daran Kritik üben, kann eine Einzelfigur nicht die Produktion und Rezeption dieses Massenphänomens postdramatisch chiffrieren. In Bezug auf genderbezogene Alterität setzt Jelinek in den frühen Theatertexten einen anderen Schwerpunkt, obwohl auch dieses Thema aus der Perspektive gesamtgesellschaftlicher Verantwortung gesehen werden kann. Aber es liegt kein zentrales historisches Ereignis vor, des4 | Bei dieser thematisch angelegten Analyse ist allerdings nicht zu verkennen, dass die Poetik der Jelinekschen Theatertexte immer radikaler wird. Die bisherige Forschung hat die künstlerische Weiterentwicklung jedoch ausreichend gewürdigt, so dass hier der thematische Aspekt in den Vordergrund gestellt wird.

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sen Erinnerungsarbeit im Kollektiv der Stimmen erfolgen muss. Hier agieren Jelineks Prototypen und Popanze mehr oder weniger stereotyp in Paarkonstellationen miteinander. Während Jelinek in Bezug auf Rassismus und Nationalismus stärker die Gedächtniskultur und das Kollektiv betont, hält sie bei genderbezogenen Themen an ›Narration‹ und ›Figuration‹ fest. Insgesamt ist an Janz’ Auffassung von Jelineks Verhältnis zum Faschismus anzuschließen: Sie sieht Faschismus nicht »nur als Thema, sondern auch als Fixpunkt ihrer ästhetischen Verfahrensweisen« (Janz 1997: 225). Janz erklärt in Bezug auf die Theatertexte von Burgtheater bis Totenauberg und Wolken.Heim: »Was Barthes hier allgemein als Prozeß der Desemantisierung und Resemantisierung im Prozeß sprachlicher Mythenbildung beschreibt, wird von Jelinek spezifiziert als Charakteristikum faschistoider bzw. faschistischer Sprache« (Janz 1997: S. 230). Die Untersuchung hat darüber hinaus gezeigt, dass die Darstellung ethnischer Alterität in Jelineks frühen Theatertexten funktional mit der Auflösung von Figuren zugunsten antidialogischer Tendenzen verbunden ist, wenn die Darstellung die Shoah bzw. die (mediale) Erinnerung an die Shoah fokussiert. Zu fragen bleibt, ob es sich hier um eine spezifisch Jelineksche Theaterästhetik oder um eine charakteristische Eigenschaft des postdramatischen bzw. des nicht mehr dramatischen Theaters handelt. Inwieweit hat die Thematisierung ethnischer Alteritäten zu einer Problematisierung der dramatischen Form geführt? Wenn es, wie Lehmann formuliert »[s]ymptomatisch für das postdramatische Theater ist […], daß die dialogische Struktur zugunsten von monologischen und chorischen abgelöst wird« (Lehmann 1999: 233), inwieweit fungiert dann ethnische Alterität als Katalysator dieser neuen Theaterästhetik? Antidialogische Tendenzen in Form einer Episierung im Drama gibt es seit dem Naturalismus, ohne dass hier ein Bezug zu ethnischer Alterität zu konstatieren wäre. Auch für das Epische bei Brecht lässt sich kein entsprechender Zusammenhang nachweisen. Das von ihm auf die Bühne gebrachte Kollektiv des Chores kann zwar auch ein ideologisch ›falsches‹, also etwa ein faschistisches Kollektiv sein. Der ideologisch ›richtige‹ Chor, also der Chor der Arbeiter bzw. der Partei, spielt aber eine gewichtigere Rolle in den Lehrstücken (vgl. Baur 1999: 60-63). Wie ist es dann um die Texte postdramatischer Theaterautoren bestellt, die für ihre antidialogische Anlage bekannt sind? Wenn das postdramatische Theater

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auch »nur sehr bedingt ›radikal episch‹« ist, (Lehmann 1999: 47) so haben antidialogisch orientierte Theatertexte das postdramatische Theater wesentlich mit durchgesetzt. Paradigmatische Texte wie Heiner Müllers Bildbeschreibung (1984) und Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) zeichnen sich durch ihre Figurenauflösung zugunsten surrealer Landschafts- und Figurenbeschreibung (Müller) und Regieanweisungen (Handke) aus, allerdings ohne dass ethnische Alterität relevant erscheint. Das gilt auch für Müllers postdramatischen Theatertext Verkommenes Ufer. Medeamaterial. Landschaft mit Argonauten (1982), dem immerhin der Medea-Mythos zugrunde liegt, welcher – wie eingangs erwähnt – die Last des Fremdseins thematisiert. Das Stück stellt aber in Zusammenhang mit Kolonisation und menschlicher Zerstörung genderbezogene Alterität in den Vordergrund. Aus deutlich epischen Strukturen erwächst im dritten Teil ein textuelles Jason-Ich; diese »Ich-Bildung fällt mit dem Tod [Jasons] zusammen« (Jaeger 2007: 147). Zwischen ethnischer Alterität und der Auflösung der Figur in postdramatischen bzw. nicht mehr dramatischen Theatertexten besteht offensichtlich nicht notwendig ein funktionaler Zusammenhang. Welche Bedeutung hat dabei hier das Kollektiv, das sich bei Jelinek als wichtiges theatrales Element herausgestellt hat? Das Volk ist erst spät als zentraler Protagonist auf die Bühne getreten. So hat Georg Büchner mit den Volksszenen in seinem Revolutionsdrama Dantons Tod (1835) noch Aufsehen erregt. Die Darstellung des Volks fördert antidramatische Strukturen: »Das kommentierende Nebeneinander-Sprechen des Volkes, die Verwendung sich wiederholender, retardierender Szenen […] setzen an die Stelle einer autonomen Tragödie das Schauspiel, das auf einen außerdramatischen Zusammenhang verweist« (Schlaffer 1972: 58). Das Volk muss dazu allerdings, das hat das Beispiel Jelineks gezeigt, als Täter dargestellt werden und die Darstellung sich explizit auf die Shoah beziehen. Rainald Goetz, Werner Schwab und Marlene Streeruwitz gelten als Autoren nicht mehr dramatischer Theatertexte, die ein starkes Sprachspiel mit einer Fokussierung auf die Shoah verbinden. Weder Schwab noch Streeruwitz machen diesen Bezug allerdings in ihren Texten explizit; bei Streeruwitz sind es gerade die »Leerstellen«, die Nationalsozialismus und Austrofaschismus chiffrieren (Schößler 2004: 104). Hier lässt sich ein funktionaler Zusammenhang zwischen Figurenkonzeption und ethnischer Alterität nicht feststellen. Ähnlich entschieden wie Jelinek stellt dagegen Goetz in der Theater-Trilogie Festung die Autonomie der

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Sprache über die Autonomie der Figur, sein Gegenstand ist die Kommunikation: »Goetz seziert den diskursiven Umgang mit Vergangenheit, führt die in den 90er Jahren pluralen, ja inflationär gewordenen Redeweisen über den Holocaust vor, indem er in der Trilogie eine historische Linie nachzeichnet, die von dem verstümmelnden Schweigen in den 50er und 60er Jahren (Kritik in Festung) zu einer Explosion obligater Erinnerungsrituale und medialer Sprechweisen über die Shoah in den 90er Jahren führt (Festung).« (Schößler 2004: 82f.)

Entsprechend zeigt Goetz’ Trilogie ein komplexes Spiel mit der Auflösung von Figuren zugunsten der Auflösung der dramatischen Form: Der erste Teil besteht aus einem Familienstück mit dem Titel Kritik in Festung. Namenlose Schwestern und Brüder führen Alltagsgespräche, hinter denen die Ungeheuerlichkeit der Shoah immer wieder sichtbar wird. Hier sind die Figuren noch am stärksten durchgebildet, auch wenn sie schon so weit hinter den Dialog zurücktreten, dass die einzelnen Beiträge keine Informationen über die einzelnen Figuren vermitteln. Das Familienstück beginnt zudem mit einem Chor und wird gegen Ende chorisch aufgelöst durch »Siebenundreissig Stimmen und Gesichter« (Goetz 1993: 91f.). Der zweite Teil Krieg zeigt eine Unterhaltungsshow in der Wannseevilla am Abend des Mauerfalls am 9. November 1989. Von Katja Ebstein über Rainer Werner Fassbinder bis zum ›Chor der Dichter und Denker‹ führen Vertreter der medialen Welt ein folgenloses KommunikationsPotpourri ohne dialogische Qualitäten vor. Das Personenverzeichnis des Stücks führt konsequenterweise »Stimmen und Gesichter«, »Menschen« und »Tote« an (Goetz 1993: o.S.). In diesem zweiten Teil erweist sich die Figurenkonzeption in ähnlicher Weise als von medial bedingter Fragilität wie in Jelineks Stecken, Stab und Stangl. Der dritte Teil Katarakt führt in die Innerlichkeit, ein undefinierter ›Alter‹ lässt das Publikum an seinem Gedankenstrom teilhaben, der sich (auch) mit den Bedingungen von Kommunikation und Erinnerung in verschiedenen Lebensstationen auseinandersetzt. Dabei bleibt unklar, ob sich hier überhaupt von einer Figur sprechen lässt, und wenn, von welcher – einem alten Mann, einer Personifikation des (Lebens-)alters oder dem alter als dem anderen im Verhältnis zum ego? Als Monodrama ist der Text zwangsläufig tendenziell episch angelegt.

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Goetz’ Theater zielt also nicht nur grundsätzlich »mit dem Verzicht auf das Spiel psychologisch durchgearbeiteter Handlungsträger im Rahmen geschlossener Repräsentationsstrukturen tendenziell auf Entpersonalisierung« (Eke 2011: 56). Die Trilogie Festung hat gezeigt, dass die Entpersonalisierung zu antidialogisch orientierten Strukturen führt. Die Thematisierung ethnischer Alterität führt im postdramatischen Theatertext also unter bestimmten Bedingungen zu einer anderen Figuren- bzw. Stimmenkonzeption als genderbezogene Alterität. Wer wie Jelinek das ›Volk‹ als Täter darstellen will, diachron als Diskurs und synchron als (Medien-)Kollektiv, löst sich von der singulären Figur bzw. dem Dialog. Der entscheidende Aspekt dieser Argumentation ist allerdings der Rückbezug auf die Shoa. Das Motiv ethnische Alterität kann in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 nicht ohne sie gedacht werden; die Frage ist, wie explizit dies gemacht wird. Eine explizite Thematisierung erfordert die Darstellung von Geschichte/Gedächtnis und dies begünstigt die diskursive Darstellung. Die Sprache des Diskurses dominiert das Subjekt: Eine angemessene Umsetzung für das Theater wird darum nicht bei der Figur ansetzen, sondern bei der Autonomie der Sprache, beim polyphonen Diskurs. In diesem Fall wird die Darstellung von ethnischer Alterität funktional mit der Auflösung von Figuren zugunsten von antidialogischen Tendenzen verbunden. Es bleibt zu fragen, ob hier ein Zusammenhang mit der ›Undarstellbarkeit‹ der Shoah besteht. Zahlreiche Ausschwitzkomödien legen nahe, dass reines Illusionstheater diesem Ausmaß an Schrecken nicht gerecht werden kann, so dass die Überwindung der dramatischen Form eine mögliche Lösung bietet.

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Lüsterne Gräfinnen, mörderische Liebhaber Über Pornografie, Kannibalismus und orgiastische Gewaltexzesse in Elfriede Jelineks Bambiland/Babel und Rechnitz (Der Würgeengel) Jan Süselbeck Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen. Christian Kracht, 1979

1. K ANNIBALISMUS ALS G IPFEL SE XUELLER L UST ? S TR ATEGISCHE TABUVERLE T ZUNGEN IN R ECHNITZ (D ER W ÜRGEENGEL) Stefan Keim atmete in der Tageszeitung Die Welt auf: »Endlich mal wieder ein echter Theaterskandal.« (Keim 2010b) Was war geschehen? Der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer hatte im ›Central‹, einer Spielstätte des Düsseldorfer Schauspielhauses, Elfriede Jelineks Drama Rechnitz (Der Würgeengel) (2009) inszeniert. Das Publikum war empört. Bilden doch Zitate das Ende des inszenierten Stücktextes, die Jelinek größtenteils wörtlich aus Günter Stampfs Band Interview mit einem Kannibalen. Das geheime Leben des ›Kannibalen von Rotenburg‹ (Stampf 2007) entnahm. Darin wird ein ›Chat‹ zwischen dem Computertechniker Armin Meiwes und seinem ›Gespielen‹ Bernd Brandes wiedergegeben. Der ExOberfeldwebel und Raiffeisen-Bankangestellte Meiwes hatte Brandes, den Diplom-Ingenieur in leitender Position bei der Berliner Siemens AG, über ein Internetforum kennengelernt, sich mit ihm im hessischen Rotenburg

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verabredet, ihn mit dessen angeblichem Einverständnis im Jahr 2001 bei sich zu Hause geschlachtet und teilweise aufgegessen. Genauer: Der Akt des Penis-Abschneidens, wie überhaupt die Idee des Abbeißens und Zerschneidens von Gliedmaßen sowie ihr Verspeisen vor den Augen des Verstümmelten, der dies möglichst lange und noch bei Bewusstsein miterleben wollte, stellte offenbar sowohl für Meiwes als auch seinen Partner den Gipfel vorstellbarer Lust dar. Dieser Vorgang wurde mit sexuellen Handlungen kombiniert, mit einer Videokamera viereinhalb Stunden lang gefilmt und diente Meiwes danach noch weiter als Anregung zur Masturbation.1 Tatsächlich besteht zwischen dem Begehren nach der körperlichen Vereinigung und demjenigen nach Anthropophagie als einer noch vollkommeneren Form der Inkorporation des Begehrten eine ambivalente Verbindung, die eines der letzten und größten Tabus unserer Zeit darzustellen scheint. Vor diesem Hintergund bekommt Maud Ellmanns Bemerkung aus ihrer lesenswerten Studie Die Hungerkünstler. Hungern, Schreiben, Gefangenschaft, heutzutage sei »die Küche und nicht das Schlafzimmer der Ort, an dem die Versuchung lauert und Sünden begangen werden«, noch einmal einen ganz neuen Klang (Ellmann 1994: 44). Ellmann erinnert in ihrer Studie unter anderem daran, dass schon Sigmund Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) die These aufstellte, bereits in der ›prägenitalen‹ Sexualorganisation des Kleinkinds sei die kannibalische Einverleibung des Objekts das primäre Ziel der Begierden. Das Begehrte und Geschätzte werde im Rahmen dieser ambivalenten Grundkonstitution des menschlichen Eros ganz einfach einverleibt und dadurch vernichtet, wobei diese direkte Form der Triebbefriedigung später in der Regel in die psychische Kategorie der Identifizierung überführt werde (ebd.: 73).2 1 | Siehe hierzu auch den Wikipedia-Eintrag zu Armin Meiwes (o.J.) und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das Meiwes’ Verfassungsbeschwerde nach seiner Verurteilung durch das Landgericht Frankfurt a.M. zu lebenslanger Haft abwies und den Tathergang in seiner Begründung nochmals minutiös schildert (vgl. BVerfG 2008). 2 | Siehe hierzu auch Freud 2000: 103: »Organisationen des Sexuallebens, in denen die Genitalzonen noch nicht in ihre vorherrschende Rolle eingetreten sind, wollen wir prägenitale heißen. […] Eine erste solche prägenitale Sexualorganisation ist die orale oder, wenn wir wollen, kannibalische. Die Sexualität ist hier von

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Literarische und cineastische Sublimationen dieser Tabu-Sphäre der menschlichen Sexualität finden sich unter anderem im Horror-Genre, so etwa bei der mormonischen Autorin Stephenie Meyer, deren VampirRomane samt den darauf basierenden ›Blockbuster‹-Verfilmungen den entsagungsvollen erotischen Verzicht zum Vorbild erheben. Im klassischen Zombie-Film wiederum wird das anthropophagische Begehren als grauenvolles ›Fremdes‹ externalisiert, das nur durch seine Vernichtung zu beseitigen und zu ›heilen‹ ist. Wenn man noch dazu die eigene Rolle als Geisteswissenschaftler kritisch hinterfragen wollte, der sich ausgerechnet solche Themen aussucht, so bietet sich eine weitere These aus Ellmanns Buch an: »Da Lesen und Schreiben den Prozeß des Essens und Ausscheidens nachahmen, stellen sie eine Art Ersatzdroge dar, mit der die Obsession bekämpft werden kann.« Gebe es doch keinen Zweifel daran, dass »es eine Verbindung zwischen dem Hungern und dem Schreiben gibt, zwischen dem Hunger des Fleisches und der Vermehrung der Zeichen« (ebd.: 47). Jelinek nutzt die ausführliche Zitation von Meiwes’ bizarrem Tabubruch am Ende ihres Dramas allerdings zu einer noch dazu mit biblischen Zitaten und Bezugnahmen auf die Backchen des Euripides versetzten Veranschaulichung der historischen Ereignisse vom 24. und 25. März 1945 in dem burgenländischen Ort Rechnitz.3 Die Thyssen-Tochter und Gräfin Margit Batthyány erlaubte dort noch kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee in ihrem Schloss ein morbides, orgiastisches Nazi-Fest mit ihren Liebhabern und Untergebenen, auf dessen Höhepunkt man dazu überging, mindestens 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter, die sich vor Ort befanden, zu erschießen, zu erschlagen und zu verscharren. Die Überreste der Ermordeten wurden bis heute nicht gefunden. Auch in Rechnitz wurde das Abschlachten in Kombination mit einem Festessen und -trinken zu einem dionysischen Akt. Die Opfer wurden hier zwar nicht verspeist, doch die Symbolik der rituellen Verbindung der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert, Gegensätze innerhalb derselben nicht differenziert. Das Objekt der einen Tätigkeit ist auch das der anderen, das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objektes, dem Vorbild dessen, was späterhin als Identifizierung eine so bedeutsame psychische Rolle spielen wird.« [Herv. i.O.] 3 | Zur Intertextualität dieser Passage hat Teresa Kovacs (2010) bereits genauer gearbeitet.

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von lustvollem Essen und gierigem Morden, des gewaltigen Fressens mit der Massentötung im Akkord ist vielfältig und in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur nicht einmal neu – besonders in jenen Fällen, in denen diese sich auf die Shoah bezog. So finden sich auch schon in der Literatur Thomas Bernhards und Arno Schmidts bei der Thematisierung des Essens und Trinkens bzw. des ›Fressens‹ und ›Saufens‹ vielfältige Anspielungen auf die verleugnete Geschichte der Shoah – um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, deren Schreibstrategien Jelinek offensichtlich folgt (vgl. Süselbeck 2006: 107-131). Teresa Kovacs erinnert in diesem Zusammenhang unter anderem auch an Heiner Müllers Germania Tod in Berlin (1956/1971) sowie an George Taboris Holocaust-Drama Die Kannibalen (1968) (vgl. Kovacs 2010: 291). Offenbar drängt sich angesichts des historisch belegten Nexus’ der industriellen ›Verwertung‹ von Leichenbergen in den NS-Vernichtungslagern eine solche literarische Motivik als Konstruktion einer spezifischen ›Alterität‹ geradezu auf. Es wurde die These aufgestellt, dass die ShoahTäter ein verzerrtes Körper-, Geschlechter- und Rassenbild entwickelten, welches wiederum auf das von ihnen insgeheim gefürchtete, körperliche ›Eigene‹ zurückwies: Die oftmals zwangsweise entkleideten ›Feinde‹ (nicht nur Männer, sondern gerade auch Frauen und Kinder) in eine verdinglichte, amorphe und tote Masse zu verwandeln, erschien ihnen offenbar als geeignetes Mittel, um sich gegenüber der eigenen Sterblichkeit, Bedrohtheit und ›Weichheit‹ soldatisch zu stabilisieren.4 Auch bei den Rechnitzer Exzessen, die Jelinek aufgreift, handelt es sich um ein historisches Verbrechen, dessen Umstände ein besonderes Licht auf die Shoah werfen. Einerseits entpuppt sich diese so als Genozid, der eben nicht nur ein purer Verwaltungsakt war, den wir uns als ein banales Ergebnis ›kumulativer Radikalisierungen‹ (Hans Mommsen) vorzustellen haben – und auch nicht als eine bloße Folge eines von ›ganz oben‹ verordneten, intentionalen ›Befehlsnotstands‹. Andererseits aber wird deutlich, dass den Tätern die Durchführung des Holocausts offensichtlich auch multiple Formen der Lust bereiten konnte. Nicht allerdings den Opfern – und hier wäre in der Tat ein Aspekt in Jelineks Collage mit 4 | Dieter Reifarth und Viktoria Schmidt-Linsenhoff etwa setzen sich in ihrem Beitrag über die Kamera der Täter (Reifarth/Schmidt-Linsenhoff 1999) mit diesem bizarren Wahrnehmungs-Phänomen auseinander, in dem sie Privatfotografien von SS-Tätern untersuchen, die ihre eigenen Massenmorde mit Leichenfotos belegen.

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den Dokumenten des ›Kannibalen von Rotenburg‹ und seines sterbewilligen Partners benannt, der problematisch erscheinen könnte, je nachdem, wie genau man diese dunkle Passage in ihrem Stück denn nun interpretieren möchte. Dass es in Jelineks Rechnitz-Stück ausgerechnet eine Frau ist, die das große Vernichtungs-Abendmahl anführt, dürfte kein Zufall sein, ermöglicht doch die historische Figur Batthyánis eine Potenzierung des Tabubruchs. Eine weibliche Täterfigur erlaubt sich hier die absolute Einverleibung des Anderen als Gipfel der Lust: Diese Gräfin geht selbst auf die Jagd, sie zerreißt die Körper der Opfer, als seien sie Schlachtvieh: »Sie beißt mit gutem Biß, die Erzherzogin beißt mit gutem Biß, wie ein Hirt, der die Nabelschnur eines Schafs durchbeißt«, heißt es da etwa (Jelinek 2009: 113). Und auch sonst benimmt sich diese Frau wenig damenhaft: »Die Frau Gräfin sah für mich so aus, als wäre sie des Berauschers Dienerin, dabei hat sie selber gesoffen wie ein Loch.« (Ebd.: 187) Schon allein aufgrund der heute grassierenden Vorstellung von einem idealen Frauenkörper als dem einer Hungernden wird Jelineks Stilisierung der historischen Gräfin zu einem Fress-, Sauf- und Sex-Monster als Gender-Schock-Strategie erkennbar, auch wenn diese wiederum selbst auf gewissen dämonisierenden Weiblichkeitskonstruktionen der Vergangenheit beruhen mag. Ist es doch offensichtlich, dass »heutzutage vor allem Frauen von der Fastenmode betroffen sind, ähnlich wie es im Mittelalter vor allem ihnen oblag, aus religiösen Gründen zu hungern«, wie Ellmann erinnert: »Die weiblichen Heiligen verzichteten aber auf Nahrung, um ihre sexuellen Begierden zu disziplinieren, wohingegen die Frau von heute hungert, um ihr Fett abzubauen: während früher die Sexualität der Frau stigmatisiert war, wird heute ihre Körperfülle mit einer Intensität gebrandmarkt, die schon fast Züge einer Verfolgung annimmt.« (Ellmann 1994: 17) Der eigentliche Skandal an den betreffenden Konnotationen bei Jelinek ist wohl der, dass sich in ihrem Stück ausgerechnet eine sexuell fordernde und ernährungstechnisch emanzipierte Frau als grausame Shoah-Täterin entpuppt. Doch dies alles war in der eingangs erwähnten Düsseldorfer Inszenierung offenbar gar nicht der Stein des Anstoßes. Dort verließ das Publikum schimpfend den Saal, weil es die Kannibalen-Textpassage, die in der Inszenierung Schmidt-Rahmers betont und deutlich gesprochen wurde, schon ganz allein für sich genommen unerträglich fand. Die Regieassistentin wurde von einem entrüsteten älte-

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ren Zuschauer im Foyer des Theaters angespuckt. »Elfriede Jelinek zeigte sich auf Anfrage erstaunt«, berichtet der Reporter Keim dazu in seinem Welt-Artikel und zitiert die Dramatikerin: »Der größte Teil des Stückes handelt von der Ungeheuerlichkeit des Mordes an fast 200 hilflosen Menschen. […] Die Mörder gehen vom Besäufnis direkt zur Menschenjagd. Dass dann ein Lustmord, ausgerechnet, die Leute mehr schockiert, hätte ich nicht gedacht.« (Keim 2010b) Es ist anzunehmen, dass Jelinek genau diese Selbstentlarvung des Publikums intendierte, genauso wie sie sich in Wahrheit schon darauf gefreut haben dürfte, sich entsprechend entrüstet in der Presse äußern zu können. »Weder Nacktheit noch eine Blutorgie hat die krassen Reaktionen ausgelöst, sondern eine vierminütige Toneinspielung«, staunt auch der Theaterkritiker Keim in einem weiteren Artikel zum Skandal, den er in der Frankfurter Rundschau publizierte (Keim 2010a). Diese Beobachtung erlaubt die These, dass es nach wie vor eine generelle und starke Abwehr dagegen gibt, die menschliche Sexualität mit grausamsten Gewaltakten verbunden zu sehen, die am Ende nicht nur wenigen ›Perversen‹ möglich sein, sondern auf allen sozialen Ebenen geschehen könnten – und zwar sowohl ausgehend von Männern als auch von Frauen. Meiwes sprach in der Düsseldorfer Aufführung als ›Stimme‹ wie ein ›Allerweltstyp‹ zum Publikum und schockierte dieses somit zutiefst: Dass die Massenmörder der Shoah genauso ›real‹ und genauso ›normal‹ waren, schien den Zuschauern dabei weniger zu Bewusstsein gekommen zu sein. Man muss diese Effekte im Publikum wohl auch im symptomatischen Zusammenhang mit gegenwärtigen Zeitphänomenen wie den plumpen antifeministischen Vorstößen der deutschen Familienministerin Kristina Schröder (CDU) sehen; verkündete diese doch im November 2010, die Behauptung, der Geschlechtsverkehr von Männern mit Frauen könne auch nur irgendetwas mit Unterwerfung zu tun haben, sei ›falsch‹ – ohne dass dies ihren sofortigen Rücktritt aufgrund gendertheoretischer Ahnungslosigkeit provoziert hätte: Jelineks Kannibalen-Zitate entfalteten offensichtlich im Kontext eines sexualideologischen ›backlashs‹ ihre Wirkung, dessen rigide normative Grundannahmen noch weit hinter Freuds Kannibalismus-Erkenntnisse von vor über hundert Jahren zurückfallen – obwohl Freuds Analysen seinerzeit auch noch alles andere als ›feministisch‹ gemeint waren. Nicht die Erinnerung an das zeitgeschichtliche Massaker von Rechnitz also empörte offenbar die Düsseldorfer Zuschauer, sondern der bloße

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Verweis auf einen schaurigen Sexualexzess aus ihrer Gegenwart. Dabei eröffnet Jelinek gerade durch ihr postdramatisches Zitat-Arrangement, das den ›Kannibalen von Rotenburg‹ mit einem Massaker während der Shoah in Verbindung bringt, anthropologische bzw. sozialpsychologische Perspektiven auf die Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts, die viel diskutierenswerter erscheinen als der bloße Empörungswert gieriger ›Chat‹Stammeleien eines grausamen ›Sex-Monsters‹ aus Nordhessen. Gleichzeitig liefern der Auf bau ihres Stücks und die Folgen seiner Aufführung brisantes Anschauungsmaterial für jene literaturwissenschaftlichen Fragestellungen, die sich auf die emotionalen Effektstrategien von Kriegs- und Gewaltdarstellungen kaprizieren (vgl. Anz 2007: 207-239). Damit spielt also für die Interpretation des Dramas nicht nur eine Definition von Jelineks Schreiben als idealtypische Vorlage für ›postdramatische‹ Aufführungen eine Rolle, wie sie etwa Hans-Thies Lehmann zu profilieren versucht hat (vgl. Lehmann 1999), sondern auch die Frage nach einer gezielten Tabuverletzung als Affektstrategie. Diese soll im Folgenden anhand von Jelineks Intertextualität und deren poetologischer Tradition, die letztlich auf Karl Kraus zurückgeht, untersucht werden. Das Morden wird bei Jelinek zu einem geradezu ›queer‹ erscheinenden Akt, zu einem autonomen Lust-Ritual, das es erlaubt, bürgerliche Konventionen orgiastisch zu überwinden und überkommene Geschlechterbilder aufzulösen. Die Shoah avanciert in Rechnitz (Der Würgeengel) zum pornografischen Setting zwischen homosexueller Ausschweifung und fröhlichen Hetero-Gangbangs. Der Holocaust gerät zum Anlass mörderischer Festessen und das dekadente Bankett im Angesicht des ›Untergangs‹ des ›Tausendjährigen Reiches‹ zum Hors d’œuvre vor der orgiastischen Hinschlachtung einer großen Gruppe zu Sklaven degradierter Menschen. Der endokannibalische Akt, bei dem es zu einem Verzehr des Menschenopfers aus Liebe kommt, wird in Jelineks Stück mit einem exokannibalischen Akt in Verbindung gebracht, der eine »aggressive Form der Anthropophagie« darstellt, die »eine endgültige Vernichtung von Fremden und Feinden zum Ziel hat« (vgl. Kovacs 2010: 291). Die Sublimierung, die religiöse Ritualisierungen solcher archaischer ›Abendmahls‹-Akte darstellen, indem sie diese nur noch symbolisch nachvollziehen, wird bei Jelinek nicht ohne beißende Komik rückgängig gemacht. Wenn es im Psalm 23, Vers 5 heißt: »Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein«, so wird daraus in Jelineks Stück der dumpfe Kalauer: »Der

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Braten wird mit Öl gesalbt werden und die Becher werden vollgeschenkt werden.« (Jelinek 2009: 203, vgl. dazu auch Kovacs 2010: 299) Auffällig ist zudem Jelineks offensichtlich besonders emotionalisierende Strategie, sich in ihrer Darstellung der Geschehnisse von Rechnitz bewusst eher an der Kolportage David R. L. Litchfields zu orientieren als an der keineswegs lückenlos gesicherten historischen Quellenlage zur Massenmord-Party von 1945. In der Danksagung am Schluss des Stücktextes wird Litchfields Publikation The Thyssen Art Macabre (2006) auch ausdrücklich erwähnt (Jelinek 2010: 205) – ein Aufsehen erregendes Buch, in dem die zwielichtige Rolle der Rechnitzer Schlossherrin Batthyáni dahingehend pointiert wird, dass die junge Gräfin das Massaker als Höhepunkt ihres Festes selbst mit organisiert und sich an den Mordtaten in besonders sadistischer Lüsternheit beteiligt habe. Das ist allerdings historisch so nicht belegt. Der heutige Skandal in Rechnitz ist unter anderem der, dass die noch lebenden Zeugen des Massenmordes bis heute den Ort verschweigen, an dem die Opfer verscharrt wurden. Dennoch lösten erst Litchfields boulevardtaugliche Behauptungen 2007 in Deutschland eine heftigen Pressedebatte aus (vgl. Schenkermayer 2010). Diese journalistische Aufmerksamkeit machte den in Österreich tatsächlich schon seit Jahrzehnten bekannten Fall, der die Problematik der dortigen typischen Form der NS-Vergangenheits-Verleugnung in nuce widerspiegelt, paradoxerweise erstmals einem breiteren, internationalen Publikum bekannt. Jelinek bezieht sich, wie sie im Gespräch mit Pia Janke erzählt, ganz bewusst so intensiv auf dieses Kolportage-Buch von Litchfield, da dessen »Umstrittenheit ja das Interessante« sei, es mache die »Dinge sinnlich erfahrbar, auch wenn kaum was Wahres dran ist«. (Jelinek/Janke 2010: 18) Sehr deutlich wird dadurch die offensive Emotionalisierungsstrategie der Autorin, die bewusst darauf abzielt, das Publikum aus der Reserve zu locken und es mit erfahrungsgemäß besonders wirksamen BoulevardMotiven über die Rechnitzer Geschichte effektvoll zu empören. Von einer ›lüsternen Gräfin‹ und ihren ›mörderischen Liebhabern‹ zu erzählen, erzeugt als reißerische Vorstellung eben allemal mehr Aufmerksamkeit, als wenn man sich ›nur‹ auf die historisch belegten Tatsachen eines Massenmordes beschränken würde, dessen reale Hintergründe wahrscheinlich niemals mehr vollständig zu Tage treten werden. »Halt halt halt!«, heißt es im Stück in einer Passage, die gewissermaßen die Düsseldorfer Reaktion des Publikums vorwegnimmt: »Wir haben

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heute doch eine kognitive Distanz zu dieser Zeit der Extreme gewonnen, und diese Distanz sollten Sie nicht einfach so im Casino des Denkens aufs Spiel setzen.« (Jelinek 2009: 78) Litchfields Horror-Buch aber vermochte diese emotionale Distanz zu den Ereignissen immerhin zu irritieren: Jelinek konfrontiert seine zwar teils zweifelhaften, aber dennoch aufrüttelnden Recherche-Ergebnisse mit dem zitierten Ausruf im Dramentext, um publizistische Verharmlosungen des Holocausts zu dokumentieren und gleichzeitig zu entlarven. Diese wirft sie unter anderem Hans Magnus Enzensberger vor, den sie in der zitierten Passage als »Vordenkerstimme« und »Ausnahmeboten« der deutschen Geschichtspolitik verhöhnt: »Alle Deutschen sind ein Ziel und haben ein Ziel, ihre Vordenkerstimme stimmt, sie erschallt immer, bevor der Deutsche, der seine Macht mit Gewalt gleichsetzt und dann noch etwas Moral hineinrührt, bevor er Millionen in die Öfen schiebt, überhaupt denkt.« (Ebd.) Doch nicht nur Enzensberger wird in dem Stück angegriffen. Auch der renommierte Historiker Wolfgang Benz wird zum Ziel von Jelineks verschlüsselten Formen der Polemik. Benz hatte sich als Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung noch am Tag der Veröffentlichung von Litchfields F.A.Z.-Artikel vom 18. Oktober 2007 im Deutschlandradio zu Wort gemeldet und dessen Behauptungen als »Geraune« bzw. »Behauptung mit verschwörungstheoretischem Hintergrund« abgetan. Litchfield sei nichts als ein »Sensationsjournalist«, seine Recherchen seien »an den Haaren herbeigezogen«, »zusammenkolportiert« und »abscheulich schlecht geschrieben«. Die Tatsache, dass die konkrete Verstrickung der Gräfin Batthyány in das Massaker ungeklärt ist, während Litchfield suggerierte, sie sei unmittelbar in die Gräuel involviert gewesen, verleitete Benz dazu, gleich den gesamten Rechnitzer Massenmord in Zweifel zu ziehen, obwohl dieser nun wirklich längst hinreichend historisch belegt ist. Der späte Zeitpunkt des Massakers Ende März 1945 – kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee in Rechnitz – stimme ihn jedenfalls »skeptisch«, meinte Benz: »Am 24. und 25. März 1945 hatten auch die ganz unentwegten Fanatiker eigentlich anderes im Sinn, nämlich ihre Haut zu retten.« (Zitiert nach Schenkermayr 2010a: 77f.) Der Historiker stand damit plötzlich selbst als schlichtweg uninformierter Leugner längst nachgewiesener Holocaust-Verbrechen da und erregte vor allem bei österreichischen Kennern der Materie Empörung. So schrieb Robert Misik am 30. Oktober 2007 in der taz, »Verwunderung«

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sei »nur ein Hilfsausdruck angesichts eines Mannes wie Wolfgang Benz, der immerhin einen Lehrstuhl für Antisemitismusforschung bekleidet und im Radio hinausposaunt, die Massakerparty habe es bestimmt nicht gegeben, weil den Nazis sicher nicht zum Feiern zumute war so kurz vor Kriegsende. Und die Erde ist eine Scheibe.« (Zitiert nach ebd.: 85) Zum Verständnis einer der ersten Passagen gleich zu Beginn von Jelineks Stück sind diese Hintergrundinformationen nicht unwichtig. Hier geht Jelinek mit Benz, dessen Name allerdings unerwähnt bleibt, tatsächlich »nicht zimperlich um« (Strigl 2010: 366), wie auch die Literaturkritikerin Daniela Strigl feststellt. So heißt es unter anderem: »Der Herr Geschichtsprofessor wieder läßt Ihnen durch sein Klitterungsklistier von der Rückseite her – denn auf der Flucht sieht man die Menschen ja nur von hinten – ausrichten, daß Menschen, die sich im schwärmenden Lauf vor der rotflammenden Pechglut ihrer eigenen Häuser retten müssen, keine Zeit haben für Orgien, Saufereien, kreuz und quer im christlichen Abendland bis zum Morgenland, bis zur Menschheitsdämmerung in der Früh Rumficken und andre Blödheiten, bei denen man letztlich doch die Arschkarte aus dem vollgebluteten Sacko zieht. In einem Haus, in dem alle Lüste und Laster zu Hause sind, da bleibt man gern, da rennt man nicht einfach weg, nur weil der Fremde zu früh kommt, von uns aus kommt jeder zu früh, bevor wir fertig sind. Zumindest bleibt man bis zum letzten Moment. […] Ein Historienprofessor, der jeden Tag sein vegetarisches Jausenpaket auspackt und darin nach Eßbarem wühlt, kann sich das natürlich nicht vorstellen. […] Keine Zeit für zujaulendes Lustgeschrei. Keine Zeit für sinnloses Aus-dem-Fenster-Ballern. Nur gerade Zeit noch zum Packen und Abhauen. So stellt dieser Historikerprofessor in seiner luftdicht schließenden Tupperware-Dose, welche freiwillig die Form eines Mercedes-Benz angenommen hat, sich das vor, nachdem er viel darüber gelesen, aber noch viel mehr darüber geschrieben hat.« (Jelinek 2009: 58f.)

Ziemlich deutlich wird hier die metaphorisch verbrämte Anschuldigung, Benz sei nicht nur dem Namen nach mit einer gewissen Automarke assoziierbar, sondern quasi »freiwillig« zum akademischen Komplizen einer Konzern-Lobby geworden, die unangenehme Einzelheiten über ihre Geschichte gerne unter Verschluss hält und zu der bekanntlich auch der mit schwerer NS-Schuld beladene Trust der Familie Thyssen zählt.5 Hinzu 5 | Wolfgang Benz geriet seither auch anderweitig ins Kreuzfeuer. So fragen sich mittlerweile verschiedene Kollegen und Journalisten, wieso Benz als renommier-

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kommen in der an einen anonymen »Geschichtsprofessor« adressierten Tirade mehrere zynische Anspielungen auf pornografische Szenen, die sich dieser in seiner als kleinbürgerlich verhöhnten Amtsstubenexistenz überhaupt nicht ausmalen könne. Damit wird in der zitierten Passage klarer, was Jelinek mit dem intermedialen Bezug auf Luis Buñuels Film Der Würgeengel (El ángel exterminador, Mexiko 1962) bezweckt, auf den an dieser Stelle auch noch kurz eingegangen werden muss: Es geht hier um jenen stark emotionalisierenden Aspekt der Betonung der Möglichkeit einer orgiastischen Verbindung sexueller Tabuverletzungen mit der Ausübung »autotelischer«, also körperzerstörender Gewalt zu Kriegszeiten, wie sie Jan Philipp Reemtsma definiert hat (Reemtsma 2008: 116ff.). Die symbolisch äußerst vieldeutige Abendmahls-Szenerie in Buñuels Film Der Würgeengel, in dem eine feudale Gesellschaft betuchter Operngänger nach einem festlichen Abendessen ihren Salon nicht mehr verlassen kann, um bald darauf auf ihre elementarsten menschlichen Bedürfnisse und Instinkte zurückgeworfen zu werden, die schließlich eine Eskalation der Gewalt nahelegen, wird von Jelinek mit der Rechnitzer Holocaust-Geschichte überblendet. Die Möglichkeit eines tabulosen Festes im Angesicht eines ›apokalyptischen‹ Weltenendes, das Fallenlassen aller zivilisatorischen Hemmnisse als definitive, letzte Lusterfüllung – also das, was sich die Figur des Geschichtsprofessors bei Jelinek gar nicht ausmalen kann, – wird in diesem postdramatischen Theatertext immer wieder kommentiert, beschworen und von beschwingten ›Botenstimmen‹ launig diskutiert. Dies funktioniert mittels einer Collage aus oft wörtlichen Zitaten, die dann allerdings wieder sarkastisch relativiert und als Wortmaterial für mehr oder weniger spitzfindige Gags benutzt werden. Nicht zu übersehen ist dabei auch die Fülle religiöser Konnotationen: So wie in Buñuels Film die Lämmer zu der eingeschlossenen Gesellschaft kommen, um geschlachtet und verspeist zu werden, greift auch Jelinek die biblische Metaphorik des Passahfestes auf, um von dort aus zu einer intertextuellen Kontrafaktur der ›Würgeengel‹-Geschichte aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 12 anzusetzen (Parallelstelle: Hebräer 11, Vers 28). Hier wird Moses und Aaron der Rat erteilt, sie sollten jeder Familie der ter Antisemitismusforscher niemals Kritik an seinem Doktorvater Karl Bosl äußerte. Vgl. etwa Clemens Heni (o.J.); den Kommentar von Micha Brumlik in der taz (2010); außerdem: Heinrich 2009.

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Gemeinde Israels befehlen, ein Lamm zu schlachten und den Türpfosten ihres Hauses mit seinem Blut zu bestreichen, damit die Juden die zehnte Plage nicht treffe – eben jener ›Würgeengel‹, der die Erstgeburten aller Bewohner Ägyptens töten werde. »Ihr sollt aber ein solches Lamm nehmen, an dem kein Fehler ist«, wird in 12. Mose, Vers 5, gemahnt, damit der Schutz des auserwählten Volks auch wirksam werde – und Jelineks Botenstimme entgegnet schroff: »Dies ist das Fest, an dem jenes wahre Lamm getötet wird, durch dessen Blut die Türen der Gläubigen gefeit sind. Also an dem Satz stimmt schon mal gar nichts.« (Jelinek 2009: 100) Die Stimme, die hier wohl aus der Perspektive der Nachgeborenen im Theatertext spricht, beginnt also, sich mit Blick auf Auschwitz über diese Heilsgeschichte lustig zu machen. Denn ebenso wie in Buñuels Film einer der Eingeschlossenen einmal vergeblich nach ›Adonai‹ ruft (im Hebräischen das Wort für ›mein Herr‹ und wie der Ausdruck ›HaSchem‹ – ›der Name‹ – eine Formel zur Umschreibung des unaussprechlichen Namens Gottes), werden in der Geschichte der Shoah in Rechnitz bekanntlich überhaupt keine Massaker am Volk Gottes verhindert, sondern sie werden ganz einfach schrankenlos in die Tat umgesetzt. So sehr der Text mehr oder weniger explizit werdende Angriffe auf die deutsche und die österreichische NS-Vergangenheitsverleugnung artikuliert: Immer wieder ironisiert sich die Autorin darin als literarische Anklägerin auch selbst. So sagt etwa der ›Ausnahmebote‹, der einen Enzensberger-Interview-Text spricht, an einer Stelle: »Eine total von sich eingenommene Frau hat es mir eingetrichtert. Ein Glück, dass sie Ihnen so unsympathisch ist!« (Ebd.: 78) Diese Dame habe ihm »aufgetragen«, er dürfe seine »Meinung« keinesfalls in seinen Bericht einfließen lassen, »obwohl sie gar nicht kochen kann und daher auch nie etwas aufträgt, man geht immer hungrig von ihr fort« (ebd.: 79). Jelinek macht damit eindeutige Figuren-Identifikationen beziehungsweise eine zwangsläufig anmaßende Empathie für die Rechnitzer Opfer, die hier auch für diejenigen der gesamten Shoah stehen, unmöglich – schon allein deshalb, weil nie eindeutig geklärt wird, wer im Einzelnen und in wessen Auftrag aus diesem Text zu uns spricht. In dem von Pia Janke geführten Interview erklärt Jelinek, sie habe ein »ästhetische[s] Konstrukt« produziert, »ohne aber das Geschehene selbst zu ästhetisieren! Das ist die große Falle, der man entgehen muss« (Jelinek/Janke 2010: 18). Das heißt aber auch, die geschichtspolitische Stoßrichtung der Kritik, die das Stück nahelegt, nirgends so explizit werden zu lassen, dass sie in

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rechthaberische Agitprop-Attitüden der empirischen Autorin ausartet. Es gibt im Sprechen und im Schreiben über die Shoah keinen erhabenen Standpunkt mehr, der es Jelinek erlauben würde, sich selbst eine moralisch über alle Zweifel erhabene Anklägerrolle anzumaßen. Für die Betonung dieser Uneindeutigkeit erweist sich die postdramatische Form des Theaters als besonders adäquat: Die betonte Offenheit des Textes für die vexierbildhafte Inszenierung seiner ›unheimlichen‹ Sprecher-Stimmen und Kipp-Figuren erlaubt Ironisierungen genauso wie schockhafte rhetorische Volten, die sinnleeres Mediengerede in die momenthafte Erinnerung an konkrete Verbrechen umschlagen lässt.

2. D IE S TAR -I KONEN DER M EDIEN -V AMPIRE : L YNNDIE E NGL AND & C O . IN B AMBILAND/B ABEL Der Rest ist aber auch nicht von mir. Er ist von schlechten Eltern. Er ist von den Medien. Elfriede Jelinek, Bambiland

Jelineks besonderes Interesse an weiblichen Täterfiguren im Krieg begann bereits in ihren Irakkriegs-Stücken Bambiland/Babel deutlicher zu werden, die 2003 von Christoph Schlingensief bzw. 2005 von Nicolas Stemann im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurden und unter anderem von dem Skandal um das U.S.-Foltergefängnis von Abu Ghraib angeregt wurden. Die Soldatin Lynndie England, als ›Folterkönigin‹ von Abu Ghraib auf jenen Digitalkamera-Fotos, die um die Welt gingen, zur Sado-Maso-›Ikone‹ geworden, geistert bei Jelinek zusammen mit ihren Gefährtinnen durch den Theatertext. Mal wird ihre Erscheinung von einer anderen Instanz kommentiert, mal scheint England selbst zu Wort zu kommen – als spräche sie ganz naiv oder sogar stolz über ihre eigenen ›Leistungen‹ und das, was sie damit erreicht hat. Dies scheint nicht weniger zu sein als ihre eigene ›Erschaffung‹, welche diese Stereo-Sprecher, die ständig aus unterschiedlichen Richtungen auf uns einreden, abermals geradezu biblisch überhöhen. Eingestreute Sprichwörter mutieren zu zynischen Witzen, verkündigt von einer ›körperlosen‹ Wiedergänger-Stimme. Dabei skizziert die folgende Passage die Angst der Schuldigen davor, dass mit einem Verschwinden der Bilder, die ihre neue Existenz als ›Gewalt-‹ und ›Porno-Queen‹ von

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Abu Ghraib erst begründeten, auch ihr geknipstes ›Sein‹ wieder ausgelöscht werden könnte: »Also diese Mädels glauben ihren Verehrern einfach nicht, daß sie so attraktiv sind, daß ihre Fotos eine so große Verbreitung erfahren werden. Jetzt glauben sie es aber schon. Ja, jetzt, da die Frau endlich erschaffen ist, darf sie sich auch ganz offen zeigen, mit all ihren Fehlern […]. Nein, trennen Sie mein Bild nicht von mir ab, das wäre eine zu strenge Strafe, ich sagte es schon wiederholt, ich befahl es schon mehrmals! Lassen Sie mir mein Bild! Ich bin doch froh, dass es überhaupt gemacht worden ist! Von andren mache ich mir schon selber eins! […] Ich habe auch eine Qualitätsarbeit verrichtet, denn jetzt können Sie mich und diese Fotos von mir nie wieder voneinander trennen! Sie können von mir aus meine Haut von mir trennen, aber nicht diese Fotos! […] Die Bilder im Netz sind unsere Beute.« (Jelinek 2004: 152ff.)

»And they took pictures of everything« (ebd.: 192): Die Fotos als Beutemotive geistern unablässig durch Jelineks Text, gemäß unserer heutigen medialen Alltagssituation. Auch die ungebetene Heimsuchung durch solche Bilder, wie man sie beim Fernsehen oder beim Surfen im Internet unweigerlich erfährt, wird bei Jelinek zum Leitmotiv. Sie wird in der surrealistischen Spiegel-Metapher des Rasiermesserschnitts durch das Auge des Betrachters reflektiert, wie er in Salvadore Dalís und Luis Buñuels berühmtem Film Un chien andalou (Frankreich 1929) vorgeführt wird (ebd.: 137ff.). Diese spezielle ›Öffnung des Auges‹ wird zur konkreten Bedrohung: »Alle Betrachter werden gezwungen werden, sich an diese Bilder zu klammern, und wenn sie es nicht tun, dann klammern sich diese Bilder eben an sie.« (Ebd.: 145) Der Fernseher wird im Text ironisch sakralisiert, wird zum »Altar« und zur Waffe zugleich, zur »Leuchtspurmunition, damit wir im Dunkeln sehen können« (ebd.: 17). Die Gier, das Leiden anderer wie ein Pornografie-Konsument zu betrachten, jenes alltägliche Vampir-Dasein der Infotainment-Junkies, führt im Fall von im Netz stehenden ›Djihad‹Enthauptungsvideos zum Server-Crash: »Kein Wunder, daß soviele von Ihnen geschaut haben. Sie haben alle ein Recht darauf, zu fühlen, weil sie nicht hören wollen.« (Ebd.: 142) Diese ätzende und dem Rezipienten gegenüber ›angriffslustige‹ Stimme der Ironie bestimmt die Texte, die zur sarkastischen Diagnose einer um sich greifenden Gefühllosigkeit der Betrachter geraten, eines Publikums, das immer drastischere Bilder se-

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hen will, um überhaupt noch etwas ›fühlen‹ zu können. Die Zuschauer werden damit aus Jelineks Sicht selbst zu Komplizen einer immer vernichtender und gefräßiger werdenden Medienmaschinerie, die ja ohne dieses Publikum gar nicht überlebensfähig wäre. In diesem Zusammenhang wird klarer, was die hier untersuchten Dramen verbindet, obwohl sie ganz unterschiedliche historische Situationen zum Thema haben: Immer wieder geht es bei Jelinek um Vermischungen erotischer oder auch pornografischer Vorstellungen mit kriegerischen Handlungen. Die obszönen Konstruktionen von ›Alterität‹, die damit einhergehen, werden bei dieser Dramatikerin zum Spielmaterial ihrer Textgewebe. Jelineks multiple Zynismen erscheinen also gar nicht mehr unbedingt als solche, wenn man sich daran erinnert, dass sie aus dem textuellen Spiel mit Versatzstücken ideologischen Sprechens resultieren, dessen brutale Handlungskonsequenzen ohnehin ästhetisch uneinholbar geworden sind. Damit steht Jelineks Dramatik in einer Tradition, die sich hundert Jahre zurückverfolgen lässt. Karl Kraus lieferte bereits in seinen Letzten Tagen der Menschheit – also zur Zeit des Ersten Weltkriegs – einen vergleichbaren Befund über die Kriegspropaganda in der Presse, und er reagierte mit ähnlichen literarästhetischen Mitteln auf diese Phänomene. Die letzten Tage der Menschheit ist ein Stück, das viele der Elemente, die man nun bei Jelinek als ›nicht mehr dramatisch‹ charakterisiert hat, bereits vorwegnahm: »Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines. Tonfälle rasen und rasseln durch die Zeit und schwellen zum Choral der unheiligen Handlung. Leute, die unter der Menschheit gelebt und sie überlebt haben, sind als Täter und Sprecher einer Gegenwart, die nicht Fleisch, doch Blut, nicht Blut, doch Tinte hat, zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht. Larven und Lemuren, Masken des tragischen Karnevals, haben lebende Namen, weil dies so sein muß und weil eben in dieser vom Zufall bedingten Zeitlichkeit nichts zufällig ist. […] Wer schwache

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Nerven hat, wenn auch genug starke, die Zeit zu ertragen, entferne sich von dem Spiel.« (Kraus 2005: 15)

Damit wären wir nun ganz am Ende wieder an den Anfang des Beitrags zurückgekehrt: Die Zuschauer in Düsseldorf wollten sich von der »unheiligen Handlung«, die auch Jelineks »tragischen Karneval« bestimmt, in der Tat lieber »entfernen«. Darin liegt das Verdienst dieser Schriftstellerin: Die Gefühlskälte und die Abstumpfung, die der Medienalltag erzeugt, werden in Jelineks Theatertexten so drastisch gespiegelt, dass das Publikum, das sich Inszenierungen dieser Texte ansieht, gewissermaßen vor sich selbst wegrennen möchte. Die Hermetik der polyphonen Textflächen Jelineks vermag sich in solchen Aufführungssituationen auf verblüffende Weise aufzulösen und eruptive Affekte beim Zuschauer zu provozieren. Dabei handelt es sich paradoxerweise um Emotionen, welche durch die ästhetische Form des Werks und die verschlüsselte Struktur seiner Medien-Zitate zunächst einmal konsequent vermieden zu werden scheinen: Platte Gefühlsmodulationen, wie sie etwa dem Kitsch mit seiner trivialen Beziehung zum Erotischen inhärent sind, konterkarieren Jelineks Texte konsequent – und gerade damit weisen sie sich als postdramatische Werke sui generis aus. Sie greifen solche Kitsch-Phrasen des öffentlichen Sprechens, der Kolportage oder des Boulevard-Journalismus vielmehr auf, um sie aus sich selbst heraus zu dekonstruieren. Dass jedoch gerade diese Abstraktion, die Jelinek ›banaleren‹ theatralen Formen einer Emotionalisierung des Publikums entgegensetzt, dennoch immer noch zu Skandalen wie dem in Düsseldorf zu führen vermag, sollte man bei der Definition dessen, was postdramatisches Theater heute heißen kann, stets mit bedenken.

