Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes: Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung [1 ed.] 9783428528301, 9783428128303

Der immensen Bedeutung der Sozialversicherung trägt das Grundgesetz durch ein spezifisches Kompetenzengefüge hinsichtlic

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Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes: Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung [1 ed.]
 9783428528301, 9783428128303

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 19

Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes Von Markus Zimmermann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

MARKUS ZIMMERMANN

Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 19 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR), Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.

Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung

Von Markus Zimmermann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2007/2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-12830-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2007/2008 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurden Rechtsprechung und Literatur auf den Stand von Oktober 2008 gebracht. Die durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007 bewirkte Gesundheitsreform hat bereits Eingang in diese Arbeit finden können. Ebenso wurden die Normen des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) – auch die durch das GKV-WSG geänderten – schon in ihrer neuen Numerierung erfaßt, welche sie durch das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11.2007 erfahren haben. Soweit einzelne Neuerungen dieser Reformen zum Zeitpunkt der Abgabe der Dissertation noch nicht in Kraft getreten waren (wie etwa die erst ab 1.1.2009 geltenden Regelungen über den Basistarif oder den Gesundheitsfonds), sind die betreffenden Neufassungen der jeweiligen Rechtsvorschriften mit einem eckigen Klammerzusatz gekennzeichnet, der das Jahr ihres Inkrafttretens benennt (z. B. „VAG [2009]“). Großer Dank im Hinblick auf die Entstehung der Arbeit gebührt zuerst meinem Doktorvater und Lehrer, Herrn Universitätsprofessor Dr. Helge Sodan, der nicht nur mein Interesse für das Sozialversicherungsrecht sowie das Thema der vorliegenden Arbeit weckte und förderte, sondern der mir während meiner sehr lehrreichen Beschäftigung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl der Freien Universität Berlin immer wieder auch die nötigen Freiräume einräumte, die zur Erstellung dieser umfangreichen Arbeit nötig waren. Auch für die Aufnahme der fertigen Arbeit in die Reihe „Schriften zum Gesundheitsrecht“ danke ich ihm sehr herzlich. Frau Universitätsprofessorin Dr. Heike Krieger danke ich sehr für die Mühen der Zweitbegutachtung und ganz besonders für die überaus rasche Erstellung des Gutachtens. Großen Dank schulde ich auch dem Deutschen Institut für Gesundheitsrecht (DIGR) für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung der Arbeit. Des weiteren danke ich meinen Eltern und meiner Schwester für den nie versiegenden Glauben an mich, meinen Freunden für ihr Verständnis sowie Frau Stefanie Stresow, nicht nur für ihre geduldige Durchsicht des Manuskriptes. Berlin, im März 2009

Markus Zimmermann

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Teil

Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem als exemplarischer Bereich der Vorsorge gegen soziale Risiken I.

II.

Historische Entwicklung des bipolaren Krankenversicherungssystems in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Mittelalter bis hin zum Preußischen Allgemeinen Landrecht . . . . . . . 2. Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Geltung des Hilfskassengesetzes von 1876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die „Bismarcksche“ Sozialgesetzgebung ab 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Reichsversicherungsordnung von 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Jahre 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Zeit vom Jahre 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . 7. Die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes (1945 bis 1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Zeit nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . .

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32 32 34 39 46 48 49 52 52

Der derzeitige status quo einschließlich der Gesundheitsreform 2007 . . . . . . . 1. Gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Mitglieder“ und „Versicherte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versicherungspflichtige Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vom Versicherungszwang ausgenommene Personen (Versicherungsfreiheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Befreiung von der Versicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Freiwillige Versicherung (Versicherungsberechtigte) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Familienversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Private Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Systemansätze für eine grundlegende Reform des Krankenversicherungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bürgerversicherung in „Reinform“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhaltsverzeichnis b) „Abgeschwächte“ Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Kopfpauschalen“ bzw. „Gesundheitsprämien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Privatisierung des gesamten Krankenversicherungssystems . . . . . . . . . . . . .

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2. Teil

Gesetzgebungskompetenzen für den Bereich sozialer Vorsorge

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Abschnitt 1 Die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG I.

„Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . 1. Die durch das Bundesverfassungsgericht geprägte Begriffsbestimmung . . 2. Erfordernis klarer Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Sozialversicherung“ als Begriff, Gattungsbegriff oder Typus? . . . . . . . . . . a) „Begriff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gattungsbegriff und Artbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Sozialversicherung“ als Gattungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Typus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) „Sozialversicherung“ als Typus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bewertung der Unterscheidung zwischen Begriff und Typus . . . . . . . . . g) Konsequenzen für den verfassungsrechtlichen Terminus „Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Merkmale von „Sozialversicherung“ im verfassungsrechtlichen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Komponente „Versicherung“ in der Sozialversicherung . . . . . . . . . aa) Die Diskussion um den „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewertung der Diskussion um den „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Streit um Begrifflichkeiten, nicht um materielle Inhalte . . . . . . (2) Keine Diskussion über die „essentialia negotii“ von „Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Rechtliche Konsequenzen aus der Diskussion um den Versicherungscharakter der „Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Versicherungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeines zur Entwicklung des Versicherungsbegriffes . . . . (2) Einzelne Definitionsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Systematisierung und Bewertung der Strukturmerkmale von „Versicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Funktion der Versicherung als Zukunftsvorsorge . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (b) Ungewißheit des wirtschaftlich nachteiligen Ereignisses . . (c) Versicherbarkeit (Schätzbarkeit; bereits bestehende Risiken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Gleichartigkeit der versicherten Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Verbindlicher Rechtsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Entgeltlichkeit (Wechselseitigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (h) Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (i) Äquivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (j) Versicherungsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (k) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (l) Polypersonalität: Planmäßige Risikostreuung nach dem Gesetz der großen Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (m) Unternehmensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung und Ergebnis zum Versicherungsbegriff . . . (a) Maßgebliche Begriffsmerkmale für „Versicherung“ im Rechtssinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Unmaßgebliche Merkmale für den rechtlichen Versicherungsbegriff; Merkmale eines sog. „Versicherungsprinzips“ dd) Sozialversicherung als „Versicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Sozialversicherung und die Strukturelemente einer „Versicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Versicherungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ungewißheit des nachteiligen Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . (c) Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Entgeltlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Sozialversicherungsbeitrag als entgeltliche Gegenleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Entgeltlichkeit und mangelnde Individualäquivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Entgeltlichkeit und Mitversicherung Dritter . . . . . . (g) Entgeltlichkeit und Arbeitgeberbeitrag; „Beteiligte“ der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Entgeltlichkeit und Finanzierung durch NichtBeiträge (Zuschüsse, Steuern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Kompetenzgrundlage für Sozialversicherungsbeiträge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Rechtsnatur der Sozialversicherungsbeiträge . . . . . . . . (a) Abgrenzung zur Steuer einschließlich der sog. Zwecksteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Abgrenzung zu Beiträgen und Gebühren . . . . . . . . (g) Abgrenzung zu Sonderabgaben . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (d) Abgabe eigener Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Konflikt mit Finanzverfassung bei Erstreckung auf die Gesamtbevölkerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Verbindlicher Rechtsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Polypersonale Ausrichtung zur Ermöglichung einer Risikostreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sozialversicherung und „Versicherungsprinzip“ . . . . . . . . . . . . . (a) Das „Versicherungsprinzip“ als für die Versicherungseigenschaft unmaßgebliche Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Versicherungsprinzip und materielle Vorgaben für die Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) „Entversicherung“ der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Kompetenzwidrigkeit hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Steuerfinanziertes Sicherungssystem . . . . . . . . . . . . . . . (bb) „Versicherungsfremde“ Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Soziale Durchbrechungen des Versicherungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Nicht vom vermeintlichen Versicherungszweck gedeckte Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Präventionsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Leistungen an außerhalb der Sozialversicherung stehende Personen („Dritte“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Beitragsbelastung von Nichtversicherten („Dritten“) zur Finanzierung von Versicherungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Komponente „Sozial-“ in der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Begriff „sozial“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur sozialen Komponente der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schutz vor besonderen Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die absicherbaren Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ausgangspunkt: Vergleichbarkeit mit der „klassischen“ Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Weites Risikoverständnis: prinzipiell alle Risiken sozialversicherungsfähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Enges Risikoverständnis: nur bestimmte Risiken sozialversicherungsfähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Nur Risiken mit einer bestimmten Eintrittswahrscheinlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Nur körperliche Risiken/Personenrisiken? . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (g) Risiken in Zusammenhang mit der Arbeitsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Intention der „klassischen“ Sozialversicherung . . . (b) Sozialversicherungsfähigkeit von nicht auf die Arbeitsfähigkeit bezogenen Risiken . . . . . . . . . . . . . (aa) Reiner Vermögensschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Insbesondere: Risiken betreffend das Sachvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Insbesondere: Risiken betreffend Haftungsverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Systematische Stellung der „Sozialversicherung“ im Rahmen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . (d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Ausweitbarkeit auf sonstige, „neue“ Risiken . . . . . . . . (ff) Keine Vorgabe zur getrennten Versicherung der Risiken in unterschiedlichen Sozialversicherungszweigen (b) Die Versicherungsmethode der Sozialversicherung . . . . . . . (aa) Grundsatz: Primäre Ausrichtung am Ziel der Bedarfsdeckung („Gemeinwirtschaft“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Wirtschaftlich erschwinglicher Versicherungsschutz durch „leistungsfähigkeitsgerechte“ Beiträge . . . . . . . . (cc) Keine Risikoselektion; Aufnahme gerade der „schlechten Risiken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Sozialer Ausgleich; Solidaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . (a) Über den versicherungsmäßigen Risikoausgleich hinausgehender Solidarausgleich . . . . . . . . . . . . . . . (b) Grundsätzliche Wege zur Bewerkstelligung des sozialen Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Sozialer Ausgleich und „Kopfpauschalen“ . . . . . . . (d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Sonstige Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Versicherungspflicht (Versicherungszwang)? . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Teilweise Finanzierung durch Arbeitgeberbeiträge? . . . . . . . . . . (4) Begriffliche Notwendigkeit der Beschränkung des Versichertenkreises auf bestimmte Personen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Schutzbedürftigkeit des versicherten Personenkreises? . . . . (b) Beschränkung auf einen Bevölkerungsausschnitt? . . . . . . . . (c) Beschränkung auf bestimmte „Formen“ der Einkommenserzielung durch Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Einbeziehung von Selbständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Einbeziehung von Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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193 194 195 196 196 198 199 201 201 201 202 203 203 206 208 209 209 210 212 213 214 214 219 220 220 229 231 231 233

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Inhaltsverzeichnis (d) Beschränkung des versicherten Personenkreises aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (aa) Wandlung des Sozialversicherungsbeitrages in eine Steuer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (bb) Unzulässiges In-Konkurrenz-Treten des Sozialversicherungsbeitrages zu Steuern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Organisatorische Inhaltsmerkmale von „Sozialversicherung“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 aa) Sozialversicherung als staatliche Institution; „staatliche“ Organisationsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 bb) Durchführung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts als Strukturmerkmal? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 (1) Herleitung aus dem Wesen, insbesondere aus dem Versicherungscharakter der Sozialversicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 (2) Herleitung aus bzw. in Verbindung mit Art. 87 Abs. 2 GG? . . 255 (a) „Zusammenschau“ von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 (b) Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 (aa) Verhältnis zwischen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . 257 (bb) Verhältnis zum Landesgesetzgeber im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 cc) Verselbständigung des Versicherungsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . 265 d) Zusammenfassung zu den Inhaltsmerkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 e) Reichweite der Kompetenz und im Zusammenhang mit der „Sozialversicherung“ stehende Regelungsbereiche (insb. „Kassenarztrecht“) . 270 5. Abschließende Betrachtung zur Einstufung von „Sozialversicherung“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als „(Gattungs-)Begriff“ oder als „Typus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

II.

Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG . . . . . . . 274

III. „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Landesgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Keine abschließende Regelung durch Bundesgesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Insbesondere: Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe . . . . . . . . . . . . . 275 a) „Sozialversicherung“ oder öffentlich-rechtliche Versicherung „eigener Art“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Einbeziehung der berufsständischen Versorgung in die Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Inhaltsverzeichnis IV. Materielle Legitimationswirkung der grundgesetzlichen Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung einer materiellen Legitimierungswirkung von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rein formelles Kompetenzverständnis in der Anfangszeit des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielles Kompetenzverständnis in Rechtsprechung und Literatur im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielles Kompetenzverständnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielles Kompetenzverständnis im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritische Stimmen bzgl. eines materiellen Kompetenzverständnisses . . d) Fazit der Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Materielles Kompetenzverständnis für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ im speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ablehnung einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung? . . . bb) Annahme einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung . . . . . b) Bundessozialgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Stellungnahme zum Problemkomplex einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur materiellen Wirkkraft von grundgesetzlichen Kompetenznormen . . aa) Generelle materielle Wirkkraft grundgesetzlicher Kompetenznormen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenzierende Betrachtung nach allgemeinen Kriterien; Fallgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausnahmen in begründeten Einzelfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Spezifische Benennung bestimmter grundrechtsrelevanter Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ausdrücklicher Wille des Verfassungsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verfassungsauftrag zur positiven Kompetenzwahrnehmung . . . dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Reichweite einer materiellen kompetentiellen Legitimationswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen für die materielle Wirkkraft der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Spezifische Benennung bestimmter grundrechtsrelevanter Wirkungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sozialversicherung als Verfassungsauftrag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

280 281 284 284 284 286 288 290 291 291 291 295 298 299 300

301 301 301 308 310 310 311 312 314 314 315 315 316

14

Inhaltsverzeichnis (1) Aus der Verwaltungskompetenzregelung des Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Aus Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wille des Verfassungsgebers zu materieller Absicherung der Sozialversicherung; „Traditionsargument“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sonstige Aspekte, insb. Quantität der Nennung? . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine materielle Legitimationswirkung für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2, Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG . . b) Reichweite einer kompetentiellen materiellen Legitimationswirkung im Falle ihrer Anerkennung für die Materie „Sozialversicherung“ . . . .

317 319 321 326 330 331 331 332

Abschnitt 2 Andere Gesetzgebungskompetenzen für soziale Vorsorge und ihre Abgrenzung zur „Sozialversicherung“ i. S. v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG I.

II.

334

„Öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zur „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) . . . . . . 3. Kompetenz für eine steuerfinanzierte „Quasi-Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335 335 339

„Versorgung“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff „Versorgung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG sowie weite, auch „Versorgung“ umfassende Auslegung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung von „Versorgung“ zu „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340 340

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen“ als Teil des „Rechts der Wirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines zum „Recht der Wirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Privatrechtliches Versicherungswesen“ als Teil des Rechts der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung zum „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen“ einschließlich „Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Abgrenzung“ nach den unterschiedlichen Versicherungsinstitutionen b) Abgrenzung nach allgemeinen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Organisationsform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art der Prämienkalkulation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art des Finanzierungssystems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

342 343 344 344 347 348 348 350 351 353 353

Inhaltsverzeichnis dd) ee) ff) gg)

Im „Wettbewerb mit anderen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Kein) Versicherungszwang oder Kontrahierungszwang? . . . . . . . . . Abgrenzung nach der Zielsetzung bzw. den hierzu angewandten Arbeitsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unterscheidung verschiedener Wirtschaftsformen . . . . . . . . . . . . (2) „Wirtschaft“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG als ökonomisch-rationale, gewinnorientierte Erwerbswirtschaft (Privatwirtschaft) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) „Gemeinwirtschaft“ als Gegensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 353 354 356 356 356

358 361 363

Abschnitt 3 Gesetzgebungskompetenzen für die Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturen auf die Privatversicherung

365

I.

Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturelemente auf die Privatversicherung (Beispiele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

II.

Problematik hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG („privatrechtliches Versicherungswesen“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

III. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur privaten Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 IV. Bewertung der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur privaten Pflegeversicherung und der Reichweite des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG . . . . . . . . . . . 371 V.

„Privatwirtschaftskonforme“ Regelungen als „Recht der Wirtschaft/privatrechtliches Versicherungswesen“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG . . . . . . . . . 373

VI. „Privatwirtschaftseliminierende“ Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beseitigung der „privatwirtschaftstypischen“ Arbeitsweisen oder Zielsetzungen; Schaffung einer privaten „Quasi-Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . 2. Exemplarische Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nivellierung der Prämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedarfsfallorientierte Prämienkappung, wie etwa im Rahmen des sog. „Basistarifs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Regelungen des „Basistarifs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewertung dieser Regelungen hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gemeinsamkeiten mit den Regelungen zur privaten Pflegepflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterschiede zu den Regelungen der privaten Pflegepflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375 375 375 375 377 377 380 380 381

16

Inhaltsverzeichnis (3) Unmaßgeblichkeit der eventuellen Möglichkeit zur „Quersubventionierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mögliche Gesetzgebungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . b) „Öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG . . . . . . . . . . . . . c) „Versorgung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Hybridkompetenzen“, insbesondere aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 in Verbindung mit Nr. 12 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) „Überführung in Gemeinwirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entstehungsgeschichte und überkommenes Verständnis von Art. 15 GG vor allem als „Sozialisierungsermächtigung“ . . . . . . . . . . . . bb) Aktuelles, modernes Verständnis des Art. 15 GG vor allem als „Sozialisierungsvermeidungsnorm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Tatbestandsmerkmale des Art. 15 GG resp. des korrespondierenden Kompetenztitels in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG . . . . . . . . . . . (1) Überführung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines zum Begriffsinhalt von „Gemeinwirtschaft“ (b) Gemeineigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Andere Formen der Gemeinwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) „Gemeinwirtschaft“ im engen oder im weiten Sinne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Konsequenz für „privatwirtschaftseliminierende“ Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die in Gemeinwirtschaft überführbaren Gegenstände (insbesondere „Produktionsmittel“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Enges oder weites Verständnis des Begriffes „Produktionsmittel“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Auslegung des Begriffes „Produktionsmittel“ im Sinne von Art. 15/74 Abs. 1 Nr. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Wortlautauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Sinn und Zweck von „Sozialisierungen“ im Sinne des Art. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Konsequenzen für den Begriff „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Ergebnis der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ergebnis hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383 384 385 385 387 388 390 392 393 402 403 403 405 405 406

412 415 415 417 417 419 421 422 422 426 429 430

Inhaltsverzeichnis (4) Exkurs: Materielle Schranken für die Überführung in Gemeinwirtschaft nach Art. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zum Zwecke der Vergesellschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Pflicht zur Entschädigung und deren Reichweite . . . . . (bb) Höhe der Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Verbot der Administrativsozialisierung . . . . . . . . . . . . . (c) Sozialisierungseignung, Sozialisierungsreife . . . . . . . . . . . . . (d) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Kein Dispens vom Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . (bb) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 430 431 432 433 436 440 442 443 443 445 447 448 450

VII. „Einvernehmliche“ Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 3. Teil

Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben für die „Sozialversicherung“

453

I.

Die Regelungen der Art. 83 ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

II.

Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über die Regelungsgehalte des Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . 2. Föderaler Gehalt: Verteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG: mittelbare Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG: mittelbare Landesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . c) Nicht-länderübergreifende Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Organisatorischer Gehalt: bundes- oder landesunmittelbare „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kein begriffsnotwendiges Merkmal für „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Obligatorische mittelbare Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Länderübergreifende Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nicht-länderübergreifende Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . c) „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Untechnischer, weitgefaßter Sammelbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

455 455 456 456 457 459 459 459 460 460 460 462 462

18

Inhaltsverzeichnis bb) Privatrechtliche Organisationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beliehene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. (Garantie der) Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Selbstverwaltung als „juristische“ und/oder als „politische“ Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungsrechtliche Absicherung der „sozialen Selbstverwaltung“? . . aa) Absicherung durch Sozialstaats- oder Demokratieprinzip? . . . . . . . bb) Absicherung durch Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Juristische“/„rechtliche“ Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Politische“ Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Keine Garantie der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

464 466 467 467 468 468 469 469 471 471

III. Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472

4. Teil

Die Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

473

I.

Allgemeines zu Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

II.

Gehalt als Lastenverteilungsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474

III. Sonstige Gehalte, insbesondere Einstandspflichten des Bundes? . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Zuschußpflicht des Bundes nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG? . . a) Keine allgemeine Zuschußpflicht des Bundes aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG und Zuschüsse für „versicherungsfremde Leistungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Anspruchsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG und Binnentransfers zwischen Sozialversicherungsträgern (Risikostrukturausgleich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Keine materielle Wirkung hinsichtlich Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuschußpflicht des Bundes in besonderen „Krisensituationen“ (Garantiehaftung des Bundes)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

478 478 478 479 480 481 482 482

5. Teil

Zusammenfassung in Leitsätzen

485

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

506

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abs. a. E. a. F. AfP Anm. AnwBl. AO AOK AöR Art. ASP Aufl. Az. BayVBl. BayVerfGH BayVGHE II

BB Bd. begr. BFH BFHE BGB BGBl. I BGBl. III/FNA

BGBl.-NdtB BGH BGHZ

andere(r) Ansicht am angegebenen Ort (nur verwendet bei Verweis innerhalb derselben Fußnote oder auf die unmittelbar vorhergehende Fußnote) Absatz am Ende alte Fassung Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (ehemals: Archiv für Presserecht) Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung Allgemeine Ortskrankenkasse Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Artikel Arbeit und Sozialpolitik (Zeitschrift) Auflage Aktenzeichen Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, des Bayerischen Dienststrafhofs und des Bayerischen Gerichtshofs für Kompetenzkonflikte), Neue Folge, II. Teil: Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Band begründet Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Teil I Fundstellennachweis A, Bundesrecht ohne völkerrechtliche Vereinbarungen, in fortführendem Zusammenhang anschließend an Bundesgesetzblatt Teil III Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

20 BR-Drucks. BremVerf BSG BSGE bspw. BT-Drucks. Buchholz BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerfG-Kammer BVerwG BVerwGE bzw. CDU CSU dems. dens. ders. DJ DÖV DRiZ DRV DVBl. Einl. Erl. ErsK etc. e.V. f. FDP ff. Fn. gem. GesR GewArch GG ggf. GKV GKV-WSG

Abkürzungsverzeichnis Drucksachen des Deutschen Bundesrates Verfassung der Freien Hansestadt Bremen Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts beispielsweise Drucksachen des Deutschen Bundestages Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, begr. v. Karl Buchholz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Eine Auswahl Bundesverfassungsgericht (Kammerentscheidung) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Christlich-Demokratische Union Christlich-Soziale Union demselben denselben derselbe Deutsche Justiz (Amtliches Blatt der deutschen Rechtspflege) Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung Deutsche Rentenversicherung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Einleitung Erläuterung(en) Die Ersatzkasse (Zeitschrift) et cetera eingetragener Verein folgende (Seite), folgender (Paragraph), etc. Freie Demokratische Partei folgende (Seiten, Paragraphen, etc.) Fußnote gemäß Gesundheitsrecht (Zeitschrift) Gewerbearchiv (Zeitschrift) Grundgesetz gegebenenfalls Gesetzliche Krankenversicherung Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz) vom 26.3.2007 – BGBl. I, S. 378

Abkürzungsverzeichnis GKV-WSG-E GMH GS-KPSt. GVBl. NW HessVerf h. M. hrsg. Hrsg. Hs. insb. i. S. d. i. S. v. JöR (n. F.) Jura JuS JZ KBV KrV KSVG KVG KVLG 1989 KZBV lit. Ls. m. a. W. MedR Mio. Mrd. m. w. N. n. F. NJW Nr. NVwZ NW NZS o. ä. OVG PflVG PKV PKV-Verband PreußALR

21

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV, BT-Drucks. 16/3100, 16/3950, 16/4020, 16/4200 Gewerkschaftliche Monatshefte Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Verfassung des Landes Hessen herrschende Meinung herausgegeben Herausgeber Halbsatz insbesondere im Sinne des im Sinne von Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart – Neue Folge Jura – Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung Kassenärztliche Bundesvereinigung Die Krankenversicherung (Zeitschrift) Gesetz über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten (Künstlersozialversicherungsgesetz) Krankenversicherungsgesetz Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung litera Leitsatz mit anderen Worten Medizinrecht (Zeitschrift) Million(en) Milliarde(n) mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Sozialrecht oder ähnliches Oberverwaltungsgericht Gesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter Private Krankenversicherung Verband der privaten Krankenversicherung e.V. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten

22 resp. RG RGBl. RGBl. I RGZ RiA Rn. RPG RT-Drucks. RVO s. S. scil. SDSRV SGb SGB I, II, III, etc. sog. SozFort SozSich SozVers SPD st. Rspr. u. u. a. Urt. USK v. VAG VAG [2009] VerBAV Verf. VersR VG VGH vgl. Vorb. VSSR VVDStRL VVG

Abkürzungsverzeichnis respektive Reichsgericht Reichsgesetzblatt (bis 1921) Reichsgesetzblatt Teil I (1922–1945) Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Das Recht im Amt (Zeitschrift) Randnummer(n) Recht und Politik im Gesundheitswesen (Zeitschrift) Sammlung sämtlicher Drucksachen des Reichstags Reichsversicherungsordnung siehe Seite/Seiten; innerhalb von Normen: Satz scilicet Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes e.V. Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch – Erstes Buch, Zweites Buch, Drittes Buch, etc. so genannt Sozialer Fortschritt (Zeitschrift) Soziale Sicherheit (Zeitschrift) Die Sozialversicherung (Zeitschrift) Sozialdemokratische Partei Deutschlands ständige Rechtsprechung und und andere/unter anderem Urteil Urteilssammlung für die gesetzliche Krankenversicherung von/vom Versicherungsaufsichtsgesetz Versicherungsaufsichtsgesetz, in der gemäß Art. 46 GKV-WSG ab 1.1.2009 geltenden Fassung Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen Verfasser Versicherungsrecht (Zeitschrift) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vorbemerkung(en) Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Versicherungsvertragsgesetz

Abkürzungsverzeichnis VVG [2009]

VW WiR z. B. ZBR ZFSH/SGB ZfV ZHR ZIAS ZPO ZRP ZSR ZVersWiss

23

Versicherungsvertragsgesetz, in der gemäß Art. 46 GKV-WSG und Art. 10, 11, 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11.2007 – BGBl. I, S. 2631 – ab 1.1.2009 geltenden Fassung Versicherungswirtschaft (Zeitschrift) Wirtschaftsrecht – Beiträge und Berichte aus dem Gesamtbereich des Wirtschaftsrechts (Zeitschrift) zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Sozialrecht in Deutschland und Europa (ehemals: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch) Zeitschrift für Versicherungswesen Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Sozialreform Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft

Einleitung und Gang der Untersuchung Die Vorsorge gegen elementare Lebensrisiken wie Krankheit, Alter, Unfälle, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit ist ein essentielles Anliegen für jeden Menschen. Als wichtigste Vorsorgeform besteht hierzu die Versicherung. Die Absicherung derartiger Lebensrisiken im Wege einer Versicherung erfolgt in Deutschland über zwei unterschiedliche Versicherungssysteme, weshalb man insoweit von einer bipolaren Versicherungsordnung sprechen kann: Zum einen das vornehmlich auf privaten Versicherungsunternehmen basierende System der Privatversicherung, welches neben sonstigen versicherbaren Risiken auch – mit Ausnahme der Arbeitslosigkeit – die oben genannten Lebensrisiken etwa im Wege einer privaten Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung absichert. Und zum anderen das von Körperschaften des öffentlichen Rechts getragene, staatliche System der Sozialversicherung mit seinen Zweigen der gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung. Vor allem die Sozialversicherung ist von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, was sich allein rein praktisch gesehen daran festmacht, daß in ihr der überwiegende Teil der Bevölkerung – zumeist zwangsweise – versichert ist. Von der ca. 82,5 Millionen1 Menschen umfassenden Bevölkerung der Bundesrepublik waren im Jahre 2006 in der gesetzlichen Krankenversicherung 70,5 Mio. Menschen versichert2, im Jahre 2005 in der gesetzlichen Rentenversicherung 51,7 Mio.3, im Jahre 2004 in der gesetzlichen Unfallversicherung 57,8 Mio.4 sowie im Jahre 2005 in der sozialen Pflegeversicherung 70,6 Mio. Menschen5. Die Sozialversicherung bewegt zudem erhebliche Geldsummen: Im Jahre 2004 beliefen sich die gesamten Einnahmen bzw. Ausgaben der Sozialversicherungszweige auf jeweils über 470 Mrd. A, die gesamten geleiste1 Bevölkerungszahl im Jahre 2005, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 28, 34. 2 Einschließlich mitversicherter Familienangehöriger der Mitglieder, siehe ausführlich unten, 1. Teil, II, 3. 3 Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Rentenversicherung in Zahlen 2007, Berlin 2007, S. 31. 4 Ohne Schülerunfallversicherung, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 200. 5 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 210.

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Einleitung und Gang der Untersuchung

ten Beiträge auf ca. 450 Mrd. A, was etwa einem Fünftel des Bruttoinlandsproduktes (im Jahre 2004: 2.216 Mrd. A) entspricht.6 Und sie steht in umfangreichen Rechtsbeziehungen zu den in ihr Versicherten sowie den Leistungserbringern und zeitigt Auswirkungen auf die zu ihr „in Konkurrenz“ stehende Privatversicherung oder auf sonstige Bereiche der Privatwirtschaft wie etwa im Bereich der Krankenversicherung die Hersteller von Arzneimitteln oder medizinischen Heil- und Hilfsmitteln. Die Sozialversicherung ist aber auch – und dies verstärkt in den letzten Jahren – Gegenstand anhaltenden und nachhaltigen Reformbedarfs. Die Gründe dafür sind vielfältig, bedürfen hier aber keiner vertieften Analyse. Genannt seien nur etwa das Stichwort „Kostenexplosion“ hinsichtlich der Leistungen, zum Beispiel im Bereich der medizinischen Versorgung, die zunehmende Überalterung der Gesellschaft mit der Folge wachsenden Leistungsbedarfs bei gleichzeitig dünner werdender Basis der Beitragszahler, ferner die Kopplung des Beitragsaufkommens an den steten Schwankungen unterliegenden Faktor Arbeit.7 Besonders in der gesetzlichen Krankenversicherung läßt sich dieser Reformbedarf seit Jahrzehnten ausmachen. In den letzten 30 Jahren hat der Gesetzgeber durch über 50 größere Gesetze mit weit über 7000 Einzelbestimmungen Hand an sie legen müssen8, zuletzt mit der Gesundheitsreform 2007 in Gestalt des „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG)“ vom 26.3.20079. Noch mit dem zuvor ergangenen Reformwerk, dem „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG)“ vom 14. November 200310, war der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß dieses Gesetz die gesetzliche Krankenversicherung nur „mittelfristig“ stabilisieren würde, und hatte konstatiert, daß „langfristig [. . .] weitere Weichenstellungen zur nachhaltigen Finanzierung der GKV erfolgen müssen“11. Ob ein solcher Befund auch hinsichtlich des GKV-WSG angezeigt ist, wird sich zeigen müssen, ist aber angesichts der bisherigen Reformfrequenz in der gesetzlichen Krankenversicherung eher nah- als 6 Siehe die betreffenden Statistiken aus Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 198 ff., 630, 642. 7 Siehe ausführlicher hierzu etwa Jan Boetius, Die Krankenversicherung der Zukunft, RPG 2003, S. 47 ff.; Walter Schwarz, GKV krankt an schwachen Einnahmen, SozSich 2002, S. 49 ff.; Maximilian Wallerath, Der Sozialstaat in der Krise, JZ 2004, S. 949 ff. 8 Siehe Helge Sodan, „Gesundheitsreform“ ohne Systemwechsel – wie lange noch?, NJW 2003, S. 2581 (2582). 9 BGBl. I, S. 378. 10 BGBl. I, S. 2190, in Kraft getreten zum 1. Januar 2004. 11 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 8.9.2003, BTDrucks. 15/1525, S. 72, unter 3.

Einleitung und Gang der Untersuchung

27

fernliegend. Daher darf auch davon ausgegangen werden, daß der in den Jahren vor der Gesundheitsreform 2007 stark diskutierte Systemwechsel in der gesetzlichen Krankenversicherung hin zu einer „Bürgerversicherung“, einem „Kopfpauschalenmodell“ oder einer verstärkten Einbindung der Privatversicherung in die Erbringung „sozialen“ Versicherungsschutzes12 nicht vom Tisch ist, zumal er sich vor allem wegen der politischen Realität einer auf Kompromißfindung angewiesenen „Großen Koalition“ aus CDU/CSU und SPD im derzeitigen, 16. Bundestag nicht verwirklichen ließ13. Interessanterweise finden sich denn auch gewisse Elemente all dieser Systemvorschläge bereits im „Gesundheitskompromiß“ der Gesundheitsreform 2007 wieder.14 Gerade diese Systemdiskussion sowie die aktuelleren Reformen des Krankenversicherungssystems haben die Sozialversicherung auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht wieder verstärkt in den Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung gelenkt. Denn die Sozialversicherung ist vor allem auch ein rechtliches Gebilde, das als solches nicht außerhalb der Verfassungsordnung steht, sondern sich – wie jedes andere Rechtskonstrukt – in diese einzufügen hat. Dabei erschöpfen sich die verfassungsrechtlichen Fragestellungen keineswegs nur im Hinblick auf materiell-rechtliche Aspekte, welche das Beziehungsgeflecht der Sozialversicherung zu den von ihr „Betroffenen“ (Versicherte, Leistungserbringer, Privatwirtschaft) anbelangen und die insoweit vor allem grundrechtliche Probleme zum Gegenstand haben. Das Grundgesetz scheint der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Sozialversicherung vielmehr in besonderer Weise dadurch Rechnung zu tragen, daß es sie an immerhin drei Stellen im Rahmen seines Kompetenzengefüges ausdrücklich erwähnt und somit zum unmittelbaren Bestandteil dieses Gefüges macht: Zum einen in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, der sie als Materie der konkurrierenden Gesetzgebung ausweist, ferner in Art. 87 Abs. 2 GG, der die Verwaltungskompetenzen für den Vollzug der zur Sozialversicherung erlassenen Bundesgesetze regelt und organisatorische Vorgaben für die Träger der Sozialversicherung macht, und zuletzt in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, der eine Verteilungsregel für die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung enthält. Gesetzgeberische Maßnahmen, die die Sozialversicherung betreffen, müssen sich also zuerst an diesem Kompetenzgeflecht und den daraus resultierenden Vorgaben messen lassen, um sich als verfassungsgemäß erweisen zu können. Vergleichbares gilt – jedenfalls im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz –, soweit der Gesetzgeber die Privatversicherung in die Erbringung eines in besonderer Weise sozialen Versicherungsschutzes einbezieht bzw. hierzu verpflichtet.

12 13 14

Siehe ausführlich zu diesen Modellen unten 1. Teil, III. Siehe auch dazu noch unten, 1. Teil, III. Siehe hierzu ebenfalls unten 1. Teil, III.

28

Einleitung und Gang der Untersuchung

Dieses vom Grundgesetz vorgezeichnete Kompetenzengefüge für die soziale Vorsorge durch (Sozial- und Privat-)Versicherung soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich untersucht werden. Denn in den vielen Stellungnahmen, die sich (vor allem) dem verfassungsrechtlichen Problemkomplex „Sozialversicherung“ widmen, wird dieses Kompetenzengefüge nicht mit der gleichen Intensität durchleuchtet wie die materiell-verfassungsrechtlichen Fragestellungen, wie sie sich insbesondere im Bereich der Grundrechte ergeben. Auch wenn Letztere selbstverständlich ebenfalls hoch bedeutsam für die verfassungsrechtliche Beurteilung entsprechender gesetzlicher Maßnahmen sind, sind es die kompetenzrechtlichen Fragestellungen für diesen Bereich nicht minder, insbesondere wenn das Grundgesetz der Sozialversicherung spezifisch auf sie bezogene Kompetenznormen widmet und durch das Nebeneinander der Legislativmaterien „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und „privatrechtliches Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) auch die Bipolarität der Versicherungsordnung kompetenzrechtlich aufgreift. Daher soll mit der vorliegenden Untersuchung der kompetenzrechtliche Rahmen hierfür nachgezeichnet sowie seine konkreten Inhalte und Vorgaben ermittelt werden, und zwar auch unter Berücksichtigung der neueren Reformentwicklungen und der aufgekommenen Systemdiskussion. Zahlreiche, im Hinblick auf die Sozialversicherung entstehende verfassungsrechtliche Probleme wirken sich nämlich bereits auf der kompetenzrechtlichen Ebene aus oder sind hier zumindest problematisch: Bezüglich der Gesetzgebungskompetenzen stellt sich insoweit etwa die grundlegende Frage, was überhaupt „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist, wodurch also dieser „verfassungsrechtliche Gattungsbegriff“ inhaltlich – sowohl hinsichtlich seiner „sozialen“, als auch hinsichtlich seiner „Versicherungs“Komponente – determiniert ist und welche Ausprägungsformen des einfachgesetzlichen Systems „Sozialversicherung“ überhaupt von ihm erfaßt bzw. nicht mehr erfaßt sind oder wären (was beispielsweise hinsichtlich einer „Bürgerversicherung“ strittig ist), welche Strukturmerkmale nur typische, aber nicht begriffsnotwendige sind und ob der Terminus „Sozialversicherung“ überhaupt einen hinlänglich beschreibbaren Begriffsinhalt aufweist oder nicht vielmehr nur einen allenfalls typologisch umschreibbaren, sog. Typus darstellt. Problematisch ist hier ferner, um nur einiges beispielhaft zu nennen, der durch ihre sozialen Modifizierungen von der Privatversicherung erheblich abweichende „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung, die Bedeutung des in ihr dadurch regelmäßig durchbrochenen „Versicherungsprinzips“, die Frage einer „Entversicherung“, z. B. durch sog. „versicherungsfremde Leistungen“ oder „Fremdlasten“, oder potentielle Konflikte mit den Gesetzgebungskompetenzen der Finanzverfassung – insbesondere hinsichtlich Steuern – bei weiterer Ausdehnung des Versichertenkreises. Zu beleuchten sind auch die organisatorischen Vorgaben für die Sozialversicherung, wobei insbesondere die zugleich die Verwaltungskom-

Einleitung und Gang der Untersuchung

29

petenzen regelnde Norm des Art. 87 Abs. 2 GG von Belang ist. In diesem Zusammenhang stellen sich beispielsweise die Fragen, wie der „Körperschafts“Begriff in Art. 87 Abs. 2 GG auszulegen ist, ob und inwieweit Privatisierungen im Bereich der Sozialversicherung möglich sind und ob ihre „soziale Selbstverwaltung“ verfassungsrechtlich abgesichert ist. Ferner ist im Hinblick auf die Organisationsform der Sozialversicherung auch das generelle Verhältnis von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und den organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG zu klären, etwa weil die Landesgesetzgebung sich grundsätzlich ebenfalls auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen kann, aber nicht durch Art. 87 Abs. 2 GG gebunden wird. Hinsichtlich der Lastenverteilungsregel des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG stellen sich unter anderem die Fragen, ob aus dieser Norm zugleich eine „Garantiehaftung“ des Bundes für die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung resultiert und ab welcher Grenze eine Steuerfinanzierung dem Charakter als „Sozialversicherung“ und damit der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entgegensteht. Soweit in der Privatversicherung durch gesetzgeberische Maßnahmen Strukturen etabliert werden, die der Sozialversicherung ähneln und welche die Privatversicherung sozial aufladen, stellt sich in kompetenzrechtlicher Hinsicht die Frage, ob durch derartige Angleichungen der Privat- an die Sozialversicherung der Boden der Gesetzgebungsmaterie „privatrechtliches Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) verlassen wird bzw. ab welchem Maß an sozialer Inpflichtnahme er nicht mehr in Anspruch genommen werden kann, und welche anderen Kompetenztitel dann gegebenenfalls in Betracht kommen. Außer Betracht bleiben demgegenüber insbesondere grundrechtliche und sonstige materiell-verfassungsrechtliche Problemstellungen; solche werden nur beleuchtet, soweit sie in engem Zusammenhang mit den den eigentlichen Untersuchungsgegenstand bildenden kompetenzrechtlichen Aspekten stehen. So wird etwa zu erörtern sein, ob und inwieweit durch die ausdrückliche Verortung der Materie „Sozialversicherung“ an immerhin drei Stellen im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes zugleich eine materiell-rechtliche, zumindest dem Grunde nach bestehende „Billigung“ der Sozialversicherung durch das Grundgesetz bzw. den Verfassungsgeber erfolgt ist, die sich insoweit beispielsweise auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von durch die Sozialversicherung bewirkten Grundrechtseingriffen auswirken könnte. Da die Krankenversicherung angesichts der oben aufgezeigten Entwicklung exemplarisch für den Reformbedarf, die Reformen und die Systemdiskussion in der Sozialversicherung, sowie angesichts der Entwicklungen der Gesundheitsreform 2007 auch für die Anreicherung eines privaten Versicherungszweiges mit sozialen Elementen steht, soll auf sie das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung gelenkt sein, sie also als exemplarischer Zweig der Sozialversicherung (sowie der Privatversicherung) für diese Untersuchung herhalten – was aber weder der

30

Einleitung und Gang der Untersuchung

Allgemeingültigkeit der vorliegenden Arbeit für die Sozialversicherung als Ganzem entgegensteht, noch der in ihrem Rahmen erfolgenden Bezugnahme auf andere Sozialversicherungszweige, wo dies für den Untersuchungsgegenstand erforderlich ist. Der Gang der Untersuchung wird sich dabei wie folgt gliedern: Im Ersten Teil wird das bipolare, in die gesetzliche Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung und in die private Krankenversicherung untergliederte deutsche Krankenversicherungssystem vorgestellt werden, einschließlich der aktuellen Gesundheitsreform 2007 und der zuvor geführten Systemdiskussion. Hierbei wird vor allem auch dessen historische Entwicklung darzustellen sein, da Leitbild für die „Sozialversicherung“ auf Ebene des Grundgesetzes die „klassische“, vom Verfassungsgeber vorgefundene Sozialversicherung ist, die ihre Wurzeln in der maßgeblich auf Otto von Bismarcks Betreiben zurückgehenden Sozialversicherungsgesetzgebung aus dem Jahre 1883 hat. Auf diese, gleichsam „vor die Klammer gezogenen“ Ausführungen zur Historie wird im Rahmen der nachfolgenden Untersuchungen immer wieder Bezug zu nehmen sein, soweit dies sich als erforderlich darstellt. Im Zweiten Teil werden dann die Gesetzgebungskompetenzen untersucht: Im Unterabschnitt 1 diejenige für „die Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, im Unterabschnitt 2 die übrigen im Bereich sozialer Vorsorge in Betracht kommenden Gesetzgebungskompetenzen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG: „Vorsorge“, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG: „öffentliche Fürsorge“, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG: „Recht der Wirtschaft“/„privatrechtliches Versicherungswesen), einschließlich deren Abgrenzung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, und im Unterabschnitt 3 der gesonderte Problemkomplex der Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturen auf die Privatversicherung und die hierdurch aufgeworfenen Probleme im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen. Im Dritten Teil werden die verwaltungskompetenzrechtlichen und organisatorischen Vorgaben insbesondere des Art. 87 Abs. 2 GG beleuchtet, und der Vierte Teil widmet sich der Lastenverteilungsregel des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Im letzten und Fünften Teil erfolgt eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse in Leitsätzen. Abschließend sei an dieser Stelle noch klargestellt, daß mit den durch diese Untersuchung ermittelten Ergebnissen keine über die rein verfassungsrechtliche Beurteilung hinaus gehenden Aussagen über die (sozial)politische Opportunität oder die wirtschaftlich-funktionale Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen auf dem Gebiet der Sozialversicherung oder auch der Privatversicherung getroffen werden sollen oder können. Dies zu beurteilen, sind andere berufen.

1. Teil

Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem als exemplarischer Bereich der Vorsorge gegen soziale Risiken Das deutsche Krankenversicherungssystem in seiner derzeitigen und in seinen Grundzügen bereits lange existierenden Form ist ein zweigegliedertes, duales System. Es gliedert sich in die Private Krankenversicherung (PKV) und das staatliche Gesundheitssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als Teil der Sozialversicherung. Als exemplarischer Bereich der Vorsorge gegen soziale Risiken soll es hier – wie auch schon in der vorhergehenden Einleitung dargelegt worden ist – vor allem deshalb schwerpunktmäßig beleuchtet werden, weil sich an seiner Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte der stetige Reformbedarf und die daraus resultierenden, periodisch wiederkehrenden Reformen sowie die aufgekommene Systemdiskussion und die damit jeweils einhergehende Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Beurteilung am stärksten festmachen lassen. Als exemplarisch kann es ferner auch deshalb bezeichnet werden, weil die Vorsorge gegen das Risiko Krankheit auf die längste Tradition aller (Sozial-)Versicherungszweige zurückblicken kann: Zwar umfaßte die unter Otto v. Bismarck im Jahre 1883 geschaffene Sozialversicherung neben der Krankenversicherung auch die Absicherung von Unfällen und des Risikos „Alter“. Aber im Gegensatz zu den anderen beiden Versicherungszweigen konnte die Krankenversicherung auf eine bis in die Zeit des mittelalterlichen Zunftwesens zurückreichende Tradition und auf ein bereits bestehendes, wenn auch noch ausbaubedürftiges System von Krankenkassen blicken, wohingegen die Absicherung gegen Unfälle in Gestalt des bis dahin geltenden, wenig tauglichen Haftpflichtgesetzes gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte und eine Altersversicherung komplett neu zu schaffen war. Die übrigen der heutigen Zweige der Sozialversicherung traten erst deutlich später hinzu: 1927 die Arbeitslosenversicherung und 1995 die Pflegeversicherung. Die exemplarische Bedeutung der Vorsorge gegen das Krankheitsrisiko spiegelt sich zudem darin wieder, daß seine Absicherung auf privatem Wege, sprich über die private Krankenversicherung, frühzeitige, bis ins Mittelalter, ja sogar ins Altertum zurückreichende Bedeutung erlangte15. 15 Siehe Erich Tauper, Die Entwicklung der privaten Krankenversicherung – Porträt eines Zweiges der Versicherungswirtschaft, ASP 1963, S. 329 ff.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

I. Historische Entwicklung des bipolaren Krankenversicherungssystems in Deutschland Ein Überblick über die historische Entwicklung vor allem der vom Staat bereitgestellten Krankenversicherungssysteme ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil die im Grundgesetz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 sowie Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG erwähnte Materie „Sozialversicherung“ maßgeblich durch die traditionelle, klassische Sozialversicherung geprägt ist und jedenfalls in ihren wesentlichen Strukturelementen diesem Leitbild folgt bzw. folgen muß, um als „Sozialversicherung“ in diesem Sinne gelten zu können16. Mit dieser „klassischen“ Sozialversicherung ist dabei die Ende des 19. Jahrhunderts auf maßgebliches Betreiben Otto v. Bismarcks hin eingerichtete, staatliche Sozialversicherung gemeint, die den Endpunkt einer bereits im mittelalterlichen Zunftwesen begonnenen Entwicklung von Einrichtungen zur Absicherung gegen soziale Risiken wie insbesondere Krankheit darstellte und die damit zugleich den Ausgangspunkt bildete für die vom Grundgesetzgeber „vorgefundene“17 und in den genannten Grundgesetzbestimmungen erwähnte und normierte Sozialversicherung, deren wesentliche Strukturelemente sich auch in unserem heutigen Sozialversicherungssystem widerspiegeln und dieses durchziehen. Für das Verständnis der grundgesetzlichen Materie „Sozialversicherung“ ist daher der Blick in die Geschichte dieses Systems unerläßlich. Zugleich wird dabei die Entwicklung des anderen Pols der im Wege einer „Versicherung“ betriebenen Vorsorge gegen soziale Risiken wie Krankheit etc. mitzubeleuchten sein, nämlich die der privaten Krankenversicherung. Denn zum einen war gerade in der Frühzeit sozialer Absicherungsinstitutionen eine klare Trennlinie zwischen staatlicher und privater (Ver)Sicherung – wie sich im folgenden zeigen wird – kaum auszumachen, und zum anderen ist auch das historische Nebeneinander dieser beiden Systeme nicht ohne Belang für die Bedeutung und das Verständnis gerade der „Sozialversicherung“, die von vornherein und auch heute noch einen sozialen Gegenpol zur erwerbswirtschaftlich operierenden Privatversicherung darstellte bzw. darstellt. 1. Vom Mittelalter bis hin zum Preußischen Allgemeinen Landrecht Erste Ansätze eines organisierten Krankenschutzwesens entstanden bereits im Mittelalter, und zwar neben kirchlichen bzw. klösterlichen Hilfseinrichtungen vor allem auf Grundlage von berufsständischen Vereinigungen wie den Knappschaften im Bergbau-, den Zünften und Innungen im Handwerkswesen oder 16 17

Vgl. BVerfGE 11, S. 105 (111 f.) – st. Rspr. Siehe BVerfGE 113, S. 167 (219).

I. Historische Entwicklung in Deutschland

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sonstigen berufsständischen Selbsthilfeeinrichtungen wie etwa den sog. Bruderschaften oder Gesellenvereinen („Gesell[en]schaften“). Die Möglichkeit zu privater Absicherung gegen Krankheit resultierte vor allem daraus, daß diese Einrichtungen umfassende gegenseitige Unterstützungs- und Treuepflichten ihrer Mitglieder, nicht nur bezogen auf den Krankheitsfall, sondern generell gegen die verschiedenen Wechselfälle des Lebens, statuierten.18 Bei Erkrankungen erfolgten finanzielle Unterstützungsleistungen, etwa in Form von Darlehen, sowie Sachleistungen, beispielsweise infolge von Verträgen mit Spitälern über „Freibetten“ oder sogar durch Errichtung eigener Spitäler19. Finanziert wurden diese Leistungen aus einem zunächst auf Freiwilligkeit beruhenden, später auch zwangsweise erhobenen Beitragsaufkommen der Mitglieder dieser berufsständischen Vereinigungen. Soweit in den Satzungen oder durch Urkunden ein Rechtsanspruch auf derlei Leistungen festgelegt war, bestanden bereits zahlreiche Merkmale, wie sie auch eine Versicherung im modernen Sinne kennzeichnen.20 Durch die Verwaltung des Zunftvermögens und der Beiträge, die Aufbewahrung der notwendigen Dokumente sowie durch die Organisation der Leistungen und deren Gewährung im Bedarfsfall kam den Zünften (sowie vergleichbaren Einrichtungen) somit letztlich die Funktion von Krankenkassen zu.21 In diesen Vorsorgeeinrichtungen der Zünfte und vergleichbaren berufsständischen Vereinigungen22 werden die Anfänge der privaten Krankenversicherung gesehen, auch wenn beispielsweise die später (und bis heute) in der privaten Krankenversicherung übliche versicherungsmathematische Kalkulation noch nicht einmal ansatzweise verwirklicht war.23

18 Das Begriff „Zunft“ etwa leitet sich ab aus der Formulierung „was sich ziemt“ und brachte zum Ausdruck, daß die Berufstätigkeit der Zunftangehörigen durch feste Regeln bestimmt wurde, zu welchen auch die Unterstützung von in Not geratenen Mitgliedern gehörte, siehe hierzu Peter Koch/Christoph Uleer, Herausforderungen – Entwicklungen eines Versicherungszweiges von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1997, S. 22 f. 19 Hans Moser, Private Krankenversicherung (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/ Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 5, 3. Aufl., 1984, S. 209 (215). 20 Peter Koch/Christoph Uleer, Herausforderungen – Entwicklungen eines Versicherungszweiges von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1997, S. 22. Siehe ausführlich zum Rechtsbegriff „Versicherung“ noch unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc). 21 Peter Koch/Christoph Uleer, a. a. O., S. 22 f. 22 Beispielhaft genannt sei hier etwa das 1774 in Breslau aus privater Initiative von zwölf Handlungsdienern (vergleichbar den heutigen kaufmännischen Angestellten) gegründete „Institut zum Besten nothleidender Handlungs-Diener“, welches als beitragsfinanzierter Unterstützungsverein zur gegenseitigen Hilfe die immer wieder auftretenden Probleme der Berufskollegen (und von deren Angegörigen) bei Krankheit oder Tod durch feste Leistungen lindern sollte, siehe hierzu Udo Kruse/Silke Kruse, Gesetzliche Krankenversicherung: Die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung im Spannungsfeld zwischen Kommerz und Sozialpolitik, SozFort 2003, S. 108 (109). 23 Peter Koch/Christoph Uleer, a. a. O., S. 22.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

Staatliche, d. h. vor allem auf gesetzlicher Grundlage erfolgende Regelungen über die Absicherung im Krankheitsfalle kamen erst Ende des 18. Jahrhunderts auf, waren aber eher die Ausnahme und bezogen sich nur auf einzelne Personengruppen: So bestimmten in Preußen etwa die §§ 353 f. Teil II Titel 8 Abschnitt 3 PreußALR, daß die „Kur und Verpflegung eines eingewanderten und krank gewordenen Gesellen, er stehe bereits in Arbeit oder nicht, [. . .] wenn er selbst unvermögend ist, aus der Gesellenlade, und in deren Ermangelung aus der Gewerkscasse bestritten werden“ muß; „ist diese nicht hinreichend, so muß die Armencasse des Ortes, und bei deren Unzulänglichkeit die Stadt- oder Kämmereicasse zutreten“. Ähnliche Regelungen enthielten die §§ 213 ff. Teil II Titel 16 Abschnitt 4 PreußALR für Bergleute.24 Daneben gab es die allgemeine staatliche Armenpflege (siehe §§ 1 ff. Teil II Titel 19 PreußALR), welche aber lediglich allgemeine Grundsätze für staatliches Handeln beinhaltete, hingegen keine unmittelbaren Ansprüche begründete. Insgesamt verblieb es unter dieser Gesetzgebung dabei, daß Absicherung ganz überwiegend über die berufsständischen Selbsthilfeeinrichtungen erfolgte. Die Effektivität dieses Systems litt indes an dem relativ geringen, teils nur auf freiwilligen Spenden beruhenden Beitragsaufkommen und dem nicht seltenen Fehlen verläßlicher Leistungsrichtlinien; zudem war es eben nur auf bestimmte Personengruppen bezogen, die den betreffenden Berufsständen angehörten. Gleichwohl kann die Entstehung und die Existenz dieser berufsständischen Selbsthilfeeinrichtungen für die Entwicklung eines organisierten Krankenschutzwesens in Deutschland kaum überschätzt werden. 2. Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Geltung des Hilfskassengesetzes von 1876 Mit den gesellschaftlichen Umwälzungen in der Folgezeit des Dreißigjährigen Krieges sowie vor allem den zunehmenden Bestrebungen nach einer allgemeinen Gewerbefreiheit, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere durch die Preußische Allgemeine Gewerbeordnung vom 17. Januar 184525 sowie die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 186926 verwirklicht wurde, verloren die Zünfte und mit ihnen die von ihnen entwickelten Selbsthilfeeinrichtungen immer stärker an Bedeutung, da ihnen durch diese Entwicklungen die wirtschaftliche Grundlage entzogen wurde27. Zu24 Siehe ausführlich zu den Sozialregelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts etwa Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 29 ff. 25 GS-KPSt., S. 41. 26 BGBl.-NdtB, S. 245. 27 Dietfried Herles/Ingrid Quasdorf, Die Gesetzliche Krankenversicherung, 2004, 2.1.2 (S. 13); siehe ausführlich zum Zunftwesen und dessen Verfall Christoph Quante,

I. Historische Entwicklung in Deutschland

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dem entstand infolge der aufkommenden Industrialisierung eine neue, zahlenmäßig sehr starke Gruppe von Schutzbedürftigen, denen der Zugang zu ständischen Sozialeinrichtungen verwehrt war: die Industriearbeiter. Deren große Anzahl und die weit von heutigen Sicherheits- und Sozialstandards entfernten Arbeitsbedingungen machten ihre Absicherung gegen Gesundheitsrisiken zu einer erheblichen Notwendigkeit. Hierzu schlossen sich einerseits Arbeiter zu sog. Gewerkvereinen zusammen, welche – ähnlich den oben beschriebenen berufsständischen Einrichtungen – umfassende gegenseitige Unterstützungs- und Treuepflichten statuierten; ferner waren die Gewerkvereine als gemeinsame Interessenvertretungen die Vorläufer der heutigen Gewerkschaften.28 Parallel hierzu entstanden sog. Hilfs- oder Unterstützungskassen als Selbsthilfeeinrichtungen, deren alleiniger Zweck die Sicherung im Krankheitsfalle, bei Unfällen oder Invalidität, durch Erwerbslosigkeit oder im Alter war. Gleichzeitig entwickelten sich auch die ersten privaten Krankenversicherungen, die als geschäftsmäßig handelnde Versicherungsunternehmen Krankenschutz anboten. So wurden beispielsweise 1848 die Krankenkasse der Beamten des Berliner Polizeipräsidiums als erste private Krankenkasse und in Leipzig 1855 durch den Versicherungsmathematiker Karl Friedrich Heym die Leipziger Krankenkasse gegründet29. Allerdings blieben solche Kassen zunächst von bloß regionaler Bedeutung. Auch einzelne Betriebsunternehmer gründeten Hilfskassen und traten somit als Träger von Krankenversicherungseinrichtungen auf. Eine erste gesetzliche Kodifikation des Hilfskassenwesens beinhaltete § 144 (i.V. m. § 145) der Preußischen Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 (s. o.): er erlaubte die Beibehaltung der bereits vorhandenen Kassen und machte die Errichtung neuer Kassen von staatlicher Genehmigung abhängig. Die preußische Gesetzgebung30 gab zudem den Gemeinden die Möglichkeit, durch Ortsstatute einen Beitrittszwang für alle regional beschäftigten Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter zu den bereits bestehenden oder neu zu gründendenden Hilfs- und Unterstützungskassen festzusetzen. Mit der Errichtung eines Ortsstatutes wurden die betreffenden Kassen zu „Zwangskassen“ oder „Zwangshilfskassen“31. Die Gemeinden machten hiervon aber in der Regel wenig Gebrauch. Dies hatte seine Ursache nicht zuletzt darin, daß sie sich gegenüber Gemeinden mit Zwangskassen insoDie geistesgeschichtlichen Grundlagen und die Entwicklung der Gewerbefreiheit in Deutschland, 1984, S. 3 ff. 28 Siehe Dietfried Herles/Ingrid Quasdorf, Die Gesetzliche Krankenversicherung, 2004, 1.2.1, 1.2.2 (S. 12). 29 Siehe Hans Moser, Private Krankenversicherung (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/ Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 5, 3. Aufl., 1984, S. 209 (218). 30 Siehe § 169 der Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 – GS-KPSt., S. 41, § 56 der Verordnung „betreffend die Errichtung von Gewerberäthen und verschiedene Abänderungen der Gewerbeordnung“ vom 9. Februar 1849 – GS-KPSt., S. 93. 31 Henning Katz, Die Einführung der Sozialversicherung im Deutschen Reich, SozVers 1981, S. 277 (280).

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

weit einen Standortvorteil sicherten, als die ansässigen Unternehmer bei Fehlen eines Zwangskassensystems auch keine diesbezüglichen Beiträge an diese Kassen abführen mußten und dadurch kostengünstiger produzieren konnten32; ferner waren die betroffenen Fabrikinhaber oftmals selbst im Gemeinderat vertreten und votierten daher häufig gegen entsprechende Vorhaben33. Da infolgedessen eine umfassende Versicherung der Arbeiterschaft unerreicht blieb, ermächtigte schließlich das preußische Gesetz betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen vom 3. April 185434 (siehe dessen §§ 1 bis 3) neben den Gemeinden auch die Regierungs- bzw. Verwaltungsbehörden zur Anordnung von Kassenbeitrittszwang und zur Einrichtung von Zwangskassen. Doch auch dies vermochte dem System der Zwangshilfskassen nicht zum Durchbruch zu verhelfen35. Etwas anderes galt lediglich für das Bergarbeiterwesen, für welches durch das Gesetz betreffend die Vereinigung der Berg-, Hütten-, Salinen- und Aufbereitungs-Arbeiter in Knappschaften vom 10.4.185436 die erste landesgesetzliche öffentlich-rechtliche Arbeiterversicherung mit einheitlich organisierten Knappschaftskassen, gesetzlich festgelegten Mindestleistungen und einem gesetzlich angeordneten Beitrittszwang (siehe § 2 Abs. 2 des Gesetzes) entstand. Außerhalb des Bergarbeiterwesens blieb die Gründung von Zwangskassen dagegen die Ausnahme, vielmehr verzeichneten hier – nicht zuletzt aufgrund des aufkeimenden Liberalisierungsgedankens – die freien Hilfskassen einen regen Zulauf an Versicherungswilligen.37 Gegenüber den auf staatliche Initiative hin errichteten Zwangskassen38 hatten die freien Hilfskassen allerdings den Nachteil, daß sie bezüglich ihrer Organisation und Leistungen regelmäßig keinen vergleichbaren Regelungen unterlagen und nur sehr geringer oder gar keiner staatlichen Kontrolle unterworfen waren, so daß sie insgesamt, auch von ihrer Substanz her, oftmals nur unzulängliche Leistungen erbrachten; auch war ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit häufig nur eine eingeschränkte.39 Das Verhältnis zwischen Zwangskassen und „freien“ Hilfskassen wurde dann erstmals durch die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 32 Dietfried Herles/Ingrid Quasdorf, Die Gesetzliche Krankenversicherung, 2004, 2.1.5 (S. 14 f.). 33 Siehe Wilfried Reininghaus, Das erste staatlich beaufsichtigte System von Krankenkassen: Preußen 1845–1869, ZSR 1983, S. 271 (274). 34 GS-KPSt., S. 138. 35 Siehe hierzu auch Henning Katz, Die Einführung der Sozialversicherung im Deutschen Reich, SozVers 1981, S. 277 (280). 36 GS-KPSt., S. 139. 37 Siehe näher hierzu Henning Katz, Die Einführung der Sozialversicherung im Deutschen Reich, SozVers 1981, S. 277 (280). 38 Siehe zum Inhalt diesbezüglicher Ortsstatuten Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 34 f. 39 Siehe auch Henning Katz, Die Einführung der Sozialversicherung im Deutschen Reich, SozVers 1981, S. 277 (280).

I. Historische Entwicklung in Deutschland

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186940 geregelt, indem zum einen deren § 141 die durch Ortsstatut oder Anordnung der Verwaltungsbehörde begründete Verpflichtung von Gesellen, Gehilfen, Lehrlingen und Fabrikarbeitern, einer bestimmten (Zwangs-)Kasse beizutreten, für diejenigen aufhob, welche nachwiesen, daß sie einer anderen Kasse angehören, und indem zum anderen deren § 140 die durch Ortsstatut oder Anordnung der Verwaltungsbehörde begründete Verpflichtung der selbständigen Gewerbetreibenden, einer mit einer Innung verbundenen oder außerhalb derselben bestehenden (Zwangs-)Kasse beizutreten, generell aufhob. Allerdings ging hiermit keine gesetzliche Regelung über die Mindestanforderungen einher, die eine freie Kasse erfüllen mußte, damit die Mitgliedschaft in ihr von der Verpflichtung zur Zwangsmitgliedschaft in einer Zwangskasse befreite. Die bereits genannten Unzulänglichkeiten vieler freier Kassen, denen ein Großteil der Versicherten zugehörte, wurden somit nicht beseitigt. Im Extremfall konnte das Gesetz sogar durch Bildung nicht lebensfähiger oder gar fiktiver Kassen umgangen werden41. Diesen Mißstand auf reichsgesetzlicher Ebene zu beseitigen, bezweckten das „Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen“ vom 7.4.187642 sowie das die Gewerbeordnung ändernde Gesetz vom 8.4.187643. Das Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen („Hülfskassen“) sah vor, daß sich Kassen (sowohl Zwangs- wie auch freie Kassen), welche bestimmte, in dem Gesetz aufgestellte Mindestanforderungen bezüglich Organisation und Leistungserbringung erfüllten und damit einen gewissen qualitativen Mindeststandard aufwiesen, zu „eingeschriebenen Hilfskassen“ wurden, welche man zugleich unter staatliche Aufsicht stellte; die bis dahin entstandenen privatrechtlichen Kassen konnten somit einen „halböffentlichen Status“44 erlangen. Gegenüber anderen Kassen erfolgte eine rechtliche und finanzielle Privilegierung der „eingeschriebenen Hilfskassen“.45 Mit der praktisch zeitgleichen Änderung der Gewerbeordnung (§§ 141 ff.) bestimmte man im Grundsatz, daß durch Ortsstatut die Bildung oder der Beitrittzwang für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter zu einer bestehenden „eingeschriebenen Hilfskasse“ angeordnet werden konnte. Von einer ortstatutorisch vorgesehenen Beitrittspflicht zu befreien waren diejenigen, die den Nachweis erbrachten, einer anderen eingeschriebenen Hilfskasse zuzugehören. Doch auch diese Gesetzgebung erreichte nicht das Ziel einer Verbesserung der Lage der Arbeiter: Denn infolge der durch das Gesetz über die eingeschrie40

BGBl.-NdtB, S. 245. Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 45. 42 RGBl., S. 125. 43 RGBl., S. 134. 44 Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 77. 45 Henning Katz, Die Einführung der Sozialversicherung im Deutschen Reich, SozVers 1981, S. 277 (280); s. auch Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 46. 41

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

ben Hilfskassen vom 7.4.1876 (s. o.) aufgestellten Anforderungen an eingeschriebene Hilfskassen und der ihnen auferlegten Beschränkungen kam dieses Gesetz nicht in dem gewünschten Umfang zur Anwendung (d. h. nur relativ wenige Hilfskassen erlangten den Status als „eingeschriebene“ Hilfskasse)46, und es bewirkte sogar einen (geringfügigen) Rückgang der Anzahl insgesamt bestehender Hilfskassen sowie der in ihnen Versicherten47. Der Beitrittszwang hing wiederum vom Erlaß von Ortsstatuten ab, und die Neigung der Arbeiter zum freiwilligen Beitritt zu einer Krankenkasse war gering. Zum Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts war für das Krankenversicherungswesen in Deutschland somit folgendes kennzeichnend: Es bestand eine erhebliche, nicht leicht zu überschauende Vielfalt an Einrichtungen, die der Absicherung im Krankheitsfalle dienten (freie und Zwangskassen, eingeschriebene und nicht eingeschriebene). Eine Aufteilung in „private“ und „gesetzliche“ resp. staatliche Kranken(ver)sicherung war hier noch nicht auszumachen. Vor allem die nicht eingeschriebenen Kassen waren – nicht zuletzt wegen der relativ geringen Versicherten- bzw. Mitgliederzahlen sowie des Fehlens genauer versicherungsmathematischer oder statistischer Berechnungen – häufig in ihrer Leistungsfähigkeit sowie wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit beschränkt und damit sehr risikoanfällig48. Der als schutzbedürftig erachtete Personenkreis, d. h. insbesondere die zahlenmäßig immer größer werdende Arbeiterschaft, zeigte wenig Bereitschaft zur freiwilligen Absicherung für den Krankheitsfall auf Grundlage privater Initiative. Der staatlich angeordnete Versicherungszwang war lückenhaft weil er nur in seltenen Fällen, etwa für das Bergarbeiterwesen (s. o.), unmittelbar gesetzlich statuiert wurde, ansonsten aber vom Erlaß von regierungsbehördlichen oder gemeindlichen Ortsstatuten abhing; gerade die Gemeinden machten hiervon aber zu selten Gebrauch, auch weil sie sich über den Widerstand gemeindeansässiger Industrieller häufig nicht hinwegsetzen konnten oder wollten49. Gesetzliche Bestimmungen über das Hilfskassenwesen beschränkten sich zudem auf Arbeiter bestimmter Gewerbe; viele Arbeiter, etwa 46 Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 22; s. auch Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 46 mit näheren Zahlenangaben (Anm.: Soweit Peters dort [S. 46] davon spricht, daß es Ende 1876 die Anzahl von 5329 eingeschriebenen Hilfskassen gegeben habe, sei darauf hingewiesen, daß es sich hierbei um einen Schreibfehler handelt: wie sich auch aus seinen nachfolgenden Ausführungen ergibt, ist hiermit die Anzahl der 1876, also zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses, überhaupt bestehenden Kassen gemeint, siehe zu dieser Zahl auch Klaus Honnen, Die Anfänge der gesetzlichen Krankenversicherung, KrV 1981, S. 279; die von Peters [korrekt] angegebene Zahl der bis 1880 eingeschriebenen Hilfskassen ist mit 559 in Preußen und 321 in den übrigen Bundesstaaten deutlich geringer). 47 Siehe Horst Peters, a. a. O. 48 Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 52. 49 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 52; ders., Hundert Jahre Gesetzliche Krankenversicherung, ZSR 1983, S. 612 (616); siehe auch schon oben.

I. Historische Entwicklung in Deutschland

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die landwirtschaftlichen, waren hingegen nach wie vor von vornherein auf die häufig als demütigend empfundene Inanspruchnahme der staatlichen oder kirchlichen Armenpflege verwiesen50. Insgesamt war das Krankenversicherungssystem weniger staatlich organisiert als vielmehr bloß staatlich beaufsichtigt. 3. Die „Bismarcksche“ Sozialgesetzgebung ab 1881 Einen entscheidenden Wendepunkt nahm das deutsche Krankenversicherungssystem Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die Lösung der sich durch zunehmende wirtschaftliche Krisensituationen verschärfenden sozialen Not der Arbeiterschaft sowie die hieraus resultierenden Unruhen in der betroffenen Bevölkerungsschicht bewegten die politisch Verantwortlichen, geeignete Maßnahmen zur Lösung dieser „Sozialen Frage“ zu ergreifen. Dabei ging es nicht nur um das Problem geeigneter Absicherung im Krankheitsfalle, sondern auch um die Altersversorgung sowie die Absicherung bei Betriebsunfällen. Vor allem die Mißstände im Bereich letzterer waren eine erhebliche Triebfeder für das Nachdenken über eine umfassende soziale Ab- bzw. Versicherung der betroffenen Arbeiterschicht. Denn die bis dahin bestehende, durch das Reichshaftpflichtgesetz vom 7.6.187151 geregelte verschuldensabhängige Haftpflicht der Arbeitgeber für Betriebsunfälle machte den betroffenen Arbeitern den von ihnen zu erbringenden Verschuldensnachweis häufig unmöglich, und die die Unternehmer gegen die Folgen dieser Haftpflicht versichernden privaten Haftpflichtversicherungsgesellschaften ließen es regelmäßig auf Prozesse ankommen oder versuchten die häufig notleidenden Unfallopfer so billig wie möglich außergerichtlich zu entschädigen.52 Ob die tragenden Erwägungen für die angesichts dieser Mißstände vorangetriebenen staatlichen Sozialpolitik vornehmlich humanitär-sozialer Natur waren, oder inwieweit nicht daneben oder sogar vorrangig andere Zielsetzungen verfolgt wurden wie etwa die Eindämmung der verstärkt aufkommenden und immer größeren Zulauf erhaltenden, sozialistisch oder sozialdemokratisch geprägten Arbeiterbewegungen53 oder – wie teilweise gemutmaßt wird – die Erhaltung der Wehrfähigkeit der Bevölkerung54, mag an dieser Stelle dahinstehen. Im Ergebnis jedenfalls sah man die Notwendigkeit zum Handeln. Wegweisend in diese Richtung war die als „Kaiserliche Botschaft“ bekannt gewordene und

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Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 23. RGBl., S. 207. 52 Ausführlich hierzu Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 23 ff. 53 Siehe dazu etwa Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 53, 55; Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 26. 54 So etwa Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 49. 51

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

gerne auch als „Magna Charta der Sozialversicherung“55 bezeichnete Thronrede von Kaiser Wilhelm I., die zur Eröffnung der ersten Session der fünften Legislaturperiode des Reichstags am 17. November 1881 – bedingt durch kaiserliche Unpäßlichkeit – vom Reichskanzler Otto von Bismarck verlesen wurde. Darin heißt es unter anderem56: „. . . haben wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften des Inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. In unserem darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstags ohne Unterschied der Parteistellungen. In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im Reichstag stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Beratung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Teil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde. Immerhin aber wird auch auf diesem Wege das Ziel nicht ohne die Aufwendungen erheblicher Mittel zu erreichen sein.“

Zielsetzung und Beweggründe der nachfolgenden Sozialgesetzgebung wurden sehr anschaulich auch in der amtlichen Begründung zum (vom Reichstag aller55 Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 50; siehe auch Florian Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, ZSR 1981, S. 663. 56 Kompletter Abdruck der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 in ZSR 1981, S. 731 ff.; siehe ausführlich zu ihrer Entstehungsgeschichte Florian Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, ZSR 1981, S. 663.

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dings nicht angenommenen) ersten Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes aus dem Jahre 188257 wiedergegeben: „. . . Daß der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mitglieder annehme, ist nicht bloß eine Pflicht der Humanität und des Christentums, von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender Politik, welche das Ziel zu verfolgen hat, auch in den besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei. Zu dem Ende müssen sie durch erkennbare direkte Vorteile, welche ihnen durch gesetzgeberische Maßnahmen zu Teil werden, dahin geführt werden, den Staat nicht als eine lediglich zum Schutz der besser situierten Klassen der Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende Institution aufzufassen. Das Bedenken, daß in die Gesetzgebung, wenn sie dieses Ziel verfolge, ein sozialistisches Element eingeführt werde, darf von der Betretung dieses Weges nicht abhalten. Soweit dies wirklich der Fall, handelt es sich nicht um etwas Neues, sondern um die Weiterentwicklung der aus der christlichen Gesittung erwachsenen modernen Staatsidee, nach welcher der Staat neben der defensiven, auf den Schutz bestehender Rechte abzielenden, auch die Aufgabe obliegt, durch zweckmäßige Einrichtungen und durch Verwendung der zu seiner Verfügung stehenden Mittel der Gesamtheit das Wohlergehen aller seiner Mitglieder und namentlich der schwachen und hilfsbedürftigen positiv zu fördern. In diesem Sinne schließt namentlich die gesetzliche Regelung der Armenpflege, welche der moderne Staat im Gegensatz zu dem des Altertums und des Mittelalters als eine ihm obliegende Aufgabe anerkennt, ein sozialistisches Element in sich, und in Wahrheit handelt es sich bei den Maßnahmen, welche zur Besserung der Lage der besitzlosen Klassen ergriffen werden können, nur um eine Weiterentwicklung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zugrunde liegt.“

Die im Anschluß hieran verwirklichte und maßgeblich auf Bismarck zurückgehende58 Sozialgesetzgebung führte nunmehr eine staatliche, dreigeteilte Sozialversicherung ein, deren drei Hauptglieder bereits in der oben zitierten Kaiserlichen Botschaft Anklang gefunden hatten: Die Unfall-, die Kranken- sowie die Alters- und Invaliditätsversicherung. Diese statt der Einführung einer ebenfalls denkbaren Einheitsversicherung vorgenommene Dreiteilung, die im Grundsatz auch heute noch besteht (erweitert um die 1927 hinzugetretene Arbeitslosenversicherung59 und die 1995 eingeführte Pflegeversicherung60), beruhte vor 57

RT-Drucks., Nr. 19, S. 31. Ausführlich zu Otto v. Bismarcks Rolle bei der Verwirklichung dieser Sozialgesetzgebung etwa Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 67 ff.; Walter Vogel, Bismarcks Sozialversicherung, 1951, insb. S. 131 ff.; siehe ferner Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 52 ff.; Michael Stürmer, Bismarck: Sozialpolitik als Räson des Machtstaats, ZSR 1983, S. 370 ff.; Florian Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, ZSR 1981, S. 663 (664 ff.). 59 Siehe das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16.7.1927 – RGBl. I, S. 187, 320. 58

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allem auf der unterschiedlichen Entwicklung, die die Vorläufer dieser Versicherungszweige bis dahin genommen hatten. Denn im Gegensatz zu den anderen beiden Versicherungszweigen konnte die Krankenversicherung – wie die vorhergehenden Ausführungen aufgezeigt haben – auf eine gewisse Tradition und vor allem auf ein bereits bestehendes, wenn auch noch ausbaubedürftiges System von Krankenkassen blicken, wohingegen die Absicherung gegen Unfälle in Gestalt des bis dahin geltenden, wenig tauglichen Haftpflichtgesetzes (s. o.) gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte und eine Altersversicherung komplett neu zu schaffen war. Die Ausgestaltung dieser drei Zweige als „Versicherung“ sollte es dabei vor allem auch vermeiden, daß Arbeiter im Schutzfalle auf die Hilfe der staatlichen Armenpflege angewiesen waren, da dieser nicht nur eine „beschämende“ Wirkung für den Empfänger zuerkannt wurde, sondern sie auch erst dann zum Tragen kam, wenn der Betroffene über keine Eigenmittel mehr verfügte.61 Insoweit sollte durch die Ausgestaltung als Versicherung – anders als bei der Armenpflege und öffentlichen Fürsorge – erreicht werden, einen gesicherten individuellen Rechtsanspruch auf die Hilfeleistungen zu erwerben, denn „nur dann verliert sie den Charakter des Almosens und verleiht dem bestimmungsmäßigen Empfänger diejenige Sicherheit des Beistandes, von der die psychologischen Wirkungen seiner Gewährung abhängen“.62 Eine staatliche Sozialleistung, die nach Aufbringung eigener Beiträge in Anspruch genommen werden konnte und die man sich insofern „redlich verdient“ hatte, diente damit nicht nur der Absicherung, sondern auch der Schaffung eines „selbstbewußteren“ sozialen Status der Arbeiter.63

60 Siehe Art. 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG) vom 26. Mai 1994 – BGBl. I, S. 1014. 61 Siehe auch Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 53. 62 Lutz Richter, Zum Aufbau der Sozialversicherung, in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Richard Schmidt, 1936, S. 1 (14); vgl. zu dieser Motivation für die Errichtung der Sozialversicherung als Versicherung aus der späteren Literatur etwa Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (55); Görg Haverkate, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, DVBl. 2004, S. 1061 (1062). 63 Auf genau diese Gründe stützte sich später auch die vereinzelt erhobene, aber niemals in die Realität umgesetzte Forderung nach einer staatlichen/sozialen Rechtsschutzversicherung: so machte sich Ludwig Bendix, Richter, Rechtsanwälte und Arbeitsgerichte, Die Justiz 1925/26, S. 186 (188 f.), für „staatliche Rechtsschutzkassen in Analogie zu den Krankenkassen“ stark, da die damals noch im Armenrecht verwurzelten, mittlerweile zum Institut der Prozeßkostenhilfe (siehe §§ 114 ff. ZPO) fortentwickelten, staatlichen Zuwendungen zur Hilfeleistung im Prozeßfall ein „Gnadenerweis“ seien, „über den der Empfänger nicht recht froh werden kann, weil nun einmal das Nehmen von Leistungen der Wohltätigkeit nicht selig“ mache und insoweit „das Armenrecht eine peinliche, um nicht zu sagen, schnöde Einrichtung“ darstelle.

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Die gesetzliche Grundlage für die neue, gesetzliche Krankenversicherung wurde durch das „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 15. Juni 188364 geschaffen. Kernstück war die gesetzliche Anordnung von Versicherungszwang für bestimmte, besonders schutzwürdig erachtete Gruppen, namentlich (siehe § 1 des Gesetzes) die gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten „Personen in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanlagen, Brüchen und Gruben, in Fabriken und Hüttenwerken, beim Eisenbahn- und Binnendampfschiffahrtsbetriebe, auf Werften und bei Bauten, im Handwerk und in sonstigen stehenden Gewerben,“ sowie „in Betrieben, in denen Dampfkessel oder durch elementare Kraft (Wind, Dampf, Gas, heiße Luft [. . .]) bewegte Triebwerke zur Verwendung kommen [. . .]“, ferner für Beschäftigte im Handwerk oder in sonstigen stehenden Gewerbebetrieben. Durch kommunale Statuten konnte der Versicherungszwang auf weitere, in § 2 des Gesetzes genannte Personengruppen ausgedehnt werden, z. B. auf Gehilfen und Lehrlinge des Apothekergewerbes, Arbeiter der Land- und Forstwirtschaft oder des Transportgewerbes sowie bestimmte selbständige Gewerbetreibende. Die Krankenversicherungsbeiträge trugen zu zwei Dritteln die Versicherten, zu einem Drittel die Arbeitgeber, welche den Gesamtbeitrag auch abzuführen hatten. Etwas anderes galt für die in einer eingeschriebenen Hilfskasse Versicherten: hier hatten die Versicherten den Versicherungsbeitrag in voller Höhe zu tragen und auch selbst abzuführen. Träger der Krankenversicherung wurden neugeschaffene Orts-, Betriebs- und Baukrankenkassen, die für das Bergarbeiterwesen bestehenden Knappschaftskassen (s. o.) und die bereits seit 1881 durch entsprechende Änderung der Gewerbeordnung zugelassenen Innungskrankenkassen sowie die eingeschriebenen Hilfskassen (vgl. § 4 des Gesetzes).65 Die Errichtung einer Ortskrankenkasse erfolgte durch Beschluß der Gemeinde für die in ihrem Bezirk beschäftigten Versicherungspflichtigen, in der Regel für einen Gewerbezweig oder eine Betriebsart („besondere Ortskrankenkassen“), möglich war aber auch die Errichtung einer Kasse für mehrere oder alle Gewerbszweige oder Betriebsarten („allgemeine Ortskrankenkassen“)66. Betriebskrankenkassen (auch: Fabrikkrankenkassen) konnten – oder mußten auf staatliche Anordnung – von Unternehmern für die in Betrieben beschäftigten Arbeiter errichtet werden, Baukrankenkassen von Bauherrn für die bei einem Bauprojekt oder in einem Baubetrieb beschäftigten Arbeiter. Für alle versicherungspflichtigen Personen, die nicht einer der beschriebenen Kassenarten angehörten, trat subsidiär die sog. Gemein64

RGBl., S. 73 – in Kraft getreten am 1.12.1884. Näher zu den einzelnen Kassenarten etwa Florian Tennstedt, Die Errichtung von Krankenkassen in deutschen Städten nach dem Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883, ZSR 1983, S. 297 (311 ff.). 66 Florian Tennstedt, Die Errichtung von Krankenkassen in deutschen Städten nach dem Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883, ZSR 1983, S. 297 (311 f.). 65

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dekrankenversicherung ein, welche keine Krankenkasse, sondern eine für alle Gemeinden obligatorische kommunale Einrichtung war67. Für Mitglieder der aufgrund des Hilfskassengesetzes von 1876 (s. o.) errichteten eingeschrieben Hilfskassen trat gemäß § 75 des Gesetzes die Pflicht zum Beitritt zu einer der anderen Kassenarten nicht ein, wenn die Hilfskasse, der sie angehörten, vergleichbare Leistungen wie die Gemeindekrankenversicherung erbrachte. Das Gesetz vom 1.6.188468 beseitigte den Beitrittszwang zu Hilfskassen und beschränkte die Geltung des Gesetzes für die „auf freier Übereinkunft beruhenden“ Kassen. Zwar wurden durch die beschriebenen Regelungen private und gesetzliche Krankenversicherung insoweit verknüpft, als letztere organisatorisch auf die bereits bestehenden Gemeindekrankenkassen, Betriebs-, Bau-, Innungs-, Knappschafts- und Hilfskassen und somit auf zahlreiche zunächst auf privatrechtlicher Grundlage geschaffene Krankenversicherungseinrichtungen zurückgriff, die nunmehr in der gesetzlichen Krankenversicherung aufgingen und zu gesetzlichen Kassen wurden.69 Da jedoch andere Institutionen als private Krankenversicherer „auf freier Übereinkunft“ fortbestanden, kann man erstmalig mit dieser Einführung der Sozialversicherung im Jahre 1883 ein trennbares Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung ausmachen; vor diesem Zeitpunkt war eine derartige Trennung nicht möglich, weil beide Versicherungsformen in ihrer mitunter recht verwickelten Vorgeschichte zum Teil gemeinsame Wurzeln aufwiesen70. Mit dem gesetzlich angeordneten Versicherungszwang sowie der Zuweisung der Krankenversicherung an besondere, der staatlichen Aufsicht unterstellte Korporationen und Gemeinden gehörte die Arbeiter(kranken)versicherung dem öffentlichen Recht an;71 die Träger der Krankenversicherung wurden juristische Personen des öffentlichen Rechts72. Der Grund für die Übernahme der Versicherung durch den Staat lag darin, daß man privaten Versicherungseinrichtungen einerseits nicht das notwendige soziale Verantwortungsbewußtsein zutraute und man darüber hinaus auch vom sittlichen Gesichtspunkt her die Wechselfälle des Lebens wie Unfall oder Krankheit nicht zum Gegenstand von privatem Ge67 Henning Katz, Die Einführung der Sozialversicherung im Deutschen Reich, SozVers 1981, S. 277 (282); Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 58. 68 Gesetz, betreffend die Abänderung des Gesetzes über die eingeschriebenen Hülfskassen vom 7. April 1876, vom 1.6.1884, RGBl., S. 54. 69 Peter Koch/Christoph Uleer, Herausforderungen – Entwicklungen eines Versicherungszweiges von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1997, S. 20. 70 Siehe auch Peter Koch/Christoph Uleer, a. a. O., S. 19. 71 Julius Hahn, Das Krankenversicherungsgesetz, 5. Aufl., 1907, Einleitung II. (S. 11); Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 53. 72 Vgl. Horst Peters, 100 Jahre Krankenversicherung, ZSR 1983, S. 257 (263).

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winnstreben machen wollte.73 Und ferner bedingte der Versicherungszwang als Korrelat ein Versicherungsinstitut, welches billiger und sicherer war als jedes private74. Wiederum als Gegengewicht hierzu wurde das Prinzip der Selbstverwaltung für die Kassen etabliert, da hiermit Unabhängigkeit von zentraler Staatsverwaltung, demokratische Beteiligung und autonome Organisation signalisiert wurden75. Durch Änderungen des Gesetzes in der Folgezeit76 wurde der Kreis der Versicherungspflichtigen erweitert, etwa auf gegen Lohn oder Gehalt Beschäftigte im Handelsgewerbe oder solche bei Anwälten, Notaren, Krankenkassen, Berufsgenossenschaften oder Versicherungsanstalten. Ferner wurden der Leistungskatalog ausgeweitet sowie das Sachleistungsprinzip und die Einbeziehung von Familienangehörigen verstärkt. Mit seiner Neubekanntmachung vom 10.4.189277 wurde das Gesetz in „Krankenversicherungsgesetz“ (KVG) umbenannt, was seinen Grund nicht zuletzt darin hatte, daß durch die Novelle von 1892 auch Personenkreise in die Versicherungspflicht miteinbezogen wurden, welche nicht mehr im eigentlichen Sinne Arbeiter waren78, sondern eher dem (damals erst nach und nach als eigene Kategorie von unselbständig Beschäftigten entstehenden) Kreis der Angestellten zuzurechnen waren; für sie galt die Versicherungspflicht allerdings nur, wenn ihr Jahresgehalt eine bestimmte Grenze nicht überschritt79. Während 1874 nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung und knapp ein Viertel aller Arbeiter krankenversichert waren80, verdoppelten sich diese Zahlen nach Einführung der „Bismarckschen“ Sozialgesetze rasch: 1885 lag der Prozentsatz der (gesetzlich) Versicherten bei etwa neun Prozent81, 1910 bereits bei etwa 20 Prozent82. 73

Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 152. Walter Vogel, a. a. O., S. 153. 75 Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 71. 76 Übersicht über diese Änderungen bei Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 55 f.; Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 87. 77 RGBl., S. 417 – Neubekanntmachung auf Grundlage von Art. 32 des Gesetzes über die Abänderung des Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, vom 15. Juni 1883, vom 10.4.1892, RGBl., S. 379. 78 Julius Hahn, Das Krankenversicherungsgesetz, 5. Aufl., 1907, Anm. 1a) zu § 1 KVG (S. 22 f.). 79 § 2b KVG legte diese Versicherungspflichtgrenze bei 2000 Reichsmark fest. 80 Zahlen nach Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 77. 81 Versichert waren – bei 1885 etwa 46,9 Millionen Einwohnern im Deutschen Reich – ca. 4,3 Millionen, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, S. 90, 219. 82 Von knapp 64,5 Millionen Einwohnern des Deutschen Reiches im Jahre 1910 waren etwa 13,1 Millionen krankenversichert, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, S. 90, 219. 74

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Die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 zog aber auch für die privaten Krankenversicherer Impulse nach sich. Denn durch das mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung ins allgemeine Bewußtsein gerückte Problem der Absicherung für den Krankheitsfall wurde eine (private) Krankenversicherung nunmehr auch vermehrt von Bevölkerungsschichten gewünscht, die nicht der gesetzlichen Versicherungspflicht unterlagen: insoweit eröffnete sich den privaten Krankenversicherern vor allem in Gestalt der Beamten und der selbständigen Handwerker oder sonstigen selbständigen Gewerbetreibenden eine beachtliche Klientel.83

4. Die Reichsversicherungsordnung von 1911 Eine grundlegende Reformierung erfuhr das Sozial- und damit auch das Krankenversicherungsrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Schaffung der Reichsversicherungsordnung vom 19.7.191184. Gesetzestechnisch wurden alle Zweige der Sozialversicherung, die fortan „Reichsversicherung“ hieß85, in einem Gesetz, eben der Reichsversicherungsordnung (RVO), zusammengefaßt. Die Reichsversicherungsordnung untergliederte sich, wie das heutige Sozialgesetzbuch (SGB), in einzelne Bücher: Das Erste Buch enthielt gemeinsame Vorschriften für alle Zweige der Reichsversicherung, die Bücher zwei bis vier spezifische Regelungen für die einzelnen Versicherungszweige (die Krankenversicherung war im Zweiten Buch kodifiziert), das Fünfte Buch regelte die rechtlichen Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu anderen Verpflichten und das Sechste Buch schließlich enthielt Regelungen über das Verfahren. Im Hinblick auf die Krankenversicherung ergaben sich folgende Änderungen und Ergänzungen: Die Krankenversicherungspflicht erfuhr eine weitere Ausdehnung, vornehmlich auf die nicht unbedeutende Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter. Ferner wurde mit den „Betriebsbeamten, Werkmeistern und anderen Angestellten in ähnlich gehobener Stellung“ sowie den „Handlungsgehilfen“ (siehe § 165 Abs. 1 Nr. 2 und 3 RVO) – vorbehaltlich einiger Ausnahmen – zur Gänze diejenige, allerdings erst noch im Wachsen begriffene Personengruppe einbezogen, der nach heutigem Verständnis die (leitenden und nichtleitenden) Angestellten entsprechen86; deren Versicherungs83 Siehe näher Peter Koch/Christoph Uleer, Herausforderungen – Entwicklungen eines Versicherungszweiges von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1997, S. 24 f. 84 RGBl., S. 509. 85 In terminologischer Abgrenzung hierzu wird die unter Bismarck eingeführte Sozialversicherung auch als „Arbeiterversicherung“ bezeichnet, siehe Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 75. 86 Bezüglich der „Angestellten“ im Sinne des § 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO diente das Merkmal „in gehobener Stellung“ nach unten hin vornehmlich der Abgrenzung zur Arbeiterschaft und nicht einer Abgrenzung innerhalb der Gruppe der Angestellten, so

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pflicht trat aber nur ein, wenn ihr Jahresarbeitsentgelt die Summe von 2.500 Mark nicht überschritt87. Auch die Versicherungsleistungen wurden erweitert. Die Gemeindekrankenversicherung schaffte man ab. Die Baukrankenkassen waren fortan keine eigenständige Kassenart mehr, sondern unterfielen den Betriebskrankenkassen, denen sie ohnehin sehr nahegestanden hatten. Die Versicherung insbesondere der landwirtschaftlichen Arbeiter übernahmen die neu geschaffenen Landkrankenkassen. Die Bestimmungen über Mindestmitgliedzahlen stabilisierten die wirtschaftliche Grundlage der Kassen.88 Das Gesetz vom 20.11.191289 hob das Hilfskassengesetz auf; die eingeschriebenen Hilfskassen unterstellte man als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dem Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmen vom 12.5.190190. Diejenigen eingeschriebenen Hilfskassen, die den Anforderungen des § 75 des Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, bzw. des Krankenversicherungsgesetzes genügten und denen hierüber eine Bescheinigung nach dessen § 75a erteilt worden war, konnten auf Antrag nach § 503 RVO als „Ersatzkassen“ zugelassen werden. Die Mitgliedschaft in einer Ersatzkasse, welche freiwillig war, führte nicht mehr dazu, daß die Zugehörigkeit zur betreffenden Zwangskasse entfiel, vielmehr ruhten nur die Rechte und Pflichten, welche aus der (bestehen bleibenden) Zugehörigkeit zu der Zwangskrankenkasse, in die das Ersatzkassenmitglied gehörte, erwuchsen (siehe § 517 RVO). Krankenkassen, die nicht Träger der Reichsversicherung waren bzw. nicht als „Ersatzkassen“ zugelassen wurden, verblieb die Möglichkeit, als private Krankenkassen Versicherungsleistungen für nicht Nichtversicherungspflichtige anzubieten oder aber auch Zusatzleistungen für Versicherungspflichtige, denen der Leistungskatalog der Reichsversicherung nicht genügte (sog. Zuschußkassen)91. Die weitere Ausdehnung der Versicherungspflicht durch die Regelungen der Reichsversicherungsordnung führte dazu, daß die Quote der „gesetzlich“ Krandaß nicht nur leitende, sondern auch nichtleitende Angestellte, mithin normales Büropersonal unter diese Gruppe fiel (sofern nichtleitende Angestellte nicht bereits als „Handlungsgehilfen“ im Sinne des § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO erfaßt wurden); siehe insoweit und näher zur Beschreibung dieser Personenkreise Julius Hahn, Handbuch der Krankenversicherung, 1. Band, 7. Aufl., 1913, Anm. 10 ff. zu § 165 RVO; Franz Hoffmann, Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, Zweites Buch: Krankenversicherung, 8. Aufl., 1929, Anm. 9 ff. zu § 16 RVO; Alfred Manes u. a., Die Reichsversicherungsordnung, Zweites Buch: Krankenversicherung, 1912, Anm. zu § 165 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 RVO (S. 21 f.); ferner Ludwig von Köhler u. a., Reichsversicherungsordnung mit Erläuterungen, 1912, Anm. 3 zu § 165 RVO. 87 Die Regelung dieser Versicherungspflichtgrenze erfolgte in § 165 Abs. 2 RVO. 88 Dazu näher Dietfried Herles/Ingrid Quasdorf, Die Gesetzliche Krankenversicherung, 2004, 2.3 (S. 17 f.). 89 RGBl., S. 985 90 RGBl., S. 139. 91 Siehe auch Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 79.