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F ILME El ángel exterminador (1962) (Mexiko, R: Luis Buñuel) Un chien andalou (1929) (Frankreich, R: Luis Buñuel)

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Hybride Identitäten und postdramatische Tendenzen bei Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoğlu Tobias Zenker

Als Emine Sevgi Özdamar 1986 ihr erstes Bühnenwerk Karagöz in Alamania (Özdamar 1982) am Frankfurter Schauspielhaus uraufführte, erschien dem damaligen Intendanten die Aufführung so irritierend, dass er sich entschied, am Abend der Premiere Informationsblätter zu verteilen, die das Publikum auf dieses ›andere‹ Theater einstimmen sollten. Die Autorin zitiert den Inhalt des Blattes: »Manchmal werden Sie sich im Verlauf des Stückes fragen: Wo ist nun wo? Sind wir in der Türkei. sind [sic!] wir in Alamania [sic!]? […] Vielleicht haben Sie einige Mühe, sich die Szenen zu gliedern, sie sind nicht logisch geordnet wie in den uns vertrauten Theaterstücken« (Özdamar 1993: 81). Dass die vom Intendanten erwartete Verstörung der Zuschauer implizit mit einer kulturellen Differenz und nicht mit einem Hinweis auf die Ästhetik des Stückes begründet wurde, deutet auf eine Perspektive, die bis heute den Umgang mit deutsch-türkischen Autoren bestimmt: Spürbare Wahrnehmungsdifferenzen werden häufig auf eine ethnische Andersartigkeit des Urhebers reduziert. Dabei wird das jeder avantgardistischen Kunst inhärente Verstörungspotential einseitig betrachtet und deutsch-türkischen Künstlern seitens der Kulturkritik die Fähigkeit, ›richtige‹ Kunst zu schaffen – d.h. Kunst, die dem westeuropäischen Blick standhält – abgesprochen. Auch bei Feridun Zaimoğlus und Günter Senkels Theatertext Schwarze Jungfrauen (Zaimoğlu/Senkel 2006) konzentrierte man sich auf die Rezeption der kulturell ›fremden‹ Anteile des Stückes. Nach dem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der deutsch-türkischen Minderheit seit dem 11. September 2001 fokussierte das Feuilleton

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nun nicht mehr türkisch-kulturelle Zusammenhänge in deutsch-türkischen Theaterstücken, sondern vor allem den Islam als ›das Fremde‹ (vgl. z.B. Voigt 2006, Herwig/Höbel/Matussek 2006). Die hier angedeutete Rezeption der Theaterstücke lässt sich als Marginalisierung einer anderen, nicht-deutschen Theaterkultur interpretieren. Özdamars Theatertext Karagöz entspricht aus Sicht der Mehrheitskultur nicht den ästhetischen Konventionen und Zaimoğlus Jungfrauen werden einzig im Kontext eines Islamdiskurses gelesen, der maßgeblich von der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft bestimmt wird. Bedeutung und Funktion der Dramenästhetik werden außer Acht gelassen. Stattdessen werden deutsch-türkische Theatertexte meist mit den Biografien der jeweiligen Autoren in Verbindung gebracht und als ethnische bzw. kulturell andere Texte gelesen, die sich in das kulturelle Reservat der ›Migrationsliteratur‹ einsperren lassen. Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem ›anderen Theater‹ wird für nicht notwendig erachtet, weil es nicht als Teil des ›deutschen‹ Theaterdiskurses begriffen wird. Diese Perspektive lässt sich auf brechen, indem die ausgewählten Theatertexte vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie gelesen werden. Hierbei wird die Institution Theater als ›dritter Raum‹ begriffen (vgl. Bhabha 2000: 2), in dem nicht nur durch inhaltliche Thematisierung, sondern auch durch die Wirkungsmechanismen der theatralen Präsentation eine Auseinandersetzung der Zuschauer mit ihren kulturellen Denkmustern angestoßen wird. Von solchen Rezeptionsprozessen geht auch Erika Fischer-Lichte aus, wenn sie das Theater im Rekurs auf Victor Turners ethnologische Studien zur Bühne als liminalen Raum definiert (vgl. Fischer-Lichte 2010: 60ff.). Die Werke von Özdamar und Zaimoğlu sind vor diesem Hintergrund als Theatertexte zu begreifen, die sich selbst quasi metatheatralisch in den Blick nehmen und die Bühne als Bereich der sogenannten Hochkultur – und in diesem Falle einer mehrheitsgesellschaftlich dominierten Hochkultur (vgl. Terkessidis 2010), – als Verhandlungsort für gesellschaftliche Diskurse um deutsch-türkische Identität nutzen. Versucht man nun die Systematik des postdramatischen Theaters, wie sie Hans-Thies Lehmann 1999 (vgl. Lehmann 32005) entwickelt hat, auf die Theatertexte der ausgewählten Autoren zu übertragen, steht man vor dem Problem, einen Begriffsapparat, der aus theaterwissenschaftlicher Sicht auf die performative Praxis des Theaters zielt, auf den literaturwissenschaftlichen Gegenstand, den Theatertext, anzuwenden. Dass einer

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solchen Übertragung zunächst nichts im Wege steht, lässt sich mit der Entwicklung des postdramatischen Theaters selbst begründen, die stets durch die Verbindung von Text und Theater gekennzeichnet war. »Der Titel ›Postdramatisches Theater‹ signalisiert, indem er auf die literarische Gattung des Dramas anspielt, den fortbestehenden Zusammenhang und Austausch zwischen Theater und Text, auch wenn hier der Diskurs des Theaters im Zentrum steht und es daher um den Text nur als Element, Schicht und ›Material‹ der szenischen Gestaltung, nicht als ihren Herrscher geht.« (Ebd.: 13)

Für den Literaturwissenschaftler bedeutet dies, den Text auf seine performativen Qualitäten zu überprüfen und damit Aussagen über eine mögliche postdramatische Tendenz in der Aufführungspraxis zu treffen, denn »[a]llein die Konstellation der Elemente entscheidet am Ende darüber, ob ein Stilmoment im Zusammenhang einer dramatischen oder einer postdramatischen Ästhetik zu lesen ist.« (Ebd.: 26) Der Begriff ›postdramatische Tendenz‹ kennzeichnet hier die Annahme, dass aus einem Text postdramatische Potentiale herauszulesen sind, die nicht zwingend in der Inszenierung umgesetzt werden müssen und dann in der Aufführung auch nicht wirksam werden können. Dem ungeachtet richtet sich der Blick dennoch auf in den Texten manifeste postdramatische Tendenzen, deren hypothetische Wirkweise mit der Lehmannschen Systematik erfasst werden kann. Ein weiteres Problem ist die Wahl der Analysemethode. Generiert sich das postdramatische Theater als ein nicht-aristotelisches Theater, wird es schwierig, Kategorien der Dramenanalyse anzuwenden, die im klassischen Sinne vor der Folie eines aristotelischen Theaters entwickelt worden sind. Um sogenannten nicht mehr dramatischen Theatertexten zu begegnen, entwickelt Gerda Poschmann eine analytische Herangehensweise, die sich »als ›Gelenkstück‹ zwischen Theatersemiotik und Poetik des Theatertextes« (Poschmann 1997: 16f.) begreift und damit den Blick auf die Bedeutung des Textes für die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum jenseits der szenischen Interaktion lenkt. In Umkehrung der von Patrice Pavis entwickelten Semiotik der Theaterrezeption (vgl. Pavis 1988) schaut Poschmann nach »der vom Text implizierten Theatralität und nach den performativen Dimensionen seiner Sprache« (Poschmann 1997: 17) und leitet daraus ihr Konzept der ›dramaturgischen Analyse‹ ab. Die Kategorisierung postdramatischer Wirkungsästhetik

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nach Lehmann wird hier also als Bezugsrahmen für die Analyse der von Poschmann beschriebenen Performativität und Theatralität des Theatertextes verwendet. Für die Analyse interkultureller Literatur, und in diesem Fall des interkulturellen Theaters, ist die beschriebene Methodik insofern fruchtbar, als sich postdramatische Tendenzen auf den Bereich der Poiesis eines Textes beziehen. Damit wird einem ethnisierenden Blick entgegengewirkt, stehen doch nicht die kulturellen Differenzen, sondern der Eigenwert des Textes im Zentrum des Interesses. Das ist für den Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg ein Schlüssel zur differenzierten Wahrnehmung interkultureller Literatur. Er unterscheidet zwischen der Poiesis – d.h. der Annahme, dass Kunst und Literatur mit ästhetischen Mitteln eine autonome Sinnsphäre herstellen (vgl. Mecklenburg 22009: 224) – und der Mimesis eines Textes, die sich auf die Anbindung des Textes an die »Umgebungskultur(en)« bezieht (vgl. ebd.: 231f.). Für die vorgestellten Theatertexte bedeutet diese Differenzierung die Möglichkeit, ethnische oder religiöse Diskurse als Teil der mimetischen Anbindung an die Kultur zu begreifen und die Gestaltung des Textes von seiner Kulturgebundenheit zunächst abgelöst zu betrachten. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Theatertexte Karagöz in Alamania und Karriere einer Putzfrau (Özdamar 1990) von Emine Sevgi Özdamar sowie Schwarze Jungfrauen von Feridun Zaimoğlu und Günter Senkel mittels im Text angelegter postdramatischer Elemente die Konstruktion von Identitäten an einen theatralen Metadiskurs anbinden und damit die diskursbildende Kraft des Theaters sowie die kulturell bestimmten Mechanismen der Theaterrezeption offenlegen.

E MINE S E VGI Ö ZDAMAR – K ARAGÖZ IN A LAMANIA Özdamar schrieb ihr Bühnendebüt 1982 im Auftrag des Bochumer Schauspielhauses und inszenierte die Uraufführung vier Jahre später am Frankfurter Schauspielhaus selbst. Dem Stück ist deutlich anzumerken, dass die Autorin sich intensiv mit dem Theater Bertolt Brechts und der Arbeit Heiner Müllers auseinandergesetzt hat, dies begann während ihrer Zeit an der Berliner Volksbühne Mitte der siebziger Jahre (Özdamar arbeitete hier mit Benno Besson und Matthias Langhoff zusammen). Die 39 teils ohne erkennbaren Zusammenhang aneinandergereihten Szenen,

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die jeweils mit Überschriften versehen sind, welche mit unterschiedlicher Prägnanz auf den Inhalt verweisen, lassen einen Text entstehen, der einer linearen Zeitführung folgt, aber bruchstückhaft und zeitraffend die Reise eines anatolischen Bauern der sechziger Jahre aus der Türkei nach Deutschland präsentiert. Inhaltlich entwickelt die Autorin zunächst etwas gänzlich Dramatisches: eine Fabel, die sich über folgende Handlung vermittelt: Der anatolische Bauer Karagöz (auf Deutsch ›Schwarzauge‹) Schicksallos begibt sich auf Wunsch seines Vaters zusammen mit seinem Begleiter, dem Esel Şemsettin, auf die Reise in das sogenannte ›Perlenland‹ – Deutschland. Die Reise führt die beiden Protagonisten, später auch Karagöz’ Frau Ümmü, durch Anatolien nach Istanbul, wo Karagöz bei der deutschen Anwerbestelle auf seine physische Tauglichkeit für den deutschen Arbeitsmarkt geprüft wird. Von dort aus geht es in Richtung Deutschland, wobei der Übergang, die Grenze, symbolisch durch eine Tür markiert wird, welche die Protagonisten zwar in wechselnde Richtung einige Male durchschreiten, deren deutsche Seite der Zuschauer allerdings nicht zu sehen bekommt. Über das Leben in Deutschland berichten zahlreiche Figuren, denen Karagöz und Şemsettin während ihrer Reise begegnen, und auch der Wandel der dramatischen Figuren im Laufe des Stückes gibt darüber Auskunft. Die erzählte Zeit umfasst von der Auswanderung bis zur Rückkehr mehrere Jahre. Zwei Gestaltungselemente fallen vor dem Hintergrund einer Suche nach postdramatischen Tendenzen besonders auf: Zum einen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von phänomenalem Leib und semiotischem Körper (vgl. Fischer-Lichte 2010: 37), wenn Özdamar sprechende Tiere und Gegenstände aufteten lässt. Zum anderen kann, wie gezeigt werden wird, auch die Gestaltung der Figurenrede als postdramatisches Element gelesen werden. Beides zielt auf die Frage nach der präsentierten Identität der jeweiligen Figur auf der Bühne.

B ÜHNE – S UBJEK T – O BJEK T In der Anthropomorphisierung von Gegenständen und Tieren zeigt sich eine postdramatische Tendenz als genuine Verknüpfung von Bühne und Schauspieler. Durch die Verbindung von Sprache und Objekt ist das Theater gezwungen, den Menschen auf der Bühne zu entmenschlichen,

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d.h. ein Darsteller, der ein Objekt spielt, muss Eigenschaften des Objekts so verkörpern, dass er selbst als Objektzeichen auf der Bühne sichtbar wird. Auf diese Weise wird er zu einem hybriden Subjekt-Objekt und der Körper als Material sichtbar. Dies wird unterstützt durch die anthropologische Eigenschaft der Sprache. Bei Karagöz’ Begleiter Şemsettin handelt es sich um einen Esel, der sprechen kann. Wie auch immer das Tier dargestellt wird, es entsteht die Frage nach dem Verhältnis von Repräsentant und Repräsentiertem und damit der Identität des auf der Bühne agierenden Subjekts bzw. Objekts. Wie Lehmann festgestellt hat, ist die Erkundung der Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier ein Merkmal des postdramatischen Theaters (vgl. Lehmann 32005: 387). Das ist auf das Interesse an den Bedingungen von Identitätszuschreibungen zurückzuführen. Das gilt auch für Özdamar. Indem sie sich von der Repräsentationsästhetik abwendet und hybride Identitäten zeigt, lenkt sie den Blick auf den Prozess der Identitätszuschreibung. In der Uraufführung wurde das dadurch verstärkt, dass sie neben den von Menschen dargestellten Objekten echte Tiere auf die Bühne brachte (vgl. Özdamar 1993: 81). Wird der Darsteller auf der Bühne performativ zum Tier, so wirkt im Text das Stilmittel der Personifizierung dazu analog. Hier steht nicht zuerst der Mensch, der zum Esel werden muss, sondern ein Esel, dem die Autorin die menschliche Sprache verleiht. Während das Theater den phänomenalen Leib als zentralen Fluchtpunkt aller Darstellung hat, gibt es in der Literatur eine Gleichberechtigung von Subjekt- und Objektwelt. Die Suche nach performativen Elementen im Text erweitert also das Interpretationsspektrum. Ohne bei der Textrezeption den phänomenalen Leib auf der Bühne mitzudenken, ist die Erweiterung der Analyseperspektive in Richtung einer postdramatischen Tendenz nicht zu entwickeln. Die Frage nach einer diesbezüglich konstituierten Identität bliebe ungestellt.

F IGURENREDE Ähnlich verhält es sich bei der zweiten Perspektive auf den Text: der Gestaltung der Figurenrede. In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Özdamars Werk steht ihr kreativer Umgang mit Sprache oft im Zentrum des Interesses. Vor allem die wörtliche Übertragung türkischer Idiome in die deutsche Sprache und ihre Sprachhybridisierung entfaltet Özdamar kunstfertig und entwickelt dadurch einen irritieren-

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den Sprachstil, der eine karnevalistische Wirkung entfaltet (vgl. Mecklenburg 22009: 506-535). Bereits der Titel ihres Erzählbandes Mutterzunge ist ein Beispiel für eine solche Sprachspielerei, denn das türkische Wort für ›Zunge‹ bedeutet zugleich ›Sprache‹. Auch in Karagöz in Alamania mischt Özdamar die deutsche und die türkische Sprache auf vielfältige Weise miteinander. So überträgt sie türkische Redensarten wörtlich ins Deutsche, wenn sie Karagöz’ Vater sagen lässt: »Was soll der Mensch machen? Ich nehme etwas vom Bart und setze es in den Schnurrbart; ich nehme es vom Schnurrbart und setze es mir in den Bart: es reicht nicht.« (Özdamar 1982: 2) Allerdings ist zu bezweifeln, dass diese Redensart – Özdamar führt im Nebentext den Ausdruck »Sprichwort« an (ebd.: 2) – tatsächlich eine türkische Entsprechung hat. Dazu kommen Formen des sprachlichen Code-Switchings, bei dem die deutsche und die türkische Sprache miteinander vermischt werden: »Gastarbeiter: Sonra Dolmetscher geldi. Meisterle konuştu. Bu Lohn Steoer kaybetmiş dedi. Finanzamt çok fena dedi.« (Ebd.: 26). Sprachhybridität entsteht auch durch Sprachspiele auf phonetischer Ebene wie bei der Textstelle »Hadi, Aufwiedersin. Afwidersin, Ümmü.« (Ebd.: 4). Hier klingen die Begriffe »Aufwiedersin« und »Afwidersin« zwar ähnlich, haben aber verschiedene Bedeutungen, die in zwei unterschiedlichen Sprachkulturen zu verorten sind: »Aufwiedersin« lässt sich an die deutsche Verabschiedungsformel anknüpfen und »Afwidersin« ist im Türkischen eine Entschuldigung. Zum Teil werden Passagen auch ausschließlich auf Deutsch oder Türkisch gesprochen. Dialektale und soziolektale Färbungen sind in beiden Sprachen zu erkennen. Die für das postdramatische Theater signifikante »Polyglossie« (vgl. Lehmann 32005: 268) kann als Demontage einer nationalsprachlichen Einheit von Sprache – wie Lehmann es formuliert – betrachtet werden. Doch birgt diese Perspektive die Gefahr, die Besonderheiten der Sprachverwendung sowie die poetische Gestaltung von Alterität außer Acht zu lassen und ihr Wirkungspotential lediglich auf kulturelle Differenzen zurückzuführen. Für das Publikum, dem die türkische Sprache nicht geläufig ist, kann die Distanz zum gesprochenen Wort so groß werden, dass es den Text lediglich als Abfolge von Klängen wahrnimmt. Die Verknüpfung von Signifikat und Signifikant wird für den nicht-sprachkundigen Zuhörer aufgehoben, so dass nur noch die auditive Phonetik zur Rezeption angeboten wird. Sprachmischungen lassen Leerstellen entstehen, die semantisch vom Zuschauer gefüllt werden müssen. Und selbst wenn Öz-

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damar ausschließlich deutsche Worte verwendet, diese aber wie bei dem Beispielbegriff ›Mutterzunge‹ in einer derart ungewöhnlichen Art und Weise benutzt werden, ist Verstehen nur noch schwer möglich. Das Prozessuale der Sinn-Gebung tritt dann insofern hervor, als der Zuschauer gezwungen ist, aus verschiedenen Zeichenangeboten jenseits des Logos der Sprache einen möglichen Sinn zu generieren. Das Semiotische, wie Julia Kristeva (vgl. Kristeva 1978) es beschreibt, wird im Bedeutungsprozess signifikant. Die Polyvalenz der Deutungsmöglichkeiten von Sprachzeichen fordert den Zuschauer so sehr heraus, dass eine Verschiebung des Kommunikationsprozesses von der innerszenischen Achse des Theaterstückes auf die Achse zwischen Bühne und Zuschauer stattfindet. Das Wirkungspotential dieser postdramatischen Tendenz geht über die Infragestellung nationalsprachlicher Einheit also hinaus, da der Zeichenprozess als ein kreativer Akt erscheint, der die Beweglichkeit jeder sprachlichen Bedeutungszuweisung offenbar werden lässt.

K ARRIERE EINER P UT ZFR AU Andere Elemente des postdramatischen Theaters sind für Özdamars prosaisch-dramatischen Theatertext Karriere einer Putzfrau konstitutiv, den sie bereits während ihrer Zusammenarbeit mit Besson und Langhoff an der Ost-Berliner Volksbühne begonnen hat, aber der erst 1990 in ihrem Erzählband Mutterzunge erschienen ist. Zentrales Merkmal postdramatischer Theaterästhetik ist in diesem Stück die Abkehr vom Dialog und die Lockerung mimetischer Anbindung an die Welt. Einzig eine weibliche Figur erzählt dem Publikum ihre Lebensgeschichte als Erinnerungen an Deutschland, wie der Untertitel des Textes deutlich macht. Eine Frau wird in der Türkei von ihrem Mann verlassen und macht sich auf den Weg nach Deutschland. War die Protagonistin in der Türkei Schauspielerin, so wird sie in Deutschland zur Putzfrau, die als Angestellte bei einem Förster die Exkremente seines Hundes in eine Plastiktüte sammelt. Nachdem der Hund gestorben ist, verliert sie diesen Job und fährt mit der Bahn durch Deutschland. Schließlich wird sie Putzfrau in einem Hochhaus, deren Bewohner sie durch flüchtige Kontakte im Treppenhaus und durch Geräusche hinter den Wohnungstüren kennenlernt. Am Ende dieser Episode wird die Erzählerin von einer Hochhausbewohnerin darauf aufmerksam gemacht, dass sie – die Putzfrau – auch

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eine Schauspielerin sein könne. An dieser Stelle des Stückes, etwa nach der Hälfte des Textes, beginnt der zweite Teil, den die Autorin inhaltlich wie formal vom vorhergegangenen abhebt. Hier stellt die Protagonistin fest: »Blödsinn habe ich selbst genug« (Özdamar 1990: 112) und verweist auf die Toten, die auf der Bühne ihre Rollen spielen, etwa auf Hamlet, Ophelia oder Richard den Dritten. Neben dem in Özdamars Werk häufig verwendeten Motiv der Bahnreise sind die intertextuellen Verweise auf Shakespeares Dramen ein typisches Gestaltungselement der Autorin und lassen im Kontext dieses Textes vor allem Assoziationen zu Arbeiten Heiner Müllers, etwa zu Quadriga, Ruine der Reichskanzlei oder Die Hamletmaschine, entstehen. »Die Bühne ist ein einziges Männerpissoir, Cäsar, der Hauptpisser, gibt drei Journalisten Interview: Daß er dafür kämpfen wird, daß dieses Pissoir weniger Gestank haben wird als vorher, und lässt Kleopatra die Pissbecken saubermachen. Sie tut es, und als Rache fickt sie mit mehreren Männern, die dorthin pissen kommen und alle kriegen Trichomonaden – wie Limonaden. […] Da läuft Fernsehen, die Plastikschlangen schauen sich im Fernsehen Fußball an. Sie haben Boxerhandschuhe an. Eine Plastikschlange setzt sich auf den Pelzmantel einer Frau und sagt, Sie sind so schön, Madame, Sie sind mein Ideal, und die Frau, die gerade die volle Einkaufstasche in der Hand hat, sagt: ›Und Du – Du gefollost mir auch ganz gut! Du! Du‹«. (Özdamar 1990: 112)

Deutlich wird hier die Schwierigkeit, den Inhalt mit Kategorien der Welterfahrung zu erfassen. Die Zweiteilung des Textes und die sich steigernde Loslösung des Inhalts von mimetischen Ordnungsmustern lenken den Blick auf das Medium Text bzw. die theatrale Situation und stellen damit die Frage nach dem Verhältnis von Mimesis und Poiesis, wobei hier die ästhetische Gestaltung des Textes so stark hervortritt, dass sein poetischer Eigenwert betont wird. Dies allerdings nur, solange man ausschließlich den Text betrachtet. Denn durch die Anbindung des Erzählten an die Bühnenfigur wird ein theaterästhetisches Gegengewicht zum Text hergestellt, das die Mimesis des Erzählten hervorhebt. Das Monologische scheint einen tiefen Blick in die Erfahrungswelt der Protagonistin zu gewähren. Durch die Überwindung der vierten Wand und die direkte Ansprache des Publikums wird aber zugleich die »Realität im Jetzt-Raum« (Lehmann 32005: 229f.) betont. Die Kommunikation findet hier ausschließlich auf der Theatron-Achse statt.

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Betrachtet man nun die beschriebene ästhetische Gestaltung des Theatertextes im Zusammenhang mit der möglichen Wirkung der Aufführung, rückt das postdramatische Potential des Theatertextes in den Fokus. Im zeitlichen Verlauf des Stückes lässt die Autorin zunächst zu, dass die mimetische Anbindung an die Außenwelt einigermaßen gelingt, schließlich ist die Wahrnehmung einer zusammenhängenden Geschichte im ersten Teil des Stückes noch möglich. Allerdings gibt es auch hier schon schwer zu entschlüsselnde Passagen, wie z.B. den Bericht über ein Gespräch zwischen der Schwiegermutter der Protagonistin und einem Scheidungsrichter: »›Diese Frau hat meinen Sohn zugrunde gerichtet, die Bettwäsche war schwarz, sie ist eine Zigeunerin, aber leider haben wir es nicht gemerkt.‹ Der Scheidungsrichter sagte: ›Ich hoffe, alles wird weiß, man muß geduldig sein.‹ Ich habe gesagt: ›Sie sagen, Madame, die Eule war eine Bäckerstochter, Madame, wir wissen, was wir sind, Madame, aber nicht was wir sein können. Gott segne Ihre Mahlzeit, Madame.‹« (Özdamar 1990: 103)

Zunächst wird die Identität der Braut des Sohnes durch die Farbe der Bettwäsche markiert, ein für den Zuschauer ungewohnter Zusammenhang, der an keiner Stelle des Stückes erläutert wird und damit hingenommen, aber nicht entschlüsselt werden kann. Gesteigert wird die Verwirrung durch die Verbindung von Eule und Bäckerstochter, zwei Begriffe, die zwar zur Bezeichnung der Schwiegertochter verwendet werden, aber auch nicht dechiffriert werden können. Die in der zweiten Hälfte folgende semantische Unzugänglichkeit des Textes verweist auf die Unmöglichkeit der Bemühungen, das Gehörte an die Umgebungskultur des Zuschauers anzubinden. Auf diese Weise wird ihm die Frage nach den Bedingungen seiner Weltwahrnehmung gestellt. Özdamar schafft mit Karriere einer Putzfrau einen interkulturellen Theatertext, der gängige, auf die Autobiographie oder die kulturelle Identität der Autorin bezogene Deutungen unmöglich macht. Durch die Ausnutzung des postdramatischen Potentials, das auf die Bewusstmachung der Artifizialität des Stückes zielt, zeigt die Autorin, dass der Prozess des Weltdeutens, der im klassischen Drama auf der innerszenischen Achse des Theaters stattfindet, maßgeblich ein Prozess zwischen Bühne und Zuschauerraum ist. Statt von ›Brettern, die die Welt bedeuten‹, könnte man hier vom ›Parkett, das die Welt bedeutet‹, sprechen.

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F ERIDUN Z AIMOĞLU/G ÜNTER S ENKEL – S CHWARZE J UNGFRAUEN Feridun Zaimoğlu ist das ›enfant terrible‹ der deutsch-türkischen Literaturszene und befindet sich seit seinem erfolgreichen Buch Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (Zaimoğlu 1995) im Fokus der interkulturellen Germanistik. Den Theatertext Schwarze Jungfrauen verfasste er wie bisher alle seine Stücke in Zusammenarbeit mit Günter Senkel. In Schwarze Jungfrauen äußern sich zehn Musliminnen in meist derber Wortwahl über ihr Leben sowie ihre politischen und religiösen Einstellungen. Ähnlich wie in Kanak Sprak liegen den zehn Monologen angeblich Interviews zugrunde, deren Aufzeichnung der Autor aber nach eigenen Aussagen vernichtet hat. Die künstlerische Bearbeitung dieser Interviews für den Theatertext bewirkt, dass die zehn Texte einen ähnlichen ›Sound‹ bekommen. Vor allem der vermeintliche Verlust der Quellen in Verbindung mit der homogenisierenden Bearbeitung der Texte legen die Vermutung nahe, dass es sich, wie bei Kanak Sprak, keineswegs um authentisches Material handelt (vgl. Hofmann 2006: 229). Der Theatertext lässt sich in dieser Hinsicht nicht festlegen: Zaimoğlu verbürgt sich für die Authentizität seiner Texte, verändert sie aber dergestalt, dass man genau das in Frage stellen kann. Diese Ambivalenz zeigt sich auch auf der inhaltlichen Ebene in der Kontrastierung divergenter Positionen. Im dritten Monolog z.B. entsteht ein Widerspruch zwischen dem eigenen Wunsch, die Jungfräulichkeit zu bewahren, und der Sehnsucht nach Liebe und Sexualität. Das manifestiert sich in der Abwertung einer Sexualitätsfixierung, die der Unterschicht, den ›bürgerlichen‹ Frauen und den männlichen Muslimen unterstellt wird. Während die Protagonistin über die Frauen sagt: »Illegale Pornohasen sind das die Fraun fackeln nicht lange und ficken ne Pornonutte fickt aus dem Stand sobald die Klappe klackt und nach dem Fick ist vor dem Fick das gilt auch für die bürgerlichen Fraun die machen nur viel Gedöns um nix wollen doch auch nur Männer auftreiben« (Zaimoğlu/Senkel 2006: 10), tritt sie einem muslimischen Jungen, der sie angesprochen hat, mit den Sätzen entgegen: »Ach ja? Du fickst rum wie Sau gehst am Freitagabend zu ner Negernutte und wenns darum geht dass du heiratest willst du ne Unberührte mit ner heilen Jungfernhaut« (ebd. 2006: 11). Ein weiteres Spannungsfeld besteht in dem Kontrast zwischen dem Wunsch nach Liebe und der Neigung zu islamistischem Extremismus. Die Liebe ist hier an konservative Normen

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gebunden, die nicht religiös begründet werden: »Er steht vor mir und spricht mich an wien altmodischer Kavalier und so das hat mir schon gefallen ich steh auf so n Scheiß er hat sich voll korrekt verhalten.« (Ebd. 2006: 12) Die Enttäuschungen in der Liebe kompensiert die Muslima mit der Hinwendung zu radikalen Tendenzen des Islam: »Mein Islam ist mir geblieben die Dschihadfront steht ich bin schwer für Dschihad aber mit der Liebe da denk ich mit der Liebe könnt es auch langsam klappen Dschihad und Liebe da wär ich echt mal glücklich zum ersten Mal in meinem Leben.« (Ebd. 2006: 18) Durch die Gegenüberstellung von Liebessehnsucht und islamischem Extremismus entsteht eine inhaltliche Spannung, die sich aus der relativen Unvereinbarkeit dieser beiden Begriffsfelder ergibt. Auch im vierten Text entwickelt Zaimoğlu ein solches Spannungsfeld. Dort spricht eine türkische Muslima, die sich als konservativ, menschenscheu und altmodisch bezeichnet und erklärt, ein Mensch mit Anstand, Gottvertrauen und Gewissen zu sein. Sie bezieht in ihrem gesellschaftlichen Umfeld keine offensive Position: »Ich halte mich also die meiste Zeit raus, weil ich die meiste Zeit nur Scheiße zu sehen kriege. Da ist eine Partei und dort ist eine Partei, die eine hasst den anderen und umgekehrt genauso […]. Ich habe nichts verloren in der Feuerzone.« (Ebd.: 19f.) Trotz dieser passiven Haltung sind ihre Gedanken von Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung geprägt: »Wieso soll ich mich engagieren? Ich trete für die Rechte irgendwelcher Bimbos ein, und dann seh ich wie die Bimbos an der Straßenecke stehen und Drogen verkaufen. Ich trete für die Rechte der Ausländer ein, und dann hör ich sie Sprüche klopfen von wegen scheiß Deutschland. Dann sollen sie doch dahin abhauen, wo ihre feuchten Träume wahr werden. Ich trete für die Rechte von Frauen ein, und dann fallen mir aber eine Menge von völlig gestörten Frauen ein, bei denen ich es gut finde, dass sie hoffentlich unterdrückt werden.« (Ebd.: 20)

Die Figuren sind von einer starken Ambivalenz geprägt, die durch ihre konträren Lebens- und Weltanschauungen zum Ausdruck gebracht wird. Ganz entgegen einer Political Correctness vertreten die Frauen Positionen, die den Wertvorstellungen und Verhaltenskonventionen einer nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft und denen orthodoxer Muslime widersprechen. Schon inhaltlich werden damit gesellschaftliche und religiöse Bewertungskategorien in Frage gestellt, die sich an Begriffe wie

Hybride Identitäten und postdramatische Tendenzen

›traditionell‹ oder ›modern‹ anlehnen. Durch die Stimmen der ›Schwarzen Jungfrauen‹ entstehen hybride Identitäten, die sich den Vorstellungen von einer Kohärenz des Bewusstseins, von traditionellem Rollenverhalten und religiösem Konservativismus widersetzen. Diese inhaltliche Auseinandersetzung mit hybrider Identität wird durch postdramatische Elemente des Stückes unterstützt. Schon formal werden die Texte nicht an klar umrissene Figuren gebunden. Die zehn Monologe stehen als Textflächen unverbunden nebeneinander (lediglich als Text 1-10 gekennzeichnet). Sie können von einer genauso wie von zehn verschiedenen Personen gesprochen werden. Weil es keinen linearen Handlungsverlauf gibt, kann die Reihenfolge der Monologe getauscht werden – so z.B. in der Inszenierung von Christian Scholze am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel in der Spielzeit 2006/2007, in der fünf Monologe in einer textabweichenden Reihenfolge von zwei Schauspielerinnen gesprochen wurden. Wie bei Özdamars Karriere einer Putzfrau wirkt sich das Monologische auf die Kommunikationssituation zwischen Zuschauern und Darstellerinnen aus. Die Intimität der Situation wird durch das Authentizitätspostulat des Textes, das der Autor nicht müde wird zu betonen, unterstrichen. Gleichzeitig stellt die Aufführung diese Authentizität in Frage, indem z.B. ein Körper auf der Bühne zum Träger verschiedener hybrider Identitäten wird (sofern eine Schauspielerin mehrere Texte spricht). Das aber steht im Widerspruch zur ursprünglichen Stimmen- und Körpervielfalt des mimetischen Bezugsraums. Während sich der Text durch eine Stimmenpluralität auszeichnet, ist die Inszenierung in der Lage, diese Pluralität aufzulösen, indem sie die Stimmenvielfalt an einen einzigen Körper bindet. Die Beliebigkeit des Verhältnisses von Körper und sprachlich geformter Identitätsbildung wird dadurch signifikant. Dazu kommt eine Art ›durative Ästhetik‹, wie Lehmann den Umgang mit Zeit im postdramatischen Theater nennt, wenn die »absolute Dauer der Inszenierung als solche zur Geltung gebracht wird« (Lehmann 32005: 331). In den Schwarzen Jungfrauen decken sich Erzählzeit und erzählte Zeit, weil der Fokus nicht auf der Handlung, sondern auf der Sprache liegt. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Sprachvollzug im Theater gelenkt. Durch die Sprachintensität wird das Geformte der Sprache, der ›Sound‹ der Stimmen, betont, den Zaimoğlu und Senkel durch ihre Bearbeitung der Interviews gestaltet haben. Dieser homogenisierende Sprachstil wirkt der Heterogenität der verschiedenen

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Stimmen entgegen. Zudem entsteht ein Widerspruch zur betonten Authentizität der präsentierten Interviews. Die Poiesis des Theaterstücks tritt damit in einen Wettstreit mit der Mimesis des Textes. Das Stück spielt mit der Erwartungshaltung der Zuschauer: Indem es vorgibt, sich auf reale Lebensgeschichten zu beziehen, wird die mimetische Anbindung an die Welt betont. Das wird durch die Betonung der Poiesis des Stückes konterkariert, die durch die homogene Sprache in den Vordergrund tritt. Es geht also letztlich nicht darum, ob muslimische Mädchen tatsächlich interviewt worden sind. Die radikale Performanz des Textes legt die Funktion des Theaters als Medium der Realitätsverhandlung offen und hebt die Deutungsfunktion von darstellender Kunst hevor. Indem sich das Stück gegen Zuschreibungsmuster seitens der Mehrheitskultur und seitens der muslimischen Orthodoxie wendet, stellt es auch die Frage nach den Mustern, die das Theater als Ort der Weltdeutung bedient.

R ESÜMEE Die Analyse der drei ausgewählten Stücke hat gezeigt, dass gerade bei interkulturellem Theater deutsch-türkischer Autoren die Trennung von Poiesis und Mimesis die Gefahr vermindert, verfremdende Wirkungspotentiale des Theaters allzu schnell auf die Ethnizität oder Religiösität der Autoren zurückzuführen. Die in den Stücken von Özdamar und Zaimoğlu impliziten postdramatischen Tendenzen führen zu einer Auseinandersetzung mit den Mechanismen theatraler Identitätskonstruktionen. Das geschieht durch die Thematisierung der Zeichenpraxis auf der Bühne wie in Özdamars Karagöz in Alamania, die performative Hervorkehrung der Artifizialität des Theatertextes wie in Karriere einer Putzfrau oder die Verdeutlichung diskursabhängiger Erwartungshaltungen der Zuschauer wie in Schwarze Jungfrauen. Es wurde deutlich, dass die Hybridität von Identitäten auf der Bühne nicht allein mit der bikulturellen Anbindung der Autoren zu erklären ist. Die Selbstthematisierung des Theaters als Bedeutungsraum im Kontext interkultureller Thematik und seiner Position als diskursbildendes Medium bestätigt, dass interkulturelles Theater immer auch politisch ist, weil es auf das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitskulturen aufmerksam macht. Wird dieses Theater als solches wahrgenommen, muss es sich aber auch einer kritischen Bestandsaufnahme stellen. Kritisch

Hybride Identitäten und postdramatische Tendenzen

wäre in den angeführten Beispielen z.B. Zaimoğlus und Senkels sprachliche Bearbeitung der zugrunde liegenden Interviews. Sie sprechen für die Minderheit, bearbeiten ihre Texte aber publikumswirksam für die Rezeption durch die Mehrheitskultur (vgl. Hofmann 2006: 229). Dabei werden die Frauenstimmen durch einen männlichen Blick bestimmt, was die mitunter stark sexualisierte Sprache der ›Schwarzen Jungfrauen‹ zeigt. Das macht deutlich, dass sich der Text nicht nur einer postkolonialen Kritik, sondern auch einer Kritik aus der Genderperspektive stellen muss.

L ITER ATUR Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg. Fischer-Lichte, Erika (2010): Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel: A. Francke. Herwig, Malte/Höbel, Wolfgang/Matussek, Matthias (2006): »Theater in Zeiten des Terrors«, in: Der Spiegel vom 16.10.2006, S. 198-200. Hofmann, Michael (2006): Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink. Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen übersetzt von Reinold Werner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lehmann, Hans-Thies (32005): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Mecklenburg, Norbert (22009): Das Mädchen aus der Fremde, München: Iudicium. Özdamar, Emine Sevgi (1982): Karagöz in Alamania, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Özdamar, Emine Sevgi (1990): Mutterzunge, Berlin: Rotbuch. Özdamar, Emine Sevgi (1993): »Schwarzauge und sein Esel«, in: Die Zeit vom 26.02.1993, S. 81. Pavis, Patrice (1988): Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen: Narr. Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Niemeyer. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp.

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Voigt, Claudia (2006): »Wörter wie Silberringe«, in: Der Spiegel vom 27.03.2006, S. 165-166. Zaimoğlu, Feridun/Senkel, Günter (2006): Schwarze Jungfrauen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Theaterverlag. Zaimoğlu, Feridun (1995): Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Berlin: Rotbuch.

›Die Kamera liebt dich‹ Konstruktionen von Identität und Alterität in Martin Crimps The Treatment und Attempts on her life Nina Birkner

In seinen Theatertexten The Treatment (Der Dreh) und Attempts on her life (Angriffe auf Anne) befasst sich Crimp mit der Identitätskonstruktion des Subjekts. Darunter ist ein Aushandlungsprozess zu verstehen, der von dem Konzept der Alterität nicht zu trennen ist. Schließlich ist die Identität des Subjekts als ›Beziehung‹ und nicht als spezifische Eigenschaft zu denken. Die Identitätsfrage lautet nicht: »wer bin ich? sondern wer bin ich im Verhältnis zu den anderen, wer sind die anderen im Verhältnis zu mir?« (Gossiaux, zit. in Keupp u.a. 1999: 95) Die Identifikation mit anderen bzw. die Abgrenzung vom Fremden ist für die eigene Identitätsfindung konstitutiv.1 Bei diesem dynamischen Prozess wird das Individuum in Crimps Augen mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens setzt sich das Subjekt zu vorherrschenden, vorwiegend medial geprägten Rollenmustern in Bezug und muss sich im Vergleich dazu notwendig als defizitär, als das Andere, von der Norm Abweichende, empfinden. Zweitens werden dem Subjekt von anderen bestimmte Attribute zugeschrieben, so dass dessen komplexe Identität auf einige wenige Aspekte reduziert und modifiziert wird. Jede Festlegung auf bestimmte Eigenschaften birgt für 1 | Einen Überblick über das Konzept von Identität und Alterität nach der ›dialogischen Wende‹ in der Identitätsforschung geben u.a. Keupp u.a. 1999: 95100, Sampson 1993, Welz 2000. Spätestens seit den neunziger Jahren wird die Identität des Subjekts aus soziologischer Perspektive nicht mehr als »essentialistisches Zentrum« begriffen; sie entsteht vielmehr »im Dialog und Umgang mit ›bedeutenden Anderen‹« (Welz 2000: 91).

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Crimp die Gefahr der Vereinnahmung oder der Stigmatisierung des Anderen. In seinen Theatertexten setzt er sich mit den Schwierigkeiten der Identitätsfindung unter den genannten Bedingungen auseinander. In The Treatment von 1993 »geht es darum«, so der Dramatiker im Interview mit Nils Tabert, »daß eine junge Frau« namens Anne »ihre Biographie an zwei Filmproduzenten verkauft, wodurch sie ihre Identität fast ganz zu verlieren droht, denn der fertige Film hat am Ende mit ihrem Leben nichts mehr zu tun, er ist zur völligen Entstellung ihrer Geschichte geworden« (Tabert 1998: 251). Im Unterschied dazu wird in Attempts on her life von 1997 in siebzehn Szenen über eine Person namens Anne gesprochen, die selbst nicht anwesend zu sein scheint. Jedenfalls ergreift sie selbst nie das Wort. Ein konsistentes Persönlichkeitsbild ergibt sich aus den Narrationen der Sprecher nicht: Sie schreiben der Protagonistin in jeder Szene eine andere Identität zu. Mal wird sie als Künstlerin, Terroristin, Stewardess, Pornostar, Automarke oder Physikerin vorgestellt. Genauso unfassbar wie die Identität der ausschließlich »fremdkommentierten Figur« (Pfister 1977: 253) ist die Identität der Sprechenden. Crimp verzichtet auf klar umrissene Figuren, denen er konkrete Textpassagen zuweist, und arbeitet stattdessen mit Spiegelstrichen, die einen Rednerwechsel anzeigen. Im Folgenden sollen die in den Theatertexten thematisierten Identitätszuschreibungen, die auch als Herrschaftstechniken – als Normierungen – beschreibbar sind, analysiert werden. Anschließend wird nach dem Zusammenhang zwischen der Thematisierung von Identität und der Dramenästhetik – Crimps kritischer Nutzung der dramatischen Form in The treatment und der Überwindung der dramatischen Form in Attempts on her life 2 – gefragt. 2 | In ihrer wegweisenden Arbeit unterscheidet Gerda Poschmann zwischen Theatertexten, die die dramatische Form problemlos oder kritisch nutzen, und denen, die die dramatische Form überwinden. Merkmal der erstgenannten Bühnenstücke ist »neben der dramatischen Form« die »intrafiktionale Theatralität […]: Sie stellen die referentielle Illusion des Theaters in Rechnung, mit deren Hilfe ihre Fiktion szenisch erzählt wird.« Das Gleiche gilt für die Theatertexte, die die dramatische Form kritisch nutzen. Auch sie besitzen eine narrative und figurative Struktur. Allerdings thematisieren sie die »Prozesse theatraler Fiktionsdarstellung«. Die »dargestellte Geschichte ist zweitrangig […]. Die Ebene der dargestellten Fiktion tritt zugunsten der theatralen Wirkungs- oder der

›Die Kamera liebt dich‹

›THIS IS NOT MY IDE A OF A NNE ‹ – C RIMPS THE TREATMENT In seinem Theatertext führt Crimp zwei Figuren, das Ehepaar Jennifer und Andrew, vor, die Inhaber einer Filmproduktionsgesellschaft und ständig auf der Suche nach neuen Stoffen sind. Zu Beginn des Handlungsverlaufs gilt ihr Interesse Anne, einer jungen Frau, die berichtet, dass ihr Mann sie regelmäßig an einen Stuhl fesselt und knebelt, um ihr von der Schönheit der Welt – »the beauty of the world« (Crimp 2000: 285) – zu erzählen. Da diese ›wahre Geschichte‹ in den Augen des Paares ›unglaubwürdig‹ (vgl. ebd.: 325, 346) klingt, schreiben Jennifer und Andrew gemeinsam mit ihrer Empfangsdame Nicky, dem erfolglosen Bühnenautor Clifford und dem Schauspieler John Annes Lebensgeschichte um. Dass Crimp die Folgen dieses Eingriffs für das Identitätsgefühl3 des Subjekts in den Blick nehmen will, signalisiert schon der Titel seines Bühnenstücks: Zum einen bezeichnet das Wort ›treatment‹ ein Manuskript, aus dem die Struktur eines geplanten Drehbuchs hervorgeht. Crimp verweist damit auf den Plan des Produktionsteams, Annes Biographie zu verfilmen. Zum anderen wird das Wort gebraucht, um einen Prozess der Veränderung zu beschreiben, etwa im medizinischen Sinn als ›Behandlung‹ oder im psychologischen oder soziologischen Kontext als die Maßnahmen, denen eine Experimentalgruppe in einer Versuchsreihe ausgesetzt ist. Mit Blick auf den Theatertext bezieht es sich auf die mit dem Filmprojekt einhergehende Modifikation bzw. Konstruktion von Annes Lebensgeschichte, die für Crimp ein Ausdruck von Gewalt ist, wie nun zu zeigen ist. Als Produzenten zielen Andrew und Jennifer auf die Entwicklung und Vermarktung mimetischer, realitätsnaher Filme. Für sie ist »Art […] nothing without life […] with all its fragility, inconsistency and banality« (Crimp 2000: 372). Permanent sind sie auf der Suche nach neuem ›Material‹ (vgl. ebd.: 59) aus der lebensweltlichen Wirklichkeit, das in Artefakte transformiert werden soll. Dabei haben sie einen aufklärerischen Materialebene in den Hintergrund.« Die Theatertexte, die die dramatische Form überwinden, präsentieren sich hingegen »ohne klare Trennung von Haupt- und Nebentext und ohne figural eindeutig zugeordnete Repliken.« (Poschmann 1997: 66, 88, 89, 260) Sie sind als nicht mehr dramatische und damit als postdramatische Theatertexte zu kategorisieren. 3 | Zum Begriff des Identitätsgefühls vgl. Keupp 1998: 225-228.

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Anspruch. Ihre Filme sollen dazu beitragen, herrschende Normen zu destabilisieren und die soziokulturelle Konstruktion von Identität und Alterität als Ausdruck von Herrschaftsbeziehungen bewusst zu machen. So geriert sich Jennifer als Idealistin, die sich gegen die ›erniedrigende‹ Akzeptanz bestehender sozialer Rollen wie »Waitress«, »Customer«, »Victim« oder »Oppressor« (Crimp 2000: 301) wehrt, und Nicky plädiert dafür, Annes Lebensgeschichte aus ideologischen Gründen für das geplante Drehbuch umzuschreiben. Sie erklärt: »Because I think there must be a struggle. Are we saying she [Anne, N.B.] just sits there and lets the guy do this. I find that unbelievable. And besides I object very strongly to the idea of woman as victim, woman as dead meat. […] I think that kind of passivity is / totally degrading. […] I say she struggles. I say she resists. I say how can she tolerate this treatment from a man?« (Ebd.: 346f.)