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kenversicherten bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auf etwa 16 Mio. Mitglieder92 und damit auf nahezu ein Viertel der Bevölkerung93 anstieg. 5. Die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Jahre 1932 Der Zeitraum vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Jahre 1932 war infolge der verheerenden Kriegsfolgen und der Weltwirtschaftskrise am Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre vor allem durch die wirtschaftlichen Probleme der Bevölkerung ebenso wie die der Krankenversicherungen selbst gekennzeichnet und stellte das Krankenversicherungssystem somit vor schwere Herausforderungen. Trotz partieller Ausweitungen der Versicherungsleistungen, wie etwa im Bereich der Familienkrankenpflege, begegnete man diesen Herausforderungen vor allem durch Leistungskürzungen und Zuzahlungspflichten (wie etwa die Einführung einer Rezept- und Krankenscheingebühr, Selbstbeteiligung an Arzneimittelkosten oder Karenzzeiten für die Zahlung von Krankengeld).94 Die Auswirkungen der Geldentwertung zogen vermehrte Anpassungen der Versicherungspflichtgrenze nach sich. Neben diesen, vor allem durch Kriegsfolgen und Wirtschaftskrise bedingten Veränderungen kam es in organisatorischer Hinsicht zu folgenden Neuerungen: Das Verhältnis der Ersatz- zu den gesetzlichen Zwangskassen wurde durch Verordnung vom 27.9.192395 dahingehend geändert, daß die Mitgliedschaft in einer Ersatzkasse das Recht mit sich brachte, von der Mitgliedschaft in der betreffenden Zwangskasse befreit zu werden; bereits 191996 war geregelt worden, daß den Ersatzkassen der Arbeitgeberanteil in voller Höhe direkt zufloß, und ihnen nicht mehr lediglich 4/5 des Beitrages von den Zwangskassen, die den vollen Beitrag einzogen, erstattet wurden. Weitere Personengruppen wurden der Krankenversicherungspflicht unterworfen, so etwa durch Gesetz vom 15.7.192797 Angestellte der Erziehung, des Unterrichts, der Fürsorge sowie der Krankenund Wohlfahrtpflege. Durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Seeleute vom 9.12.192798 wurde eine neue Seekrankenkasse gegründet, die neben die bis dahin bestehenden Arten von gesetzlichen Krankenkassen (allgemeine 92 Im Jahre 1914 waren im Deutschen Reich 15,61 Millionen Menschen gesetzlich krankenversichert, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, S. 90, 219. 93 Bevölkerungszahl des Deutschen Reiches im Jahre 1914: 67,8 Millionen, Quelle: Udo Sautter, Deutsche Geschichte seit 1815, Band I: Daten und Fakten, 2004, S. 21. 94 Siehe ausführlich hierzu Kurt Jahn, Allgemeine Sozialversicherungslehre, 2. Aufl., 1984, S. 167 ff.; Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 83 f. 95 RGBl. I, S. 908. 96 Siehe RGBl., S. 191 und S. 615. 97 RGBl. I, S. 219. 98 RGBl. I, S. 327.

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und besondere Ortskrankenkassen, Land-, Betriebs-, Innungs- und Knappschaftskrankenkassen) trat. Im Jahre 1930 war mit ca. 21,1 Millionen Menschen99 knapp ein Drittel der Bevölkerung100 Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung. Parallel hierzu erlebte in dieser Zeitphase die private Krankenversicherung einen regelrechten Boom, denn durch die wirtschaftliche Not in der Folgezeit des Ersten Weltkrieges wuchs das Bedürfnis nach Absicherung für den Krankheitsfall wegen der damit einhergehenden, schwer kalkulierbaren Kosten nunmehr auch bei Personengruppen, für die der Weg in die gesetzliche Krankenversicherung nicht vorgesehen war: nämlich bei den Gruppen, die man gemeinhin dem (gehobenen) Mittelstand zurechnete.101 Nachdem mit der zur Behebung der Inflation 1923 herbeigeführten Währungsstabilisierung durch die Einführung der Rentenmark die wirtschaftliche Grundlage für die Errichtung neuer Privatversicherungsunternehmen geschaffen war, vervierfachte sich der Versichertenbestand bei den privaten Versicherungsunternehmen innerhalb eines knappen Jahres von ca. 500.000 Versicherten zu Beginn des Jahres 1924 auf etwa 2 Millionen Versicherte zu Anfang des Jahres 1925102. Einer kurzen Krise infolge ungenügender statistischer Unterlagen und mangelnder medizinischer Erfahrung, verbunden mit starkem Konkurrenzdruck, der es nicht immer erlaubte, die Bedarfsprämien zu erheben, folgte die rasche Konsolidierung durch Einführung von Leistungshöchstgrenzen, reglementierende Eingriffe der Aufsichtsbehörde in die Tarifgestaltung, die Schaffung neuer Kalkulationsgrundlagen sowie durch Unternehmenszusammenschlüsse, Organisations-Abkommen und die verbandsmäßige Zusammenarbeit nach Gründung des PKV-Verbandes im Jahre 1926. Bis 1933 stieg die Zahl der privat Krankenversicherten auf 3,7 Millionen103. 6. Die Zeit vom Jahre 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die Sozialversicherung maßgeblich durch das „Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung“ vom 99 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, S. 219. 100 Die Bevölkerungsanzahl des Deutschen Reiches betrug 1930 etwa 65,1 Millionen, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, S. 90. 101 Siehe näher Peter Koch/Christoph Uleer, Herausforderungen – Entwicklungen eines Versicherungszweiges von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1997, S. 26 f. 102 Siehe hierzu ausführlich Hans Moser, Private Krankenversicherung (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 5, 3. Aufl., 1984, S. 209 (219). 103 Zahl nach Hans Moser, Private Krankenversicherung (Teil I), in: Große/MüllerLutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 5, 3. Aufl., 1984, S. 209 (221).

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5.7.1934104, das sog. „Aufbaugesetz“, geprägt, welches durch zahlreiche in der Folgezeit erlassene Verordnungen konkretisiert wurde. Wesentlich war hierbei vor allem die Beseitigung der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger durch Etablierung des „Führerprinzips“ auch in der Organisation der Sozialversicherung (siehe Art. 7 des Aufbaugesetzes): Mit der Abschaffung der Selbstverwaltungsorgane ging die Übertragung von deren Aufgaben auf den allein verantwortlichen „Leiter“ des jeweiligen Versicherungsträgers einher, welcher nicht gewählt, sondern ernannt wurde105. Ferner setzte man die minderheitenund insbesondere judenfeindliche Gesinnung des „Dritten Reiches“ auch in der Sozialversicherung in Gestalt zahlreicher „Sonderregelungen“ für diese Gruppen um106. Neben solcherlei Änderungen kam es aber auch zu Neuregelungen, welche nicht primär der nationalsozialistischen Ideologie geschuldet waren. Hierzu gehörte vor allem die Neuregelung des Rechts der Ersatzkassen, welche nunmehr durch Art. 3 § 1 des Aufbaugesetzes ausdrücklich auch als Träger der Krankenversicherung bezeichnet wurden107. Durch die Zwölfte Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 24.12.1935108 erfolgte eine Separierung der Mitgliederstruktur, so daß es fortan nur noch Ersatzkassen ausschließlich für Angestellte sowie solche ausschließlich für Arbeiter gab. Versichert bei den Ersatzkassen konnten nur noch die nach der Reichsversicherungsordnung Versicherungspflichtigen oder Versicherungsberechtigten sein, deren regelmäßiges jährliches Gesamteinkommen 7.200,– Reichsmark nicht überstieg. Sonstigen Personen verblieb nur der Weg zu anderen Versicherungsunternehmen. Die 15. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 1.4.1937109 verlieh den Ersatzkassen schließlich den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften. 104

RGBl. I, S. 577. Ausführlich hierzu Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 105, 110. 106 Siehe beispielsweise die Verordnung zur Durchführung der Verordnung zur Beschäftigung von Juden vom 31.10.1941, die die Anwendbarkeit zahlreicher Sozialregelungen für Juden beseitigte. Andere Regelungen beinhalteten etwa die Nichtzulassung von „nicht-arischen“ und insbesondere jüdischen Ärzten zur Teilnahme an der kassenärztlichen Leistungserbringung (s. nur die Verordnungen vom 22.4.1933, RGBl. I, S. 222, vom 17.5.1934, RGBl. I, S. 399 oder vom 18.9.1937, RGBl. I, S. 973). Eine Auflistung weiterer minderheitendiskriminierender Regelungen im Bereich der Sozialversicherung findet sich bei Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Karlsruhe 1981, zu den Stichwörtern „Sozialversicherung“ und „Krankenkassen“. 107 Auch zuvor waren die Ersatzkassen bereits Träger der Krankenversicherung, auch wenn sie in dem die Träger der Krankenversicherung benennenden 3. Abschnitt des 2. Buches der RVO unerwähnt blieben, siehe Franz Hoffmann, Reichsversicherungsordnung, Zweites Buch: Krankenversicherung, 8. Aufl., 1929, Anm. I zur Vorbemerkung zum 9. Abschnitt des 2. Buches der RVO (S. 671). 108 RGBl. I, S. 1537. 109 RGBl. I, S. 439. 105

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Die Versicherungspflicht wurde weiter ausgedehnt, etwa auf (selbständige) Artisten110 und Hebammen111 sowie vor allem auf die Rentner durch Schaffung der „Krankenversicherung der Rentner“ (KVdR)112. Die Erste Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17.3.1945113 faßte die §§ 165 ff. RVO neu und gestaltete die Abgrenzung des krankenversicherten Personenkreises übersichtlicher. Mit Verordnung vom 2.8. 1933114 wurde die neugeschaffene Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands zum Träger der Rechtsbeziehungen der Kassenärzte zu den Krankenkassen. Der einzelne Arzt stand somit nicht mehr in unmittelbarer Rechtsbeziehung zu den Krankenkassen, sondern erwarb mit der Zulassung einen Anspruch gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung auf Mitwirkung an der kassenärztlichen Versorgung; die Leistungsvergütungen durch die Krankenkassen erfolgten gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung, die dann die Verteilung auf die einzelnen Ärzte vorzunehmen hatte.115 Hiermit wurde das Beziehungsgeflecht geschaffen, das im Grundsatz auch heute noch Bestand hat. Im Leistungsrecht kam es zu zahlreichen Ausweitungen des Leistungskataloges116. Trotz der zahlreichen Änderungen durch die nationalsozialistische Gesetzgebung läßt sich zusammenfassend festhalten, daß die Grundlagen der Sozialversicherung auch in der Zeit des „Dritten Reiches“ in ihrem Bestand beibehalten und in ihrer grundsätzlichen Gliederung nicht angetastet wurden117. Im Jahre 1938 waren mit knapp 24 Millionen Menschen etwa 36% der Bevölkerung Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung.118

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Durch Gesetz vom 13.1.1938, RGBl. I, S. 33. Siehe Gesetz vom 12.12.1938 (RGBl. I, S. 1893), Verordnung vom 23.3.1939 (RGBl. I, S. 635). 112 Eingeführt durch Gesetz vom 24.7.1941 (RGBl. I, S. 443) i.V. m. Verordnung vom 4.11.1941 (RGBl. I, S. 689). 113 RGBl. I, S. 41. 114 RGBl. I, S. 567. 115 Siehe auch Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 115. 116 Siehe näher Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 114 f. 117 Siehe etwa Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 105; Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 195 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 118 Unter Zugrundelegung einer Bevölkerungszahl im Deutschen Reich von 68,6 Millionen Menschen; Quelle für die Zahlenangaben: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, Wiesbaden 1972, S. 90, 219. 111

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

7. Die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes (1945 bis 1949) Mit der Kapitulation des Deutschen Reiches vom 8.5.1945 endete der Zweite Weltkrieg. Das auf die Grenzen vom 31.12.1937 zurückgestutzte Deutschland wurde in vier den Siegermächten (USA, Großbritannien, Frankreich, UdSSR) unterstehende Besatzungszonen aufgeteilt, Berlin zur Viersektorenstadt. Die Staatsgewalt wurde von den Siegermächten teils gemeinsam für Deutschland als Ganzes, im übrigen für jede Besatzungszone durch die jeweilige Siegermacht ausgeübt. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches hatte die Sozialversicherung vor allem in ihren finanziellen Fundamenten erschüttert, da ein Großteil ihres Vermögens in nunmehr wertlosen Staatsanleihen angelegt und das vorhandene Immobiliarvermögen durch die Kriegsschäden weitgehend zerstört war.119 Die die Sozialversicherung betreffenden Regelungen der Besatzungsmächte erfolgten auf territorialer Basis, also für jede der Besatzungszonen sowie für Berlin getrennt. Gemeinsam war das Bestreben, all jene Gesetze zu eliminieren, die der nationalsozialistischen Ideologie geschuldet waren. Da diese aber – wie bereits oben aufgezeigt – die Sozial- bzw. Krankenversicherung nicht in ihren wesentlichen Grundlagen verändert hatten, konnte auf die alten Kerngesetze wie insbesondere die Reichsversicherungsordnung weiterhin zurückgegriffen werden. Jedenfalls in den Besatzungszonen der drei Westmächte behielt man die gegliederte Grundstruktur der Sozialversicherung bei und versuchte, die Krankenversicherung an die gegebenen Umstände anzupassen, etwa durch Neuordnung der Versicherungsbehörden und Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Kriegsflüchtlinge und Kriegshinterbliebene.120 In der sowjetischen Besatzungszone sowie zunächst auch für Gesamt-Berlin wurde die gegliederte Struktur der Sozialversicherung in verschiedene Versicherungssysteme hingegen zugunsten einer Einheitsversicherung aufgegeben, die alle Zweige der Sozialversicherung in sich vereinigte.121 8. Die Zeit nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23.5.1949 schlug die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Die sozialversicherungsrechtliche Gesetzgebung nach Errichtung der Bundesrepublik war zunächst geprägt von dem 119 Siehe im einzelnen Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 126. 120 Siehe ausführlich zu den einzelnen Maßnahmen Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 126 ff. 121 Ausführlich Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 135 ff.

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Bestreben, die durch die unterschiedlichen Regelungen in den jeweiligen (westlichen) Besatzungszonen zumindest in gewissem Umfang eingetretene Rechtszersplitterung zu beseitigen und die Rechtseinheit auf dem Gebiet des Sozialversicherungswesens wieder herzustellen. Gleichzeitig verfolgte man die bereits seit 1945 durch die Besatzungsmächte gesetzten Ziele weiter, nämlich die zusammengebrochenen Sozialversicherungssysteme nicht nur wieder „in Gang“ zu setzen, sondern sie finanziell zu stabilisieren, an die wirtschaftliche Situation und die veränderten Rahmenbedingungen (Währungsreform, verändertes Lohnund Preisgefüge) anzupassen sowie die große Menge an Flüchtlingen, Kriegshinterbliebenen, Heimkehrern und NS-Opfern sozialversicherungsrechtlich zu erfassen und zu bewältigen. Für die gesamte Sozialversicherung beseitigte man das durch das sog. „Aufbaugesetz“ vom 5.7.1934 (s. o.) etablierte „Führerprinzip“ und stellte die Selbstverwaltung wieder her122, so daß den Versicherten und ihren Arbeitgebern als den unmittelbar Beteiligten wieder die Verwaltungsführung in eigener Verantwortung übertragen war123. Hinsichtlich der Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung erfolgte eine Anpassung an die geänderten Lohn- und Preisbedingungen124. Neue Personengruppen wurden in die Krankenversicherung einbezogen, das Leistungsangebot sukzessive erweitert und verbessert.125 Parallel hierzu vollzog sich auch die durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg notwendig gewordene Restitution der privaten Krankenversicherung.126 Im Laufe der nachfolgenden Jahre begannen sich indes in der gesetzlichen Krankenversicherung nach und nach Strukturprobleme des bis dahin gesundenden Systems abzuzeichnen – Probleme, unter denen die gesetzliche Krankenversicherung im Kern auch heute noch leidet. Die gesundheitspolitisch gewollte Verbesserung und Ausweitung der gewährten Leistungen, die Zunahme des „Angebots“ an – mitunter auch sehr kostenintensiven – Medikamenten und Behandlungsmethoden infolge der Fortschritte in der medizinischen und medizintechnischen Entwicklung sowie die steigende Lebenserwartung und die Zunahme an älteren Menschen mit überproportionalem Behandlungsbedarf brach122 Durch „Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung“ – Selbstverwaltungsgesetz – vom 22.2.1951, BGBl. I, S. 214. 123 Näher Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 150 f. 124 Siehe „Gesetz über die Erhöhung der Einkommensgrenzen in der Sozialversicherung und der Arbeitslosenversicherung und zur Änderung der 12. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung“ vom 13.8.1952, BGBl. I, S. 437. 125 Siehe hierzu im einzelnen Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 156 ff.; Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 286 ff. 126 Siehe ausführlich hierzu Peter Koch/Christoph Uleer, Herausforderungen – Entwicklungen eines Versicherungszweiges von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1997, S. 44 ff.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

ten – um nur einige Gründe zu nennen – eine überproportionale Kostenentwicklung und infolgedessen stetig wachsende Beitragssätze mit sich. Dies machte erstmals Ende der siebziger Jahre vermehrte Kostendämpfungsmaßnahmen notwendig, welche allerdings nur kurzfristig wirkten und das System der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nachhaltig zu stabilisieren in der Lage waren127. Ende der achtziger Jahre wurde daher eine Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung mit Hochdruck vorangetrieben. Mit dieser Reform sollten „die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die seit Jahren ansteigenden Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken und dauerhaft zu stabilisieren“128. Die Reformbestrebungen gipfelten schließlich im Erlaß des am 20.12.1988 verkündeten und am 1.1.1989 in Kraft getretenen „Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz – GRG)“129.130 Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung wurde fortan in einem neu eingeführten Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) geregelt und ist erstmals seit Einführung der Reichsversicherungsordnung im Jahre 1911 systematisch neu geordnet worden. Neu war etwa die Einführung einer Versicherungspflichtgrenze auch für Arbeiter, die Ersetzung der Familienhilfe durch eine eigene (Mit-)Versicherung der Familienangehörigen von Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung, die verstärkte Einführung von Vorsorgemaßnahmen, Einschränkungen bei der Erstattung von Zahnersatz, verstärkte Eigenbeteiligung oder die Einführung von Festbeträgen bei der Erstattung von Arzneimittelkosten.131 Doch sowohl diese auch als die in der Folgezeit in immer geringeren Abständen erfolgenden „Gesundheitsreformen“ haben die gesetzliche Krankenversicherung nicht auf ein nachhaltig stabiles finanzielles Fundament zu stellen vermocht, wie sich etwa an der vor allem in den letzten Jahren vermehrt aufgeflammten Diskussionen um einen grundlegenden Systemwechsel132 sowie an der Notwendigkeit einer zuletzt erneut für notwendig erachteten Gesundheitsreform 2007133 zeigt.

127 Siehe näher Dieter Leopold, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 1999, S. 47 f.; Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 292 f. 128 BR-Drucks. Nr. 200/88, S. 1. 129 BGBl. I 1988, S. 2477. 130 Siehe ausführlich hierzu Dieter Leopold, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 1999, S. 48 ff. 131 Ausführliche Zusammenstellung der einzelnen Neuerungen bei Dieter Leopold, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 1999, S. 50 ff.; Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 292 ff. 132 Siehe hierzu unten, 1. Teil, III. 133 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378.

II. Derzeitiger status quo einschließlich Gesundheitsreform 2007

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II. Der derzeitige status quo einschließlich der Gesundheitsreform 2007 1. Gesetzliche Krankenversicherung Über die Jahre ist der Personenkreis der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Personen beständig ausgeweitet worden – sei es durch die Einbeziehung neuer Personengruppen, sei es durch die schrittweise Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze für einzelne Personengruppen. Der versicherte Personenkreis bestimmt sich primär nach den §§ 5 ff. SGB V. Begrifflich zu unterscheiden ist hierbei zwischen „Mitgliedern“ und „Versicherten“. a) „Mitglieder“ und „Versicherte“ Unter dem Begriff der Mitgliedschaft versteht man im allgemeinen die Beteiligung, die Teilhabe- oder die Teilnehmerschaft an einem Zusammenschluß von Personen mit bestimmten Zielen zur Wahrnehmung kollektiver Interessen, wobei mit der Mitgliedschaft ein besonderer Status von Rechten und Pflichten verbunden ist134. Die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung beinhaltet die konkrete Ausgestaltung des Krankenversicherungsverhältnisses und damit die Gesamtheit aller versicherungsrechtlichen Beziehungen zwischen dem Mitglied und einer Krankenkasse.135 Jedes Mitglied ist damit zugleich „Versicherter“. Aus der Mitgliedschaft resultieren insbesondere die Pflicht zur Beitragszahlung (§ 223 SGB V) sowie die Leistungsansprüche (vgl. § 19 SGB V). Den Beginn der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung regeln die §§ 186 ff. SGB V; sie erstreckt sich auf Personen, welche nach §§ 5 ff. SGB V versicherungspflichtig sind oder sich aufgrund einer Versicherungsberechtigung (siehe § 9 SGB V) freiwillig haben in der gesetzlichen Krankenversicherung versichern lassen. Jedoch gibt es auch Versicherte, d. h. in einem Versicherungsverhältnis zur gesetzlichen Krankenversicherung bzw. zu deren Trägern stehende Personen, die nicht zugleich Mitglied sind: nämlich die über die sog. Familienversicherung mitversicherten Familienangehörigen von Mitgliedern (siehe § 10 SGB V). Sie verfügen zwar über ein eigenständiges Versicherungsverhältnis136, jedoch trifft 134 Siehe statt vieler Stephan Leitherer, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 19 Rn. 11. 135 Stephan Leitherer, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 19 Rn. 7; Wolfgang Noftz, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar (Loseblatt), K § 19 Rn. 7; vgl. Werner Gerlach, in: Hauck/Noftz, a. a. O., K § 186 Rn. 7, 10. 136 Andreas Hänlein, in: Kruse/Hänlein, Gesetzliche Krankenversicherung, Lehrund Praxiskommentar, 2. Aufl., 2003, Vorb. § 186–193 Rn. 4.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

sie beispielsweise nicht die für Mitglieder charakteristische Beitragspflicht. Auch sind ihre Leistungsansprüche an die Mitgliedschaft des „Stammversicherten“ geknüpft (vgl. § 19 Abs. 3 SGB V). Die Gesamtanzahl der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Personen setzt sich damit zusammen aus den Mitgliedern (Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte) und den übrigen Versicherten, d. h. den über die Familienversicherung nach § 10 SGB V mitversicherten Familienangehörigen der Mitglieder. b) Versicherungspflichtige Personen Versicherungspflichtig kraft Gesetzes sind die in § 5 Abs. 1 SGB V genannten Personengruppen: Hierzu gehören im Grundsatz insbesondere die gegen Arbeitsentgelt beschäftigten Arbeiter und Angestellten, mithin also in nichtselbständiger Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis beschäftigte Arbeitnehmer137 (vgl. § 7 Abs. 1 SGB IV), Auszubildende (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) sowie Arbeitslose (§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 2a SGB V), Landwirte (nach näherer Bestimmung des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte – KVLG 1989; § 5 Abs. 1 Nr. 3 SGB V), Künstler und Publizisten (nach näherer Bestimmung des Künstlersozialversicherungsgesetzes – KSVG; § 5 Abs. 1 Nr. 4 SGB V), Personen in Einrichtungen der Jugendhilfe (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 SGB V), Rehabilitanden (§ 5 Abs. 1 Nr. 6 SGB V), behinderte Menschen, welche in anerkannten Werkstätten oder ähnlichen Einrichtungen Leistungen erbringen (§ 5 Abs. 1 Nr. 7, 8 SGB V), Studenten und Praktikanten (§ 5 Abs. 1 Nr. 9, 10 SGB V) sowie Rentner und Rentenantragssteller (§ 5 Abs. 1 Nr. 11 bis 12 SGB V). Gemäß der durch die Gesundheitsreform 2007138 zum 1.4.2007 in Kraft getretenen Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V unterliegen der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nunmehr auch Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren (es sei denn sie gehören zu den in § 5 Abs. 5 SGB V genannten selbständig Erwerbstätigen oder zu den in § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V genannten versicherungsfreien Personen oder hätten zu diesen gehört). Die Einbeziehung dieser bis dato nichtversicherten Personen in die gesetzliche Krankenversicherung richtet sich mithin danach, ob sie nach ihrem „Status“ 137 Auf die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten kommt es im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr an, siehe etwa Jürgen Kruse, in: Kruse/Hänlein, Gesetzliche Krankenversicherung, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Aufl., 2003, § 5 Rn. 4. 138 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378.

II. Derzeitiger status quo einschließlich Gesundheitsreform 2007

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und „der in den §§ 5 und 6 [SGB V] zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Wertentscheidung der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuordnen“ sind.139 Zusammen mit der infolge der Gesundheitsreform 2007 zum 1.1.2009 in Kraft tretenden, im dann geltenden § 193 Abs. 3 VVG geregelten Pflicht zum Abschluß einer privaten Krankenversicherung für diejenigen Personen, die nicht bereits in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert oder versicherungspflichtig sind, besteht dann in Deutschland erstmals eine umfassende, für jedermann geltende Krankenversicherungspflicht (entweder in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung). Gesetzgeberisches Anliegen dieser lückenlosen Krankenversicherungspflicht ist es dabei, den „in einem modernen Sozialstaat [. . .] nicht hinnehmbar[en]“ Zustand zu beseitigen, daß „eine größere Anzahl von Menschen ohne Absicherung im Krankheitsfall ist“.140 Obwohl die gesetzliche Krankenversicherungspflicht gemeinhin nicht für hauptberuflich Selbständige gilt (vgl. § 5 Abs. 5 SGB V), sind mit den Landwirten, Künstlern und Publizisten auch bestimmte Gruppen von Selbständigen in die Krankenversicherungspflicht einbezogen (vgl. § 2 KVLG 1989, § 1 KSVG), welche nicht als typische Selbständige betrachtet werden141. c) Vom Versicherungszwang ausgenommene Personen (Versicherungsfreiheit) Vom Versicherungszwang ausgenommene, mithin versicherungsfreie Personengruppen benennen die §§ 6, 7 SGB V. Für Arbeiter und Angestellte endet die Versicherungspflicht dabei insbesondere nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bei Eintritt von Versicherungsfreiheit durch Erreichen eines regelmäßigen Arbeitsentgelts, welches die Jahresarbeitsentgeltgrenze nach den Absätzen 6 oder 7 des § 6 SGB V übersteigt und in drei aufeinander folgenden Kalenderjahren überstiegen hat; dies gilt indes nicht für Seeleute142. Im Jahr 2003 betrug diese Grenze nach § 6 Abs. 6 S. 1 SGB V 45.900,– A. Für die nachfolgenden Jahre ergibt sich deren Berechnung aus § 6 Abs. 6 S. 2, 3 SGB V; die Bundesregierung setzt gemäß § 6 Abs. 6 S. 4 SGB V die jeweilige Jahresarbeitsentgeltgrenze in der Verordnung nach § 160 SGB VI fest: So betrug im Jahr 2006 139 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, S. 94. 140 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, S. 94. 141 Jürgen Kruse, in: Kruse/Hänlein, Gesetzliche Krankenversicherung, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Aufl., 2003, § 5 Rn. 3. 142 Mit Ausnahme wiederum von nicht-deutschen Besatzungsmitgliedern deutscher Seeschiffe, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich des SGB V haben, siehe § 6 Abs. 1 Nr. 1a SGB V.

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die Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 6 SGB V gemäß § 4 Abs. 1 der Verordnung über maßgebende Rechengrößen in der Sozialversicherung für 2006 vom 21.12.2005143 (Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung 2006) 47.250,– A, im Jahr 2008 beträgt sie gemäß § 4 Abs. 1 der Verordnung über maßgebende Rechengrößen in der Sozialversicherung für 2008 vom 5.12.2007144 (Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung 2008) 48.150,– A. Kraft Gesetz versicherungsfrei sind nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 bis 8 SGB V ferner: Beamte, Richter und Soldaten ebenso wie Geistliche der als öffentlichrechtliche Körperschaften anerkannten Religionsgesellschaften und an privaten genehmigten Ersatzschulen hauptamtlich beschäftigte Lehrer, wenn sie nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und Beihilfe (oder Heilfürsorge) haben (Nr. 2, 4, 5), auch soweit sie Pensionäre mit Anspruch auf Ruhegehalt oder ähnliche Bezüge sind (Nr. 6), in Ausnahme von § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, nicht jedoch von Nr. 9 und 10145 Studenten sowie Schüler von Fachschulen, die während der Dauer ihres Studiums oder ihrer fachlichen Ausbildung gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind (Nr. 3), gemeinnützig und ehrenamtlich tätige Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Diakonissen und ähnliche Personen (Nr. 7) sowie Personen, die nach dem Krankheitsfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften bei Krankheit geschützt sind (Nr. 8). Ebenfalls versicherungsfrei sind nach § 6 Abs. 2 SGB V Rentner (§ 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V), die Hinterbliebene von nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 und 4 bis 6 SGB V versicherungsfreien Beamten, Richtern, Soldaten oder „beamtenähnlichen“146 Personen sind, wenn sie ihren Rentenanspruch nur aus der Versicherung dieser Personen ableiten und nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Beihilfe haben. Grundsätzlich versicherungsfrei sind zudem nach § 6 Abs. 3a SGB V Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert waren und mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder als hauptberuflich Selbständiger nicht versicherungspflichtig waren. Nach § 7 SGB V sind auch geringfügig Beschäftigte im Sinne von §§ 8, 8a SGB IV147 versicherungsfrei. 143

BGBl. I, S. 3627. BGBl. I, S. 2797. 145 Eckhard Bloch, in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 17 Rn. 11. 146 Eckhard Bloch, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 17 Rn. 9. 147 Gemäß § 8 Abs. 1 SGB IV liegt eine geringfügig Beschäftigung vor, wenn das Arbeitsentgelt aus dieser Beschäftigung regelmäßig im Monat 400 Euro nicht übersteigt oder wenn die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei 144

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Die nach dem Zweiten Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989) versicherten Personen sind gemäß § 3a KVLG 1989 versicherungsfrei, wenn die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1, 2 oder 4 bis 8 oder des § 6 Abs. 3a SGB V erfüllt sind oder sie Mitglieder des Deutschen Bundestages, eines Landtages oder Versorgungsempfänger nach den Abgeordnetengesetzen des Bundes oder der Länder sind. Für den nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz versicherten Personenkreis ergibt sich Versicherungsfreiheit aus den in § 5 Abs. 1 KSVG geregelten Tatbeständen. d) Befreiung von der Versicherungspflicht Auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit werden können die in § 8 Abs. 1 SGB V genannten Personengruppen. Hierzu gehören Personen, deren Versicherungspflicht durch einen der nachfolgenden Umstände eintritt: nach Nr. 1 wegen Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 6 S. 2 oder Abs. 7 SGB V, nach Nr. 1a durch den Bezug von Arbeitslosengeld oder Unterhaltsgeld, wenn der Betroffene in den letzten fünf Jahren nicht gesetzlich krankenversichert war, er bei einem (privaten) Krankenversicherungsunternehmen versichert ist und Vertragsleistungen erhält, die nach Art und Umfang den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen, nach Nr. 2 durch Aufnahme einer nicht vollen Erwerbstätigkeit nach § 2 des Bundeserziehungsgeldgesetzes während der Elternzeit, nach Nr. 3 weil die Arbeitszeit auf die Hälfte oder weniger der regelmäßigen Wochenarbeitszeit vergleichbarer Vollbeschäftigter des Betriebes herabgesetzt wird, nach Nr. 4 durch Antrag auf oder Bezug von Rente oder durch die Teilnahme an einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, nach Nr. 5 durch die Einschreibung als Student oder durch die berufspraktische Tätigkeit gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 oder 10 SGB V, nach Nr. 6 durch die Beschäftigung als Arzt im Praktikum oder nach Nr. 7 durch die Tätigkeit in einer Einrichtung für behinderte Menschen nach § 5 Abs. 1 Nr. 7 oder 8 SGB V. Nach § 2 KVLG 1989 versicherungspflichtige Landwirte werden gemäß § 4 Abs. 1 KVLG 1989 auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit, wenn der Betreffende versicherungspflichtig wird durch seine Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer und der Wirtschaftswert des landwirtschaftlichen Unternehmens „60.000 Deutsche Mark“148 übersteigt oder durch Antragstellung auf eine Monate oder 50 Arbeitstage nach ihrer Eigenart begrenzt zu sein pflegt oder im voraus vertraglich begrenzt ist, es sei denn, daß die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt im Monat 400 Euro übersteigt. Dies gilt nach § 8 Abs. 3 SGB IV entsprechend für selbständige Tätigkeiten. Nach § 8a SGB IV gilt § 8 SGB IV ebenso für geringfügige Beschäftigungen, die ausschließlich in privaten Haushalten ausgeübt werden. 148 Die Währungsumstellung von Deutscher Mark auf Euro ist an dieser Stelle des Gesetzes unberücksichtigt geblieben.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

oder Bezug einer Rente nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte. Wer erstmals eine Tätigkeit als (selbständiger) Künstler oder Publizist aufnimmt und nicht zu dem Personenkreis gehört, der nach § 5 Abs. 1 KSVG von der Versicherungspflicht befreit ist, wird gemäß § 6 KSVG auf Antrag von der Krankenversicherungspflicht befreit, wenn er eine Versicherung für den Krankheitsfall bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen nachweist, welche Vertragsleistungen bietet, die den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei Krankheit entsprechen. Nach § 7 KSVG ist eine Befreiung auf Antrag zudem möglich, wenn der selbständige Künstler oder Publizist in drei aufeinanderfolgenden Jahren ein Arbeitseinkommen erzielt, das über der Summe der Beträge liegt, die nach § 6 Abs. 6 SGB V als Jahresarbeitsentgeltgrenze festgelegt waren. e) Freiwillige Versicherung (Versicherungsberechtigte) Neben der Versicherungspflicht besteht für einige Personengruppen auch die Möglichkeit zum freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung, und zwar nach den §§ 9 SGB V, 6 KVLG 1989. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB V sieht die Möglichkeit zum freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung für folgende Personen vor: gemäß Nr. 1 für Personen, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind149 und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren (sog. Vorversicherungszeit, siehe § 9 Abs. 1 S. 2 SGB V), gemäß Nr. 2 für Personen, deren Familienversicherung (§ 10 SGB V)150 erlischt oder wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 SGB V nicht besteht, nach Nr. 4 für schwerbehinderte Menschen nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches, wenn sie, ein Elternteil, ihr Ehegatte oder ihr Lebenspartner (im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes) in den letzten fünf Jahren vor dem Beitritt mindestens drei Jahre versichert waren oder sie diese Voraussetzungen wegen ihrer Behinderung nicht erfüllen konnten, nach Nr. 5 für Arbeitnehmer, deren Mitgliedschaft durch Beschäftigung im Ausland endete, wenn sie innerhalb von zwei Monaten nach Rückkehr in das Inland wieder eine Beschäftigung aufnehmen, nach Nr. 6 innerhalb von sechs Monaten für 149 Strittig ist diesbezüglich, ob hierunter auch Personen fallen, die sich nach § 8 SGB V bzw. nach §§ 2 KVLG 1989, 6 KSVG von der Versicherungspflicht haben befreien lassen; siehe hierzu näher Eckhard Bloch, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 17 Rn. 48 ff. 150 Siehe dazu sogleich im Nachfolgenden, sub f).

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Rentenbezieher unter den dort genannten besonderen Voraussetzungen, nach Nr. 7 innerhalb der dort genannten Fristen für Spätaussiedler und deren Ehegatten und Abkömmlinge, wenn sie bis zum Verlassen ihres früheren Versicherungsbereiches bei einem dortigen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren, sowie nach Nr. 8 innerhalb von sechs Monaten ab dem 1.1. 2005 für Personen, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz bezogen haben und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert waren. § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 SGB V entsprechende Möglichkeiten zum freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung der Landwirte sieht § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 KVLG 1989 vor. f) Familienversicherung Über die sog. Familienversicherung (§ 10 SGB V) sind in der gesetzlichen Krankenversicherung auch Ehegatten, Lebenspartner (im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes) und die Kinder von Mitgliedern sowie die Kinder von familienversicherten Kindern versichert. Es handelt sich hierbei um eine eigene, beitragslose Versicherung der Familienangehörigen von Mitgliedern, die von der Stammversicherung des Mitglieds abhängig ist.151 Voraussetzung für die Versicherung ist, daß die Familienangehörigen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 bis 8, 11 oder 12 SGB V oder nicht freiwillig versichert sind, nicht versicherungsfrei (mit Ausnahme von § 7 SGB V) oder nicht von der Versicherungspflicht befreit sind, nicht hauptberuflich eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben und kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuchs überschreitet (siehe § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 5 SGB V). Die Familienversicherung der Kinder bestimmt sich zudem nach den Altersgrenzen des § 10 Abs. 2 SGB V: Danach besteht die Versicherung für Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (Nr. 1), bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres, wenn das Kind nicht erwerbstätig ist (Nr. 2), bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, wenn das Kind sich in der Schul- oder Berufsausbildung befindet (Nr. 3), ohne Altersgrenze, wenn das Kind wegen einer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind nach den Nummern 1, 2 oder 3 versichert war (Nr. 4). Nach § 10 Abs. 3 SGB V sind Kinder nicht versichert, wenn der mit den Kindern verwandte Ehegatte oder Lebenspartner (im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes) des Mitglieds nicht Mitglied einer Krankenkasse ist und sein Gesamteinkommen regelmäßig

151 Siehe dazu auch Eckhard Bloch, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 18 Rn. 1.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

im Monat ein Zwölftel der Jahresarbeitsentgeltgrenze übersteigt und regelmäßig höher als das Gesamteinkommen des Mitglieds ist. g) Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung Gemäß § 20 Abs. 1 SGB IV werden die (finanziellen) Mittel der Sozialversicherung (einschließlich der Arbeitslosenförderung) nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige durch Beiträge der Versicherten, der Arbeitgeber und Dritter, durch staatliche Zuschüsse und durch sonstige Einnahmen aufgebracht. Nach § 220 Abs. 1 S. 1 SGB V werden die Mittel für die gesetzliche Krankenversicherung durch Beiträge und sonstige Einnahmen erzielt; die Beiträge sind dabei so zu bemessen, daß sie zusammen mit den sonstigen Einnahmen die voraussichtlichen Ausgaben und die vorgeschriebene Auffüllung der Rücklage bzw. ab 1.1.2009 den Aufbau der Liquiditätsreserve für den Gesundheitsfonds decken (§ 220 Abs. 1 S. 2 SGB V). § 221 SGB V sieht Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung vor. Die Beiträge sind nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder zu bemessen (§ 223 Abs. 2 SGB V), und zwar bis zur Höhe der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 7 SGB V152 (sog. Beitragsbemessungsgrenze, § 223 Abs. 3 SGB V). Beitragspflichtige Einnahmen der Pflichtversicherten sind gemäß § 226 Abs. 1 SGB V vor allem das Arbeitseinkommen oder Rentenbezüge. Für freiwillig Versicherte sowie über § 227 für nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V Versicherungspflichtige richtet sich die Beitragsbemessung nach § 240 SGB V. Die Höhe der Beiträge bemißt sich grundsätzlich nach einem prozentualen Beitragssatz von den beitragspflichtigen Einnahmen (siehe im einzelnen die §§ 241 ff. SGB V) und orientiert sich somit nicht am individuellen Risiko des Versicherten, sondern an dessen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die §§ 249 ff. SGB V regeln, wer die Beiträge zu tragen hat: wesentlich ist hierbei vor allem die grundsätzlich hälftige Beteiligung von Arbeitgebern (bei beschäftigten Versicherten) und Rentenversicherungsträgern (bei Rentnern); freiwillig Versicherte hingegen tragen ihre Beiträge allein (§ 250 Abs. 2 SGB V, allerdings vorbehaltlich der Bezuschussungsmöglichkeit nach § 257 SGB V), ebenso wie Versicherungspflichtige nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V (mit Ausnahme der aus Arbeitsentgelt und Renten der gesetzlichen Rentenversicherung zu tragenden Beiträge, siehe § 250 Abs. 3 SGB V). Eine wesentliche Neuerung hinsichtlich der Finanzierung der einzelnen Krankenkassen bewirkt die Gesundheitsreform 2007153 mit dem zum 1.1.2009 Wirk152 Gemäß § 4 Abs. 2 der Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung für 2006 (Sozialversicherungsrechengrößen-Verordnung 2006) vom 21.12. 2005, BGBl. I, S. 3627, liegt diese bei 42.750 A. 153 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378.