Der von den Figuren proklamierte Anspruch, die komplexe Realität im Film abzubilden und dabei auf soziale Machtbeziehungen hinzuweisen, wird im Handlungsverlauf aber demontiert. Anstatt Annes Lebensgeschichte zu verfilmen, entscheiden sich Jennifer und Andrew für Drehbuchveränderungen zugunsten einer schematischen, sensationsorientierten Handlung und stereotyper Figuren. So beschließen sie, die Täterfigur schärfer zu profilieren und zu einem ›geschädigten‹ ›schwarzen‹ Mann zu stilisieren, der Frauen fesselt, um sie sexuell zu missbrauchen. Um eine authentische Wirkung zu erzielen und die Geschichte noch spannungsreicher zu gestalten, soll die Idee eines Theaterstücks, in dem ein erfolgloser Maler bei einem Paar einzieht und zum ›Zuschauer ihrer intimsten Momente‹ (vgl. Crimp 2000: 315) wird, in das Filmkonzept eingearbeitet werden. Wie Crimp deutlich macht, ist die Weltwahrnehmung des Produktionsteams medial geprägt. In den Augen der Figuren wirkt Annes Lebensgeschichte erst durch den Rekurs auf vorherrschende Identitäts- und Alteritätskonzepte sowie auf populäre Erzählmuster authentisch. Die Wahrnehmung der Realität in medialen Schemata ist für Crimp Ausdruck des kapitalen Einflusses der Massenmedien. Wie der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard ist er davon überzeugt, dass sich die Wahrnehmung in einer Welt, in der alle Ereignisse durch die Medien ge-

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filtert werden, verändern muss.4 Einerseits werden sämtliche Informationen nicht mehr durchdrungen, sondern nur noch oberflächlich – nach den Mustern medialer Formate – rezipiert. Andererseits verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Repräsentation, weil die technischen Medien die objektiv existierende Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch erzeugen können. Dass die Wirklichkeit durch den Menschen hervorgebracht werden kann, zeigt sich im Theatertext, wenn Andrew Anne erklärt, ihr aus strategischen Gründen seine Liebe vorgespielt zu haben, und jetzt feststellt, dass seine Äußerungen wahre Gefühle evoziert haben. So gesteht er ihr: »The words, just the words, brought the emotion into being, and look at me – I have no control at all.« (Crimp 2000: 351) Dass die Realität auch durch mediale Bilder konstruiert werden kann, expliziert der Schauspieler und Produzent John, wenn er nach der Filmpremiere konstatiert: »That idealism has stayed with us. It has stayed with us in our art. Now, it’s fashionable to believe, my friends, that art changes nothing. But on the contrary, what I say to you is that art changes everything – « (ebd.: 374). Wie stark Kunst und Realität ineinandergreifen, manifestiert sich schließlich in der dynamischen Konzeption der Figur Anne,5 die im Folgenden skizziert wird. Wie aus dem Theatertext hervorgeht, entspricht die Ehe zwischen Anne und Simon den geschlechtsspezifischen Normen. Während Simon als Oberhaupt und Ernährer der Frau fungiert und für die Kontakte nach außen zuständig ist, bewegt sich Anne, ihrem männlichen Lebenspartner unterworfen, nur in der häuslichen Sphäre, »behind a steel door« (Crimp 2000: 323). Ihre Unmündigkeit wird in ihrer Behauptung am deutlichsten, Simon würde sie regelmäßig knebeln und fesseln, um sie zum Schweigen zu bringen. Ihre Abhängigkeit kommt außerdem in ihrer Lebensuntüchtigkeit zum Ausdruck. Da sich Simon als Versorger und Beschützer seiner Frau begreift, hat sie nicht gelernt, für sich selbst zu sorgen, sie kann beispielsweise weder einkaufen noch kochen (vgl. ebd.: 321). Wiederholt betont Anne, sich nicht als ›Opfer‹ ihres Mannes zu fühlen, hat sie sich doch jahrelang freiwillig in die ihr zugeschriebene Geschlechterrolle und die damit verbundenen Repressionen gefügt. Ihre Kontaktaufnahme mit dem Filmproduktionsteam und ihre Flucht 4 | Vgl. u.a. Baudrillard 1978, Baudrillard 1996. 5 | Zur dynamischen Figurenkonzeption vgl. Pfister 1977: 241-243.

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vor dem Mann, der sie ›stumm gemacht und erniedrigt‹ (vgl. ebd.: 332) hat, ist als Versuch der Befreiung von den geschlechtsspezifischen Rollenzwängen zu werten. Dieser Emanzipationsversuch scheitert jedoch, weil Anne von ihren neu gewonnenen Freiheiten überfordert ist und sie zum ›Opfer‹ des Filmproduktionsteams wird, das die Protagonistin für seine Zwecke instrumentalisiert. Durch ihr ›treatment‹ modifizieren Andrew und Jennifer Annes Lebensgeschichte und damit auch ihre Identität. Das zeigt sich am augenfälligsten in Annes Äußerem, das sich im Handlungsverlauf stark verändert. So stellt ihr Ehemann Simon fest: »Simon: Your hair used to be brown. Your eyes were blue. Anne: My eyes are blue. Simon: But not the blue they used to be, Anne.« (Crimp 2000: 321)

Dass Anne die von dem Produktionsteam gewünschten Änderungen ihrer Biographie als Form von Gewalt erfährt, zeigt sich in ihrer heftigen Reaktion auf die geplanten dramaturgischen Eingriffe: Sie beginnt zu weinen, zu jammern und zu wimmern (vgl. ebd.: 349f.). Anne wird von Jennifer und Andrew aber nicht nur psychisch, sondern auch physisch geschädigt. Um trotz der Modifikationen einen realitätsnahen Film produzieren zu können, erprobt das Paar die zu drehenden filmischen Situationen vorher in der Realität. So wird Anne von Andrew sexuell missbraucht und dabei von dem ehemals erfolgreichen Autor Clifford heimlich beobachtet. Wie Crimp deutlich macht, scheitert Annes Versuch, sich aus den sie unterdrückenden Machtbeziehungen zu befreien, an ihrer Sozialisation – genauer: an ihrer fehlenden Distanz zu den traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen – und an der Brutalität ihres sozialen Umfelds. Von Andrew und Jennifer erniedrigt, entscheidet sich Anne, wieder zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Sie ›erkennt‹: »I used to really crave to go out. My dream was to go through that door. But now I see how wrong I was to crave and how right he [Simon, N.B.] was to keep me in« (Crimp 2000: 381). Als sie sich nach einem Gespräch mit Andrew erneut entscheiden will, Simon zu verlassen, wird sie von Jennifer, die sich von Anne bedroht fühlt, erschossen. In seinem Bühnenstück macht Crimp auf den Konstruktions- und Herrschaftscharakter des Identitätsdiskurses aufmerksam. Er problematisiert die soziokulturelle Konstruktion von Geschlecht und setzt sich mit der Bildermacht der Massenmedien auseinander. Dabei zeigt er auf, dass

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auch authentisch wirkende, auf Aufklärung zielende Filme zur Zementierung der herrschenden Vorstellungen von geschlechterspezifischer, kultureller oder ethnischer Differenz beitragen, wenn sie auf stereotype Figuren und populäre Erzählmuster rekurrieren. Aber was für eine Form von Kunst favorisiert Crimp? In seinem Theatertext wendet er sich gegen mimetische Artefakte, die darauf zielen, die Realität abzubilden. Zugleich lehnt er Kunstwerke ab, die sich den Problemen der Wirklichkeit nicht stellen. So distanziert er sich beispielsweise von den Äußerungen seiner Figur Simon, die konstatiert: »I have no interest in any form of art. […] I will not pay good money to be told that the world is a heap of shit. […] the world is not a heap of shit because the sickness is in here […] in the brains of those individuals. People who practise so-called art, who urinate on their responsibility to others […] to drag up stories out of themselves.« (Crimp 2000: 292)

Dafür spricht Crimps Theaterästhetik. Auch wenn sein Stück eine narrative und figurative Struktur aufweist, nutzt er die dramatische Form nicht problemlos, sondern kritisch. Er thematisiert die »Prozesse theatraler Fiktionsdarstellung« (Poschmann 1997: 88) durch die von ihm verwendeten Verfremdungseffekte. So bestellen Andrew und Jennifer im Restaurant keine realen Gerichte, sondern Speisen namens ›G‹ oder ›K‹; im vierten Akt soll eine ›Menschengruppe‹ im Zweifelsfall auf ›nicht-naturalistische Weise‹ (vgl. Crimp 2000: 277) dargestellt werden. Fremd wirken außerdem Crimps kaum konturierte Figuren. Der Zuschauer erfährt nur wenig über ihre Biographie oder ihre innere Motivation, so dass einer Identifikation mit dem dramatischen Personal vorgebeugt wird. Dass Crimp nicht auf eine mimetische Kunst zielt, hebt er auch im Interview mit Nils Tabert hervor. Hier erklärt er: »Schreiben ist für mich das Gegenteil von Autobiographie. Mir geht es um die Fiktion, das Erfinden.« (Tabert 1998: 252) Indem Crimp in seinem Theatertext über ästhetische Formen und die Funktion von Kunst reflektiert sowie illusionsstörende dramatische Mittel einsetzt, tritt die interne theatrale Kommunikation hinter die externe zurück. Durch die dramatische Selbstreflexion wird das Bewusstsein des Zuschauers für den Konstruktionscharakter von Kunst und für den von Identität und Alterität geschärft.

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›W E NEED TO GO / FOR THE S E XIEST S CENARIO ‹ – C RIMPS A T TEMPTS ON HER L IFE »Sie ist Nichtraucherin, züchtet Tomatenstauden in Margarineschachteln und wünscht sich, pro Woche einen Menschen zu töten. Sie ist der Traum einer jeden Mutter von der passenden Ehefrau für den Sohn. Sie dreht billige Pornofilmchen. Anne. […] Immer real, aber nie wirklich zu fassen.« (O.A. 1998)

Wie in The treatment befasst sich Crimp in Attempts on her life mit der Konstruktion von Identität unter dem Einfluss der technischen Medien. In siebzehn Szenen versuchen verschiedene Sprecher, die Biographie einer Person namens Anne zu schildern. Wie problematisch die damit korrelierende Festlegung des anderen auf bestimmte Attribute ist, macht Crimp zum Thema. Schon der Titel seines Theatertextes, der wörtlich übersetzt sowohl Versuche über ihr Leben als auch Anschläge auf ihr Leben heißt, weist darauf hin, dass soziale Zuschreibungen für ihn Ausdruck von Gewalt sind. Diese Problematik wird dadurch verstärkt, dass die Welterschließung der Sprecher – ähnlich wie in The treatment – maßgeblich von den Massenmedien beeinflusst ist. Die totale »Fusion und Simulation physischer und medialer Realität« (Zapp 2006: 317) zeigt sich im Bühnenstück in der Unfähigkeit des Rezipienten zu entscheiden, ob es sich bei Anne um eine reale oder um eine fiktive Person handelt. In der zwölften Szene scheinen die Berichte der Sprecher über Annes Leben frei erfunden zu sein. Hier entwickeln die Figuren durch Improvisation eine Geschichte zu Annes Biographie. Dazu übernimmt ein Sprecher die Aufgabe, von Anne zu erzählen. Die anderen Gesprächsteilnehmer können die Darstellung jederzeit unterbrechen und Stichworte in den Raum werfen, die der Erzähler in seine Geschichte einbauen muss. Durch den Zwang, die Einfälle der anderen umgehend in die eigene Narration integrieren zu müssen, erhält Annes Lebensgeschichte ihre dramatischen Wendungen. In anderen Szenarien greifen die Figuren hingegen auf scheinbar objektive Informationsquellen zurück, um ihren Darstellungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, so etwa in der neunten Szene, in der die Figuren in Zitaten sprechen, um den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen zu belegen. So sprechen sie von Anne als einer ›Zitat Einzelgängerin / Zitatende‹ (vgl. Crimp 1998: 40). Ein genauer Versuch der Einteilung der Szenen in erfundene Geschichten einerseits und authentische Berichte andererseits misslingt aber; Realität und Fiktion sind ununterscheidbar. Grund ist für

›Die Kamera liebt dich‹

Crimp die Dominanz der Massenmedien. Weil sie die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch hervorbringen und die Konsumenten nicht in der Lage sind, den jeweiligen Status des Gezeigten, Gelesenen oder Gehörten exakt zu bestimmen, müssen die Grenzen zwischen Realität und Repräsentation verschwimmen. Über die technischen Medien als wirklichkeitserzeugende Apparate wird vor allem in der fünften Szene reflektiert, in der die Sprecher zunächst behaupten, Kameras bildeten die objektive Realität ab. Sie betonen: »We need to feel / what we’re seeing is real / It isn’t just acting / it’s far more exacting / than acting / We’re talking reality« (ebd.: 19). Diese Auffassung wird von den Figuren aber selbst in Frage gestellt, wenn sie erklären: »We’re talking of a plan to be / OVERWHELMED by the sheer totality / and utterly believable three-dimensionality / […] of all the things that Anne can be« (ebd.). Zwar behaupten die Sprecher, mit Hilfe der Kamera in der Lage zu sein, dem Zuschauer authentische, objektive Informationen zu liefern, zugleich räumen sie aber ein, dass es sich bei Anne um ein deutungsoffenes, virtuelles Bild von einer Person handelt. Die Diskrepanz zwischen wirklichen Ereignissen und der Mediendarstellung wird schließlich offen eingestanden, wenn die Sprecher konstatieren: »We need to fantasize / We need to improvise / We need to synthesize.« (Ebd.) In der sechsten Szene problematisiert Crimp die Konsequenzen einer vorwiegend medialen Welterschließung. Hier rekonstruieren die Sprecher Annes Identität anhand von Fotos. Dabei wird deutlich, dass die Abzüge einen sehr großen Interpretationsspielraum für die den Aufnahmen zugrundeliegenden realen Ereignisse bieten. So meinen die Betrachter auf den Fotos ›sehen‹ zu können, dass sich Anne für die ›Ärmsten der Armen‹ (vgl. Crimp 1998: 23) engagiert. Grund für diese Annahme ist allein die Art und Weise, wie sich die Protagonistin mit den Armen ablichten lässt. Neben den technischen Medien macht Crimp auch die Kunst dafür verantwortlich, dass Realität und Fiktion zunehmend ununterscheidbar werden. So erhebt Anne in der elften Szene ihre Selbstmordversuche zur Kunst und stellt sie anhand von Abschiedsbriefen, Mordinstrumenten und Videoaufzeichnungen aus. Kunst und Realität greifen hier so stark ineinander, dass auch für die Sprecher der jeweilige Status der Versuche nicht mehr bestimmbar ist. Sie fragen sich: »Where does the ›life‹ – literally in this case – end, and the ›work‹ begin?« (Ebd.: 46) Die Dominanz der Massenmedien manifestiert sich für Crimp nicht nur in der Ununterscheidbarkeit von realen und virtuellen Ereignissen,

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sondern auch in der medial geprägten Weltwahrnehmung des Subjekts, was sich etwa in dem Phänomen ausdrückt, dass die Protagonisten einer nachmittäglichen Fernsehserie für nicht weniger real gehalten werden als ›THE GIRL NEXT DOOR‹. Im Theatertext zeigt sich das in der neunten Szene, in der sich die Sprecher über eine Frau unterhalten, die ihnen aus den Medien, anscheinend aber nicht persönlich bekannt ist. Trotzdem betrachten sie Anne als eine ihnen nahestehende reale Person, die sie angesichts ihrer terroristischen Aktivitäten nun nicht ›mehr‹ zu kennen glauben. Auch in der zehnten Szene zeigt sich, dass die Sprecher die Welt in medialen Schemata wahrnehmen. Hier erzählt eine Figur eine für sie ergreifende Filmhandlung in einem Modus,6 als würde sie von der Lebensgeschichte guter Freunde berichten. Eine kritische, distanzierte Reflexion des Erzählten scheint unmöglich, die rechtsradikale Einstellung der beiden Protagonisten – Anne und ihr Mann – wird nicht hinterfragt. Dass die technischen Medien die Weltwahrnehmung der Figuren bestimmen, wird schließlich auch in der dritten Szene deutlich. Hier entwerfen die Sprecher ihre Geschichte als Folge von Filmeinstellungen. Die ›Kamera‹ (vgl. Crimp 1998: 15) zeigt zuerst eine Großaufnahme der Landschaft, in der sich die Geschehnisse um Anne abspielen, bevor die Protagonistin selbst ins Visier genommen wird. Die Erschließung der Welt in medialen Mustern ist für Crimp deswegen problematisch, weil die Massenmedien geschlechterspezifische Rollenmodelle konstruieren, mit denen die Subjekte sich vergleichen und verglichen werden. Neben der Heterosexualität werden Gesundheit und Jugendlichkeit als soziale Normen für beide Geschlechter postuliert und ansonsten Geschlechterdifferenzen behauptet. Dabei werden die Frauenfiguren von den Sprechern ausschließlich an ihrer äußeren Attraktivität gemessen. So wird die Protagonistin in der zweiten Szene als »Young and beautiful, naturally« (ebd.: 5) beschrieben und auch in der zehnten Szene konzentriert sich die Vorstellung von der Frau als »every man’s dream of what a good woman should be« (Crimp 1998: 42) auf ihre körperliche Perfektion. Dass Anne nicht in jeder Szene den vorherrschenden Schönheitsidealen entspricht, wird von den Sprechern in der zwölften Szene missmutig zur Kenntnis ge6 | Ich gehe von einer Filmhandlung aus, da die Geschichte an eine Filmhandlung, ein Melodram bzw. eine amerikanische Blut- und Bodengeschichte erinnert. Außerdem wird die Kamera als Medium, durch das der/die ErzählerIn die Geschichte wahrnimmt, explizit erwähnt (vgl. Crimp 1998: 42).

›Die Kamera liebt dich‹

nommen, wenn sie sich beschweren: »And while we’re on the subject of her appearance, why can’t she be more attractive? Why can’t she be more sympathetic? Why can’t she have a few more teeth? Why cant’t she bend over and let us see her ass?« (Ebd.: 55) Die Reduzierung der Frau auf ihre Rolle als Objekt des Begehrens manifestiert sich auch in den der Protagonistin in der sechzehnten Szene zugeschriebenen »normal interests of a girl of her age« / […] Clothes. / […] Boys / […] Make-up. Pets / […] Music« (Crimp 1998: 67). Im Unterschied zu den weiblichen Rollenzuschreibungen werden die männlichen Figuren nach traditionellem Muster als Ernährer und Beschützer von Frau und Familie beschrieben. Neben Attraktivität, »power and authority« (ebd.: 5) fordern die Sprecher von ihren männlichen Identifikationsfiguren aber auch Sensibilität, Warmherzigkeit, psychische Stabilität und Verantwortungsbewusstsein. So wird der Protagonist der zehnten Szene als liebevoller Familienvater gezeichnet, der seiner Mutter, großherzig und überlegen, alle ihre Fehler verzeiht. Die Sprecher schwärmen: »I mean that is just so moving to see that he has found […] that strength, to forgive his Mom. […] That he has forgiven her for running round with other men. […] Yes. And it’s kinda moving to see how attentive he is to the kids. / How he’s the one who cuts up their chicken and wipes their mouths with a paper napkin – the image, y’know, of this big guy in camouflage doing all that caring domestic stuff. / ’Cos family is at the heart of things, I guess«. (Crimp 1998: 41, 43)

Wie problematisch die von den Sprechern proklamierten medial geprägten Rollenzuschreibungen für das Identitätsgefühl des Subjekts sind, wird in der sechsten Szene deutlich. Hier empfindet sich Anne als »TV screen […], where everything from the front looks real and alive, but round the back there’s just dust and a few wires. […] She says she’s not a real character […] like you get in a book or on TV, but a lack of character, an absence she calls it, […] of character« (ebd.: 24f.). Offenbar kann sich die Protagonistin mit den medial konstruierten Identitätsidealen nicht identifizieren, weil sich ihre menschliche Widersprüchlichkeit und psychologische Unklarheit nicht in ein klares, ›medienformatiertes‹ Bild pressen lassen. Eine Überwindung der starren Rollenzuschreibungen scheint unmöglich. Dass sich Anne nurmehr als ›Abwesenheit‹ von Person empfindet, ist für die Dramaturgie des Theatertextes entscheidend. Anstatt sich zu den Narrationen der Sprecher zu positionieren, kommt Anne selbst nie zu Wort. Ihre Identität setzt sich aus den

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Rollenzuschreibungen der Sprecher zusammen. Die Identifikation mit den von den Medien bestimmten ›Identitäts-Ideen‹, die »Gebots- und Verbotskataloge« darstellen, »denen wir entnehmen können, wie wir sein sollen und wie nicht«, ist für Crimp zwangsläufig mit einem Verlust des Identitätsgefühls verbunden: »Da […] keiner von uns diesen Geboten und Verboten ganz entsprechen kann […], ist bei Identifizierung mit diesen Ideen das ›Versagen‹ und Verheimlichen gleich mitprogrammiert.« (Platta 1998: 84) In Attempts on her life thematisiert Crimp die Schwierigkeiten des heutigen Subjekts, sich von den medial konstruierten geschlechtsspezifischen Rollenmustern zu distanzieren, zumal jeder Person von anderen bestimmte Attribute zugeschrieben werden und jede an den vorherrschenden Identitätsidealen gemessen wird. Grundsätzlich sind Zuschreibungen unumgänglich, konstituiert sich doch die Identität des Subjekts über die Identifikation mit bzw. über die Abgrenzung von anderen. Bei Crimp führt die Identifikation der Sprecher mit Anne aber zur Vereinnahmung der Titelfigur. Grund ist die asymmetrische Kommunikationssituation. Die Sprecher und Anne stehen sich nicht als Individuen gegenüber, »die einander zugestehen, Erwartungen zu äußern und sich für sie um Anerkennung zu bemühen«, sondern die einen haben »die Macht, ihre Definition der Situation anderen [Anne, N.B.] aufzuzwingen.« (Krappmann 1971: 54) Um dem Zuschauer bewusst zu machen, dass jede Zuschreibung in einer asymmetrischen Gesprächssituation eine Form von Gewalt ist, überwindet Crimp in seinem Theatertext die dramatische Form. Er verzichtet auf die Strukturprinzipien von Figuration und Narration. Auf diese Weise tritt die interne theatrale Kommunikation noch stärker als in The treatment hinter die externe zurück. Der Zuschauer gibt sich keiner Illusion eines mimetischen Bühnengeschehens hin, sondern ihm wird bewusst, dass die Sprecher Annes Identität in einem performativen Akt konstruieren. Zugleich wird das Publikum dazu angehalten, über seine eigenen Versuche, sich ein Bild von dem Erzählsubjekt zu machen, zu reflektieren. Auch wenn einzelne Szenen aufeinander verweisen und es »einzelne Worte, Sätze« und »Motive« gibt, die »sich variieren und wiederholen« (Tabert 1998: 254f.), lassen sich die einzelnen Geschichten der Sprecher über Anne nämlich nicht zu einer in sich stimmigen, kohärenten Biographie zusammensetzen. Um ein konsistentes Bild von Annes Identität zu entwickeln, muss der Zuschauer »die disparaten Komponenten der rätselhaften Person zu einem Ganzen« formen oder »nur Teilaspekte in seine Identitätsvorstellung« einarbeiten, »um eine Stimmigkeit

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herzustellen.« (O.A. 1999). Auf diese Weise wird er sich des Konstruktionscharakters von Identität und Alterität bewusst.

R ESÜMEE In seinen Theatertexten setzt sich Crimp mit dem Konzept von Identität und Alterität unter dem Einfluss der Massenmedien auseinander. Zum einen problematisiert er, dass sich heutige Subjekte an den vorherrschenden, medial konstruierten Identitätsidealen messen und messen lassen, weil sich das psychologisch unklare Individuum im Vergleich zu den oberflächlichen und eindeutig beschaffenen Mustern notwendig als defizitär empfinden muss. Zum anderen macht er auf die Konstruktion von Wirklichkeit und damit auf die Erzeugung von Identität und Alterität durch die Bildermacht der Medien aufmerksam. Mit seinen Stücken zielt Crimp auf die Destabilisierung hegemonialer Normen. Zugleich macht er deutlich, dass das Subjekt Wirkung von Diskurs- und Machtbeziehungen ist. Schließlich wird Annes Identität von dem Filmproduktionsteam in The treatment bzw. in den Dialogen der Sprecher in Attempts on her life geformt und für ihre jeweiligen Zwecke instrumentalisiert. Dass Crimp den Zuschauern den Konstruktionscharakter von Identität bewusst machen will, manifestiert sich auch in der Ästhetik seiner Theatertexte. Durch die kritische Nutzung bzw. die Überwindung der dramatischen Form fehlt seinen Stücken »die Wirklichkeit als Referenzgröße im Sinne von Realitätssimulation. Auf diese Weise stellt sich das Theater selbst als Konstruktion dar; gleichzeitig reflektiert es den Fiktionscharakter alles Wirklichen« (Jaeger 2007: 107) und schafft einen »Erkenntnisraum, der die Mechanismen der Erzeugung von Abbildung und deren Bedeutung erkennbar macht.« (Ebd.: 109)

L ITER ATUR Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen, Berlin: Merve. Baudrillard, Jean (1996): Das perfekte Verbrechen, München: Matthes & Seitz. Crimp, Martin (2000): »The treatment«, in: ders., Plays One, London: Faber and Faber, S. 273-389.

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Crimp, Martin (1998): Attempts on her life, London: Faber and Faber. Jaeger, Dagmar (2007): Theater im Medienzeitalter. Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller, Bielefeld: Aisthesis. Keupp, Heiner u.a. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Krappmann, Lothar (1971): Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart: Klett-Cotta. O.A.: »Bilder einer Frau: Verstörend, witzig, sexy und bitterernst. ›Angriffe auf Anne‹, ein Stück des Briten Martin Crimp, hatte im TiK Premiere und erhielt viel Beifall«, in: Die Welt vom 12.10.1998. O.A.: »Identität als Mosaik. ›Angriffe auf Anne‹ im Studio«, in: ruprecht Nr. 59 vom 11.5.1999: www.ruprecht.de/ausgaben/59/ru06.htm vom 10.02.2012. Platta, Holdger (1998): Identitäts-Ideen. Zur gesellschaftlichen Vernichtung unseres Selbstbewusstseins, Gießen: Psychosozial. Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Niemeyer. Sampson, Edward E. (1993): Celebrating the other. A dialogic account of human nature, Boulder (Colorado): Westview press. Tabert, Nils (Hg.) (1998): Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Tabert, Nils (1998): »Nils Tabert im Gespräch mit Martin Crimp«, in: ders. (Hg.), Playspotting, S. 251-262. Welz, Frank (2000): »Identität und Alterität aus soziologischer Perspektive«, in: Wolfgang Eßbach (Hg.), wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg: Ergon, S. 89-101. Zapp, Andrea (2006): »Live – a user’s manual. Künstlerische Skizzen zur Ambivalenz von Webcam und Wirklichkeit«, in: Susanne Knaller/ Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink, S. 316-330.

II. Inszenierungspraktiken

Encountering a Classic as Other in post-Brechtian Performance A Radical Fräulein Julie at the Berliner Ensemble in 19751 David Barnett

THE POST-B RECHTIAN AND THE P OSTDR AMATIC Fairly early in Hans-Thies Lehmann’s book Postdramatisches Theater, one reads an interesting proposition regarding Brecht’s place in recent theatre practice: »Das postdramatische Theater ist ein post-brechtsches Theater. Es situiert sich in einem Raum, den die Brechtschen Fragen nach Präsenz und Bewußtheit des Vorgangs der Darstellung im Dargestellten und seine Frage nach einer neuen ›Zuschaukunst‹ eröffnet haben.« (Lehmann 1999: 48)

This formulation, which necessarily generalizes to make its point, is perhaps now ready for some sharper definition. While the categories invoked in the quotation are undoubtedly Brechtian, they are nonetheless broad. The postdramatic is a remarkably expansive umbrella term and one which covers many practices; the post-Brechtian, if it is to have any useful meaning, itself requires careful articulation. It is thus important to understand which features can be admitted to the realm of the post-Brechtian and how their Brechtian impulses may be transformed in the process. I shall be considering one of the German Democratic Republic’s (GDR) most infamous theatre scandals, the furore which surrounded a 1 | I should like to thank the British Academy for the Research Development Award which supported the research for this paper.

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production of Strindberg’s Fräulein Julie, staged by Bernhard Klaus Tragelehn and Einar Schleef.2 While the play itself engages extensively with otherness in terms of gender and class (cf. Templeton 1990 and Chaudhuri 1993), I have chosen to focus on the directors’ treatment of a classic text as other and the theatrical possibilities such a decision generated. The production was premiered on 10 April 1975 at the Berliner Ensemble (BE) and ran for a mere ten performances. Ruth Berghaus, the Intendantin from 1971-77, removed it from the repertoire at the end of the season, reportedly at the request of Brecht’s estate because it »[entspricht] nicht dem Theater Brechts« (Tragelehn in Tragelehn/Müller 2006: 138). Martin Linzer wrote in 1989 that the work »wurde nahezu einhellig von der Theaterkritik dieses Landes [the GDR] als modernistisches Experiment und Sakrileg am Erbe Brechts entschieden verurteilt« (Linzer 1990: 28). It should be clear from both quotations that the reception at the time was very much influenced by the ways in which the production could not be connected to Brecht, something made all the more unpalatable to the critics because the production was presented at the BE of all places. One may further infer that if the experimental approach was unrelated to Brecht, then perhaps it could be considered ›postdramatic‹ with the benefit of hindsight. I shall be describing and analysing the production in order to show how a postdramatic veneer actually hides Brechtian substance. To begin, one needs to understand what ›Brechtian‹ might suggest in terms of theatrical performance. Brecht’s productions with the BE were many and varied – he directed comedy, drama and tragedy – but there are still particular ideas which underpinned his practice as a whole. These can be boiled down to the Marxist position that the world is dialectical and materialist. To gloss the two terms briefly: the dialectical worldview accounts for change in terms of the contradiction between a thesis and an antithesis. When the contradiction becomes too great, elements of the two antagonists combine to form a synthesis. In turn, the synthesis becomes a new thesis which will be met by a new antithesis, and again the relationship is one of contradiction. The dialectical process continues in perpetuity, generating more contradictions and more syntheses. As should 2 | In the following arguments I shall, however, be referring to Tragelehn as the director. Both were credited with the ›Inszenierung‹ although Tragelehn was more responsible for direction and Schleef for the set. This is not to say that Schleef did not contribute important ideas (Irmer/Schmidt/Tragelehn 2003: 80).

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be clear, the dialectical process is non-deterministic: both thesis and antithesis are complex, contradictory entities in themselves, and it is thus impossible to predict how they will unite to produce a synthesis. Materialism is the doctrine that everything one experiences in the world is the product of physical matter. The influence of materialism on Brecht’s approach to making theatre is to be found in his concept of realism. Realism in performance usually suggests that what one sees on stage approximates to what one sees in everyday life. To Brecht, however, realism was a philosophical term first, one which differentiated itself from the more conventional sense of the term in the theatre. In Brecht’s sense, realism is a generalizing concept; it points to the typical relationships between people and institutions away from the peculiarities of individual experiences which might skew an understanding of how society works. Brecht expanded on this position in response to a newspaper review: »Im Gegensatz zur naturalistischen Spielweise trifft die realistische eine Auswahl des Typischen, d.h. des gesellschaftlich Bedeutsamen« (Brecht 1993a: 264). It is important that Brecht notes that that which appears on stage is an ›Auswahl‹; the socially significant is delimited to enhance the impact of dialectical stagecraft. Contradictions were selected for their clarity of opposition, something Brecht associated with their effectiveness for an audience. The way he sought to articulate a play’s realism was to analyse its Fabel, the term he used to refer to the events and actions of a plot. Only the correct interpretation of the Fabel held the key to the dialectical relationship between society and individual. The way in which the Fabel unfolded had to be socially significant in that it adhered to a particular society’s laws. The Fabel was subjected to the strictest of examinations, as Brecht put it: the work »muß zeigen, ob es sich um ein Kunstwerk handelt – und gegenüber den unmusischsten aller Fragen« (Brecht 1993b: 192f.). That is, the work of art had to demonstrate its relationship to reality itself, away from its artifice. Of course, the very categories of the real and reality are problematic, and these would cause difficulties for theatres that came after Brecht’s. Brecht sought to realize the philosophy of dialectical materialism by carefully articulating contradictions on stage but without synthesizing them. Herein lay the activating integration of the spectator whose job it was to consider the dialectical tensions and potentially draft solutions which were not provided by the theatre. The devices Brecht developed to realize his theatre were derived from his analytical method. In order to reveal the dialectical nature of reality, Brecht needed to find ways of get-

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ting behind the naturalizing and universalizing processes that perpetuate the dominant ideology. His solution was to develop key terms in practice which would reveal the processes behind everyday surfaces: Verfremdung, Gestus and the epic. While I will not examine these concepts in detail, I will note that each one aims to challenge the spectator’s perceptions of reality. Verfremdung makes the familiar strange; Gestus reconnects the character to society through the body of the actor; the epic drives a wedge between the experience of the event and a reflection on it. All three denaturalize the performed material in a bid to make the spectator productive; to process the realistic material and to reach conclusions. These conclusions were not, however, open or free – Brecht’s theatre was partial and loaded in favour of the working class and its interests. This position, in line with Marxist orthodoxy, ultimately benefitted all society by liberating citizens from insidious relations predicated upon exploitation.

H ISTORICAL D IALECTICS IN F RÄULEIN J ULIE AND THE P ROBLEMS OF H ISTORICIZ ATION Such a society is to be found in Fräulein Julie, in which the daughter of a Count, Julie, enters into a liaison with her valet, Jean, something which, in the late nineteenth century, caused much consternation in theatre circles.3 (At the start of the play Jean is already engaged to the cook Kristin.) In the GDR, however, such relations were officially a thing of the past, yet Tragelehn and Schleef had different ideas. On the surface, Fräulein Julie seems to have little to do with a society in which social hierarchy had apparently been abolished in the name of a workers and peasants state. The creative team described the thematic heart of the production in terms that are identifiable as Brechtian in the refusal to divorce the individual from wider contexts: »Psychologie des Herr-Knecht-Verhältnisses. Darstellung der strindbergschen Psychologie als politischen Inhalts [sic!]; das ganz Private, Besondere, Einzelne als das Allgemeine, Historische, Politische« (Tragelehn/Schleef/Irmer 1974: n.p.). What appears to be specific is to be presented in such a way that it reveals its social generality; the

3 | See Meyer 1976: 85-88 for a brief description of the play’s turbulent performance history.

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individual’s actions and opinions are connected to a politics rather than to personal psychology. I shall consider how this was enacted below. The play itself was divided into three parts: the first ended when Jean and Julie exited before the peasants performed their dance. The second started with their return to the stage post coitus and concluded just before Julie returned, having dressed for her flight with Jean from the estate. The final part ran from there until the final line. Not a word of this short play was cut. The three sections broadly had the following functions: the first part established the terms of the relationships between the three characters. These were conspicuous by their changeability; rehearsals continually discovered the different ways in which Julie, Jean and Kristin negotiated social superiority, and refused to settle on any single position. However, what underlay all the relationships was a power relationship, defined by social position or conceptions of gender roles. The team took seriously the link between the political and the personal and wanted to apprehend the complexities of the minutest details of the experience, away from Brechtian clarity, in a bid to overwhelm the audience with a rich concatenation of relations between the characters. The intention was to engender an active audience by confronting it with material which was not easily assimilable because its dynamics kept shifting. That this material was nonetheless extracted from concrete social positions related the action back to the master-servant relationship that informed the production as a whole. The second part, according to Tragelehn, was the one »der ›im Kopf‹ spielt. […] Es werden alle Varianten (gehen, bleiben, allein gehen, zusammen gehen, das tun, jenes tun usw. usw.)« erprobt (Tragelehn in Tragelehn/Müller 2006: 142). This section caused the team the greatest problems, and involved a series of role reversals as Julie spoke Jean’s lines and vice versa. In effect, this was a section in which nothing happened, something which reminds us of the postdramatic trait that the theatre is no longer dealing with ›Handlung, sondern Zustände‹ (Lehmann 1999: 113). However, the static nature of the section did not suggest that the acting had in some way departed from the social or the political. Julie and Jean were engaged in play, and tried out the different options suggested by the text within the confines of their social and gender roles. The openness of these options is clear from the play itself; they lead nowhere. And so while the possibilities could be interpreted under the postdramatic lens as »Uneindeutigkeit, Polyvalenz und Simultaneität« (ebd.: 141) in that they hover

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above a final meaning, the meaningful conclusion one may draw is that none of the options will actually help the pair out of their insoluble social contradiction. The final section dealt with the aftermath of the crisis and was played against almost blinding light from backstage which prevented the audience from seeing the action clearly and cast the actors’ bodies into shadow for the most part. Here Brecht’s visual clarity was deliberately forsaken in favour of a suggestive play of light and dark, of silhouettes provoking greater concentration on the speeches themselves. The finale, whose usual interpretation is that Jean, at Julie’s behest, orders her to exit and kill herself, was read quite differently by the director. The text does not instruct Julie to commit suicide, just to leave, which was what she did, by climbing down from the stage, over the rows of seats in the stalls with the help of the audience, and leaving the theatre through one of the auditorium’s doors. This final action with the spectators reinforced the production’s desire to connect with them and their experience by actively involving them in the action. Other devices were also employed to establish a dialogue between the production and its audience. The peasants’ dance was actually staged as a disco, in which young people filled the staged and gyrated to pop music. This was not, however, an attempt to update the scene or to make it directly relevant to the GDR of 1975. Instead, the team tried to communicate an immediate sense of casualness and jollity, according to Friedrich Dieckmann, the production’s dramaturge (cf. Dieckmann 1977: 159). It is difficult to know whether allowing the youths to wear their usual clothes suggested this. The unavoidable connection with the present day could have been frustrated at the very least by putting the throng in costumes, however unhistorically specific. Brecht’s theatre was more inclined to historicize drama of the past to emphasize the differences between two historical periods and to posit models of why such behaviour was typical in the past. The cleavage that arose between stage and auditorium would then demonstrate how changeable the world was, and the audience would be encouraged to consider how such historical and social changes might have come about. Fräulein Julie would thus have presented itself as a candidate for such treatment in a more orthodox Brechtian interpretation. In the BE under Berghaus’s leadership, the way was open to ask new questions of historical plays and their relationship to the present.

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By 1975 the presumed distance between the socialist GDR and the quasi-feudal society of Fräulein Julie was no longer that self-evident. Dieckmann published a fictitious dialogue between two figures, A and B, who discussed the play and the production at the BE. The surprisingly critical text considered the position thus: »A: Du willst sagen, dass das Herrschaftswesen aus den Beziehungen der Geschlechter nicht verschwunden ist, so weit auch das bürgerliche, gar das feudale Klassenwesen hinter uns liegt? B: So ist es. Die ökonomische und gesellschaftliche Emanzipation der Frau ist in der individuellen Sphäre noch nicht zulänglich verarbeitet und kann das auch gar nicht. […] Auch unser Staat ist […] in seinen wesentlichen Kadern immer noch ein Männerstaat.« (Dieckmann 1977: 143)

Rather than focusing on historical distance, the creative team was more concerned with bringing out points of contact. Thomas Günther, an assistant director on the production, attested to a commitment to Brecht’s philosophical principles in a document written after the shock of the production’s negative reception: »Das ist dialektisch, daran halten wir fest. Aber die historisch konkreten Widersprüche seiner [Brechts] Texte teilen uns nur etwas mit, wenn wir von 1975 aus dazu Stellung beziehen« (Günther 1975: n.p.). The team feared that an accurate historicization of the material would have been thoroughly unproductive because it would have confirmed the distance between an historical then and an apparently disparate now. That is, the GDR audience may well have viewed the production as ancient history with no connection whatsoever to their experience of the present. Günther’s reference to the present appears to counter Brecht’s preference for distance but is in fact present in Brecht’s own work, as John J. White notes: »processes of Verfremdung and Historisierung need to be shown to be ways of treating the present, rather than just the past« (White 2004: 96). Brecht maintains that without the link to the present, historicization has little to offer an audience. The production team was concerned with finding points of connection between the world of Fräulein Julie and the GDR but this did not lead to the collapse of Brecht’s distance. Instead the production sought to reconfigure it.

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D ISTANCE , P ROXIMIT Y AND I RONY IN R EHE ARSAL The foreignness of the historical context itself was a way of promoting a more detached acting style, as Tragelehn pointed out: »Dass das Stoffliche kaum Berührungspunkte mit der Gegenwart hatte, hat sich eher positiver ausgewirkt, weil die stoffliche Nähe die spielerische Freiheit sehr viel schwerer macht« (Tragelehn in Koschwitz 1990: 32). The Brechtian actor is called upon to demonstrate detachment from his or her character as a way of making it criticisable. In the quotation, however, Tragelehn emphasized the space the distance created as a means of engaging in a more playful relationship with the character. Playfulness is a fluid category in which relationships are defined by irony. Here irony is to be understood as a category of elusiveness: irony does not suggest that one means the opposite of what one says but that one is never certain of the relationship between signifier and signified. This playful approach to character meant that sincerity and disingenuousness denoted the extreme ends of a spectrum of the actor’s delivery. This flexibility consequently produced a relationship between actor and audience which was always unstable. The spectator was encouraged to examine everything spoken and performed in this atmosphere of uncertainty. Rehearsals began with strategies not dissimilar to those of Brecht. Compare for example, the description of an early rehearsal of Herr Puntila und sein Knecht Matti, which Brecht co-directed with Erich Engel in 1949, with Tragelehn’s description of the beginning of work on Fräulein Julie: »[Werner] Segtrop sprach den Text sehr laut und ›dramatisch‹ und BB wandte dagegen ein ›wir wollen jetzt nur den Text lesen und uns bemühen [,] seinen Sinn zu erfassen‹«. (Anon. 2 undated: n.p) »Wir haben versucht, ohne Ausdruck, ohne Gestaltung zu lesen, passiv, aufnehmend. […] Wir haben versucht, die spontanen Reaktionen auf den Text beim Lesen festzuhalten: Widerspruch, Erstaunen u.s.w., was Brecht das ›Memorieren der ersten Eindrücke‹ nannte«. (Tragelehn in Tragelehn/Müller 2006: 141)

In the first quotation, Brecht asks the actor to explore the potentialities of his role before ultimately settling on the particular contradictions which could then form clear dialectical tensions on stage. Initially, Tragelehn is asking for something similar: that the actors note the points of inter-

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est without colouring them with details of character. This, however, is where the two processes start to diverge. For Tragelehn, the contradictions identified in rehearsal were not to be fixed or reduced but allowed to be performed in their contradictory plenitude. Despite having no experience in such matters, the team also encouraged improvisation with the text and the objects on stage. The aim was to interrogate the many facets of the characters and their relationships in such a way that the fuller complexity of the dialectical tensions could emerge. That is, while Brecht sought to pare contradictions down to their most prominent points of collision, Tragelehn wanted to examine each side of the contradiction in detail and present as many elements of the dialectics’ component parts as possible. What emerged changed the type of signs employed in the production. The fairly empty stage, for example, had precious few props. One which attained a special quality was a box. Clothes were taken from the box in the second part and allowed Julie and Jean to try out each other’s personae. It also doubled as a kind of refuge at points of crisis, it being the only object which afforded any shelter on the mainly empty stage. The box, like the characters, was probed for the full gamut of its ability to generate possible connections for the audience. While the quality of associativity is one that characterizes postdramatic signs on stage, it can also be productively employed within post-Brechtian theatre. Here it serves the function of problematizing the terms of a rich dialectic by showing the inherent complexities of each dialectical component. The shift from denotation to connotation is an important one and seemingly leads to the postdramatic preference for parataxis which results in a »Wechsel der Einstellung auf seiten des Zuschauers« (Lehmann 199: 148). This idea can be reviewed under the lens of a post-Brechtian theatre, too. One of the bravura moments in the final production was when Jean delivered the speech about his childhood as a sung aria. The speech was a conscious attempt to expand the dialectic of master and servant between Jean and Julie. Jean recounted how he washed himself, and Julie pretended to wash him, too. She was acting out his memory in the present and thus subordinated herself to him during this sequence. The action elicited laughter from the audience until Jean moved on to his description of the oat bin and how soft the oats were, like human skin. Here the word was repeated over and over again as Jean stroked Julie’s skin, and the audience’s response was transformed into silence. Jean became sensuously move active. As Tragelehn noted: »Die beiden Momente hängen ab voneinander«

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(Tragelehn in Tragelehn/Müller 2006: 143), that is, they were not simply a collection of connotative actions but were dialectically related to each other. In Brecht’s theatre practice, such discontinuities in character or shifts in mood were provoked by the Fabel; here the change only appears to have come about internally. This idea of the autonomous individual, divorced from society, was a position contested by the directors and the production. The ways in which Julie, Jean and Kristin related to each other were all, as we have already seen, predicated upon a dialectic which, in its social configuration, was irreconcilable.

R ADICALIZING THE ATRICAL C OMMUNICATION The connection between actor and audience was obviously developed far earlier than Julie’s final exit. It was noted in one of the early rehearsals, when the actress playing Kristin was bringing her cooking pots onto the stage: »Tragelehn fordert die Schauspielerin auf, etwas dabei zu singen, möglichst was Triviales« (Anon. 1 undated: 1). She chose Wie ein Stern… by GDR crooner Frank Schöbel. The team manufactured a link between popular song and a series of desires which came from an actress associating material with her character. Dieckmann observed: »So gestalten sich Elemente der Trivialkultur als realistische Details« (Dieckmann in Koschwitz 1990: 33). The song created a connection between an old play’s text and its contemporary reception. The updating was not a way of making Fräulein Julie in some way relevant, but acted as a means of contextualizing Kristin socially and emotionally for the audience at the BE. The improvisations also generated other textual material, especially jokes, which, too, told much about the characters, their relationships, and, of course, their humour. Jean was wont to tell more suggestive jokes, which functioned both as a means of expanding the range of his social aspiration (he pushes the boundaries of acceptable discourse between mistress and servant) and of connecting with the audience. On the other hand, the improvised input also brought out an additional quality, as Günther noted: »Hier wurde nur der Spielfreude der Schauspieler Raum gelassen« (Günther 1975: n.p.). He also wrote of something of a commonplace in postdramatic performance, the integration of an actor’s own experience rather than its subordination to the dominance of character: »Die Schauspieler und Regisseure haben ihre Erfahrungen in die

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Arbeit mit eingebracht, und das, was zwischen den Texten gespielt wird, ist eine Sache unserer Auffassung zum Text« (ebd.). Similarly, Jean’s aria, mentioned above, also developed in such a way that the realization process »dem Schauspieler eine Möglichkeit gibt, sich darin zu behaupten« (Anon. 1 undated: 4). All these examples divided the actor’s work into two distinguishable facets, which Jean Alter has called the »referential« and »performant« functions (Alter 1990: 32). While both are present in performance, as when one considers a particular actor notably adept, the performant function can also attain its own degree of autonomy. This dimension was important as a way of moving the production away from the representation of the text into areas that communicated very much on a meta-level, something which was replete with its own political connotations. The emphasis on the materiality of the actors and their real presence on stage opened up a type of showing which went beyond that of Brecht. Lehmann offers a useful set of gradations in which he understands Brecht’s strategy as one in which »das Zeigen tritt gleichberechtigt neben das Gezeigte« (Lehmann 1999: 192). In this production, the clarity of showing was transfigured so that the shown material became less important than the act of showing itself. As Lehmann comments, the material being shown »verliert Interesse gegenüber der Intensität und Präsenz des Zeigens bzw. des Zeigenden, der Signifikant schiebt sich vor das Signifikat« (ebd.). Such a shift points to an important movement in post-Brechtian theatre. The act of showing postulates a defined position of knowledge and the attendant clarity is another index of this. When the object being shown is complex, it is difficult to know what should and what should not be shown, and perhaps more importantly, how it should be shown. In short, the act of showing is inextricably linked to epistemology. Fräulein Julie sought to convey its inability to execute Brechtian showing by emphasizing the subjectivity of its actors and their relationship to the textual material. In this, the directors were interested in frustrating Strindberg’s naturalist determinism and the master-and-servant relationship between director and actor. The improvisations signalled divergences from the text and the introduction of the subjective moment as a way of commenting on power structures in the theatre itself. The shift from representation to performance was one of the prime political objectives of the production. The audience was encouraged to note the novelty of the approach to acting, which was a distancing effect itself, because it disrupted Alter’s referent function. Brecht, of course, also disrupted this with his meta-level of narration, or showing that the actors

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were showing. The disruption in Fräulein Julie was of a different quality although it was not unrelated to Brecht’s strategy. In Brecht’s acts of showing, the actors follow the production’s ideological thrust: showing casts light on repressive social systems. In this production, the inability to toe the ideological line, due to epistemological uncertainty, manifested itself in the ways the actors themselves related to the very processes of realizing a text. Tragelehn observed how the theatrical form of the production and the thematic concerns of the play dovetailed in performance: »Es war ein ganz grosser politischer Aktualitätspunkt und er fand sich so auch in dem Stück von Strindberg, daß in dem Innenleben von Herr und Knecht, in dem Vorbestimmt- und Vorgezeichnetwerden, wie man sich benehmen soll und wie man sich benimmt, die Krise steckt, und wie man die Grenzen, die vorgezeichnet sind, überschreitet, aus den jeweiligen gesellschaftlichen Situationen heraus, in denen man sich befindet.« (Tragelehn in Koschwitz 1990: 32)

The role of performance in the present aimed to combat the idea that the production had deferred to the text or indeed subordinated itself to the social structures it encoded. Instead, what was being performed betrayed its own debt to the improvised exercises in that the performance was different every night in terms of the way the additional material was deployed. This could be seen, for example, in the actors’ own responses to the inclusion of novel text. The dialectic of master and servant was extended beyond the realms of representation into the supposed master position of the text over the directors, and of the directors over the actors. The social issue of dominance became a theme which pervaded the referent and the performant aspects of the production.

U NDERMINING C OMPREHENSION AS A P RODUCTIVE I MPULSE The BE itself was concerned that the production’s approaches to theatrical communication would prevent a productive relationship. Rolf Stiska, the administrative manager of the company, asked the directors: »Haben Sie den Eindruck, dass unsere Werktätigen, die nach dem Arbeitstag hier das Theater besuchen, mit dieser Inszenierung etwas anfangen können?« (Stiska in Ebel undated: 1). The reply, which surprised the more conservative members of the BE, was that this new form of theatre had indeed been

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successful. Jörg Mihan wrote in a report on the second performance: »Die Aufführung erblüht in der direkten Kommunikation mit dem Publikum. Hier scheint ihr Wesen begründet zu liegen – nicht Konfrontation, sondern Miteinander« (Mihan 1975b: 1). He also noted an interesting contradiction in the production’s reception from reports written by school pupils who had seen the second Hauptprobe: »Das wichtigste Phänomen ist wohl für diese Gruppe, dass sie meinen, sie hätten das Stück nicht verstanden und doch richtige Aussagen haben« (Mihan 1975a: 7). While one might question the concept of »richtige Aussagen«, the quotation says more about an officially sanctioned sense of understanding and its superfluity in theatrical practice. Tragelehn was clear on how necessary innovative aesthetic decisions had been as a way of creating new spaces for post-Brechtian theatre. He quoted Heiner Müller to put across his point: »›Nur das, was im Moment nicht verstanden, nicht beschrieben werden kann, ist das, was wirkt‹« (Tragelehn in Koschwitz 1990: 30). This is not, however, a call to wilful opacity, a theatre in which ›anything goes‹ regardless of relationships with the social. Rainald Goetz, while referring to his own work, explained the productivity of obscurity in a series of notes for a discussion in 1995: »– Klarheit: neuer Terror der Verständlichkeit – allzu schnell Verstehbares ist auch langweilig – andererseits die Richtigkeit der Forderung: gegen jeden Kunst-Mythizismus, gegen absichtliche Verdunkelung […] – flüchtigste Erkenntnisformen: wirkliche Wirklichkeit von Nicht-Genauigkeit, Nicht-Vertiefung«. (Goetz 1995: 284)

His emphasis on both comprehensibility as an orthodoxy, and reality as fleeting and imprecise tallies with Fräulein Julie’s integration of the subjective experience of the actors and shifting positions of the characters. Clarity, by its very nature, is an excluding category, in that it eliminates anything that interferes with a principle of unambiguous communication. The post-Brechtian is keen to shine its own light on the grey areas and to bring them onto the stage as a way of expanding the possibilities of the dialectic. However, the multifarious elements of the newly conceived dialectic can no longer be placed in a hierarchy of importance; they can only be presented to an audience and the audience is the activated body whose task it is to make sense of the material. In this way, the audience approximates to the one of postdramatic theatre with the crucial difference that in post-Brechtian performance, the material is dialectical.

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The reception of the production points to its freshness. On the one hand, much of the GDR press condemned Fräulein Julie in doctrinaire terms. Hans-Dieter Schütt regretted that the production’s »szenische Experimente« did not serve »den Sinngehalt eines Stückes zu erschliessen, sondern sich in formaler Aufgeputztheit, Verschlüsselung und gesellschaftlicher Unkonkretheit [zu] genügen« (Schütt 1975). Rainer Kerndl, reviewer of the SED’s newspaper Neues Deutschland, was similarly strident, accusing the production of forsaking Karl Marx for Sigmund Freud and indulging in »von Eitelkeit nicht freie Zurschaustellung interpretatorischer Eigenwilligkeiten« (Kerndl 1975). As a report from the Federal Republic later noted, the vehemence of the attacks actually alerted theatre-goers to the production and led to huge demand for tickets (cf. Pragal 1975). Other reviewers, not exclusively from the West, spotted something different. GDR Brecht expert Ernst Schumacher wrote: »Ausgehend von der Theorie der Verfremdung […] und um von einer bloßen Kopie der Wirklichkeit wegzukommen, streben sie [the directors] sozusagen eine ›Poetik der Darstellung‹ an« (Schumacher 1975). While he felt this was more concerned with a timeless battle of the sexes rather than a treatment of the master-servant relationship, his identification of ways to push Brecht further points to Tragelehn’s dialectical foundation and his determination to apply it to the GDR of the 1970s. Helmut Ullrich, whose review accused the production of experiment for its own sake at times, nonetheless discovered something he had not expected: »Aber merkwürdig! Gerade weil man Strindberg lächerlich macht, kommt in manchen Auftritten und bei manchen Textstellen seine dramatische Größe groß heraus […]. Das Drama an sich, das Drama als Vorgang, kaum noch motiviert, doch faszinierend, grotesk verfremdet, aber packend.« (Ullrich 1975)

The comments reveal certain aspects of the postdramatic theatre. The shift from clear meaningful representation to »Faszination« (Lehman 1999: 190) marks the employment of a different kind of communication. A lack of motivation driving characters or action may remind one of a theatre of states, yet the detail, shared with Schumacher, of the presence of Verfremdung suggests that something familiar has been made strange. Western reviewers identified »Klassenkampf in der Intimsphäre« (Beckelmann 1975) and the inclusion of complex factors away from a simple emphasis on Strindberg’s social criticism (cf. Hensel 1975). All these traits show how

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dialectical material had been processed in a manner that viewed Brecht’s theatrical strategies as useful but in urgent need of reconsideration.

F RÄULEIN J ULIE AS POST-B RECHTIAN THE ATRE While Tragelehn’s Brechtian credentials are hard to dispute (he was Brecht’s Meisterschüler from 1955-56, and his references to Brecht run through his commentaries on the production), they cannot present the singular ground for calling the production ›post-Brechtian‹. Instead, one can identify more generic features that point to both Brecht and radical new readings of his ideas. The production marks a collision between a Brechtian insistence on dialectical materialism and epistemological uncertainty. This uncertainty was in part predicated on the persistence of gender inequality in the GDR, yet it could not be addressed by stagecraft that reduced dialectics to their most prominent, binary manifestations. The result was to expand the ambit of the dialectic on stage to include as much contradictory material as possible in a bid to engage with audience in a complex, yet socially grounded production. The social dimension, central to the text of Fräulein Julie, was augmented by the personal experience of the actors in such a way that the production pushed Brechtian showing beyond its position of knowledge into one in which subjectivity could destabilize certainty and introduce new perspectives. Yet this was not a subjectivity disconnected from the social: the concrete material particles taken from popular culture and the implementation of role-play provided social reference points which anchored the performances in the material realities of the GDR. That these were radically defamiliarized, verfremdet, pays testament to the Brechtian roots of the production. The production offered a radically contradictory view of a classic text. Historically familiar gender relations were brought into the present through a re-reading of Brechtian stagecraft to produce a mode of performance hitherto unseen in the GDR. The commodified reception of Strindberg’s play was blown open by strategies designed simultaneously to offer contemporary connections and to overwhelm the audience with the multiple facets of the characters’ and actors’ three-way relationship. Tragelehn and Schleef’s Fräulein Julie was engaged in an attempt to open up the dialectics of master and servant in ways that went well beyond the play’s subject matter. The otherness of the production demonstrated the

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ways in which a post-Brechtian aesthetic could both retain a grounding in materialism while expunging interpretive narrowness. In this sense, the production offered a sense of liberation to both the play and the audience.

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Polyphonie der Stimmen – Polyphonie der Geschlechter Die Bühne als Hör-Raum im postdramatischen Theater Elfriede Jelineks Verena Ronge Ich will dem Theater das Leben austreiben. Ich will kein Theater. Elfriede Jelinek, Ich will kein Theater

Elfriede Jelineks Theater ist jenseits des traditionellen Repräsentationstheaters zu verorten. Die Autorin bringt Figuren auf die Bühne, die keine geschlossenen, homogenen Einheiten von Körper und Sprache sind, sondern als Sprachflächen bzw. Träger von Machtdiskursen fungieren. Die damit vollzogene Trennung von (Figuren-)Körper und Sprache führt zu einer Fokussierung auf das Sprachmaterial als solches. Ohne Rückbindung an eine – immer auch geschlechtlich markierte – Figur, die spricht, erhält das Sprechen einen Eigenwert jenseits seines semantischen Sinns. Als frei flottierendes, entpersonalisiertes und damit ästhetisiertes Wortmaterial bildet es einen Hör-Raum – einen Raum hybriden, polyphonen Sprechens –, der eine Neubewertung von Geschlechterkonstellationen erlaubt. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie Jelinek die Bühne nutzt, um den Geschlechterkörper als soziale Konstruktion sichtbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit der Dimension des Akustischen erweist sich dabei als besonders hilfreich, da hier eine Trennung von Sprecher und Gesprochenem ausgemacht werden kann, durch die die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sowie die zwischen Mann und Frau verschwimmen.

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D ER K ÖRPER , DIE S TIMME UND DAS (POST -) DR AMATISCHE THE ATER Als Primärmedium1 ist das Theater »das älteste Medium, das sichtbare und hörbare Dinge und Körper vor den Augen von Zuschauern im Modus einer Darstellung oder Vorstellung zeigt« (Röttger 2005: 527). Das dramatische Theater zielt darauf ab, ein Abbild des Realen in Form eines »spannungsgeladenen Geschehen[s]« (Jaeger 2007: 7) zu zeigen und so einen »affektiven und sozialen Zusammenhang zwischen Bühne und Publikum« (ebd.) zu generieren. Mimesis, Repräsentation und Illusion sind die Schlagworte, die in verschiedenen Definitionsversuchen immer wieder auftauchen. (Vgl. Lehmann 22001: 22) Die Frage nach dem Körper kommt dabei zwangsläufig auf, da er »in keiner anderen Kunstform […] so sehr im Zentrum [steht] wie im Theater« (ebd.: 361). Hier sind die Zuschauer mit Menschen konfrontiert, die die dramatischen Texte im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern: »Die leibliche Verkörperung ist das Prinzip jedes Theaters, der Körper des sprechenden Subjekts ist Mittelpunkt einer jeden Theateraufführung. […] Der Körper wird zum Signifikanten und Interpreten des vorliegenden Textes.« (Jaeger 2007: 157) Im dramatischen Theater wird von einer engen Verbindung von Figur und Körper ausgegangen (vgl. Haß 1999: 51): »Wir sehen ihn [den naturalistischen Körper, V.R.] handeln und sprechen. Seine Geste unterstützt das Wort, und das Wort erzwingt und bedeutet seine Handlungen. Was er sagt, ist Ausdruck einer literarischen Figur, und was er leidet, was ihn schmerzt und ängstigt, gehört seinem Herren, der Figur. Für diese literarische Figur sind Worte, Gesten und der Körper nur ein Mittel, um sich selbst zur Darstellung zu bringen.« (Ebd.) 1 | Ich beziehe mich an dieser Stelle auf Werner Faulstich, der das Theater als ›Primärmedium‹ bzw. ›Menschmedium‹ definiert: »Primärmedien sind die Menschmedien. ›Mensch‹ meint dabei nicht eine individuelle Person oder Berufsgruppe, sondern ein komplexes System im obigen Sinn [in dem Sinn, dass bei der Kommunikation über Primärmedien kein technisches Gerät notwendig ist, V.R.], dessen Bedeutungsdimension sich über Menschen und spezifische körpergebundene ›Techniken‹ (z.B. rhetorischer Art) vermittelt. Früher gab es zahlreiche solcher Medien, zum Beispiel den Priester, den Sänger, den Hofnarren oder die Erzählerin. Heute gibt es nur noch das Theater.« (Faulstich 2004: 13)

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Hier wird nicht nur die Differenz zwischen Figur und Schauspieler aufgehoben, auch zwischen dem Körper und dem Text (bzw. der Stimme, die diesen Text spricht), scheint es keinen Unterschied zu geben: Die Figur bringt zur Sprache, was der Text liefert. »Auch wo Musik und Tanz hinzukamen oder vorherrschten, blieb der ›Text‹ im Sinne von nachvollziehbarer narrativer oder gedanklicher Totalität bestimmt. Trotz der immer stärker werdenden Charakteristik der dramatis personae durch das nichtverbale Repertoire von Körpergestik, Bewegung und seelischer Ausdrucksmimik, blieb es auch im 18. und 19. Jahrhundert dabei, daß die menschliche Figur sich zentral durch ihre Rede definierte.« (Lehmann 22001: 21, Herv.i.O.)

Abgesehen von der Dominanz der Sprache, auf die auch Erika Fischer-Lichte verweist, wenn sie feststellt, dass im Zentrum des Theaters, das »die imitatio naturae […] zum grundlegenden Prinzip erhebt« (Fischer-Lichte 1992: 125), ein Subjekt steht, das sich »am besten durch Sprache darstellen« (ebd.) lässt, ist auch die Frage, wer gerade spricht, eindeutig zu beantworten: Figur und Stimme verschmelzen zu einer homogenen Einheit. Ganz anders im postdramatischen Theater. Obwohl es sich hier weniger um ein klar umrissenes Konzept als um eine Annäherung an ein Theaterparadigma handelt, das sich laut Hans-Thies Lehmann im Zuge der sich ändernden Wahrnehmungsgewohnheiten im medialen Zeitalter herausgebildet hat, lassen sich verbindende Strukturprinzipien ausmachen: »Ambiguität, feiert Kunst als Fiktion, feiert Theater als Prozeß, Diskontinuität, Heterogenität, Nicht-Textualität, Pluralismus, mehrere Codes, Subversion, alle Örtlichkeiten, Perversion, […] Deformation, […] anti-mimetisch, widersteht Interpretation.« (Lehmann 22001: 27) Ausgehend von dieser (zugegebenermaßen recht unscharfen) Bestimmung gelten auch Jelineks Stücke spätestens seit den 1980er Jahren als postdramatisch. So bemerkt sie: »Nicht eine Person oder sechs Personen suchen einen Autor, sondern das Sprechen sucht eine Hülle. […] Ich will dem Theater das Leben austreiben. Ich will kein Theater. […] Der Zuschauer soll auf der Bühne nicht sehen, was er hört. […] Ich setze nicht Rollen gegeneinander, sondern Sprachflächen.« (Jelinek 1989: 31f.) Und an anderer Stelle: »Die Figuren sind nur Kleiderbügel, auf die ich die Sprache hänge. Es gibt keine Biographie, es gibt kein Ich; meine Figuren haben auch kein Ich, weil das individuelle Handeln mit dem Roman des 19. Jahrhunderts ein Ende hatte.« (Heinrichs 2004: 760) Diese Zitate

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geben einen Einblick in die Theaterästhetik Jelineks, die durch eine radikale Absage an das klassische dramatische Theater gekennzeichnet ist. Jelinek geht es nicht mehr darum, psychologische Figuren auf die Bühne zu bringen, sondern sie konfrontiert die Theaterzuschauer mit Figuren, die keinerlei personale Präsenz aufweisen.2 Sie fungieren nur noch als durch Diskurse ge- und überformte Körper, die immer auch geschlechtlich markiert sind. So erscheint der weibliche Körper als Tauschobjekt auf dem kapitalistischen Warenmarkt, als Gegenstand sexueller Begierde oder als kranker Körper, kurz: als einer, der von männlichen Projektionswünschen und Machtdiskursen durchdrungen ist, während der männliche Körper zwar als der in der Geschlechterhierarchie überlegene gekennzeichnet ist – der Mann ist es, der seine sexuellen Gewaltphantasien am weiblichen Körper ausleben darf –, aber dennoch nicht weniger diskursiv zugerichtet ist. Auch der Mann quält seinen Körper, vorzugsweise beim Sport, und versucht, ihm seine unbewussten und unkontrollierbaren Triebe auszutreiben. Beiden Körpervorstellungen ist gemeinsam, dass das Individuum den eigenen Körper als einen entfremdeten erfährt. Auf sprachlicher Ebene zeigt sich diese Entindividualisierung in der von Jelinek angewandten Technik der Montage. Sie lässt Zitate aus unterschiedlichsten Quellen in die Rede ihrer Figuren einfließen und setzt so »vorgefundenes Material – pur oder gemischt mit eigenem, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – nebeneinander, um eine Bewußtmachung von Zuständen und Sachverhalten zu erreichen« (Jelinek 1984: 228f.). In dem Stück Clara S. finden sich beispielsweise Versatzstücke aus Romanen Gabriele d’Annunzios, den Tagebüchern Clara Schumanns sowie Ausschnitte aus dem Briefwechsel zwischen Clara und Robert Schumann;3 und auch in Krankheit oder Moderne Frauen lässt Jelinek in leicht abgewandelter Form »kulturelle Stereotyp[e], Ideologien, Mythen 2 | Präsenz ist somit nicht im Sinne einer körperlichen Präsenz zu verstehen, die durch die Körper der Schauspieler unweigerlich gegeben ist, sondern vielmehr als sinnstiftende Bedeutungskonstruktion, die durch die »völlige Überlagerung von Ichreferenz und Diskursinstanz« (Jaeger 2007: 13) in und durch die Figur lediglich im dramatischen Theater geleistet wird. Im Gegensatz dazu ist »[d]as postdramatische ›Subjekt‹ […] tot, lediglich schon verwendetes Sprachmaterial wird artikuliert. Es ist aus allem Leben entlassen und erweist sich als sprachliches Produkt, das sich durch zitierte Sprache konstituiert.« (Ebd.: 12) 3 | Siehe dazu auch Janz 1995: 53f.

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und Images des Weiblichen und der Frau in einem grotesken Bildertaumel Revue passieren« (Janz 1995: 88). So stellt der Verlobte der weiblichen Protagonistin Emily in Anlehnung an Sigmund Freud fest: »Du bist mir ein Rätsel, Emily« (Jelinek 2004: 197) und auch Emily bemüht ihrerseits Theoretiker wie René Descartes und Jacques Lacan, um ihre eigene Situation zu beschreiben. Dabei lässt sich die Aussage »Ich bin eine Dilettantin des Existierens. Ein Wunder, daß ich spreche. Ich bin restlos gar nichts« (ebd.: 203) als Replik auf Lacans Ausschluss der Frau aus dem Diskurs lesen (›LA femme n’existe pas‹), während der Satz »Ich bin krank, daher bin ich« (ebd.: 232) auf Descartes’ Beweis der eigenen Existenz im und durch das Denken anspielt. In allen Fällen wird deutlich, dass in und durch Sprache lediglich vorfabrizierte und tradierte Ausdrucksformen und Denkmuster transportiert werden. Die Figuren werden zu »Sprachschablonen« (Jaeger 2007: 154), die die fremde Rede wiedergeben, ohne sie zu einer sinn- und identitätsstiftenden Einheit zusammenbringen zu können: »Handlung, Dialog und dramatische Figur werden […] ersetzt durch eine spukhafte Sprache, die durch die Figuren hindurchgeht und sich der Narration in dramatischer Gestalt […] verweigert. Die Rede ist nicht dialogisch aufeinander bezogen; sie ist vielmehr durch ihre intertextuelle Zusammensetzung und Widersinnigkeit in sich dialogisch, vielstimmig. Als entdramatisiert gewinnen die Figuren ohne Psychologie und Tiefe die Flächigkeit eines Bildes und verlieren gleichzeitig ihre Kontur, indem ihre Rede sowohl aneinander vorbei als auch ineinander übergeht.« (Annuß 1999: 45f.)

Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Ästhetisierung des Wortmaterials, die typisch für das postdramatische Theater ist (vgl. Lehmann 22001: 263). Die damit vollzogene Trennung von Sprache und Körper wird in der Forschungsliteratur immer wieder mit der Austreibung der Körperlichkeit gleichgesetzt: »Elfriede Jelinek ihrerseits enthebt ihre Figuren jeglicher Art von Körperlichkeit und Innerlichkeit. Selbst wenn diese Figuren ihre Körper(teile) in Worte fassen, entschwindet ihre Leiblichkeit hinter dem körperfremden Sprachmaterial.« (Caduff 1996: 166) Im Gegensatz zu dem in diesem Zitat behaupteten »theatralische[n] Körperexorzismus« (ebd.: 173), der in der Entstehung eines »leiblosen Denkraum[s]« (ebd.: 166) kulminiert, ist der Körper bei Jelinek meiner Meinung nach gerade nicht im Verschwinden begriffen. Indem ihre Stücke eine konfrontative

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Gegenüberstellung von Text und Körper erzwingen, rückt der Körper als sichtbare Leerstelle in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er wird entkörpert, ohne dabei jedoch vollständig zum Verschwinden gebracht werden zu können – immerhin stehen die Schauspieler weiterhin auf der Bühne. Zudem muss bedacht werden, dass Jelinek lediglich die Existenz eines natürlichen und damit vordiskursiven Körpers negiert. Das kommt in Krankheit oder Moderne Frauen darin zum Ausdruck, dass sich im Leib von Carmilla keine Organe, sondern »auf blasbare Gummitiere« (Jelinek 2004: 216) befinden. Auch die Tatsache, dass es sich bei Emily und Carmilla um Vampirinnen handelt, verweist auf ein nicht-naturalistisches Körperkonzept. Es ist lediglich der vordiskursive, lebendig erfahrene Körper, den Jelinek in ihren Texten destruiert. Er ist verschwunden, ohne verschwunden zu sein. Damit übernimmt er eine deiktische Funktion: Er verweist auf seine eigene Abwesenheit. Aber warum macht Jelinek die Differenz zwischen Körper und Text sichtbar? Kati Röttger verweist in diesem Zusammenhang auf die Verbindung zwischen Theater bzw. Theaterwissenschaften und Geschlecht bzw. Geschlechterforschung. Sie führt aus, dass das Theaterdispositiv einen »Blickrahmen zur Re-Legitimation einer im Ausschnitt identisch repräsentierten Wirklichkeit zur Verfügung stellt« (Röttger 1998: 138). In mimetischen Theaterkonzepten bleibt die Grenze zwischen dem Mann als Subjekt und Produzent von Kultur auf der einen und der Frau als »Objekt (des Begehrens), […] als Schauplatz männlicher Produktivität« (ebd.) allerdings unberührt: »Fragt man nun nach dem Zusammenhang zwischen Geschlechterdifferenz und Theatralität, drängen sich die Parallelen förmlich auf: Frau, Bühne, Spiegel, Repräsentationsfläche werden durch den linearen, kontrollierenden Blick konstituiert, der die Grenze zwischen Kunst und Leben oder […] zwischen ›Diskurs‹ und ›Materialität‹ unangetastet läßt, eine Grenze, die eben auch die Differenz zwischen den Geschlechtern konstituiert, indem gerade sie dem Blick entzogen wird.« (Ebd.) 4

Die Bühne kann aber auch dazu genutzt werden, Machtverhältnisse, insbesondere männlich dominierte Repräsentationssysteme, aufzudecken. Jelinek nutzt das Theater genau in dieser Funktion. Es wird bei ihr zum 4 | Zur Verbindung zwischen Weiblichkeit und Theatralität siehe u.a. auch Rivière 1929, Weissberg 1994 und Benthien/Stephan 2003.

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Schau- und Hörplatz, an dem das Paradoxon des anwesend abwesenden Körpers zum Tragen kommt. Die Bühne erscheint als indifferenter Ort, der »nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater« (Jelinek 1997: 9) ist. Hier wird die Subversion der abendländisch geprägten Dualismen von Männlichkeit und Weiblichkeit ermöglicht, indem das Geschlecht als Produkt von Zuschreibungen sichtbar gemacht wird. Dabei wird eine neue Dimension erschlossen: die des Akustischen.

D IE B ÜHNE ALS H ÖR -R AUM Bereits Lehmann weist darauf hin, dass der Aspekt des Hörens bzw. des Klangs im postdramatischen Theater eine wichtige Rolle spielt. Im Zuge der bereits erwähnten Ästhetisierung des Wortmaterials und dem damit einhergehenden Zerfall jeder »stilistischen oder logischen Kohärenz« wird der Text »zum Klangraum ohne feste Grenzen« (Lehmann 22001: 276). Verstärkt wird diese Desemantisierung durch die fehlende Rückbindung des Gesprochenen an eine Figur. Während die Sprache im dramatischen Theater dazu dient, die inneren Zustände der dramatis personae zum Ausdruck zu bringen, geht der Körper im postdramatischen Theater »ganz heterogene Signifikationsbeziehungen« (Fischer-Lichte 1992: 127) ein. Befreit vom Korsett des sprachlichen Repräsentationssystems steht nun »[w]eniger die Semantik des gesprochenen Wortes […] als vielmehr sein Klang und Rhythmus« (Fischer-Lichte 1992: 130) im Mittelpunkt. Diese Position teilt Lehmann, der feststellt, dass der Körper im postdramatischen Theater zwar physisch präsent ist, aber nichts bedeutet. Dieses Nichts ist dabei nicht als bloße Negativität zu sehen, sondern vielmehr als positive Leerstelle im Sinne der Sichtbarmachtung der bereits erwähnten anwesenden Abwesenheit, die als Minus-Sinn bezeichnet werden kann. »Zeichnet sich der postdramatische Körper durch seine Präsenz aus, nicht etwas durch seine Fähigkeit zu bedeuten, so wird seine Fähigkeit bewußt, alle Semiose zu stören und zu unterbrechen, die von Struktur, Dramaturgie und Sprachsinn ausgehen mögen. Seine Anwesenheit ist deshalb stets – Sinn-Pause.« (Lehmann 2 2001: 368, Herv.i.O.) 5 5 | Auf diese Unfähigkeit des Körpers, etwas zu bedeuten, verweist auch Doris Kolesch, wenn sie dessen Fluidität betont: »Der stimmliche Körper ist dynamisch,

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Jelinek illustriert die Trennung zwischen Sprache und Körper, indem sie durch die Verselbständigung der Stimmen die Ortlosigkeit des Sprechens sichtbar macht.6 Das wird in dem Stück Burgtheater bereits in der einleitenden Beschreibung des dramatischen Personals deutlich: Putzi, die jüngste Tochter der titelgebenden Burgschauspieler Käthe und Istvan, wird als »eventuell lebensgroße Stoffpuppe, Stimme vom Band« (Jelinek 2004: 130) beschrieben. Die Differenz zwischen Körper und Stimme zeigt sich auch im Auftritt des Alpenkönigs, einer Figur, die bereits durch ihre Erscheinung als Mumie (»Er ist, was man aber nicht sofort bemerken darf!, ganz mit weißen Binden [Verbandszeug] umwickelt wie eine ägyptische Mumie«, Jelinek 2004: 143) im Verfall begriffen ist und deren Körper lediglich durch Hilfsmittel zusammengehalten wird. Während Schorsch »Stücke aus dem Alpenkönig heraus [reißt] und […] sie wie abgenagte Knochen hinter sich« (ebd.: 149) wirft, ertönt die Stimme des Alpenkönigs vom Tonband: »ALPENKÖNIG singt vom Band: Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub und zupft mi: Briaderl kumm! Da stell ich mich am Anfang taub und schau mich gar nicht um.« (Ebd.) Diese Verselbständigung der Stimme unterläuft einerseits »das visualisierte Hören des Darstellungstheaters, das die sprechende Figur auf der Szene verortet, indem es den rhetorischen Auftritt der persona an den Körper des Schauspielers bindet und ihn als Referenten der Prosopopoiia in Erscheinung treten lässt« (Annuß 2005: 93, Herv. i.O.). Andererseits wird die akustische Dimension des Bühnengeschehens unterstrichen, die Jelinek in Reden und Interviews immer wieder betont. Im Gespräch mit insofern die flüchtige und fluide Stimme weniger einen Gegenstand oder Zustand darstellt, als vielmehr Bewegung, Prozessualität, Veränderung.« (Kolesch 2009: 16) 6 | Die im dramatischen Theater relativ leicht zu beantwortende Frage nach dem Sprecher oder der Sprecherin muss im postdramatischen Theater neu gestellt werden: »Tatsächlich ist die Frage: Wer spricht? im Blick auf zahlreiche gegenwärtige Theaterformen und Texte zu stellen. Ganz offensichtlich stellt sie sich angesichts der neuartigen Präsenz von Sprechenden, die technologische Neuerungen ermöglicht haben: abwesende Off-Stimmen, vom Körper getrennte Mikroportstimmen, Stimmen ohne individuellen Sprecher. Die Geisterstimme früherer Theaterformen, die hinter Kulissen und Masken versteckt oder in Kostümen verborgen war und so immer lokalisierbar blieb, ist jetzt ergänzt durch ort- und körperlose, konservierte Stimmen.« (Birkenhauer 2005: 26f.)

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Anke Roeder erklärt sie: »Der Zuschauer soll auf der Bühne nicht sehen, was er hört.« (Roeder 1989: 153) Und auch in der 2004 gehaltenen Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden stellt sie fest: »Solange Sie nur hören, ist alles offen.« (Jelinek, zit.n. Annuß 2005: 93, Anm. 249)7 Die akustische Wahrnehmung ist dabei von der visuellen »nicht nur durch höhere Eindringlichkeit [unterschieden] […], sondern auch durch die mögliche Verborgenheit ihrer Quellen. Was wir sehen, befindet sich in unserem Blickfeld […]. Was wir hören, kann dagegen oft nicht identifiziert werden, ja nicht einmal lokalisiert werden; der Status des Gehörten bleibt auf verwirrende – und manchmal auch erschreckende – Weise offen« (Macho 2006: 130). Im Gegensatz zum Sehen, das als partial und direktional bestimmt werden kann (vgl. Chion 1996: 48), ist das Hören omnidirektional: »Wir können das, was sich hinter uns befindet, nicht sehen, aber wir hören nach allen Seiten.« (Ebd.) Den Ton, den man durch diesen als omnidirektional bestimmten Hörsinn wahrnehmen kann, bezeichnet Michel Chion als akusmatisch.8 Er führt aus: »Das akusmatische Wesen ist überall. Seine Stimme kommt aus einem ungegenständlichen, nichtlokalisierten Körper und scheint von keinem Hindernis aufgehalten zu werden.« (Ebd.: 54, Herv.i.O.) Die damit akzentuierte Trennung von Sprecher und Gesprochenem unterstreicht die virulent gewordenen sinnhaften Zusammenhänge und ermöglicht zugleich den Entwurf eines dritten Raums, der jenseits von eindeutigen Geschlechterzuschreibungen liegt und damit der Gefahr essentialistischer Geschlechterbilder entgeht. Die fehlende Rückbindung des Gesagten an eine psychologische Figur kommt auch in der in den Texten angelegten Stimmenvielfalt deutlich zu Gehör, so zum Beispiel in Krankheit oder Moderne Frauen. Hier findet sich folgende Regieanweisung: »Jetzt beginnen die Frauen im Klo-Vorraum durcheinander zu sprechen. Wie Bienengesumm. Tonmontage vom Band aus dem off. Die Sätze überlagern einander.« (Jelinek 2004: 256) Das nun folgende Stimmgewirr, das »assoziativ, rhythmisch, poetisch, zitativ, erinnernd eine unendliche Rede simuliert« (Meurer 2007: 111), verweist auf ein hyb7 | Gerade die hier zur Sprache gebrachte Verbindung zwischen dem Vorgang des Hörens und der damit verbundenen ›Offenheit‹ verweist auf die Möglichkeit der Subversion, die mit Blick auf die Dekonstruktion des hegemonialen Körper- und Geschlechterdiskurses an späterer Stelle thematisiert wird. 8 | »Den Ton, den man hört, ohne die Quelle zu sehen, die ihn verursacht, bezeichnet man als ›akusmatisch‹ heißt es in einem alten Lexikon.« (Chion 1996: 49)

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rides Sprechen jenseits klarer Identitäten. Es lässt sich mit Julia Kristeva als semiotisches Sprechen vor der Setzung jeder Bedeutung deuten. Der Ursprungsort dieser semiotischen Energie ist die chora – »eine ausdruckslose Totalität, die durch die Triebe […] in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird.« (Kristeva 1978: 36) Sie bildet einen rhythmisierbaren, generativen Raum, der aufgrund natürlicher und soziohistorischer Zwangseinwirkungen zwar »Bahnungen und Diskontinuitäten, jedoch keine Fixierungen, keine Grenzen, keine Anschlüsse aufweist« (Bayerl 2002: 157). Im postdramatischen Theater Jelineks löst sich somit die Fixierung auf den logos zugunsten einer polylogischen Konstituierung von Sinn- und Klangräumen (vgl. Lehmann 22001: 46): »Vor den Logos treten im postdramatischen Theater Atem, Rhythmus, das Jetzt der fleischlichen Präsenz des Körpers […]. Was sich im neuen Theater […] (ab)zeichnet, kann man demnach verstehen als Versuche zur Restitution von Chora: eines Raums und einer Rede ohne Telos, Hierarchie, Kausalität, fixierbaren Sinn und Einheit.« (Lehmann 22001: 262f.) Eine Steigerung erfährt das polyphone Sprechen in und durch die Figur des Chores, der vor allem in den Inszenierungen Einar Schleefs zum Einsatz kommt. Während der Chor lange Zeit nicht als eigenständige Theaterfigur begriffen wurde, ersetzt Schleef in seinen Inszenierungen die Protagonisten durch den Chor und beendet damit »das Theater des individuellen Ausdrucks« (Haß 1991: 52).9 Sein »Chor-Theater« (ebd.) entspricht Jelineks Vorgaben: »Die Schauspieler sind das Sprechen, sie sprechen nicht.« (Jelinek 1997: 9, Herv.i.O.) Ganz in diesem Sinne kommt »[d]as Sprechen des Chores […] nicht aus einem Mund. Seine Stimme ist nicht persönlich und sperrt sich nachhaltig gegen den Versuch, ihr irgendeinen Ort zuzuweisen« (Haß 1991: 60). In der polyvoken Stimme des Chores ist das zu hören, was Roland Barthes in seinem gleichnamigen Essayband das ›Rauschen der Sprache‹ (Barthes 2006) nennt. Die Gleichzeitigkeit der Stimmen führt dazu, dass »etwas wie ein Sinn klingt, ohne jedoch zu einer manifesten gedanklichen oder sprachlichen Form zu gerinnen« (ebd.: 61). Dabei findet nicht nur durch das Sprechen eine Identitätsdiffusion statt. Durch die Gleichschaltung der Bewegungen kommt es auch zu einer Auflösung der Körpergrenzen: »Diese Chöre sprechen und singen nicht nur synchron, sondern bewegen sich auch gemeinsam, 9 | Zu Schleefs Inszenierung von Ein Sportstück am Wiener Burgtheater im Jahr 1998 vgl. Meurer 2007: 147ff.

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rennen, hasten, turnen, schleifen ihre Körper über die Bühne, eine gedrillte Horde in weißem Feinripp, die höchst eindrucksvoll auf Pfiff die Bewegungsrichtung ändert oder auf Pfiff an die Rampe stürzt und knapp vor der Absturzkante abstoppt.« (Fleig 2002: 93) Hier wird ein Sprechen jenseits von starren Bedeutungszuweisungen ermöglicht, durch das das ›Andere‹, das Ausgeschlossene, zur Sprache kommt. Jelineks postdramatisches Theater wirft einen Blick auf eine Kategorie, die »den Kulminationspunkt der ästhetischen, ethischen, politischen und selbstreflexiven Aspekte der Aufführung darstellt, nämlich […] die Kategorie der Alterität« (Eiermann 2009: 18). Sie wird von André Eiermann als »die Andersheit eines anwesenden Gegenübers« (ebd.) beschrieben. Unabhängig davon, ob diese ›Andersheit‹ außerhalb der symbolischen Ordnung oder innerhalb des soziokulturellen und historischen Kontexts verortet wird, ist das im postdramatischen Theater zum Ausdruck gebrachte Verhältnis von Selbst und Anderem als eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht konzipiert (vgl. ebd.: 19). Jelinek geht dabei aber über die »Idee originärer Präsenz oder die Vorstellung einer lediglich dualen Reflexivität zwischen Ego und Alter Ego« (ebd.) und damit über die von Eiermann konstatierte Begegnung von Angesicht zu Angesicht hinaus. Die Vorstellung von einer genuinen Präsenz dekonstruiert sie, indem sie ein amimetisches Theaterkonzept verfolgt, das nicht auf die Figur ausgerichtet ist. Zugleich durchbricht sie die Fixierung auf die Begegnung zwischen Ego und Alter, indem sie die Körperlosigkeit der Stimmen hervorhebt. Da nicht mehr klar ist, wer spricht, kann auch keine duale Beziehung entstehen. Jelineks Vorgehen besteht darin, ein Drittes zwischen das Subjekt und sein Gegenüber sowie zwischen den physischen Schauspielerkörper und die von diesem dargestellte Figur zu schieben. Dieses Dritte wird durch die Trennung von Körper und Stimme sichtbar. Ausgehend von dem so konzipierten Begriff des Dritten wird die Bühne für Jelinek zu einem Ort, an dem es gelingt, das Paradoxon der Darstellbarkeit des Undarstellbaren sichtbar zu machen. Das bezieht sich immer auch auf die Geschlechterbilder. Jelinek macht deutlich, dass die Frau aus der männlich dominierten (symbolischen) Ordnung ausgeschlossen ist, indem sie einerseits die diskursiven Ausschlussmechanismen aufdeckt und andererseits die potentiellen Fluchtmöglichkeiten der Frau – in Krankheit oder Moderne Frauen beispielsweise die lesbische Beziehung der beiden Frauen – als essentialistische Scheinlösungen entlarvt. Die Bühne als »dritter Ort« (vgl. Johanning 2004: 227) eröff-

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net dabei die Möglichkeit, durch die Ablösung des Sprechens vom Sprecher eine Wahrnehmung zu realisieren, die zwischen den Diskursen und damit auch zwischen den binären Geschlechtercodierungen liegt. Denn die auf der Bühne verorteten Stimmen sind bei Jelinek weder akustische Verlängerungen einer in sich geschlossenen Figur noch ist das Sprechen darauf angelegt, Inhalte oder Bedeutungen zu transportieren, wie die durch die Technik der Zitatmontage vorangetriebene Entsemantisierung des Gesprochenen (und damit auch des Gehörten) deutlich gemacht hat. Im Stimmenwirrwarr der Figuren, in der Mehrstimmigkeit des Chores geht es nicht mehr darum, das Geschlecht der Sprecher fest-zustellen und an einen Körper zu binden, sondern sich auf ein Hören einzulassen, das einem Dazwischen entstammt, das keine festen Bedeutungen aufweist. Dieses Theater ist eine Herausforderung; es ist ein Theater, das kein Theater sein will. Oder, um mit Jelineks eigenen und bereits zu Beginn zitierten Worten zu schließen: »Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. Ich will kein Theater.« (Jelinek 1990: 157)

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Königinnendrama und Postdramatisches Theater Zur Eskalation der Rede in Friedrich Schillers Maria Stuart und Elfriede Jelineks/Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart Anne Fleig

Mit der »Sprech-Wut der Personen« hat Elfriede Jelinek ihr Interesse an den Dramen Friedrich Schillers begründet (Jelinek 2005: 12).1 Schillers Figuren seien mit Wut aufgeladen und geradezu davon besessen, sich sprechend zu verausgaben. Diese Verausgabung lässt sich als eine Eskalation der Rede beschreiben, die auch Jelineks Dramentexte kennzeichnet. Insbesondere die »wunderbaren Streitereien« der Königinnen in Maria Stuart haben es der Autorin angetan, »mitfliegen« wolle sie, wie es in ihrem Schiller-Essay heißt (Jelinek 2005: 12). Dieser durch Sprache erzeugte Höhenflug der beiden Frauenfiguren überschreitet nicht nur die Grenze der Geschlechternormen, sondern auch die der Gattungsnormen. Er begründet in Ulrike Maria Stuart eine Eskalation der Rede, die an das Geschlecht der Figuren gebunden ist. Jelineks »Sprech-Wut« soll im Folgenden als Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Drama bzw. dem postdramatischen Theater gedeutet werden. In ihrem »Königinnendrama« Ulrike Maria Stuart führt Jelinek diese Eskalation der Rede anhand des Konflikts zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin vor. Bereits der Titel macht das dekonstruktive Verfahren der Zitation und Überschreibung kenntlich. Er ist Überschrift im doppelten Sinne, denn er bezeichnet den folgenden Text und hebt gleichzeitig 1 | Die Arbeit an diesem Beitrag wurde 2011 beendet, Forschungliteratur nur bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt.

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die Überlagerung von verschiedenen Text- und Zeitebenen hervor. Die Uraufführung des Stückes fand am 28. Oktober 2006 in der Regie von Nicolas Stemann am Hamburger Thalia Theater statt. In Ulrike Maria Stuart verbinden sich zunächst der Titel von Schillers Trauerspiel Maria Stuart (1801) sowie Ulrike bzw. Ulrike Maria, ein Name, der sich unverkennbar auf die historische Ulrike Marie Meinhof (19341976), Journalistin und Mitbegründerin der Rote Armee Fraktion (RAF), bezieht. Schillers Drama reflektiert den historischen Konflikt zwischen Mary Stuart, Königin von Schottland (1542-1587), und Elisabeth I. von England (1533-1603) aus der Perspektive der Weimarer Klassik, während mit dem Bezug auf Ulrike Meinhof die späten sechziger und siebziger Jahre mit ihren vielfachen Formen gesellschaftlicher Politisierung und politischen Engagements aufgerufen werden. Zur Überlagerung dieser verschiedenen Zeitebenen tritt die Reflexion des politischen Geschehens dieser Jahre heute, die Auseinandersetzung mit der Geschichte linker Politik und dem fragwürdigen Mythos RAF. Die Autorin, 1946 geboren, ist in diesem Zusammenhang nicht nur Zeitzeugin, sondern auch Zeitgenossin: Mitglied der KPÖ, engagierte Mitstreiterin in Wiener Künstlerkreisen und der Grazer Autorenversammlung, die sich bewusst mit der durch den Nationalsozialismus abgebrochenen Tradition der Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang erscheinen Ende der sechziger Jahre ihre ersten Texte: Gedichte, Hörspiele, der Hörroman bukolit (1969) sowie ihr Roman wir sind lockvögel baby! (1970), der die Trivialmythen der Popkultur kritisch reflektiert (vgl. Janz 1995). Es gehört zu den besonderen Pointen der Hamburger Uraufführung, die die skizzierten Zeitebenen und die vielfachen intertextuellen Bezüge, Anspielungen und Zitatmontagen sehr genau reflektiert, dass die RAF selbst als popkultureller Mythos in Szene gesetzt wird. Damit zieht der 1968 geborene Regisseur Nicolas Stemann eine weitere Zeitebene ein: Sein Blick repräsentiert mithin die Perspektive der Nachgeborenen, für die nur schwer oder gar nicht mehr vorstellbar ist, dass künstlerische oder intellektuelle Stellungnahmen zur RAF lange Jahre selbst der Dämonisierung anheimfielen. Stemann ist seit dem Tod Einar Schleefs der bekannteste Jelinek-Regisseur. Nach den Uraufführungen von Das Werk (Wiener Akademietheater 2003) und Babel (Wiener Akademietheater 2005) bildet Ulrike Maria Stuart seine dritte Jelinek-Uraufführung. Sie endet mit einer Huldigung an die

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Autorin, die durch eine blonde Zopf-Perücke ins Spiel gebracht wird, und damit bereits die eigenen Arbeiten zu zitieren beginnt.2 Dem komplexen Collage-Verfahren der Jelinek-Texte begegnet Stemann in Hamburg mit einem Konzept, das auf die Überlagerung von Text- und Zeitebenen mit mehreren Vorhängen, die auch als Projektionsfläche genutzt werden, und einer großen Drehbühne reagiert. Die verschiedenen Zeitebenen werden sowohl durch Kostüme, durch den »Chor der Prinzen« und den »Chor der Greise«, als auch durch eine doppelte Besetzung der Frauenfiguren mit offensichtlich unterschiedlich alten Schauspielerinnen zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus wird die von Jelinek betriebene Ablösung des Dramentextes vom Schauspielerkörper in der Inszenierung selbst thematisch. Bezogen auf die Vermischung und Überlagerung der Zeit- und Textebenen heißt es mehrfach: »Wer spricht? Ich kenne mich nicht mehr aus.« Tatsächlich lässt sich auch für das Publikum nicht genau entscheiden, wer hier spricht – Jelinek, Stemann oder gar die Schauspieler und Schauspielerinnen. Zu dieser Irritation trägt bei, dass der Text des Stückes – ausgelöst durch die Klage der Meinhof-Tochter Bettina Röhl gegen das Thalia Theater – von der Autorin nicht zum Druck freigegeben wurde. Wichtiger ist aber, dass die Autorin mit dieser Entscheidung die Trennung von Text und Inszenierung bewusst unterläuft.3 Dennoch geraten Text und Inszenierung gerade unter dem Aspekt des Königinnenstreits in ein spezifisches Spannungsverhältnis. Denn Stemanns Inszenierung vernachlässigt den politischen Konflikt um Macht und Herrschaft der streitbaren Frauenfiguren, indem er die »Prinzen«, und damit die heutige Rezeption und Wahrnehmung der RAF ins Zentrum rückt.4 Gleichzeitig wird der Konflikt von Frauen, die »Geschichte 2 | Zum Vergleich der drei ersten Uraufführungen vgl. Dürbeck (2007). 3 | Die Rechte an der Aufführung liegen beim Rowohlt Theater Verlag, der Text ist gegenüber den Bühnen und Vereinen als Manuskript gedruckt. Zudem ist ein Auszug aus dem Manuskript auf der Homepage der Autorin abrufbar. Um der Aufhebung der Unterscheidung von Text und Inszenierung Rechnung zu tragen, beziehen sich zitierte Textpassagen auf Mitschriften der Stemann-Inszenierung. Längere Zitate wurden orthographisch an das Manuskript angepasst (vgl. Jelinek 2006a). 4 | Der Blick der Nachgeborenen kann auch als Ersetzung gedeutet werden, die Stemann durch das Spiel mit der Jelinek-Perücke selbst thematisiert (vgl. Pewny 2008: 108).

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machen wollen« (Jelinek 2007: 15) bzw. Geschichte gemacht haben, auf einen Streit um Neid und Eifersucht zweier Rivalinnen reduziert. Diese Reduktion kennzeichnet auf markante Weise auch die Deutung von Schillers Maria Stuart. Denn der Herrschaftsanspruch der Protagonistinnen überschreitet nicht nur die normative Geschlechterordnung, sondern auch die Gattungsnormen: Während Regentinnen im Drama des Barock keine Ausnahme bilden, wird die Figur der Königin im Drama des 18. Jahrhunderts vollkommen zurückgedrängt. Das Geschlechtergrenzen überschreitende Potential des weiblichen Herrschaftsanspruchs wird um 1800 vornehmlich in der Figur der Amazone zur Sprache gebracht, die aber schon wieder eine Mythisierung des Weiblichen ist. Weitere Königinnen begegnen nur mehr in Charlotte von Steins Trauerspiel Dido (1794), welches die Anforderungen der hohen Tragödie ironisch bricht,5 und eben in Schillers Maria Stuart.6 Dass der Streit der Königinnen samt des Dilemmas weiblicher Regentschaft ins Zentrum der klassischen Gattungsdiskussion führt, wird ›ex negativo‹ an Goethes Kommentar deutlich, der sich abfällig über den Streit der »beiden Huren« geäußert haben soll (vgl. Goethe 1999: 49). Bei Brecht taucht die Szene in seinen Übungsstücken für Schauspieler als »Streit der Fischweiber« wieder auf (vgl. Brecht 1993: 834). So kann Jelineks »Königinnendrama«, das zugleich ihr erstes Stück nach der ›Krönung‹ durch den Nobelpreis ist, auch als kritischer Kommentar zur Geschlechtergeschichte des ›Genus Grande‹ gelesen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern Ulrike Maria Stuart durch das Thema des weiblichen Herrschaftsanspruchs auf der Ebene der Figurenrede, die den Text konstituiert, zu einer kritischen Reflexion des postdramatischen Theaters beiträgt. Denn gerade die Fortschreibung von Schillers Maria Stuart führt zu einer Eskalation des Sprechens, die durch die von Schiller übernommene gebundene Rede in besonderer Weise hervorgehoben wird.

5 | Dido ist zugleich eines der wenigen Trauerspiele von Autorinnen (vgl. Fleig 1999: 240-257). 6 | Seine Bearbeitung ist wahrscheinlich die 54. in einer langen Reihe von Maria Stuart-Dramen aus dem 16. und 17. Jahrhundert (vgl. Diecks 1990: 234); Matthias Luserke geht sogar von 55 Bearbeitungen vor Schiller aus (vgl. Schiller 1996: 540).

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Um zu einer Antwort zu gelangen, werde ich zunächst auf den Königinnenstreit in Schillers Maria Stuart und dann auf Jelinek/Stemanns Ulrike Maria Stuart eingehen. Den Figuren beider Stücke ist gemeinsam, dass sie sich buchstäblich um Kopf und Kragen reden, sie sprechen, um noch einmal Jelineks Essay Sprech-Wut zu zitieren, »aufeinander ein, als gälte es ihr Leben. Und dieses Sprechen bedeutet ja auch, daß es ihr Leben gilt. Sie reden aber auch um ihr Schweigen, diese Figuren, sie schweigen nur selten. Daher sind sie lebende Tote. Sie haben umsonst um ihr Leben geredet.« (Jelinek 2005: 14)

M ARIA S TUART Schillers Drama Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen wurde am 14. Juni 1800 in Weimar uraufgeführt und erschien 1801 im Druck. Es handelt von dem historischen Streit um die englische Krone zwischen Elisabeth I., Königin von England, und der schottischen Königin Maria Stuart. Den Höhepunkt des Trauerspiels bildet die Konfrontation der beiden Königinnen in der 4. Szene des III. Aktes. Zu Beginn des Stückes ist die Gerichtsverhandlung über die wegen Hochverrats angeklagte Maria bereits abgeschlossen. Die dramatische Handlung wird durch die unterschiedlichen Reaktionen auf ihre Verurteilung bestimmt, und damit in besonderer Weise durch Sprache hervorgebracht. Aufgrund dieser Anlage kann sich das Drama zügig auf seinen Schluss zubewegen, das Sterben der Maria. Nach mehreren Jahren der Inhaftierung, die zur Vorgeschichte der Handlung gehören, braucht das Stück selbst nur noch drei Tage, um das Ende der schottischen Königin zu besiegeln. Schon im ersten Akt werden der Streit der beiden Königinnen um die Vorherrschaft, die komplizierte Rechtslage des Prozesses und die mit ihm verknüpfte Frage nach dem Verhältnis von Staat und Recht, von Gerechtigkeit und Gewalt, sowie die Maria Stuart zur Last gelegten Anschuldigungen entwickelt. In Maria Stuart vermischen sich die historischen Tatsachen und die spätere Deutung und Rezeption des Konflikts, und dies charakterisiert dann auch Ulrike Maria Stuart. Schillers Maria ist zwar bezogen auf die Ermordung ihres zweiten Ehemannes schuldig, da sie – wie sie selber einräumt – von den Mordplänen wusste und nichts gegen sie unternommen hat. Zudem hat sie in dritter Ehe den Mörder geheiratet. Die Anklage

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wegen Hochverrats und Umsturzes der Regierung Elisabeths trifft sie in Schillers Trauerspiel aber zu Unrecht. Dagegen hat die historische Maria eine Mitschuld an der Ermordung ihres Gatten stets geleugnet; die Quellen sprechen sie allerdings nicht von der Verantwortung für das versuchte Attentat auf Elisabeth frei (vgl. Alt 22004a: 497). Mit seiner Gestaltung des historischen Streits legt Schiller die Grundlage für eine Rehabilitierung Marias. Ihre Inhaftierung und ihre mangelnde Verteidigung vor Gericht lassen das Recht, auf das sich Elisabeth und ihre Berater berufen, als reine Auslegungssache erscheinen. Maria klagt demgegenüber eine juristisch angemessene Behandlung als Ausländerin ein, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie schuldhaft gehandelt hat. Diese Anklage ist nicht nur für das Rechtsverständnis Schillers aufschlussreich, sie ist auch heute aktuell: »Denn nicht vom Rechte, von Gewalt allein Ist zwischen mir und Engelland die Rede. […] Wohl! Sie brauche die Gewalt, sie töte mich, Sie bringe ihrer Sicherheit das Opfer. Doch sie gestehe dann, daß sie die Macht Allein, nicht die Gerechtigkeit geübt. Nicht vom Gesetze borge sie das Schwert, Sich der verhaßten Feindin zu entladen, und kleide nicht in heiliges Gewand Der rohen Stärke blutiges Erkühnen. Solch Gaukelspiel betrüge nicht die Welt! Ermorden lassen kann sie mich, nicht richten!« (Schiller 1996: 40; I,7)

Wie sich hier bereits andeutet, wird der politische Konflikt durch die persönliche Rivalität der beiden Königinnen verschärft, ein Konflikt, der untrennbar mit dem Problem weiblicher Regentschaft verbunden ist. Das Prinzip spätmittelalterlicher/frühneuzeitlicher Monarchien folgt nämlich, wie Ernst Kantorowicz ausgeführt hat, der Lehre vom doppelten Körper des Königs (Kantorowicz 1990). Sie erlaubt es, die metaphysisch-theologische Begründung monarchischer Macht mit dem natürlichen Körper zu verbinden. Zur inneren Logik dieses Programms gehört allerdings eine geschlechtsspezifische Prägung, die die Regierungsgewalt der Köni-

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gin in juristische Widersprüche verstrickt. Zum einen kann die Königin nicht als Vertretung des Leibes Christi fungieren, zum anderen spielt der Körper der Königin in der Sicherung der Nachkommenschaft eine andere Rolle: Sie gebiert die Söhne, die zu Königen heranwachsen. Peter-André Alt hat daher die Königin als einen »König ohne zweiten Körper« bezeichnet (vgl. Alt 2004b: 18ff.). Auch eine souveräne Herrscherin wie Elisabeth I. wurde zwei Jahrzehnte lang mit den Erfordernissen ihrer ›natürlichen‹ Rolle – der Sicherung der Thronfolge durch Mutterschaft – konfrontiert. Die Repräsentation politischer Macht als Verkörperung der Königswürde und die Wahrnehmung ihrer natürlichen Aufgaben fallen bei Königinnen auseinander. Schiller verhandelt dieses Problem im zweiten Akt seines Trauerspiels. Auch hier steht Elisabeth unter dem Druck, sich zu vermählen und Nachkommen zu haben. Den Konflikt sucht Elisabeth durch ihr Konzept der Jungfräulichkeit zu lösen: »Nicht genug, / Daß jetzt der Segen dieses Land beglückt, / Auch ihrem künftgen Wohl soll ich mich opfern, / Auch meine jungfräuliche Freiheit soll ich, / Mein höchstes Gut, hingeben für mein Volk, / Und der Gebieter wird mir aufgedrungen. / Es zeigt mir dadurch an, daß ich ihm nur / Ein Weib bin, und ich meinte doch, regiert / Zu haben, wie ein Mann, und wie ein König.« (Schiller 1996: 47f.; II,2) Der Konflikt zwischen Souveränität und Zwang der öffentlichen Meinung, zwischen Selbstbestimmung und Pflichterfüllung, bestimmt auch Elisabeths Verhältnis zu Maria: Sie ist neidisch auf die andere, die ihre Wünsche – jedenfalls aus der Perspektive Elisabeths – ausleben konnte: »Der Stuart wards vergönnt, / Die Hand nach ihrer Neigung zu verschenken, / Die hat sich jegliches erlaubt, sie hat / Den vollen Kelch der Freuden ausgetrunken.« (Schiller 1996: 73; II,9) Dieser Neid auf die zudem als hinreißend schön geltende Maria ist nun aber keine Herablassung der mächtigen Elisabeth auf das zweifelhafte Niveau einer spezifisch ›weiblichen‹ Konkurrenz, sondern Ausdruck des Konflikts, der ihr selbst keine Loslösung von den Aufgaben und Zumutungen der Weiblichkeit erlaubt. Umgekehrt verwahrt sich Maria gerade Elisabeth gegenüber gegen die Beschuldigungen als Gattenmörderin und Geliebte. Noch ihr christlich überhöhter Gang zum Schafott dient der Bekräftigung ihrer Königinnenwürde, die sie bis in den Tod verteidigt. Beide Protagonistinnen kennen das Dilemma weiblicher Regentschaft. Beide sprechen stets als Frau und Königin. Dies gilt auch für die berühmte Konfrontation der beiden im dritten Akt, die aufgrund dieser Doppelung sehr unterschiedliche Deu-

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tungen erfahren hat. Dem Urteil Alts ist zuzustimmen, wenn er schreibt: »Nicht die subjektiven Spiele der Leidenschaft, sondern deren objektive Folgen für den Staat bilden das Zentrum der Tragödie.« (Alt 22004a: 499) Die Begegnung der beiden Protagonistinnen kommt durch unterschiedlichste Interessen im höfischen Rollen- und Intrigenspiel zustande, geht aber auf eine Bitte der Gefangenen zurück, die sich davon ihre Begnadigung versprochen hatte. In dem für Maria schließlich überraschenden Aufeinandertreffen unterwirft sie sich Elisabeth, bittet aber die »Schwester« (Schiller 1996: 83; III, 4) zugleich darum, sich vom tiefen Fall erheben zu dürfen. Doch Elisabeth denkt nicht daran: »Ihr seid an eurem Platz, Lady Maria! / Und dankend preis’ ich meines Gottes Gnade, / Der nicht gewollt, daß ich zu euren Füßen / So liegen sollte, wie ihr jetzt zu meinen.« (Ebd.) Durch diese Demütigung beginnt Maria »mit steigendem Affekt«, wie es in der Regieanweisung heißt, um ihr Leben zu reden: »Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick, / An meiner Worte, meiner Tränen Kraft« (ebd.: 84). Schließlich entsagt sie ihrem Anspruch auf das Reich und bittet um »Das Wort, um dessentwillen ihr gekommen […] / Sprecht dieses Wort aus. Sagt mir: ›Ihr seid frei, / Maria! Meine Macht habt ihr gefühlt, / jetzt lernet meinen Edelmut verehren.‹« (Ebd.: 87) Doch Elisabeth misstraut dem Schein der Worte: »Gewalt nur ist die einz’ge Sicherheit« (ebd.: 86). Sie geht – wenn auch verbal – zum physischen Angriff über, indem sie Marias Liebesbeziehungen und ihre Schönheit als ›gemein‹, d.h. als Prostitution denunziert. Marias Empörung quittiert sie mit höhnischem Lachen, auch dies Ausdruck körperlichen Agierens. Ihr Hohn durchbricht Marias mühsame Beherrschung: »Ich habe menschlich, jugendlich gefehlt, Die Macht verführte mich, ich hab’ es nicht Verheimlicht und verborgen […] Das ärgste weiß die Welt von mir und ich Kann sagen, ich bin besser als mein Ruf. Weh euch, wenn sie von euren Taten einst Den Ehrenmantel zieht, womit ihr gleißend Die wilde Glut verstohlner Lüste deckt. Nicht Ehrbarkeit habt ihr von eurer Mutter Geerbt, man weiß um welcher Tugend willen Anna von Boulen das Schafott bestiegen.« (Ebd.: 88)

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Während Elisabeth vor Wut sprachlos ist, vollendet Maria ihre Rede, die zwar ihren sicheren Tod bedeutet, aber im Sinne Schillers gleichzeitig den Beginn ihrer moralischen Autonomie markiert: »Der Thron von England ist durch einen Bastard / Entweiht, der Briten edelherzig Volk / Durch eine list’ge Gauklerin betrogen. / – Regierte Recht, so läget Ihr vor mir / Im Staube jetzt, denn ich bin euer König.« (Ebd.: 89) Mit dieser letzten Wendung kehrt sie nicht einfach nur den Mechanismus des Falls um (vgl. Haß 2009: 335), vielmehr bekräftigt sie noch im Affekt den Rechtsanspruch, den sie schon im ersten Akt geltend gemacht hatte. Darauf bezieht sich auch die Rede von der Gauklerin. Ihr letztes Wort unterstreicht ihren rechtmäßigen Herrschaftsanspruch, der für sie – ebenso wie für Elisabeth – unabhängig von geschlechtsspezifischen Einschränkungen besteht und auf dem doppelten Körper des Königs beruht.