II. Derzeitiger status quo einschließlich Gesundheitsreform 2007

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lichkeit werdenden „Gesundheitsfonds“ (siehe § 271 SGB V [2009]154): Während bisher die Beiträge direkt den Krankenkassen zufließen und dort verbleiben (vgl. §§ 28k, 28i SGB IV), werden sie unter dem „Gesundheitsfonds“ direkt an diesen gezahlt oder an ihn weitergeleitet (siehe § 252 Abs. 2 SGB V [2009]). Der Gesundheitsfonds wird gemäß § 271 Abs. 1 SGB V [2009] vom Bundesversicherungsamt als Sondervermögen verwaltet; neben den Beiträgen fließen in ihn auch die Bundeszuschüsse nach § 221 SGB V ein. Die Krankenkassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds für jeden ihrer Versicherten im Grundsatz standardisierte Pauschalbeträge, deren Höhe sich im einzelnen nach Maßgabe der §§ 266 ff. SGB V [2009] bemißt. Dabei wird durch diese Zuweisungen zugleich mittels alters-, geschlechts- und risikoadjustierter Zu- und Abschläge ein Risikostrukturausgleich zur Behebung der aus den unterschiedlichen Versichertenstrukturen der einzelnen Kassen resultierenden Vor- und Nachteile bewirkt, wohingegen der Risikostrukturausgleich nach der bisherigen Regelung (siehe § 266 SGB V) jährlich als separates Ereignis durchgeführt wird. 2. Private Krankenversicherung Das Verhältnis der privaten Krankenversicherung zur gesetzlichen wird maßgeblich geprägt durch den Umfang des in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversicherten Personenkreises, da für diesen der Abschluß einer privaten Krankheitskostenvollversicherung jedenfalls faktisch nicht in Betracht kommt; Raum verbleibt insoweit nur für den Abschluß einer privaten Krankenzusatzversicherung, die von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfaßte Leistungen abdeckt. Im Hinblick auf ihr Hauptgeschäftsfeld, den Abschluß von Kranheitskostenvollversicherungen, verbleiben den privaten Krankenversicherern damit als (potentielle) Kundschaft vornehmlich Selbständige, Beamte sowie diejenigen, deren Jahresgehalt oberhalb der Versicherungspflichtgrenze (Jahresarbeitsentgeltgrenze)155 liegt und in drei aufeinanderfolgenden Jahren gelegen hat (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Jede Erhöhung dieser häufig auch als „Friedensgrenze“ bezeichneten Pflichtversicherungsgrenze geht insoweit – jedenfalls bei gleichbleibenden Einkommen bzw. gleichbleibender Einkommensverteilung – zu Lasten des Betätigungsfeldes der privaten Krankenversicherung.156 Glei154 Durch den Klammerzusatz „[2009]“ werden im folgenden diejenigen gesetzlichen Regelungen gekennzeichnet, welche erst zum 1.1.2009 in Kraft treten (s. genauer auch Abkürzungsverzeichnis). 155 Siehe zu dieser oben 1. Teil, II. 1. c). 156 Siehe zu den speziell mit diesem Themenkomplex verbundenen verfassungsrechtlichen Problemen Herbert Bethge/Christian von Coelln, Die gesetzliche Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze in der Gesetzlichen Krankenversicherung als möglicher Verstoß gegen die Grundrechte privater Krankenversicherungsunternehmen, VSSR 2004, S. 199 ff.; Friedrich E. Schnapp/Markus Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversiche-

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

ches gilt etwa für die durch die Gesundheitsreform 2007157 eingeführte Veränderung, nach welcher die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung nunmehr nicht schon bei einmaligem Überschreiten eintritt, sondern erst bei Überschreitung in drei aufeinander folgenden Jahren (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V), denn auch hierdurch wird – wie vom Gesetzgeber ausdrücklich intendiert158 – der Wechsel der Betroffenen von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung erschwert. Regelungen für den Geschäftsbetrieb einer privaten Krankenversicherung sowie für deren vertraglich-inhaltliche Ausgestaltung enthalten das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG, dort vornehmlich in den §§ 12 ff.) und das Versicherungsvertragsgesetz (VVG, dort insbesondere die §§ 192 ff.). Diese Regelungen dienen vor allem der Gewährleistung der Qualität des Produktes „Krankenversicherung“. Die Finanzierung der privaten Krankenversicherer erfolgt durch die Einnahmen aus den Prämien der Versicherten. Bei der Ermittlung der Prämienhöhen sind Privatversicherer grundsätzlich frei, d. h. sie haben die Freiheit, die Prämienhöhe letztlich nach ihrem Belieben so zu kalkulieren, wie es ihnen wirtschaftlich am sinnvollsten bzw. erfolgversprechendsten erscheint; allerdings ist die Erlaubnis zum Betrieb eines Versicherungsgeschäfts zu versagen, wenn die Belange der Versicherten oder die dauerhafte Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen nicht gewahrt erscheinen (siehe § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 VAG). Daß dabei für den wirtschaftlich erfolgreichen, seriösen Betrieb einer Versicherung die Beachtung wirtschaftlich-rationaler und damit versicherungsmathematischer Standards praktisch unverzichtbar ist, liegt auf der Hand. Für den Bereich der substitutiven privaten Krankenversicherung (d. h. der die gesetzliche Krankenversicherung ganz oder teilweise zu ersetzen geeigneten privaten Krankenversicherung) macht § 12 Abs. 1 Nr. 1 VAG entsprechende gesetzliche Vorgaben, schreibt also die Prämienberechnung auf versicherungsmathematischer Grundlage vor. Infolge der Gesundheitsreform 2007159 treten allerdings zum 1.1.2009 Regelungen in Kraft, die ihrer Konzeption nach völlig neuartige Strukturen im Bereich der privaten (substitutiven) Krankenversicherung schaffen. So gibt es dann auch im Bereich der privaten Krankenversicherung eine Versicherungsrung, 2001; Michael Wollenschläger/Jutta Krogull, Zur Verfassungsmäßigkeit der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung durch das Beitragssatzsicherungsgesetz, NZS 2005, S. 237 ff.; siehe ferner BVerfGK 2, S. 283 ff. und BVerfG-Kammer, ZFSH/SGB 2004, S. 185 ff. 157 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378. 158 Siehe Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKVWSG) vom 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, S. 95. 159 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378.

II. Derzeitiger status quo einschließlich Gesundheitsreform 2007

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pflicht, da durch den neuen § 193 Abs. 3 S. 1 VVG [2009] jede Person mit Wohnsitz in Deutschland verpflichtet wird, bei einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen (privaten) Versicherungsunternehmen für sich selbst und die von ihr gesetzlich vertretenen Personen (soweit diese nicht selbst Verträge abschließen können) eine Krankheitskostenvollversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Diese Versicherungspflicht entfällt gemäß § 193 Abs. 3 S. 2 VVG [2009] für Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert oder versicherungspflichtig sind (Nr. 1) oder hinsichtlich bestimmter anderer Leistungen anspruchsberechtigt sind (siehe im einzelnen § 193 Abs. 3 S. 2 Nr. 2–4 VVG [2009]), so daß die Versicherungspflicht in der privaten Krankenversicherung im Ergebnis für Personen besteht, welche „systematisch“ der privaten Krankenversicherung zuzuordnen sind160. Des weiteren müssen die privaten Krankenversicherungen auf Grundlage von § 12 Abs. 1a–1d VAG [2009] ab 1.1.2009 einen „bezahlbaren Basistarif“161 anbieten, welcher – unter Ablösung des bisher in § 257 SGB V geregelten, in seiner Wirkung aber für unzureichend erachteten162 „Standardtarifs“ – für bestimmte Personengruppen ein den Leistungen und Tarifen der gesetzlichen Krankenversicherung angenäherten Versicherungsschutz schaffen soll.163 Gewährt werden muß dieser Basistarif gemäß § 12 Abs. 1b VAG [2009] allen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 1 VAG [2009]), allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig sind, nicht zum Personenkreis nach Nr. 1 (oder nach § 193 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 und 4 VVG [2009]) gehören und die nicht bereits eine private Krankheitskostenvollversicherung mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben, welche der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 VVG genügt (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 2 VAG [2009]), des weiteren Personen, die beihilfeberechtigt sind oder vergleichbare Ansprüche haben, soweit sie zur Erfüllung der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 S. 1 VVG [2009] ergänzenden Versicherungsschutz benötigen (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 VAG [2009]), sowie allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die bereits eine private Krankheitskostenvollversicherung mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben und deren Vertrag nach dem 31.12.2008 abgeschlossen wird (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 4 VAG [2009]). Ist der private Krankheitskostenversicherungsvertrag vor dem 1.1.2009 abgeschlossen, kann bei Wechsel oder Kündigung des Vertrages der Abschluß eines Ver-

160 161 162 163

aa).

Vgl. auch Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 92, 94. Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 94. Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 245. Siehe ausführlich und im einzelnen auch unten 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. b)

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

trages im Basistarif nur bis zum 30.6.2009 verlangt werden (§ 12 Abs. 1b S. 2 VAG [2009]. Durch diese Regelungen sollen letztlich „jeder PKV-Versicherte, freiwillig GKV-Versicherte und alle Nichtversicherten, die vormals in der PKV versichert waren oder systematisch der PKV zuzuordnen sind, [. . .] in den Basistarif wechseln“ können164. Es besteht hinsichtlich des Basistarifs grundsätzlich Kontrahierungszwang; der Vertragsschluß darf nur unter den engen Voraussetzungen des § 12 Abs. 1b S. 4 VAG [2009] abgelehnt werden. Die „Bezahlbarkeit“ des Basistarifs flankiert zudem den durch § 193 Abs. 3 VVG [2009] angeordneten Versicherungszwang. „Um die Bezahlbarkeit des Basistarifs zu gewährleisten“165 werden bezüglich der Kalkulation seiner Prämien bzw. Beiträge Einschränkungen der Kalkulationsfreiheit vorgenommen: So etwa darf der Beitrag für den Basistarif den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übersteigen (§ 12 Abs. 1c S. 1 VAG [2009]), und § 203 Abs. 1 S. 2 VVG [2009] schließt Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse infolge eines erhöhten individuellen Risikos des Versicherten aus. § 12 Abs. 1c S. 4–6 VAG [2009] sieht Maßnahmen zur Verhinderung finanzieller Überforderung von Versicherten vor, sofern durch die Bezahlung der regulären Beiträge des Basistarifs Hilfebedürftigkeit im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausgelöst würde166. Daß mit der Einführung des Basistarifs nicht unerhebliche Belastungen auf die privaten Krankenversicherer zukommen werden, sieht der Gesetzgeber voraus und verpflichtet daher die betroffenen Unternehmen durch § 12g VAG [2009], sich zur dauerhaften Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus den Versicherungen am Ausgleich der Versicherungsrisiken im Basistarif zu beteiligen und dazu ein Ausgleichssystem zu schaffen, dem sie angehören und das einen dauerhaften und wirksamen Ausgleich der unterschiedlichen Belastungen gewährleistet. Bis zum Inkrafttreten der Vorschriften über den Basistarif regelt ab dem 1.7.2007 der zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene § 315 SGB V bereits eine Art Vorstufe zum Basistarif, indem er Personen, die weder in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert oder versicherungspflichtig sind noch über eine private Krankheitskostenvollversicherung oder die übrigen in § 315 Abs. 1 S. 1 SGB V genannten Ansprüche bzw. Leistungen verfügen, die Möglichkeit einräumt, bis zum 31.12.2008 Versicherungsschutz im Standardtarif gemäß § 257 Abs. 2a SGB V zu verlangen. Der Standardtarif, der bis dahin nur für die in § 257 Abs. 2a SGB V genannten Personen in Betracht kam, ist für die in § 315 164 165 166

Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 92. Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 207. Siehe auch Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 92.

II. Derzeitiger status quo einschließlich Gesundheitsreform 2007

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Abs. 1 SGB V genannten Personengruppen in seiner sozialen, seine Bezahlbarkeit sichernden Ausgestaltung weitestgehend dem Basistarif angenähert (siehe im einzelnen § 315 Abs. 2 und 3 SGB V). Die auf Grundlage von § 315 SGB V geschlossenen Verträge werden ab dem 1.1.2009 im Basistarif weitergeführt (§ 315 Abs. 4 SGB V). Durch die ab 1.1.2009 geltenden Regelungen über den Versicherungszwang und den eher sozialen als versicherungsmathematisch-betriebswirtschaftlichen Kalkulationskritierien folgenden Basistarif wird die Privatversicherung im Ergebnis ein Stück weit den Strukturen der Sozialversicherung angenähert, mithin sozialstaatlich angereichert bzw. aufgeladen. 3. Statistik167 Die Anzahl der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Personen ist im Lauf der Zeit, wie auch aus den vorhergehenden Ausführungen deutlich wird, beständig größer geworden. Waren es vor der „Bismarck’schen“ Sozialversicherung nur etwa 5%, steigerte sich die Zahl nach deren Einführung bereits auf etwa 20% im Jahre 1910; 1930, unter Geltung der Reichsversicherungsordnung, waren es bereits über 30%, 1938 lag die Zahl bei 38%.168 Dieser Trend setzte sich in der bundesrepublikanischen Zeit weiter fort: 1951 waren von ca. 51 Mio. Einwohnern der Bundesrepublik (einschließlich WestBerlin und Saarland, ohne DDR) etwa 21,6 Mio. und somit etwa 42% Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, 1960 mit 27,1 Mio. von ca. 56 Mio. und 1970 mit 30,6 Mio. von 61 Mio. jeweils knapp 50%. 1980 war die Prozentzahl auf ca. 57% gestiegen (35,3 Mio. von 61,6 Mio.), 1990 vor der Wiedervereinigung lag sie bei fast 60% (37,9 Mio. von 63,7 Mio.). Im wiedervereinigten Deutschland waren 1991 mit 50,3 Mio. von 80,3 Mio. Einwohnern etwa 63% der Bevölkerung Deutschlands Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung, im Jahre 2000 lag dieser Wert bei etwa 62% (51,0 Mio. von 82,3 Mio.).

167 Soweit das folgende Zahlenmaterial nicht bereits in den vorhergehenden Ausführungen zur Geschichte der GKV bis zum Jahre 1945 belegt wurde oder in den nachfolgenden Fußnoten separat belegt wird, stützen sich die benutzten Zahlenangaben auf folgende Quellen: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872– 1972, Wiesbaden 1972; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006; Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.), Gesetzliche Krankenversicherung – Mitglieder und mitversicherte Angehörige nach Altersgruppen (vom 1. Okt. 1992 bis 1. Juli 2004), Stand: 21.2.2005; Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Gesetzliche Krankenversicherung – Mitglieder, mitversicherte Angehörige, Beitragssätze und Krankenstand, Monatswerte Dezember 2006, Stand: 2.1.2007; Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zu den Mitgliederzahlen der gesetzlichen Krankenversicherung von 1950 bis 2004. 168 Siehe zu diesen Zahlen auch schon oben, 1. Teil, I.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

Im Jahre 2006 (Stichtag: 31.12.) umfaßte die gesetzliche Krankenversicherung ca. 50,8 Mio. Mitglieder; gemessen an einer Bevölkerungszahl von etwa 82,5 Mio. sind das 61,5%. Zugleich waren ca. 19,7 Mio. Menschen über die Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert. Insgesamt waren damit im Jahre 2006 knapp 70,5 Mio. von 82,5 Mio. und damit über 85% der Bevölkerung der Bundesrepublik gesetzlich krankenversichert. Demgegenüber hatten im Jahre 2006 (Stichtag: 31.12.) ca. 8,5 Mio. Personen und damit 10,3% der Bevölkerung eine private Krankenvollversicherung.169 Dabei wechselten rund 278.500 Personen von der gesetzlichen in eine private Krankenversicherung, während etwa 144.000 wegen Eintritts der Versicherungspflicht von der privaten in gesetzliche Krankenversicherung zurückkehrten.170 Über private Krankenzusatzversicherungen (Krankentagegeldversicherung, Krankenhaustagegeldversicherung, ambulante Zusatzversicherung, Versicherung für Wahlleistungen im Krankenhaus) verfügten insgesamt etwa 18,4 Mio. Personen.171

III. Systemansätze für eine grundlegende Reform des Krankenversicherungssystems An dieser Stelle soll ein Überblick gegeben werden über die verschiedenen Modelle zur Umgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung resp. des bipolaren Krankenversicherungssystems, die insbesondere in der Zeit vor der durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG)172 bewirkten Gesundheitsreform 2007 diskutiert wurden,173 dann allerdings in der durch die Bundestagswahl vom 18.9.2005 hervorgebrachten „Großen Koalition“ von SPD und CDU/CSU im 16. Deutschen Bundestag nicht mehr zu verwirklichen wa-

169 Quelle für die Daten: Rechenschaftsbericht der privaten Krankenversicherung 2006, hrsg. vom Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Verband). 170 Quelle für die Daten: Rechenschaftsbericht der privaten Krankenversicherung 2006, hrsg. vom Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Verband). 171 Ohne Berücksichtigung von privater Pflegezusatzversicherung. Quelle für die Daten: Rechenschaftsbericht der privaten Krankenversicherung 2006, hrsg. vom Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Verband). Da die Mitgliedsunternehmen in ihren Bestandsdaten nicht unterscheiden können, ob eine zusatzversicherte Person ihren Grundschutz in der GKV, bei einem anderen PKV-Unternehmen oder in der Gruppenversicherung abgeschlossen hat und ob noch bei weiteren Unternehmen Zusatzversicherungen bestehen, enthalten diese Daten Doppelzählungen. 172 Vom 26.3.2007 – BGBl. I, S. 378. 173 Siehe hierzu auch den umfassenden Überblick durch Fritz Beske/Thomas Drabinski, Veränderungsoptionen in der gesetzlichen Krankenversicherung – Bürgerversicherung, Kopfpauschale und andere Optionen im Test, 2004.

III. Systemansätze für eine grundlegende Reform

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ren, weil die unterschiedlichen Konzepte, die die Parteien zur Reform der Krankenversicherung entwickelt hatten, „sich nicht ohne weiteres vereinbaren lassen“174. Da die Umsetzung dieser im folgenden näher beleuchteten Konzepte aber letztlich vor allem an der politischen Realität einer auf Kompromißfindung angewiesenen Großen Koalition scheiterte, sind sie als Reformoptionen auch für die nähere Zukunft keineswegs hinfällig, zumal der mit der Gesundheitsreform 2007 gefundene „Gesundheitskompromiß“ zumindest in gewissen Ansätzen Teilaspekte dieser unterschiedlichen Konzepte enthält (dazu näher im folgenden), so daß durch ihn der Weg hin zur jeweiligen „Reinform“ eines der Konzepte keineswegs verbaut wurde. Daß unter geänderten Regierungsverhältnissen und angesichts der einer gewissen Periodizität unterliegenden Notwendigkeit zu (weiteren) Reformmaßnahmen am Gesundheitssystem diese oder sonstige Reformkonzepte wieder Aktualität erlangen – und mit ihnen auch die diesbezüglichen Fragen hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit –, dürfte also allenfalls eine Frage der Zeit sein. 1. Bürgerversicherung Gestützt auf den im August 2003 vorgelegten Bericht der im November 2002 von der Bundesgesundheitsministerin eingesetzten Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme (nach deren Vorsitzenden Bert Rürup gemeinhin als „Rürup-Kommission“ bezeichnet) wurde das System einer sog. „Bürgerversicherung“ diskutiert175. Hierunter wird – zumindest im Grundsatz – ein gesetzliches Krankenversicherungssystem verstanden, dessen Versicherungspflicht sich grundsätzlich auf alle Bürger176 erstreckt.

174 Siehe den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD „Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit“ vom 11.11.2005, unter Punkt IV. 7.2.2. 175 Siehe hierzu den (Abschluß-)Bericht der Kommission „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“, hrsg. v. Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, 2003, 4.3.1. (S. 149 ff.); ferner den diesbezüglichen Beschluß auf dem Bundesparteitag der SPD in Bochum, 17. bis 19. November 2003, Beschlüsse, S. 46; ebenso den diesbezüglichen Beschluß des Parteirates von Bündnis 90/Die Grünen vom 15. September 2003, Berlin. 176 Dabei ist die Bezeichnung als „Bürgerversicherung“ streng genommen begrifflich unscharf, weil als „Bürger“ gemeinhin nur die Deutschen im Sinne von Art. 116 GG bezeichnet werden, wohingegen die „Bürgerversicherung“ sich im Extremfall auf alle in Deutschland lebenden Bevölkerungsgruppen, also auch hier lebende NichtDeutsche, erstrecken soll, so daß die Bezeichnung als „Einwohnerversicherung“ oder „Volksversicherung“ treffender wäre, siehe hierzu auch Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393; Ferdinand Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, NZS 2004, S. 1; Helge Sodan, Die Bürgerversicherung als „Bürgerzwangsversicherung“, ZRP 2004, S. 217 (218). – Gleichwohl sei die Bezeichnung als „Bürgerversicherung“ auch im folgenden zugrunde gelegt, da sie sich – das Wortspiel sei erlaubt – eingebürgert hat.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

Während bis dato insbesondere Selbständige, Beamte sowie abhängig Beschäftigte mit einem Einkommen jenseits der Pflichtversicherungsgrenze177 nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig und überwiegend privat krankenversichert sind, bewirkt die „Bürgerversicherung“ die Ausdehnung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung auch auf diese Bevölkerungsteile und damit auf die gesamte Bevölkerung. Während bisher „nur“ etwa 70 Mio. Menschen und damit ca. 90% der Gesamtbevölkerung in der GKV versichert sind178, wären es unter einer „Bürgerversicherung“ alle. Zwar brächte die zusätzliche Einbeziehung dieser Bevölkerungsgruppen und die damit verbundene Verbreiterung der Einnahmebasis nicht nur Einnahmesteigerungen, sondern auch zusätzliche Leistungspflichten und damit Ausgabenbelastungen mit sich. Da jedoch diese neu einzubeziehenden Bevölkerungsgruppen in der Regel zu den „Besser-“ oder „Gutverdienenden“ gehören und demgemäß wegen der prozentualen Bemessung der Beitragssätze nach dem Einkommen relativ hohe Beiträge in die GKV würden einzahlen müssen, auf der anderen Seite aber davon ausgegangen wird (und werden kann), daß sie regelmäßig ein geringeres Krankheitsrisiko als der durchschnittliche GKV-Versicherte aufweisen179, demgemäß also in verhältnismäßig geringem Maße Leistungen in Anspruch nehmen müßten (sog. „gute Risiken“), würde sich dies im Endeffekt positiv auf die Finanzsituation der GKV auswirken. a) Bürgerversicherung in „Reinform“ In ihrer „Reinform“ würde die Bürgerversicherung dazu führen, daß grundsätzlich alle Bevölkerungsgruppen bei den gesetzlichen Krankenkassen pflichtversichert wären und die privaten Krankenversicherer – soweit diesen nicht wenigstens die bereits geschlossenen Versicherungsverhältnisse („Altverträge“) verbleiben – nur noch solche Versicherungsverträge abschließen könnten, die über das Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen („Zusatzversicherungen“).

177

Siehe oben 1. Teil, II, 1. c). Siehe oben 1. Teil, II. 3. 179 Die Logik hinter dieser Annahme ist folgende: Menschen, die verhältnismäßig gut verdienen, führen in der Regel auch ein „gesünderes“ Leben, sei es weil sie dazu die Mittel haben (etwa im Hinblick auf Ernährung, Urlaub etc.), sei es weil sie in der Regel keine körperliche Arbeit zu verrichten haben und ihre Berufstätigkeit daher weniger risikobehaftet ist. Vgl. hierzu etwa die betreffenden Statistiken in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, Kapitel „Gesundheitswesen“ (S. 229 ff.); Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Gesetzliche Krankenversicherung – Mitglieder, mitversicherte Angehörige und Krankenstand, Jahresdurchschnitte 1998 bis 2006, Berlin 2006, passim. 178

III. Systemansätze für eine grundlegende Reform

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b) „Abgeschwächte“ Bürgerversicherung Indes wurde unter den Befürwortern einer Bürgerversicherung auch eine gegenüber der beschriebenen Reinform „abgeschwächte“ Form diskutiert, die am grundsätzlichen Nebeneinander von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherern festhalten würde:180 Danach soll(te) die Versicherungspflichtgrenze abgeschafft werden und jeder Versicherte frei wählen können, ob er sich bei einer gesetzlichen oder einer privaten Krankenkasse (pflicht-)versichert. Allerdings wäre im Gegenzug eine weitgehende Angleichung der privaten Krankenversicherung an die gesetzliche vorgesehen. So soll diese Form der Bürgerversicherung einen einheitlichen Leistungskatalog umfassen, der im Grundsatz dem jetzigen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Ferner soll für die privaten Krankenkassen/-versicherer – wie bereits jetzt für die gesetzlichen Krankenkassen – ein Kontrahierungszwang und ein Verbot risikoabhängiger Prämien gelten; mit anderen Worten muß also jeder Versicherungswillige versichert werden und die Versicherungsbeiträge müssen unabhängig von Vorerkrankungen oder sonstigen Gesundheitsrisiken berechnet werden. Ferner ist die Einbeziehung der privaten Krankenversicherer in den zwischen den gesetzlichen Krankenkassen bestehenden Risikostrukturausgleich (RSA) vorgesehen, mittels welchem – zumindest seinem Grundgedanken nach – durch zum Teil massive Transferzahlungen zwischen den einzelnen Krankenkassen ein Ausgleich für Unterschiede in der Versichertenstruktur und daraus resultierende finanzielle Nachteile einzelner Krankenkassen intendiert ist. Der Unterschied dieser „abgeschwächten“ Bürgerversicherung unter Einbeziehung der privaten Krankenversicherer zum Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, wie es vor der Gesundheitsreform 2007 bestand, ist somit zunächst einmal der, daß eine Versicherungspflicht für jeden Bürger besteht und nicht nur für solche, die unterhalb einer (dann nicht mehr existenten) Versicherungspflichtgrenze liegen. Zwar bestünde dann im Gegenzug für jeden Bürger ein Wahlrecht, ob er seiner Versicherungspflicht bei einer privaten oder einer gesetzlichen Krankenkasse nachkommt, was auf den ersten Blick den Eindruck erwecken mag, daß nun jeder Bürger und nicht nur die finanziell Gutgestellten in den „Genuß“ einer privaten Krankenversicherung181 gelangen kann. Dieser vermeintliche Genuß würde aber dadurch relativiert, daß infolge der oben beschriebenen Angleichung der privaten Krankenversicherung 180 Siehe den Bericht der Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Parteivorstandes vom 26. August 2004 „Modell einer solidarischen Bürgerversicherung“; siehe ferner SPD-Parteivorstand, SPD-Eckpunkte für eine solidarische Bürgerversicherung, SozSich 2004, S. 286 ff. 181 Die Vorzüge, welche man derzeit als privat Krankenversicherter gegenüber einem gesetzlich Krankenversicherten jedenfalls im Hinblick auf den Leistungskatalog genießt, müssen an dieser Stelle nicht näher dargelegt, sondern können als gegeben vorausgesetzt werden.

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

an die gesetzliche kaum noch Unterschiede, vor allem bezüglich des Leistungskatalogs, zwischen einem Versicherungsverhältnis mit einer privaten und einem Versicherungsverhältnis mit einer gesetzlichen Krankenkasse bestünden; die signifikanten Unterschiede zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, welche eine private Krankenversicherung derzeit verhältnismäßig attraktiv erscheinen lassen, würden dann nivelliert sein, womit zugleich einem vielfach vorgetragenen Bedürfnis von Befürwortern der Bürgerversicherung Rechnung getragen wäre, nämlich der Abschaffung einer sog. „Zwei-Klassen-Medizin“182. Gegenüber einer Bürgerversicherung in „Reinform“ (s. o.) bestünde der Unterschied der „abgeschwächten“ Bürgerversicherung in der Einbeziehung der privaten Krankenversicherer in die Bürgerversicherung, wobei diese dann aber zumindest in diesem Bereich infolge ihrer Angleichung an die gesetzlichen Krankenkassen den oben dargestellten staatlichen Restriktionen unterliegen würden (einheitliches Leistungsangebot, Kontrahierungszwang, vorgeschriebene Beitragsbemessung, Einbeziehung in Risikostrukturausgleich). In Ansätzen finden sich gewisse Teilaspekte einer „abgeschwächten“ Bürgerversicherung, wie sie eben beschrieben wurde, bei genauerer Betrachtung bereits in der Gesundheitsreform 2007 wieder: Denn einerseits wird durch die bereits oben beschriebenen Regelungen dieser Reform eine für jedermann geltende Krankenversicherungspflicht entweder in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung vorgeschrieben. Und zum anderen enthält der durch die Gesundheitsreform 2007 für die private Krankenversicherung vorgeschriebene sog. Basistarif zahlreiche Elemente, die die Beitrags- bzw. Prämienbemessung (im Basistarif) von den bisher in der privaten Krankenversicherung üblichen marktwirtschaftlich-versicherungsmathematischen Kriterien loslösen und sie stattdessen mit Vorgaben durchsetzen, die an sozialen Belangen orientiert sind und den Basistarif vor allem insgesamt „bezahlbar“ machen, hilfsbedürftige Versicherte vor „finanzieller Überforderung“ schützen und den Erhalt von (privatem) Versicherungsschutz „zumutbar“ gestalten sollen183. Diese Elemente sind vor allem: ein Kontrahierungszwang im Basistarif, die Begrenzung der Prämie auf den durchschnittlichen Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung, der Ausschluß der Berücksichtigung des individuellen Krankheitsrisikos (Verbot von Risikozuschlägen oder Leistungsausschlüssen), eine Orientierung am Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenversicherung sowie Prämienreduzierungen bei Hilfsbedürftigkeit von Versicherten.184 Der Basistarif 182 Eine solche „Zwei-Klassen-Medizin“ wird vor allem in dem Umstand erblickt, daß Privatpatienten häufig bevorzugt behandelt werden, weil die Ärzte für sie höhere Vergütungen abrechnen können, und weil privat Krankenversicherte regelmäßig einen umfangreicheren Leistungskatalog in Anspruch nehmen können. 183 Siehe zu diesen Zielsetzungen des Basistarifs die Begründung zum GKVWSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 92, 207. 184 Siehe im einzelnen bereits oben 1. Teil, II. 2.

III. Systemansätze für eine grundlegende Reform

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stellt damit seiner Zielsetzung und Ausgestaltung nach nichts anderes dar als einen sozial bzw. sozial verträglich gestalteten privaten Krankenversicherungstarif, der dem Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung stark angenähert ist. Im Ergebnis kann der Basistarif auf Grundlage von § 12 Abs. 1b VAG [2009] auch von allen Personen verlangt werden, die nicht bereits in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert bzw. versicherungspflichtig sind: d. h. von allen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten, allen Versicherungslosen, allen Beihilfeberechtigten oder vergleichbar Anspruchsberechtigten hinsichtlich ergänzendem Versicherungsschutz und von allen Personen, die bereits eine „normale“ private Krankenvollversicherung haben; allerdings besteht hinsichtlich freiwillig GKV-Versicherten und Privatversicherten, deren Vertrag vor dem 1.1.2009 abgeschlossen wurde, eine Wechselfrist von sechs Monaten nach Einführung des Basistarifs bzw. bis zum 30. Juni 2009. Im Ergebnis soll und wird „jeder PKV-Versicherte, freiwillig GKV-Versicherte und alle Nichtversicherten, die vormals in der PKV versichert waren oder systematisch der PKV zuzuordnen sind, [. . .] in den Basistarif wechseln“ können185. Damit sind zwei der wesentlichen Strukturelemente einer „abgeschwächten“ Bürgerversicherung im oben beschriebenen Sinne zumindest teilweise durch die Gesundheitsreform 2007 erfüllt: eine umfassende Versicherungspflicht (wenn auch nicht: umfassende Sozialversicherungspflicht) für alle Einwohner sowie eine Angleichung der privaten Krankenversicherung (hinsichtlich des Basistarifs) an die charakteristischen „sozialen“ Elemente der gesetzlichen Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung. 2. „Kopfpauschalen“ bzw. „Gesundheitsprämien“ Ein anderes System für eine neustrukturierte gesetzliche Krankenversicherung stellt das Modell der sog. „Kopfpauschalen“ bzw. – weniger martialisch – der sog. „Gesundheitsprämien“ dar. Dieses geht in seinen Grundzügen vor allem auf den im September 2003 vorgelegten Bericht der vom Bundesvorstand der CDU im Februar 2003 eingesetzten Kommission „Soziale Sicherheit“ (nach deren Vorsitzendem Roman Herzog gemeinhin auch als „Herzog-Kommission“ bezeichnet) zurück, wobei aber auch die bereits oben erwähnte („Rürup“-)Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme ein solches Modell als Alternativvorschlag zur „Bürgerversicherung“ in ihrem Abschlußbericht unterbreitet hatte.186 185

Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 92. Siehe zum „Kopfpauschalen“- bzw. „Gesundheitsprämien“-Modell den (Abschluß-)Bericht der Kommission „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“, hrsg. v. Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, 2003, 4.3.2. (S. 161 ff.); den (Abschluß-)Bericht der Kommission „Soziale Sicherheit“ 186

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

Das Modell verzichtet im Gegensatz zur Bürgerversicherung auf eine Ausdehnung des Versichertenkreises der gesetzlichen Krankenversicherung (ließe sich damit aber gleichwohl koppeln), sondern setzt zur Erzielung einer nachhaltigen Finanzierbarkeit der GKV im Kern auf eine Umgestaltung der Versicherungsbeiträge:187 Diese sollen nicht mehr wie bisher prozentual nach der Höhe des Lohns des Versicherten bemessen sein. Vielmehr soll jeder Versicherte einen einheitlichen Pauschalbetrag zahlen, wobei der Arbeitgeberanteil bei einem festen Wert eingefroren und dem Versicherten als Lohnanteil ausgezahlt wird. (Die Höhe des für jeden zu entrichtenden Pauschalbetrages wurde auf voraussichtlich 200 bis 270 A beziffert188.) Intention dieses Modells ist vor allem die Entkoppelung von Löhnen bzw. Lohnnebenkosten und Krankenversicherungsbeiträgen. Denn deren bisherige Verkoppelung zieht unbefriedigende Folgen nach sich, da sie, abgesehen davon, daß die Arbeitgeber hierdurch infolge sich häufig ändernder Beitragssätze keine verläßliche Kalkulationsgrundlage für ihre Produktionskosten haben, zu einer gefährlichen Spirale führen kann: Müssen infolge erhöhter Ausgaben oder verminderter Einnahmen die gesetzlichen Krankenkassen den Beitragssatz erhöhen, verteuert sich wegen der dann steigenden Lohnnebenkosten auch der Faktor Arbeit. Diese Verteuerung birgt volkswirtschaftlich die Gefahr sinkender Beschäftigungszahlen, wenn zum Auffangen dieser Verteuerung Beschäftigte entlassen werden (müssen) oder einzelne Unternehmen sich nicht am Markt halten können bzw. den Standort Deutschland verlassen und ihre Produktion ins (billigere) Ausland verlegen. Dies führt wegen des dann sinkenden Gesamtlohnaufkommens wiederum zu verminderten Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen, was schlimmstenfalls wieder durch Beitragserhöhungen ausgeglichen werden muß, soll die finanzielle Stabilität der GKV gewahrt werden – und was dann wiederum zu einer (weiteren) Verteuerung der Lohnnebenkosten führt. Die Spizur Reform der sozialen Sicherungssysteme, 2003, unter II. (S. 16 ff.); ferner etwa den Beschluß des 17. Parteitages der CDU Deutschlands 2003 „Deutschland fair ändern“ vom 1./2. Dezember 2003; die „Eckpunkte der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung – für ein solidarisches Gesundheitsprämienmodell“, SozSich 2004, S. 375 ff.; Hartmut Reiners, Kopfpauschale und Versicherungspflicht für alle Bürger – Sinnvolle Alternative zur GKV?, SozSich 2003, S. 42 ff.; Bert Rürup, Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung durch pauschale Gesundheitsprämien, RPG 2004, S. 31 ff. 187 Gegenüberstellungen beider Systeme finden sich etwa bei Karl W. Lauterbach, Gesundheitsprämie versus Bürgerversicherung, SozSich 2005, S. 190 ff.; Bert Rürup, Die Empfehlungen der Nachhaltigkeitskommission, GMH 2004, S. 15 (21 ff.); Heinz Stapf-Finé, Bürgerversicherung oder Kopfpauschale?, SozSich 2004, S. 377 ff.; Astrid Wallrabenstein, Kopfprämien auf versicherte Bürger und weitere Ungereimtheiten zur Reform des Gesundheitswesens, SGb 2004, S. 24 ff. 188 Die Herzog-Kommission ging von 264 A aus (siehe deren Bericht, S. 23), die Rürup-Kommission von 210 A (siehe deren Bericht, S. 171), die CDU in ihrem Beschluß des 17. Parteitages von 200 A (siehe Beschluß des 17. Parteitages der CDU Deutschlands 2003 „Deutschland fair ändern“, S. 24).

III. Systemansätze für eine grundlegende Reform

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rale nimmt somit ihren Lauf, und sie „funktioniert“ natürlich genauso, wenn an ihrem Anfang ein – etwa gesamtkonjunkturell bedingtes – Sinken der Beschäftigungszahlen steht. Führt die Festsetzung eines einheitlichen Versichertenbeitrages für jeden auch dazu, daß nun jeder Versicherte für die Bereitstellung gleicher GKV-Leistungen das gleiche zahlt, wird dieser Umstand auch zum Anlaß für Kritik genommen: Denn durch die Einführung eines einheitlichen Versicherungsbeitrages in der oben genannten Höhe würden gerade die Bezieher geringerer Einkommen, die derzeit aufgrund der prozentualen Bemessung des Beitrages nach dem Einkommen natürlich auch nur relativ geringe Versicherungsbeiträge zu leisten haben, stärker belastet als bisher, wohingegen die Bezieher hoher Einkommen entlastet werden und die Entlastung umso größer wird, je höher das Einkommen des Versicherten ist. Je niedriger also das Einkommen ist, desto stärker ist – relativ gesehen – die Belastung durch den Versichertenbeitrag. Für besonders Einkommensschwache birgt dies die Gefahr, daß deren finanzielle Leistungsfähigkeit überschritten wird. Zudem erscheint bei Einführung pauschaler Versichertenbeiträge die der Sozialversicherung gemeinhin beigemessene soziale Ausgleichsfunktion auf den ersten Blick zumindest fraglich, welche – kurz gesagt – darin gesehen wird, daß die Leistungsfähigeren trotz gleichen Versicherungsschutzes mehr einzahlen als die weniger Leistungsfähigen und die Erstgenannten die Letztgenannten damit sozial unterstützen. Um gleichwohl eine Komponente des sozialen Ausgleichs in ein gesetzliches Krankenversicherungssystem mit einheitlichen Beiträgen zu integrieren, sollen den Leistungsschwachen steuerfinanzierte Zuschüsse zu ihrem Versicherungsbeitrag gewährt werden, damit deren Belastung nicht höher wird als ein bestimmter Prozentsatz von deren Bruttolohn – dieser Prozentsatz dürfte etwa bei der Höhe des derzeitigen Prozentsatzes des GKV-Beitrages liegen. Da „Besserverdienende“ zu dem zur Finanzierung dieser Zuschüsse aufzuwendenden Steueraufkommen wegen der prozentual bemessenen und progressiv steigenden Steuersätze mehr beitragen als Geringverdiener, wird der soziale Ausgleich zwischen „Besserverdienenden“ und „Schlechterverdienenden“ auf diesem Wege erreicht. Die erforderlichen zusätzlichen Steuermittel sollen – unter anderem – dadurch eingenommen werden, daß der „eingefrorene“ und dem Arbeitnehmer ausbezahlte Arbeitgeberanteil versteuert wird. Die Regelungen der Gesundheitsreform 2007 über den „Gesundheitsfonds“ (§§ 266 ff., 271 SGB V [2009])189 enthalten ein Stück weit inhaltliche Aspekte dieses „Kopfpauschalen-“ bzw. Gesundheitsprämienmodells, und zwar im Hinblick auf den Geldzufluß bei den Krankenkassen: Denn da die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die einzelnen Kassen pro Versichertem und ausgehend von einer Grundpauschale erfolgen, ist dies im Ergebnis dem Zufluß 189

Siehe bereits oben 1. Teil, II. 1. g).

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1. Teil: Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem

einer durch jeden Versicherten an die jeweilige Kasse zu zahlenden „Kopfpauschale“ vergleichbar. Das essentielle Anliegen des „Kopfpauschalenmodells“, nämlich die Entkoppelung der Versichertenbeiträge von den Lohnnebenkosten dadurch, daß von jedem Versicherten nur eine einheitlich standardisierte „Kopfpauschale“ als Versichertenbeitrag zu zahlen ist, wird durch den Gesundheitsfonds allerdings gerade nicht verwirklicht, da es bei der bisherigen, prozentual nach dem Einkommen des Versicherten bemessenen Beitragshöhe bleibt und die standardisierte „Kopfpauschale“ vielmehr aus einem zwischengeschalteten Vermögenstopf, eben dem Gesundheitsfonds, an die jeweilige Kasse fließt. 3. Privatisierung des gesamten Krankenversicherungssystems Ein weiterer Systemvorschlag wurde im Zuge der Diskussion um „Bürgerversicherung“ und „Kopfpauschalen“/„Gesundheitsprämien“ vor allem von der FDP unterbreitet190: Hiernach soll das gesamte System der (gesetzlichen) Krankenversicherung privatisiert werden, d. h. alle Anbieter von Krankenversicherungen sollen private Unternehmen sein, die gesetzlichen Krankenkassen heutiger Prägung in solche umgewandelt werden. Hierdurch soll primär ein freier Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern ermöglicht werden, der zu mehr Wirtschaftlichkeit führe. Vorgesehen ist zugleich eine Entkoppelung der Versichertenbeiträge von den Lohnkosten, aus den bereits im Rahmen der Ausführungen zum Kopfpauschalenmodell (s. o.) dargelegten Gründen. Die soziale Komponente im Rahmen dieses Systems soll darin bestehen, daß alle Versicherer einen einheitlichen „Basistarif“ anbieten müssen, der vom Leistungsangebot her Basisleistungen abdecken soll, welche in etwa – reduziert um bestimmte zahnmedizinische und Krankenhausleistungen – dem heutigen Leistungsangebot (der GKV) entspricht; zum Abschluß eines solchen Basistarifes sollen die Versicherten verpflichtet sein. Die Versicherungsunternehmen unterliegen hinsichtlich des Basistarifes einem Kontrahierungszwang, und Risikoprüfungen bzw. Risikozuschläge sind in diesem Tarif unzulässig. Soweit einzelne Bürger finanziell nicht in der Lage sind, zumindest den Basistarif zu finanzieren, soll der Staat für einen entsprechenden Ausgleich sorgen. Über den Basisschutz hinaus gehende Leistungen können von den Versicherten frei hinzu gewählt werden. Die Prämien für diese zusätzlichen „Aufstockungstarife“ werden versicherungstechnisch kalkuliert, also einschließlich individueller Risikozuschläge. 190 Siehe den Beschluß des 55. Ordentlichen Parteitages der FDP, Dresden, 5.–6. Juni 2004 – Privater Krankenversicherungsschutz mit sozialer Absicherung für alle – die auf Wettbewerb begründete liberale Alternative, sub. III; siehe dazu auch Klaus Meesters, FDP und PKV: Werbung für ein privates Gesundheitssystem, ErsK 2005, S. 336 f., sowie den Beitrag „Krankenversicherung: Privatisierung in sozialer Verantwortung“ zu dem von Dieter Thomae/Anreas Pinkwart für die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag entwickelten Konzept, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 101 (2004), S. 10 ff.

III. Systemansätze für eine grundlegende Reform

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Dieses Modell läuft also darauf hinaus, das gesamte Krankenversicherungssystem privat zu organisieren; die gesetzlichen Krankenkassen werden abgeschafft bzw. in private Unternehmen umgewandelt. Kern des Versicherungsschutzes ist eine Grundabsicherung (Basistarif), hinsichtlich derer einzelne aus der bisherigen gesetzlichen Krankenversicherung bekannte Elemente greifen (Kontrahierungszwang, risikounabhängige Beitragsberechnung). Darüber hinaus gehende individuelle Zusatztarife unterliegen dem freien Markt. Es fällt auf, daß im Hinblick auf den durch die Gesundheitsreform 2007 in der privaten Krankenversicherung eingeführten „Basistarif“191 deutliche Anleihen bei dem im hier beschriebenen Privatisierungsmodell vorgesehenen „Basistarif“ zu finden sind.

191

Siehe ausführlich zu diesen oben 1. Teil, II. 2.

2. Teil

Gesetzgebungskompetenzen für den Bereich sozialer Vorsorge Für jegliche gesetzgeberische Maßnahme bedarf der jeweilige Gesetzgeber einer Gesetzgebungskompetenz. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern regeln die Art. 70 ff. GG. Nach Art. 70 Abs. 1 GG haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Im Bereiche der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes (siehe insbesondere Art. 73 GG) haben die Länder gemäß Art. 71 GG die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt werden. Auf den Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung (siehe Art. 74 GG) haben die Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Für die Errichtung von sozialen (Ver-)Sicherungssystemen und deren Ausgestaltung kommen verschiedene in Art. 73, 74 GG enthaltene Kompetenztitel in Betracht. Für „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ besteht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit. Neben der (Sozial-)Versicherung umfaßt die klassischerweise anerkannte „Trias“ des Rechts der sozialen Sicherheit auch die Bereiche „Fürsorge“ und „Versorgung“.192 Sofern der Bundesgesetzgeber Maßnahmen sozialer Absicherung gegen bestimmte Elementarrisiken tätigt, kommen daher grundsätzlich auch diejenigen Gesetzgebungsmaterien in Betracht, welche im Sinne dieser Trias neben der „Sozialversicherung“ die anderen beiden wesentlichen Gestaltungsformen der sozialen Sicherung betreffen, nämlich die „öffent192 Siehe zur „klassischen Trias“ der sozialen Sicherung, „Versicherung, Fürsorge, Versorgung“, etwa B. Fichtner, Fürsorge – Versicherung – Versorgung, ZSR 1967, S. 385 ff.; Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 17; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 1 ff. – Zu neueren Einteilungsversuchen der sozialen Sicherungsleistungen siehe etwa Wolfgang Rüfner, a. a. O., S. 17 ff.; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, a. a. O., § 2 Rn. 3 ff.; Hans F. Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 571 (583 ff.). Die Beibehaltung der „klassischen“ Trias auf der einfachgesetzlichen Ebene ist nicht verfassungsrechtlich vorgegeben, siehe Wolfgang Rüfner, a. a. O., S. 17 Fn. 31.

2. Teil: Gesetzgebungskompetenzen

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liche Fürsorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG und die „Versorgung“ (hinsichtlich Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen) in Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG193. Für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ besteht eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG als Teil der Materie „Recht der Wirtschaft“. Da die Absicherung der durch die Sozialversicherung abgedeckten Risiken (Krankheit, Alter, Unfall etc.) zu weiten Teilen auch durch private Versicherungsunternehmen erfolgt bzw. erfolgen kann, können gesetzgeberische Maßnahmen zur sozialen Vorsorge grundsätzlich auch im Hinblick auf die Privatversicherung erfolgen. Sozial-vorsorgerisch motivierte Gesetzgebung kommt hier vor allem dergestalt in Betracht, daß die Privatversicherung – jedenfalls in Teilbereichen – bestimmten, sozial bedingten Modifizierungen unterworfen wird, durch die sie in der ein oder anderen Weise an die Funktionsmechanismen der Sozialversicherung angeglichen und hierdurch zur Erreichung sozialer Zielsetzungen instrumentalisiert bzw. in die Pflicht genommen wird. Geschehen ist dies beispielsweise im Bereich der im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) geregelten gesetzlichen Pflegeversicherung, die zum einen über die öffentlich-rechtlich verfaßte und als Teil der Sozialversicherung konzipierte soziale Pflegeversicherung bewerkstelligt wird, zum anderen aber auch durch die Einbeziehung der Privatversicherer in Gestalt der privaten Pflege-Pflichtversicherung194, für die zahlreiche aus der Sozialversicherung bekannte Mechanismen auf die Privatversicherung übertragen wurden195. Für den Bereich der privaten Krankenversicherung ist ähnliches im Rahmen der Gesundheitsreform 2007196 durch die ab 1.1.2009 geltenden Regelungen des sog. Basistarifs197 erfolgt, durch welche ebenfalls soziale Mechanismen auf die Privatversicherung übertragen werden, wie sie an sich für die Sozialversicherung kennzeichnend sind. Da die gesetzliche Krankenversicherung sowohl traditionell als auch nach der einfachgesetzlichen Ausgestaltung durch das Sozialgesetzbuch Teil der Sozialversicherung ist (siehe etwa § 4 Abs. 2 SGB I, §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 2 SGB IV), kommt für sie betreffende Maßnahmen des Bundesgesetzgebers natürlich zuvörderst die Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Betracht. Dies bedeutet aber keinesfalls zwingend, daß jede gesetzgeberische Umgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung auch tatsächlich auf diese Kompetenz gestützt werden kann. Da das Verfassungsrecht und somit die verfassungs193 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), geregelt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 194 Siehe zum Begriff auch BVerfGE 103, S. 197 (198). 195 Siehe dazu ausführlich unten 2. Teil, Abschnitt 3, III. 196 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378. 197 Siehe zum Basistarif bereits oben 1. Teil, II. 2.

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2. Teil: Gesetzgebungskompetenzen

rechtlichen Kompetenzkataloge nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stehen, muß nicht alles, was einfachgesetzlich, d. h. insbesondere nach Maßgabe des Sozialgesetzbuches, als „Sozialversicherung“ bezeichnet wird, auch gleichzeitig dem verfassungsrechtlichen Begriff der „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entsprechen. Jede Umgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung durch den Bundesgesetzgeber muß sich also bereits im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz daran messen lassen, ob sie noch „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darstellt, oder ob sie sich – wenn dies nicht der Fall sein sollte – auf eine andere Gesetzgebungskompetenz des Bundes stützen läßt. So hatte sich das Bundesverfassungsgericht bereits in verschiedenen Fällen mit gesetzgeberischen Um- oder Neugestaltungen der Sozialversicherung zu befassen, hinsichtlich derer die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes insbesondere wegen Nichtvereinbarkeit mit dem in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG enthaltenen Kompetenztitel für „die Sozialversicherung“ in Zweifel gezogen wurde198. Im Hinblick auf die immer stärkere Ausweitung des pflichtversicherten Personenkreises der gesetzlichen Krankenversicherung mehren sich im Schrifttum die Stimmen, welche jedenfalls in einer Einbeziehung sämtlicher Bevölkerungsteile – wie dies bei einer „Bürgerversicherung“ der Fall wäre – die Grenze zu dem überschritten sehen, was im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als „Sozialversicherung“ gilt bzw. gelte, so daß dem Bund insoweit bereits die Gesetzgebungszuständigkeit fehlen würde.199 Ferner hat etwa auch die Abgrenzung zum Kompetenztitel für das privatrechtliche Versicherungswesen als Teil des Rechts der Wirtschaft in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG spätestens seit Einführung der sozialen und (zwangsweisen) privaten Pflegeversicherung eine nicht unerhebliche Bedeutung erlangt.200 Hier stellt sich nämlich die Frage, ob und bis zu welchem Grad eine mit an sich für die Sozialversicherung charakteristischen Elementen ausgestattete Privatversicherung noch dem Kompetenztitel für „privatrechtliches Versicherungswesen“ unterfällt, oder ob bei einer zunehmenden Angleichung der privaten Krankenversicherung an die gesetzliche Krankenversicherung nicht der Boden des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ früher oder später verlassen wird, so daß sich dann die Folgefrage stellen würde, welcher Kompetenztitel hierfür über198 Siehe etwa BVerfGE 75, S. 108 (118 ff., 146 ff.) – Künstlersozialversicherung; BVerfGE 103, S. 97 (208 f., 215 ff.) – soziale (und private) Pflegeversicherung. In beiden Fällen wurde die Kompetenzgemäßheit der betreffenden Maßnahmen letzten Endes aber bejaht. 199 Siehe etwa Peter Axer, Verfassungsrechtliche Fragen einer Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 1 (2 f.).; Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003, S. 76 (78); Helge Sodan, Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, ZRP 2004, S. 217 (219). Siehe zu weiteren Nachweisen und näheren Details die nachfolgenden Ausführungen. 200 Siehe dazu insbesondere BVerfGE 103, S. 97 ff.

2. Teil: Gesetzgebungskompetenzen

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haupt einschlägig wäre. So wurde in einem gemeinsamen Positionspapier zahlreicher Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen, der privaten Krankenversicherung und der Leistungserbringer zur Gesundheitsreform 2007 im Hinblick auf die Vorgaben für die Kalkulation und zu den Leistungsinhalten des in der privaten Krankenversicherung eingeführten Basistarifs das Vorhandensein einer Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers bestritten201. Die korrekte Verortung der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes unter einen von mehreren in Betracht kommenden Kompetenztiteln (etwa unter die Nr. 7, 11 oder die Nr. 12 des Art. 74 Abs. 1 GG) ist dabei auch dann nicht von „bloß“ akademischen Interesse, wenn die betreffende Kompetenz jedenfalls aus einem dieser Kompetenztitel herleitbar erscheint, so daß vermeintlich offen bleiben könnte, welcher dieser Kompetenztitel tatsächlich der „an sich“ einschlägige ist.202 So müßte auch hierzu der exakte Inhalt von jedem der in Betracht gezogenen Kompetenztitel bekannt sein, um beurteilen zu können, ob jedenfalls einer von ihnen einschlägig ist (da es ja auch möglich ist, daß sich das Vorhaben auf keinen der in Betracht gezogenen Kompetenztitel stützen läßt). Dann aber muß die korrekte Verortung unter einen der Kompetenztitel auch nicht offen gelassen werden, sondern kann vorgenommen werden. Auch ist eine solche, sich in der Nähe der aus dem Strafrecht bekannten „Wahlfeststellung“ bewegende Vorgehensweise weder im Verfassungsrecht vorgesehen noch in rechtlichen Fragen überhaupt wissenschaftlich opportun; auch im Strafrecht kommt sie nicht zur Lösung rechtlicher Zweifelsfragen zur Anwendung, sondern nur bei Unklarheiten hinsichtlich des rechtlich zu beurteilenden Tatsachengeschehens (Sachverhalt). Abgesehen davon käme ein solches Offenlassen der exakten Abgrenzung von Kompetenztiteln von vornherein auch nur dort überhaupt in Betracht, wo die betreffenden Titel derselben Kompetenzart (etwa der konkurrierenden Gesetzgebung) zugehören, weil nur dann identische Rechtsfolgen mit

201 Siehe S. 5 (zu: Private Krankenversicherung, Art. 44, 45 GKV-WSG) des Positionspapiers „Verfassungsfragen und Umsetzungsprobleme im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)“, welches verfaßt wurde unter anderem von den Spitzenverbänden der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), Innungskrankenkassen (IKK), Betriebskrankenkassen (BKK), Angestelltenkrankenkassen (VDAK), Arbeiter-Ersatzkassen (AEV), dem Verband der privaten Krankenkassen e.V. (PKV), der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKV), der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), der Bundesärztekammer, der Bundeszahnärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). 202 In diese Richtung aber augenscheinlich Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 148, wenn er behauptet, daß die Abgrenzung zwischen „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und „privatrechtlichem Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) „für die Zuständigkeit des Bundes ohne Bedeutung“ sei, weil beide Bereiche zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gehören; vgl. ferner Joachim Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, S. 161.

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2. Teil: Gesetzgebungskompetenzen

ihnen verbunden sind. Wie aber zuletzt die Föderalismusreform 2006203 mit der Auslagerung der ebenfalls dem Bereich der sozialen Sicherheit zugeordneten „Versorgungs“-Kompetenz aus der konkurrierenden (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 a. F. GG) in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 n. F. GG) gezeigt hat, kann die Verschiebung einzelner Kompetenzmaterien aus einer Gesetzgebungsart in eine andere durchaus Ziel von Verfassungsreformen sein, so daß sich spätestens dann die Abgrenzungsfrage endgültig stellen würde. Der genauen Abgrenzung der Kompetenztitel käme aber auch dann Bedeutung zu, wenn es Strukturelemente gibt, deren Erfüllung (oder Nichterfüllung) im Rahmen eines von zwei in Betracht kommenden Kompetenztiteln dessen Einschlägigkeit nicht entgegenstehen würden, während sie dies hinsichtlich des anderen Kompetenztitels täten. Wäre zum Beispiel das Merkmal der Schutzbedürftigkeit des versicherten Personenkreises eine zwingende begriffliche Voraussetzung für „Sozialversicherung“204 im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, nicht aber für das „privatrechtliche Versicherungswesen“, dann würde es für eine Maßnahme, die sich im Grenzbereich zwischen beiden Kompetenztiteln bewegt (etwa bei Übertragung von sozialversicherungstypischen Ausgleichselementen auf private Versicherungsträger), bereits hinsichtlich der Gesetzgebungszuständigkeit von Bedeutung sein, ob diese Art der Versicherung aufgrund noch vorhandener privatversicherungsrechtlicher Strukturen dem „privatrechtlichen Versicherungswesen“ zugeordnet werden müßte (so daß ein – beispielhaft unterstelltes – Fehlen der Schutzbedürftigkeit zumindest eines Teils der in diesem System Zwangsversicherten der Inanspruchnahme dieses Kompetenztitels nicht entgegenstehen würde) oder ob sie angesichts ihrer sozialen Ausgestaltungselemente bereits hinlänglich konstituierende Merkmale von „Sozialversicherung“ erfüllt und somit allenfalls auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Kompetenznorm gestützt werden könnte (dessen Inanspruchnahme dann aber – unter der oben genannten Prämisse – an der fehlenden Schutzbedürftigkeit scheitern müßte). Ferner ist bisher auch nicht dargetan, daß sich sämtliche Maßnahmen, welche die bipolare Krankenversicherungsordnung betreffen und diesbezüglich zu Verschiebungen zwischen deren beiden Polen (der gesetzlichen sowie der privaten Krankenversicherung) führen, zwangsläufig immer auf wenigstens einen der beiden Kompetenztitel („Sozialversicherung“ oder „privatrechtliches Versicherungswesen“) gestützt werden können: Wenn sich also etwa ergäbe, daß bei der bereits angesprochenen Übertragung sozialversicherungstypischer Elemente auf die Privatversicherung (wie etwa beim sog. Basistarif) zumindest ab einem gewissen Grad die für eine Privatversicherung konstituierenden Elemente so weit in den Hintergrund treten, daß hierfür nicht mehr der Kompetenztitel für das 203

Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034. So etwa Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003, S. 76 (78). 204

2. Teil: Gesetzgebungskompetenzen

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„private Versicherungswesen“ in Anspruch genommen werden kann, heißt das noch nicht automatisch, daß hiermit dann aber zugleich alle konstituierenden Elemente von „Sozialversicherung“ erfüllt wären und folglich der diesbezügliche Kompetenztitel in Anspruch genommen werden kann. So könnte es im Hinblick auf Letztere an dem für eine „Sozialversicherung“ charakteristischen Merkmal der öffentlich-rechtlichen Organisationsform fehlen, sofern dieses Merkmal zugleich zwingend zu den unerläßlichen Strukturmerkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu zählen ist. Auch ist die exakte Zuordnung unter einen von mehreren in Betracht kommenden Kompetenztiteln sowie überhaupt die genaue Ermittlung von dessen Inhalt auch vor dem Hintergrund bedeutsam, daß vielfach den Kompetenztiteln des Grundgesetzes neben ihrem zuweisenden Gehalt auch eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung zuerkannt wird, die bei der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich der betreffenden Gesetzgebungsmaterien zu beachten sei: auch wenn die konkrete Reichweite dieser materiellen Wirkung im einzelnen umstritten ist205, bedeute die vom Grundgesetz eingeräumte Möglichkeit zur Inanspruchnahme eines Kompetenztitels jedenfalls, daß die Inanspruchnahme der Kompetenz „indiziert verfassungstoleriert“206 sei, damit der betreffende Kompetenztitel vom Gesetzgeber von vornherein wenigstens ansatzweise sinnvoll ausgeübt werden kann.207 Erkennt man – unabhängig von ihrem konkreten Umfang – eine materielle Wirkung von Kompetenzzuweisungen grundsätzlich an und mißt eine solche beispielsweise auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und/oder Nr. 12 GG bei, so zeigt sich die Notwendigkeit einer präzisen Bestimmung des Inhalts der betreffenden Kompetenznormen umso mehr, da diese dann nicht mehr nur über die formelle resp. kompetentielle Verfassungsmäßigkeit von diesbezüglich getroffenen Legislativmaßnahmen entscheiden würde, sondern zudem auch noch einen wie auch immer gearteten Einfluß auf deren materielle Verfassungsmäßigkeit gewönne. Und etwa auch die korrekte kompetentielle Einordnung einer ambivalenten Versicherungsform wie einer „privatrechtlichen Sozialversicherung“ bzw. einer mit sozialversicherungstypischen Elementen versehenen Privatversicherung wäre vor

205

Ausführlich zu dieser materiellen Legitimationswirkung unter 2. Teil, Abschnitt 1,

IV. 206 Karl-Jürgen Bieback, Begriff und verfassungsrechtliche Legitimation von „Sozialversicherung“, VSSR 2003, S. 1 (5). 207 Siehe dazu etwa Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 ff.; Albert Bleckmann, Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 ff.; Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 ff.; Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 ff.; Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895 ff.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

diesem Hintergrund umso weniger entbehrlich, weil die materielle Legitimierungswirkung der Kompetenznorm für „privatrechtliches Versicherungswesen“ eine andere wäre als die der Kompetenznorm für „Sozialversicherung“. Sieht man also beispielsweise im „sozialen Ausgleich“208 im Sinne einer solidarischen Umverteilung zwischen den Versicherten solch ein Charakteristikum der „Sozialversicherung“,209 nicht hingegen ein solches der „Privatversicherung“, so könnte die materielle Legitimation dieses Ausgleichs210 im Rahmen einer auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu stützenden Versicherungsstruktur zumindest bis zu einem gewissen Grad bereits allein aus dem Wesen bzw. der Eigenart der so verstandenen „Sozialversicherung“ heraus möglich sein, wohingegen dessen Rechtfertigung bei einem auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützten Versicherungswesen, dem ein „sozialer Ausgleich“ nicht von vornherein inhärent ist, vollständig „außerkompetentiell“ erfolgen müßte, d. h. allein durch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhaltende Gemeinwohlbelange. All dies zeigt, daß nicht nur die rechtsdogmatische, sondern auch die rechtspraktische Bedeutung einer genauen Inhaltsbestimmung und Abgrenzbarkeit der betreffenden Kompetenztitel erheblich ist. Abschnitt 1

Die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG I. „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 1. Die durch das Bundesverfassungsgericht geprägte Begriffsbestimmung Mit der Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist keine allgemeine Kompetenzzuweisung für das Recht der sozialen Sicherheit verbunden.211 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der überwiegenden Meinung im Schrifttum handelt 208

Näher hierzu unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (dd). So etwa BVerfGE 76, S. 256 (301); siehe auch BVerfGE 75, S. 108 (146). 210 Etwa im Hinblick auf die Rechtfertigung von aus dem „sozialen Ausgleich“ resultierenden Grundrechtsbeeinträchtigungen, z. B. hinsichtlich Art. 3 Abs. 1 GG die Ungleichbehandlung der „wirtschaftlich Stärkeren“, die trotz gleicher Versicherungsleistungen höhere Beiträge zu leisten haben als die „wirtschaftlich Schwächeren“, oder im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG die geringe(re) Beitragsäquivalenz der erstgenannten Personengruppe. 211 BVerfGE 11, S. 105 (111); 62, S. 354 (366) – allgemeine Ansicht. 209

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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es sich bei „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (ebenso wie in Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG212) um einen weitgefaßten verfassungsrechtlichen „Gattungsbegriff“, der alles umfaßt, „was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt“213, ohne dabei auf die vorhandenen bzw. traditionellen Zweige der Sozialversicherung beschränkt zu sein. Im verfassungsrechtlichen Sinne ist nicht entscheidend, was einfachgesetzlich als „Sozialversicherung“ ausgestaltet war oder ist214 (siehe dazu § 4 SGB I, § 1 Abs. 1 SGB IV) oder was der einfache Gesetzgeber als Sozialversicherung „etikettiert“215. Leitbild des verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ sind vielmehr die wesentlichen Strukturelemente – insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken – der „klassischen Sozialversicherungszweige“ wie sie zunächst in der Reichsversicherungsordnung (und anderen Gesetzen) geregelt waren und die gegen Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall absicherten216. Insoweit sei Sozialversicherung jedenfalls charakterisiert durch die „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“217. Auf die Begriffselemente des Bedarfs und der Organisation wurde vom Bundesverfassungsgericht dabei wie folgt näher eingegangen:218 „Der durch die Sozialversicherung zu deckende gemeinsame Bedarf wurde ursprünglich in Notlagen gesehen, die typisch waren für Gruppen, welche die gesellschaftliche Entwicklung hervorgebracht hatte. Deshalb wurde die Sozialversicherung zuerst für die Arbeiter, später für Angestellte mit geringem Einkommen geschaffen. Die durch Krieg und Inflation bedingten gesellschaftlichen Umwälzungen führten dazu, den Kreis der Betreuten immer mehr auszuweiten im Sinne der von der Weimarer Verfassung (Art. 151) geforderten Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat, die den Ausgleich der durch die moderne gesellschaftliche Entwicklung entstehenden Belastungen anstrebt. Schon die ,klassischen‘ Zweige der Sozialversicherung umfaßten jetzt auch Arbeitnehmer mit höherem Einkommen und Selbständige. Die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine Notlage gehört also nicht zum Wesen der Sozialversicherung. 212

Vgl. BVerfGE 63, S. 1 (35). So bereits BVerfGE 11, S. 105 (112); siehe im weiteren etwa auch BVerfGE 63, S. 1 (34 f.); 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34); 88, S. 203 (313); aus dem Schrifttum statt vieler nur Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 170; Rupert Stettner, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 74 Rn. 67. 214 BVerfGE 11, S. 105 (111). 215 Detlef Merten, Verfassungsprobleme bei Ausweitung der Versicherungspflicht, in: ders., Speyerer Sozialrechtsgespräche 1991–2000, 2002, S. 474 (475). 216 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (111). Zur Historie der gesetzlichen Krankenversicherung ausführlich oben 1. Teil, I. 217 BVerfGE 11, S. 105 (112); 75, S. 108 (146); zuvor bereits BSGE 6, S. 213 (228). 218 BVerfGE 11, S. 105 (112 f.). 213

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

[. . .] Außer diesem sozialen Bedürfnis nach sozialem Ausgleich besonderer Lasten ist kennzeichnend die Art und Weise, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird. Träger der Sozialversicherung sind selbständige Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel und Beiträge von ,Beteiligten‘ aufbringen. ,Beteiligte‘ sind herkömmlich die Versicherten und ihre Arbeitgeber, deren Heranziehung zugunsten der Arbeitnehmer als Auswirkung des Fürsorgeprinzips angesehen wird, von dem das moderne Arbeitsverhältnis geprägt ist.“ „Neue Lebenssachverhalte können in das Gesamtsystem ,Sozialversicherung‘ einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen [. . .] dem Bild entsprechen, das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“.219 Diese dynamische Offenheit des Kompetenztitels des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Sozialversicherung ergibt sich dabei auch aus der generellen Erwägung, daß gerade die Gesetzgebungskompetenztitel des Grundgesetzes nicht bestehende Zustände zementieren, sondern eine gewisse Entwicklungsoffenheit aufweisen sollen, die dem Gesetzgeber die Möglichkeit zur Reaktion auf neue gesellschaftliche Anschauungen oder Entwicklungen eröffnen. Denn eine Verfassung „lebt nicht in einem Ruhezustand; sie steht in der Zeit und ist den in ihr wirkenden Kräften und Ideen ausgesetzt“220. Um ihrer Funktion als dauerhafte Grundordnung gerecht werden zu können, muß sie daher zukunftsoffen, dynamisch, elastisch sein.221 Umso mehr gilt dies hinsichtlich eines Systems wie dem der Sozialversicherung, das im gesamten Laufe seines Bestehens immer wieder an die sich verändernden tatsächlichen Gegebenheiten oder sozialpolitischen Sichtweisen angepaßt wurde und werden mußte. 2. Erfordernis klarer Begriffsbestimmung Bei genauerer Betrachtung ist mit der dargestellten „Begriffsbestimmung“ durch das Bundesverfassungsgericht aber noch nicht allzu viel Konkretes gewonnen: Mittels der Klassifizierung als „verfassungsrechtlicher Gattungsbegriff“ soll in erster Linie dargelegt werden, daß „Sozialversicherung“ – wie bereits erwähnt – nicht auf die „klassischen“ Sozialversicherungszweige beschränkt ist; dies zeige sich daran, daß die (erst später zu den klassischen Zweigen hinzugetretene222) Arbeitslosenversicherung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 219

Siehe etwa BVerfGE 88, S. 203 (313) – st. Rspr. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 88. 221 Vgl. Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954), S. 37 (54); Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978), S. 566 ff. (insb. 602); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 100. 220

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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nicht als außerhalb der „Sozialversicherung“ stehend angesehen wird. Vielmehr seien – wie bereits dargelegt – auch neue Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem „Sozialversicherung“ einbeziehbar, sofern sie den wesentlichen Strukturelementen von „Sozialversicherung“ entsprechen.223 Die Präzisierung dieser wesentlichen Strukturelemente durch das Bundesverfassungsgericht fällt dann aber eher dürftig aus: Die tautologische Feststellung, daß der verfassungsrechtliche Gattungsbegriff „Sozialversicherung“ alles umfasse, „was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt“ (siehe oben), ist der Sache nach nichts weiter als eine petitio principii224. Was genau „der Sache nach“ Sozialversicherung ist bzw. sein soll, erhellt sich auch nur unzureichend durch die vielfach übernommene Beschreibung, daß zur Sozialversicherung „jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ gehöre (siehe oben). Hiermit wird nämlich lediglich auf das „Versicherungs“-Element des Begriffes „Sozialversicherung“ rekurriert; denn – bei aller Strittigkeit in den Details – wird „Versicherung“ (und damit ist vor allem die Privatversicherung in Bezug genommen) im Grundsatz definiert als „die Deckung eines im Einzelnen ungewissen, insgesamt aber schätzbaren Geldbedarfes auf der Grundlage eines durch die Zusammenfassung einer genügend großen Anzahl von Einzelwirtschaften herbeigeführten Risikoausgleichs“225. Worin der abzusichernde Bedarf besteht bzw. bestehen muß, wird vom Bundesverfassungsgericht hingegen selten näher spezifiziert; die Rede ist insoweit – sofern überhaupt einmal – eher unplastisch vom Schutz gegen „die Wechselfälle des Lebens“226 oder gegen „existentielle Risiken“227. Unter „Sozialversicherung“ fallen aber andererseits nicht alle Risiken, deren Abdeckung eine Förderung der „sozialen Sicherheit“ bezweckt; denn die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung enthält gerade nicht eine Zuständigkeit für die „soziale Sicherheit“ insgesamt, wie sich schon angesichts der ebenfalls eingeräumten Gesetzgebungskompetenzen für die „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) oder etwa die „Versorgung der Kriegsbeschä-

222

Siehe dazu etwa Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 12 Rn. 2 ff. BVerfGE 11, S. 105 (112); 75, S. 108 (146). 224 So auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 172 f.; Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 101; siehe ferner Walter Leisner, Umbau des Sozialstaates – Besinnung auf die Grundlagen der Sozialversicherung, BB 1996, Beilage 6 (zu Heft 13), S. 1 (3), der von einer „Leerformel“ spricht. 225 Siehe Karl Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, 1964, S. 22; siehe näher zu dieser Definition Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (406). – Ausführlich zum Versicherungsbegriff unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc). 226 BVerfGE 18, S. 257 (270). 227 BVerfGE 103, S. 197 (217). 223

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

digten und Kriegshinterbliebenen“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG228) zeigt, welche ebenfalls der sozialen Absicherung dienen.229 Die klare Begriffsbestimmung von „Sozialversicherung“ leidet ferner – wie sich in den nachfolgenden Ausführungen noch zeigen wird – darunter, daß bei den Versuchen der Präzisierung der für diesen „Gattungsbegriff“ maßgeblichen Strukturmerkmale regelmäßig nicht klar herausgearbeitet wird, welche Begriffsmerkmale begriffsnotwendige sind, also zwingend erfüllt sein müssen, um überhaupt von „Sozialversicherung“ im verfassungsrechtlichen Sinne sprechen zu können, und welche Merkmale lediglich typischerweise (weil zweckmäßigerweise) bei einem System, welches sich als „Sozialversicherung“ im verfassungsrechtlichen Sinne darstellt bzw. darstellen soll, vorliegen, dabei aber nicht zwingendermaßen vorliegen müssen, um den Begriff „Sozialversicherung“ zu konstituieren. So erscheint etwa fraglich, ob der in der „Sozialversicherung“ regelmäßig bestehende Versicherungszwang konstituierend oder nur typisch ist. Und für den Fall, daß er konstituierend wäre, stellte sich die Folgefrage, inwieweit er durch Elemente der Freiwilligkeit – die in der gesetzlichen Krankenversicherung etwa in Gestalt der Möglichkeit zu einer freiwilligen Mitgliedschaft (s. oben) gegeben sind – „verwässert“ werden kann, ohne den Charakter als „Sozialversicherung“ zu beeinträchtigen. Auch muß beantwortet werden, welche Elemente als Abgrenzungskriterien zum Kompetenztitel für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG herhalten können, und welche gleichsam sowohl der Sozialversicherung als der Privatversicherung inhärent sein können. Ferner ist auch die generelle Berechtigung einzelner Kriterien für die Begriffsbestimmung zu hinterfragen: So wird häufig unter Hinweis auf das vom Bundesverfassungsgericht geprägte Merkmal der „Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ der Schluß gezogen, daß hiermit immer nur ein Ausschnitt aus der Gesamtbevölkerung gemeint sein könne, so daß etwa eine Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht auf die gesamte Bevölkerung (wie bei einer „Bürgerversicherung“) schon begrifflich nicht mehr unter die Kompetenz für „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fiele230. 228 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), geregelt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 229 Vgl. BVerfGE 11, S. 105 (111 f.); Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 44. 230 So etwa Peter Axer, Verfassungsrechtliche Fragen der Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 1 (2 f.); Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396); Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 172; Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 105 ff.; Helge Sodan, Die Bürgerversicherung als „Bürgerzwangsversicherung“, ZRP 2004, S. 217 (218 f.).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Des weiteren muß klar herausgearbeitet werden, welche Merkmale tatsächlich für die Begrifflichkeit „Sozialversicherung“ und damit bereits für die Gesetzgebungskompetenz maßgebend sind, und welche nicht bereits hierüber, sondern vielmehr erst über die inhaltliche, sprich materielle Verfassungsmäßigkeit von „Sozialversicherung“ entscheiden, mithin also vor allem über die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen. So wird etwa im Hinblick auf die (weitere) Ausdehnung des Versichertenkreises häufig darauf verwiesen, daß die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Orientierung am Leitbild der „klassischen“, auf die „Bismarck’sche“ Sozialgesetzgebung zurückgehenden Sozialversicherung auch impliziere, daß Sozialversicherung die Schutzbedürftigkeit der in sie Einbezogenen erfordere. Unabhängig von der Berechtigung oder den konkreten Auswirkungen dieses Kriteriums wird dabei aber uneinheitlich beurteilt oder bleibt häufig unklar, ob das Fehlen von Schutzbedürftigkeit bereits das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ und damit der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausscheiden läßt231, oder ob ein soziales Sicherungssystem, welches auch Nicht-Schutzbedürftige miteinbezieht, zwar begrifflich noch „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sein kann232, es dann aber gegebenenfalls materiell verfassungswidrig, insbesondere grundrechtswidrig wäre, falls die zwangsweise Einbeziehung von eindeutig nicht schutzbedürftigen Personen in eine „Sozialversicherung“ nicht rechtfertigungsfähig ist.233 Vor allem auch für das Verhältnis zur Landesgesetzgebung ist die genaue Bestimmung der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von Bedeutung, da die Länder im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung tätig werden können, „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat“ (Art. 72 Abs. 1 GG):234 Insoweit hängt von der Inhaltsbestimmung der Materie „Sozialversi231 So etwa Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003, S. 76 (78); Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 46 ff., 397; Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396); Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 100 ff., 105 ff.; wohl auch Peter Glauben, Bürgerversicherung – ein verfassungs- und europarechtliches Risiko, DRiZ 2005, S. 229 f.; Helge Sodan, Die Bürgerversicherung als „Bürgerzwangsversicherung“, ZRP 2004, S. 217 (218 f.). 232 So etwa Karl Jürgen Bieback, Der Bund hat die Kompetenz zur Einführung einer umfassenden Bürgerversicherung, SozSich 2003, S. 416 (419); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (591 ff.); Stefan Storr, Neuorganisation der Sozialen Sicherungssysteme, SGb 2004, S. 279 (284); vgl. auch Jürgen Beck, Bürgerversicherung: Steht die Verfassung ihrer Einführung entgegen?, SozSich 2004, S. 386 (388). 233 Vgl. hierzu auch Ralf Peter Schenke, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Verfassungs- und Europarecht, Die Verwaltung 2004, S. 475 (487 f.). 234 Siehe ausführlich zur Landesgesetzgebung im Bereich der „Sozialversicherung“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unten 2. Teil, Abschnitt 1, III.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

cherung“ vor allem ab, worauf sich die insoweit bestehende „Sperrwirkung“235 von Maßnahmen des Bundesgesetzgebers bezieht, welche noch nicht geregelten Lücken für die Landesgesetzgebung verbleiben und was von dieser Sperrwirkung überhaupt nicht erfaßt ist, weil es nicht dem Begriffsinhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unterfällt, also keine „Sozialversicherung“ in dessen Sinne darstellt. Eine klare Herausarbeitung des Begriffsinhalts von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist ebenfalls von Bedeutung im Hinblick auf den Problemkomplex der materiellen Legitimationswirkung von Gesetzgebungskompetenztiteln: Wie bereits erwähnt, wird häufig den Kompetenztiteln des Grundgesetzes eine materielle Rechtfertigungswirkung zugestanden, die darin bestehen soll, daß die in ihnen enthaltenen Materien bzw. daß gesetzgeberische Maßnahmen auf dem Gebiet dieser Materien zumindest im Kern von vornherein „indiziert verfassungstoleriert“ seien, ihrer Ausübung also nicht von vornherein materielle Hürden (etwa aus den Grundrechten) entgegenstehen können, damit die betreffende Gesetzgebungskompetenz überhaupt sinnvoll ausgeübt werden kann. Ob und gegebenenfalls inwieweit eine solche kompetentielle Legitimationswirkung anzuerkennen ist, wird an späterer Stelle noch ausführlich zu beleuchten sein.236 Erkennt man sie indes an – wie es vielfach in Rechtsprechung und Literatur geschieht –, hängt der Umfang einer solchen Legitimationswirkung entscheidend von dem konkreten Begriffsinhalt der betreffenden Gesetzgebungsmaterie ab: Würde also beispielsweise das Merkmal eines „Versicherungszwanges“ zu den unverzichtbaren Begriffsmerkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu zählen sein, so ließe sich etwa eine personelle Ausweitung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (wie z. B. im Extremfall einer „Bürgerversicherung“) unter Berücksichtigung einer diesbezüglichen kompetentiellen Legitimationswirkung materiell leichter rechtfertigen, weil der Versicherungszwang wegen des dann unverzichtbaren Wesensmerkmals der Sozialversicherung als Zwangsversicherung bereits allein auf Grundlage der kompetentiellen Legitimationswirkung zumindest indiziell verfassungstoleriert wäre. Über den materiellen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müßte dann nur noch der konkrete personelle Umfang des Versicherungszwanges, nicht aber der Versicherungszwang als solcher gerechtfertigt werden. Wäre demgegenüber der Versicherungszwang kein unverzichtbares, begriffsnotwendiges Wesensmerkmal, sondern nur eine typische Erscheinungsform der „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, so könnte dieses Merkmal keine materielle Legitimationswirkung begründen, weil die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ dann auch 235 Siehe zu dieser Sperrwirkung etwa Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 72 Rn. 11 ff.; Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 17 Rn. 8. 236 Siehe ausführlich zu diesem Problemkomplex unten 2. Teil, Abschnitt 1, IV.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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ohne Etablierung eines Versicherungszwanges rechtlich sinnvoll ausgeübt werden könnte – die Rechtfertigung des Versicherungszwanges müßte dann vollständig „außerkompetentiell“, d. h. allein nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit erfolgen237. Auch wegen dieser häufig vertretenen Möglichkeit, die materielle Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen allein unter Hinweis auf die bloße Existenz von durch die Verfassung zumindest prinzipiell tolerierten Gesetzgebungsmaterien zu beeinflussen, bedarf der Inhalt dieser Gesetzgebungsmaterien einer genauen Bestimmung – denn nur was den Inhalt einer Gesetzgebungsmaterie determiniert, kann gegebenenfalls deren materielle Legitimationswirkung ausmachen. Die Inhaltsbestimmung von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hängt ferner maßgeblich davon ab, ob es sich hierbei um einen nach feststehenden Merkmalen beschreibbaren „Begriff“ handelt, oder vielmehr nur um einen lediglich durch bestimmte Typizitäten umschreibbaren „Typus“, wie vielfach vertreten wird. In diesem Zusammenhang würde sich auch die Frage stellen, ob eine gegebenenfalls anzuerkennende materielle Legitimationswirkung von Kompetenztiteln (siehe oben) sich überhaupt auf einen Typus erstrecken kann, da dessen Merkmale – anders als beim Begriff – nicht zwingend zur Gänze erfüllt sein müssen, um die betreffende Materie auszufüllen238. Vor dem Hintergrund allein dieser hier beispielhaft aufgezeigten Problemstellungen soll im folgenden der Versuch unternommen werden, die konstituierenden Inhaltsmerkmale des verfassungsrechtlichen Terminus „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG239 herauszuarbeiten und dabei die bisher vertretenen, teils recht unterschiedlichen Begriffsinhalte auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen. Zusammenfassend gesagt, entscheidet diese Begriffsbestimmung nicht nur über das Bestehen einer Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern auch über den Umfang einer materiellen, auf den Begriffskern bezogenen und die grundsätzliche Ausnutzbarkeit dieser Gesetzgebungszuständigkeit sichernden kompetentiellen Legitimationswirkung, falls man – was ebenfalls zu untersuchen sein wird – eine solche anerkennt. Darüber hinaus ermöglicht die klare Begriffsbestimmung 237 Damit soll nicht bestritten werden, daß die Etablierung von Versicherungszwang in der Sozialversicherung zumindest innerhalb gewisser Grenzen sinnvoll ist und durch überwiegende Gemeinwohlbelange im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung materiell gerechtfertigt werden kann. Nur ist es ein gewichtiger Unterschied, ob diese Rechtfertigung allein unter Heranziehung solcher Gemeinwohlbelange gelingen kann, oder ob sie nicht gegebenenfalls auch schon durch den Hinweis auf eine irgendwie geartete kompetentielle Legitimationswirkung einer von vornherein dem Grunde nach „verfassungstolerierten“ Gesetzgebungsmaterie erfolgen oder zumindest mitbeeinflußt werden kann. 238 Siehe ausführlich zur Unterscheidung zwischen „Begriff“ und „Typus“ sogleich im Nachfolgenden unter 3. 239 Sowie im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG.

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die hinlängliche Abgrenzbarkeit von den anderen hinsichtlich Maßnahmen der sozialen Absicherung in Betracht kommenden Kompetenztiteln wie „öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, „Versorgung“ im Sinne von Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG240 oder „privatrechtliches Versicherungswesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Und ferner entscheidet die in diesem Zuge ebenfalls zu bewerkstelligende Unterscheidung zwischen den Begriffsmerkmalen und den Kriterien für die inhaltliche Zulässigkeit von „Sozialversicherung“ darüber, ob das Nichtvorliegen eines Kriteriums bereits über die Gesetzgebungszuständigkeit und damit die formelle Verfassungsmäßigkeit einer betreffenden gesetzgeberischen Maßnahme befindet oder ob dies „erst“ für die materielle Verfassungsmäßigkeit von Bedeutung ist. 3. „Sozialversicherung“ als Begriff, Gattungsbegriff oder Typus? Bevor der Versuch einer näheren Bestimmung des Inhalts von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begonnen wird, ist vorab allerdings darauf einzugehen, ob es sich bei dem im Grundgesetz verwendeten Terminus „Sozialversicherung“ überhaupt um einen „Begriff“ handelt und was in diesem Zusammenhang mit der durch das Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Charakterisierung als „Gattungsbegriff“ gemeint ist oder ob „Sozialversicherung“ nicht vielmehr keinen „Begriff“, sondern einen „Typus“ darstellt, wie des öfteren vertreten wird241. a) „Begriff“ Unter einem (abstrakten) Begriff versteht man eine Vorstellung einer Sache242 in Gedanken, die die Forderung nach durchgängiger Konstanz, vollkommener Bestimmtheit, allgemeiner Übereinstimmung und unzweideutiger sprachlicher Bezeichnung erfüllt; insofern handelt es sich um eine sprachliche Abbildung der Realität von eindeutig bestimmtem Inhalt, deren Wesen darin besteht, mittels ihr etwas Allgemeines, Abstraktes, Generelles zu veranschaulichen.243 Be240 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), geregelt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 241 So etwa Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 45; Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (688 ff.). 242 „Sache“ ist hier im weitesten sprachlichen Sinne gemeint („Ding“, „Gegenstand“ im weiteren Sinne), nicht etwa im engen juristischen, körperlich-gegenständlichen Sinne des § 90 BGB. 243 Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl., 1966, S. 107 (Stichwort „Begriff“). Im Gegensatz zu den „abstrakten“ Begriffen bezeichnen die sog. Individualbegriffe konkrete Einzeldinge, siehe Egon Schneider/ Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl., 2006, S. 21 f. – Im Grunde unter-

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griffe werden gewonnen durch Abstraktion, d. h. sie werden aus Merkmalen gebildet, die von den Gegenständen, an denen sie auftreten, losgelöst abstrahiert und in ihrer Verallgemeinerung sowohl gegeneinander wie gegenüber den Gegenständen, an denen sie stets in einer bestimmten Weise verbunden sind, isoliert, vereinzelt werden244. Das Ergebnis der Abstrahierung ist eine Definition des Begriffes. Solchermaßen aus isoliert festgehaltenen Merkmalen gebildete Begriffe ermöglichen es, unter sie all jene Gegenstände zu subsumieren, die sämtliche in die Definition des Begriffes aufgenommenen Merkmale – gleich in welcher konkreten Verbindung – aufweisen.245 Ein Begriff bzw. dessen Definition ist folglich die Summe aller Merkmale, die das Wesen eines Gegenstandes ausmachen.246 Durch die Summierung dessen, was an Merkmalen zur Erfüllung des Begriffes sowohl erforderlich als auch hinreichend ist, sind Begriffe – unabhängig von ihrer inhaltlichen Weite – abschließend bestimmt247. Ob ein Begriff einen bestimmten Sachverhalt umfaßt oder ob umgekehrt ein bestimmter Sachverhalt unter einen bestimmten Begriff fällt, ob also ein Sachverhalt die erforderlichen bzw. hinreichenden Begriffsmerkmale erfüllt, kann durch Subsumtion letztlich eindeutig im Sinne von „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden.248 b) Gattungsbegriff und Artbegriff Begriffe können dabei unterschiedliche Abstraktionsgrade aufweisen. Je nachdem, auf welcher Abstraktionsstufe der Begriff steht, ist er inhaltlich weiter oder inhaltlich enger gefaßt. Auf der höchsten Abstraktionsstufe ist er am weitesten, auf der niedrigsten am engsten. Von einer höheren auf die nächstniedere Abstraktionsstufe gelangt man durch Hinzufügung einer zusätzlichen Kategorie von Merkmalen, die zu einer weiteren Differenzierung bzw. Aufschlüsselung des jeweils höheren „Oberbegriffs“ führen. (Beispiel: Stufe 1 = „Lebewesen“, Stufe 2 = „Tier“ [neben etwa „Pflanze“, „Mensch“], Stufe 3 = „Säugetier“ [neben etwa „Insekt“], Stufe 4 = „Hund“ [neben etwa „Katze“, „Pferd“ etc.]). Im Verhältnis zweier aufeinanderfolgender Abstraktionsstufen wird dabei der höhere Begriff häufig als „Gattungsbegriff“, der nächstniedere als „Artbegriff“ bezeichnet.249 Dies schließt es nicht aus, sondern bedingt es vielmehr, daß ein scheiden sich abstrakte Begriffe und Individualbegriffe lediglich durch den Abstraktionsgrad, welcher bei den Individualbegriffen gegen Null läuft. 244 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 439 f. 245 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 440. 246 Egon Schneider/Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl., 2006, S. 21. 247 Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 215. 248 Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 216, 275. 249 Siehe etwa Egon Schneider/Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl., 2006, S. 36 f., 45 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 438.

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Begriff zugleich „Gattungsbegriff“ (nämlich im Verhältnis zur nächstniederen Abstraktionsstufe) und „Artbegriff“ (im Verhältnis zur nächsthöheren Abstraktionsstufe) sein kann. c) „Sozialversicherung“ als Gattungsbegriff Die vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Terminus „Sozialversicherung“ verwendete Bezeichnung als „Gattungsbegriff“ impliziert damit im Grunde nichts weiter, als daß die Gattung „Sozialversicherung“ weiter aufgeschlüsselt werden kann in verschiedene Arten der Sozialversicherung (etwa gesetzliche Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung). „Sozialversicherung“ als Gattungsbegriff umfaßt damit einen auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelten, relativ weitgefaßten250 Begriff, der durch bestimmte Gattungsmerkmale geprägt ist und weitere Unterarten einer „Sozialversicherung“ enthält bzw. enthalten kann. Wenn mitunter eingewandt wird, „Sozialversicherung“ sei ihrerseits eher „Artbegriff“, weil „der“ Gattungsbegriff „Versicherung“ sei, so daß die Einstufung als Gattungsbegriff „eine Stufe zu hoch angesiedelt“ sein dürfte,251 wird hierbei verkannt, daß es nicht einen oder den Gattungsbegriff nur auf einer ganz bestimmten Stufe und darunter den Artbegriff gibt, sondern daß – wie im Vorhergehenden dargelegt – Gattungs- und Artbegriff letztlich nur zwei aufeinanderfolgende Abstraktionsstufen darstellen, unabhängig davon, auf welchen konkreten Stufen sie dabei liegen: Insoweit ist „Sozialversicherung“ gegenüber der nächst höheren Abstraktionsebene „Versicherung“ Artbegriff, gegenüber der nächstniederen Abstraktionsebene (den einzelnen Zweigen oder „Arten“ von Sozialversicherung) aber eben Gattungsbegriff. d) „Typus“ In der Stärke des Begriffes, nämlich seiner relativen inhaltlichen Eindeutigkeit, seiner „tatbestandlich scharfen Kontrollierbarkeit“252, liege zugleich auch seine Schwäche, nämlich eine gewisse „Unbeweglichkeit“253: So gebe es „Dinge“, „Gegenstände“, „Sachen“, für die sich kein abstrakter Begriff bilden lasse, die sich also nicht „eindeutig“ durch erforderliche und hinreichende Merkmale definieren, sondern lediglich beschreiben und erläutern ließen; zu 250 Siehe BVerfGE 63, S. 1 (35); 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34); 88, S. 203 (313): „weitgefaßter Gattungsbegriff“. 251 Siehe Christian Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl., 1996, Art. 74 Rn. 832 Fn. 1440. 252 Siehe BVerfG-Kammer, NJW 1996, S. 2644. 253 Vgl. Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 172.