U LRIKE M ARIA S TUART Obwohl die Unterschiede zwischen Schillers historischer Tragödie und Jelinek/Stemanns Ulrike Maria Stuart auf den ersten Blick zu überwiegen scheinen, zeigen sich bei näherer Betrachtung beachtliche konzeptionelle und thematische Überschneidungen. Dies betrifft zunächst den Aufbau der Stücke. Schillers Trauerspiel ist ein äußerst handlungsarmes und klar strukturiertes Stück, das den Konflikt zwischen Elisabeth I. und der schottischen Königin Maria Stuart formal sehr genau ausbalanciert und in weitgehend spiegelbildlicher Anordnung der Szenen- und Aktfolge zur Sprache bringt. Die strenge Architektonik bildet den Rahmen für den explosiven Gehalt des Stoffes und unterstreicht die Zwänge, die mit der Regentschaft einhergehen. Gleichzeitig trägt sie dazu bei, dass die Handlung hinter die Figuren zurücktritt. Sie sind vor allem Sprachträger, ihre wenigen Handlungen, vor allem Marias würdevolles Sterben am Schluss, sind kaum psychologisch begründet oder Ergebnis einer Entwicklung. Auch in der Konzeption von Ulrike Maria Stuart fällt ein vergleichsweise strenger Auf bau auf, die Autorin hat das Manuskript in ›Teilstücke‹ gegliedert. Ulrike Maria Stuart ist ein Stück dominanter Figuren, deren Rede als Figurenrede erscheint. Dies ist verglichen mit Jelineks vorigen Stücken wie Das Werk, den Prinzessinnendramen, Babel oder Bambiland keineswegs selbstverständlich. Das sprachliche Material dieser Texte organisiert sich in großen Blöcken, die nur selten einer Figur oder Stimme

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zugeordnet werden können. Dagegen sind die weiblichen Figuren in Ulrike Maria Stuart sogar namentlich gekennzeichnet, nämlich als Ulrike und Gudrun. Durch ihre Namen werden sie historisch verortet und von den Männerfiguren unterschieden. Zugleich erscheinen sie im doppelten Sinne als beschriebene und stellen damit Jelineks Verfahren der Überschreibung aus. Das Zentrum beider Stücke bildet der Konflikt seiner Protagonistinnen. Bei Schiller läuft das Stück von Anfang an auf den Tod Marias zu: Er wird einkalkuliert und ist schließlich unausweichlich. Auch in den Auseinandersetzungen von Ulrike und Gudrun, die als Lebende und Tote sprechen, ist der Tod anwesend: als Fluchtpunkt der Alternativ- und Ausweglosigkeit im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. In Analogie zu Maria Stuarts Tod legt Ulrike Maria Stuart besonderes Gewicht auf die Deutung und Darstellung des Selbstmords von Ulrike Meinhof und ihren Streit mit Gudrun Ensslin. Als Lebende und Tote sind Ulrike und Gudrun keine psychologisch plausiblen Charaktere. Sie bestehen, wie Jelinek in ihrem Essay Sprech-Wut geschrieben hat, aus Sprechen (Jelinek 2005: 12). Diesen nicht-psychologischen Zug unterstreicht die Autorin gerade dadurch, dass sie von Schiller die gebundene Rede übernimmt. Beide Stücke führen die Gewalt der Worte mit den Waffen der Rhetorik ins Feld.7 Darüber hinaus hat Jelinek reichlich Schiller-Verse und -Versatzstücke in Ulrike Maria Stuart einmontiert, die im Fall von Szene III, 4, deren Zitation auch in der Hamburger Inszenierung den Auftakt zum großen Streit bildet, von Stemann sogar auf Leinwände projiziert werden. Während das Gespräch zwischen Elisabeth und Maria im Park von Marias Gefängnis stattfindet, das sie dafür zum ersten Mal verlassen darf, wird die Grenze zwischen Haft und Freiheitsgewinn in Jelinek/Stemanns Ulrike Maria Stuart durch den Blick durch das Fenster thematisch, an dessen Gitterkreuz sich Ulrike schließlich erhängt. Selbst der Engel, der kurz vor Schluss der Aufführung die Hamburger Bühne betritt, lässt sich – neben weiteren Verweisen u.a. auf Walter Benjamin und Tony Kushner – als letzte Reminiszenz an Schiller deuten. Denn Maria sieht sich nach dem Abendmahl schließlich vom Engel des Todes begleitet. Dieser Trost bleibt dem Publikum von Ulrike Maria Stuart freilich versagt. Dort ist es ein »Engel aus Amerika«, der 7 | Zur Intellektualität und Rhetorik der Verse Schillers vgl. Sautermeister (1992: 327); zur Sprache von Schiller und Jelinek vgl. die sehr genaue Analyse von Annuß (2008).

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Ulrikes Wunsch nach »schlafen, schlafen« – also auch den Wunsch nach Verstummen – quittiert, und ein Gewissen sprechen lässt, das sich aber im nächsten Moment schon wieder selbst negiert: »Und wer es glaubt, wird selig.« Neben diesen konzeptionellen Korrespondenzen zwischen den beiden Stücken ist es die Frage nach Recht und Gewalt, die die Texte verbindet. Darüber hinaus ist es nach Jelineks eigener Aussage vor allem der Anspruch weiblicher Herrschaft, der sie an Maria Stuart interessiert – ein Stoff, mit dem sie sich schon lange beschäftigt hat. Ihr Interesse gilt Frauen, die sich als Subjekte von Geschichte verstehen. Die historischen Herrscherinnen haben diesen Status qua Geburt, die Frauen in der RAF durch ihre Selbstanmaßung. Sie sind, so Jelinek, »Königinnen des Untergrunds« (Jelinek 2006b: 13). Ulrike und Gudrun treten als Königinnen auf, insofern sie selbst diejenigen sein wollen, die das Gesetz geben. Zum einen geht es ihnen um die Definition der richtigen Strategie im politischen Kampf, zum anderen um die persönliche Vorherrschaft innerhalb der Gruppe. Dabei nimmt der Konflikt zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin breiten Raum ein, der, so die Deutung des Stücks im Anschluss an Stefan Aust, ein wesentlicher Grund für Meinhofs Selbstmord gewesen ist. Auch hier zeigt sich, dass politische und persönliche Ebene unmittelbar ineinander verwoben sind. Jelinek greift dafür neben Schiller auf Publikationen der RAF und auf Briefe aus dem Info-System der Häftlinge zurück. Darüber hinaus gestaltet sie in den Protagonistinnen das Ringen moderner Frauen um Anerkennung.8 Ulrike erscheint als Intellektuelle und Autorin, die »schrieb und schrieb und schrieb«. Von Gudrun wird sie abfällig auch als »Denkerin« bezeichnet. Ulrike versucht, sich Rechenschaft über ihr Tun und das der Gruppe abzulegen, kreist aber um sich selbst und die bürgerliche Existenz, die sie aufgegeben hat. »Sagst Du Heim zu ihr, meint sie Erziehungsheim. […] Völlig Unbekannten bietet sie die Hände, eure Mutter, sie mit starkem Arm vor Armut ab sofort zu retten, rasch, nur raus, woraus auch immer, denn sie muß befreien, wen auch immer.« (Jelinek 2006a: 10) Ulrikes Reden und Erklärungen werden lächerlich gemacht, sie ziehen immer wieder Aggression und Spott auf sich: »Wer hundert Meter Anlauf nimmt, um zwei Meter weit zu springen, braucht gar nicht erst anzutreten.« 8 | Vgl. dazu ausführlicher Colin 2008: 76f.

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Demgegenüber verkörpert Gudrun das Prinzip weiblicher Attraktivität, sie erscheint als modebewusste Queen of Pop und coole Macherin, die die Parole der Tat auf der Bühne als Politsong zum Besten gibt: »Der revolutionären Gruppe, jeder Gruppe, konnte ich, wenn ich sie sah, noch niemals widerstehen. Und der Gewalt im allgemeinen wie auch im besonderen, der konnte ich schon gar nicht widerstehen.« (Jelinek 2006a: 37) Ulrikes Vorstellungen vom revolutionären Kampf für das Volk hat sie schon längst ad acta gelegt. Sie ist – im Verbund mit dem Kinder-König, ihrem »Baby« Andreas – die eigentliche Königin. Die Eskalation der Rede und die Eskalation der Gewalt gehen in diesem Szenario Hand in Hand. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben Sprachfetzen als Schaum vor dem Mund, der ihren vermeintlichen Humanismus als hässliche Fratze entlarvt. Zugleich macht sich die Freund-Feind-Logik auch innerhalb der Gruppe bemerkbar. Ulrike: »Ich bin die Schwache, sie die Mächtgen, wer auch immer, Hans und Grete […] Sie brauchen die Gewalt, sie töten mich. Der Staat muß gar nichts tun. Sie töten mich schon selber, die Genossen, debattieren klassisch, und dann töten sie.« (Jelinek 2006a: 23) In diesen Auseinandersetzungen fungiert der historische Andreas Baader als Verstärker der Königin; er ist im Text präsent, bleibt aber als Gudruns »Baby« sprachlos. Das einzige, was er zu sagen hat, ist: »Fotze, Fotze, Fotze […] wie ein Automat, wenn man den Knopf drückt, […] das kann ich bezeugen, ihr Fotzen, ihr seid doch nur stark, wenn ihr eure Männer anschrein könnt« (Jelinek 2006a: 20) – ein Statement, das die Machtverhältnisse in der Gruppe auf ganz eigene Art zurecht rückt und den politisch-persönlichen Konflikt auf jenen einfachen Nenner bringt, der auch den Königinnen-Streit bei Schiller grundiert. Einen weiteren Streitpunkt bilden die Kinder der beiden Frauen. Ulrike trauert um sie, was Gudrun nicht zulässt. Für sie ist der Kinderwagen nur noch ein Vehikel im politischen Kampf – »ja, auch mit dem Kinderwagen, der kommt in den Kastenwagen, weil wir ihn ganz dringend noch benötigen dann werden, denn der Kinderwagen ist der Angelpunkt für jeden Kinderlieben, dem jedes kleine Kind viel lieber ist als wir, für den bremst der Berufskraftfahrer automatisch, und das bereute er inzwischen sehr, wenn ers noch könnte, denn jetzt weiß er nämlich, auch wenn er es keinem sagen kann: nicht nur die Kinder, auch Erwachsene sind nicht viel wert unter gewissen Umständen.« (Jelinek 2006a: 46)

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Diese mörderische Hybris – hier in Anspielung auf das Attentat auf Hanns Martin Schleyer – durchbricht der Text immer wieder; die rauschhafte Selbstbezüglichkeit kommt ebenso zur Sprache wie die lächerliche Phrasenhaftigkeit dieser sich als Avantgarde verstehenden Gruppe. Ihre Verlautbarungen zur Revolution und zum Metropolenkampf werden seziert und als Sprachblasen vorgeführt, deren Radikalität vor allem in ihrer scharfen Entweder-Oder-Diktion liegt. Die Stadtguerilla erscheint so immer auch als grauenvolle Spaßguerilla. Gleichzeitig führt das Stück in den verschiedenen Zuschreibungen an die Figuren eine Auseinandersetzung um den Sinn politischen Engagements: »ihr weint […] um Hamburgs Italiener Cuneo, wo wir einst saßen und diktierten, bis man uns gelesen oder nicht, das blieb sich gleich, obwohl ich sagen muß, dass damals echte Menschen uns gelesen haben, Information war damals Diskussion.« (Jelinek 2006a: 13) Und weiter: »wir haben uns bloß eingebildet, etwas hätte einen Sinn, doch wußten wir schon lang nicht, was das sein wohl könnte: Menschen glücklich machen. Einkaufen, Essen, dann zum Italiener, nochmal essen […]. Essen gehen. Essen gehen.« (Ebd.) Im Versuch einer gemeinsamen Analyse kommen der »Chor der Greise« und ein Engel zu dem Schluss, dass der Terrorismus nicht als radikale Spielart linker Politik verstanden werden könne, da er nur der Reaktion in die Hände arbeite, und dass der Sozialismus, auf den er sich bezieht, nicht existiere. Stemann inszeniert die verschiedenen Aspekte des Stückes auf seiner doppelten Bühne als Nummernrevue, die zwar einer eigenen Dramaturgie folgt, als Ganzes aber keine sinnstiftende Einheit mehr bildet. Die Politik der RAF erscheint als große Bühnenshow, die endgültig Teil der Gesellschaft des Spektakels geworden ist. Stemanns Terroristen haben viel Spaß, wenn sie wie Gangsterkönige in Trenchcoat, Lederjacke und Sonnenbrille agieren. Dass die Grenzen zwischen Happening und Gewaltausübung zu verschwimmen beginnen und die Akteure allmählich Teil der brutalen Alternativlosigkeit werden, vor die sie andere stellen, wird in einer starken Szene deutlich, die die berühmte Parole ›Schwein oder Mensch‹ beim Wort nimmt: Nach zunächst fröhlichem Farb- und Wasserbombenwerfen sind die Akteure irgendwann nackt, sprachlos und mit Exkrementen beschmiert: der Mensch in seiner Kreatürlichkeit, der selber Schwein geworden ist. Vor diesem Hintergrund fragt Stemanns Inszenierung danach, worin der Reiz der Gewalt liegt und ob es einen Widerspruch zwischen linkem Protest und teuren, coolen Klamotten oder

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schnellen Wagen gibt. Bedeutet die Revolution als Spektakel das Ende der Kritik oder ist sie als Popkultur doch Avantgarde? Das sind anregende Fragen. Die politisch brisantere Frage nach dem Verhältnis von Staat, Recht und Gewalt stellt Stemann nicht. Im funkelnden Licht seiner bunten RAF-Show gerät dem Regisseur auch der Streit der Königinnen aus dem Blick. Wie bereits bei Schiller deutlich wird, ist der Anspruch politischer Macht und Herrschaft von Frauen immer schon mit einer Überschreitung weiblicher Geschlechternormen verbunden. Während die Ausübung politischer Macht für Männer selbstverständlich ist, muss sie bei Frauen thematisiert werden. Politikerinnen müssen nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch ihre Persönlichkeit angemessen darstellen. Dies hat etwa die ausgiebige Diskussion über Angelas Merkels Erscheinungsbild gezeigt. Oder um es mit einem Bonmot aus einem ›Macht und Mode‹-Special der Zeit zu sagen: »Acht Politiker, die gleich aussehen, sind ein Gipfeltreffen. Acht Politikerinnen, die gleich aussehen, ein Witz.« (Hillenkamp 2006) In Ulrike Maria Stuart ist es Gudruns Vorliebe für Designer-Mode, die zur Chiffre dieses Widerspruchs wird – ein Widerspruch, der nicht nur in vielen Texten Jelineks, sondern auch in der Selbstinszenierung der Autorin eine wichtige Rolle spielt (vgl. Löffler 2009). Dass die historische Gudrun Ensslin in einer noblen Hamburger Boutique, unweit vom Thalia Theater, verhaftet wurde, bildet in diesem Kontext eine besondere Pointe. Das Thema Mode kann Stemann leicht in die popkulturelle PradaMeinhof-Rezeption der RAF integrieren. Dem Problem der »Fotze« im Designer-Pullover, die eine Gesellschaft in Angst und Schrecken zu setzen vermag, geht er aus dem Weg. Es ist auffällig, dass die Figuren Ulrike und Gudrun gemessen am »Chor der Greise« und den »Prinzen im Tower« – eine Anspielung auf Shakespeares Richard III. – relativ wenig Raum erhalten. Im Mittelpunkt der Inszenierung stehen dagegen drei männliche Schauspieler, die einmal aus der Perspektive der alt gewordenen 68er, der »Väter«, zum anderen aus der Perspektive ihrer Kinder, eben der Prinzen im Tower, das Geschehene nicht nur kommentieren – »das Umbringen ist für vieles eine Lösung, eure Mutter samt Genossen haben das sehr wohl gewußt« (Jelinek 2006a: 9) –, sondern es als Bühnengeschehen, wie in der geschilderten ›Schweine‹-Szene, auch voranbringen. Zu Beginn der Vorstellung sehen wir diese drei Schauspieler einigermaßen lustlos den Text des Stückes proben, in mal Bedeutung heischen-

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der, mal karikierender Ton- und Stillage, die nicht nur für die besondere Sprache dieses Stückes sensibilisiert, sondern auch den Abstand zwischen Text und Schauspieler reflektiert. Als sie sehr bald an einen Satz zur besonderen Situation der Frau geraten, kommt der Textfluss ins Stocken: »für die Frau stellt sich das Sinnproblem viel unausweichlicher und auch massiver als für Männer, ja, die Fraun haben ein Emanzipationsproblem« (Jelinek 2006a: 4). Bei »Emanzipationsproblem« bricht die Rede ab, klingelt ein Telefon, brechen die Männer in Lachen aus, setzen sie wieder an und nochmal und nochmal. Das ist ein Lacher, doch die Szene, die ganz am Anfang des Abends steht, ist symptomatisch: Das mehrfach zitierte »Emanzipationsproblem« wird durch Wiederholung lächerlich gemacht, eine andere theatralische Lösung oder gar ein kritischer Kommentar zum weiblichen Machtanspruch sind dem Regisseur nicht eingefallen. Freilich hatte Stemann, der sich selbst als Sohn einer feministischen Mutter versteht, schon in Interviews bei Probenbeginn eingeräumt, dass ihn das »Frauenthema« an dem Stoff gerade nicht interessiere. Wahrscheinlich halten seine Prinzen, die vor dem Vorhang in Frauenkleidern posieren, das »Emanzipationsproblem« für gelöst. Darauf deutet auch der Schluss des Abends hin, wenn sich die Schauspielerinnen der Figuren Ulrike und Gudrun in den Chor der Prinzen einreihen und Teil dieser Boygroup werden (vgl. Pewny 2008: 116). Doch spricht Jelinek mit ihrem Interesse an Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin ein Phänomen an, das tatsächlich auffällig und erklärungsbedürftig ist, nämlich die große Beteiligung von Frauen an der RAF. Im Unterschied zu anderen Aspekten des Linksterrorismus hat dieses Phänomen bisher erstaunlich wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zwar ist die Teilhabe von Frauen an politisch motivierter Gewalt keineswegs neu. Neu und auffällig aber ist ihr überdurchschnittlich hoher Anteil an der RAF und der Bewegung 2. Juni. Er betrug zwischen 1971 und 1986 durchschnittlich 50-60 %, nach 1976 lag der Frauenanteil sogar bei über 60 %. Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Beteiligung von Frauen an terroristischen Gruppen in keinem anderen Land so hoch gewesen ist wie in der Bundesrepublik (vgl. Diewald-Kerkmann 2006: 664). Der hohe Frauenanteil könnte dazu beigetragen zu haben, die RAF als besonders gefährlich einzuschätzen und ein entsprechend hartes

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staatliches Vorgehen zu legitimieren – beispielsweise in Form der Anweisung, im Falle einer Konfrontation sofort zu schießen (vgl. ebd.).9 Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Motivation dieser durchweg überdurchschnittlich gut ausgebildeten Frauen: Schließlich mündete ihre Selbstermächtigung zum revolutionären Subjekt gezwungenermaßen in eine rigide Unterordnung unter das kollektive ›Wir‹ – eine Unterordnung, die in Ulrike Maria Stuart in den Gesprächen von Ulrike und Gudrun anklingt und als Teil ihres Problems erscheint, das der Schlusschor gerade harmonisiert. In der Auseinandersetzung mit der Selbstermächtigung dieser Frauen spiegelt sich schließlich auch die Selbstreflexion der Autorin, die als erfolgreiche Schriftstellerin, aber auch als Außenseiterin par excellence die Wirkung ihrer eigenen Arbeit bilanziert. Dass Ulrike Maria Stuart Jelineks erstes Stück nach der Verleihung des Nobelpreises ist, macht die Frage nach dem fehlenden ›zweiten Körper‹ der Königin besonders vernehmlich. Schon in Rosamunde – dem dritten ihrer Prinzessinnendramen – hatte sich die Autorin mit ihrer eigenen Position als älter werdende Frau und Schriftstellerin ebenso auseinandergesetzt wie mit ihrer Wut, ihrer Überheblichkeit, ihrer Verletzlichkeit und Selbstverachtung. Auch dafür wählte sie das Bild der Königin: »Schneidende Wellen, ich schreib und schreib, die Königin der Welt bin ich, nur sieht mich wieder einmal keiner.« (Jelinek 2003: 44) In Ulrike Maria Stuart fordert die alte Ulrike wenigstens ein bisschen Achtung für ihr Schreiben ein: »etwas Achtung könnten sie schon noch für mich haben, weil ich soviel schrieb! Soviel schrieb und schrieb und schrieb und dachte und schrieb und dachte und schrieb! Und schrieb, bevor ich dachte, und dachte noch, bevor ich schrie, nein schrieb.« (Jelinek 2006a: 19) Rosamunde versagt sich das Sprechen und verstummt. Dieser Wunsch begleitet auch Ulrikes Selbstmord, die sich ratlos und verzweifelt fragt, wohin das alles führt. Der Schluss des Ulrike Maria Stuart-Auszugs auf Jelineks Homepage lautet (und zwar meines Wissens unverändert seit 2005): »und all der Geist, er führt zu nichts, der Aufwand führt zu nichts, es ist vergeblich, nur noch ein paar Jahre, sicher nicht mehr viele, keiner wird mehr denken dann, 9 | Dass gewaltbereite Frauen schnell zu ›Bestien‹ stilisiert werden, lässt sich auch anhand jüngerer Forschungen zu Frauen als NS-Täterinnen belegen; ein Problem, das Jelinek zumindest am Rande auch in Ein Sportstück thematisiert.

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wie einer, jeder Revolution zu helfen wäre, nicht einmal das Wort wird kennen man, nur Quatsch wird alles sein, Gerede, Achtlosigkeit den Sätzen gegenüber, die uns heilig waren früher, und Rechtfertigung wird ausgeschlossen sein für immer.« (Jelinek 2011)

K ÖNIGINNENDR AMA UND P OSTDR AMATISCHES THE ATER Mit der kritischen Reflexion weiblicher Macht- und Herrschaftsansprüche hinterfragt Ulrike Maria Stuart auch die ästhetischen Möglichkeiten und Grenzen des postdramatischen Theaters. Insofern ist es richtig, dass Jelinek mit diesem Stück ihr System der Textmontage fortsetzt, wie es in einer Ankündigung des Thalia Theaters hieß, doch zeigt sich darin zugleich eine Entwicklung, die mehr ist als die Variation des immergleichen Jelinek-Systems (vgl. auch Fliedl 2007). Jelineks theatralisches Werk wird in der Forschung als Produkt einer zunehmenden Überschreibung und Überschreitung von Dramenkonventionen interpretiert, in deren Zentrum die Ablösung der dramatischen Rede von den Figuren steht. Die Trennung von Dramentext und Figurenrede, die die Repräsentationsfunktion der Bühne als Welt negiert, wird gleichzeitig als eines der wesentlichen Merkmale des postdramatischen Theaters verstanden (vgl. Lehmann 1999). Die dramatische Rede erscheint hier immer schon als Geflecht verschiedener Stimmen, die sich überlagern oder auch verselbständigen. Durch chorisches Sprechen werden die Stimmen vervielfacht, die Rede ist nicht mehr an ein einzelnes Subjekt gebunden. Es obliegt vielmehr der jeweiligen Regie, den Text auf die Stimmen der Schauspielerkörper zu verteilen. Auch in Ulrike Maria Stuart dient die Figurenrede nicht der Charakterisierung von Personen, was bereits deren gleichzeitiges Lebendig- und Tot-Sein ausschließt. Sie stellt auch trotz ihrer historischen Referentialität keine konkreten Figuren dar. Im Zentrum steht nicht der Darstellungs-, sondern vielmehr der Handlungsaspekt der Sprache. Auch in diesem Sinne geht es um eine Eskalation der Rede, denn die Figuren vollziehen diese Rede anstelle von Handlungen, die Handlung ist das Sprechen selbst. Als Sprechende werden die Figuren Handlungsträger. Dass es Figuren sind, die über das Verhältnis von Wort und Tat reden, um Frauenfiguren zumal, die Geschichte schreiben wollen, macht diese Konstruktion nicht nur doppelbödig, sondern weist auch über die Selbstreflexivität der De-

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konstruktion hinaus. Denn hier setzt ihre ›Sprech-Wut‹ ein, mit der ihr Sprach-Handeln den Anspruch einer aggressiven Selbst-Setzung verfolgt, die gleichzeitig als Effekt dieser Rede entlarvt wird. Die Figuren sind nur Produkt ihrer Reden, sie sind – wie aus einer vorgelesenen Regieanweisung hervorgeht – nicht mit sich identisch, sie sind ›Produkte von Ideologie‹, einer ›erlesenen Ideologie‹, die gerade die hier angedeutete Differenz zu negieren sucht. Diese Differenz wird durch den engen Bezug auf Schillers Trauerspiel unterstrichen. Die Montage der Figurenrede entlarvt die Maske ihrer Protagonisten. In diesem Sinne verstehe ich Jelineks Stück als Fortschreibung und Überschreitung des postdramatischen Theaters: Denn in Ulrike Maria Stuart kommen ›dramatis personae‹ zur Sprache, die an das antike Theater erinnern. Der Begriff ›persona‹ bezeichnet die Maske des Schauspielers, d.h. die Rolle, die er spielt. Diese Differenz zwischen Rolle und Mensch, die für die Antike und noch für das Elisabethanische Theater und Shakespeare selbstverständlich war, wird bei Jelinek thematisch. Ihr Rückgriff auf Schillers Maria Stuart ist auch deshalb so aufschlussreich, weil Schillers Trauerspiel historisch selbst die Grenze zwischen der antik-rhetorischen Tradition und dem bürgerlichen Drama der Aufklärung mit seinen plausiblen, gemischten Charakteren markiert. Aus dieser Grenzposition resultieren auch die erheblichen Unterschiede in der Deutung des Königinnenstreits: Wer die frühneuzeitliche Tradition weiblicher Regentschaft kennt, sieht das politische Dilemma dieser Herrscherinnen. Wer aus der zeitgenössischen Perspektive argumentiert, sieht den Streit frustrierter Frauen, die die hohe Ebene des Trauerspiels zu verlassen drohen. Das postdramatische Theater ist seit Ende der achtziger Jahre angetreten, dieses auf psychologisch plausiblen Charakteren basierende bürgerliche Drama zu dekonstruieren. Jelineks ›Königinnendrama‹ setzt diese Tradition fort und dreht die Schraube noch einmal weiter: Ihre ›dramatis personae‹ stehen in ihrer mehrschichtigen historischen Referentialität für ein Theater, das nicht nur die Sprache selbst thematisch werden lässt, sondern die Differenz zwischen Sprachmaske und Mensch wieder sichtbar macht, die nicht zuletzt auch das Problem des doppelten Königskörpers reflektiert. Gleichzeitig führt Ulrike Maria Stuart damit nicht nur das Verfahren der Dekonstruktion vor, sondern setzt vielmehr das »Dilemma der Dekonstruktion« (Fliedl 2007: 60) in Szene.

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In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass Ulrike Maria Stuart Frauenfiguren konstituiert, die explizit Subjekte von Geschichte sein wollen, was ihre Namhaftigkeit unterstreicht. Das Stück gewinnt dadurch eine Perspektive historischer Differenz, zu der die gebundene Rede, d.h. der bewusste Einsatz metrischer und rhythmischer Gestaltungsmittel, entscheidend beiträgt: Die gebundene Rede erinnert nicht nur an die Historizität allen Sprechens, sondern ist an Mündlichkeit geknüpft und betont damit auch ihr leibliches Fundament. So erhält die von Schiller übernommene Metrik existentielle Bedeutung und liefert zugleich einen kritischen Kommentar zur Endlosschleife der Dekonstruktion. Gemessen an der dekonstruktiven Flächigkeit von Sprache, die jede Aussage zum selbstreferentiellen Sprachexperiment reduziert und Unterschiede im Sprechen verwischt, begründet Ulrike Maria Stuart dramenästhetisch eine neue Fallhöhe, auch wenn diese Höhe selbst schon wieder Effekt der Rede ist. Dieses Königinnendrama impliziert eine Eskalation des Sprechens, die Geschlechter- und Gattungsnormen überschreitet und damit die Ästhetik des postdramatischen Theaters hinterfragt.

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Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart Die RAF als diskursive Projektionsfläche weiblicher politischer Macht Swantje Nölke

Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart,1 uraufgeführt am 28.10.2006 am Thalia Theater Hamburg unter der Regie von Nicolas Stemann, konnte im folgenden Jahr noch an vier weiteren Bühnen, am Theater Ulm, am Staatstheater Karlsruhe, am Schauspiel Hannover und an den Kammerspielen München Premiere feiern und wurde in der Stemannschen Bearbeitung schließlich von der Jury der Zeitschrift Theater heute zur Inszenierung des Jahres 2007 gewählt. Daneben wurde Jelineks Text im gleichen Jahr von Leonhard Koppelmann als Hörspiel inszeniert und im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt. Vor allem die Hamburger Uraufführung sorgte für einiges Aufsehen und wurde noch vor der Premiere Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung. Bettina Röhl, die Tochter Ulrike Meinhofs, wertete Stemanns Regiearbeit als Angriff auf ihre Persönlichkeitsrechte: »Ich sah dort auf der Bühne anonyme Kobolde, Transvestiten, in Kinder-, Mädchenklamotten, die schrieen würdelos: ›Mami, Mami‹ […] und irgendwann merke ich, das soll ich sein, das sind meine Schwester und ich.« (Zit. nach Fliedl 2007: 57) Röhl erreichte mit ihrer Klage eine Änderung der Stückfassung, bei der einige Textstellen, die Ulrike Meinhof und ihre Kinder explizit erwähnen, gestrichen wurden.

1 | Da der vollständige Text von Ulrike Maria Stuart von der Autorin nicht publiziert wurde, dient im Folgenden die Aufzeichnung der Inszenierung, die am 05.05.2007 im Rahmen des Berliner Theatertreffens auf 3sat übertragen wurde, als Quelle. Referenzen auf die Inszenierung werden deshalb mit Zeitangaben belegt.

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Entgegen Röhls Einschätzung, es handele sich dabei um eine öffentliche Verhandlung der eigenen Familiengeschichte, weisen Text und Inszenierung jedoch ein weitaus komplexeres Arrangement auf, wie der folgende Beitrag zeigen soll. Bereits der Titel Ulrike Maria Stuart enthält einen intertextuellen Verweis auf Friedrich Schillers Maria Stuart, und auch in Jelineks Stück selbst wird das historische Drama über den Machtkonflikt zwischen Maria Stuart und Elisabeth von England zitiert. Amalgamiert werden diese Anleihen bei Schiller mit Erinnerungsmaterial zum Deutschen Herbst und mit Schriften der Rote Armee Fraktion, besonders ihrer Protagonistinnen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Diese Anleihen verbleiben jedoch nicht auf der Ebene der historischen Referenz, wie die Autorin Jelinek deutlich macht: »Diese Spielformen weiblicher Herrschaft […], die alle in den Tod führen, weil politische Herrschaft für eine Frau immer Überschreitung ist, schon indem ihre Weiblichkeit in der Herrschaft überhaupt thematisiert wird (bei Männern ist der Herrschaftsanspruch selbstverständlich), die habe ich festzuhalten versucht. In allen möglichen Kombinationen zwischen diesen historischen weiblichen Figuren. Den angemaßten, selbsternannten Königinnen des Untergrunds und den historischen Herrscherinnen.« (Jelinek 2006/2007: 12)

Schillers Drama und die RAF, Ulrike Meinhof und Maria Stuart dienen der Autorin also als intertextuelle Vehikel, um den Diskurs um Möglichkeiten weiblicher politischer Macht greif bar und auf dem Theater zeigbar zu machen. In Stemanns Inszenierung wird dazu vor allem auf die weiblichen Schlüsselfiguren der RAF verwiesen, wobei die realen Personen in den Hintergrund treten. Es geht der Inszenierung also nicht, wie vielerorts kolportiert, um eine Verhandlung der jüngeren bundesrepublikanischen Vergangenheit oder gar um die voyeuristische Zurschaustellung privater Familiengeschichte. Vielmehr dienen Versatzstücke kollektiven, medial geprägten Erinnerns an die Rote Armee Fraktion und ihre ProtagonistInnen als diskursive Projektionsfläche, durch die der Konstruktionscharakter weiblicher Rollenbilder und insbesondere Konstruktionen weiblicher politischer Macht ausgestellt werden können. Voraussetzung für dieses Verfahren der Dezentrierung ist die postdramatische Anlage der Inszenierung, die sich durch einen alternativen Zeichengebrauch zum dramatischen, mimetisch-abbildenden theatralen Darstellen auszeichnet.

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P OSTDR AMATISCHE I NSZENIERUNGSELEMENTE Dramatische Theaterformen verwenden die theatralen Zeichen auf rein inhaltlicher Ebene, wenn in erster Linie ein Text und dessen dramatischer Gehalt zur Aufführung gebracht werden soll. Das postdramatische Theater hingegen verfolgt eine andere Strategie, weil der Fokus auf die Prozesshaftigkeit der Kunst und damit auf die Signifikantenpraxis gelegt wird, statt von der Idee eines in sich geschlossenen Kunstwerks, seines Inhalts oder seiner Form auszugehen (Poschmann 1997: 51). Der Zeichengebrauch im postdramatischen Theater impliziert, dass es sich nicht in erster Linie der deckungsgleichen Abbildung von Realität verpflichtet sieht: Die mimetische Darstellung realer Zusammenhänge auf dem Theater erfordert naturgemäß einen Zeichengebrauch, der die Wahrnehmung von Realität für den Zuschauer nachvollziehbar reproduziert. Postdramatische Theaterformen aber nehmen sich die Freiheit, selbst neue Zeichen zu generieren oder gar allein auf sich selbst zu verweisen, die Realität also nicht als Referenzrahmen zu nutzen, wie Benno Wirz ausführt: »Der doppelte Zeichengebrauch wird wieder entdeckt und seine Möglichkeiten lustvoll erkundet. Man spielt sein Spiel mit ihnen. […] Die Produktion der Zeichen erschöpft sich nicht darin, Text zu reproduzieren. Vielmehr wird den Zeichen ihr Eigenwert zugestanden und ihre Produktivität gewürdigt.« (Wirz 2005: 126) Stemanns Inszenierung legt sich analog dazu nicht auf fest umrissene Figuren, einen eindeutigen historischen Kontext oder einen stringenten Handlungsentwurf fest. Vielmehr besteht sie aus einer revueähnlichen, szenenhaften Abfolge ästhetisch oft sehr unterschiedlich angelegter und voneinander unabhängiger Spielsequenzen, die verschiedene Theatergenres wie klassisches Rollenspiel, Comedy, Musical und Musiktheater zitieren. Für diese Spielsequenzen ist eine multiple Rollensegmentierung kennzeichnend: Szenenweise nehmen die Schauspieler unterschiedliche Sprecherpositionen ein, jede weibliche »Assoziationsfigur« (Gutjahr 2007a: 23) erscheint einmal in einer jungen und einer gealterten Version, männliche Schauspieler treten in Frauenkleidern auf und geben sich mit karikiert-verstellten Stimmen als weibliche Sprecher aus. Die Figuren lehnen sich über ihre jeweiligen Namen, teilweise über ihre Rede und entsprechende Kostümierung an ihre historischen Vorbilder an. Immer wieder treten die Darsteller aus ihren eingenommenen Rollen heraus und machen so den Inszenierungscharakter der Situation deutlich. Didaska-

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lien und der Titel des Stückes werden mitgesprochen, Name und immer wieder eingestreute Kommentare der Autorin werden verlesen, Textblöcke in monologischer Form oft zum Publikum hin gesprochen und meist halten die Darsteller beim Spielen das Textheft in der Hand. Umzüge und Rollenwechsel werden offen gezeigt und gehen als theatrale Elemente in die Inszenierung ein. Auch das Bühnenbild ist mit einem zweiten Vorhang und einer zweiten, kleineren Bühne auf der Bühne eindeutig als inszenierter Raum ausgewiesen. Stemanns Ulrike Maria Stuart realisiert damit wesentliche Elemente einer postdramatischen Theaterpraxis: Die sequenzielle Struktur der Inszenierung in Form einzelner, abgeschlossener Szenen, die variablen Figuren, die sich durch ihre Mehrdeutigkeit einer psychologischen Deutung sperren, der Sprechtext der Assoziationsfiguren in seiner Monologstruktur – der Einsatz all dieser Theatermittel dient nicht der Repräsentation von Realität, sondern der Schaffung einer eigenen Bühnenrealität. Die intertextuellen Verweise im Sprechtext, die visuellen Zeichen im Bühnenbild, populäre Filmzitate und Musikstücke werden verwendet, um den Bezug zu realen Bedeutungszusammenhängen herzustellen. Diese werden jedoch in der Inszenierung dekonstruiert, ästhetisiert und somit ihrer ursprünglichen Bedeutung enthoben.

D IE D EKONSTRUK TION DES TOPOS RAF: TE X T UND F IGUR ATION Das Bühnengeschehen der Stemannschen Inszenierung ruft in seiner Szenenabfolge Aspekte historischer Ereignisse und Situationen auf, die als Stationen im Leben der historischen Figur Ulrike Meinhof auszumachen sind. Angespielt wird auf das Abtauchen in die Illegalität nach der Befreiung von Andreas Baader aus dem Gefängnis (1970), die darauf folgenden terroristischen Aktionen und die Gefangennahme (1972), die Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen (1973 und 1974), die Verurteilung zu acht Jahren Haft (1974), die Gefängniszeit im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim und der Selbstmord durch Erhängen in der Gefängniszelle (1976). Gebrochen und erweitert werden diese Anleihen bei der bundesrepublikanischen Geschichte durch visuell-ästhetische und intertextuelle Verweise auf Schillers Maria Stuart, die den zentralen Machtkonflikt zwischen Maria und Elisabeth anklingen

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lassen. Es entsteht damit im Sprechtext ein Wechselspiel aus wörtlichen, sinngemäßen und stilistischen Zitaten verschiedener RAF-Dokumente, Schillers Drama, einschlägiger Sekundärliteratur und vielfältigen anderen intertextuellen Bezugnahmen und Anspielungen, wie das folgende Beispiel aus einem auf der Homepage der Autorin veröffentlichten Textausschnitt zeigt: »Der rohen Stärke blutiges Erkühnen, solch Gauklerspiel betrüge nicht die Welt, nein, doch, die Welt, sie will betrogen sein, auch von Gewalt, ja grade und besonders auch von der. Ermorden kann sie, diese Königin, der König auch, doch niemals richten! Nur keine Sorge: Richten tu ich mich schon selber, weiß nur nicht, nach wem, nach was, ich wußte sowas früher immer, jetzt weiß ich nichts mehr, auch egal, ich borge mir den Strick und richte mich schon selber, ja, ich mach das schon, das muß kein andrer übernehmen, zeitig früh wird man mich finden, leblos hängend an dem Gitter meines linken Zellenfensters, das Gesicht zur Zellentür gewandt«. (Jelinek 2005)

Das dergestalt zitierte Material verliert seine ursprüngliche thematische Relevanz und historische Rückbindung und dient im Arrangement des collagierten Textes als eine Art sekundäre, assoziative Bedeutungsquelle. Seine erste, ursprüngliche Bedeutung wird so Teil eines neuen semantischen Kontextes. Die Figuration der Inszenierung unterstützt dieses Verfahren der Neukontextualisierung: Indem die Schauspieler als Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und andere Akteure aus dem Zusammenhang der RAF auftreten, wird ein historischer Kontext eingeführt. Das geschieht vor allem durch Kostüm und Maske. Trenchcoat, Sonnenbrille, die stilisierte Frisur Meinhofs sowie elisabethanische Roben mit Stuartkragen und passende Lockenperücken dienen als optische Figurenzeichen. Diese Zeichen werden zunächst strikt getrennt, im Verlauf des Theaterabends aber zunehmend vermengt, bis die Figuren nicht mehr klar identifiziert werden können. Dieses Morphing zu Mischfiguren betont den artifiziellen Charakter der Figuration und entzieht diese so jeder vermeintlich eindeutigen historische Referenz.

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Die Dekonstruktion des Topos2 RAF in Ulrike Maria Stuart meint also in erster Linie dessen historische und diskursive Entkontextualisierung, die einer weitgehenden Enthistorisierung gleichkommt. Auf seine geschichtliche Bedeutung kann so zwar assoziativ hingewiesen werden, sie ist aber für die Inhaltsebene der Inszenierung nicht relevant: Es entsteht ein binneninszenatorischer Assoziationspool RAF. Der Vorgang der historischen Entkernung des Topos erinnert an Roland Barthes’ Ausführungen zu den Mythen des Alltags und deren latenter Historizität, die auch für die Verfasstheit des Assoziationspools RAF angenommen werden kann. Eine vollständige Suspendierung der historischen Ebene wird hier nicht vollzogen, denn »der entscheidende Punkt bei alledem ist, daß die Form [der Mythos] den Sinn [die Geschichte, S.N.] nicht aufhebt; sie verarmt, sie entfernt ihn nur, sie hält ihn zur Verfügung. Man glaubt, der Sinn stirbt, aber es ist ein aufgeschobener Tod.« (Barthes 1996: 97) Stemann arbeitet also mit einem Pool an Assoziationen, der aus einer umfassenden theatralen Dekonstruktion des Topos RAF entsteht. Elemente aus diesem Pool dienen der Inszenierung als Mittel der ästhetischen Gestaltung. Daneben führen sie eine diskursive Dimension ein, die den Bedeutungsrahmen der Inszenierung im Hinblick auf gesellschaftliche Strukturen und Verfasstheiten erweitert. Indem die RAF ihrer historischen und politischen Bezüge weitgehend entledigt wird, kann sie also mit Bestimmungen, die ihrer ursprünglichen Bedeutung fremd sind, angereichert werden: Das geschichtliche Ereignis RAF wird zur theatralen Projektionsfläche. Eine Ebene davon ist die ikonografische Verwendung visueller Zeichen: So prangt der rote Stern als »designerisches Merkmal der RAF« (Sachsse 2006: 1263) in immenser Größe über dem Geschehen im Bühnenraum. Auch ein projiziertes Fahndungsfoto der Meinhof ist Beispiel für die ästhetisierende Nutzung des Assoziationspools RAF. Kostüm und Frisuren sind modische Zitate der 1970er Jahre und erinnern an das Aus2 | ›Topos‹ meint hier die Ebene der konkret benenn- und belegbaren historischen Fakten zur Gruppe und deren Verfasstheit; es müssen hier aber auch jene Aspekte berücksichtigt werden, die über rein historische, an konkrete Ereignisse gebundene Befunde hinaus im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Der Begriff des Topos RAF umfasst das, was im kollektiven Gedächtnis an die Gruppe erinnert wird und sich aus offiziellem, also wissenschaftlich fundiertem, und populärem Wissen, das vornehmlich massenmediale Verbreitung erfährt, zusammensetzt.

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sehen der TerroristInnen, wie es Fotografien und Filmdokumente haben. Des Weiteren werden vermeintliche Originaldokumente der Ermittlungsbehörden und ein fingierter Kinofilm zur Geschichte der RAF in das Bühnengeschehen integriert, wodurch die popkulturelle Praxis der radikalen Entkontextualisierung deutlich wird (vgl. Kraushaar 2006a: 1209).

D IE RAF ALS D ISKURSMEDIUM WEIBLICHER H ERRSCHAF T Über die Darstellung der um Machtansprüche und Einfluss konkurrierenden, enthistorisierten Assoziationsfiguren Meinhof und Ensslin und deren Parallelisierung mit Elisabeth I. und Maria Stuart wird die Frage nach weiblicher politischer Macht ins Zentrum gerückt. Der Topos RAF wird so zum »Vehikel, um ein übergeordnetes Thema, die Ideen hinter den Gegenständen zu verhandeln, [nämlich] Frauen und ihr Umgang mit Macht« (Anders/Blomberg 2007: 112). Die aus dem Morphing entstehenden Figuren fungieren hierbei als Ideenträgerinnen, als »Verlautbarungs- und Diskursinstanz« (Poschmann 1997: 307). Elisabeth I. und Maria Stuart kommen als Rivalinnen um den englischen Thron zu Wort, Ensslin und Meinhof konkurrieren um die Vorherrschaft in der RAF: Weiblicher Macht- und Konkurrenzkampf werden als historisch durchgängiges Phänomen verstanden und in den Stücken als übergeordnetes Thema inszeniert. Die Darstellung verweist damit auf einen von Michel Foucault geprägten Machtbegriff, der auf soziale Handlungen bezogen ist und lebensweltliche Machtverhältnisse abzubilden vermag, die im Kontext der Frage nach weiblicher gesellschaftlicher Macht relevant werden (vgl. Foucault 1978). Der Machtkampf der Frauen wird bei Stemann zum Kampf um Emanzipation und Selbstbestimmung und thematisiert die Zuschreibung sozialer Rollenbilder: Der Figur Ensslin kommt über die Anlehnung an die historische Elisabeth die Rolle der Königin zu, die die ihr in Gewaltbereitschaft und Kompromisslosigkeit scheinbar unterlegene Meinhof unausgesetzt demütigt und bloßstellt: »Du klebst ja so an uns. […] Ich will dich nicht. […] Andreas will dich auch nicht. Niemand will dich. […] Warum sollen wir ausgerechnet jetzt die blöde Schreibe brauchen, die du absonderst, wie Hunde den Urin an jeder Ecke.« (Ulrike Maria Stuart: 0:39h) Die Machtfrage innerhalb der Gruppe wird hier mithin zur Frage der Mutterschaft, wenn die Figur Meinhof immer wieder zwischen den Ste-

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reotypen der kaltblütigen Terroristin und der sorgenden Mutter schwankt – die Figur Ensslin hingegen sich ganz als abgeklärte Terrorkönigin gibt. So wird Meinhof in der Inszenierung ironisch als weiche »Vorstandsvorsitzende der Ausgebeuteten« (Ulrike Maria Stuart: 0:55h) bezeichnet, während Ensslin ihr als »brutale Kontrastfigur« (Berendse 2005: 197) entgegengestellt wird, die ihren Machtanspruch durch unberechenbare Gewalt zu sichern versucht. Zum Verhältnis der realen Terroristinnen konstatiert Dorothea Hauser analog dazu, dass sich »[n]irgends […] das beziehungsmäßige Machtgefälle zwischen ihnen auf Dauer stärker als in dieser Kinderfrage« (Hauser 2007: 44) gezeigt habe, die für Meinhof zur Frage der Zugehörigkeit zur Gruppe wird. Sie wird so in der Inszenierung mit Mutterschaft und Weiblichkeit, Ensslin hingegen mit der Verneinung der Mutterschaft und der Hinwendung zum Terror verbunden. Die als unvereinbar dargestellte Differenz beider Konzepte macht den zentralen Konflikt der Figuren aus. Hier kommen ergänzend die Schillerschen Figuren ins Spiel: Kontrastiert werden Maria Stuart, die angesichts ihrer drohenden Hinrichtung ihr eigenes Handeln relativiert, wodurch »das Erhabene in ihr zum Durchbruch gelangt« (Gutjahr 2007a: 31), und Elisabeth als machtversessene Politikerin. Die aus dem Konflikt um die Herrschaft siegreich hervorgehende Elisabeth wird als »jungfräuliche Königin« (Jelinek 2006: 11) verunglimpft, die ihre Weiblichkeit zugunsten der Aussicht auf politische Macht aufgegeben hat. Maria Stuart hingegen, von Schiller zur schönen und sexuell begehrenswerten Frau stilisiert, scheitert auf ihrem Weg an die Macht. Jelinek formuliert dazu: »Maria wirkt bis heute viel stärker nach als tragische Figur, die Größe gezeigt hat […], aber vielleicht auch deshalb, weil sie ihre Weiblichkeit immer voll eingesetzt hat […], als erotische Frau ist sie uns bis heute bewusst […]. Dafür wird ihre hohe Bildung und Intellektualität heute kaum noch gesehen […], während Elisabeth die größte Herrscherin war, die England je hatte, aber als hässlich galt […], als eine, die ihr eigenes Geschlecht verleugnet«. (Jelinek 2006/2007: 17)

Das Rollenklischee der Weiblichkeit in Form von Mutterschaft wird in Ulrike Maria Stuart plakativ in Opposition zu den männlich konnotierten Attributen der Intellektualität und des politischen und gesellschaftlichen Einflusses in Szene gesetzt. Doch dabei bleibt es nicht: Nach ihrer ironischen und überspitzten theatralen Darstellung werden diese klischierten

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Zuschreibungen zum Ende der jeweiligen Szene in ihrer Konstruiertheit ausgestellt und immer wieder in absurden Wiederholungen, ausufernden Monologen oder plötzlichen Brüchen im Bühnengeschehen aufgelöst.