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deren gedanklich-sprachlicher Begreifbarmachung bedürfe es der Figur des Typus.254 Im Gegensatz zu den Begriffsmerkmalen liegen die Typusmerkmale nur in der Regel, also typischerweise vor, sie müssen aber nicht zwingend vorhanden sein, um den Typus auszufüllen255: „Die in der Beschreibung des Typus angegebenen Merkmale oder doch einige von ihnen brauchen nicht sämtlich vorzuliegen; sie können insbesondere in unterschiedlichem Maße – ,mehr‘ oder ,weniger‘ – gegeben sein. Sie sind häufig abstufbar und bis zu einem gewissen Grade gegeneinander austauschbar. Für sich allein genommen, haben sie nur die Bedeutung von Anzeichen oder Indizien. Entscheidend ist erst ihre jeweilige Verbindung in der konkreten Erscheinung. Ob ein bestimmter Sachverhalt dem Typus zuzuordnen ist oder nicht, das kann also nicht allein danach entschieden werden, ob er alle in ihm gewöhnlich anzutreffenden Merkmale enthält. Vielmehr kommt es darauf an, ob die als ,typisch‘ angesehenen Merkmale in solcher Zahl und Stärke vorhanden sind, daß der Sachverhalt ,im ganzen‘ dem Erscheinungsbild des Typus entspricht. [. . .] Unter die Typenbeschreibung kann man nicht subsumieren; man kann aber mit ihrer Hilfe beurteilen, ob eine Erscheinung dem Typus zugeordnet werden kann oder nicht.“256 Das das „Gesamtbild“ des Typus ausmachende und seine Einheit stiftende Moment liege in einem leitenden Wertgesichtspunkt, dessen Einschlägigkeit darüber befindet, ob und in welcher Kombination oder Abstufung die Typusmerkmale zur Zuordnung der zu beurteilenden Erscheinung zum Typus führen; denn genau dieser leitende Wertgesichtspunkt habe den Normgeber zur Bildung oder Übernahme des Typus und zur Verknüpfung des Typus mitbestimmten Rechtsfolgen bewogen.257 e) „Sozialversicherung“ als Typus Für „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wird nicht selten, vielleicht sogar überwiegend behauptet, es handele sich nicht um einen Begriff, sondern um einen Typus.258 Gestützt wird diese Auffassung nicht zu254 Siehe Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 217 f.; vgl. auch Detlef Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 92. 255 BVerfG-Kammer, NJW 1996, S. 2644. 256 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 221; vgl. auch BVerfG, NJW 1996, S. 2644. 257 Siehe Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 221. 258 Siehe etwa Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2000, S. 158 ff.; Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2001, S. 201 ff.; Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 44 f.; Hans Möller, Sozialversicherung und Privatversicherung, SGb 1970, S. 81 (82): „Nur bei generalisierender typologischer Betrachtungsweise [. . .] läßt sich die Sozialversicherung kennzeichnen (nicht definieren) . . .“ (Hervorhebung im Original); für Klassifizierung von „Sozialversicherung“ als Typus und äußerst kritisch im Hin-

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letzt auf das bereits oben dargelegte bundesverfassungsgerichtliche Vorgehen, die Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ zwar als „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“ zu bezeichnen, diesen aber dann nicht durch eine Addition abstrakter Begriffsmerkmale zu definieren, sondern ihn zu be- oder umschreiben. Mitunter werden dabei „Gattungsbegriff“ und „Typus“ einfach gleichgesetzt.259 Es wird behauptet, die Sozialversicherung sei kein definierbarer Klassen- oder Allgemeinbegriff, der durch die Reihung eines Minimums an bestimmten Merkmalen gebildet wird, sondern ein Typus- oder Ordnungsbegriff, in dem sich eine unabgeschlossene Fülle von Merkmalen zu einer Struktur ordnet und anschaulich werde. Der Typus „Sozialversicherung“ werde vielmehr durch einen festen (Wesens-)Kern konstituiert – einen Grundtatbestand von Prinzipien, welche die Identität der Kompetenzmaterie ausmachten. Die Grenzen seien relativ fließend. Der Typus „Sozialversicherung“ lasse eine Vielzahl von Übergängen zu. Die kompetenzrechtliche Qualifikation fordere daher nicht die Subsumtion unter einen verfassungsrechtlich definierten Klassenbegriff „Sozialversicherung“, sondern die Zuordnung zum verfassungsrechtlich intendierten Typus „Sozialversicherung“ aufgrund eines Strukturvergleichs.260 f) Bewertung der Unterscheidung zwischen Begriff und Typus Auf den ersten Blick scheint die Unterscheidung zwischen Begriff und Typus Folgendes zu ergeben – auch im Hinblick auf den Terminus „Sozialversicherung“: Der „Begriff“ ist inhaltlich klar, zumindest relativ klar umrissen und kann durch eine Definition, d. h. durch eine Abfolge von erforderlichen, aber auch hinreichenden Merkmalen gebildet bzw. durch die Erfüllung dieser Merkmale ausgefüllt werden. Der „Typus“ ist eher vage; seine Merkmale sind zwar typisch, aber nicht wesensnotwendig, sie sind austauschbar und abstufbar. Verbindendes und letztlich konstituierendes Element ist eine leitende Wertentscheidung, ein fester Wesenskern, den die verschiedenen Typusmerkmale in unterschiedlicher Weise, Kombination und Abstufung ausfüllen können. Der Begriff scheint eher starr und geschlossen, der Typus eher variabel und offen.

blick auf eine eventuelle Klassifizierung als Begriff auch Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (688 ff.). Vom „Typus“ Sozialversicherung sprechen ferner etwa KarlJürgen Bieback, Der Grundsatz der hälftigen Beitragslast im Beitragsrecht der Sozialversicherung, VSSR 1997, S. 117 (128); Hans-Jürgen Papier/Johannes Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGb 1998, S. 337 (339). 259 So etwa durch Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 159 ff., 165. 260 Siehe insgesamt Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 44 f.

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Bei genauerer Betrachtung hingegen stellt sich die Frage, ob die Unterscheidung zwischen „Begriff“ und „Typus“ in dieser kategorischen Weise angebracht ist. Hinsichtlich der Figur des Typus sind zunächst folgende Dinge zu kritisieren oder wenigstens kritisch zu hinterfragen: Seine als Vorzug gepriesene und für notwendig erachtete „Offenheit“ birgt die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit. Da die Typusmerkmale nur in der Regel, also typischerweise zur Ausfüllung des Typus führen, insoweit aber weder erforderlich noch hinreichend sind, ist nicht klar, welche Kombination, Abstufung oder Austauschung einzelner Typusmerkmale die Ausfüllung des Typus tatsächlich nach sich zieht. Inwieweit eine „Indizwirkung“ der Typusmerkmale hieran etwas ändert, erscheint zweifelhaft: Denn auch hier bedürfte es der Klärung, wieviele Merkmale oder in welcher Kombination oder Abstufung sie erfüllt sein müssen, um die Indizwirkung auszulösen. Ferner fragt sich, wieviele und welche Merkmale untereinander „austauschbar“ sind, wie die Indizwirkung gegebenenfalls wieder erschüttert werden kann und wie man bemißt, ob ein die Typusmerkmale nicht erfüllender, also quasi „atypischer“ Gegenstand gleichwohl unter den Typus fällt261.262 Eine gewisse Handhabbarkeit dessen oder besser Hilfestellung hierzu soll und kann dabei zwar durch den für den Typus konstituierenden „leitenden Wertgesichtspunkt“263 oder „festen Wesenskern“264 erreicht werden – aber nicht im Sinne einer einheitlichen und verläßlichen Spezifizierung der Verknüpfung der Typusmerkmale265. Überdies bedarf es, um den Typus nicht in die Nähe des Beliebigen abgleiten zu lassen, einer möglichst präzisen Herausarbeitung dieser „leitenden Wertgesichtspunkte“ bzw. des „festen Wesenskerns“, welche für den Typus letztlich als konstituierend angesehen werden. Damit muß nun aber auch beim Typus im Hinblick auf dessen „leitenden Wertgesichtspunkt“ oder „festen Wesenskern“ eine voluntative, die Realität möglichst deckungsgleich widerspiegelnde Präzisierung vorgenommen werden, welche beim Begriff nur einen Schritt früher, nämlich bei der Auswahl und Verbindung der Begriffsmerkmale erfolgt. Bedenkt man nun, daß es – wie bereits dargelegt – Begriffe unterschiedlichster Abstraktionsstufen und damit unterschiedlicher inhaltlicher Weite gibt, so stellt sich die Frage, ob es nicht zur begrifflichen Beschreibung des vermeintlich als „Typus“ angesehenen Gegenstandes ausreicht, das den „leitenden Wertgesichtspunkt“ bzw. den „festen Wesenskern“ des Typus Ausmachende begrifflich zu erfassen, so daß man einen relativ weiten, nur seiner Struktur oder Gattung nach bestimmten Begriff erhielte, unter den alles fällt, was das konsti261

Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 468. Vgl. zu dieser Kritik auch Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 166 ff. 263 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 221. 264 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 45. 265 Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 167. 262

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tuierende Element des vermeintlichen „Typus“, nämlich dessen „leitenden Wertungsgesichtspunkt“ bzw. dessen „Wesenskern“ aufweist. Erleichtert werden kann dieses Unterfangen nötigenfalls durch Verwendung hinreichend weiter Begriffsmerkmale, deren Erfüllung gegebenenfalls im Wege der Auslegung nach Sinn, Zweck und damit Wesen des zu beschreibenden Gegenstandes überprüft und ermittelt werden muß. Damit würde bei der Begriffsbildung nichts abverlangt werden, was nicht auch bei der Charakterisierung des Typus erfolgen müßte; denn auch bei diesen kann – wie bereits dargelegt – die für ihn konstituierende „leitende Wertentscheidung“ bzw. sein „fester Wesenskern“ letztlich nur durch eine wesensmäßige Betrachtung bestimmt werden. Sollten die TypusMerkmale aufgrund dessen, daß sie weder hinreichend noch notwendig sowie austauschbar, ersetzbar und nicht konstituierend sind, nicht ohnehin entbehrlich sein266, können auch sie nötigenfalls zur (Präzisierung der) Begriffsbildung herangezogen werden: Erweisen sich einzelne von ihnen als hinreichend bzw. notwendig, erfüllen diese ohnehin die Funktion von Begriffsmerkmalen (dies dürfte jedenfalls für die Merkmale des konstituierenden „Wesenskerns“ eines Typus gelten). Sind sie es nicht, bedarf es aber ihrer (oder genauer: einiger von ihnen) gleichwohl zumindest in einer bestimmten Kombination bzw. sind sie gegeneinander austauschbar, kann ein entsprechender Begriff auch unter Schaffung einer alternativen bzw. disjunktiven Verknüpfung der Merkmale (also einer „oder“statt einer „und“-Verknüpfung) gebildet werden267. Auch der vermeintliche Vorteil des Typus, daß seine Merkmale „abstufbar“ seien, erscheint nicht als entscheidendes Argument gegen eine Begriffsbildung: Denn zwar mag ein bestimmtes Merkmal bei verschiedenen am Typus zu messenden Gegenständen in unterschiedlicher Stärke vorliegen268, jedoch ist es regelmäßig nur eine dieser Stufen, die über die Erfüllung des Typus entscheidet – diese eine Stufe kann dann aber auch begrifflich entsprechend beziffert werden269. All dies läßt sich an dem vielzitierten „Tierhalter“-Beispiel verdeutlichen, welches von Larenz270 zur Begründung der vermeintlichen Notwendigkeit des Typus gebildet wurde: Nach Larenz sei „Tierhalter“ im Sinne des § 833 BGB, welcher eben diesen Tierhalter im Falle einer Schädigung durch das Tier zum Schadenersatz verpflichtet, kein Begriff sondern ein Typus. Nach der von Larenz zum Zwecke der Kritik aufgegriffenen, häufig zu lesenden Begriffsbestim-

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Vgl. Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982,

S. 77. 267 Siehe Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 74 f. 268 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 219. 269 Vgl. Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 76 f. 270 Bei Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 218 ff.

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mung ist Tierhalter „wer das Tier in seinem Hausstand, seinem Wirtschaftsbetrieb oder allgemein in seinem Herrschaftsbereich nicht nur ganz vorübergehend im eigenen Interesse verwendet, dessen Lebens- und Wirtschaftssphäre es also angehört“271. Hiernach wären konstituierend für den Begriff „Tierhalter“ zwei kumulativ bzw. in Konjunktion stehende Merkmale: „im Herrschaftsbereich“ und „im Interesse“. Hierzu bemerkt Larenz indes nun sicherlich nicht zu Unrecht, daß diese Begriffsbestimmung dem Regelungsgehalt des § 833 BGB nicht hinreichend gerecht wird: „im Herrschaftsbereich“ könne zwar typisches, aber nicht zwingendes Merkmal sein; denn auch der bloß mittelbare Besitzer müsse bei überwiegendem Interesse als Tierhalter gelten können, sowie umgekehrt der unmittelbare Besitzer bei mangelndem Interesse nicht als Tierhalter angesehen werden könne. Hieraus folgert Larenz: „Weder die Eingliederung des Tieres in den Hausstand oder Wirtschaftsbetrieb, noch die tatsächliche Gewalt, der unmittelbare oder der mittelbare Besitz sind also unverzichtbare, d. h. begriffliche Merkmale. Jedes dieser Merkmale kann aber von Bedeutung sein in Verbindung mit dem Interesse an der Tierhaltung. Dieses wiederum kann bei verschiedenen Personen in verschiedener Stärke vorliegen; es ist also ein ,abstufbares‘ Merkmal. Entscheidend ist das Interesse in Verbindung mit wenigstens einem der anderen Momente. Handelt es sich dabei nicht um begriffliche Merkmale, so kann es sich nur um Anzeichen, Indizien für das Vorliegen der vom Gesetz gemeinten Beziehung handeln, an die es das aus der Tiergefahr sich ergebende Haftungsrisiko knüpft. Welcher Art diese Beziehung ist, läßt sich mit Hilfe solcher Indizien und durch konkrete Beispiele annähernd umschreiben, nicht aber durch streng begriffliche Merkmale abschließend festlegen. [. . .] Nicht um einen Begriff, der durch die Angabe aller seiner notwendigen Merkmale abschließend definiert werden könnte, handelt es sich bei dem ,Tierhalter‘, sondern um einen Typus“272. Da das Gesetz das Risiko von Schäden, die durch ein Tier zugefügt werden, demjenigen auferlegen wolle, der dieses Tier in seinem Interesse hält, sei der letztlich entscheidende, den „Typus Tierhalter“ ausmachende „leitende Wertgesichtspunkt“ die Intensität dieses Interesses an der Tierhaltung, weil der hinter der Tierhalterhaftung stehende Rechtsgedanke der einer Verknüpfung von Eigeninteresse und Risiko sei: „Danach bestimmt sich, wer als ,Tierhalter‘ anzusehen ist. Beispiele wie ,Hausstand‘ oder ,Wirtschaftsbetrieb‘, wie alle anderen in der Kasuistik hervorgehobenen Gesichtspunkte, erhalten von daher ihren begrenzten Aussagewert. Ohne den zentralen Bezugspunkt der ratio legis blieben sie mehr oder weniger zufällig – bloße ,topoi‘“.273 Ob Larenz damit aber die unbedingte Notwendigkeit nachweist, den Terminus „Tierhalter“ als Typus anzusehen, erscheint zweifelhaft. Vielmehr weist er 271 Bei Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 218 mit Nachweisen. 272 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 219 f. 273 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 221 f.

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vor allem nach, daß die erfolgte, oben geschilderte Begriffsbildung, welche er zum Ausgangspunkt seiner Darlegungen macht, im Hinblick auf die ratio legis des § 833 BGB nicht überzeugend, nicht adäquat ist. Damit ist aber nicht dargelegt, daß es nicht eine andere (adäquate) Begriffsbildung geben kann, welche die Kritikpunkte von Larenz berücksichtigt. Wenn also tatsächlich allein das „überwiegende Interesse“ an der Tierverwendung maßgeblich ist und es auf das Herrschaftsverhältnis letztlich überhaupt nicht ankäme, so könnte man – unter Verzicht auf Merkmale, die Bezug auf ein „Herrschaftsverhältnis“ nehmen – eine dementsprechende Definition bilden, nach welcher „Tierhalter“ derjenige ist, der das überwiegende Interesse an der Verwendung des Tieres hat.274 Bedürfte es noch einer Konkretisierung dieses ansonsten sehr weiten Begriffes, etwa um die von Larenz275 für nicht mehr von der ratio legis des § 833 BGB umfaßten Fälle des Diebstahls des Tieres oder des dauerhaften Entlaufens des Tieres auszufiltern (in beiden Fällen dürfte das „überwiegende Interesse“ des ehemaligen Besitzers zu bejahen sein), so könnte die Definition erweitert werden um ein Merkmal oder eine Merkmalsgruppe, die auf das erforderliche „Herrschaftsverhältnis“ Bezug nimmt, etwa: „. . . und wer das Tier in seinem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz hat und diesen Besitz nicht nur vorübergehend verloren hat.“ Wollte man hingegen den nur vorübergehenden Diebstahl des Tieres (etwa weil der Täter schnell ermittelt und das Tier zurückgegeben wird) im Gegensatz zum nur vorübergehenden Entlaufen (letzteres gehört gerade zur haftungsbegründenden Tiergefahr) ausnehmen und für diese Zeit die Tierhaltereigenschaft verneint wissen, könnte man dies ebenfalls in die Begriffsdefinition aufnehmen, etwa durch einen entsprechenden „es-sei-denn . . .“-Zusatz. Natürlich wird die Definition dadurch sprachlich immer sperriger, aber eine Begriffsbildung bleibt möglich; wie umfassend sie inhaltlich ist, hängt dabei vor allem davon ab, ob man bei der Begriffsbildung auch alle eher atypischen Konstellationen, die der ratio legis entsprechen, überschaut und dann definitorisch erfaßt. Damit gilt für die Unterscheidung zwischen Begriff und Typus Folgendes: Begriff und Typus schließen sich nicht gegenseitig aus, d. h. es gibt nicht Gegenstände, die entweder einen „Begriff“ oder einen „Typus“ darstellen, wie aber gerne suggeriert wird276. Vielmehr kann man jeden Gegenstand sowohl „begrifflich“ als auch „typologisch“ beschreiben. Da der Begriff inhaltlich ab274 Siehe Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 76 f. 275 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 220. 276 Siehe etwa Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 220, bzgl. „Tierhalter“: „Nicht um einen Begriff [. . .] handelt es sich bei dem ,Tierhalter‘, sondern um einen Typus“; Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (689), bzgl. „Sozialversicherung“: „[. . .] die Bezeichnungen Sozialrecht und Sozialversicherung können keine [. . .] Begriffe sein“.

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schließend bestimmt ist, sorgt er für mehr Rechtsklarheit, ist aber auch schwieriger zu bilden, soll er – um seinem Anspruch gerecht zu werden – sämtliche Konstellationen erfassen, welche der ratio legis der betreffenden Norm nach unter diese fallen sollen. Das Risiko, daß vor allem atypische, ungewöhnliche oder seltene Konstellationen bei der Begriffsbildung nicht bedacht und von der Begriffsdefinition nicht erfaßt werden, ist relativ hoch, kann jedoch gegebenenfalls durch eine entsprechend weite, vage und auf Auslegungsbedürftigkeit und fähigkeit einzelner Merkmale ausgerichtete Begriffsbildung reduziert werden. Der Typus umgeht den Nachteil des Begriffes, indem er nicht den Anspruch erhebt, inhaltlich abschließend bestimmt zu sein. Er ist insoweit von vornherein flexibler und anpassungsfähiger. Dadurch ist er jedoch auch inhaltlich wesentlich unklarer, und es besteht die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit bei der Überprüfung, ob einzelne Gegenstände unter den Typus fallen, da – trotz Vorhandenseins eines „leitenden Wertgesichtspunkts“ – die Relevanz oder Nichtrelevanz der einzelnen Typusmerkmale und ihr Verhältnis zueinander im Dunkeln bleiben und von mal zu mal neu behauptet werden können. Letztlich resultiert die typologische Beschreibung eines Gegenstandes ganz primär aus dem intellektuellen Unvermögen (und nicht aus einer objektiven, dem Gegenstand anhaftenden Unmöglichkeit), eine umfassend „richtige“ (adäquate) Begriffsbildung vorzunehmen. Das Unvermögen besteht dabei regelmäßig nicht darin, dies sprachlich zu bewerkstelligen, sondern darin, bereits bei der Begriffsbildung alle vom Begriff umfaßten oder zu umfassenden Fälle, gerade auch die atypischen oder noch nicht oder nur schwer vorhersehbaren, zu antezipieren und in die Begriffsbildung miteinfließen zu lassen. Denklogisch möglich wäre es dabei sicherlich, rechtliche Termini zur Erreichung von Rechtsklarheit und Berechenbarkeit immer „begrifflich“ adäquat erfassen zu können; jedoch scheitert dies rein praktisch regelmäßig an der Vielschichtigkeit, Dynamik und Unüberschaubarkeit der Realität.277 Vor diesem Hintergrund stellt sich der „Typus“ gegenüber dem „Begriff“ letztlich als eine Art Hilfskonstruktion zur Realitätsabbildung dar, die letztlich eine Kapitulation vor dem Unvermögen ist, einzelne Gegenstände der Realität präzise und allumfassend zu beschreiben. Gleichwohl – oder gerade deshalb – sollte mit der Annahme von Typen zurückhaltend umgegangen werden278, da die Verwendung von Typen im oben beschriebenen Sinne zu Lasten von Klarheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung führen kann279 und dazu verführt, eine eventuell doch mögliche, 277

Vgl. Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 131, 147. Vgl. Helge Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 65. 279 Vgl. etwa Josef Esser, Rezension von „Karl-Heinz Strache, Das Denken in Standards. Zugleich ein Beitrag zur Typologik.“, AöR 96 (1971), S. 140 (141): „Der Typus [. . .] ist für eine durchschaubare und kontrollierbare Methode nicht brauchbar.“; Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 169. 278

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ihrem eigenen Anspruch an abschließende und umfassende Beschreibung gerecht werdende Begriffsbildung von vornherein zu unterlassen280. Gegebenenfalls kann dabei versucht werden, durch hinreichend vage, gegebenenfalls mit disjunktiven Merkmalen versehene, weite Interpretationsspielräume belassende Begriffsbildung281 eine Art Kompromiß zwischen einer zu engen und starren Begrifflichkeit und einem von vornherein zu offenen und wenig verläßliche, begrenzende Anhaltspunkte für seine Ausfüllung liefernden Typus zu finden.282 Insoweit wird auch nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, daß Begriff und Typus sich nicht im Sinne eines absoluten „entweder/oder“ gegenüberstehen müssen, sondern sich im Sinne eines „mehr oder weniger“ ihrer Charakteristika annähern können; so erscheinen bei der Gegenüberstellung von konstitutivem Wertbezug beim Typus und konstitutivem Bedeutungsgehalt der wertbezogen ausgewählten Merkmale des Begriffes Zwischenstufen dadurch möglich, daß innerhalb der im Begriff gebundenen Wertungen – gegebenenfalls auch innerhalb einzelner Begriffsmerkmale – der die klare Abgrenzbarkeit tragende Gedanke in seiner relativen Bedeutung gegenüber dem die sachliche Entscheidung enthaltenden Wertungsgesichtspunkt zurücktritt.283 Der Vorteil eines – auch weitgefaßten, nur nach bestimmten Struktur- oder Gattungsmerkmalen präzisierten – Begriffes läge immer noch in dem eindeutig strukturierten Verhältnis zwischen seinen Merkmalen und damit einem Mindestmaß an Berechenbarkeit, was die Typusmerkmale aufgrund ihrer Austauschbarkeit, Kombinierbarkeit und damit letztlich nur schwer bestimmbaren Relevanz nicht bewerkstelligen können. Zusätzlich ist zu erwähnen, daß es ohnehin nicht der Anspruch der Rechtswissenschaft und der juristischen Begriffsbildung ist oder sein kann, das „Ideal absoluter Stringenz“ zu erreichen und „von vornherein nur die Exaktheit naturwissenschaftlich-logischer Gesetze und stringent zu verifizierender Erkenntnisse zuzulassen“284.285 Um die Berücksichtigung der insoweit bestehenden Erfordernisse des Rechtslebens hinsichtlich Flexibilität und Erfaßbarkeit neuer Entwicklungen bemüht sich auch der Begriff.286 Nur bleibt eben selbst ein „vager“ Be280

Vgl. Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 169. Vgl. etwa Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 76 f.; Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 120 ff. 282 Insoweit kritisch zur „Nutzung“ von Typen auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 178 ff.; Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 73 ff.; Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 99 ff.; 120 ff.; 160 ff.; 168 f. 283 Siehe Detlef Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 54. 284 So aber die Kritik von Detlef Leenen, Rezension von „Walter Ott, Die Problematik einer Typologie im Gesellschaftsrecht“, ZHR 1973, S. 190 (191), bezüglich (vermeintlich) überspannter Exaktheitsanforderungen der Kritiker der Typuslehre. 285 Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 118. 286 Vgl. Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 181 f., 186. 281

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griff durch seine – sei es auch gegebenenfalls weiten – Definitionsmerkmale, die im Gegensatz zu den Typusmerkmalen in einem klaren Verhältnis zueinander stehen, eindeutiger als der Typus. Das im Vergleich zum „offenen“ Typus selbst im günstigsten Fall verbleibende Risiko, dabei die „ideale“, absolut adäquate Begriffsbildung zu verfehlen, kann dabei allenfalls minimiert, aber kaum jemals ausgeschlossen werden. Diesem hinnehmbaren (Rest-)Risiko um den Preis fehlender Berechenbarkeit und Eindeutigkeit durch Typenbildung aus dem Weg zu gehen, sollte aber jedenfalls nicht von vornherein und leichtfertig erfolgen – zumal übrigens auch die Typusbildung keine abschließende Gewähr dafür bietet, den durch sie nur beschriebenen Gegenstand typologisch und wertbezogen richtig erfaßt zu haben. Mögen absoluter Exaktheit – deren Erreichung, wie gesagt, ohnehin nicht Anspruch der juristischen Begriffsbildung ist – auch die „natürlichen Grenzen des Erkenntnisvermögens“ entgegenstehen287, sollte man auf die Typenbildung nicht bereits dann ausweichen, wenn man von dieser Grenze „noch weit entfernt“288 ist. g) Konsequenzen für den verfassungsrechtlichen Terminus „Sozialversicherung“ Ob „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ein (Gattungs-)Begriff oder ein Typus ist, kann und soll somit an dieser Stelle zunächst dahinstehen. Ziel der nachfolgenden Ausführungen wird es sein, die Strukturmerkmale von „Sozialversicherung“ herauszuarbeiten und somit den Inhalt des verfassungsrechtlichen Terminus „Sozialversicherung“ möglichst präzise zu ermitteln. Da nach den obigen Ausführungen die Begriffsbildung der Typusbildung wegen der größeren Eindeutigkeit und Berechenbarkeit des Begriffes grundsätzlich vorzuziehen ist, wird dabei der Anspruch einer – zumindest weitgefaßten – Begriffsbildung verfolgt werden289 und somit zugleich überprüft, ob die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Charakterisierung des Terminus „Sozialversicherung“ als „weitgefaßter Gattungsbegriff“ seine Berechtigung hat; zugleich soll aber – wie eingangs erwähnt – ebenfalls und vorrangig versucht werden, den Inhalt von „Sozialversicherung“ präziser zu bestimmen als es bisher, auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, geschehen ist (s. oben). Erst wenn die prägenden Strukturmerkmale von „Sozialversicherung“ ermittelt sind, wird man darüber befinden können, ob sie für die Bildung eines 287 Wilhelm Herschel, Die typologische Methode und das Arbeitsrecht, in: Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie – Festgabe für Otto Kunze, 1969, S. 225 (231). 288 Lothar Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977, S. 118, Fn. 69. 289 Daher wird im folgenden nicht nur der sprachlichen Einfachheit halber auch weiterhin vom „Begriff“ Sozialversicherung und deren „Begriffsmerkmalen“ gesprochen werden.

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(sei es auch weitgefaßten) Begriffes taugen, oder ob „Sozialversicherung“ nicht tatsächlich nur als Typus abgebildet werden kann oder sollte290. 4. Die Merkmale von „Sozialversicherung“ im verfassungsrechtlichen Sinne Da sich der Terminus „Sozialversicherung“ aus zwei Teilkomponenten, nämlich „Sozial“ und „Versicherung“ zusammensetzt, sollen zunächst beide Komponenten isoliert betrachtet werden. Es soll also gefragt werden, worin der so verstandene „Versicherungs“-Charakter der Sozialversicherung besteht, und welcher Bedeutung dem Wortteil „Sozial“ zukommt. Klargestellt sei dabei an dieser Stelle noch, daß der (hier interessierende) verfassungsrechtliche Begriff „Sozialversicherung“ zu trennen ist von dem einfachgesetzlichen. Was also einfachgesetzlich im Sozialrecht als „Sozialversicherung“ bezeichnet wird, muß dies nicht zwingend auch im verfassungsrechtlichen Sinne sein, da das einfache Recht das Verfassungsrecht nicht determinieren kann.291 Andererseits ist mit der Schaffung der Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ Bezug genommen auf das vorgefundene Sozialversicherungssystem, so daß dessen grundlegende Zwecke und Strukturen bei der Ermittlung des Inhalts von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von prinzipieller Bedeutung sind. Nur heißt dies nicht, daß alles, was „Sozialversicherung“ in ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung ausmacht, dann zugleich prägend bzw. wesensbestimmend für den Terminus „Sozialversicherung“ im verfassungsrechtlichen Sinne ist. Zu recht wird insoweit darauf hingewiesen, daß ansonsten, wenn also der verfassungsrechtliche Begriff „Sozialversicherung“ ganz eng auf das überkommene System zu begrenzen wäre, der Bundesgesetzgeber lediglich „eine beschränkte Änderungsund Aufhebungskompetenz für längst bestehende Regelungen“ hätte292. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG soll es vielmehr dem Bundesgesetzgeber ermöglichen, mit der jeweiligen sozialpolitischen Lage Schritt zu halten und Neuerungen der Sozialversicherung vorzunehmen.293 Insgesamt muß daher „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG alle sozialpolitischen Maßnahmen er290

Siehe dazu unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 5. Vgl. Detlef Merten, Verfassungsprobleme bei Ausweitung der Versicherungspflicht, in: ders., Speyerer Sozialrechtsgespräche 1991–2000, 2002, S. 474 (475). 292 Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (50); Hans Schneider, Die öffentlich-rechtliche Alterssicherung freier Berufe und das Grundgesetz, 1959, S. 51 f. 293 Hans Schneider, Die öffentlich-rechtliche Alterssicherung freier Berufe und das Grundgesetz, 1959, S. 53; ebenfalls Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (50). 291

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fassen, die „zu einem beliebigen Zeitpunkt den gleichen Zielsetzungen dienen wie die alten Sozialversicherungsgesetze“294 und „in ihren wesentlichen Strukturelementen [. . .] dem Bild entsprechen, das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“295. Diese „wesentlichen Strukturelemente“ gilt es unter Berücksichtigung der mit „Sozialversicherung“ verfolgten Zwecksetzung, mithin der Aufgaben- und Finanzverantwortung des Staates für die soziale Sicherung, zu ermitteln296 und sie gleichzeitig – was in Rechtsprechung und Schrifttum nicht immer explizit versucht wird – von solchen Elementen zu unterscheiden, welche zwar in der einfachgesetzlichen Ausprägung der Sozialversicherung angelegt, vielleicht sogar typisch für diese, nicht aber bestimmend für den verfassungsrechtlichen Sozialversicherungsbegriff sind. Denn (nur) diese wesentlichen Strukturelemente sind es, die den verfassungsrechtlichen Sozialversicherungsbegriff konstituieren, determinieren, mit Inhalt füllen, und nur auf sie kann man abstellen, um den verfassungsrechtlichen Sozialversicherungsbegriff so offen zu halten, daß zukünftige Erneuerungen erfaßt werden können. Wie eingangs erwähnt, sollen Ausgangspunkt dieser Betrachtung die beiden Teilkomponenten von „Sozialversicherung“ sein, also zum einen die „Versicherungs“-Komponente, zum anderen die „Sozial“-Komponente. a) Die Komponente „Versicherung“ in der Sozialversicherung Das Grundgesetz verwendet in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG die Bezeichnung297 „Sozialversicherung“ sowie in Art. 87 Abs. 2 GG die Bezeichnung „soziale Versicherungsträger“. In der einfachgesetzlichen Ausgestaltung in den Büchern des Sozialgesetzbuches wird ebenfalls von „Sozialversicherung“ gesprochen (siehe etwa § 4 SGB I sowie das SGB IV), die einzelnen Zweige als Arbeitslosen-, Kranken-, Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung bezeichnet (siehe etwa § 1 Abs. 1 SGB IV). Die in der Sozialver294 Hans Schneider, Die öffentlich-rechtliche Alterssicherung freier Berufe und das Grundgesetz, 1959, S. 53. 295 BVerfGE 11, S. 105 (112); 75, S. 108 (146). 296 Siehe auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 209 f.; vgl. ferner Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (50 f.). 297 Ungeachtet des Streits um die Klassifizierung des im Grundgesetz verwendeten Terminus „Sozialversicherung“ als Begriff oder als Typus (siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 3.) wird im folgenden von Sozialversicherung als „Begriff“ gesprochen: damit soll nicht eine Entscheidung vorweggenommen werden, ob Sozialversicherung nun im Sinne juristischer Methodik tatsächlich einen „Begriff“ anstatt einen „Typus“ darstellt; vielmehr erfolgt dies aus sprachlichen Gründen, „Begriff“ in diesem Zusammenhang ist also nicht im Sinne der juristischen Methodenlehre zu verstehen, sondern im allgemeinsprachlichen Sinne als Synonym für „Terminus“, „Bezeichnung“, „Wort“ etc.

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sicherung erfaßten Personen sind in ihr „versichert“ (siehe etwa § 2 Abs. 1 SGB IV oder §§ 5 ff. SGB V) und werden als „Versicherte“ tituliert (siehe etwa § 11 SGB V), die Träger der Sozialversicherung „Versicherungsträger“ genannt (siehe § 29 SGB IV). Diese Begrifflichkeiten bestanden bereits zur Zeit der ersten sozialversicherungsrechtlichen Gesetzgebung unter Bismarck (siehe dazu bereits oben) und insbesondere auch für die vom Grundgesetz bei dessen Erlaß vorgefundene Ausprägung der deutschen Sozialversicherung.298 Aufgrund der im Grundgesetz verwendeten Terminologie und der prinzipiellen Bezugnahme der betreffenden grundgesetzlichen Regelungen auf das vorhandene (bzw. vorgefundene) einfachgesetzliche Sozialversicherungssystem spricht prima vista einiges dafür, daß „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als „Versicherung“ bestehen soll, der Verfassungsgeber also davon ausging, daß Sozialversicherung zumindest eine Art der „Versicherung“ darstellt.299 aa) Die Diskussion um den „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung Gleichwohl ist der „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung immer wieder stark hinterfragt worden und Anlaß für Diskussionen, Kontroversen und Untersuchungen gewesen300. Denn Leitbild für den – in den Einzelheiten ebenfalls noch nicht abschließend geklärten – Begriff „Versicherung“ ist die Privatversicherung. Die Sozialversicherung weist jedoch zahlreiche, sozial bedingte Eigentümlichkeiten auf,301 die sie nicht unerheblich von einer typischen Privatversicherung unterscheiden, so daß immer wieder die Frage gestellt wurde, ob oder inwieweit die „Sozialversicherung“ tatsächlich eine Versicherung „im eigentlichen Sinne“ ist.302 Obwohl die herrschende Meinung303 insgesamt davon ausgeht, daß Sozialversicherung letztlich eine „Versicherung“ darstellt, „Versicherung“ somit also ein 298 Siehe auch Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 11. 299 Vgl. Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 11 f. 300 Siehe Winfried Schmähl, Versicherungsgedanke und Sozialversicherung, in: ders. (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, 1985, S. 1 (2). 301 Siehe zu dieser „sozialen Komponente“ der Sozialversicherung unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b). 302 Siehe auch Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (180). 303 Siehe BVerfGE 9, S. 124 (133); 10, S. 141 (166); 11, S. 105 (114); 21, S. 362 (378); 28, S. 324 (349); 75, S. 108 (146); 76, S. 256 (300 f.); BVerfG-Kammer, NJW 2000, S. 2496; zuvor bereits BSGE 6, S. 213 (228); aus dem Schrifttum etwa: Helmar Bley/Ralf Kreikebohm/Andreas Marschner, Sozialrecht, 9. Aufl., 2007, Rn. 279; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 218 f.; Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 56; Hermann

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Oberbegriff für „Privatversicherung“ (häufig auch: „Individualversicherung“304) sowie „Sozialversicherung“ ist305, wird hierbei regelmäßig immer wieder betont, daß Sozialversicherung gleichwohl vom „reinen Versicherungsprinzip“, wie es die Privatversicherung beherrscht, abweicht und in entscheidender Weise durch soziale Gesichtspunkte modifiziert wird, die der Privatversicherung fremd sind306. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts enthalte die Sozialversicherung insoweit als wesentliches („versicherungsfremdes“) Element von je her ein Stück staatlicher Fürsorge, aber in ihrer Struktur sei sie mindestens ebenso stark durch die versicherungsrechtliche Komponente geprägt307, da zu ihr jedenfalls die „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ gehöre308. Dieser im Ergebnis letztlich kaum bestrittene Befund, daß nämlich die Sozialversicherung gegenüber der Privatversicherung Besonderheiten aufweist, die sie von der Privatversicherung und dem dort in seiner „Reinform“ verwirklichten Versicherungsprinzip abweichen läßt, „Sozialversicherung“ und „Privatversicherung“ also begrifflich zu trennen sind309, schlägt sich dann nieder in zumindest unterschiedlichen Formulierungen hinsichtlich des Versicherungscharakters von „Sozialversicherung“: Teils wird davon ausgegangen, daß die Sozialversicherung relativ unschwer unter den Versicherungsbegriff subsumiert werden könne310 und daher „echte Versicherung“ sei311, teils wird aber auch vorsichtiger dahinEichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 76; Wolfgang Gitter/Jochem Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., 2001, § 4 Rn. 2; Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (190); Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 70 ff.; Stephan Leitherer, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 19 Rn. 21; Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versicherungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 (399); Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 23; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 16 ff. 304 Siehe zu dieser Begrifflichkeit auch unten Fn. 1382. 305 Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 9. 306 Siehe etwa BVerfGE 76, S. 256 (300 f.); BVerfG-Kammer, NJW 2000, S. 2496; Winfried Boecken, Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 262. 307 Siehe etwa BVerfGE 9, S. 124 (133); 10, S. 141 (166); 11, S. 105 (114); 21, S. 362 (378); 28, S. 324 (349); 75, S. 108 (146); 76, S. 256 (300 f.). 308 BVerfGE 11, S. 105 (112); 75, S. 108 (146); zuvor bereits BSGE 6, S. 213 (228). 309 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 76. 310 Siehe etwa Hans Möller, Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135; vgl. ferner Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 73. 311 Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (190).

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gehend formuliert, daß es sich bei ihr um eine „Mischform“ aus Versicherung sowie Elementen der Fürsorge und der Versorgung handele312 oder um eine „Versicherung besonderer Qualität“313, daß sie zumindest „versicherungsmäßige Wesenszüge“ aufweise314 oder das Versicherungsprinzip in ihr „mindestens gleichgewichtige Berücksichtigung“ neben sozialen Aspekten finden müsse315. Teils wird auch befunden, daß sie den Versicherungsbegriff zwar nicht in „reiner Form“, aber wenigstens „wesentliche Elemente“ hiervon erfülle316 oder daß sie zwar „als Versicherung im Rechtssinne anzusehen“ sei, ihr „Versicherungsgehalt“ sich aber nicht als „gleich groß“ erweise, jedoch ihren „Kern“ ausmache und den sie beherrschenden Grundgedanken darstelle – obwohl es einige Erscheinungen gebe, die nicht vom Versicherungsbegriff im Rechtssinne gedeckt seien, ihr aber gleichwohl nicht das „Gepräge“ als Versicherung nähmen317. Innerhalb dieser herrschenden Meinung scheint damit zwar nicht mehr fraglich, ob die Sozialversicherung „Versicherung“ ist, aber die zuletzt aufgezeigten, eher relativierenden Formulierungen hinsichtlich ihres Versicherungscharakters werfen doch die Frage auf, inwieweit sie Versicherung ist bzw. sein soll (oder gar sein muß), wenn sie es nicht „in Reinform“, nur „im Kern“, hinsichtlich „wesentlicher Elemente“ des Versicherungsbegriffes sei oder sie zumindest „versicherungsmäßige Wesenszüge“ aufweise. Im übrigen implizieren diese Formulierungen auch, daß der Versicherungsbegriff quantitativ abstufbar ist, daß es also Gebilde gibt, die „mehr“ oder „weniger“ Versicherung sind, oder daß es bereits ausreiche, daß „wesentliche Elemente“ (also nicht alle, und wenn ja welche?) des Versicherungsbegriffes erfüllt sind, um ein Gebilde als „Versicherung“ klassifizieren zu können. Hiermit würde der Versicherungsbegriff in die Nähe des Typus gerückt318; die bereits oben gegen die Verwendung von Typen erhobenen Bedenken griffen insoweit aber auch hier. Teilweise wird der Versicherungscharakter der Sozialversicherung wegen ihrer „sozialen“ Eigentümlichkeiten aber auch von vornherein bestritten: Zwar ist die insbesondere in der Zeit vor Erlaß des Grundgesetzes vertretene „Fürsorge312 Siehe Harry Rohwer-Kahlmann, Die Fürsorge, ZSR 1967, S. 1 (10); vgl. auch Ulrich Schlie, Versicherungmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der sozialen Rentenversicherung, ZVersWiss 1966, S. 53 (57). 313 Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 137. 314 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 77. 315 Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 75. 316 Stephan Leitherer, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 19 Rn. 21. 317 Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 16; ähnlich auch Wolfgang Gitter/Jochem Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., 2001, § 4 Rn. 5. 318 Dafür etwa Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 16, jedenfalls hinsichtlich des „vertragsrechtlichen ,Begriffs‘ der Versicherung“.

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theorie“, nach welcher sich die Sozialversicherung statt als „Versicherung“ als staatliche sozialpolitische Fürsorge darstelle319, heute angesichts der Trennung der Gesetzgebungsmaterien „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) obsolet320. Mitunter wird in der Sozialversicherung aber auch gegenwärtig keine „Versicherung“, sondern eine „eigenständige Schöpfung des öffentlichen Rechts“ gesehen, die als „eigenständiger, von der Privatversicherung und von steuerfinanzierten staatlichen Transfersystemen gleich weit entfernter Sicherungstyp zu verstehen“ sei321. Die staatsrechtliche Konstruktion der Sozialversicherung lasse sich nicht vom Versicherungsbegriff her finden, und ihre vorherrschende Interpretation über das Versicherungsprinzip sei ein „Mythos“, welcher „der terminologischen Unbeholfenheit des obrigkeitsstaatlichen Gesetzgebers geschuldet“ sei.322 bb) Bewertung der Diskussion um den „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung Betrachtet man die Diskussion und den Streit um den Versicherungscharakter der Sozialversicherung genauer, so fällt zunächst Folgendes auf: (1) Streit um Begrifflichkeiten, nicht um materielle Inhalte Die Diskussion um den Versicherungscharakter dreht sich weniger um die konkreten inhaltlichen Strukturmerkmale von „Sozialversicherung“, also den sachlich-konstituierenden Inhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 319 Heinrich Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, 1. Bd. 1893, S. 1 ff.; ders., Die Rechtsnatur der Arbeiterversicherung, in: Festgabe für Paul Laband, 2. Bd., 1908, S. 43 ff.; Walter Kaskel/Fritz Sitzler, Grundriß des sozialen Versicherungsrechts, 1912, S. 32 ff.; Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 4 ff. 320 Vgl. Hans Möller, Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135 (137 f.). 321 So Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 44, 396; ähnlich Walter Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Beiträge zur Sozialversicherung – Festgabe für Johannes Krohn, 1954, S. 35 (48): „Sozialversicherung ist vielmehr als eine von Versicherung, Versorgung und Fürsorge wesentlich unterschiedene eigenständige Rechtsform sozialer Sicherung zu betrachten“; ders., Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (48 f.): Sozialversicherung sei „zwar auch von versicherungsmäßigen Prinzipien getragen“, aber letztlich eine „Sicherung eigener Art“, die „sich von der Individualversicherung, Versorgung und Fürsorge [. . .] abhebt“; ebenfalls gegen den Versicherungscharakter der Sozialversicherung Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 ff., 712. 322 Wolfram Lamping, „Versicherungsfremde Leistungen“ – Historisch-systematisierende Anmerkungen zu einem sozialpolitischen Schlüsselbegriff, ZSR 1997, S. 52 (58, 59).

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Abs. 1 Nr. 12 GG. Vielmehr geht es primär um die Bewertung, ob die in den bisherigen Ausprägungen der Sozialversicherung vorgefundenen sozialen Eigentümlichkeiten – welche sie unstreitig von den bestehenden, typischen Formen der Privatversicherung unterscheiden – die Sozialversicherung rein begrifflich noch als „Versicherung“ erscheinen lassen. Anders ausgedrückt: In den betreffenden Stellungnahmen wird regelmäßig ein und dasselbe – und dies relativ gleichlautend – beschrieben, nämlich das (einfachgesetzliche) Sozialversicherungssystem in seiner jeweils bestehenden Ausprägung, mit seinen typischen Kennzeichnungen und insbesondere mit all seinen Unterschieden zur typischen Privatversicherung. Und sodann wird „lediglich“ darüber diskutiert, ob diese Eigenheiten und Unterschiede es rechtfertigen, „Sozialversicherung“ begrifflich als „Versicherung“ zu erfassen. Selbst die Autoren, welche die Sozialversicherung nicht als „Versicherung“, sondern als „eigenständiges Sicherungssystem“ betrachten (s. oben), beschreiben dabei den Inhalt der Sozialversicherung und ihre sozial bedingten Abweichungen von der Privatversicherung nicht grundlegend anders als diejenigen, welche den Versicherungscharakter bejahen, sie bewerten ihn nur begrifflich anders – eben insoweit, als die Sozialversicherung aufgrund ihres „sozialen“ Charakters und der damit verbundenen Eigentümlichkeiten sowie ihrer Entstehungsgeschichte so weit von der Privatversicherung entfernt sei, daß sie begrifflich nicht mehr als „Versicherung“ gelten könne. Vor diesem Hintergrund stellt sich die immer wieder geführte Diskussion um den Versicherungscharakter von „Sozialversicherung“ mehr als ein Streit um Begriffe (vornehmlich den Begriff „Versicherung“) als ein Streit um Inhalte dar. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch daran, daß die den Versicherungscharakter der Sozialversicherung ablehnenden und ihre „Eigenständigkeit“ als Sicherungssystem betonenden Autoren gleichwohl die Parallelen der Sozialversicherung zur Privatversicherung anerkennen, dabei aber die aufgrund ihrer sozial bedingten Modifizierungen und Zielsetzungen behauptete „Eigenständigkeit“ als Sicherungssystem dann vor allem mit der Ferne zur Privat- bzw. Individualversicherung begründen323. Was für die einen also noch eine, wenn auch „modifizierte“, Versicherung darstellt, ist für die anderen bereits ein eigenständiges, von einer „Versicherung“ zu unterscheidendes Sicherungssystem. Da, im Gegensatz zur begrifflichen Charakterisierung, die inhaltliche Beschreibung von „Sozialversicherung“ dabei aber letztlich keine grundlegend andere ist, kreist die Diskussion somit im Endeffekt darum, wie nah man den Versicherungsbegriff bei der eigentlichen „Urform“ der Versiche323 Siehe insbesondere Walter Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Beiträge zur Sozialversicherung – Festgabe für Johannes Krohn, 1954, S. 35 (45); ders., Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (48 f.); Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 44, 396; Wolfram Lamping, „Versicherungsfremde Leistungen“ – Historisch-systematisierende Anmerkungen zu einem sozialpolitischen Schlüsselbegriff, ZSR 1997, S. 52 (58).

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rung, der Privatversicherung, ansiedelt: Siedelt man ihn – wie die oben genannten Autoren, welche die Eigenständigkeit der Sozialversicherung vor allem wegen ihrer Ferne zur Privatversicherung annehmen – eher nahe bei ihr an, läßt also Prinzipien für ihn bestimmend sein, die vor allem die Privatversicherung charakterisieren, so fällt „Sozialversicherung“ eher aus ihm heraus. Versteht man ihn hingegen eher als einen weiter gefaßten Oberbegriff, der auch von der typischen Privatversicherung abweichende Gebilde umfassen kann, so kann gegebenenfalls auch die Sozialversicherung als „Versicherung“ in diesem Sinne erfaßt werden. Mit Recht stellt Eichler daher fest, daß es sich bei der Diskussion um den Versicherungscharakter der Sozialversicherung um die begriffliche „Vorfrage“ handelt, ob es eine „Einheit aller Versicherung“ gibt, der „Versicherungsbegriff“ also als ein entsprechend weiter, generalisierender Oberbegriff verstanden werden kann.324 Bevor also der Versicherungscharakter der Sozialversicherung bewertet werden kann, bedarf es zunächst der Auseinandersetzung mit dem „Versicherungsbegriff“325, woran es in den meisten Beiträgen zum „Versicherungscharakter“ der Sozialversicherung fehlt. (2) Keine Diskussion über die „essentialia negotii“ von „Sozialversicherung“ Wie aufgezeigt, stellt die beschriebene Diskussion um den Versicherungscharakter von „Sozialversicherung“ so, wie sie geführt wird, vornehmlich eine begriffliche dar. Für die im Hinblick auf den materiellen Inhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG interessierende Frage, welche Strukturmerkmale tatsächlich essentiell sind, um von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sprechen zu können, und welche Merkmale gegebenenfalls zwar typisch, insbesondere für das bestehende Sozialversicherungssystem, aber nicht konstituierend (und somit letztlich verzichtbar) sind, liefert sie in der beschriebenen Form eher wenig Verwertbares. Denn es wird dabei weniger versucht, diese konstituierenden, wesentlichen Strukturmerkmale des verfassungsrechtlichen Sozialversicherungsbegriffes zu ermitteln, sondern es wird vielmehr die jeweils bestehende einfachgesetzliche Ausprägung der Sozialversicherung mit all ihren wesentlichen aber auch unwesentlichen Merkmalen auf ihre „Versicherungseigenschaft“ hin untersucht. Nicht zu unrecht konstatierte insofern bereits Walter Bogs: „Wesentlicher als eine Einbezie-

324 Siehe Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 77; sowie zur „Einheit der Versicherung“ Alfred Manes, Einheit der Versicherung, ZVersWiss 1932, S. 93 ff. (insb. 96 f.); zur Kritik an einem primär auf die Privatversicherung bezogenen Versicherungsbegriff auch Ulrich Schlie, Versicherungmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der sozialen Rentenversicherung, ZVersWiss 1966, S. 53 (54). 325 Siehe dazu unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

hung der Sozialversicherung in einen sehr weit gespannten Begriff der Versicherung erscheint die klare Erkenntnis, wodurch die Sozialversicherung sich [. . .] von der Individualversicherung, der Versorgung und auch der Fürsorge unterscheidet und welche Wesensmerkmale [. . .] das Recht geben, von einer gegenüber der Individualversicherung, Versorgung und Fürsorge durchaus eigenständigen Sicherungsform, eben der ,Sozialversicherung‘, zu sprechen“.326 Auch die Anerkennung durch die herrschende Ansicht, daß Sozialversicherung letztlich – jedenfalls im Kern – „Versicherung“ sei, hilft im Hinblick darauf noch nicht allzu sehr weiter. Denn zum einen wird hierbei nur vereinzelt der ausdrückliche Schluß gezogen, daß sie auch „Versicherung“ sein muß 327, der „Versicherungscharakter“ also gerade konstituierend für ein System ist, welches als „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfaßbar sein soll, und zum anderen bestünde selbst dann noch die Unsicherheit, was genau denn insoweit die bestimmenden Strukturmerkmale sind, die den Versicherungscharakter von Sozialversicherung ausmachen. Diese Unsicherheit ergibt sich zum einen daraus, daß der – unten noch näher zu beleuchtende – Versicherungsbegriff selbst, jedenfalls in seinen Einzelheiten, relativ umstritten und zudem vornehmlich auf die Privatversicherung als „eigentliche“ Versicherung zugeschnitten ist, und zum anderen resultiert sie aus dem Umstand, daß auch innerhalb der herrschenden Meinung die bereits beschriebenen Einschränkungen hinsichtlich des – grundsätzlich anerkannten – Versicherungscharakters von „Sozialversicherung“ gemacht werden, die ihren „Versicherungsgehalt“ gegenüber der Privatversicherung als „geringer“ erscheinen lassen und damit die Frage implizieren, inwieweit sie Versicherung ist bzw. sein muß, wenn sie es nicht „in Reinform“, nur „im Kern“, hinsichtlich „wesentlicher Elemente“ des Versicherungsbegriffes sei oder sie zumindest „versicherungsmäßige Wesenszüge“ aufweise. Auch insoweit bedarf es also noch der Herausarbeitung ihrer bestimmenden, konstituierenden Strukturmerkmale als „Versicherung“.

326 Walter Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Beiträge zur Sozialversicherung – Festgabe für Johannes Krohn, 1954, S. 35 (45) – unter Weglassung der zahlreichen Hervorhebungen des Originals. 327 Dies ausdrücklich fordernd etwa Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 56: „Es muss sich um Versicherung handeln“; vorsichtiger Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 75: „Der Gesetzgeber darf sich also ,nicht allzuweit vom Typus Versicherung‘ entfernen, dieser muß für die Sozialversicherung (mit-)bestimmend bleiben“ (Hervorhebung im Original); zwiespältig hingegen Johannes Krohn, Rechtliche und sozialpolitische Folgen aus der Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individualund der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 123 (126): „Der Gesetzgeber darf andererseits für die Sozialversicherung keine Rechtsnormen setzen, die mit dem Wesen einer Versicherung nicht verträglich sind, – es sei denn, er wolle ihre Rechtsnatur tatsächlich und bewußt ändern“.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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(3) Rechtliche Konsequenzen aus der Diskussion um den Versicherungscharakter der „Sozialversicherung“ Ferner fällt auf, daß die Diskussion um den Versicherungscharakter von „Sozialversicherung“ ganz überwiegend geführt wird, ohne daß aus dem jeweils gefundenen Ergebnis juristisch erhebliche Konsequenzen gezogen bzw. aufgezeigt werden; es wird also kaum deutlich gemacht, weshalb und vor dem Hintergrund welcher Fragestellung diese Diskussion geführt wird und wofür die aus ihr resultierenden Ergebnisse wichtig sind.328 In der Tat würde sich diese Diskussion als rein akademische, als „l’art pour l’art“ erweisen, wenn von ihr nichts juristisch Relevantes abhinge329. Allerdings ist dies nicht der Fall. In bezug auf die Ermittlung des Inhalts bzw. der bestimmenden, konstituierenden, essentiellen Strukturmerkmale von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sind mit der Beantwortung der Frage nach dem Versicherungscharakter von „Sozialversicherung“ durchaus rechtserhebliche Konsequenzen verbunden: Eine dieser Konsequenzen bestünde etwa darin, daß, wenn man „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als „Versicherung“ klassifizieren und diesen Charakter als bestimmend ansehen würde, die betreffenden gesetzgeberischen Umsetzungsmaßnahmen, sollen sie auf diese Gesetzgebungskompetenz gestützt werden können, dementsprechend auch die Merkmale einer „Versicherung“ in diesem Sinne erfüllen müßten. Hierzu müßte die bereits oben aufgeworfene Frage untersucht und beantwortet werden, was genau der Begriff „Versicherung“ überhaupt inhaltlich umfaßt bzw. welche Strukturmerkmale ein auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestütztes Sicherungssystem aufweisen muß, um in „hinreichendem“ Maße Versicherung zu sein, also den in der herrschenden Meinung geforderten, aber 328 Dies zu Recht kritisierend Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (102 f., 108), beispielhaft Bezug nehmend auf etwa Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 ff., der dort zwar zu der „resignierenden Feststellung“ gelangt, daß die gegenwärtige deutsche Sozialversicherung weder Versicherung noch Sozialversicherung sei, hieraus aber keinerlei juristisch erhebliche Konsequenzen zieht. Bezeichnend insoweit etwa auch Hans Schmitz, Wandlungen und Reformpläne im österreichischen Sozialversicherungsrecht, ZVersWiss 1965, S. 331 ff., wo dieser die Diskussion um den Versicherungscharakter „nicht nur für eine theoretische Spielerei von Professoren oder schöner gesagt für eine akademische Streitdiskussion, sondern im Gegenteil für äußerst wichtig“ hält, ohne dann aber aufzuzeigen, worin diese Wichtigkeit besteht; desgleichen Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (190), der dort die Feststellung, Sozialversicherung sei „echte Versicherung“, nicht nur für eine „theoretische Feststellung“ hält, dieser Erkenntnis dann aber lediglich die „praktische Bedeutung“ beimißt, daß eine Versicherung für „Verläßlichkeit“ sorge. 329 Siehe Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (103).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

auch für ausreichend erachteten „Versicherungskern“ bzw. die „wesentlichen Versicherungselemente“ zu erfüllen. Auch hierzu bedarf es der näheren Beschäftigung mit dem Versicherungsbegriff. Auch in bezug auf den Problemkomplex der sog. „versicherungsfremden Leistungen“330 ist die Qualifizierung der „Sozialversicherung“ als „Versicherung“ nicht ohne Belang. Denn wenn sich der Begriffsinhalt des sie betreffenden Kompetenztitels in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf eine „Versicherung“ bezieht, dann ist es zumindest zweifelhaft, ob versicherungsfremde Leistungen überhaupt auf die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ gestützt werden können. Im Hinblick auf die materielle Verfassungsmäßigkeit von auf den Kompetenztitel für „die Sozialversicherung“ gestützten gesetzgeberischen Maßnahmen können sich Konsequenzen ergeben, wenn eine „Versicherung“ bestimmten materiellen Anforderungen unterliegt. Wenn nämlich eine „Versicherung“ wie die Sozialverischerung als auf Gegenseitigkeit beruhendes Leistungsverhältnis öffentlich-rechtlich durchgeführt wird, und umso mehr soweit sie als öffentlichrechtliche Zwangsversicherung ausgestaltet ist, müssen für sie schon allein aufgrund des Versicherungscharakters bestimmte materielle Vorgaben gelten, die – anders als bei einem auf reiner Privatautonomie beruhenden Versicherungsverhältnis – von vornherein für eine gewisse Qualität der Versicherung und Ausgewogenheit der öffentlich-rechtlich vermittelten bzw. aufgezwungenen Versicherungsleistungen sorgen. Insoweit dürfte dann jedenfalls auf der materiell-verfassungsrechtlichen Ebene etwa das Erfordernis einer Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen, welches regelmäßig als bestimmend für „Versicherungen“ angesehen wird331, bereits im Hinblick auf den Versicherungs330 Siehe zum – allerdings keinesfalls immer einheitlich verwendeten – Begriff der sog. versicherungsfremden Leistungen etwa Karl-Jürgen Bieback, Sozialversicherung und versicherungsfremde Leistungen in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 117 ff.; Peter Krause, Fremdlasten in der Sozialversicherung, VSSR 1986, S. 115 ff.; Wolfram Lamping, „Versicherungsfremde Leistungen“ – Historisch-systematisierende Anmerkungen zu einem sozialpolitischen Schlüsselbegriff, ZSR 1997, S. 52 ff.; Walter Leisner, Fremdlasten in der Sozialversicherung – ein schwerwiegender Verfassungsverstoß, NZS 1996, S. 96 (98 ff.); Wilhelm Musa, Die Verwendung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung für versicherungsfremde Aufgaben oder Personen, BB 1964, S. 1125 ff.; Christian Rolfs, Versicherungsfremde Leistungen in der Sozialversicherung, NZS 1998, S. 551 ff.; Franz Ruland, Versicherungsfremde Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1995, S. 28 ff.; Frank Schwidden, Verfassungsrechtliche Grenzen der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, ZFSH/SGB 1997, S. 202 (208 ff.). 331 Siehe etwa Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 218; Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 75; Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (107); ferner Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohr-

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charakter eines öffentlich-rechtlichen Transfersystems besonders bedeutsam sein332 – wobei die Grundlage solcher materiell-verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine staatlich vermittelte Versicherung das materielle Verfassungsrecht (etwa in Gestalt der Grundrechte oder des Sozialstaatsprinzips) selbst ist333. Bedeutung hat die Qualifizierung der Sozialversicherung als „Versicherung“ auch im Hinblick auf die Abgrenzung zu den übrigen Gesetzgebungskompetenztiteln, welche bei gesetzgeberischen Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit in Betracht kommen, nämlich der „Fürsorge“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG und der „Versorgung“ im Sinne von Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG334 sowie insbesondere auch der Kompetenz für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG („Recht der Wirtschaft“); im Hinblick auf Letztere nicht zuletzt auch deswegen, weil sozial motivierte Versicherungen auch – wie das Beispiel der gesetzlichen Pflegeversicherung335 zeigt – unter Inanspruchnahme dieses Kompetenztitels etabliert werden können336. Gegenüber „Fürsorge“ und „Versorgung“ kann insoweit gerade oder zumindest auch ein festgestellter Versicherungscharakter der Sozialversicherung ein relevantes Abgrenzungskriterium sein, während ein solcher im Verhältnis zum „privatrechtlichen Versicherungswesen“ umso mehr die Abgrenzungsfrage aufwirft, als sich dann beide Kompetenztitel auf „Versicherungen“ beziehen.

beck, 1959, S. 175 (179); Franz Ruland, Der Sozialversicherungsbeitrag zwischen Versicherungsprinzip und sozialem Ausgleich, SGb 1987, S. 133 (136); vgl. auch Ulrich Schlie, Versicherungsmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der gegenwärtigen sozialen Sicherung, insbesondere in der Sozialversicherung, ZVersWiss 1963, S. 281 (283): Äquivalenz sogar „begriffswesentliches Merkmal der Versicherung“. 332 Diese materielle Fragestellung wird in dieser auf die kompetenzrechtlichen Aspekte beschränkten Untersuchung allerdings außen vor zu bleiben haben; umfangreiche Auseinandersetzungen mit dieser Frage finden sich etwa bei Joachim Becker, Tranfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, S. 152 ff. und passim; Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 145 ff. und passim; Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 180 ff.; – Zu untersuchen sein wird hier indes, ob die „Äquivalenz“ auch ein begriffliches Merkmal einer „Versicherung“ resp. „Sozialversicherung“ ist, das insoweit bereits über die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entscheidet, siehe hierzu unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (i) sowie cc) (4) (b) und dd) (2). 333 Vgl. hierzu auch unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (2) (b). 334 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), geregelt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 335 Gesetzliche Pflegeversicherung gilt als Oberbegriff für die im Elften Buch Sozialgesetzbuch geregelte soziale und private Pflegeversicherung, siehe BVerfGE 103, S. 197 (198). 336 Siehe zur Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für die private gesetzliche Pflegeversicherung BVerfGE 103, S. 197 (217 ff.).

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Angesichts all dessen erweist sich die Frage nach dem Versicherungscharakter von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht als juristisch irrelevant337. Zu ihrer Beantwortung bedarf es allerdings, wie aufgezeigt, zunächst einer näheren Auseinandersetzung mit dem Versicherungsbegriff. Erst wenn dessen Inhalt ermittelt ist, kann überprüft werden, ob (oder inwieweit) eine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG tatsächlich „Versicherung“ ist bzw. sein muß und welches insoweit ihre bestimmenden Begriffs- oder Strukturmerkmale sind. Zusätzlich wird zu untersuchen sein, was das „Soziale“ an der Sozialversicherung beinhaltet sowie ob und inwieweit hieraus gegebenenfalls Modifizierungen eines „reinen“ Versicherungscharakters erfolgen. Zugleich wird insoweit zu ermitteln sein, in welchem Verhältnis das „Soziale“ der Sozialversicherung und ihr gegebenenfalls festzustellender Versicherungsscharakter zueinander stehen, scheinen diese beiden Teilprinzipien der Sozialversicherung doch auf den ersten Blick schwer miteinander vereinbar. Dies wiederum kann auch von Bedeutung sein für die Abgrenzung zu den ebenfalls „dem Sozialen“ verpflichteten Kompetenztiteln „Fürsorge“ und „Versorgung“ und zu dem Titel „privatrechtliches Versicherungswesen“, zumal letzteres regelmäßig als die „reine Form“ der Versicherung angesehen wird338. cc) Der Versicherungsbegriff (1) Allgemeines zur Entwicklung des Versicherungsbegriffes Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach dem „Versicherungscharakter“ von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist der Versicherungsbegriff. Dieser ist seit jeher Gegenstand zahlloser Untersuchungen und Definitionsversuche gewesen, und bis heute erscheint es nicht verfehlt, ihn als nicht abschließend geklärt zu betrachten.339 Gelegentlich werden gar Zweifel an einer allgemeingültigen Definierbarkeit des Begriffes „Versicherung“ geäußert.340 Nicht zuletzt wegen solcher Zweifel wird im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) von einer Begriffsbestimmung abgesehen, denn es

337 Zu diesem Ergebnis gelangt dann schließlich auch Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (112 ff., 115); siehe ferner auch Maximilian Fuchs, Privatversicherung und Sozialversicherung, VSSR 1991, S. 281 (289 f.). 338 Vgl. Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 35. 339 Siehe den Überblick bei Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 2 ff.; vgl. ferner auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 190; Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 32 ff. 340 Vgl. Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 3.

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habe „sich gezeigt, daß es nicht möglich ist, den Begriff der Versicherung in erschöpfender Weise durch eine gesetzliche Vorschrift festzustellen“341. Als erschwerender Umstand für eine Begriffsbestimmung wird es zudem angesehen, daß der Versicherungsbegriff aus unterschiedlichen Blickrichtungen, etwa aus rechtlicher, wirtschaftlicher oder versicherungsmathematischer Sicht betrachtet werden kann342. Vorliegend geht es um die Bestimmung des Versicherungsbegriffs aus rechtlicher Sicht – auch wenn man hierbei auf Anleihen aus der wirtschaftlichen Begriffsbildung nicht wird verzichten können343, da die Versicherung nicht nur ein Rechtsprodukt, sondern vor allem auch – wie nicht zuletzt schon die Verortung der Gesetzgebungskompetenz für das privatrechtliche Versicherungswesen im Rahmen von „Recht der Wirtschaft“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zeigt – ein Wirtschaftsprodukt ist344. Daher erfolgten frühere Versuche der Begriffsbildung vor allem aus wirtschaftlicher Sicht,345 was gleichwohl die Grundlage bildete für jegliche auch aus juristischer Sicht folgenden Definitionsversuche346. Ohnehin fällt auf, daß zwar regelmäßig auf die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen hingewiesen wird, aus deren Blickwinkel der Versicherungsbegriff bestimmt werden kann,347 dann aber konkrete Unterschiede bei deren Begriffsbildung nicht dargelegt werden (können) und wirtschaftliche und rechtliche Begriffsbestimmungen sich weitgehend decken348. Auch wenn für die Auslegung der Kompetenznorm für „die Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (ebenso wie für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) der Versicherungsbegriff allein aus verfassungsrechtlicher Sicht bzw. auf der Verfassungsebene zu bestimmen ist, spricht vieles dafür, diesen dann auch im einfachen Recht zugrunde zu le-

341 Motive zum Versicherungsvertragsgesetz, hrsg. v. Bundesaufsichtsamt für das Versicherungs- und Bausparwesen, Neudruck, 1963, S. 69 f.; siehe für den neuen § 1 VVG Sven Marlow/Udo Spuhl, Das Neue VVG kompakt, 3. Aufl., 2008, S. 1. 342 Siehe Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 31; Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 2 f. 343 Vgl. Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 3. 344 Dies hervorhebend Alfred Manes, Einheit der Versicherung, ZVersWiss 1932, S. 93 (97): „Das Wirtschaftliche ist das Fundament, die Urzelle der Versicherung: ohne Versicherungswirtschaft gibt es weder Versicherungsrecht noch Versicherungstechnik oder Versicherungsmedizin“ – ohne die Hervorhebungen des Originals. 345 Vgl. Alfred Manes (Hrsg.), Versicherungslexikon, 3. Aufl., 1930, Spalte 289 ff., Stichwort „Begriff“. 346 Vgl. Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 3. 347 Siehe etwa Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 31; Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 2 f.; Alfred Manes, Einheit der Versicherung, ZVersWiss 1932, S. 93. 348 Siehe etwa Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (406 ff.).

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gen, nicht zuletzt weil die Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes gerade darauf angelegt sind, einfachgesetzlich ausgestaltet zu werden.349 (2) Einzelne Definitionsversuche Wie eingangs erwähnt, hat der Gesetzgeber, etwa im Versicherungsvertragsgesetz, von einer Definition des Versicherungsbegriffes bewußt abgesehen. Definitorische Bemühungen hinsichtlich seiner haben vor allem im Schrifttum stattgefunden, teils auch in der Rechtsprechung350. Dabei ist die Masse an unterschiedlichen Definitionen, die sich teils nur in Nuancen unterscheiden, derart angewachsen, daß sie selbst im Rahmen einer Dissertation keiner näheren Untersuchung unterzogen werden konnten.351 Auch vorliegend wird daher darauf verzichtet, das schier unmögliche Unterfangen einer Sichtung und Bewertung sämtlicher Definitionsversuche vorzunehmen. Stattdessen wird im folgenden zu Anschauungszwecken zunächst exemplarisch eine Auswahl der bedeutendsten Definitionen präsentiert werden. Im Anschluß daran sollen die wesentlichen Merkmale, die sich aus der Vielzahl der Definitionen heraus ergeben und als bestimmend für das Vorliegen einer „Versicherung“ angesehen werden, systematisiert und darauf hin untersucht werden, ob sie – ausgehend von der Funktion und dem Wesen von „Versicherung“, woran sich definitorische Bemühungen bzw. die Inhaltsbestimmung dessen, was „Versicherung“ ist, zu orientieren hat352 – tatsächlich als „wesentliche“, also wesenskonstituierende und begriffsnotwendige Merkmale anerkannt werden können. Erwähnt sei noch, daß häufig zwischen den Begriffen „Versicherung“ und „Versicherungsvertrag“ (oder besser: „Versicherungsverhältnis“)353 unterschie349 Ausdrücklich für einen „einheitlichen, universalistischen Versicherungsbegriff“ in der Rechtswissenschaft plädierend auch Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 211 f. 350 Dort wird vielfach allerdings auch auf im Schrifttum entwickelte Begriffsbestimmungen zurückgegriffen. 351 Siehe die Dissertation von Johannes Wälder, Über das Wesen der Versicherung, 1998, S. 23 ff. – Überblicke über verschiedene Definitionen des Versicherungsbegriffes verschaffen neben dems., a. a. O., S. 24 ff., etwa: Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 2 ff.; Alfred Manes (Hrsg.), Versicherungslexikon, 3. Aufl., 1930, Spalte 289 ff., Stichwort „Begriff“; Hans Möller, Moderne Theorien zum Begriff der Versicherung und des Versicherungsvertrages, ZVersWiss 1962, S. 269 (270 ff.); Reimer Schmidt, Gedanken zum Begriff der Versicherung, in: Festgabe für Erich R. Prölss, 1957, S. 247 ff. 352 Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 31; vgl. auch Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 2. 353 Da mittlerweile gemeinhin anerkannt ist, daß ein Versicherungsverhältnis als Rechtsverhältnis nicht nur durch Vertrag, sondern auch kraft Gesetzes entstehen kann (siehe RGZ 88, S. 29 [31]; Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 77; Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versiche-

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den354 und mal dieses, mal jenes definiert wird. Während „Versicherung“ die rechtliche Unternehmung als solche kennzeichnet, ist „Versicherungsverhältnis“ das konkrete Rechtsverhältnis zwischen Versicherer und Versichertem (bzw. Versicherungsnehmer). Aus juristischer Sicht wird insoweit häufig statt „Versicherung“ das „Versicherungsverhältnis“ definiert (oder wie in § 1 VVG zumindest näher beschrieben). Da aus dem Eingehen einer „Versicherung“ ein „Versicherungsverhältnis“ resultiert, muß gleichwohl natürlich auch eine Definition von „Versicherungsverhältnis“ grundlegende Merkmale dessen beinhalten, was „Versicherung“ inhaltlich ausmacht355. Da es vorliegend um die Herausarbeitung und Systematisierung dieser Merkmale geht, wird im folgenden nicht explizit zwischen den Definitionen von „Versicherung“ und denjenigen von „Versicherungsverhältnis“ unterschieden. Das Bundesverfassungsgericht356 definiert – unter Bezugnahme auf das Bundessozialgericht357 – die Versicherungskomponente der Sozialversicherung als „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“. Das Bundessozialgericht wiederum hatte sich dabei auf eine Beschreibung des Versicherungsbegriffes von Walter Bogs358 bezogen, welcher seinerseits diese betreffende Definition von Alfred Manes359 übernommen hatte. Nach Manes war dies der „einfache Grundgedanke“, auf welchem alle Versicherung beruhe360. Seine eigentliche Definition von Versicherung lautete: „gegenseitige Deckung zufälligen schätzbaren Bedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften“361. Angelehnt hatte Manes seine Definition an die Ausführungen des Italieners Ulysses Gobbi, welcher „Versicherung“ definiert hatte als „einen Wirtschaftsvorgang, durch welchen – auf Grund von Beiträgen einer Vielzahl von Teilnehmern, die wirtschaftlich ungünstigen Ereignissen ausgesetzt sind –, die nötigen Mittel aufgebracht werden und dieselben dann demjenigen Teilnehmer zur Verfügung gestellt werden, der ihrer Bedarf “362. rungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 [393]), ist die Bezeichnung „Versicherungsvertrag“ zur Beschreibung der Rechtsbeziehung zwischen Versichertem und Versicherer zu eng, daher besser: „Versicherungsverhältnis“. 354 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 3 (S. 96). 355 Vgl. Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 46. 356 BVerfGE 11, S. 105 (112) – seither st. Rspr. 357 BSGE 6, S. 213 (228). 358 Walter Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955, S. 24. 359 Alfred Manes, Grundzüge des Versicherungswesens, 5. Aufl., 1932, S. 3. 360 Alfred Manes, a. a. O. 361 Alfred Manes, a. a. O.; Versicherungswesen, Bd. 1, 5. Aufl., 1930, S. 2. 362 Zitiert nach der Übersetzung des aus Ulysses Gobbis L’assicurazione in generale, 2. Aufl., 1938, S. 61, stammenden Originalzitats bei Antigono Donati, Der Be-

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Von Karl Hax wurde Manes’ Definition sprachlich verfeinert als „traditioneller Begriff der Versicherung“ wiedergegeben: Versicherung stelle sich dar „als die gegenseitige Deckung eines im einzelnen ungewissen, in ganzen aber schätzbaren Geldbedarfs durch eine Vielzahl gleichartig bedrohter Wirtschaftseinheiten“363. Dem stellte Hax eine eigene Definition gegenüber, die um das Merkmal eines „Risikoausgleichs“ modifiziert war, da in der Praxis des Versicherungswesens ein Ausgleich nur gesichert sei, wenn der Versicherungsbestand genügend groß ist und die im Einzelfall berechneten Prämien der Schwere des Risikos entsprechen.364 Dies führte zu folgender Definition von Hax: „Versicherung ist Deckung eines im einzelnen ungewissen, insgesamt aber schätzbaren Geldbedarfs auf der Grundlage eines durch Zusammenfassung einer genügend großen Anzahl von Einzelwirtschaften herbeigeführten Risikoausgleichs“ oder kürzer: „Versicherung ist Deckung eines im einzelnen ungewissen, insgesamt aber schätzbaren Geldbedarfs auf der Grundlage eines zwischenwirtschaftlichen Risikoausgleichs“.365 Auf den Aspekt der Gefahrübernahme weist eine Definition von Ernst Bruck hin. Der Versicherungsvertrag (gleiches muß prinzipiell gelten für das Versicherungsverhältnis) ist hiernach „ein entgeltlicher Vertrag, kraft dessen der eine Teil (Versicherer) selbständig eine Gefahr trägt und infolgedessen zur Deckung eines ungewissen Bedarfs des anderen Teils (Versicherungsnehmer) bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses oder für einen Zeitpunkt eine geldliche oder geldwerte Leistung zusichert und bei dem die Leistung mindestens des einen Teils nach Höhe und/oder Zeitpunkt von ungewissen Umständen abhängt“.366 Im Gegensatz zu den vorhergehenden Definitionen wird hier auch das Merkmal der „Selbständigkeit“ genannt, wonach die Versicherungsleistung der Hauptzweck des Rechtsverhältnisses sein muß, nicht bloß eine unselbständige Nebenabrede367. Ähnlich, d. h. ebenfalls unter Betonung des Merkmals der „Selbständigkeit“ und unter Verzicht auf das Kriterium der „Schätzbarkeit“ definiert Hans Möller „Versicherung“ als „eine Gemeinschaft gleichartig Gefährdeter, also eine Gefahrengemeinschaft mit selbständigen Rechtsansprüchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung“.368

griff des Versicherungsvertrages in der Entwicklung der italienischen Versicherungslehre, ZVersWiss 1960, S. 289. 363 Karl Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, 1964, S. 14. 364 Karl Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, 1964, S. 19. 365 Karl Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, 1964, S. 22; übernommen etwa von Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/MüllerLutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (406). 366 Ernst Bruck, Das Privatversicherungsrecht, 1930, S. 57. 367 Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 85.

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Statt in der Deckung eines „Bedarfs“ wie in den vorgenannten Definitionen (die daher auch unter der Bezeichnung „Bedarfstheorie“ oder „Bedarfsdekkungstheorie“ zusammengefaßt werden369) wird in anderen Definitionen die Funktion der Versicherung in einer „eventuellen Schadensbeseitigung“ gesehen370 (sog. Schadenstheorie oder Schadensersatztheorie). So definierte Antigono Donati Versicherung als „ein Verhältnis [. . .], bei welchem sich der Versicherer gegen Bezahlung (oder gegen Zahlungspflicht) der Versicherungsprämie verpflichtet, den Versicherten gegen einen wirtschaftlich schädigenden und ungewissen Vorfall innerhalb der vereinbarten Grenzen zu schützen“371, wobei das Merkmal „innerhalb der vereinbarten Grenzen“ vor allem der Erfassung von bloß abstrakten, taxierten bzw. taxierbaren Schäden wie in der Summenversicherung (etwa der Lebensversicherung) dienen soll372. Nicht in Bedarfsdeckung oder Schadensbeseitigung, sondern in der Sicherung von (durchkreuzten) Vermögensgestaltungszielen sieht Walter Schmidt-Rimpler den Zweck der Versicherung373 (sog. Vermögensgestaltungstheorie) und formuliert folgende Begriffsbestimmung: „Die Versicherung muß ihrem Sinne nach darauf gerichtet sein, daß der Versicherte ein Ziel der Vermögensgestaltung und nur dieses durch die Versicherungsleistung mit Sicherheit erreicht, das er auch auf andere Weise, aber deshalb nicht mit Sicherheit erreichen kann, weil es durch ein ungewisses, das Vermögen oder die Person des Versicherten betreffendes Ereignis möglicherweise vereitelt wird, und zwar soll er das Ziel dadurch erreichen, daß der Versicherer eine Leistung erbringt, die trotz des Eintritts des Ereignisses das Ziel vermögensmäßig verwirklicht“, wobei „durch das Rechtsverhältnis nicht der gesetzlich oder verkehrsmäßig geschaffene Typus eines anderen, in bestimmter Weise geregelten Vertrages erfüllt sein darf “.374 Dem sehr nahestehend ist die sog. „Plansicherungstheorie“, wonach die Ver368 Hans Möller, Sozialversicherung und Privatversicherung, SGb 1970, S. 81; siehe auch Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 3 (S. 96). 369 Siehe Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 38; Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Band 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (406). – Diese Theorie kann als wohl herrschende Versicherungstheorie bezeichnet werden. 370 Antigono Donati, Der Begriff des Versicherungsvertrages in der Entwicklung der italienischen Versicherungslehre, ZVersWiss 1960, S. 289 (297). 371 Antigono Donati, Der Begriff des Versicherungsvertrages in der Entwicklung der italienischen Versicherungslehre, ZVersWiss 1960, S. 289 (300). 372 Antigono Donati, Der Begriff des Versicherungsvertrages in der Entwicklung der italienischen Versicherungslehre, ZVersWiss 1960, S. 289 (296 f.). 373 Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493 (493 f.). 374 Zusammenfügung der von Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493 (500, 496, 505) gelieferten Teilstücke seiner Definition von „Versicherung“.

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sicherung die Funktion hat, durch ungewisse Ereignisse ausgelöste Störungen in den Wirtschaftsplänen des Versicherten (planwidrig entgehende Einnahmen, außerplanmäßige Ausgaben) auszugleichen.375 Auf Vorsorge als Versicherungszweck stellt etwa die Definition von Julius von Gierke ab, wenn er folgende Definition findet: „Versicherungsverhältnis ist eine selbständig zu beurteilende Rechtsbeziehung, kraft welcher der Versicherer einem anderen, dem Versicherten, Versicherungsschutz gewährt. Die Gewährung des Versicherungsschutzes besteht in folgendem: Der Versicherer ist auf entgeltlicher, planmäßiger Grundlage dem Versicherten gegenüber zu einer Vermögensleistung verpflichtet, falls diesen ein ungewisses, der Vorsorge bedürftiges Ereignis trifft“.376 Auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurde des öfteren versucht, den Begriff „Versicherung“ (resp. den des „Versicherungsvertrages“) näher mit Inhalt zu füllen. Das Reichsgericht befand, hierfür sei „jedenfalls vorauszusetzen, daß der eine Teil gegen Entgelt sich für den ungewissen Fall des Eintritts einer für die wirtschaftlichen Verhältnisse eines anderen nachteiligen Tatsache zu einer Vermögensleistung verpflichtet. Freilich ist nicht jede derartige Übernahme fremder Vermögensgefahr Versicherung. Sie ist es nicht, wenn sie nur eine unselbständige Nebenabrede zu einem andersartigen Geschäfte, dem Hauptgeschäfte, bleibt“.377 Der Bundesgerichtshof führte aus, „daß ein Versicherungsverhältnis vorliegt, wenn jemand – als Versicherer – sich gegen Entgelt verpflichtet, einem anderen – dem [. . .] Versicherten – eine vermögenswerte Leistung für den Fall eines ungewissen Ereignisses zu erbringen, das damit übernommene wirtschaftliche Risiko auf eine Mehrzahl von der gleichen Gefahr bedrohter Personen zu verteilen und der Risikoübernahme eine auf dem Gesetz der großen Zahl beruhenden Kalkulation zugrunde liegt“.378 Ganz ähnlich definierte das Bundesverwaltungsgericht: „Ein Versicherungsvertrag liegt vor, wenn der Versicherer ein Risiko übernimmt, wenn er gegen Entgelt eine bestimmte Leistung für den Fall des Eintritts eines ungewissen Ereignisses übernimmt, wobei dieses Risiko auf eine Mehrzahl durch die gleiche Gefahr bedrohter Personen verteilt wird, und der Risikoübernahme eine auf dem Gesetz der großen Zahl beruhende Kalkulation zugrunde liegt“379; zudem dürfe es sich nicht um 375 Siehe Paul Braeß, Elemente einer dynamischen Versicherungskonzeption aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, ZVersWiss 1970, S. 1 ff.; Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 3 f. 376 Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 77. 377 RGZ 88, S. 29 (32). 378 BGH, VersR 1964, S. 497 (498). In einer späteren Entscheidung griff der Bundesgerichtshof (BGHZ 44, S. 166 [168]) dann auf die oben bereits wiedergegebenen Definitionen von Möller und Bogs bzw. Manes zurück). 379 BVerwGE 3, S. 220 (221); ganz ähnlich BVerwG, VersR 1993, S. 1217 f.; 1992, S. 1381 (1382).

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eine unselbständige Nebenabrede zu einem anderen Hauptgeschäft handeln380. Der Bundesfinanzhof fand folgende Begriffsbeschreibung: „Das Versicherungsgeschäft beruht auf dem Gedanken der Gefahrengemeinschaft in dem Sinne, daß ein möglicher Schaden nach dem Gesetz der großen Zahl durch eine Vielheit von Versicherungsverhältnissen gleichartig Gefährdeter bei wechselseitiger Bedarfsdeckung abgewehrt wird“ und insoweit „das Risiko eines den einzelnen treffenden Ereignisses (Verlustes, Schadens usw.) auf einen größeren Kreis von Teilnehmern verteilt wird“.381 Die vom Bundessozialgericht und insbesondere vom Bundesverfassungsgericht übernommene, auf Bogs und Manes zurückgehende Definition von „Versicherung“ wurde bereits am Anfang dieser Zusammenstellung wiedergegeben. (3) Systematisierung und Bewertung der Strukturmerkmale von „Versicherung“ Betrachtet man die genannten Definitionen, so lassen sich die im Rahmen der nachfolgenden Systematisierung aufgezeigten Merkmale ausmachen, welche als wesensbestimmend für das Vorliegen einer „Versicherung“ angesehen werden. Ob sie tatsächlich als solche heranzuziehen sind – jedenfalls im Hinblick auf einen verfassungsrechtlichen Begriff von „Versicherung“ (siehe Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, 12 GG) –, wird zu bewerten sein. (a) Funktion der Versicherung als Zukunftsvorsorge An sich unstrittig ist die Funktion der Versicherung als Vorsorge382 des Einzelnen (des Versicherten) für die Zukunft dergestalt, daß er hinsichtlich des möglichen Eintritts eines ungewissen nachteiligen Ereignisses, dessen Kompensation einen wirtschaftlichen Aufwand nach sich zöge, eine Absicherung erzielt, welche bewirkt, daß Mittel zur Verfügung stehen, die diesen Aufwand tragen.383 Die Versicherungsleistung kann in Geld oder in natura erfolgen.384

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BVerwG, VersR 1993, S. 1217; 1992, S. 1381 (1382). BFHE 79, S. 510 (514, 512). 382 Siehe Meinhard Heinze, Rechtliche Strukturen und Rahmenbedingungen der Privat- und Sozialversicherung – Gemeinsamkeiten und Unterschiede –, ZVersWiss 2000, S. 243 (249). 383 Vgl. etwa Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (176); Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 3. 384 Alfred Manes, Versicherungswesen, Bd. 1, 5. Aufl., 1930, S. 4; Hans Möller, Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135 (136). 381

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In den Versicherungsdefinitionen bzw. innerhalb der oben angeklungenen Versicherungstheorien (Bedarfs-, Schadensersatz-, Vermögensgestaltungstheorie) wird insoweit „nur“ darüber gestritten, ob die Versicherung der Bedarfsdeckung, dem Schadensersatz, der Vermögensgestaltung oder der wirtschaftlichen Plansicherung dient. Insbesondere gegen die Schadensersatztheorie, aber auch gegen die Bedarfs(deckungs)theorie wird eingewandt, daß sie sich schwer täten mit der Erklärung sog. Summenversicherungen (z. B. Lebensversicherungen), bei welchen die vereinbarte Versicherungssumme ohne Rücksicht auf einen sich aus dem Vergleich der Vermögenszustände vor und nach dem Versicherungsfall ergebenden Bedarf oder Schaden gezahlt wird385, so daß sie zur Erfassung dessen nicht auf einen „konkreten“, sondern gegebenenfalls nur auf einen „abstrakten“, „typischen“ oder „möglichen (d. h. im Einzelfall nicht vorhandenen) Bedarf bzw. Schaden abstellen können386. Ferner wird gegen die Bedarfstheorie eingewandt, der „Bedarf“ sei bloß Motivation für den Vertragsschluß, wie bei jedem anderen Rechtsgeschäft auch, und insoweit rechtlich unerheblich387. Die Vermögensgestaltungstheorie vermag zwar die Fälle des nicht konkreten, sondern bloß „abstrakten“ Bedarfs oder Schadens besser zu erklären, da auch insoweit ein Vermögensgestaltungsziel bestehen kann, sieht sich ebenso wie auch die Bedarfstheorie aber dem Vorwurf ausgesetzt, daß die Erreichung von Vermögensgestaltungszielen der Sinn nahezu aller schuldrechtlichen Beziehungen vermögensmäßiger Natur sei und insoweit ebensowenig wie „Bedarf“ etwas Konkretes bzw. Konstituierendes über den Sinn des einzelnen Schuldverhältnisses aussagen würde388. Begegnen kann man dieser Kritik, indem man auf die Sicherung der Vermögensgestaltungsziele (oder eines Bedarfs) gerade für den Fall eines die Gestaltung durchkreuzenden ungewissen Ereignisses abstellt389. Überdies liegt hierin in rechtlich erheblicher Weise mehr als nur ein wirtschaftliches Motiv, denn die Bedarfsdeckung bzw. die Sicherung des Vermögensgestaltungsziels ist auch das rechtliche, anspruchsbewehrte Ziel.390 Daß die Plansicherungstheorie die Diskrepanz zwischen Plan- und Realdaten (also solchen mit 385 Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 3, 27 f. 386 Siehe etwa BGH, VersR 1979, S. 1120 (1121); zur Kritik Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 38 ff.; Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 3; Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493. 387 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 5. 388 Klaus Richter, Das rechtliche Schicksal der Haftpflichtversicherung im Erbgang, 1970, S. 87 f.; ebenso Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 6 Fn. 26. 389 So Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 44 unter Hinweis auf Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493. 390 Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 159.

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und ohne Eintritt des ungewissen Ereignisses, sprich des Versicherungsfalles) im Auge hat391, rückt sie in die Nähe zur Vermögensgestaltungstheorie392. Kritikwürdig an der Plansicherungstheorie erscheint der finale Fokus auf einen „Wirtschaftsplan“, da ein solcher nicht von jedem Versicherten konkret und planmäßig verfolgt werden muß und dann gegebenenfalls zu fingieren ist, womit letztlich wiederum auf einen, gegebenenfalls abstrakten, Bedarf abzustellen wäre. Im übrigen wird man auch beim Vergleich von Plan- und Realdaten mitunter mit recht abstrakten Wirtschaftsdaten zu arbeiten haben, da etwa bei einer Lebensversicherung auf den Todesfall bei den Hinterbliebenen des Versicherten, deren Versorgung die Versicherungssumme dienen soll, durch den Tod keine konkrete Diskrepanz zwischen Plandaten (Vermögen ohne Eintritt des Ereignisses) und Realdaten (Vermögen mit Eintritt des Ereignisses) entsteht, sondern man auch hier letztlich auf den abstrakten Bedarf abstellen muß, der aus der Einbuße einer Versorgungsquelle in Gestalt des Versicherten resultiert. Umso mehr würde dies gelten, wenn der verstorbene Versicherte zu einer künftigen Versorgung seiner nun Hinterbliebenen wirtschaftlich überhaupt nicht in der Lage (oder willens) gewesen wäre. Vertreter der Plansicherungstheorie müssen konzedieren, daß diese sich ebenfalls am Bedarf orientiert; allerdings ermittle sie „ihn nur nicht [. . .] allein durch einen Vergleich des als statisch verstandenen Vermögenszustandes vor dem Versicherungsfall mit dem bestehenden“.393 Mit anderen Worten aber: statt auf einen konkreten Bedarf, stellt sie – wie letztlich auch die Bedarfstheorie – auf einen abstrakten Bedarf ab. Letztlich wird hiermit deutlich, daß alle Versicherungstheorien – obwohl sie es unterschiedlich umschreiben – dasselbe meinen: nämlich die finanzielle Vorsorge zur Kompensation bzw. Deckung eines sich (aus ex ante Sicht zumindest potentiell) wirtschaftlich nachteilig auswirkenden Ereignisses für den Fall, daß dieses eintritt – wobei die wirtschaftliche Nachteiligkeit weit zu verstehen ist, d. h. nicht nur im Eintritt einer (konkreten) Vermögensminderung (Schaden) oder -belastung (Verbindlichkeit) liegen kann, sondern etwa auch in der Entstehung eines konkreten (sonstigen) wirtschaftlichen Bedarfs, der Schmälerung von Einnahmemöglichkeiten (etwa bei Verlust der Erwerbsfähigkeit) oder dem Verlust einer sonstigen Wirtschaftsquelle (etwa im Falle einer Lebensversicherung auf den Todesfall des Versicherten aus Sicht von dessen Hinterbliebenen). Ausschlaggebend für diese Vorsorgeanstrengung ist dabei, daß der wirtschaftliche Nachteil sich aus ex ante Sicht zumindest als ein potentieller erweist, also möglich erscheint und insoweit „befürchtet“ wird – so daß es bei einer Summenver391 Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 4. 392 Vgl. auch Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493 (502). 393 Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 4.