F OLGERUNGEN Ihre spezifisch postdramatische Anlage ermöglicht es der Inszenierung, Aspekte weiblicher Macht diskursiv abzubilden: Mit der Verabschiedung einer genuin dramatischen Repräsentation von Wirklichkeit kann sie auf der Metaebene von kollektivem Zitat- und Erinnerungsmaterial den Diskurs weiblicher Herrschaft nachvollziehen und in Form einer popästhetischen Be- und Verarbeitung aufnehmen. Die ästhetische und inhaltliche Gestaltung der Inszenierung bringt so Normierungen, Zuschreibungen und Rollenbilder insbesondere zum weiblichen Herrschaftsdiskurs ironisch zum Tanzen und birgt mit Judith Butler dort ein kritisches Potential, wo sie in der Dekonstruktion von Sinnzusammenhängen spielerisch den gesellschaftlichen Konstruktionscharakter dieser Normierungen aufdeckt (vgl. Butler 2001). Damit entsteht im Zeichenspiel der Inszenierung eine Dynamik der Derridaschen »différance« (vgl. Tabah 2006), bei der jedes Zentrum, jede scheinbar gesicherte Bedeutung ihren Anspruch auf Wahrheit verliert und damit zur Disposition gestellt wird. Dies kann nicht als subversiver Akt im Sinne einer umfangreichen ideologiekritischen Entlarvung gewertet werden. So weist denn auch Stemann einen konkret politischen Anspruch seiner Arbeit strikt zurück: »Inszenierungen, die sich explizit politisch äußern, kommen mir immer unglaublich vereinfachend vor. […] Solches Theater funktioniert dann wie die Politik selbst, denn Politik ist dauernde Komplexitätsreduzierung auf die einfache Aussage, den einfachen Slogan. Ich will die Komplexität dagegen aushalten.« (Thalia Theater Hamburg 2006/2007: 8)

Diese »Sinnverweigerung« (Zima 1997: 262), die Ablehnung eindeutig kommunizierter politischer Haltungen als Merkmal des postmodernen Kunstwerks, realisiert sich in Ulrike Maria Stuart in vielerlei Hinsicht. Damit kann die Inszenierung als Beispiel eines Theaters gelten, das in seiner spezifisch postdramatischen Anlage gesellschaftliche Verfasstheiten und Tendenzen sensibel aufzunehmen und intelligent gespiegelt zu-

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rückzuwerfen in der Lage ist, sich in letzter Konsequenz aber einer expliziten, sich politisch positionierenden und wertenden Darstellung enthält.

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Der ›Einbruch von Realität‹ Behinderung im postdramatischen Theater Jelineks und Marthalers Urte Helduser

In seiner Studie über das postdramatische Theater nennt Hans-Thies Lehmann das Auftreten des »devianten Körpers« (Lehmann 42008: 163) auf der Bühne als ein Spezifikum postdramatischer Theaterästhetik. Die forcierte Körperlichkeit des postdramatischen Theaters kulminiere gewissermaßen in der physischen Bühnenpräsenz eines Körpers, der »durch Krankheit, Behinderung, Entstellung von der Norm abweicht und ›unmoralische‹ Faszination, Unbehagen oder Angst auslöst« (ebd.). Für Lehmanns bereits 1999 getroffenen Befund lassen sich gerade in den letzten Jahren vielfältige, sehr unterschiedliche Beispiele anführen. Kontrovers von sich reden machte vor allem Christoph Schlingensief wegen seiner Zusammenarbeit mit körperlich und geistig behinderten Schauspielern.1 Daneben waren jüngst auf verschiedenen internationalen Festivals Stücke vertreten, die Behinderung selbst zum Thema machen.2 In einer Inszenierung der Wiener Festwochen 2012 führte das Melbourner Back to Back Theatre, ein Theater von Menschen mit verschiedenen Behinderungen, das Stück Ganesh versus the Third Reich auf. In diesem 1 | Vgl. z.B. die Debatte um Schlingensiefs (geplatzte) Inszenierung von Moritz Eggerts Oper Freax (Marcus 2007). 2 | Vgl. für vielfältige Beispiele und die theaterästhetische Diskussion unter dem Aspekt von ›Ästhetik versus Authentizität‹ den von Imanuel Schipper herausgegebenen Sammelband (Schipper 2012). Speziell zu Behinderung und Tanztheater bzw. Performancekunst: Küppers (2003) sowie den Sammelband von Sandahl und Auslander (2005).

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Stück wird Behinderung sowohl auf der Ebene der Fabel, in der es um die NS-Medizin geht, als auch auf einer metatheatralischen Ebene, in der als Probe des Stücks gestalteten Rahmenhandlung, zum Thema (vgl. Gampert 2012; Wihstutz 2012). Disabled Theater nennt sich eine 2012 auf dem Festival d’Avignon uraufgeführte und zum Berliner Theatertreffen 2013 eingeladene Produktion des Choreographen Jérôme Bel mit dem Zürcher Theater Hora, einer professionellen Theatergruppe von Behinderten (vgl. dazu Bugiel/Horta 2012). Die Doppeldeutigkeit des Titels verweist hier schon auf die Metatheatralität solcher Projekte, die auch die Normalitätskonstruktionen des Theaters selbst zum Thema machen. Das aktuelle Interesse des zeitgenössischen Theaters an Behinderungen geht mit der Auseinandersetzung mit körperlicher Alterität in vielen anderen Bereichen der Gegenwartskultur einher. Dem entspricht auch ein kulturwissenschaftliches Interesse, das nicht zuletzt durch die Rezeption von Michel Foucaults Die Anormalen (2003) in Gang gesetzt wurde, und auch in der Etablierung der kulturwissenschaftlichen Disability Studies Ausdruck findet. Dass gerade postdramatische Ästhetik eine spezifische Affinität zur Auseinandersetzung mit dem ›anderen Körper‹ hat, dürfte auch einer Beobachtung Peter Radtkes entsprechen, der eine wachsende Akzeptanz von Behinderung auf der Bühne diagnostiziert (Radtke o.J. a, b). Der 1943 geborene, wegen seiner Glasknochenkrankheit im Rollstuhl sitzende Schauspieler Radtke erzielte bereits seit den 1980er Jahren insbesondere im Zuge seiner Zusammenarbeit mit George Tabori große Aufmerksamkeit, so etwa in dessen M (nach Euripides, Münchner Kammerspiele 1985), oder den beiden Kafka-Inszenierungen Unruhige Träume und Bericht für eine Akademie (Wien, Burgtheater 1992). Radtke hat sich neben seiner Tätigkeit als Schauspieler auch als Literaturwissenschaftler sowie in zahlreichen publizistischen Beiträgen mit dem Thema Behinderung und Theater auseinandergesetzt. Radtkes Rolle in Taboris M hatte noch die vehemente Kritik Gerhard Stadelmaiers hervorgerufen, der in seiner Besprechung für die Stuttgarter Zeitung festgestellt hatte, Radtkes Rolle sei »nicht rezensierbar« (Stadelmaier 1987: 155). In Stadelmaiers Verdikt, »das Theater darf viel. Das darf es nicht« (Stadelmaier 1987: 156), sieht Radtke »die Verteidigung einer Idee von Theater, in welcher der Einbruch von Realität nur störend wirken kann« (Radtke o.J.b). Mit dem »Einbruch von Realität« benennt Radtke ein spezifisches Moment des postdramatischen Theaters überhaupt, das auch die Auseinandersetzung mit dem

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›anderen Körper‹ bestimmt. Der Einsatz des behinderten Körpers ›als Realität‹ unterscheidet postdramatische Zugänge zu körperlicher Alterität von tradierten Darstellungen von Behinderung auf dem Theater,3 die mit teils prominenten Figuren der Theatergeschichte, etwa Shakespeares buckligem und hinkenden Bösewicht Richard III. oder mit Stücken wie Tennessee Williams’ Glasmenagerie verbunden sind.4 Während solche konventionellen Darstellungsweisen vor allem auf die mit Behinderung verknüpften Zuschreibungen rekurrieren und/oder diese als Charaktermerkmale fiktionaler Figuren einsetzen, rücken postdramatische Auseinandersetzungen den (behinderten) Körper selbst ins Zentrum. Rekurrieren postdramatische Strategien damit auf die spezifische Theatralität des ›anderen Körpers‹, dessen kulturelle Repräsentationen immer schon mit Formen der Ausstellung, vom anatomischen Theater bis zur Freakshow, verbunden sind,5 so geht es dabei auch um eine Unterlaufung tradierter Wahrnehmungsweisen körperlicher (A-)Normalität (vgl. Kolesch 2005). Über das subversive Moment der Verstörung zie3 | Auch die Geschichte des Elephant Man Joseph Merrick, bekannt vor allem durch David Lynchs Film, war zunächst Gegenstand eines Theaterstücks von Bernard Pomerance (1979). Zu Darstellungen von Menschen mit Behinderung in der zeitgenössischen Dramatik vgl. Müller (2011). 4 | Kritik an solchen Darstellungsformen kam im Umfeld der Behindertenbewegung und der Disability Studies vor allem von behinderten Schauspielern. So wehrt sich etwa die im Rollstuhl sitzende Performancekünstlerin Carrie Sandahl gegen metaphorische Lesarten von Behinderung in der Geschichte des Theaters: »[D]isabled artists and scholars in theatre studies must contend with a history of dramatic representation that habitually deploys disability metaphors as dramaturgical devices. From the use of blindness as barometer of truth in Oedipus, to physical deformity as sign of evil in Richard III., to disease as inherited moral sin in A Doll’s House, to muteness as the effect of unspeakable violence in Mother Courage, to mobility impairment as existential prison in Happy Days and Endgame, to a limp as emotional impediment in Glass Menagerie, the disabilities of dramatic characters always signify beyond the conditions themselves.« (Sandahl 1999: 14f.) Sandahl bezieht sich hier auf einen Aufsatz der Schauspielerin und Theaterwissenschaftlerin Victoria Ann Lewis (1998). 5 | Vgl. hierzu den von Rosemary Garland Thomson herausgegebenen Band Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body (1996) sowie für aktuelle Theater-›Freakshows‹ (Schmidt 2012).

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len solche künstlerische Praxen auf die Verschiebung normierter, feststehender Wahrnehmungsweisen und auf die Auflösung der Raster von Normalität und Abweichung. Die sinnliche Wahrnehmung des anderen Körpers auf der Bühne kann, so Doris Kolesch, »bestehende Denk- und Wahrnehmungsschemata, bestehende Kategorien und Klischees auf brechen, für einen Moment außer Kraft setzen« und auf diese Weise eine »andere Ordnung, eine andere Körperlichkeit, Räumlichkeit und Plastizität, ja auch eine andere Schönheit« (Kolesch 2005: 200) etablieren. Bereits Lehmann hat auf das mit solchen Praxen verbundene Problem der »Auratisierung des Körpers« verwiesen (Lehmann 42008: 165). Problematisch scheint in diesem Zusammenhang vor allem eine Idealisierung von ›Natürlichkeit‹ oder ›Authentizität‹. Gerade die Präsenz des behinderten Körpers auf der Bühne kann jedoch solche Vorstellungen auch dekonstruieren. Indem der andere Körper selbst, jenseits der Bühnenfiktion in seiner physischen Realität zum Gegenstand wird, wird die Grenze zwischen Realität und Bühnenfiktion selbst thematisch. Die Ausstellung des ›anderen Körpers‹ kann damit als Teil der Repräsentationskritik des postdramatischen Theaters verstanden werden. Ein metatheatralisches Moment erhält dieser Einsatz des ›anderen Körpers‹ zudem dadurch, dass es die Zurschaustellung, der dieser immer schon ausgesetzt ist, selbst reflexiv werden lässt. Eine solche ästhetische Praxis ist nicht allein auf die physische Präsenz des ›devianten Körpers‹ auf der Bühne begrenzt, wie sie Lehmanns Beobachtung zugrunde liegt, sondern findet sich, wie meine Beispiele im Folgenden noch zeigen sollen, auch bereits in postdramatischen Theatertexten; sie kann zudem auch ›gespielte‹ Behinderungen umfassen. Ich möchte im Folgenden das postdramatische Interesse am anderen Körper anhand eines historischen Zugangs, ausgehend von der Theaterreform des 18. Jahrhunderts und ihrer Auseinandersetzung mit dem Harlekin als einer historischen Repräsentation des ›anderen Körpers‹ nachgehen. Ich möchte darauf hinweisen, dass der Freak auf der Theaterbühne eine Geschichte hat, die mit der theaterästhetischen Reflexion eng verbunden ist. Aus dieser Perspektive möchte ich zwei Stücke aus dem Bereich des postdramatischen Theaters diskutieren, in denen dieser historische Diskurs wieder aufgegriffen wird. Zum einen geht es um Elfriede Jelineks 1982 erschienenes Theaterstück Burgtheater, in dem der andere Körper als Zitat der historischen Harlekinfigur und als Personenzitat präsent ist. Schließlich untersuche ich Christoph Marthalers 2005

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uraufgeführte ›musikalische Revue‹ Schutz vor der Zukunft, in der ebenfalls körperliche Alterität als Überblendung von Realität und Theaterfiktion inszeniert wird. Beide Stücke verhandeln Behinderung auch auf der diskursiven Ebene, mit Blick auf die Geschichte der NS-›Euthanasie‹ und verbinden dies mit einer theatralen bzw. künstlerischen Selbstreflexion.

A USTREIBUNG DES H ARLEKINS Ob Legende oder tatsächlich geschehen: Als eine der Geburtsstunden des modernen Illusionstheaters gilt die Austreibung des Harlekins durch die Leipziger Schauspieltruppe Friederike Caroline Neubers:6 Der symbolische Akt der Verbrennung einer als Harlekin verkleideten Puppe gilt als performative Umsetzung des Reformprogramms Johann Christoph Gottscheds. Gottscheds Verdammung der aus der Commedia dell’arte stammenden (Narren-)Figur des Possenreißers richtet sich gegen die mit der Harlekin-Figur verbundene derb-groteske Körperlichkeit und dessen karnevalistische Ästhetik. Die Stegreifkunst des Harlekins widerspricht Gottscheds Forderung nach einem mimetischen, illusionistischen Theater und der Homogenität des Werks als Umsetzung einer Autor-Intention:7 »Harlekin und Skaramuz sind die ewigen Haupt-Personen [der italienischen, U.H.] Schau-Bühne: und diese ahmen nicht die Handlungen des gemeinen Lebens nach, sondern machen Streiche, die einem nicht so arg träumen könnten.« (Gottsched 1973: 343)

Gottsched kritisiert die Institution des Harlekins, da durch diesen »das Lächerliche nicht in den Sachen, sondern in närrischen Kleidungen, Worten und Geberden« (Gottsched 1973: 357) dargestellt werde. Der Harlekin müsse »durch bunte Wämser, wunderliche Posituren und garstige Fratzen, den Pöbel zum Gelächter reizen.« (Ebd.) 6 | Die Austreibung soll 1737 bei einer öffentlichen Vorführung durch die Schauspieltruppe Friederike Caroline Neubers im Rahmen einer Farce auf dem Rossmarkt in Leipzig stattgefunden haben. Ob eine wirkliche Verbrennung stattgefunden hat ist ebenso umstritten wie Gottscheds Beteiligung daran (vgl. Promies 1966: 14ff.). 7 | Vgl. hierzu zuletzt Bartl 2009: 23, außerdem Promies 1966: bes. 27.

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Wie Karen Jürs-Munby (2007) gezeigt hat, richtet sich Gottscheds Kritik des Harlekins auf die theatrale Ausstellung von Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit, mithin auf Aspekte, die im Konstitutionsprozess bürgerlicher Subjektivität, dem die Gottschedsche Theaterreform verpflichtet ist, gerade abgespalten und zum Abjekten (im Sinne Julia Kristevas) werden. Damit steht die Verdammung des Harlekins im Zeichen der Zivilisierung und der Körperdisziplinierung des modernen Subjekts. Der Harlekin verkörpert damit genau die »[i]m allgemeinen verdrängte[n] ausgeschlossene[n] Daseinsmöglichkeiten«, die, wie Lehmann feststellt, »in hochgradig physischen Formen des postdramatischen Theaters [wieder, U.H.] zur Geltung« (Lehmann 42008: 163) kommen. Gottscheds Kampf gegen den Harlekin steht nicht zuletzt auch im Kontext einer aufklärerischen Neubewertung des Lachens über den ›anderen Körper‹.8 Zu den kulturellen Repräsentationen des Harlekins gehört der Zwerg oder der Narr; Figuren, die Michail Bachtin (1985) als zentrale Bestandteile der karnevalistischen Lachkultur begreift. Gottsched wendet sich gegen jede Verspottung »Höckerichter, Lahmer, Einäugigter […] ihrer Gebrechen halber« (Gottsched 1973: 173). Sein ethisch motiviertes Verbot geht jedoch auch mit einer (körper-)normierenden Zielrichtung einher, die in seiner Polemik gegen den Harlekin zum Ausdruck kommt. In seiner moralischen Wochenschrift Der Biedermann bezeichnet Gottsched den Harlekin als eine künstliche ›Ungestalt‹, die, wenn sie ›natürlich‹, d.h. in dieser Gestalt auf die Welt gekommen wäre, »als eine unglückliche Mißgeburt andern zum Abscheu leben würde« (Gottsched 1728: 171; vgl. zu dieser Passage auch Jürs-Munby 2007: 132). ›Harlekin‹ und ›Missgeburt‹ sind in Gottscheds theatertheoretischen und -kritischen Schriften immer wieder aufeinander bezogene Begriffe, die polemisch gegen das ›regellose‹ Theater eingesetzt werden:9 »Ich rede also hier, meine Herren, von einer regelmäßigen und wohleingerichteten Tragödie, nicht aber von denjenigen Mißgeburten der Schaubühne, die unter dem prächtigen Titel der Haupt- und Staatsaktionen mit untermischten Lustbarkeiten des Harlekins pflegen aufgeführet zu werden.« (Gottsched 1972: 5)

8 | Zur Geschichte des Lachens über Behinderte vgl. Gottwald 2009. 9 | Vgl. dazu auch Wild 2003: 222f.

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In der Verbannung des Harlekins (als ›Missgeburt‹) von der Theaterbühne verbindet sich so eine moralisch-ethische Kritik am Spott über Behinderung mit einer Geste der Exklusion; mit dem Impuls, das Theater von allem Regellosen, Grotesken, Unzivilisierten und Undisziplinierten zu reinigen (vgl. Gottwald 2009).10 Die Erzählung der symbolischen Austreibung des Harlekins von der Bühne mittels Verbrennung einer Puppe durch die Schauspieltruppe der Neuberin thematisiert auch einen gewaltvollen Akt der Ausgrenzung des Anderen mit pogromartigen Zügen. Die programmatisch-poetologische Etablierung des Repräsentationstheaters im 18. Jahrhundert basiert somit auf der Ausgrenzung des ›anderen Körpers‹,11 die zugleich auch als Hervorbringung des Anderen verstanden werden kann.

E LFRIEDE J ELINEK : B URGTHEATER Wie sehr diese Auseinandersetzung mit der Figur des Harlekins ins Zentrum der postdramatischen Kritik am Repräsentationstheater führt, mag eines der frühen Theaterstücke Elfriede Jelineks zeigen. Jelinek greift die theaterpoetische Funktion des Harlekins in ihrem 1982 erschienenen Theaterstück Burgtheater auf. Schon der Titel verweist auf die metadramatische Bedeutungsebene dieses Stücks. In dem in Österreich skandalisierten Stück entdeckt eine Burgtheaterschauspielerfamilie – die auf die berühmt-berüchtigte Wessely-Hörbiger-Dynastie verweist – am Ende des Zweiten Weltkrieges kurz vor dem Einmarsch der Sowjetarmee in Wien in dem als »Burgtheaterzwerg« (Jelinek 1992: 130) bezeichneten kleinwüchsigen Schauspielerkollegen die Möglichkeit, sich zu ›entnazifizieren‹: Der Zwerg soll angesichts der bevorstehenden deutschen Niederlage gegenüber den Alliierten aussagen, 10 | Auffällig ist, wie auch Karen Jürs-Munby (2007: 130) in ihrem Aufsatz über den ›Hanswurst‹ im Theaterdiskurs des 18. Jahrhunderts betont, der besondere »fervour«, den die aufklärerischen Theaterästheten um Gottsched in der Verdammung des Harlekins entwickeln. 11 | Die Gegentradition des grotesken Theaters steht immer schon mit der (Selbst-)Ausstellung des behinderten Körpers in Verbindung. Beispielhaft für den Schriftsteller und Kabarettisten Max Hermann-Neiße zeigt dies Jochen Strobel (2012).

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die drei für ihre propagandistische Unterstützung des NS-Regimes bekannten Schauspieler hätten ihn zum Schutz vor der Auslieferung an das ›Euthanasie‹-Programm versteckt.12 Mit diesem Verweis auf die NS-›Euthanasie‹ thematisiert Jelinek den Umschlag der mit der im Wiener Volkstheater verankerten Figur des ›Hanswursts‹ verbundenen Komik in manifeste Gewalt: Das Lachen über den ›anderen Körper‹ – der hier im Sinne des traditionellen ›Hanswursts‹ auch als Verkörperung des sexualisierten, triebhaften Rumpelstilzchens auftritt und als Gegenleistung für seine Gefälligkeit die Tochter Mizzi verlangt – wird mit der ganz direkt auf der Bühne ausgetragenen Gewalt konfrontiert und mit dem Verweis auf die NS-Biopolitik verbunden. Jelinek konfrontiert die faschistische Unterhaltungskultur mit der massenhaften Tötung von Behinderten durch die NS-Medizin. In zynischem Spott kündigen die Propagandaschauspieler Schorsch und Istvan eine »Sondervurstellung vor die zurückgebliebenen Kinder« in den Anstalten in »Glanzing« »oder am Spiegelgrund« an. »Damits a letzte Fraid haben! Bevurs abgspritzt wern.« (Jelinek 1992: 151) Jelinek zitiert die ›Hanswurst‹-Tradition des österreichischen Volkstheaters inklusive seiner auf die Ausstellung des Körpers zielenden Slapstick-Komik. Der Zwerg wird abwechselnd vergewaltigt und geprügelt, angekettet und zum Stolpern gebracht. Die groteske Körperkomik schlägt so in manifeste Gewalt gegen den ›anderen Körper‹ um. Die groteske Körperlichkeit der Hanswurstiade wird damit mit der historischen Gewalt gegen Behinderte konfrontiert. Auf diese Weise überblendet Jelinek die theaterhistorische und dramenästhetische Bedeutung der Hanswurst-Figur mit der Realgeschichte des ›anderen Körpers‹ in der NS-Biopolitik. Mit Schlagworten wie ›Natürlichkeit‹ oder ›Menschenbildner‹ reproduzieren die Nazi-Schauspieler Käthe und Istvan die Poetik des mimetischen Theaters der Repräsentation in verkitschter Form. Indem der Zwerg von seinen Kollegen als »Kretin« (Jelinek 1992: 168) und in dialektaler Verniedlichung als »Unnatürl«, das nicht in »Gottes schöne Natur« gehört (Jelinek 1992: 169), beschimpft wird, zitiert Jelinek die schon bei 12 | In Wirklichkeit hatte die Dienstbotin den Kollegen versteckt, die nun erpresst wird: »Hörst, Resi, du werdest auf Anfrage bezaigen, daß der Zwerch von uns persenlich vor der Eithanasie vasteckt wurde. Viele Jahre long, die ins Lond gegongen sind. Dieser Zwerg muß schlußendlich unseren unieberlegten Polenfüm wettmochen.« (Jelinek 1992: 172f.)

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Gottsched zu findende paradoxe Vertauschung von Künstlichkeit und Natürlichkeit in der Verurteilung des Harlekins. Auch die für ihren Natürlichkeitskult berüchtigte Burgschauspielerin Käthe »verabscheut« den Zwerg als ›künstlich‹ (Jelinek 1992: 168). Jelinek verweist damit auf die exkludierende Funktion des theaterästhetischen Natürlichkeitsdiskurses. Der von den Burgtheaterschauspielern propagierte Natürlichkeitskult erweist sich als Schrumpfform des Gottschedschen mimetischen Theaters. Alles, was nicht in den normativen Begriff der ›schönen Natur‹ passt, wird nicht nur ausgegrenzt, sondern ›ausgemerzt‹. Der Zusammenhang zwischen Repräsentationstheater und Exklusion des ›Anderen‹ beschränkt sich aber nicht nur auf die Handlungsebene des Stücks, sondern wird auch durch ein konkretes Personenzitat im Nebentext erzielt. Mit einem Besetzungsvorschlag zielt Jelinek nämlich auf die reale Präsenz eines behinderten Körpers auf der Bühne. Indem Jelinek rät, die Rolle des Burgtheaterzwergs »am besten [mit] Fritz Hac[!]kl« (Jelinek 1992: 130) zu besetzen, verweist sie auf eine realhistorische Person, die tatsächlich in den 1970er und 80er Jahren zum Ensemble des Burgtheaters gehörte. Der vor allem durch seine Rolle als Bebra in Volker Schlöndorffs Verfilmung von Günter Grass’ Blechtrommel (1979) bekannte,13 2012 verstorbene kleinwüchsige Schauspieler Hakl ist in Burgtheater die einzige namentlich benannte zeithistorische Figur. Damit bedient sich Jelinek der theaterhistorischen Figur des Harlekins inklusive des mit ihm verbundenen Bildes körperlicher Andersheit im Hinblick auf eine theaterästhetische Selbstreflexion: Mit Burgtheater wird nicht nur die Institution Burgtheater kritisch hinterfragt, sondern auch eine (mit dieser Institution verbundene) Theaterästhetik des mimetischen Theaters.14 Die ›Natürlichkeit‹, auf die sich die Burgtheaterschauspieler ganz im Sinne Gottscheds berufen, ist auch hier ein Konstrukt, das auf dem Ausschluss der ›anderen‹ bzw. ›deformierten‹ Natur beruht. Jelinek kehrt die Körperlichkeit Hakls hervor und verweist auf ihre theatrale Funktion, indem sie Hakls Rollenfach des ›Theaterzwergs‹, das dieser tatsächlich seit den 1960er Jahren mit diversen Märchen- und Diener-Rollen innehatte, ausstellt. Jelinek lässt aber nicht einfach den Harlekin wieder auf der Bühne erstehen, sondern sie zitiert in den Gewalt13 | Auch in der Blechtrommel spielt Hakl einen kleinwüchsigen Künstler auf der Flucht vor der Vernichtung durch die NS-Medizin. 14 | Vgl. hierzu ausführlich Annuß (2005) sowie Helduser (2008).

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exzessen auch den Akt seiner Vertreibung.15 In der Verbindung mit dem Verweis auf die (Theater-)Geschichte des ›anderen Körpers‹ markiert das Personenzitat somit den »Einbruch der Realität« in das Theater.

C HRISTOPH M ARTHALER S CHUTZ VOR DER Z UKUNFT In Christoph Marthalers ›musikalischer Revue‹ Schutz vor der Zukunft, einer Inszenierung für die Wiener Festwochen 2005, rückt das in Jelineks Burgtheater angedeutete Thema der NS-›Euthanasie‹ selbst ins Zentrum.16 Sein Stück spielt genau dort, wo Jelineks Schauspielerfamilie Istvan, Schorsch und Käthe eine »Sondervurstellung« (Jelinek 1992: 151) geben – in der Wiener Spiegelgrund-Klinik am Steinhof, dem heutigen Otto-Wagner-Spital. Das Stück verarbeitet Dokumente der NS-›Euthanasie‹ anhand des Falls des Arztes Heinrich Gross, der am Spiegelgrund für die Ermordung von mindestens 789 Kindern und Jugendlichen verantwortlich war, aber seine Karriere bis in die 1970er Jahre unbehelligt fortsetzen konnte (vgl. Pewny 2011: 143). Marthalers Stück steht im Kontext der öffentlichen Diskussion um den Fall Gross, der im Jahr der Uraufführung durch neue Dokumente belastet wurde, aber im gleichen Jahr starb. Marthalers Inszenierung, die auf einer Textcollage von Originaldokumenten beruht, bedient sich der Mittel des Dokumentartheaters und erweitert diese über die Ebene der Texte hinaus auch durch die Wahl des historischen Spielorts, des Jugendstiltheaters des Wiener Otto WagnerSpitals. Dieser Spielort – ein kulturhistorisches Denkmal des Wiener Fin de Siècle, steht selbst für das von Marthaler thematisierte Zusammentreffen von Kultur und Barbarei17, von ästhetischer Moderne und moderner Biopolitik. Marthaler wählt nicht einfach eine bedeutungstragende Spielstätte, sondern diese wird so genutzt, dass die Grenzen zwischen Bühnenfiktion und Realität aufgelöst werden. Die Zuschauer sitzen an gedeckten Tischen, die in Reihen angeordnet sind, sie werden als Teilnehmer eines 15 | Vgl. hierzu auch Breuer 2004: 405. 16 | Meine Ausführungen beziehen sich auf einen Mitschnitt der Wiener Aufführung, die mir dankenswerterweise von der Dramaturgin Stefanie Carp zur Verfügung gestellt wurde. 17 | Vgl. Benjamin 1991.

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Verbandstreffens vom Podium aus direkt angesprochen, im Saal befindet sich das ›Anstaltsorchester‹, dessen Mitglieder durch den Saal laufen, wobei es immer wieder zu Nebenhandlungen kommt. Mit diesem dramaturgischen Mittel der tendenziellen Auflösung der Grenzen zwischen Zuschauer und Schauspielern unterläuft Marthaler eine Reduktion des Stücks auf das historische Geschehen. Mit Stichworten wie »sozialverträgliches Frühableben«, »Idioten und Altersdemente in Anstalten« werden aktuelle Diskurse um menschliche Optimierung aufgerufen. Die Tatsache, dass man in der Mordklinik der Hochkultur frönt, wird zum Leitmotiv von Marthalers Inszenierung. So werden die Dokumente des Grauens musikalisch untermalt. Zu den Tötungsstatistiken und Fallberichten von Einzelschicksalen, wie dem des musikalisch begabten, von der NS-Psychiatrie als »bildungsunfähig« eingestuften und getöteten »Felix«, werden musikalische Einlagen vom Wunschkonzert-Schlager bis zu Gustav Mahlers Kindertotenliedern dargeboten. Marthalers Inszenierung ist insofern eine theatralische Vorführung der im Begriff ›Euthanasie‹ – wörtlich: ›schöner‹ oder ›sanfter‹ Tod – steckenden Euphemisierung des Massenmordes an Behinderten.18

18 | Ein metatheatralisches Moment liegt in einem möglichen Prätext für Marthalers Stück: Katharina Pewny verweist auf die topographische Nähe des Spielorts am Steinhof zum Wiener Wald, dem Schauplatz von Ödön von Horváths Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), in dem ebenfalls ein Kindsmord Thema ist (Pewny 2011: 147). Pewnys Beobachtung ließe sich ausbauen: In Horváths Drama geschieht der Kindsmord zwar innerhalb einer Familie, aber auf ähnliche Weise wie bei zahlreichen ›Euthanasie‹-Kindermorden durch Herbeiführen einer Lungenentzündung mittels nächtlichen Aussetzens in der Kälte (Horváth 1981: 186). Auch hier steht der Mord im Kontext von Horváths Vorausdeutung des Nationalsozialismus und in Verbindung mit Anspielungen auf die ›Euthanasie‹ (»Für manche wärs schon besser, wenns hin wären« [ebd.: 186]) und auf die Tötung alter Menschen (»Apropos ersticken: wo steckt denn die liebe Großmutter?« [ebd.: 100]). In Horváths Stück wird Behinderung mehrfach als dramatischer Effekt genutzt, so zum Beispiel wenn der »Zauberkönig […] im Rollstuhl« ›scharf bremst‹ (ebd.: 83) oder ein »Kretin« (ebd.: 38-40) in der Funktion eines Harlekins auftritt. Zudem sind die Parallelen zwischen Marthalers »Revue« und Horváths Stück im Hinblick auf den Einsatz der Musik-Zitate (bei Horváth vor allem durch die Walzer von Johann Strauß) auffällig. Ein direkter Bezug liegt schon deshalb nahe, weil

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Die (Schauspieler-)Figuren des Anstaltsorchesters inszenieren deviantes Verhalten: Während sich abwechselnde Redner am Podium über die Möglichkeiten menschlicher Optimierung auslassen, sitzen die ›Anstaltsinsassen‹ mit ihren Musikinstrumenten um einen Flügel gruppiert oder laufen durch die Zuschauerreihen, Kaffeekannen einsammelnd, Fliegenfänger an der Wand befestigend, mit ernsthaft-starrer Miene und infantilen Gesten. Die komischen, mitunter in Prügeleien mündenden Slapstick-artigen Szenen erzeugen eine clowneske, dem Harlekin-Theater nahekommende Komik, indem sie das Lachen über körperliche Alterität provozieren. Einer stülpt einer dicklich-großbusigen Frau (Bettina Stucky) mit naiv-statischer Mimik und heruntergerollten Söckchen die Tuba über den Kopf, zieht sie so einige Meter durch den Saal, begleitet von Tritten, während sie mit den Kaffeekannen, die sie in den Händen hält, schlenkert. Dass hier kein unbefangenes Lachen im Sinne der karnevalistischen Lachkultur ausgelöst wird, liegt auch am deutlichen Kunstcharakter, der choreographischen Stilisierung solcher Elemente. Mit wenigen Accessoires wie schlecht sitzender, zwischen altmodischem und Retro-Look changierender Kleidung, knalligen Hemden, dicken Brillen und einem bunten, mit einer Schleife verzierten Haarreif auf der Männer-Glatze, wird Devianz markiert. Die Schauspieler zitieren hier Freaks, ohne sie zu ›spielen‹,19 dennoch dürfte zumindest anfangs bei manchen Zuschauern Verunsicherung darüber herrschen, ob man es hier mit Schauspielern oder Freaks zu tun hat. Die Problematik eines »Lachens über das Andere« (Gottwald 2009) verdeutlicht zudem der thematische Kontext der NS-›Euthanasie‹, der durch die zeitgleich verlesenen Dokumente bewusst gemacht wird. In diesen Szenen verdichtet sich, was Katharina Pewny als Effekt von Marthalers Stück beschreibt: »sowohl das spezifische Grauen, das sich auf die ›Euthanasie‹ bezieht, als auch ein unbestimmtes Unbehagen, das sich auf die eigene potenzielle Zukunft der Zuschauerinnen und Zuschauer richtet« (Pewny 2011: 146). Die einzelnen Szenen werden immer wieder unterbrochen; Bruch und Verfremdung sind kennzeichnende Stilmittel (nicht nur dieses Mar-

Marthaler Horváths Stück ein Jahr nach Schutz vor der Zukunft an der Berliner Volksbühne inszeniert hat. 19 | Zur ›Repräsentationsfunktion‹ der Schauspieler sowie speziell zur Repräsentation von Alterität durch die Schauspieler vgl. auch Pewny (2011: 145ff.)

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thaler-Stücks).20 Dazu gehört auch der Rollenwechsel der Schauspieler – der hier auch ein Wechsel von der Opfer- in die Täterfigur ist. So tritt Bettina Stucky später mit geringfügigen Veränderungen der Accessoires – die gemusterten Strümpfe sitzen jetzt wieder richtig – in der Rolle einer an den Morden beteiligten Krankenschwester auf, die vor Gericht aussagt. Theaterfiktion und Realgeschichte werden zu Beginn des zweiten Teils nochmals miteinander konfrontiert. Der Saal, der im ersten Teil als Zuschauerraum diente, ist nun selbst zur Bühne geworden. Einer der Schauspieler tritt vor den geschlossenen Vorhang und stellt sich in seiner Rolle als Anstaltsinsasse vor (»Ich bin 12 Jahre alt…«), um im nächsten Moment aus dieser Rolle herauszutreten und in die des Arztes zu wechseln, der über die »erbbiologische Minderwertigkeit« und die »monströse Gemütsarmut« des Patienten referiert. Die darstellerischen Mittel des Bruchs und des Abdriftens in Nebenhandlung sind selbst Performances von Devianz, von ›abweichendem Verhalten‹. In einer längeren Sequenz führen die Schauspieler eine musikalisch untermalte, synchrone Choreographie auf. Ihre Bewegungen imitieren einerseits standardisierte Tanzfiguren, gehen aber immer wieder in Zuckungen und willkürliche Bewegungen der Beine und Arme über; dies gipfelt schließlich in einem vorgeführten epileptischen Anfall. Nacheinander fallen die Figuren auf den Boden, um dann von anderen in den hinteren Bühnenraum weggezogen – abtransportiert – zu werden. Die skurrilen Schauspieler der Marthaler-Familie sind groteske Figuren – egal ob sie gerade als Anstaltsinsassen oder als Ärzte, Interessenvertreter der Gentechnikindustrie und Erfüllungsgehilfen der NS-Vernichtungspolitik auftreten. Die Ausstellung des körperlich Imperfekten – man denke an den übergewichtigen Josef Ostendorf in seinen zu kleinen Anzügen –, der Normabweichung, ist hier Teil der spezifisch Marthalerschen Ästhetik des Grotesken, die alle Figuren zu Freaks werden lässt. Körperliche Devianz ist Teil einer ästhetischen Opposition gegen neoliberale Körperoptimierungs- und Nützlichkeitsdiskurse. Devianz wird selbst zum ästhetischen Paradigma. Wie schon Jelinek zielt auch Marthaler auf eine Konfrontation mit dem Realen und damit auch auf einen (partiellen) Ausbruch aus der Repräsentation. Während das bei Jelinek auf der Textebene im Wesentlichen über 20 | Zu Marthalers ›postdramatischen‹ ästhetischen Strategien vgl. Unglaub (2010).

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das Personenzitat ›Fritz Ha[c]kl‹ geschieht, funktioniert bei Marthaler der »Einbruch des Realen« über das Zitieren von Personen anhand der historischen Dokumente, der Krankenakten und der Fotos, die in der begleitenden Ausstellung zu sehen sind. Dient außerdem bei Marthaler der Spielort als ›Realzitat‹, so basiert sein Stück auf einem komplexen Spiel mit dem Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Bühnenfiktion und damit auch auf einer Reflexion der Repräsentationsfunktion des Theaters. Ein wichtiges Stilmittel ist dabei die Irritation. Diese wird schon durch das ›echte‹ Spiel der Schauspieler erreicht,21 das (durchaus auch mit harlekinartigen Effekten) die Illusion aufhebt. Darüber hinaus wird aber auch durch die Umkehrung von Bühnen- und Zuschauerraum und die zeitweise Auflösung dieser Unterscheidung Repräsentation selbst reflektiert. Körperliche Alterität wird bei Marthaler wie bei Jelinek für eine Kritik des mimetischen, illusionistischen Theaters fruchtbar gemacht. Der sich im Rahmen einer solchen Bühnenpraxis stellenden Gefahr der ästhetischen Funktionalisierung von Behinderung entgehen beide Stücke jedoch durch die Reflexion der Geschichte des ›anderen Körpers‹ inklusive der Thematisierung von Gewalt und Exklusion (auch durch die Kultur).

L ITER ATUR Annuß, Evelyn (2005): Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens, München: Fink. Bachtin, Michail (1985): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bartl, Andrea (2009): Die deutsche Komödie. Metamorphosen des Harlekin, Stuttgart: Reclam. 21 | Der paradoxe ›Realitätseffekt‹ wird auch in den Besprechungen des Stücks sichtbar. Gerhard Stadelmaier, der 20 Jahre zuvor dem behinderten Schauspieler Peter Radtke noch die künstlerische Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen hatte, kommentiert nun die gespielten Behinderungen von Marthalers Ensemble so, als handele es sich um reale: »Lauter stolze, tolle, grandiose, sture, menschgewordene Halbtöne, die sich ihr Lebensrecht erspielen, erkämpfen, ersingen und am Ende gegen alle Euthanasie, gegen allen unbegreiflichen bürokratischen Vernichtungsschrecken und alle gentechnisch begründbare kommende Selektion ihre Schönheit, ihre Würde, ihre Unzerstörbarkeit behaupten.« (Stadelmaier 2005)

Der ›Einbruch von Realität‹

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Mythen weiblicher (Ohn-)Macht und ihre Demontage im Theater Machträume bei Bobby Baker und Elfriede Jelinek Karen Jürs-Munby

Dieser Beitrag unternimmt einen ziemlich unmöglichen Spagat, nämlich einen Vergleich der englischen Performancekünstlerin Bobby Baker mit der österreichischen Sprachkünstlerin Elfriede Jelinek, die hier beide in Bezug auf ihr Verhältnis zu Mythen weiblicher Macht und Ohnmacht und deren Dekonstruktion im Theater untersucht werden sollen. Die Künstlerinnen sind von Hans-Thies Lehmann explizit mit postdramatischem Theater in Verbindung gebracht worden, wobei Bobby Baker, aus der bildenden Kunst kommend, auch oft unter dem Label ›Performance Art‹ oder ›Live Art‹ geführt wird, während Jelinek mit ihren ›nicht mehr dramatischen Theatertexten‹ (Gerda Poschmann) das Theater beliefert – was dann meist mit postdramatischen Inszenierungsmitteln umgesetzt wird.1 Dieser fundamentale Unterschied zwischen Baker und Jelinek ist deswegen interessant, weil unter dem Begriff ›postdramatisches Theater‹ heterogene Tendenzen und Stilmittel subsummiert werden und man auf diese Weise über verschiedene Inszenierungskonzepte und künstlerische Produktionsprozesse nachdenken kann. Die Fragen, die mich beschäftigen werden, sind: Welche künstlerischen Strategien verwenden Jelinek und Baker, um Mythen des Weiblichen als solche, nämlich als entpolitisierende und repressive Konstrukte 1 | Da sich Lehmanns Begriff vom postdramatischen Theater ausdrücklich auf die Aufführungspraxis bezieht, halte ich es für wichtig, zwischen ›nicht mehr dramatischen‹ Theatertexten und postdramatischen Inszenierungen/Performances zu unterscheiden.

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erkennbar zu machen, auszustellen und eventuell zu dekonstruieren? Wie verhalten sie sich selbst zur Autorschaft, eine Machtposition, die Künstlerinnen im Theater historisch meist verwehrt worden ist? Und kann das (postdramatische) Theater als ein besonderes Medium oder ein besonderer Ort und Raum gesehen werden, um Mythen und ihre Macht kritisch unter die Lupe zu nehmen? In seinem Buch Postdramatisches Theater konstatiert Lehmann, dass »die körper- und personenzentrierte Performance auffallend oft ›Frauensache‹« (Lehmann 1999: 251) sei. »Es lag nahe«, so Lehmann, »daß der weibliche Körper als sozial kodierte Projektionsfläche von Idealen, Wünschen, Begehren und Herabsetzungen in besonderem Maße zum Thema wurde, während feministische Kritik das männlich codierte Frauenbild und zunehmend auch ›Gender‹ Identität als Konstruktion erkennbar machte, die Projektionen des männlichen Blicks ins Bewußtsein hob« (ebd.). Hier klingt schon an, dass Künstlerinnen sich erstens mit idealisierten Bildern (z.B. dem Schönheitsideal oder dem Bild der Prinzessin) und mit herabsetzenden Bildern (z.B. dem Mythos von der Frau als Unheil bringender Sünderin) konfrontiert sehen und zweitens, dass das Theater als öffentlicher Ort der Begegnung mit lebendigen Körpern vielleicht als ein besonders geeignetes Medium für Künstlerinnen betrachtet werden kann, sich mit beiden Extremen dieser Frauenbilder und -mythen auseinanderzusetzen. Wie schon Marlies Janz (1995), Bärbel Lücke (2008) und andere herausgearbeitet haben, orientiert sich Jelinek in ihrem Schaffen explizit an ideologie- und mythenkritischen Theorien, besonders an den Mythen des Alltags (1964 [1957]) von Roland Barthes, mit dem sie sich bereits 1970 in dem Essay Die endlose Unschuldigkeit befasst hat. Barthes versteht Mythen im Alltag bekanntlich als entpolitisierte Aussagen, die herrschende Machtverhältnisse legitimieren und natürlich erscheinen lassen. Der Mythos ist eine Verzerrung und ein »sekundäres semiologisches System« (Barthes 1964: 92), das sich der primären Zeichen parasitär bemächtigt. Einfache Zeichen (die nicht unbedingt sprachlich sind, sondern zum Beispiel aus Fotos, Objekten oder Ritualen bestehen können) werden vom Mythos als metasprachlicher Form überlagert und so als ewig währende Wahrheit fixiert. Jelinek erweitert Barthes’ hauptsächlich klassenanalytische und postkoloniale Politisierungen in ihrem Essay u.a. um anti-patriarchale und feministische Inhalte (vgl. Janz 1995: 14). Wie Marlies Janz zusammenfasst, besteht die Mythendestruktion, die Arbeit des ›Mythologen‹,

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»nach Barthes darin, das Alternieren zwischen Sinn und Form zum Stillstand zu bringen und den objektsprachlichen ›Sinn‹ von der metasprachlichen ›Form‹ zu trennen, das heißt die Duplizität des Bedeutenden aufzulösen. Wie Barthes beschreibt auch Jelinek am Anfang ihres Essays das Verfahren der Mythendestruktion als einen Akt, in dem die zum Klischee und Stereotyp erstarrte Wirklichkeit wieder geöffnet wird für ihren gesellschaftlichen Gebrauch«. (Janz 1995: 13)

Im Folgenden möchte ich untersuchen, wie Baker und Jelinek sich auf jeweils unterschiedliche Weise als ›Mythologinnen‹ betätigen. Ich werde mich dabei auf Bakers Daily Life Series und Jelineks Prinzessinnendramen Der Tod und das Mädchen I-V konzentrieren – wobei ich nur auf einige Werke aus beiden Serien näher eingehen kann.

B OBBY B AKERS S TR ATEGIEN ALS M Y THOLOGIN Baker stellt sich in ihren Performances als Hausfrau, Mutter und Künstlerin vor und ihre Arbeiten behandeln unter anderem die Unvereinbarkeit dieser Rollen im Patriarchat. Sie arbeitet fast immer mit Nahrungsmitteln und tritt als Markenzeichen stets mit einem einfachen neutralen Arbeitskittel auf, der auf das ›Experimentelle‹ ihrer Arbeiten verweist und als neutrale Leinwand fungiert. Ihre Performances sind autobiographisch fundiert, was jedoch nicht heißt, dass sie nicht künstlerisch verfremdet werden, wie gleich deutlich werden wird. Bakers »›liebenswert exzentrische‹ Bühnenpersona« überspielt oft zunächst den Ernst ihrer Thematik und macht die Performances leicht zugänglich, indem sie ihren ZuschauerInnen »zahlreiche Identifikationspunkte anbietet« (Harris/Aston 2007: 109). Bakers’ Daily Life Series von fünf Shows zwischen 1988-2001 kann auch als eine Folge verstanden werden, in der individuelle, sich überschneidende ›Mythen des Alltags‹, z.B. der Mythos der perfekten Hausfrau bzw. der ›Domestic Goddess‹, der perfekten Konsumentin, der perfekten Patientin usw., mit realen Alltagserfahrungen konfrontiert werden. So ging es z.B. in Drawing on a Mothers Experience (1988), ihrer ersten Show nach jahrelanger Babypause, um den Mythos der perfekten Mutter. Baker ›markiert‹ jede ihrer Anekdoten übers Stillen, Füttern, den eigenen Hunger, postnatale Depression usw. mit gestisch ausgeführten Klecksen und Linien diverser zu den Anekdoten passender Lebensmittel auf einem weißen Betttuch. Die ironische Anspielung des so entstehenden Gemäldes auf

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Jackson Pollock ist dabei kein Zufall und unterstreicht den Kontrast zwischen dem als künstlerischem Subjekt anerkannten männlichen Künstler und der von der Kunstwelt marginalisierten (Haus-)Frau. Am Ende wickelt sich Baker in das derart kreierte ›Action Painting‹ ein und präsentiert sich als grotesk bekleckerte Überlebende ihrer letzten acht Jahre als Mutter mit einem kleinen Tanz. Wie Elaine Aston analysiert hat, »sprechen« die Nahrungsmittel bei Baker auf hysterische Weise Dinge aus, die sonst tabuisiert und verschwiegen werden: In dieser Performance z.B. »›spricht‹ das Gemälde aus Nahrungsmitteln die Ängste aus, die durch das Ideal der erfolgreichen Mutter hervorgerufen werden, das Frauen oft verinnerlichen« (Aston 2000: 19). In ihrer vielleicht berühmtesten Performance Kitchen Show, die in ihrer eigenen Londoner Küche stattfand und später in Gastküchen in aller Welt, demonstriert Baker zwölf ›Aktionen‹ ihrer täglichen Hausarbeit und ›markiert‹ sie anschließend jeweils mit einem Gegenstand an ihrem Körper. So erzählt sie etwa, dass sie ihren Gästen gern perfekt den Tee serviert, worauf sie sich zur Erinnerung für den Rest der Vorstellung Daumen und Zeigefinger in perfekter Teelöffel-Halte-Stellung bandagiert (was plötzlich an abgebundene Füße im alten China erinnert). Im Laufe der Performance werden die Aktionen und Gegenstände immer skurriler: Baker führt zum Beispiel vor, dass sie manchmal ihrer Wut freien Lauf lässt, indem sie eine reife Birne gegen die Küchentür schleudert; zur Vorsorge steckt sie sich eine weitere Birne als ›Munition‹ in die Brusttasche. Wie Aston erklärt (2000: 22), wird die Wut in Bakers Werk oft zugunsten der Komik und Clownerei übersehen. Hier lässt sich eine Parallele zu Jelinek ziehen, denn die Wut über bestehende Verhältnisse ist auch bei ihr, trotz aller Ironie und Komik, Motor des Schreibens.2 Zu einem späteren Zeitpunkt der Performance heftet sich Baker einen schwarzen Müllsack als Cape an und zeigt – damit durch den Garten galoppierend – ihren Neid auf die elegante Bewegungsfreiheit ihrer Katzen. Sie demonstriert sodann ihre Technik des ›roaming‹, des Umherschweifens in der Küche, um der nicht endenwollenden Hausarbeit nachzukommen. 2 | So erklärt Jelinek (2005) z.B. in ihrem Essay Sprech-Wut, warum sie für ihr St ü ck Ulrike Maria Stuart auf Friedrich Schillers Maria Stuart als Intertext rekurrierte: »An den Schiller’schen Dramen interessiert mich am meisten diese SprechWut der Personen. Ich will ihnen sofort meine eigene Wut dazulegen, es ist ja, als warteten sie nur darauf, immer noch mehr Wut aufzusaugen«.

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Als Kennzeichen dafür steckt sie sich blaue Wischtücher in die Hacken ihrer Pantoffeln. In der dreizehnten Aktion (ihr ›Baker’s dozen‹) posiert Baker mit all ihren Emblemen auf einem rotierenden Tortenhalter. Sie gleicht nun einer grotesken griechischen Statue, die an den griechischen Gott Hermes erinnert, den merkurialen Gott der Geschwindigkeit und der Reisenden mit seinen beflügelten Füßen, im Kontrast zur Hausfrau, die an ihr Heim gebunden ist. Die Szene kann aber auch als ironische Inversion des Pygmalion-Mythos gesehen werden, in welchem Pygmalion seine Statue Galatea zum Leben erweckt (vgl. Ferris 2007: 177). Hier verwandelt sich die Künstlerin selbst in ihr groteskes Kunstwerk und karikiert damit sowohl den von Naomi Wolf (1991) beschriebenen ›Mythos Schönheit‹ als auch den Mythos der im Multi-tasking geschickten ›Superwoman‹. Wie Aston erklärt, wurde in Großbritannien der Rollenkonflikt zwischen Mutterschaft und Berufstätigkeit besonders akut in den Thatcher Jahren der 1980er Jahre, weil hier »der Mythos der ›Superwoman‹ – der arbeitenden Frau, die Familienleben und Berufsleben ›erfolgreich‹ miteinander verbinden konnte« (Aston 2000: 17), stark propagiert wurde. So wie in dieser Performance verbindet Baker oft visuelle Anspielungen auf griechische Mythen mit subtilen Dekonstruktionen von zeitgenössischen Alltagsmythen. Bobby Bakers Performance Box Story (2001), die letzte in der Serie, bezieht sich implizit auf den Mythos von der Büchse der Pandora (auf Englisch Pandora’s Box), demzufolge Pandora auf Befehl von Zeus als erste Frau aus Lehm geschaffen wurde, um die Menschheit für den Diebstahl des Feuers durch Prometheus zu bestrafen; sie wurde bekanntlich von den Göttern mit vielerlei Gaben – Schönheit, musikalischem Talent, Geschicklichkeit, Neugier usw. – ausgestattet, um sie verführerisch erscheinen zu lassen, und sodann zu den Menschen gebracht, wo durch das Öffnen der Büchse alle darin enthaltenen Plagen in die Welt gelangten. Es gibt viele Parallelen zwischen dem Pandora-Mythos und dem biblischen Sündenfall, die in Bakers Performance auch mitanklingen, schon dadurch, dass die Performance zuerst im sakralen Raum einer Kirche (in Bakers eigener Gemeinde) aufgeführt wurde und dass ein Kirchenchor die Aktionen Bakers durchgehend kommentiert. Bobby Baker tritt mit einem riesigen – scheinbar sehr schweren – Pappkarton auf. Später stellt sich heraus, dass dieser nur viele kleine Lebensmittelpackungen enthält, die jeweils mit einer Geschichte aus Bakers Leben verknüpft werden. Zuerst jedoch führt die Künstlerin ihre nagelneuen göttlich-madonnenblau-glitzernden Stöckelschuhe vor – sie hätten

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sage-und-schreibe »Onehundredfourtynine Pounds and fiftynine Pee« gekostet und wären eigentlich eine eigene Performance wert. Die Schuhe drücken jedoch – es schmerzt eben, sich die Schuhe einer mythischen Figur anzuziehen – und Baker positioniert sie rechts und links der Bühne auf weißen Sockeln, womit sie die Performance der folgenden ›Schöpfungsgeschichte‹ räumlich einrahmen. Baker erzählt nun Geschichten von großen und kleinen Missgeschicken, komischen und tragischen Unfällen aus ihrem Leben, so etwa, dass sie schon als Kind im Kinderwagen die Mutter zum Lachen gebracht hat, dann aus Übermut in die Einkaufstasche gegriffen und eine ganze Packung Cornflakes ausgeschüttet hat. Die traumatischste Geschichte erzählt davon, wie Bakers Vater bei einem Badeurlaub aufs Meer hinausgetrieben wird und ertrinkt – kurz nachdem sie ihm von ihren unerwartet guten Schulzeugnissen berichtet hat. In ihrer Performance rekurriert sie auch auf ihre eigene Karriere, denn in vielen Geschichten thematisiert sie den scheinbar schicksalhaften Zusammenhang zwischen künstlerischen Erfolgen und persönlichen ›Katastrophen‹. So beschreibt sie, wie die künstlerische Arbeit mit Zucker zu horrenden Zahnschäden geführt hat. Nach jeder Geschichte schüttet Baker den Inhalt einer Lebensmittelpackung vor sich auf den Boden und lässt auf diese Weise dort eine Landkarte entstehen. Zum Schluss der ›Schöpfungsgeschichte‹ streut Baker Pralinen auf die Weltkarte als »people, lots and lots of people, lots and lots of trouble«, dann ganz zum Schluss Kekse: »and now the human artifacts. What a terrible mess«. Auf diese Weise werden globale und häusliche Katastrophen miteinander verschränkt und auf naive Weise illustriert. Der Chor als Über-Ich im sakralen Raum erteilt Baker wiederholt Schelte und intoniert: »Oh Bobby!!« Der gesungene Kommentar des Chors hat oft einen sehr komischen Effekt, zum Beispiel, wenn – als eine Art modernes Gewissen der Frau als Konsumentin – die Zutatenliste und Kalorienangaben der Cornflakes-Packung auf liturgische Weise vertont werden. Durch den Gegensatz von globalem Pandora-Mythos und alltäglichen Missgeschicken, Katastrophen oder traumatischen Ereignissen in Bakers Leben wird der antike Mythos von der vermeintlichen Macht der Frau demontiert; zugleich werden die Mechanismen enthüllt, mit denen besonders Frauen – als Töchtern, Müttern und Verbraucherinnen – im täglichen Leben oft Schuldgefühle eingeimpft werden. Bakers Vorgehen kehrt die von Barthes beschriebene Ermächtigung des Mythos auf der Basis von alltäglichen Zeichen um: Die Mythen, z.B der der ›Superwoman‹ und

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›Domestic Goddess‹ (in Kitchen Show) oder der der Pandora und Sünderin Eva (in Box Story), werden mit dem alltäglichen Leben (der Persona Bobby Baker) kontrastiert und zerfallen dadurch haltlos in ›objektsprachliche‹ Einzelteile. Sie ›zerkrümeln‹ sozusagen vor unseren Augen und lassen die scheinbare Macht der Frau als Ohnmacht hervortreten. Im Pandora-Mythos, und auch das vergisst Baker nicht, verbleibt die Hoffnung als letzte Gabe in der Büchse. In Bakers letztem Bild kriecht sie in den Karton und sägt sich von innen Löcher für Arme und Kopf heraus. Triumphierend steht Baker nun mit dem Karton vor dem Altar – ein dialektisches Bild (im Sinne von Walter Benjamin), das antithetische Elemente vereinigt: die ironisch zitierte Kreuzigung Christi und die ›Büchse‹/Box der zur Sünderin gemachten Frau. Dieses Bild ist von Michèle Barrett (2007: 228) als ein Bild der Hoffnung und Erlösung am Ende der Performance gelesen worden, aber es kann meiner Meinung nach zugleich als Anmaßung und Blasphemie der Frau gedeutet werden, denn die christliche Mythologie weist ja Frauen die binären Positionen von Sünderinnen oder jungfräulichen Heiligen zu, nicht die des (männlichen) Erlösers selbst. Wie in ihren anderen Performances macht sich Baker auch hier wieder – in Umkehrung zum Pygmalion-Mythos – zu ihrem eigenen, sich selbst kreuzigenden und erlösenden Kunstwerk.

E LFRIEDE J ELINEK ALS M Y THOLOGIN In den sogenannten ›Prinzessinnendramen‹, der Serie Der Tod und das Mädchen I-V (1999-2002), beschäftigt sich Jelinek mit der strukturellen Position der Prinzessin, d.h. einer Position in der Nähe und mit dem ständigen Versprechen der Macht, die dennoch nie eine wirkliche Machtposition ist, sondern eher die einer ewigen Ohnmacht. Wie bei Bobby Baker in der Daily Life Series kommt es auch bei Jelinek zu einer Serie – in beiden Fällen ist es interessanterweise eine über mehrere Jahre entstandene Quintologie –, in der die verschiedenen Ausprägungen des Mythos ›Prinzessin‹ und der Motivkomplex von Weiblichkeit und Tod thematisiert werden. Die Mischung aus Märchen- und Kunstmärchenfiguren (Schneewittchen, Dornröschen und Rosamunde), Schriftstellerinnen wie Sylvia Plath und Ingeborg Bachmann (in Die Wand) und prominenten Ikonen wie Jackie Kennedy führt außerdem dazu, dass komplexe Verbindungen zwischen den ewigen Märchenmythen, den literarischen und biographi-

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schen Mythen und den Trivialmythen aus der Populärkultur hergestellt werden können. In ihrem Nachwort zu den ›Prinzessinnendramen‹ zeigt Jelinek mit einer semiologischen Analyse der Mediendarstellungen von Prinzessin Dianas Tod, wie wirkungsmächtig der Mythoskomplex von Prinzessin und Tod noch heute ist. Jelinek sieht in Diana den griechischen Archetyp der Persephone (der Prinzessin in der Unterwelt), der »Licht und Dunkel zusammenführt […] auf eine Weise, daß die Riesenmenge der Trauernden, jede, jeder einzelne darin, quasi mit sich selbst, vielleicht zum ersten Mal, bekanntgemacht wird und damit gleichzeitig auch mit seiner Macht über die Mächtigen« (Jelinek 2004: 148).3 Was sind nun Jelineks Strategien der Mythendekonstruktion? Allgemein begreift Jelinek Mythen, in dem sie sie erst einmal ›bewohnt‹, d.h. in ihrem Schreiben die Position des Mythos (oder der mythischen Figur) einnimmt und von innen heraus künstlich auf die Spitze treibt. Wie Alexandra Heberger (2002: 27) konstatiert, entspricht ihr Vorgehen den Ideen von Barthes, der schreibt: »Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht ihn selbst zu mythifizieren, das heißt einen künstlichen Mythos zu schaffen […] dieser konstruierte Mythos würde eine wahre Mythologie sein […] da der Mythos die Sprache entwendet, warum nicht den Mythos entwenden? […] dazu genügt es, ihn selbst zum Ausgangspunkt einer dritten semiologischen Kette zu machen, seine Bedeutung als ersten Terminus eines zweiten Mythos zu setzen […] die Macht des zweiten Mythos besteht darin, den ersten als angeschaute Naivität zu setzen.« (Barthes 1964: 121-122, vgl. Heberger, 2002: 27)

Diese Methode, einen künstlichen Mythos zu schaffen, gleicht in gewisser Hinsicht auch der von Baker, zum Beispiel wenn sie in Kitchen Show surreale Rituale wie das Birnenwerfen oder das ›Roaming‹ erfindet oder in ihrer Performance How to Shop den wöchentlichen Einkauf im Supermarkt als Stationen einer Wallfahrt (à la John Bunyans The Pilgrim’s Progress) zelebriert. Beide, sowohl Baker als auch Jelinek, arbeiten auch oft

3 | Der Mythos ist in England mit Kate Middleton weitergesponnen worden, die sich im ›Dornröschenschlaf‹ der letzten Jahre vor ihrer Hochzeit auf ›Size Zero‹ herunterhungerte und vor der Hochzeit Dianas Verlobungsring am Finger trug (obwohl sie, laut William, nicht in die Schuhe seiner Mutter treten sollte…).

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mit einer gewissen gekünstelten Naivität, um den ersten Mythos als »angeschaute Naivität zu setzen«. Im Unterschied zu Baker arbeitet Jelinek jedoch noch wesentlich intertextueller und dialogischer, so dass die eigene auktoriale Instanz oft zu verschwinden scheint. Während bei Baker im gesprochenen Text immer eindeutig ist, wer spricht, nämlich die auf der Autobiographie beruhende Persona der ›Bobby Baker‹ (die natürlich nicht unbedingt identisch ist mit der Person Bobby Baker), ist bei Jelineks aus Zitaten gespeisten Texten fast nie eindeutig zu klären, wer eigentlich spricht. In den ›Prinzessinnendramen‹ rekurriert auch Jelinek mitunter auf die eigene Biographie, besonders in Rosamunde und in Die Wand, wo es jeweils um den Konflikt zwischen Weiblichkeit und Schriftstellerinsein geht. Jedoch trifft auf Jelineks Umgang mit der eigenen Biographie das zu, was Daniela Strigl über ihren sarkastischen Umgang mit ikonographischen Biographien anderer Frauen (wie denen von Bachmann und Plath) sagt: »Letzlich sind für Jelinek die Biographien ihrer Heldinnen auch nichts anderes als Texte – Material, das verwertet wird wie die literarischen Zitate, mythologischen Referenzen, Werbeslogans, Redewendungen und vieles mehr. Just das biographische Zitat führt zu einer De-auratisierung der lebensgeschichtlichen Authentizität: Das vermeintlich Individuelle wird so lange eingeebnet, bis es textflächentauglich und damit typisch ist.« (Strigl 2006: 88)

Indem Jelineks Figuren in den Dramoletten als überhöhte ›Mythen‹ sprechen, zeigen sie sich alle als zeitlose Untote, so zum Beispiel Dornröschen: »Mein Dasein ist Schlaf, daher ist Leben meine logische Grenze. Vielleicht ist mein Dasein aber auch nur Warten, bis ich geküßt werde. […] Dazwischen werde ich tot gewesen sein. Das heißt ich bin derzeit immer noch tot« (Jelinek 2004: 27). Dass Jelinek »den toten Frauen eine Stimme und damit eine Sprecher- und Handlungsposition zuweist« (Neuenfeldt 2005: 147), ist dabei sicher als Transgression nicht zu unterschätzen und unterläuft die zum Schweigen verdammten, männlich imaginierten Weiblichkeitsbilder der schönen Toten oder Scheintoten. In Kazuko Watanabes Inszenierung an den Hamburger Kammerspielen (2007) kam die Stimme von Dornröschen allerdings zuerst aus dem Off, aus einem kitschig rosa bemalten Leichenschauhaus. Der Bühnenraum wurde so zum Mythen-Zeitraum. Eine weitere Strategie ist in diesem Zusammenhang Jelineks hyperBrechtsche Verfremdung der Figuren, die den kritischen Kommentar zu

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sich immer schon mitsprechen. So erklärt Dornröschen weiter: »Ich tauche auf Coverphotos auf, aber auch die können mir nicht beweisen, wer ich bin. Vielleicht sind alle Menschen, die es gibt, Prinzessinnen und Prinzen. So sprechen Priester, und die Leute in ihren Überlebenskämpfen sind so blöd, ihnen zu glauben.« (Jelinek 2004: 29) Letztere Feststellung ist dabei eine Anspielung auf die Rede eines Priesters während der Hochzeit von Charles und Diana und kommentiert die ideologische Interpellation des Normalbürgers (im Sinne Louis Althussers) als ›Anrufung‹ durch den medial potenzierten Prinzessinnen-Mythos mit dem man/frau sich identifiziert.4 Obwohl die Quintessenz von Jelineks kritischer Strategie sicher in den Sprachspielen und den Verschränkungen der Diskurse liegt, ist eine wichtige Strategie bei ihr wie bei Baker die physische Komik durch die von ihr entworfenen grotesken Körperbilder. Christian Schenkermayr hat anhand einiger Stücke herausgearbeitet, wie Jelinek die Mittel burlesker Komik, des Niedrig-Komischen, einsetzt, um Mythen zu dekonstruieren. Sie knüpft darin »an die Konzepte der Hanswurstiaden des Alt-Wiener Volkstheaters und der österreichischen Nachkriegs-Avantgarden (z.B. des Wiener Aktionismus und der Wiener Gruppe)« (Schenkermayr 2009: 346) an. Hinzuzufügen ist aber in diesem Zusammenhang, dass Jelinek sich auch an zeitgenössischer grotesker Kunst und Performance-Kunst orientiert, so zum Beispiel am Werk des amerikanischen Künstlers Paul McCarthy, der wie Baker oft mit Nahrungsmitteln, aber auch z.B. mit Auf blaspuppen und Comic-artigen Kostümen arbeitet. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die Regieanweisungen in den ›Prinzessinnendramen‹ näher zu betrachten.5 In Dornröschen verlangt der 4 | Die ideologische Identifikation des Volkes mit der Prinzessin, die Jelinek an Diana beobachtet (»So werden wir Prinzessinnen, wie der hohe geistliche Würdenträger bei der Hochzeit von Charles und Di gesagt hat« (Jelinek 2004: 158)), wird neuerdings im Falle von Katherine Middleton noch dadurch verstärkt, dass sie eine Bürgerliche ›wie du und ich‹ ist. Zur Thematisierung der ideologischen Interpellation und Ideologiekritik bei Jelinek siehe auch J ü rs-Munby 2006. 5 | Obwohl Jelineks Regieanweisungen oft von Regisseuren ignoriert werden, wozu Jelinek ja inzwischen auch bewusst ohnmächtig einlädt, sollte man diese trotzdem mitlesen und ernst nehmen. In Die Wand lassen sich die szenischen Anweisungen für die Bühnenaktionen zum Beispiel auch gar nicht ignorieren, » denn diesmal sind sie Teil des Textes. Tut mir echt leid« wie Jelinek dem Regisseur/der Regisseurin zuruft (Jelinek 2004: 103).

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Nebentext zum Beispiel, dass der Prinz sich »irgendein Plüschtierkostüm mit einem sehr großen Penis« anzieht und der Prinzessin ein »weißes Hasenkostüm aus Plüsch, mit stark hervorgehobener Vulva« überreicht, worauf beide sofort anfangen, »wie wild loszurammeln« (Jelinek 2004: 35, 38), um damit das Programm der normativen Heterosexualiät zu erfüllen. McCarthys groteske visuelle Ästhetik kam zum Beispiel in Yana Ross’ amerikanischer Inszenierung von Dornröschen/Sleeping Beauty (2010) zum Einsatz, bei der die wattierten Körperkostüme der Schauspieler wie Rüstungen und Prothesen wirkten. Das Dornröschen steckte anfangs in einem überdimensionalen Kleid, unter dem sich Aufblaspuppen verbargen. In ähnlich verfremdender Absicht lautet Jelineks Regieanweisung für Schneewittchen (Dramolett I): »Zwei riesige, popanzartige Figuren, die zur Gänze aus Wolle gestrickt und dann ausgestopft sind, eins als Schneewittchen, eins als Jäger mit Flinte und Hut, sprechen ruhig miteinander, die Stimmen kommen leicht verzerrt, aus dem Off« (Jelinek 2004: 9). Derart ausgestopfte Körperhüllen sind auch Figuren in Bakers Werken durchaus verwandt: In ihrem Frühwerk An Edible Family in a Mobile Home schuf Baker eine Installation mit aus Kuchen gebackenen Familienmitgliedern. Die Besucher der Installation wurden eingeladen, diese Figuren aufzuessen, wodurch die ›perfekte‹ Familie allmählich dem Kannibalismus des Publikums zum Opfer fiel und auseinanderbrach. Während hier die Mythendestruktion der heilen Familie in der zerstörerischen Interaktion des Publikums mit der Installation stattfindet, wird in Jelineks Entwürfen der Mythos oft durch die »dissonante Kombination des Gesprochenen mit den physischen Vorgängen auf der Bühne an die Spitze getrieben und dadurch kenntlich gemacht« (Schenkermayr 2009: 6f.). Zum Beispiel stellt sich Jelinek für die Protagonistin Jackie vor, dass sie, mit einem Chanelkostüm bekleidet, »all ihre Toten, die Kinder, na, der Embryo und die beiden toten Babys sind nicht so schwer, aber dafür die toten Männer, Jack, Bobby, Telis (Ari), das ergibt ein ganz hübsches Gewicht, was?! Also, wie soll ich sagen, diese Toten soll sie hinter sich herschleifen wie beim Tauziehen. Oder ein Wolgaschiffer sein Schiff. Das kann ich ihnen nicht erleichtern. Wenigstens das Blut auf dem rosa Kostüm wiegt nicht allzu schwer, und von Jacks Schädel fehlt sowieso ein ganzes Stück. Die Schauspielerin soll die […] Toten mühevoll hinter sich herschleifen und daher beim Sprechen immer atemloser werden, keuchen, bis sie den Monolog irgendwann abbrechen muß, weil sie nicht mehr kann.« (Jelinek 2004: 65f.)

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Jackies Monolog, den die Schauspielerin zu sprechen hat, ist derweil (in Anlehnung an Barthes’ Analysen von Mode und Mythen des Alltags) eine komplexe semiologische (Selbst-)analyse der Person Jackie Kennedy, etwa ihrer Kleidung und Figur. Da heißt es z.B: »Ich markiere mich selbst wie meine Taille, die ich nicht betone. Ich trage unbetonte Kleider. Meine Taille würde durch Betonung erst erzeugt und dann sofort betoniert werden« (Jelinek 2004: 66). Auch hier lässt sich, zumindest im Sprachbild, eine Umkehrung des Pygmalion-Mythos beobachten, wie Neuenfeldt analysiert: »Ein weiblicher Körper aus Fleisch und Blut wird zu einem leblosen Kunstkörper, wobei die Kleidung den Körper erstarren und zu Stein werden lässt« (Neuenfeldt 2005: 153). Doch das Motiv des magersüchtigen Kunstkörpers, das sich durch den gesamten Monolog zieht (»Mager zu sein, das gibt Macht! Ich bin zwar nicht mager, aber ich kann so erscheinen, weil ich mich geschickt kleide« (Jelinek 2004: 82)), steht im Kontrast zum Gewichtschleppen der Schauspielerin in der obigen Regieanweisung. Die hier von Jelinek entworfene Gegenbewegung zu der sich aussprechenden Jackie-Figur und des sie erdrückenden und erstickenden Gewichts ihrer toten ›Familie‹ ist in unserem Kontext besonders interessant, weil dieses Konzept mit Methoden von körperlichen Aufgaben arbeitet, die sonst eher in der Performance-Kunst zum Einsatz kommen. Man denke an die Künstler von Lone Twin, die einen Telegrafenmast durch eine Stadt schleifen, oder an Marina Abramović, die sich in Art must be beautiful, Artist must be beautiful (1975) eine Stunde lang brutal die Haare kämmt und bürstet, bis diese ihr ausfallen. Dies sind körperliche Arbeiten, die auf die reale Erschöpfung der Performer abzielen und Ausdauer verlangen. Auch spielt Jelineks Regieanweisung, wie viele Aktionen von Performance-Künstlern, mit den physischen Gegebenheiten, Risiken und Zufällen (der Monolog hört auf, wenn die Schauspielerin ›nicht mehr kann‹) und setzt auf die daraus resultierende Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit der Aufführung. Die Mythen(de)konstruktion von Jackie wird körperlich erfahrbar. Jelinek ist in ihren Mythendekonstruktionen allerdings wesentlich unbarmherziger als Baker, denn bei ihr wird auch die Komplizenschaft realer Frauen fokussiert. So wird in Die Wand auch der literarische Mythos der ohnmächtigen toten Schriftstellerinnen – z.B. der Figuren Sylvia Plath und Ingeborg Bachmann – nicht ungeschont gelassen. In diesem ›Prinzessinnendrama‹, das mit intertextuellen Verweisen auf das Motiv der unsichtbaren Wand bei Bachmann (Malina), Plath (The Bell Jar) und Marlen Haushofer (Die Wand) rekurriert und die gesellschaftlich

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begrenzte Position und den »Nicht-Ort« der schreibenden Frau thematisiert (Strigl 2006: 81), wird ebenfalls wieder das grotesk Niedrig-Komische eingesetzt, um der pathetischen Stilisierung der Frau zum Opfer entgegenzuwirken: »Indem Jelinek die Dichterinnen [Sylvia und Inge] reden lässt wie zwei beschränkte Gören, unternimmt sie einen Frontalangriff auf das Pathos, auf die Selbstlegitimation durch Leiden, nicht bloß in der Rezeption, sondern auch bei [der Schriftstellerin] selbst« (Strigl 2006: 82). Auch hier gibt es wieder eine starke Dissonanz zwischen dem Gesprochenen und der körperlichen Aktion auf der Bühne: Während die Schriftstellerinnen lamentieren, dass sie nicht die schöpferische Position eines Uranos oder Kronos innehaben können, gibt es eine von den Wiener Aktionisten inspirierte groteske Aktion: »Sylvia und Inge schlachten zusammen ein männliches Tier (einen Widder). Sie reißen ihm die Hoden heraus und schmieren sich mit Blut ein. Das muß sehr archaisch und grausam aussehen, ganz im Gegensatz zum Gesprochenen« (Jelinek 2004: 103). Wie bei Baker lässt sich auch hier sagen, dass die körperlichen Handlungen ›aussprechen‹, was im Text nicht zur Sprache kommt: »Mit dem Herausreißen der Samenleiter aus dem Widder versuchen die Frauen eine gewaltsame Aneignung der männlichen Sprachmacht« (Strigl 2006: 83). Wiewohl der Versuch zum Scheitern verurteilt ist (»denn ›das ist nicht Uranos‹ – und so haben sie zwar ›das Ding‹, ›aber es ist das falsche‹« (ebd.)), spricht aus der archaischen Aktion dennoch die tiefe Wut der Schriftstellerinnen, einschließlich der Wut von Jelinek selbst, die sich den Sarkasmus gegenüber den toten Schriftstellerkolleginnen nur deshalb leisten kann, weil ihm eigenes Leid zugrunde liegt (vgl. Strigl 2006: 90). Im zweiten Akt des Stückes wringen die Schriftstellerinnen nun den Kadaver des kastrierten Widders über einem Zuber aus (»hübsche hausfrauliche Tätigkeit« (Jelinek 2004: 121)) und bereiten eine Blutsuppe zu, mit der sie am eine Ende eine »Blut-kinderjause« (Jelinek 2004: 140) auf dem Gipfel der Wand abhalten. Ähnlich wie bei Baker werden in diesem Stück hausfrauliche Motive mit literarischen Motiven und griechischen Mythen verschränkt, das Hohe mit dem ›Hausfraulichen‹ konterkariert.

(THE ATER -)M ACHEN GEGEN DIE M ACHT Wie ich hier versucht habe zu zeigen, gibt es einige überraschende Gemeinsamkeiten in Bakers und Jelineks Strategien der Mythendekonstruk-

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tion von weiblicher (Ohn-)Macht. Beide greifen zu einer Serie, beide arbeiten mit Mitteln grotesker Komik, beide entwerfen künstlich übersteigerte Mythen, um die Natürlichkeit der bestehenden Mythen zu hinterfragen. Besonders der Konflikt zwischen Mythen der Weiblichkeit und der durch diese verunmöglichten Position der Künstlerin wird von Baker und Jelinek wiederholt thematisiert. Es dürfte darüber hinaus klar geworden sein, dass es bei Baker durchaus intertextuelle Verfahren gibt, die man sonst eher mit Jelinek verbindet, und dass Jelinek sich umgekehrt auch teilweise an Methoden der Verkörperung orientiert, die sonst eher bei Performance-KünstlerInnen zu finden sind. Jedoch gibt es auch Unterschiede, die sich aus den verschiedenen ästhetischen Prämissen und den unterschiedlichen Produktionsweisen und Rollen der Künstlerinnen ergeben. Jelinek arbeitet grundsätzlich intertextuell. Sie begreift die Mythen als kursierende – und oft medial vermittelte – Bilder und Diskurse, was es ihr erlaubt, übergreifend zu arbeiten und sich wahlweise aus der Literatur, der Popkultur und den Medien zu bedienen, denn die Mythen selber halten sich ja auch nicht an Genregrenzen. Obwohl sie, wie an den Beispielen klar wurde, mit ihren Regieanweisungen Vorschläge zur Realisierung ihrer Texte macht, hat sie sich in den letzten Jahren zunehmend offener gegenüber der ›Willkür‹ des Regietheaters gezeigt, weil auf diese Weise auch eine enorme Vielfalt an divergierenden Inszenierungsformen entsteht. Bakers autobiographische und auto-performative Herangehensweise ist die große Stärke ihrer künstlerischen Arbeiten, aber vielleicht auch – zumindest in diesem Kontext – deren Beschränktheit. Wie Elaine Aston und Gerry Harris analysieren, wird »ihre ›liebenswerte Persona‹ dazu eingesetzt, die Zuschauer zu bewegen, soziale und politische Annahmen über soziale Rollen und Identitätskategorien zu hinterfragen, doch das ›Diskursive‹ wird durch das Lokale, das Spezifische und das Materielle sondiert« (Aston/Harris 2007: 109). Es liegt in der Natur der Sache, dass die Performances an Baker als Performerin gebunden sind und nicht ›nachgespielt‹ werden können. Auf diese Weise ist das ›Systematische‹ der Dekonstruktion von Weiblichkeitsmythen nicht immer leicht erkennbar, obwohl sich sicher viele Zuschauerinnen mit der Grundsituation der begrenzenden und sozial wenig anerkannten Situation der Hausfrau und Mutter identifizieren können. Für beide Künstlerinnen ist Theater/Performance wichtig, weil dadurch Öffentlichkeit geschaffen wird und ein neuer verfremdender Blick

Mythen weiblicher (Ohn-)Macht und ihre Demontage im Theater

ermöglicht wird. Wir haben gesehen, dass Baker spezifische reale Orte der Macht über die Frau – das Heim, die Küche, die Kirche – durch ihre Performances aufschließt. Der theatral erzeugte Raum bewährt sich für beide Künstlerinnen als Ort der Demontage/Dekonstruktion von Mythen weiblicher Macht und Ohnmacht. Ich möchte abschließend dazu aus Jelineks Essay In Mediengewittern zitieren, in dem sie das Theater als einen Raum sieht, in dem man die Macht der Massenmedien sondieren kann: »[Die Macht] will aus dem Fernsehapparat herausschauen […], damit sie sich unser bemächtigen und uns übermächtigen kann. Da die Personen auf der Bühne jedoch scheinbar alles machen können, in die Leere hinein, untergräbt gerade dieses Machen, indem ich dessen Unbehindertsein sozusagen vor dem Publikum ausstelle […] die lähmende Tatsache, daß die Macht jedem einzelnen den Boden abgräbt. Die Macht wird durch das Machen (und das Gemachte) sozusagen ausgehöhlt. […] Die Macht herrscht nicht mehr über die ganze Welt, sondern nur noch über einen abgegrenzten Raum, und daher kann man mit ihr spielen.« (Jelinek 2003)

In meinem Untertitel Machträume bei Bobby Baker und Elfriede Jelinek steckt darum auch – anders getrennt – das Wort »Mach-Träume«. Theatermachen ist für Baker wie für Jelinek eine Sisyphos-Arbeit des Machens gegen die Macht der Mythen über uns.

L ITER ATUR [Wenn nicht anders vermerkt, sind alle Übersetzungen a.d. Englischen von der Autorin] Aston, Elaine (2000): »›Transforming‹ Women’s Lives. Bobby Baker’s Performances of ›Daily Life‹«, in: New Theatre Quarterly 16/1, S. 17-25. Barrett, Michèle/Baker, Bobby (Hg.) (2007): Bobby Baker. Redeeming Features of Daily Life, London: Routledge. Barrett, Michèle (2007): »Box Story«, in: Barrett/Baker (Hg.), Bobby Baker, S. 224-228. Barthes, Roland (1964 [1957]): Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ferris, Lesley (2007): »Daily Life 1. Kitchen Show«, in: Barrett/Baker (Hg.), Bobby Baker, S. 172-177.

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Harris, Geraldine/Aston, Elaine (2007): »Integrity. The Essential Ingredient«, in: Barrett/Baker (Hg.), Bobby Baker, S. 109-115. Heberger, Alexandra (2002): Der Mythos Mann in ausgewählten Prosawerken von Elfriede Jelinek, Osnabrück: Der Andere Verlag. Janz, Marlies (1995): Elfriede Jelinek, Stuttgart: Metzler. Jelinek, Elfriede (1970): »Die endlose Unschuldigkeit«, in: Renate Matthaei (Hg.), Trivialmythen, Frankfurt a.M.: Maerz Verlag. Jelinek, Elfriede (2003): In Mediengewittern: http://a-e-m-gmbh.com/wessely/f blitz.htm vom 28.4.2010. Jelinek, Elfriede (2004): Der Tod und Mädchen I–V. Prinzessinnendramen, Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag. Jelinek, Elfriede (2005): Sprech-Wut: www.elfriedejelinek.com/vom 19.01.2005. Jürs-Munby, Karen (2006): »›Ich möchte seicht sein‹. Elfriede Jelineks postdramatisches Schauspielmodel(l) als Ideologiekritik und Medienstörung«, in: David Barnett/Moray McGowan/Karen Jürs-Munby (Hg.), Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin: Theater der Zeit, S. 86-100. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Lücke, Bärbel (2008): Elfriede Jelinek, Paderborn: Wilhelm Fink. Neuenfeldt, Susann (2005): »Tödliche Perspektiven. Die toten sprechenden Frauen in Elfriede Jelineks Dramoletten Der Tod und das Mädchen I-VI«, in: Sprachkunst 36, 1. Halbband, S. 147-163. Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Text. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramatische Analyse, Tübingen: Niemeyer. Schenkermayr, Christian (2009): »Ende des Mythos? – Beginn der Burleske? Versuch einer Annäherung an das Verhältnis von Mythendekonstruktion und burlesker Komik in einigen Dramen Elfriede Jelineks«, in: Małgorzata Leyko/Artur Pełka/Karolina Prykowska-Michalak (Hg.), Felix Austria. Dekonstruktion eines Mythos. Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts, Fernwald: Litblockin, S. 344-363. Strigl, Daniela (2006): »Gegen die Wand. Zu Elfriede Jelineks Lektüre von Marlen Haushofers Roman in Der Tod und das Mädchen V«, in: Modern Austrian Literature 39, S. 73-96. Wolf, Naomi (1991): Mythos Schönheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Das Theater der Anderen: Antigone Katharina Pewny

Der Begriff des Anderen hat eine breite psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Tradition. Bereits Jacques Lacans Unterscheidung des großen Anderen und des kleinen anderen beinhaltet ein komplexes Muster an Subjektdenken und Weltdeutung. Der große Andere bezeichnet bei Lacan den Platz des Signifikanten in der symbolischen Ordnung des Vaters, der kleine andere befindet sich an der Stelle des verlorenen Objekts, das durch die Mutter verkörpert werden kann. Geschlechterdifferenz ist dem Lacan’schen Begriff des Anderen folglich mit eingeschrieben, wie zahlreiche feministische Philosophinnen zeigen. Eine davon ist Luce Irigaray, die in ihrer Habilitationsschrift Speculum. De l’autre femme (1974) L’Autre/Die Andere als diskursiven Einsatz zur Demaskierung der phallogozentrischen Phantasmen des abendländischen Denkens, vornehmlich der Philosophie und der Psychoanalyse, einsetzt. Zusätzlich zu den bekannteren psychoanalytischen Entwürfen des Anderen existiert auch eine phänomenologische Tradition, die für die Theater- und Literaturwissenschaft fruchtbar ist. Im Folgenden sind erstens die Implikationen des Begriffs des Anderen in der existentialistischen und phänomenologischen Tradition, namentlich bei Simone de Beauvoir und Emmanuel Lévinas, Thema. Zum Zweiten werden Lévinas’ Ethik und ihre möglichen Bedeutungen für die Theaterwissenschaft dargelegt. Lévinas’ ethisches Modell wird drittens auf den Theatertext Zus van – Schwester von (Lot Vekemans 2005), ein Monolog von Ismene, die Schwester der Antigone, angewandt. Am Ende des vorliegenden Beitrags möchte ich diese Überlegungen, die Geschlechtertheorie, Phänomenologie und Theaterästhetik verbinden, mit Blick auf das Tagungsthema das ›Andere Theater‹ thesenartig zuspitzen.

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D E B E AUVOIR UND L É VINAS : D AS , DIE UND DER A NDERE Der Titel der deutschen Übersetzung von Simone de Beauvoirs Buch Le Deuxième Sexe (1949) lautet Das andere Geschlecht. Diese Übersetzung, die das ›zweite‹ zum ›anderen‹ Geschlecht macht, zeigt bereits die Rezeption ihres Denkens: Die Andere fungiert in der feministischen Theorie als verdrängte Kehrseite des Einen, einer Subjektposition, die sich im Männlichen verwirklicht. Weiterhin erscheint der Begriff des Anderen bei de Beauvoir selbst im Titel ihres Romans Das Blut der Anderen aus dem Jahr 1945 (vgl. Beauvoir 1995). Beauvoir thematisiert darin den bewaffneten Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung, wobei sowohl ihre Helden als auch ihre Heldinnen im bewaffneten Kampf aktiv sind (vgl. Davis 1998: 35ff.). Dem entsprechen in der Theatergeschichte Jean Anouilhs und Bertolt Brechts Antigone-Arbeiten (1944 und 1947), in denen Antigone als Heldin im Widerstand (gegen die nationalsozialistische Besatzung bzw. den NSStaat) angelegt ist. Beauvoir stellt ihrem Roman ein Hegel-Zitat voraus, das besagt, dass jedes Bewusstsein aus dem Tod des Anderen folgt (vgl. ebd.: 35). Lévinas bezieht sich ebenfalls auf Hegel und auf Dostojewski, wenn er seine Ethik der Subjektphilosophie vor dem Hintergrund des Holocaust und damit vor dem Hintergrund der Verletzlichkeit des Anderen entwickelt. Seine Philosophie der Verletzlichkeit/Prekarität wird im Jahr 2004 von Judith Butler in ihrem Buch Precarious Life aufgegriffen und weiterentwickelt, darauf komme ich am Ende dieses Artikels noch einmal zurück. Lévinas wird im Jahr 1906 in Kaunas (Litauen) geboren. Vom Jahr 1923 an lebt und lehrt er in Frankreich und stirbt ebendort im Jahr 1995. In Lévinas’ Ethik ist die Begegnung des Einen mit dem Anderen zentral, weil sich für Lévinas der Subjektstatus des Einen durch die Verantwortung dem Anderen gegenüber konstituiert. Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden, denn für den Philosophen wird der Eine menschlich, indem er den Anderen anerkennt (Lévinas 1982, 78). Lévinas begreift den Anderen als »unvordenklich« (Erdle 1994: 47f.), das bedeutet, dass ein Dasein ohne den Anderen und ohne Verantwortung für den Anderen nicht gedacht werden kann. Eine Anerkennung des Anderen bedeutet in Lévinas’ Denken, dass der Eine aus der Bezogenheit auf sich selbst heraus und in Differenz zu sich selbst tritt. Der Philosoph beschreibt diesen Vorgang als Beunruhigung der Selbst-Gleichheit des

Das Theater der Anderen: Antigone

Ich: »Das Ich verliert die unumschränkte Koinzidenz mit sich, seine Identifikation, durch die das Bewusstsein siegreich auf sich zurückkommt, um in sich selbst zu ruhen.« (Lévinas 1987: 223) Im Gegenteil bleibt, so Lévinas, die absolute Alterität des Anderen in der Begegnung bestehen: »Die heteronome Erfahrung, die wir suchen, wäre eine Haltung, die sich nicht in kategoriale Bestimmungen konvertieren kann und deren Bewegung zum Anderen hin sich nicht in der Identifikation wiedergewinnt, eine Bewegung, die nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt.« (Ebd.: 215) Die Menschlichkeit des Einen besteht in der Anerkennung der Sterblichkeit des Anderen und darin, seine Angelegenheiten zu den eigenen zu machen, anders gesagt, Verantwortung für sein Wohlergehen (oder für sein Überleben) zu übernehmen: Die Antwort auf den Anderen, die in der Übernahme von Verantwortung für ihn besteht, entsteht durch den performativen Vorgang der Begegnung. All dies gilt (für Lévinas) sowohl im wörtlichen Sinne für konkrete Hilfe beim Überleben, beispielsweise in der Situation der Verfolgung, der jüdische (und andere) Menschen im Holocaust ausgesetzt waren, als auch allgemein für die Subjektkonstitution des Einen: Den Einen geht der Tod des Anderen ›etwas an‹. In seinem Aufsatz Peace and Proximity aus dem Jahr 1984 geht der Autor von konfligierenden Bewusstseinsinhalten, die nach Meinung des Autors eine Krise (in der Selbstwahrnehmung) Europas bewirken, aus. Diese Krise bezieht sich auf die blutige europäische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert. Der (in dem antiken Denken fundierten) Suche nach Wahrheit und Erkenntnis, die Frieden bringen soll, stehen für Lévinas das Wissen und das schlechte Gewissen über die Kriege, den Kolonialismus und den Holocaust im 20. Jahrhundert entgegen (vgl. Lévinas 1984: 163). Das europäische Bewusstsein ist in der Hochblüte der Moderne demnach nicht nur von schlechtem Gewissen, sondern auch von Selbstentfremdung gekennzeichnet. Das Ausgesetzt-Sein des Anderen ist Anrufung, Anweisung oder Zuweisung an den Einen, sich verantwortlich zu zeigen (vgl. ebd.). Diese Aufforderung zur Annahme von Verantwortung ist in sich doppelt: Sie ist eine Anweisung, sich für den Anderen verantwortlich zu zeigen, aber auch eine Anrufung, ihn nicht zu töten: »Das Antlitz [des Anderen, K.P.] ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet, zu töten.« (Lévinas 1982, 64f.) Hier verblüfft die Einladung zur Gewalt, die von dem Antlitz ausgeht und den Einen als potenziellen Täter und als den, der Sorge um

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die Verletzlichkeit des Anderen trägt, positioniert. »Exposure as such, extreme exposure to death, to mortality itself. Extreme precariousness of the unique, precariousness of the stranger. The nudity of pure exposure, which is not simply the emphaticalness of the known, of the disclosed in truth: exposure which is expression, first language, call and assignation.« (Lévinas 1996: 167) Diese Stelle ist die zentrale Referenz in Judith Butlers Lévinas-Rezeption, aus der sie eine Ontologie der menschlichen Verwundbarkeit ableitet (vgl. Butler 2004). Das Sein des Anderen ist prekär im Sinne des Ungesicherten, denn es ruft den Einen zu seiner Vernichtung auf, um sie gleichzeitig zu verbieten. Die Position des Einen oszilliert daher zwischen der Sorge um Schutz und dem gewalttätigen Eingriff in die Verletzlichkeit des Anderen. Was hat dies nun mit Spielräumen des Anderen zu tun? Ich stelle im Folgenden die Aufführung vor, anhand derer ich Lévinas’ Ethik in die Theatertheorie übertrage.

L É VINAS ’ E THIK ALS THE ATERTHEORIE – DIE A UFFÜHRUNG ALS B EGEGNUNG MIT DEM A NDEREN Als künstlerisches Beispiel für das Theater des Anderen, hier als Theater der Anderen, nämlich der Antigone, reformuliert, fungiert der Theatertext Zus van – in der deutschen Übersetzung Schwester von – von Lot Vekemans (2008). Die niederländische Autorin schreibt das Theaterstück als Monolog von Antigones Schwester Ismene. Zus van/Schwester von hatte am 22.10.2005 in der Regie des niederländischen Regisseurs Allan Zipson im Genter Stadttheater NTGent Premiere. Die Autorin Lot Vekemans wurde für ihren Text und für das Theaterstück Truckstop mit dem Van der Viesprijs 2005, mit dem alle drei Jahre von der niederländischen ›Vereniging van Letterkundigen‹ das beste Theaterstück (in niederländischer Sprache) nominiert wird, ausgezeichnet. Die mehrfach preisgekrönte Schauspielerin Elsie de Brauw wurde im Jahr 2005 für die beste weibliche Hauptrolle und den Preis Theo d’Or nominiert, die Produktion wurde in Folge in das Kruithuis Groningen, die Plaza Futura Eindhoven und am 28.5.2008 zu den Autorentheatertagen in das Hamburger Thalia Theater eingeladen. Aufgrund des großen Erfolgs wird sie im Jahr 2009 nochmals in das große Haus des Thalia Theaters, zu den letzten Autorentheatertagen des Intendanten Ulrich Kuohn, eingeladen (2.5.2009). In

Das Theater der Anderen: Antigone

der Spielsaison 2010/2011 ist Zus van zu Gast an den Münchner Kammerspielen, wo der ehemalige Leiter des NTGent, Johan Simons, seit Herbst 2010 Intendant ist. Elsie de Brauw lässt in der Rolle der Ismene in einem abendfüllenden Monolog ihre verstorbene Familie, das sind ihr Bruder/Vater Ödipus und ihre Schwester Antigone, auferstehen (vgl. Gruber 2014). Der AntigoneMythos, so wie er aus Sophokles’ Tragödie und zahlreichen Deutungen bekannt ist, wird von Ismene erzählt. Die heute bekannte Erzählung über das Geschlecht der Atriden ist durch Sophokles’ Ödipus-Trilogie, die Antigone, Ödipus Rex und Ödipus auf Kolonos umfasst, überliefert. In Kürze lautet sie wie folgt: Der thebanische König Ödipus wird von dem blinden Seher Theresias zur Selbsterkenntnis geführt, dass er unwissentlich seinen Vater ermordet und seine Mutter geehelicht hat. Nach dieser Einsicht in seine Herkunft und Schuld – zuvor konnte er zwar sehen, er realisierte seine Abstammung allerdings nicht – sticht er sich die Augen aus und verliert so zwar seinen Sehsinn, begreift sich selbst jedoch als sehend. Mit seiner Ehefrau und Mutter Iokaste hat Ödipus vier Kinder: Antigone und Ismene, Polyneikes und Eteokles. Ihre Tochter (zugleich Ödipus’ Schwester) Antigone, die ihn in Sophokles’ Tragödie Ödipus auf Kolonos zu seinem Grab in einem heiligen Hain geleitet, lebt in Antigone mit ihrer Schwester Ismene und ihren Brüdern Eteokles und Polyneikes in der Königsstadt Theben. Als ein Bruderzwist um die Herrschaft über Theben beginnt, töten sich die Brüder gegenseitig im Kampf. Kreon, der Onkel der vier Geschwister und neue Herrscher, bestimmt, dass Polyneikes’ Leichnam kein Grab in der Stadt erhält, sondern unbegraben vor den Stadttoren liegen muss, und das bedeutet im antiken Glaubenssystem, dass seine Seele nie das Totenreich erreichen kann. Antigone widersetzt sich dem königlichen Befehl und damit der staatlichen Ordnung, indem sie Polyneikes’ Leichnam begräbt. Auf Kreons Geheiß wird sie in einer Felsspalte eingekerkert. Antigones Selbstmord in dieser Felsspalte, die Freitode ihres Verlobten Haimon und dessen Mutter (Kreons Familie) haben zur Folge, dass von dem Geschlecht der Atriden einzig Ismene und Kreon übrig bleiben. Die Figur und der Mythos der Antigone haben in der Theatergeschichte und -gegenwart zahlreiche Interpretationen hervorgebracht. Die bekannteste Antigone-Deutung in der Philosophie ist Georg Wilhelm Friedrich Hegels, er sieht darin einen Konflikt zwischen Familie und Staat, wobei Antigone für die ethische Ordnung der Familie und Kreon für die des Staates steht (vgl. Hegel 1928: 133f.). In psychoanalytischen Deutungen er-

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scheint Antigone als die, die den Tod begehrt (vgl. Žižek 1989) und als die, deren Verlust (des Bruders) keine adäquate Form der Trauer findet, weil ihr Begehren nach dem Bruder sowie ihre gleichzeitige Schwestern- und Tochterschaft gegenüber Ödipus das Inzesttabu und damit das Heterosexualitätsgebot berühren. Judith Butler widerspricht Hegel und argumentiert, dass auch familiale Bande der symbolischen Ordnung unterliegen (vgl. Butler 2000: 24). Auch sieht Butler in dem Antigone-Mythos eine Schräglage von Begehrensmodi und Sexualitäten, eine Durchkreuzung des InzestVerbots von Mutter und Sohn (das Erbe des Ödipus) und eine weitere solche Durchkreuzung durch Antigones unverbrüchliche Liebe zu ihrem Bruder. Judith Butlers Publikation Antigone’s Claim aus dem Jahr 2000 entfachte neue Diskurse zu der antiken Tragödie und ihrer Deutungsgeschichte (vgl. Walsh 2008: 2, exemplarisch siehe Willmer/Zukauskaité 2010), der vorliegende Beitrag ist eine Auseinandersetzung mit den neuen Antigone Studies. Deutungen und Re-Lektüren des Antigone-Mythos in Psychoanalyse, Politikwissenschaft und Philosophie kreisen um die Titelheldin Antigone; bislang steht Ismene nicht im Fokus der Interpretationen. Im Unterschied zu ihrer berühmten Schwester, Heldin und Widerstandskämpferin, hat die mythische und fiktive Ismene ungleich weniger Konturen. Dies zeigt sich auch in der Rezeptionsgeschichte, beispielsweise bei Slavoj Žižek, dessen Worte »In Sophocles’ Antigone, the figure with which we can identify is her sister Ismene – kind, considerate, sensitive, prepared to give way and compromise, pathetic, ›human‹ in contrast to Antigone who goes to the limits …« paradigmatisch sind für eine Dichotomie, in der die beiden mythischen thebanischen Schwestern gegeneinander gestellt werden (Žižek 1989: 116f). Bonnie Honig widmet dem scheinbaren Gegensatz zwischen den beiden Schwestern ausführliche Aufmerksamkeit, sie geht soweit, Ismene als heimliche Komplizin Antigones bei der Ausführung der Begräbnisrituale zu vermuten (vgl. Honig 2011). Wie auch die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin entdeckt die niederländische Schriftstellerin Lot Vekemans Ismene als bislang vergessene Protagonistin des Antigone-Mythos. Lot Vekemans Theatertext Zus van wurde seit seiner Uraufführung im Jahr 2005 in drei verschiedene Sprachen übersetzt. Zus van ist ein narrativer Theatertext, die Erzählung der unbekannten Schwester Ismene, die in der sophokleischen Tragödie eine ambivalente Rolle innehat: Sie will Antigone zwar von dem Begräbnis des Leichnams abhalten, als Kreon diese jedoch zum Tode verurteilt, solidarisiert sie sich mit ihr und behauptet, gemeinsam mit ihr den Bruder begraben zu haben. Die Aufführung

Das Theater der Anderen: Antigone

von Zus van in der Regie von Allan Zipson funktioniert über die Abwesenheit von Bühnenbild, Lichteffekten, Requisiten und anderen Schauspielern ebenso wie über Elsie de Brauws Spiel und Lot Vekemans Text. Die Umrisse der Antigone-Figur entstehen in der Aufführung nur durch die Narration der Ismene, die, einem Schatten gleich, an ihre berühmte Schwester erinnert. Ismenes Erzählung eröffnet einen Raum in der Erinnerung des Publikums an die rebellische Heldin Antigone. Ihre Rede ist in einer der dramatischen Grundformen, dem Monolog, gehalten. Dieser war in den antiken Tragödien bereits das primäre dramaturgische Mittel. Im Unterschied zum Drama, das auf Konflikt, Konfliktlösung und damit auf den Dialog zielt, ist die Tragödie als Form, die dem Mythos und damit den oralen Kulturen entstammt, eher monologisch denn dialogisch, es geht eher um das Berichten denn um die Entwicklung einer Handlung aus einem Dialog (Lehmann 1991: 45f.). Mit dem Monolog wird Ismene als sprechende Figur sichtbar. Interessant ist die Gleichzeitigkeit der Ismene-Rezeption in der Theaterpraxis und in der Philosophie, denn Bonnie Honig entdeckt Ismene als politisches und als ethisches Subjekt sowie als Gegenüber von Antigone, für die sie sich auch opfert: »Antigone ultimately sacrifices herself not just for the disgraced ›ungrievable‹ (as Butler puts it) dead brother but also for a living equal: her sister.« (Honig 2011: 34) Die Aufführungssituation ist daher eine dreifache Vorführung einer Begegnung mit dem ›Anderen‹: Erstens im Mythos, denn Antigone begegnet dem Anspruch des Polyneikes (als Anderer) in positiver Weise, indem sie ihr Versprechen, ihn zu begraben, einlöst. Damit übernimmt sie Verantwortung für die Sterblichkeit des Anderen. Der mythische Kreon hingegen antwortet nicht im Lévinas’schen Sinn auf den Ruf der Antigone, sondern er schlägt gewissermaßen eine Kerbe in ihre Verletzlichkeit, indem er sie zur Einkerkerung in der Felsspalte und damit zum sicheren Tod verurteilt. Der Herrscher folgt der Einladung zur Gewalt, die von dem Antlitz des Anderen ausgeht, er trägt keine Sorge um die Verletzlichkeit des Anderen. Zweitens löst die Figur der Ismene auf der Ebene von Lot Vekemans Theatertext den Anspruch der Antigone als Anderer ein, indem sie einen Erinnerungsraum an diese in der Situation der Aufführung selbst schafft. In Bonnie Honigs Lektüre (vgl. Honig 2001) findet dies bereits in der sophokleischen Tragödie statt, wenn Antigone die Verantwortung für eine Tat auf sich nimmt, die möglicherweise von beiden Schwestern begangen wurde (siehe oben).

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Drittens konstituiert sich das Publikum als ›Subjekt‹ in der Situation der Aufführung gegenüber dem Ruf eines Anderen, der in Zus van von Elsie de Brauw als Ismene verkörpert wird. Durch die sparsame Ästhetik und die monologische Form wird der Andere in der Erzählung der Ismene als verstorbene Schwester, als Bruder und als Vater entworfen, er kann nur als Erinnerung erscheinen und nicht restlos verkörpert werden. In diesem Anderen, der Ismene, schwingt die Präsenz des Anderen als Antigone und Polyneikes mit. In der Aufführung von Lot Vekemans Zus van vollzieht sich noch einmal, was sich in den kulturellen Überlieferungen des Mythos selbst geschieht: Ismene gewinnt ihren Subjektstatus ausschließlich in Relation zu ihrer berühmten Schwester Antigone. Indem sie vom Vergessen erzählt, wird klar, dass sie von sich nur als Vergessene berichten kann und keine andere Möglichkeit hat, im Theater Gestalt zu gewinnen. Wenn das Publikum einen Raum für diese Ismene in seiner Erinnerung öffnet, und damit auch für Antigone und Polyneikes, dann antwortet es im Lévinas’schen Sinn auf die Verwundbarkeit des Anderen: Es verantwortet. Gleichzeitig antwortet es auch auf die Prekarität von Begehrensweisen und Seinsmodi, die sich, so wie Antigone für Judith Butler, am Rand des Intelligiblen und Repräsentierbaren befinden. Zusammenfassend seien die folgenden Thesen zum Thema des vorliegenden Bandes Spielräume des Anderen. Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater formuliert: Im Gegenwartstheater wird das Publikum oft mit der ungesicherten menschlichen Lebendigkeit auf der Bühne und damit mit dem »Anspruch des Anderen« konfrontiert (vgl. Pewny 2011). Die Ästhetik der Nicht-Verkörperung im postdramatischen Theater zeigt die Unmöglichkeit einer Begegnung mit dem Anderen. Die ZuschauerInnen finden sich dem Anspruch des Anderen gegenüber ausgesetzt, der Anrufung einer Ismene, einer Antigone, eines Polyneikes, sie im Gedächtnis zu behalten. Aus einer Butler’schen Perspektive ist Zus van die Spur der Antigone, die Begehren und Politik am Rand des Intelligiblen verkörpert. Verwandt mit der visuellen Aussparung des Mordens und Sterbens auf der Tragödienbühne, inszenieren Aufführungen des Gegenwartstheaters das Leiden oftmals als Narration. Zus van ist, ebenso wie Elfriede Jelineks Rechnitz, solch eine Spur des Anderen in der dramaturgischen Form eines Botenberichts (vgl. Jelinek 2008; Pewny 2009). Dramaturgisch gesehen ist Zus van ein Beispiel für die narrative Wiederkehr des Mythos im »post-postdramatischen« Theater (vgl. Pavis 2010).

Das Theater der Anderen: Antigone

Judith Butler ersetzt in ihrem Buch Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence das Paradigma Geschlechterdifferenzen durch eine humane Ontologie der »vulnerability« (Butler 2004: 49). Diese Ersetzung impliziert einen Paradigmenwechsel von der Rede von dem Einen und dem Anderen, die Simone de Beauvoir und Luce Irigaray führten, zu Fragen nach dem Anderen und nach der Ethik einer Begegnung mit ihm, Fragen nach der Ethik von Gewalt und Gewaltlosigkeit in blutigen Konflikten. Diesen aktuellen Paradigmenwechsel in der Geschlechtertheorie erfasst die Doppelperspektive des ›anderen Theaters‹ und des ›Theaters des Anderen‹.1

L ITER ATUR Anouilh, Jean (1946): Antigone, Paris: La Table Ronde. Beauvoir, Simone de (1949): Le Deuxième Sexe, Paris: Gallimard. Beauvoir, Simone de (1995): Le sang des autres, Glasgow: University of Glasgow French and German Publications. Butler, Judith (2000): Antigone’s Claim. Kinship Between Life & Death, New York: Columbia University Press 2000. Butler, Judith (2004): Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, New York: Verso. Davis, Colin (1998): »Simone de Beauvoir’s ›Le sang des autres‹ and the Ethics of Failure«, in: The Modern Languages Review 39/1, S. 35-47. Erdle, Birgit (1994): Antlitz, Mord, Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas, Wien: Passagen Verlag. Gruber, Charlotte (2014): From Dialectics to Deconstruction: The Other Antigone(s). Vortrag im Rahmen der Tagung ›Occupy Antigone‹, 18.03.2014, Universität Gent, Publikation in Vorbereitung. Hecht, Werner (Hg.) (1993): Brechts Antigone des Sophokles, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1928): Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Zweiter Theil, Stuttgart: Frommann. 1 | Dieser Artikel ist verbunden mit dem Forschungsprojekt »Antigone in/as Transition«, in dessen Rahmen Dra. Charlotte Gruber ein Doktorat zu transnationalen Antigone-Aufführungen an der Universität Gent schreibt (2012-2016). Mehr Informationen siehe: http://www.theaterwetenschappen.ugent.be/antigone

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Katharina Pewny

Honig, Bonnie (2011): »Ismene’s Forced Choice. Sacrifice and Sorority in Sophocles’ Antigone«, in: Arethusa 44, S. 29-68. Irigaray, Luce (1977): Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jelinek, Elfriede (2008): Rechnitz (Der Würgeengel), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Lehmann, Hans-Thies (1991): Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler. Lévinas, Emmanuel (1982): Ethik und Unendliches, Wien: Passagen Verlag. Lévinas, Emmanuel (1987): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i.Br.: Alber. Lévinas, Emmanuel (1996): »Peace and Proximity«, in: ders., Basic Philosophical Writings, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, S. 161-169. Moi, Toril (1994): Simone de Beauvoir. The Making of an Intellectual Woman, Oxford: Blackwell. Pavis, Patrice (2010): »Writing at Avignon. Dramatic, Postdramatic, or Postpostdramatic«, in: TheatreForum 37, S. 92-100. Pewny, Katharina (2009): »Die Ethik des Botenberichts in Antike und Gegenwart«, in: Forum Modernes Theater 24, S. 151-166. Pewny, Katharina (2011): Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld: transcript. Rokem, Freddie (2006): »Antigone Remembers. Dramaturgical Analysis and Oedipus Tyrannos«, in: Theatre Research International 31, S. 261269. Sophokles (1968): Tragödien, hg. u. übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Zürich/München: Artemis. Vekemans, Lot (2005): Zus van, Amsterdam: International Theatre and Film Books. Vekemans, Lot (2008): Schwester von, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Walsh, Keri (2008): »Antigone Now«, in: Mosaic: A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature September 41, S. 1-13. Willmer, Stephen Elliot/Zukauskaité, Audroné (Hg.) (2010): Interrogating Antigone in Postmodern Philosophy & Criticism, Oxford: Oxford University Press. Žižek, Slavoj (1989): The Sublime Object of Ideology, New York: Verso.

III. Gespräche

An der Schnittstelle Theater und Performance zwischen Theorie und politischem Aktivismus Franziska Bergmann: Gespräch mit Gin/i Müller

Ein Kennzeichnen des postdramatischen Theaters (und seiner Auseinandersetzung mit Alterität) ist die Integration politischer und kulturwissenschaftlicher Diskurse in das theatrale Spiel. Elfriede Jelinek und René Pollesch beispielsweise bedienen sich intertextueller Strategien, indem sie Diskurs-Fragmente aus Theorie und Politik in ihre Texte einarbeiten, um so auf komplexe Weise hegemoniale Gesellschaftsordnungen kritisieren zu können. Beschränken sich Polleschs und Jelineks theatrale Arbeiten auf den Aktionsraum Bühne, so verortet sich Gin/i Müller, deren/ dessen Arbeit im folgenden Interview vorgestellt wird, an den Schnittstellen von Theater/Performance, Aktivismus und Theorie. Gin/i Müller ist Künstler_in, Theoretiker_in und Aktivist_in zugleich. Viele Theater-/ Performance- und Filmstücke, die Gin/i Müller begleitet, setzen sich spielerisch und subversiv mit essentialisierter Zweigeschlechtlichkeit auseinander. In Orlanding the Dominant (brut Wien 2008), einer queeren Burlesque, werden beispielsweise in Anlehnung an Virginia Woolfs Roman Orlando alternative Geschlechtermodelle jenseits rigider Weiblichkeits- und Männlichkeitsmuster erprobt. Müller arbeitet eng mit dem Wiener brut zusammen, einem Koproduktionshaus, von dem aktuell bedeutende Impulse der Wiener freien Theater- und Performanceszene ausgehen. Jüngst hat sie/er als Dramaturg_in an der Produktion einer feministischen Lecture-Performance mit dem Titel 37 Jahre zu spät (brut Wien 2011) mitgewirkt. Auch im Zusammenhang mit ihrer/seiner aktivistischen Tätigkeit macht Müller Gebrauch von theatralen Techniken. Als Mitglied der VolxTheaterKarawane hat sie/er sich unter anderem an den

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Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 und verschiedenen Grenzcamps des internationalen noborder-Netzwerks beteiligt. In der 2008 bei Turia & Kant erschienenen Dissertation Possen des Performativen geht Gin/i Müller der Frage nach, inwieweit theatrale Strategien für den politischen Protest gegen Sexismus, Rassismus oder Kapitalismus genutzt werden können. Dabei greift sie/er auf poststrukturalistische Theorien (z.B. von Deleuze/Guattari, Foucault, Derrida und Butler) zurück und führt diese eng mit Überlegungen zu Theater und Aktivismus. Überdies unterrichtet Gin/i Müller Theaterwissenschaft an der Universität Wien. In ihren/seinen Seminaren legt sie/er den Schwerpunkt auf Queer Theory und Schauspiel im öffentlichen Raum. Die feministische Theaterwissenschaftlerin Jill Dolan beschreibt Theater und Performance als heterotope Räume, die die Möglichkeit eröffnen, Utopien temporär erfahrbar zu machen.1 Worin liegt deiner Meinung nach das Potenzial von Theater und Performance? Teilst du Dolans Überlegungen und hast du gegebenenfalls solche Erfahrungen auch schon mit deinen eigenen Arbeiten machen können? Ja, diesen Überlegungen stimme ich durchaus zu. Meinen Erfahrungen nach kann ein Theaterprozess einen temporären Raum schaffen, der auch utopische Möglichkeiten eröffnet und bestimmte Dynamiken herstellt, in denen Handlungsmacht im performativen Tun erprobt wird. Wenn ich Dinge in meinem Leben oder politisch etwas verändern will, dann muss ich Erfahrungen des Agierens proben, reflektieren, Möglichkeiten der Veränderungen im Tun erlebbar machen. Dafür eignet sich das Medium Theater/Performance meiner Meinung nach sehr gut, denn da geht es um die unmittelbare Begegnung mit dem eigenen Körper als Akteur_in und Anderen in einer Gruppe. In diesem Sinn sehe ich Theater und Performance im besten Fall als heterotope Räume der Erprobung von Handlungsmacht, die ein temporäres Labor für Auseinandersetzungen mit Kollektivität, politischem Leben, queeren Körpern, Affekten usw. produzieren… Ich habe in eigenen Arbeiten und dabei speziell in kollektiven Theater/Performance- und aktivistischen Prozessen (wie zum Beispiel in [der] 1 | Vgl. Dolan, Jill (2005): Utopia in Performance. Finding Hope at the Theater, Ann Arbor: The University of Michigan Press.

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VolxTheaterKarawane) immer wieder erlebt, dass sich Möglichkeiten des gemeinsamen Handelns und Aktionen eröffneten, die von einer kollektiven Vielheit (Multitude) der Gruppe geprägt waren und gerade dadurch auch öffentlich subversiv wirksam wurden. Zum Beispiel 2002 bei einer (Kommunikations-)Guerillaattacke auf das Schengen Information System (das europaweit Daten von Migrant_innen, Aktivist_innen usw. speichert und verwaltet) in Straßburg im Rahmen eines noborder-camps, bei der Aktivist_innen in einer transnationalen Aktion einerseits für die Medien einen Hackerangriff inszenierten und die virtuelle Attacke auch ›glaubhaft‹ verbreiteten, womit gleichzeitig öffentliche Aufmerksamkeit und Diskussion das Thema betreffend erregt werden konnte. Oder danach in Kassel bei der documenta 11, als die VolxTheaterKarawane und internationale Aktivist_innen gemeinsam mit Roma-Initiativen, die gegen die Abschiebung von Familien ihrer Community protestieren wollten, den Platz vor dem Ausstellungsgebäude für 24 Stunden besetzten und auf die Anliegen der Gruppen aufmerksam machten.2 Und wie sah das heterotope Moment bei deinen Performance-Arbeiten wie Orlanding the Dominant oder den Transkatholischen Vögeln aus? Du hast ja auch als Akteur_in in beiden Arbeiten mitgespielt… Auch bei den Theater-/Performancearbeiten wie Orlanding the Dominant bildeten sich im kollektiven Prozess heterotope Momente, die meiner Ansicht nach durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kompetenzen von ›Band‹-Musiker_innen/Performer_innen ermöglicht wurden. Da entstanden richtig energetische Momente zwischen der Erprobung queerer Darstellungsformen und musikalischer Choreographien in Auseinandersetzung mit Virginia Woolfs Texten und dem Genre Performance. Ich denke, deswegen war die Produktion speziell auch als ein zur ›Veröffentlichung‹ getragenes Selbstermächtigungsmoment für die Wiener QueerSzene sehr wichtig. Du arbeitest an den Schnittstellen von politischem Aktivismus, Theater-/Performance-Kunst und Theorie. Was ist für dich das Reizvolle an diesen Schnittstellen? Worin liegen aber auch die Herausforderungen?

2 | Siehe: www.no-racism.net/noborderlab vom 14.06.2011.

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Das Reizvolle, an diesen Schnittstellen zu arbeiten, ist für mich, dass es enorm wichtig ist, diese Bereiche nicht nebeneinander stehen zu lassen, sondern noch viel mehr Verbindungslinien zu schaffen. Zum Teil verstehe ich die Arbeit an den Schnittstellen auch als wichtiges strategisches Bündnis. Zur Wiedererlangung der Mittel des Tuns geht es in Theorie und Praxis um die Auseinandersetzung mit einer Politik der Performativität und den daraus folgenden kritischen theatralen Handlungstheorien und Praktiken. Reflexion und Aktion sind in diesem Sinn nicht zu trennen und bedingen einander. In meiner Theorie nehme ich stark Bezug auf sogenannte poststrukturalistische (Deleuze/Guattari, Derrida, Foucault), postoperaistische (Negri/Hardt), postdramatische (Lehmann) und feministische bzw. queere Diskurse (Butler). Bei diesen Bezugnahmen geht es mir wesentlich um die Erweiterung des Theaterbegriffs. Zum einen ist es produktiv, Theater auch als Medium zu sehen, das bestimmte Formen des Eingriffs in den öffentlichen Raum ermöglicht. Zum anderen kann Theater/Performance auch als Prozess des Lernens (mitunter auch im Brecht’schen Sinne) und der Erprobung performativer Handlungsmacht bestimmt werden; konkret als Vermittlungsebene im Prozess kollektiver Selbstermächtigung: Theater als unmittelbare Praxis situativen Lernens. Der Anspruch liegt dabei neben einem erweiterten Theaterbegriff wesentlich im kritischen künstlerischen und politischen Tun und Agieren als solchem bzw. der Suche danach. Diskurse um Performativität (wie bei Butler) und politisches Handlungsvermögen bedingen dabei die Sprengung gewisser Grenzen. Die Frage ›Wie ist es möglich, im medialisierten Zeitalter radikaldemokratisch zu handeln und performativ subversiv zu agieren?‹ ist dabei auch wesentlich eine theaterspezifische bzw. politische Themenstellung. Die Auseinandersetzung mit Performativität bezieht sich in diesem Horizont auch auf die Suche nach Möglichkeiten, in inszenierte gouvernementale Ordnungen (nach Foucault sogenannte ›Techniken des Regierens‹) einzugreifen. Wo verortest du dich mit deiner Arbeit ästhetisch? Wo politisch? Meine Strategie ist es, mich in ästhetischer Hinsicht unterschiedlich zu positionieren. Politisch gibt es da eher eine ›Richtung‹. In Bezug auf meinen Aktivismus betrachte ich die Theaterarbeit als Möglichkeit, in den

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öffentlichen Raum einzugreifen, theatrale Handlungsmacht für situationistische Guerillaaktionen in der Stadt und in Institutionen zu nutzen. Das verlangt natürlich auch die genaue Untersuchung der politischen Situation, ihrer inszenierten (polizeilichen) Repräsentationsmechanismen, um wirksame Interventionen und Widerstandsaktionen als (affektive) Handlungen zu setzen. Was die Arbeitsweise betrifft, habe ich den Wunsch, möglichst kollektiv zu arbeiten, was sich bezüglich der Selbstverantwortung meist als große Herausforderung herausstellt. Ästhetisch-politisch bin ich der Meinung, dass Theater/Performance im postdramatischen Sinne die Aufgabe hat, (hetero-)normative Wahrnehmungsweisen zu demontieren und neue Potenziale und Visionen zu eröffnen. Ästhetisch sehe ich in meinen (indoor-)Theaterkonzepten und Projekten einen starken Bezug zur Musik und zu gewissen kompositorischen Vorgehensweisen. Musik und Licht sind für mich überhaupt schöne ästhetische Mittel zur Affektproduktion. Da bin ich mitunter ›klassisch‹, durchaus auch filmisch beeinflusst. Was die Ästhetik der ›Bühnenkörper‹ betrifft, reagiere ich auf den perfektionierten Mainstreamschauspielstil à la ›Burgtheaterdeutsch‹ oft allergisch und bevorzuge daher eher scheiternde, sich den normativen Regeln der Bühnenwiederholbarkeit widersetzende Dilletant_innen. Mich interessieren da z.B. auch Lebenscharaktere wie Hermes Phettberg, der unter anderem in einer meiner Theaterproduktionen mit dem Titel Transkatholische Vögel beteiligt war. Seine katholisch-queeren und sado-masochistischen Gedanken und seine tragische, von Krankheiten geschundene Gestalt bildeten einen Kontrapunkt in der Inszenierung. Auf vielerlei Ebenen (auch musikalisch) wurde sein Lebenscharakter mit Motiven und Zitaten aus Pasolinis Film Große Vögel, Kleine Vögel verbunden. So vermischte sich der kommunistisch-melancholische Rabe von Pasolini mit Phettbergs masochistischem Katholizismus und mündete in einen atonalen liturgischen ›Kreuzweg‹. In deiner Dissertation und deinem Buch hast du dich mit Aneignungen theatraler Praktiken im Feld des Aktivismus beschäftigt. Welches Potenzial bergen solche Aneignungen? Der Titel meines Buchs Possen des Performativen verweist zum einen auf verschiedene theoretische Bezugspunkte wie den Begriff ›Posse‹ und das ›Performative‹; zum anderen, und das wesentlich mehr, auf performa-

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tive Praktiken zur Artikulation von Widerstand/Protest/Dissens, beziehungsweise Strategien zur Ver›queerung‹ von normierten Geschlechterverhältnissen: Praktiken, die politisch und in gewissem Sinn eben auch theatral arbeiten. Dazu gibt es viele Beispiele, Beschreibungen und Interpretationen im Buch: Von globalisierungskritischen Szenarien und Bewegungen (Strategien der Zapatistas, Ya Basta/Tute Bianche), Gipfelprotesten, anti-rassistischen Kämpfen gegen Grenzregime und Bleiberecht, über öffentliche Raumaneignungspraktiken hin zum speziellen Fokus auf die Diskussion queerer Politiken und performativer Subversionsstrategien, beziehungsweise dem Verhältnis der sozialen Bewegungen und der Queer Politics. Es sind dies Praktiken, die wir zum Teil seit 2011 in Spanien und in den Revolutionsbewegungen von Nordafrika finden. Die Akteur_innen organisieren sich virtuell (im Netz) sowie im öffentlichen Raum und intervenieren politisch, indem sie sich diesen aneignen – zum Beispiel durch situationistische Ortsbesetzungen und Interventionen, die im Internet via Facebook angekündigt werden, oder Flashmobs. Der Begriff, der meiner Dissertation und dem Buch seinen Titel gegeben hat, taucht in unterschiedlichen Bedeutungen und Kontexten auf – zunächst als Ereignisbegriff: ›posse‹ als ›können‹, die Macht als Verb, als Vermögen zu handeln, als politische Subjektivität der Multitude/Menge (nach Negri/Hardt). Posse wird darin als Aktivität, politische Macht bzw. als Macht des Werdens der Multitude definiert. Sie ist schöpferisches Tätigkeitsvermögen für eine radikaldemokratische Politik. Im lateinischen Verb liegt der kreative, anarchistische Konflikt, der auf performatives Potenzial aufmerksam macht. Posse im Englischen verweist auf Haufen, Meute, Gang, HipHop/Skater-Clique. Im deutschen Begriff der Posse begegnen Theater und Politik einander als Spielräume des Komischen, als Witz, und in der Subjektivierungsform als Possenreißer, als Narr/Komödie (Nestroy), Slapstick. Der Begriff hat also Bedeutungen, die recht verschieden ausgelegt werden können, doch als wichtige Bezugspunkte sehe ich wesentlich das Vermögen, Handlungsspielräume zu öffnen. Als ›theatrum posse‹ bezeichne ich in diesem Sinn eine politische Handlungsmacht des Theaters, die mittels performativer Subversion und auch durch entwaffnende Witze und queere Aneignung (heterosexuelle) herrschaftliche Ordnungen in Frage stellt. ›Theatrum posse‹ verwende ich als Label für unterschiedliche, vorwiegend kollektive Praktiken in den sozialen Bewegungen. Das ›theatrum

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posse‹ bedeutet für mich in diesem Sinne auch, einen ›queeren Narren‹ zu erfinden, einen transversalen trans-/nationalen kritischen Körper zu bespielen, sich anzueignen, zu vernetzen. Dabei geht es mir auch darum, gegen gewisse inszenatorische Mechanismen des ›Regierungstheaters‹, eines ›theatrum gouvernemental‹, wie ich es nenne, ein ›theatrum posse‹ in Anlehnung an Foucault (›Techniken des Regierens‹), Butler und Negri/ Hardt zu setzen, das gegen dieses ankämpft, aber auch in den eigenen (heteronormativen) Reihen interveniert. Das deutschsprachige Theater ist nach wie vor von traditionellen Machthierarchien geprägt. Die einflussreichen Positionen sind weiterhin primär von weißen Männern besetzt (Intendanz, Regie). Hierin liegt ein seltsam anmutendes Paradox von Innovationsanspruch einerseits bei gleichzeitiger Festschreibung normativer Ordnungsmuster andererseits. Teilst du meine Beobachtung? Worin liegt deiner Meinung nach diese Persistenz konventioneller Muster, die insbesondere im deutschsprachigen Theaterbetrieb ungebrochen fortbestehen? Wie sieht es diesbezüglich in der freien Szene in Wien aus? Ja, da gebe ich dir vollkommen recht. Ich denke, das Problem hat viele Ursachen: Einerseits werden die Hierarchien im Theater noch zu selten in Frage gestellt. Der Ruf nach dem Machtwort der Regie ist nach wie vor stark ausgeprägt. Ich habe den Eindruck, dass sich eine gewisse Tradition des deutschen Regietheaters mit der Betonung der Allmächtigkeit des Regisseurs (weißer Mann) hartnäckig gehalten hat. Von den Theaterschulen hinauf zu den Institutionen. Schon aus diesem Grund gefällt mir die Position der/s Regisseur_in nicht. Deshalb sehe ich mich eher als Dramaturg_in, die/der Konzepte entwirft, die gemeinsam erprobt und weiterentwickelt werden. Aber ich sehe mit der Zeit auch die Entstehung anderer Formen des Zusammenarbeitens, was sicher auch an der zunehmenden Zahl spartenübergreifender Projekte liegt. Das Thema Politik und Gender, auch Migration, ist ja gerade recht modern und findet langsam auch Eingang in die Theaterinstitutionen (zum Beispiel in die Wiener Festwochen). Übrigens ist das Verhältnis an der Uni auch nicht viel anders, zumindest hier in Österreich. Ob die Öffnung des Mainstream-Theaters hin zu Gender- und Migrationsthemen nicht eher als Modernisierungsstrategie gesehen werden kann, bei der es vor allem um symbolisches Kapital geht, ist ein Verdacht, den ich oft habe, wenn ich mir das minoritäre ›Spartenhopping‹ mancher

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Theater und Regisseur_innen ansehe. Da werden oftmals schnell oberflächlich Themen bearbeitet, dann zieht der hierarchische Theatertross weiter. Auch in Wien finden Experimente bezüglich Kollektivität und anderer Verfahrensweisen meist nur an den Rändern der freien Gruppenszene oder in Laientheaterprojekten statt. Eine längerfristige Auseinandersetzung mit Gender- und Migrationsthemen sehe ich als sehr notwendig an, auch um Konzepte von Selbstermächtigung gemeinsam zu erarbeiten und zu praktizieren. In der VolxTheaterKarawane war die Beschäftigung mit Grenzen und Migration beziehungsweise der Austausch mit Personen, die von Rassismus betroffen waren, über die Jahre zentral und prägte wesentlich bestimmte Aktionen. Im Laufe der Zeit und durch fortlaufende Erfahrungen im Gruppenprozess wurde auch die Auseinandersetzung (in Diskussionen und theatraler Praxis) mit Gender- und Queer-Themen immer wichtiger.3 Inwiefern bietet deiner Meinung nach das postdramatische Theater interessante Ansatzpunkte, um über Prozesse von Normalisierung bzw. Marginalisierung nachzudenken? Jenseits einer durchaus berechtigten Kritik und Hinterfragung von Praxis und Theorie des postdramatischen Theaters kann frau/man Theater als gesellschaftsrelevanten, öffentlichen Eingriff verstehen. Wenn das Theater heute nicht mehr nur sich selbst genügen möchte, wenn es sich als postdramatische ›Afformance Art‹4 nicht nur virtuell politisch begreifen will (obwohl das zuweilen ja auch sehr schön sein kann), dann geht es gezielt darum, festgefahrene Blickräume zu erweitern, sich nicht vor Dilettantismus zu scheuen, sich auf Experimente einzulassen, die eindimensionalen und zum Teil beliebig gesetzten repräsentativen Codierungen von Körper, Sprache, Zeit und Raum nicht nur am Theater zu hinterfragen, sondern antihierarchische, anarchische Kriegsmaschinen für eine andere Globalisierung von unten zu bauen. 3 | Z.B. die Performance: »Bukaka says: Another war is possible«, 2003/4, siehe: http://no-racism.net/noborderlab/news_ueb.php?rubrikid=10 vom 14.06.2011. 4 | Vgl. hierzu: Lehmann, Hans-Thies (32005): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, S. 460. Theater wird dort in Anlehnung an Werner Hamachers Begriff »afformativ« als »zweifelhaftes Performativ« bezeichnet.

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Welche Themen möchtest du in deinen zukünftigen Arbeiten aufgreifen und verhandeln? Und welche Ästhetik interessiert dich noch in dieser Hinsicht? Mein nächstes Projekt wird sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas ›Melodrama und Rebellion‹ beschäftigen, mit politischem Bezug zu Mexiko und dem Format der lateinamerikanischen Telenovela.5 Die Arbeit wird eine Weiterentwicklung des österreichisch-mexikanischen Theaterprojekts Who shot the Princess? werden, das ausgehend von Elfriede Jelineks Prinzessinnendramen das Motiv von Melodrama und Militanz bearbeitet. Eine ›echte‹ Telenovela-Schauspielerin führt durch die Show und verliebt sich in eine Rebellin. Formal endet jede TelenovelaPrinzessinnen-Episode ›zwangsläufig‹ mit dem Tod, der Text ist zum Teil englisch, zum Teil spanisch mit Untertiteln. Bei dem Projekt geht es mir zum einen ästhetisch um eine Weiterentwicklung des theatralen Telenovelaformats (in sogenannten 3D-VideoBoxen), zum anderen wird der inhaltliche Fokus auf eine realpolitische Ebene gebracht. Mich interessieren ›dramatische‹ Fragen, also Fragen, die die politische Handlungsmacht betreffen, und Fragen, die sich mit der Bedeutung von Affekten im Rahmen der Entscheidung für den politischen Widerstand auseinandersetzen. Nach dem Literaturwissenschaftler Peter Brooks ist die politische Rede ja per se »melodramatisch«… Was bringt Menschen dazu, politisch zu kämpfen, den Körper zu riskieren? Wofür und mit welchen Mitteln lohnt es sich heute noch zu kämpfen und wie erhalte ich meine Passion dafür aufrecht? Braucht es mehr melodramatische Anrufungen in der Politik oder herzhafte Politik im Melodrama? Wie lässt sich politisches Begehren sprachlich und gestisch ausdrücken und verkörpern? Und wem vertraue ich, wen liebe ich auf diesem prekären Weg, der vielleicht das unsichere Ziel ist? Verschiedene Autor_innen (aus Europa und Mexiko) werden ›Performance-Novelas‹ verfassen, die jeweils 10-15-Minuten-Format haben und musikalisch und filmisch unterstützt werden. Im weiteren Sinne geht es um einen fächerübergreifenden Zusammenschluss von Theater, Telenovela, Film, Netzwerk und politisch-zivilgesellschaftlichen Kompetenzen. Die gemeinsam erarbeiteten rebellischen Melodramen spielen vorwiegend in politischen Kontexten und inmitten von sozialen Bewegungen, die auf verschiedenen Ebenen Gewaltverhältnisse, auch mit besonderem 5 | Vgl.: http://rebelodrom.blogspot.com/vom 12.07.2011.

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Franziska Bergmann: Gespräch mit Gin/i Müller

Fokus auf die Gender-Ebene, verhandeln. Die experimentelle theatrale Untersuchung mit Hilfe des Genres Telenovela ermöglicht dabei verfremdete, parodisierende und emotional-affektgeladene Blickwinkel. Die »Performance-Novelas« spielen insofern die »Pasion Rebelde« (Rebellische Passion) auch als postdramatische Komödie der Geschlechter.

Gin/i Müller, Dr. phil., Dramaturg_in, Theaterwissenschafter_in, Performer_in, Ar/ctivist: Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Philosophie und Musikwissenschaft in Wien. Seit 2004/5 Lektor_in an der Universität Wien (Theater-, Film-, Medienwissenschaft, Germanistik) und an der Akademie der Bildenden Künste (2003/4-6/7); Mitarbeiter_in bei dem ›Sparkling Science‹-Projekt: (Un)doing Gender: Sprache, Performanz und Politik (Zusammenarbeit Universität Wien und drei Schulen in Wien), www.univie.ac.at/gender (2008/9); letzte Theater-/Performance-/Filmarbeiten: Orlanding the dominant, eine queere Burlesque (2008), Transkatholische Vögel (2009), Who shot the Princess?, Boxstop Telenovelas (2010/11), brut_Wien, Mexico df., SV Damenkraft (2003-2008, queere Performanceband), VolxtheaterKarawane, noborder-netzwerk (2001-2005); 2009/10 Filmdokumentation (Wien/Mexiko): Los Hacedores de Teatro/Die Theatermacher – Juan Jose Gurrola spielt Thomas Bernhard. Buchveröffentlichung: Gini Müller (2008): Possen des Performativen. Theater, Aktivismus und queere Politiken, Wien: Turia+ Kant.

›Keine besonders weibliche Handschrift‹ Nina Birkner: Gespräch mit Rebekka Kricheldorf

Als Autorin experimentierst Du mit verschiedenen ästhetischen Formen. Während Du die dramatische Form in Deinem Theatertext Robert Redfords Hände selig (2010) unkritisch nutzt – das Stück besitzt eine narrative und figurative Struktur – kann man Mechanische Tiere (2009) als einen nicht mehr dramatischen Theatertext bezeichnen. Schließlich gibt es weder eine Handlung noch einen dramatischen Konflikt, keine Figuren, sondern nur die vier Sprecher A, B, C und D. Ist die Entscheidung für eine bestimmte dramatische Form von der Thematik des jeweiligen Theatertextes abhängig? Ja. Ich versuche, nie Sklave einer von mir selbst etablierten Form zu werden, sondern den Inhalt, bzw. die besondere Fragestellung des jeweiligen Stücks, die Form bestimmen zu lassen. Dabei markieren Robert Redford und Mechanische Tiere wirklich die zwei Extrempunkte, zwischen denen sich meine Texte bewegen. Bei Mechanische Tiere war es der Versuch, mit so wenig wie möglich konkreter Festlegung auf Figurenidentitäten, Handlungselementen oder deutlich erkennbarer Kernthematik ein gesellschaftliches Klima zu erzählen. Auch in Robert Redford gibt es keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Dramaturgie der Konversation. Aber die Figuren sind psychologisch, da sie eine Geschichte, eine Herkunft und eine klar umrissene Identität mitbringen. Beide Stücke sind eher untypisch für mich, da meine Figuren meist aus Archetypen oder neuinterpretierten Klischees moderner Mythen bestehen. Wie stehst Du zum postdramatischen Theater? Ich denke beim Schreiben nicht darüber nach, ob ich gerade dabei bin, einen dramatischen oder postdramatischen Text zu produzieren. Postdra-

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matisch kann ja fast alles bedeuten, was das konventionelle Einfühl- und Identifikations-Theater sprengt. Als Produzentin stehe ich solchen Kategorisierungen etwas ratlos gegenüber und kann mich selbst schlecht einer Strömung zuordnen. Ich hänge da wohl irgendwo zwischen allen Stühlen und Begrifflichkeiten. Als Konsumentin bin ich dankbar für jeden neuen Ansatz, den ich auf der Bühne zu sehen bekomme – was nicht immer unbedingt postdramatisch bedeuten muss, denn auch die Stilmittel der Postdramatik sind ja nicht frei von Kitsch und langweiligen Automatismen. Ein Diskurs-Theater, das rein unsinnlich-intellektuell funktioniert und nur angelesene soziologische Theorien sampelt, stellt für mich auch nicht das ideale Theater dar. Wie stehen in Deinen Theatertexten künstlich geformte Wirklichkeit und vorgefundene Realität zueinander? Deine Stücke zielen ja nicht auf eine Abbildwirklichkeit. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Ich räume dem realen Erlebnis keine Priorität ein. Die den Menschen bestimmenden Einflüsse sind ja vielschichtiger als das bloße reale Erleben. Träume, Sehnsüchte, Ängste, Privatmythologien, Übertreibungen, Filme, mediale Bildwelten – das alles hat für mich als Material gleichwertige Berechtigung. Ein gewisser Einfluss vom Surrealismus ist da spürbar. Ich entwerfe aus den Materialien der vorgefundenen Realität für die Dauer der Aufführung eine Parallelwelt, die zwar auf die Realität Bezug nimmt, aber eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Fabel, (psychologische) Figuren und mimetisches, lineares Erzählen haben in den letzten Jahren wieder große Konjunktur auf dem Theater, man denke z.B. an die Theatertexte von Nis-Momme Stockmann u.a. Wie erklärst Du Dir das? Wie bewertest Du das? Ich glaube, dass es da einen Zusammenhang gibt, der über Theater und Kunst generell hinausgeht: Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Backlash, der sowohl in der Dramatik und in der Prosa als eben auch in den privaten Lebenskonzepten als sogenannte ›Neue Bürgerlichkeit‹ spürbar wird. Man ist der Experimente müde und sehnt sich nach klaren Geschichten und simplen Welterklärungsmodellen. Speziell aufs Theater bezogen wird das in einem Anstieg an Stücken deutlich, die das Private, die Fa-

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milie, die eigene Innerlichkeit thematisieren und dafür Ästhetiken des neunzehnten Jahrhunderts reanimieren. Dem haftet für mich etwas Museales und Verstaubtes an und ich glaube nicht, dass ein Theater, das sich seiner interessantesten Möglichkeiten beraubt, auf lange Sicht eine Zukunft hat. Eine weitere Erklärung für die Renaissance der Küchenpsychologie könnte auch sein, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die psychologischen Begrifflichkeiten in alle Lebensbereiche gefressen haben. Diese hartnäckige Dominanz einer speziellen Ideologie hinterlässt natürlich auch im Theater ihre Spuren. Ein postdramatisches Element in Deinen Theatertexten scheint mir die Entpsychologisierung der Figuren zu sein. Hier sehe ich eine Parallele zu älteren Gegenwartsautorinnen, z.B. zu Elfriede Jelinek oder Ginka Steinwachs. Für beide ist die Sprache »nicht mehr Ausdruck der Befindlichkeit von Figuren, sondern eigenständige Wirklichkeit«.1 Die Sprache wird zum ›Hauptdarsteller‹. 2 In einigen Deiner Texte, z.B. in Mechanische Tiere oder in Robert Redfords Hände selig, scheint mir die Sprache bzw. die sprachliche Verfasstheit von Welt sogar zentrales Thema zu sein. Sie bestimmt das Bewusstsein der vier Sprecher und/oder dient als Mittel, das Gegenüber zu dominieren, wie in den Dialogen von Alice und Ben. Welche Bedeutung misst Du der Sprache in Deinen Stücken bei? ›Die Sprache wird zum Hauptdarsteller‹ – damit kann ich mich eindeutig identifizieren. Aber mich interessiert Sprache als Sprechakt, in Verbindung mit einer Figur in einer Situation, und weniger als ›Sprachfläche‹. Man könnte sagen, dass mich nicht die Sprache interessiert, sondern das Sprechen. Das Wegsprechen oder Herbeireden, das Verdrängen durch Sprechen, das Entlarven durch Sprechen, das im Sprechen sich Verheddern, das Subtext-Aussprechen und eben der Dominanzversuch durch Sprechen. Meine Figuren reden sich oft um Kopf und Kragen, d.h. sie scheitern bei ihrem Versuch, sich durch Sprache eine kohärente Identität zu geben. 1 | Roeder, Anke (1989) (Hg.): Autorinnen. Herausforderungen an das Theater, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 20. 2 | Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Niemeyer, S. 177.

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Unterscheidest Du beim Schreiben weibliche und männliche Figuren im Hinblick auf ihren Sprachgestus? Nicht unbedingt. Ich unterscheide individuelle oder eben normierte Sprechweisen, aber ich glaube nicht an ein speziell weibliches oder männliches Sprechen. Man findet in meinen Stücken aber Persiflagen auf bestimmte Gesprächssituationen, die etwas mit Geschlecht zu tun haben: Einen Sheriff, der seinen Sprachgestus an den seiner Lieblingshelden anlehnt, also das Konzept einer Männlichkeit verfolgt, die er sich wie eine Rolle anzueignen versucht. Es gibt da immer eine Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Selbstbild und Fremdbild. Du hast 2010 den Kasseler Förderpreis Komische Literatur erhalten aufgrund Deines »poetische[n] wie humorvolle[n] Umgang[s] mit Sprache: als Spielmaterial für den Entwurf schräger Figuren, für die oft persiflierende Zeichnung moderner Märchen und Mythen, für die satirische Verdichtung heutiger Themenmärkte und medialer Oberflächen, gebrochen an großen Stoffen und zeitlosen Motiven ebenso wie an der vermeintlichen Banalität des Alltäglichen«.3 Welche Bedeutung hat für Dich das Komische? Das Komische ist für mich kein Stilmittel, sondern essentiell. Ich schreibe komische Stücke, weil mir das Leben komisch vorkommt, aus einer Erfahrung des Absurden heraus, die wiederum fast tragisch zu nennen ist. Ich habe eine sensibilisierte Wahrnehmung für das Absurde des Alltags. Es war auch nie eine bewusste Entscheidung, Komödien oder komische Stücke zu schreiben. Nicht ich habe mich für das Komische entschieden, sondern das Komische für mich. Und da ich der Einfühlung und der totalen Identifikation zutiefst misstraue, sind Humor, Satire und Ironie gute Mittel, um eine kritische Distanz zu schaffen. Komik wird leider oft, vor allem in Deutschland, dem Entwicklungsland des Humors, mit fehlendem Ernst verwechselt. Man hängt hier noch einer teutonischen Tiefe nach, die Humorlosigkeit mit Relevanz verwechselt. Das ist ein tragischer Irrtum.

3 | Block, Friedrich W.: Presseinformation der Stiftung Brückner-Kühner vom 03.02.2010: www.brueckner-kuehner.de/PREIS/kricheldorf_presse.pdf vom 10.02.2012.

›Keine besonders weibliche Handschrif t‹

In Deinen Theatertexten befasst Du Dich mit Alltagsmythen, die – so Roland Barthes – die Wirklichkeit ›deformieren‹, weil Natur und Geschichte verwechselt werden. Geht es Dir ähnlich wie Jelinek um die Destruierung dieser Mythen, nur mit anderen ästhetischen Mitteln? Natur ist eine problematische Größe, die ja auch gerade für Genderkonzeptionen viel missbraucht wird. Aber ich glaube, dass Mythen nicht immer nur wirklichkeitsdeformierend sind, sondern auch eine Verbildlichung oder Vereinfachung allgemeiner Wahrheiten darstellen können. In meinen Stücken vermischen sich Destruierung, Neuinterpretation und Affirmation, je nach Mythen-Art, mit der ich es zu tun habe. Für mich ist interessant, herauszufinden, welche Mythen für welche Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ängste stehen, um dann zu untersuchen, wie diese Bedürfnisse zu bewerten sind. In Deinen Theatertexten thematisierst (und problematisierst) Du geschlechtsspezifische Rollenbilder. So zeigst Du in Rosa und Blanca (2005), dass die weiblichen Protagonistinnen trotz all ihres Emanzipationswillens auf den Bären – den Mann – bezogen bleiben. Und in Gotham City (2010/11) machst Du auf die Konstruktion von Geschlecht dadurch aufmerksam, dass hier Figuren das Verhalten anderer verkürzend auf ihr jeweiliges Geschlecht zurückführen. Welche Rolle spielt der Genderdiskurs in Deinen Theatertexten? Er spielt genau die Rolle, die er auch in meinem Leben spielt. Hauptsächlich in Form von Erwartungen, die von außen an einen herangetragen werden. Das permanente Überprüfen und Hinterfragen von Genderkonzepten, mit denen man konfrontiert wird, fließt auch in meine Stücke ein. Man findet z.B. häufig in meinen Stücken männliche Figuren, die mit der Erwartungshaltung der Gesellschaft, die eine bestimmte Idee von Männlichkeit an sie heranträgt, überfordert sind oder darauf mit Verweigerung reagieren. Oder Figuren, die ein bestimmtes Konzept von Weiblichkeit so übertreiben, dass es ad absurdum geführt wird. Interessant ist, dass ich kaum jemanden kenne, der nicht an irgendeinem Punkt seines Lebens mit einem klischierten Genderkonzept eines Gegenübers, das er nicht erfüllen konnte oder wollte, kollidierte. Wie ist es während des Schreibprozesses? Welche Rolle spielt das Geschlecht bei der Konzeption einer Figur?

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Es ist immer eine schwierige Entscheidung, eine Figur als Mann oder als Frau zu entwerfen. Deshalb gibt es in Mechanische Tiere den völligen Verzicht auf Geschlechtszuschreibungen. Interessanterweise kann man das Stück tatsächlich mit verschiedenen Besetzungen spielen, ohne dass es ›falsch‹ im Sinne von unwahr würde. Bei diesen vier Figuren bietet sich die Aufteilung in zwei Männer und zwei Frauen an, aber es gab auch eine Inszenierung mit drei Männern und einer Frau, die dem Text eine homoerotische Dimension gab, die durchaus zu ihm passte, da die dort verhandelten Zustände geschlechtsunabhängig sind. Es gibt aber schon explizit männliche und weibliche Erfahrungen, für die ich konkret männliche oder weibliche Figuren brauche. Man nehme z.B. die Figur des Sheriffs in Gotham City: Es mag vielleicht auch Frauen geben, die sich total zulaufen lassen und im Suff jemanden vergewaltigen, aber da kann man nicht wirklich von einer exemplarischen weiblichen Verhaltensweise sprechen. Deswegen wäre es im weitesten Sinne unwahr gewesen, diese Figur als Frau zu konzipieren. Denn trotz aller Überhöhung und dem destruierenden Spiel mit Klischees geht es mir immer auch um eine Wahrscheinlichkeit. Diese Wahrscheinlichkeit messe ich an meinen persönlichen Erfahrungen mit männlichem und weiblichem Verhalten. In Rosa und Blanca geht es um eine pubertäre Mädchenfreundschaft, und ich glaube nicht, dass diese spezielle Art von Beziehung so einfach auf Jungs übertragbar wäre. Gibt es ein Verfahren dramatischen Schreibens, das Du als ›weiblich‹ bezeichnen würdest? Eine problematische Frage. Ich reagiere mit regelrecht hysterischer Ablehnung auf den Begriff ›weibliches Schreiben‹, da ich damit immer Schreckliches assoziiere – Fühltheater, übertriebene Innerlichkeit usw. Ob diese Hysterie auf Lektüre-Erfahrungen oder Vorurteilen beruht? Vielleicht auf einer Mischung aus beidem. Es ist jedenfalls auffällig, dass ich kaum weibliche Lieblingsautoren habe. Jedenfalls habe ich für meine Art des Schreibens keine besonders weibliche Handschrift ausgemacht. Wie das anderen mit meinen Texten geht, weiß ich nicht. Man kann beobachten, dass weibliches Schreiben oft an der eigenen Biographie klebt und quasi den Absprung ins Allgemeingültige nicht schafft. Viel Familienstoffe, Beziehungsanalysen, wenig Science-Fiction oder GegenweltenEntwurf. Diese Diagnose muss aber ja deswegen schon falsch sein, da ich

›Keine besonders weibliche Handschrif t‹

mich selbst darin nicht wiederfinde – mich also als Frau vom weiblichen Schreiben distanziere, was ja paradox ist. Spielt das Geschlecht eine Rolle für Dein Selbstverständnis als Autorin? Nein. Das geht so weit, dass ich mich meistens als ›Autor‹ bezeichne, aus den oben geschilderten Gründen. Ich empfinde es als Einschränkung, meine Arbeit ständig durch die Brille meines Geschlechts beurteilt zu sehen. Ich bin in erster Linie ein Mensch, der schreibt. Die Tatsache, dass ich eine Frau bin, bedeutet nicht, dass ich automatisch mit der Hälfte der Menschheit eine Weltwahrnehmung teile. Da könnte ich mich ja auch als schreibender Süddeutsche, schreibende Ex-Waldorf-Schülerin oder schreibenden Hetero charakterisieren. Viele Deiner Theatertexte sind Auftragswerke. Legst Du Wert darauf, als Autorin den Probenprozess zu begleiten und ggf. korrigierend einzugreifen? Wie frei darf der Regisseur auf den Proben mit Deinem Text umgehen? Mir ist es wichtig, mich vor Probenbeginn mit dem Regisseur auf gewisse ästhetische Grundverständnisse zu einigen – das betrifft meistens Sprechrhythmus und Spielweise, die meine semipsychologischen Figuren erfordern. Wenn sich im Probenprozess herausstellt, dass Text gestrichen werden muss, weine ich nicht jedem Satz nach, aber ich reagiere extrem negativ auf jedes Einfügen von Fremdtexten. Für alles andere bin ich offen. Ich komme gerne zu Proben, aber mehr aus Neugier als aus Kontrollzwang. Trotzdem haben Regieteam und Schauspieler oft Angst vor dem Autoren-Besuch, weil sie denken, dass der Autor bereits mit einer fertigen Idee der Inszenierung im Kopf herumläuft, was bei mir niemals zutrifft. Als Dramatiker muss man seinen Text irgendwann loslassen, aus der Hand geben. Der Text ist nur ein Teil des Gesamtkunstwerks.

Rebekka Kricheldorf, Dramatikerin und Dramaturgin: Geb. am 9.10.1974 in Freiburg i.Br., Studium der Romanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995-1997), anschließend Studium des Studiengangs Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin (1998-2002). Rebekka Kricheldorf schrieb u.a. Stücke für das Staatstheater Stuttgart, das Staatstheater Kassel, das Theaterhaus Jena, das Theater

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am Neumarkt Zürich und das Stadttheater Bern. 2004 war sie Hausautorin am Nationaltheater Mannheim und von 2009-2011 Dramaturgin, Hausautorin und Mitglied der Künstlerischen Leitung am Theaterhaus Jena. Für ihre Theatertexte ist sie 2002 im Wettbewerb des Heidelberger Stückemarktes mit dem Verlegerpreis und dem Preis des Heidelberger Publikums ausgezeichnet worden, 2003 hat sie den Kleist-Förderpreis, 2004 den Schiller-Förderpreis des Landes Baden-Württemberg und 2010 den Kasseler Förderpreis Komische Literatur erhalten.  Theatertexte: Alltag und Ekstase (2014), Das kalte Herz nach Hauff (2013), Lysistrata nach Aristophanes (2013), Testosteron (2012), Der große Gatsby nach Fitzgerald (2012), Gotham City I-III (2010-11), Murder Ballads (2011), Robert Redfords Hände selig (2010), Villa Dolorosa (2009), Mechanische Tiere (2009), Das Ding aus dem Meer (2009), Der Kopf des Biographen (2009), Neues Glück mit totem Model (2007), Hotel Disparue (2006), Landors Phantomtod (2006), Rosa und Blanca (2006), Schneckenportrait (2005), Die Ballade vom Nadelbaumkiller (2005), Floreana (2004), Kriegerfleisch (2004), Prinzessin Nicoletta (2003), Schade, dass sie eine Hure war (2002).