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sicherung wie etwa der Lebensversicherung eben nicht darauf ankommen muß, daß der Eintritt des Versicherungsfalles dann auch konkret wirtschaftlich nachteilig ist (was natürlich nicht daran hindert, wie im Falle der Schadensversicherung die Zahlung nur für den Fall eines konkreten wirtschaftlichen Nachteils, in diesem Fall eines Schadens, vorzusehen). Versteht man „Bedarf“ im Sinne der Bedarfstheorie nicht eng als „konkrete Bedürftigkeit“, sondern weiter im Sinne eines (auch „abstrakten“ oder „möglichen“) Bedarfs, der zur Kompensation eines (gegebenenfalls nur aus ex ante Sicht potentiell möglichen) wirtschaftlichen Nachteils infolge des Eintritts eines ungewissen Ereignisses entsteht, so deckt sich die Bedarfstheorie mit der Plansicherungstheorie sowie der (dieser sehr ähnlichen) Vermögensgestaltungstheorie. Alle Theorien drücken damit im Ergebnis das gleiche aus, nämlich die maßgebende Funktion der Versicherung als Zukunftsvorsorge zur Erlangung von Mitteln, die der Kompensation einer wirtschaftlich nachteiligen oder als wirtschaftlich nachteilig erachteten Entwicklung dienen, welche sich aus dem Eintritt eines ungewissen Ereignisses ergeben kann. Statt mit der herrschenden Meinung von Bedarfsdeckung kann man insoweit auch von Kompensation eines so verstandenen wirtschaftlichen Nachteils sprechen. (b) Ungewißheit des wirtschaftlich nachteiligen Ereignisses Kennzeichnend für eine „Versicherung“ ist ferner die Ungewißheit des Ereignisses, hinsichtlich dessen wirtschaftlicher Nachteiligkeit die Kompensation (oder Bedarfsdeckung) erstrebt wird394. Abgesichert wird nicht ein gewisses, sicher eintretendes nachteilsbringendes Ereignis, sondern ein Risiko, d. h. die Möglichkeit einer Bedarfs-, Schadens- oder Nachteilsentstehung; daher wird „Versicherung“ häufig auch als Risikoübernahme qualifiziert395. Die Ungewißheit ist konstituierend für die „Versicherung“. Gerade aus der Ungewißheit resultiert der wirtschaftliche Anreiz für den Versicherer, mittels für ihn und den Versicherten (bzw. Versicherungsnehmer) überschaubarer, unterhalb der potentiellen Bedarfshöhe liegender Prämien das unüberschaubare Risiko abzusichern, weil sich erst aus der Ungewißheit des zur Leistung verpflichtenden Ereigniseintritts die Chance ergibt, gegebenenfalls einen Profit zu erzielen. Und nur die aus der Ungewißheit resultierende Unwahrscheinlichkeit der Realisierung aller versicherten Einzelrisiken bringt bei einer Stützung der Versicherung auf eine 394 Siehe Peter Präve, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Aufl., 2005, § 1 Rn. 37; Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 6. 395 BVerwG, VersR 1987, S. 453 (454); Peter Präve, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Aufl., 2005, § 1 Rn. 37.

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Versichertengemeinschaft die Möglichkeit zur Risikostreuung mit sich. Sicher eintretende nachteilsbringende Ereignisse hingegen können von den hiervon Betroffenen nur anders abgesichert werden, beispielsweise durch Sparen. Allerdings ist die Ungewißheit des nachteilsbringenden Ereignisses nicht nur zu beziehen auf dessen Eintritt oder Nichteintritt, sondern sie kann auch im Hinblick auf den Zeitpunkt des Eintritts bestehen, wenn dieser Einfluß auf den Umfang des Bedarfs bzw. des wirtschaftlichen Nachteils hat; das gleiche gilt hinsichtlich der Ungewißheit über die Dauer des Ereignisses bzw. der mit seinem Eintritt verbundenen Nachteilswirkungen.396 Daher liegt auch bei einer Lebensversicherung auf den Todesfall eine Ungewißheit vor, nämlich hinsichtlich des Zeitpunkts des Todes, ebenso bei einer Altersvorsorgeversicherung, weil entweder ungewiß ist, wann (bei flexiblem Eintrittsalter) die altersbedingte Erwerbslosigkeit beginnt, oder weil bei einer für den Fall der altersbedingten Erwerbslosigkeit vereinbarten Rentenzahlung ungewiß ist, wie lange das Ereignis „altersbedingte Erwerbslosigkeit“ (bis zum Tode des Versicherten) andauert. (c) Versicherbarkeit (Schätzbarkeit; bereits bestehende Risiken) In zahlreichen Begriffsbestimmungen wird als Voraussetzung einer Versicherung die „Versicherbarkeit“ des betreffenden Risikos gefordert, welche sich aus der „Schätzbarkeit“ des zur Abdeckung aller verwirklichten Risiken erforderlichen Gesamtbedarfs ergebe.397 Dieses Risiko müsse also zumindest in seiner Gesamtheit statistisch bzw. versicherungsmathematisch erfaßbar bzw. meßbar sein, um eine hinreichende Kalkulationsgrundlage für die Versicherung zu haben – was in der Privatversicherung etwa hinsichtlich der Versicherbarkeit von Schäden infolge der Nutzung von Atomkraft398 oder in der Sozialversicherung für die Versicherbarkeit der Arbeitslosigkeit399 des öfteren bezweifelt wird. 396 Siehe etwa Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 5 (S. 98); Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 80 f.; Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (178). 397 Siehe dazu Karl Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, 1964, S. 15 ff.; Günter Kamitz, Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos in der Sozialversicherung, 1989, S. 28 f.; Josef Mugler, Risikopolitische Strategien im Grenzbereich des Versicherbaren, ZVersWiss 1980, S. 71 (76 f.); Walter Weddigen, Der Versicherungsbegriff der Wirtschaftswissenschaft, ZVersWiss 1931, S. 235 (248); Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 52, 56. 398 Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (407). 399 Siehe diesbezüglich die näheren Erläuterungen bei Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 165 ff.; Günter Kamitz, Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos in der Sozialversicherung, 1989, S. 13 ff., insb. S. 18 f.

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Allerdings ist das Kriterium der Schätzbarkeit letztlich nur eine bestimmte Rechengröße, die der besseren Kalkulierbarkeit einer Versicherung und damit deren höherer Güte dient400. Abgesehen davon, daß es mittlerweile auch versicherungsmathematische Möglichkeiten zur besseren Erfassung nicht-schätzbarer Risiken gibt401, wäre es nicht einsichtig, warum nicht auch die bezweckte Abdeckung schwerer abschätzbarer Risiken letztlich als Versicherung gelten soll, wenn der Versicherer entweder bereit ist, die daraus für ihn resultierende größere Unwägbarkeit wirtschaftlich in Kauf zu nehmen oder er diese etwa infolge entsprechend höher kalkulierter Prämien meint tragen zu können oder zu wollen402; aus Sicht eines Versicherungsnehmers bestünde ein Bedürfnis zur Absicherung solcher Risiken allemal. Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß auch die „Schätzbarkeit“ von Risiken bloß auf statistischen Durchschnittserfahrungen basiert, aber keine echte Voraussagbarkeit der Realisierungsquote ungewisser Ereignisse zuläßt und insoweit durch veränderte Verhaltensweisen oder Umweltbedingungen oder zufällige, unglückliche Schadenshäufungen leicht konterkariert werden kann. Im übrigen stünde und fiele der Versicherungsbegriff dann mit den Erkenntnissen der Versicherungsmathematik. Mittels des Kriteriums der Schätzbarkeit wird letztlich nur bemessen, ob ein Risiko besser oder schlechter als ein anderes der Überwälzung auf einen Versicherer zugänglich ist403. Es mag insoweit wirtschaftlich sinnvoll sein, nur schätzbare Risiken zu versichern, begriffsnotwendig für das Vorliegen einer „Versicherung“ bzw. einer „Versicherbarkeit“ ist dies – jedenfalls im rechtlichen Sinne – nicht.404 400 Vgl. Hans Möller, Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135 (137). 401 Siehe dazu etwa Robert Schwebler, „Was leistet eigentlich die Versicherung?“, VW 1987, S. 300 ff.; ferner auch Edgar Hofmann, Privatversicherungsrecht, 4. Aufl., 1998, § 2 Rn. 5. 402 Vgl. Josef Mugler, Risikopolitische Strategien im Grenzbereich des Versicherbaren, ZVersWiss 1980, S. 71 (76 f.), der zwar einen Versicherungsbegriff vorstellt, der das Merkmal „Schätzbarkeit“ enthält, dann aber feststellt, daß es „müßig“ sei, „darüber nachzudenken, ab welchem Informationsgrad über die Schadensbelastung ein Risiko als versicherbar gilt.“ Die Entscheidung hänge nämlich „letztlich von der subjektiven Einstellung zum Risiko ab: ob der Versicherer eher risikoscheu oder risikofreudig agiert.“ 403 Vgl. Josef Mugler, Risikopolitische Strategien im Grenzbereich des Versicherbaren, ZVersWiss 1980, S. 71 (76). 404 So zu Recht auch Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 11 (S. 100); Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 36; Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versicherungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 (393 f.) m. w. N.; ders., Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135 (137); ebenso BGH, VersR 1962, S. 974 (976); im Ergebnis wohl auch Josef Mugler, Risikopolitische Strategien im Grenzbereich des Versicherbaren, ZVersWiss 1980, S. 71 (77); vgl. ferner Edgar Hofmann, Privatversicherungsrecht, 4. Aufl., 1998, § 2 Rn. 5.

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Ähnliches muß gelten, soweit die „Versicherbarkeit“ von bereits bei Begründung des Versicherungsverhältnisses bestehenden Risiken abgelehnt wird405: Zwar mag es typischerweise so sein, daß etwa in der privaten Krankenversicherung das Vorhandensein von Vorerkrankungen aus wirtschaftlichen Gründen regelmäßig zu Risiko- oder Leistungsausschlüssen oder Wartezeitregelungen führt406. Letztlich berührt dies aber nicht den Versicherungscharakter, sondern nur die Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses. Es bleibt dem Versicherer überlassen, das dann erhöhte Leistungsrisiko auf sich zu nehmen oder es beispielsweise durch einen Risikoaufschlag auf die Prämie auszugleichen. Solange das vorherige Vorhandensein eines konkreten Risikos (Beispiel: Vorerkrankung) im Raum steht, das sich noch nicht in einem konkreten Ereignis verwirklicht hat (Beispiel: notwendige Behandlung), die aus dem bestehenden Risiko resultierenden Schadens- bzw. Bedarfsfälle also noch ungewiß sind, steht dies einer „Versicherbarkeit“ bzw. einer Absicherung im Wege der „Versicherung“ nicht entgegen. (d) Gleichartigkeit der versicherten Risiken In zahlreichen Definitionen wird zudem die „Gleichartigkeit“ der versicherten Risiken als Begriffsmerkmal einer „Versicherung“ angesehen. Aus ihr ergibt sich die Aufgliederung in Versicherungszweige und -arten. Im Endeffekt müssen hier im Hinblick auf einen rechtlichen Versicherungsbegriff aber die gleichen Erwägungen gelten wie für das Merkmal der Schätzbarkeit: Denn es handelt sich nur um eine versicherungskalkulatorische Größe, die vor allem die Schätzbarkeit erleichtert (auf die es, wie im Vorhergehenden ausgeführt, begrifflich nicht ankommt). Eine Versicherung für nicht gleichartige Risiken mag insofern kalkulatorisch schwieriger und unüberschaubarer sein (und praktisch schwerer durchführbar), bliebe aber gleichwohl „Versicherung“. Im übrigen läßt sich eine absolute Gleichartigkeit ohnehin nicht ermitteln, sondern – je nachdem, wie eng man das versicherte Risiko faßt407 – allenfalls eine mehr oder weniger homogene Risikostruktur erzielen.408

405 Siehe Maximilian Fuchs, Privatversicherung und Sozialversicherung, in: VSSR 1991, S. 281 (308): „Ist das Risiko bereits vorher vorhanden, so kann es grundsätzlich nicht mehr versichert werden.“ 406 Siehe Maximilian Fuchs, a. a. O., S. 308. 407 Man denke an das Risiko „Fahrraddiebstahl“. Dieses kann Gegenstand einer eigenständigen Fahrraddiebstahlsversicherung (= engere Risikofassung), aber auch von auch einer Hauratsversicherung (= weitere Risikofassung) mitabgedeckt sein, welche zudem nicht nur Diebstähle absichert. 408 Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 37.

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(e) Selbständigkeit Für eine Versicherung ist wesensnotwendig, daß das aus ihr resultierende Rechtsverhältnis ein selbständiges ist und nicht bloß eine unselbständige Nebenabrede zu einem anderen Rechtsgeschäft.409 Es darf also nicht ein innerer Zusammenhang zwischen der Gefahrtragung und einem anderen Rechtsverhältnis vorliegen und die Gefahrtragung diesem untergeordnet sein410. Hierdurch erfolgt vor allem die Abgrenzung der Versicherung zu Rechtsgeschäften, bei denen durch eine zusätzliche Abrede eine besondere Erfolgshaftung übernommen wird, zum Beispiel zu Lieferungs-Instandhaltungsgeschäften oder Garantieabreden.411 (f) Verbindlicher Rechtsanspruch Wesentliches Merkmal einer Versicherung ist ferner, daß auf die für den Eintritt des ungewissen Risikoereignisses vorgesehene Leistung ein verbindlicher Rechtsanspruch besteht.412 Die Sicherungsfunktion einer Versicherung ist nur gegeben, wenn auf die einen entstandenen Nachteil ausgleichende Leistung ein Anspruch besteht und dieser nicht nur im Belieben des Absichernden steht bzw. von dessen Wohlwollen abhängig ist. Unterstützungseinrichtungen, die insoweit keinen Rechtsanspruch auf eine Sicherungsleistung einräumen, sind der Fürsorge zuzuordnen413.

409 Näher Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 10 (S. 100); Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 85 ff.; Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 9. 410 Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 37. 411 Aus diesem Grunde wird häufig auch für Prozeßkostenfinanzierungen der Versicherungscharakter verneint, da hier die Übernahme des Prozeßkostenrisikos nur eine unselbständige Nebenabrede im Rahmen der Gesamtvereinbarung darstellt, weil der Prozeßkostenfinanzierer ein eigenes Interesse an der gerichtlichen Geltendmachung der „gesicherten“ Forderung hat und letztlich nur gegen Erfolgsbeteiligung für den Fall des Obsiegens im Prozeß tätig wird, siehe Lothar Müller-Güldemeister/Christian Rollmann, Die Prozeßfinanzierung der FORIS AG ist keine Versicherung, NJW 1999, S. 3540. 412 Siehe Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 9 (S. 99); Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 37; Reimer Schmidt, Gedanken zum Begriff der Versicherung, in: Festgabe für Erich R. Prölss, 1957, S. 247 (251). 413 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 9 (S. 99).

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(g) Entgeltlichkeit (Wechselseitigkeit) Ebenfalls wesentlich für eine Versicherung ist die Entgeltlichkeit414. Der wechselseitige Charakter einer Versicherung besteht darin, daß der Versicherungsnehmer die Risikoübernahme durch den Versicherer und den daraus resultierenden Anspruch auf die Versicherungsleistung durch Entgelt (Beitrag, Prämie) erkauft415. Dabei müssen Geschützter und Beitragszahler nicht identisch sein, möglich ist auch eine Versicherung zugunsten Dritter416. Allerdings darf Wechselseitigkeit nicht in dem Maße überinterpretiert werden, daß die Versicherungsleistungen, d. h. die Mittel für die erstrebten Bedarfsdeckungen/Nachteilsausgleichungen (allein) aus den Entgelten der Versicherungsnehmer aufgebracht werden müßten417. Auch dies wäre letztlich nur eine kalkulatorische Frage; wie der Versicherer die Leistungserbringung wirtschaftlich bzw. kalkulatorisch zu erbringen sucht, die über die Qualität einer Versicherung bzw. deren Wirtschaftlichkeit entscheidet, nicht aber schon über das Vorliegen einer Versicherung. Im übrigen könnte dann auch kaum noch von einem Entgelt für eine Risikoübernahme gesprochen werden, wenn die Versicherungsleistungen ausschließlich aus dem Pool der Beiträge erbracht werden müßten, weil der Versicherer damit zu einem bloßen Dienstleister bzw. Geschäftsbesorger würde, der nicht ein Entgelt für eine Risikoübernahme erhält, sondern bloß für die organisatorische Bewerkstelligung einer Risikostreuung durch Poolbildung und die Zurverfügungstellung bzw. Anwendung versicherungsmathematischen Know-Hows, das für die Ermittlung der richtigen Poolgröße und Prämienhöhe nötig ist418. Daß gleichwohl Versicherungseinrichtun414 Siehe Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 82; Peter Präve, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Aufl., 2005, § 1 Rn. 36; Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493 (504). 415 Nina Dethloff, Verträge zur Prozessfinanzierung gegen Erfolgsbeteiligung, NJW 2000, S. 2225 (2227). 416 Peter Präve, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Aufl., 2005, § 1 Rn. 36; siehe auch Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versicherungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 (393). 417 Vgl. aber die Formulierungen etwa bei Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 8 (S. 99); Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 37; Günter Kamitz, Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos in der Sozialversicherung, 1989, S. 28. 418 Hierin das Wesen einer Versicherung erblickend allerdings eine Mindermeinung, die etwa von Wolfgang B. Schünemann, Rechtsnatur und Pflichtenstruktur des Versicherungsvertrages, JZ 1995, S. 430 (432 f.), vertreten wird. Allerdings kann diese Ansicht weder erklären, worin bei einer Versicherung das für den Versicherungsnehmer eigene Geschäft liegen soll, das er auf den dann bloß als Geschäftsbesorger fungierenden Versicherer überträgt, noch weshalb der Versicherer auch dann noch leistungspflichtig ist, wenn die von einem Risikokollektiv aufgebrachten Gelder zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr ausreichen, um die fälligen Zahlungen zu finanzieren. Siehe näher zu dieser von der h. M. zu Recht geäußerten Kritik Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 23; Hans-Peter

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gen in der Regel bestrebt sein werden, die Gesamtheit der anfallenden Versicherungsleistungen aus der Gesamtheit aller Beiträge und somit weitestgehend durch Risikostreuung decken zu können, resultiert aus deren Bedürfnis nach Minimierung ihres eigenen wirtschaftlichen Risikos und mag insofern kalkulatorisch naheliegend sein, nicht aber ist es konstituierend für das Risiko(übernahme)geschäft „Versicherung“. Zu recht wird insoweit anerkannt, daß der Versicherungscharakter nicht beeinträchtigt wird, wenn die zur Deckung der Versicherungsleistungen benötigten Mittel vom Versicherer (auch) anderweitig beschafft bzw. zur Verfügung gestellt werden, etwa durch Zuschüsse Dritter (z. B. staatliche Zuschüsse) oder infolge staatlicher Garantien419. Der Versicherungscharakter wird aber jedenfalls tangiert, sofern der Abgesicherte überhaupt kein Entgelt mehr zahlt420; gleiches wird man annehmen müssen, wenn die entgeltlichen Beiträge gegenüber der Fremdfinanzierung marginal sind und kein eigenständiges Gewicht gegenüber der Fremdfinanzierung mehr aufweisen. (h) Gegenseitigkeit Der häufig in Definitionen von „Versicherung“ anzutreffende Terminus der „Gegenseitigkeit“ wird in unterschiedlicher Hinsicht gebraucht. Soweit hiermit nicht bereits das zuvor erläuterte Merkmal der „Wechselseitigkeit“ gemeint ist, wird Gegenseitigkeit entweder verstanden als das Erfordernis der Zusammenfassung einer Vielzahl von Einzelwirtschaften421 und damit letztlich als das noch im folgenden zu erörternde Merkmal der „Polypersonalität“ bzw. der Bildung einer „Gefahrengemeinschaft“, mitunter aber auch in dem Sinne, daß jeder Versicherte „des anderen Lasten mittrage, nicht aber eine Gruppe allein oder überwiegend die der anderen“, womit sich die so verstandene „Gegenseitigkeit“ letztlich als Ausfluß des Merkmals der (Individual-)Äquivalenz darstellt,422 welches im Nachfolgenden zu beleuchten sein wird.

Schwintowski, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 1 Rn. 29. 419 RGZ 88, S. 29 (33); BGH, BB 1962, S. 1062; Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 8 (S. 99); Reimer Schmidt, Gedanken zum Begriff der Versicherung, in: Festgabe für Erich R. Prölss, 1957, S. 247 (251). 420 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 8 (S. 99); Reimer Schmidt, Gedanken zum Begriff der Versicherung, in: Festgabe für Erich R. Prölss, 1957, S. 247 (251); vgl. auch RGZ 88, S. 29 (33). 421 So etwa bei Alfred Manes, Versicherungswesen, Bd. 1, 5. Aufl., 1930, S. 2 f.; ders., (Hrsg.), Versicherungslexikon, 3. Aufl., 1930, Spalte 291, Stichwort „Begriff“. 422 Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 72 f.; vgl. auch Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (107).

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(i) Äquivalenz Mitunter wird als wesentliches Begriffsmerkmal für eine „Versicherung“ gefordert, daß sie das Äquivalenzprinzip erfüllt423. Hiermit ist gemeint, daß der für die Versicherung erhobene Beitrag des einzelnen Versicherten die individuell „gerechte“ Prämie für die bei ihm zu tragende Gefahr darstellt, jeder Versicherte also den seinem speziellen Risiko entsprechenden Beitrag zu entrichten hat, so daß der fest zu entrichtende Beitrag eine wirtschaftlich angemessene Gegenleistung für die letztlich unbestimmt anfallende Versicherungsleistung darstellt (sog. Individualäquivalenz)424. Gegebenenfalls soll es aber auch ausreichen, daß zumindest aus der Gesamtheit aller Beiträge die Deckung aller anfallenden Versicherungsfälle möglich ist (sog. Gruppen-, Gesamt- oder Globaläquivalenz425).426 Allerdings setzt sich auch hier zu Recht mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß Äquivalenz kein begriffswesentliches Merkmal einer „Versicherung“ ist, sondern lediglich eine kalkulatorische, versicherungsmathematische Größe, die aus dem Interesse des Versicherers resultiert, dauerhaft wirtschaftlich leistungsfähig zu sein und von dem Versicherten (nur) eine adäquate Prämie zu fordern. Letztlich dient das Äquivalenzprinzip also der Bewerkstelligung des Spagats zwischen Sicherstellung der dauerhaften Leistungs- sowie (gegebenenfalls) Konkurrenzfähigkeit und Ermittlung einer wirtschaftlich angemessenen 423 So etwa Günter Kamitz, Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos in der Sozialversicherung, 1989, S. 28; Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (408); Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (179, 184); vgl. ferner Georg Heubeck, Versicherungswissenschaftliche Untersuchung, in: Zacher (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der Sozialversicherung, 1980, S. 289 (304 ff.); Ulrich Schlie, Versicherungsmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der gegenwärtigen sozialen Sicherung, insbesondere in der Sozialversicherung, ZVersWiss 1963, S. 281 (283). 424 Siehe Georg Heubeck, Versicherungswissenschaftliche Untersuchung, in: Zacher (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der Sozialversicherung, 1980, S. 289 (304 f.); Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versicherungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 (396 f.); Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (107). 425 Siehe hierzu auch Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 78 ff. 426 Siehe Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versicherungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 (396); Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (179). – Die Forderung nach einer so verstandenen Globaläquivalenz deckt sich demgemäß mit dem im Rahmen des Kriteriums „Wechselseitigkeit/Entgeltlichkeit“ fehlgehenden Ansatz, daß Mittel für die erstrebten Bedarfsdeckungen/Nachteilsausgleichungen (allein) aus den Entgelten der Versicherten aufgebracht werden müßten.

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Prämie427; es ist ein (markt)wirtschaftliches Prinzip428. Ist die Globaläquivalenz nicht gewahrt, wird eine Versicherung ihre Funktion aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dauerhaft erfüllen können, ohne auf andere Mittel „von außen“ zurückzugreifen (was dem Versicherungscharakter aber wie bereits dargelegt nicht widerspräche). Ist die Individualäquivalenz nicht gewahrt, weil die Beiträge zu niedrig bemessen sind, riskiert die Versicherung den Verlust der Deckungsfähigkeit; ist sie es wegen zu hoch bemessener Beiträge nicht, zahlen die Versicherungsnehmer mehr als sie im Hinblick auf ihre individuelle Risikostruktur eigentlich nur müßten und werden den Versicherungsschutz nicht dauerhaft in Anspruch nehmen, sondern auf andere Versicherungen umsteigen, die eine angemessenere Prämie verlangen. Die Wahrung des Äquivalenzprinzips mag also eine wirtschaftliche Notwendigkeit zur wirtschaftlichen Bestandssicherung einer Versicherung sein429, genauso wie die Einhaltung bestimmter kalkulatorischer Grundsätze für jedes andere Wirtschaftsunternehmen essentiell für dessen Erhalt ist. Es ist aber kein einer Versicherung so wesenseigenes Prinzip, daß schon die begriffliche Klassifizierung als „Versicherung“ mit seiner Wahrung stünde oder fiele. Eine Versicherung, die dessen Einhaltung nicht bewerkstelligt, stellt sich – bewußt, unbewußt, wider besseres Wissen oder mangels hinreichender Kenntnis oder Weitsicht – auf eine weniger rationale Kalkulationsgrundlage, bleibt aber gleichwohl „Versicherung“. Auch würde eine „Versicherung“ ihre Eigenschaft als solche bereits dann verlieren, wenn sie bewußt Fremdmittel (etwa staatliche Zuschüsse) oder andere Möglichkeiten der Erwirtschaftung der Deckungsmittel (etwa durch Zins- oder Spekulationsgewinne) einkalkuliert, da dann jedenfalls im Hinblick auf die Beiträge eine Äquivalenz nicht mehr gewahrt wäre. Ferner ist nicht einsichtig, warum es den Versicherungscharakter beeinträchtigen sollte, wenn ein Versicherer bewußt vom Äquivalenzprinzip durch „objektiv“ zu hohe Beiträge abweicht, weil er einen unverhältnismäßig großen Gewinn anstrebt oder er besonders sicher kalkulieren will und eine Deckungssicherheit auch für unvorhergesehene Schadenshäufungen erstrebt, auch wenn sich dies als objektiv 427 Siehe Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (444); vgl. ferner Ulrich Schlie, Versicherungmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der sozialen Rentenversicherung, ZVersWiss 1966, S. 53 (56). 428 Siehe Wilfried Schreiber, Die gesetzliche Krankenversicherung in der freiheitlichen Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Gesetzliche Krankenversicherung in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1965, S. 9 (13). 429 Siehe Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 79 f.; Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (444); Hans Möller, Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135 (136 f.); vgl. ferner Ulrich Schlie, Versicherungmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der sozialen Rentenversicherung, ZVersWiss 1966, S. 53 (56).

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nicht notwendig erweist. Und umgekehrt kann auch die Durchbrechung der Beitragsäquivalenz im Falle objektiv zu niedriger Prämien nicht zum Verlust der Versicherungseigenschaft führen, zumal wenn der Versicherer zur Bewerkstelligung der Deckungssicherheit Fremdmittel oder auch zu früheren Zeiten geschaffene Rücklagen einplant oder bereit ist, einen eventuellen Verlust aus eigener Tasche zu tragen, um sich aber infolge niedrigerer Beiträge einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Versicherern zu sichern – dies mag wirtschaftlich bedenklich, vielleicht sogar unseriös sein (und gegebenenfalls die Versicherungsaufsicht auf den Plan rufen), ändert aber nichts an der zur Grundlage gemachten Risikoübernahme. Daß Individualäquivalenz nicht ausschlaggebend sein kann, zeigt auch folgendes: Würde ein Privatversicherer es als Geschäftsidee etablieren, eine nicht individualäquivalente Versicherung anzubieten, sondern eine „sozial“ motivierte, in der jeder Versicherungsnehmer nach individuellem Vermögen und nicht nach persönlichem Risiko einzahlt, würde das Vorhaben zwar in der Praxis voraussichtlich daran scheitern, daß diejenigen, die kraft ihres (höheren) Vermögens mehr einzahlen, als sie gemessen an ihrer persönlichen Risikostruktur eigentlich nur „müßten“, diese Versicherung als für sie unwirtschaftliche ablehnen würden. Würde hingegen das Konzept etwa aufgrund einer zwar unwahrscheinlichen, aber immerhin denkmöglichen altruistischen Einstellung der Versicherungsnehmer aufgehen, gäbe es keinen Grund, hierin keine „Versicherung“ zu erblicken: es würde gleichwohl entgeltlich eine auf Bedarfsdeckung bzw. Nachteilsausgleich ausgerichtete Gefahrengemeinschaft bestehen, die eine Risikostreuung ermöglicht sowie für den Bedarfsfall Rechtsansprüche vorsieht. Daß dieses Konzept wirtschaftlich aller Voraussicht nach nicht aufgehen wird, weil die „Zuvielzahler“ lieber auf andere Versicherungen ausweichen, die „gerechter“ kalkulieren, ändert nichts daran, daß es sich gleichwohl um eine Versicherung handeln würde. Denn eine solche wäre sie eben auch, wenn das Konzept wider Erwarten doch aufginge (und sei es auch nur deshalb, weil sich alle anderen Versicherer ebenfalls zu einer „sozialen“, nicht individualäquivalenten Kalkulation entschlössen, und insoweit gar keine lohnendere Alternative für die Versicherungsschutz Suchenden bestünde, so daß sie lieber eine nicht-individualäquivalente Versicherung in Anspruch nehmen als gar keine). Daß man aber den Versicherungsstatus nicht davon abhängig machen kann, ob sich (zumindest in genügender Anzahl) Versicherungsnehmer finden, dürfte einleuchten, zumal es ja auch in diesem Fall nicht einmal an einer „Planmäßigkeit“ zur Schaffung einer eine Risikostreuung ermöglichenden Ausrichtung fehlen würde – nur geht dieser „Plan“ dann eben nicht auf. Aber auch das Merkmal einer Globaläquivalenz kann nicht entscheidend sein für das Vorliegen einer „Versicherung“. Es handelt sich hierbei nämlich nicht um ein gerade einer Versicherung wesenseigenes, sozusagen versicherungsspezifisches Prinzip, sondern um ein allgemeines Wirtschaftsprinzip, welches jede

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Wirtschaftseinheit beherzigen muß, um bestehen zu können: nämlich das – wenn man es so nennen will – „Prinzip“, daß die Ausgaben durch die Einnahmen gedeckt sein müssen, man also (jedenfalls auf Dauer) nicht mehr ausgeben darf bzw. auszugeben verpflichtet ist als man einnimmt.430 Daß also ein Versicherungsbetreiber naturgemäß bestrebt sein wird, seine anfallenden Geschäftsausgaben in Gestalt der zu leistenden Deckungssummen durch entsprechende Einnahmen (in Gestalt insbesondere von Beiträgen, Prämien) zu erwirtschaften, mithin „globaläquivalent“ zur arbeiten, ist eine wirtschaftliche Selbstverständlichkeit – jedes Dienstleistungsunternehmen, jeder Handelsbetrieb, ja jeder Privathaushalt muß nach diesem Prinzip wirtschaften, um nicht der Insolvenz anheimzufallen. Daß es auf eine Globaläquivalenz allein zwischen Gesamtheit der Beiträge und Gesamtheit der Deckungsleistungen nicht ankommen kann, zeigt sich schon daran, daß etwaige Zuschüsse „von außen“ (also bspw. staatliche) nicht den Versicherungscharakter beeinträchtigen, obwohl sie die Globaläquivalenz zwischen Gesamtbeitragsaufkommen und Gesamtleistungsvolumen beseitigen. Und die Globaläquivalenz zwischen sämtlichen Einnahmen (Beiträgen plus etwaigen Zuschüssen und sonstigen Einnahmen etc.) und dem Gesamtleistungsvolumen zu fordern, entspricht, wie bereits gesagt, nur dem von jeder Wirtschaftseinheit anzustrebenden „Prinzip“, kein negatives Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben aufzuweisen, ist also kein Spezifikum einer Versicherung, sondern – jedenfalls in der freien Privatwirtschaft – eine wirtschaftliche Binsenweisheit. Soweit Äquivalenz gleichbedeutend ist mit „gerechten“ Versicherungsprämien, ist zudem festzuhalten, daß es jedenfalls in der freien Wirtschaft grundsätzlich keine Verpflichtung gibt, ein gerechtes Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung zu schaffen, sondern sich dies dort vielmehr aufgrund der Gesetze des freien Marktes lediglich als zweckmäßig erweist.431 Da andererseits nur durch Globaläquivalenz zwischen sämtlichen Beiträgen und der Gesamtheit der zu erbringenden Versicherungsleistungen die wirtschaftliche Bestandssicherheit einer Versicherung und letztlich die Deckungssicherheit einer Versicherung erreicht werden kann, ohne auf Zuschüsse „von außen“ angewiesen zu sein, hat die Globaläquivalenz natürlich für die Wertigkeit und Beständigkeit jeder Versicherung (aber auch jeder anderen Wirtschaftseinheit) eine elementare wirtschaftliche Bedeutung – aus Sicht der Versicherten ebenso wie aus Sicht des Versicherers. Insoweit kann der Gesetzgeber auf den Plan gerufen

430 Siehe auch Meinhard Heinze, Rechtliche Strukturen und Rahmenbedingungen der Privat- und Sozialversicherung – Gemeinsamkeiten und Unterschiede –, ZVersWiss 2000, S. 243 (250); vgl. ferner Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 78 ff. 431 Siehe Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 203; vgl. auch Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 80.

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sein, durch rechtliche Vorgaben für Versicherer – so etwa mittels des Versicherungsaufsichtsgesetzes (siehe etwa § 12 VAG) – die dauernde Erfüllbarkeit von Versicherungsverhältnisses zu sichern;432 dies ist dann aber nicht Grund, sondern Folge einer Versicherung433. Und für öffentlich-rechtlich bedingte Pflichtversicherungen, bei denen sich der Versicherte weder der Versicherungspflicht zu entziehen noch einem anderen, „besser“ oder gar „gerechter“ kalkulierenden Versicherer anzuschließen vermag, kann sich das Vorhandensein einer Äquivalenz aus verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtlichen Positionen ergeben434. Aber auch dies sind dann nicht begriffliche, sondern materielle Vorgaben, wie sie sich überdies nicht nur für eine öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung, sondern auch für andere zwangsweise Einbeziehungen in ein mit Beitragspflichten versehenes System ergeben können. Auch das Äquivalenzprinzip dient insoweit letztlich nur der Unterscheidung zwischen „elitären“ und „nicht-elitären“ Versicherungen435. Es mag aufgrund wirtschaftlicher Rationalität typischerweise in der Versicherungswirtschaft gewahrt oder angestrebt sein, ist aber kein zwingend erforderliches Wesensmerkmal für eine „Versicherung“.436 (j) Versicherungsaufsicht Anerkanntermaßen kommt es für die Qualifizierung als „Versicherung“ nicht darauf an, ob eine Einrichtung der Versicherungsaufsicht nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) unterfällt oder nicht.437. Denn das Aufsichtsbedürf-

432 Siehe Egon Lorenz, Gefahrengemeinschaft und Beitragsgerechtigkeit aus rechtlicher Sicht, 1983, S. 18 m. w. N. 433 Hans-Peter Schwintowski, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 1 Rn. 19. 434 Vgl. etwa Helge Sodan, Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, ZRP 2004, S. 217 (219 f.); ders., Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), S. 144 (151); ferner oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) bb) (3). 435 Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (444 f.). 436 Hans Möller, Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, in: Aktuelle Fragen der Individual- und der Sozialversicherung – Festgabe für Erich Roehrbein, 1962, S. 135 (136 f.); ders., Sozialversicherung und Privatversicherung, SGb 1970, S. 81; Reimer Schmidt, Gedanken zum Begriff der Versicherung, in: Festgabe für Erich R. Prölss, 1957, S. 247 (252); vgl. ferner Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (444); Ulrich Schlie, Versicherungmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der sozialen Rentenversicherung, ZVersWiss 1966, S. 53 (56). 437 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 11 (S. 100); Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 83 f.

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nis ist nicht Grund, sondern Folge einer Versicherung.438 Dementsprechend können auch die im Rahmen des Versicherungsaufsichtsgesetzes aufgestellten Anforderungen an etwa an die Rechtsform, die Kapitalausstattung oder sonstige organisatorische Vorgaben nicht über die grundlegende Eigenschaft als „Versicherung“ entscheiden. Die Versicherungsaufsicht dient dem Schutz der risikoausgleichenden Funktion der Versicherung durch ausreichende Wahrung der Belange der Versicherten439, stellt somit also qualitätssichernde Anforderungen an Versicherungen und keine begriffswesentlichen. (k) Freiwilligkeit Unmaßgeblich für das Vorliegen einer Versicherung ist ferner, ob das aus ihr resultierende Sicherungsverhältnis freiwillig erfolgt oder eine rechtliche Verpflichtung hierzu besteht.440 So verlieren etwa Haftpflichtversicherungen wie die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (§ 1 PflVG) oder diejenige für Luftfrachtführer (§ 50 LuftVG) ihre Versicherungseigenschaft nicht deshalb, weil ihr Abschluß obligatorisch ist (vgl. auch § 113 VVG). (l) Polypersonalität: Planmäßige Risikostreuung nach dem Gesetz der großen Zahl Die meisten Begriffsbestimmungen gehen von der Polypersonalität einer „Versicherung“ aus. Bestimmendes Merkmal einer Versicherung sei insoweit die Verteilung des abzusichernden Risikos auf eine Gemeinschaft von Gefährdeten.441 Die spezifische Art und Weise der Durchführung einer Versicherung liege gerade darin, durch Bildung einer Gefahrengemeinschaft eine Risikostreuung zu erreichen, da sich die jeweiligen Risiken nur in Einzelfällen verwirklichen und insoweit die Gesamtheit der Beiträge deren Deckung ermöglichen soll.442 Der Risikoübernahme durch den Versicherer müsse eine auf dem „Ge438 Hans-Peter Schwintowski, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 1 Rn. 19; vgl. auch § 1 Abs. 3 VAG. 439 Helmut Schirmer, Allgemeine Versicherungsbedingungen im Spannungsfeld zwischen Aufsicht und AGB-Gesetz, ZVersWiss 1986, S. 509 (511). 440 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 14 (S. 101). 441 Siehe auch Franz Büchner, Versicherungsrechtliche Betrachtungen zum Begriff „Gefahrengemeinschaft“, ZVersWiss 1978, S. 579 (584). 442 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 4 (S. 96 f.); Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 82 f.; Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (178 f.); Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (406); vgl. auch Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 406 f.; Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 12.

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setz der großen Zahl“ beruhende Kalkulation zugrunde liegen.443 Entscheidend sei dabei bereits die „Planmäßigkeit“, d. h. die Absicht des Versicherers, eine solche Gefahrengemeinschaft zu bilden bzw. seine Kalkulation hierauf auszurichten.444 Auch nur hierdurch könne die „Versicherung“ von anderen, auf „Einzel“-Sicherung ausgerichteten Sicherungsformen wie etwa (entgeltlichen) Bürgschaften oder Garantieverträgen abgegrenzt werden, welche im übrigen die gleiche Funktion (nämlich Bedarfsdeckung bzw. Kompensation wirtschaftlicher Nachteile infolge ungewisser Ereignisse, s. oben) aufweisen wie eine „Versicherung“.445 Bei genauerer Betrachtung erscheint dieser Gedanke aber zumindest diskussionswürdig, und in Teilen des Schrifttums wird daher das begriffliche Erfordernis einer Gefahrengemeinschaft bzw. einer planmäßigen (kalkulatorischen) Grundlage für nicht notwendig erachtet446. Denn zwar mag die Bildung einer (hinreichend großen) Gefahrengemeinschaft bzw. eine darauf ausgerichtete Kalkulation eine wirtschaftliche Grundvoraussetzung für eine effektive Versicherung sein; zwingend begriffsnotwendig erscheint dies aber jedenfalls nicht ohne weiteres.447 Wie sich auch schon zu den obigen Ausführungen zu den Merkmalen „Schätzbarkeit“, „Gleichartigkeit“ und „Wechselseitigkeit“ und „Äquivalenz“ ergibt, ist nicht ersichtlich, warum es nicht grundsätzlich dem Belieben des „Versicherers“ überlassen bleiben soll, auf welcher kalkulatorischen Grundlage (einschließlich der Größe des versicherten Personenkreises, sprich der Gefahrengemeinschaft) er die versprochene Bedarfsdeckung bzw. Nachteilsausgleichung zu erreichen sucht448 – gegebenenfalls, bei zu unsicherer Kalkulations443

BGH, VersR 1995, S. 344 (345). Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 82 f. 445 Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 4 (S. 96 f.); Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 82 f.; vgl. auch Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 5, 12. 446 So etwa von Ernst Bruck, Das Privatversicherungsrecht, 1930, S. 56; Matthias Haller, Gefahrengemeinschaft oder Sicherungsteam?, 1985, S. 15 ff., 21 ff., insb. S. 26, 31; Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493 (504); wohl auch von Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 35 f.; Hans-Peter Schwintowski, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 1 Rn. 35. Vgl. ferner Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 185 f., 210; sowie Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 12, für den das Vorhandensein einer Gefahrengemeinschaft die „Vollform“ einer Versicherung erfüllt, was im Umkehrschluß bedeuten dürfte, daß auch bei Fehlen einer Gefahrengemeinschaft eine „Versicherung“ vorliegen kann, wenn auch nicht in ihrer „Vollform“ – auch hier zeigen sich die bereits oben näher beschriebenen Eigentümlichkeit einer Typenkonstruktion, welche Prölss, a. a. O., Rn. 16, hinsichtlich „Versicherung“ annimmt. 447 Siehe Walter Schmidt-Rimpler, Zum Begriff der Versicherung, VersR 1963, S. 493 (504 f.). 448 Siehe etwa die mittels Termingeschäften eine Deckung suchenden „Hedge“-Geschäfte, welche insoweit wenigstens als „versicherungsähnlich“ angesehen werden, 444

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grundlage, handelt es sich dann um eine unwirtschaftliche oder „unsichere“ Versicherung, was aber kein Widerspruch in sich ist, denn es wäre übertrieben zu fordern, daß begrifflich eine „Versicherung“ nur vorliegen kann, wenn sie auch tatsächlich „sicher“ ist bzw. eine „sichere“ Kalkulationsgrundlage aufweist449. Abgesehen davon, daß „Sicherheit“ ein äußerst dehnbarer Terminus ist, kann eine Deckungssicherheit selbst durch die Ausrichtung auf eine Gefahrengemeinschaft nicht zwingend gewährleistet sein, etwa weil die Gemeinschaft zu klein ist (zum Beispiel weil überhaupt nur sehr wenige Personen von dem Risiko bedroht sind450 oder sich viel zu wenige Personen der „geplanten“ Gefahrengemeinschaft anzuschließen bereit sind) oder weil der Versicherer gleichwohl mit zu niedrigen Prämien kalkuliert hat. Und auch kein anderes Rechtsgeschäft wird dadurch konstituiert, daß es den Erfolg erreicht, den es zu erreichen verspricht: so ist etwa ein Kaufvertrag auch dann ein Kaufvertrag, wenn an dem verkauften Gegenstand überhaupt kein Eigentum verschafft werden kann (etwa im Falle der Veräußerung einer abhanden gekommenen Sache durch einen Nichtberechtigten, vgl. § 433 Abs. 1 S. 1, §§ 929, 932, 935 BGB). Hiernach – solange die oben beschriebene Sicherungsfunktion verfolgt wird – könnte sich sogar eine „Einzelversicherung“ als „Versicherung“ darstellen451,452 wenn ein „Versicherer“ der Ansicht ist, ein aus seiner Sicht akzeptables, eingehbares Risiko abzusichern, etwa weil er auf dessen Nichteintritt spekuliert und somit bewußt eine unsichere Kalkulationsgrundlage wählt.453 Letztlich entscheide damit

siehe näher dazu Hans-Peter Schwintowski, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 1 Rn. 30 ff. 449 In diese Richtung aber wohl Karl Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, 1964, S. 17; Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (712). 450 Man denke etwa an eine Haftpflichtversicherung für die Betreiber von Atomkraftwerken. 451 Siehe insoweit auch Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 82 f., der dort, obwohl er zunächst vehement eine Gefahrengemeinschaft fordert, dann aber doch zumindest eine Ausnahme hinsichtlich einer Einzelversicherung (in Gestalt der „Seeversicherung“) anerkennt. 452 Die Abgrenzung etwa zur (Einzel-)Bürgschaft erfolgt bei dieser Sichtweise, indem man der Begriffsdefinition von „Versicherung“, wie Schmidt-Rimpler, a. a. O., S. 505, den Zusatz beifügt, „daß durch das Rechtsverhältnis nicht der gesetzlich oder verkehrsmäßig geschaffene Typus eines anderen, in bestimmter Weise geregelten Vertrages erfüllt sein darf“, oder indem man die Bürgschaft als eigenständig geregelten „Spezialfall“ einer Versicherung betrachtet, vgl. Bruck, a. a. O., S. 56; Prölss, a. a. O., Rn. 5. 453 Soweit sich mittlerweile und zu recht die Sichtweise durchgesetzt hat, daß die „Schätzbarkeit“ des versicherten Risikos nicht zum rechtlichen Versicherungsbegriff gehört (siehe oben), ist auch die Versicherbarkeit extrem seltener Risiken (und damit eine entsprechend kleine Gefahrengemeinschaft als Basis) anerkannt, siehe etwa hinsichtlich der Versicherung eines „Supertankers“ Edgar Hofmann, Privatversicherungsrecht, 4. Aufl., 1998, § 2 Rn. 5. – Der Schritt zur reinen Einzelversicherung ist dann nicht mehr allzu weit.

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das Merkmal einer „Gefahrengemeinschaft“ bzw. einer darauf gestützten Kalkulation nicht über das Vorliegen einer Versicherung, sondern nur zwischen „elitären“ und „nicht-elitären“, also zwischen verhältnismäßig sicheren und verhältnismäßig unsicheren Versicherungen.454 Andererseits ist durchaus einzugestehen, daß der Begriff „Versicherung“ bei Verzicht auf das Merkmal einer planmäßigen Ausrichtung auf eine Gefahrengemeinschaft einen Teil seiner Kontur verliert, was nur zum Teil durch die Merkmale „Entgeltlichkeit“ und „Selbständigkeit“ (siehe dazu oben) wett gemacht wird und die Abgrenzung zu anderen (entgeltlichen) Risikogeschäften in der Tat schwieriger gestalten kann. Wenn man vor diesem Hintergrund darauf beharrt, die planmäßige Ausrichtung auf eine Polypersonalität als charakteristisch und begriffswesentlich für eine „Versicherung“ anzusehen, so sollte sich dieses Merkmal allerdings in dem Bestreben nach einer irgendwie gearteten Risikostreuung durch Verteilung auf mehrere Schultern erschöpfen, um damit insbesondere die Abgrenzbarkeit zu auf Einzelhaftigkeit ausgerichteten Sicherungsgeschäften wie etwa einer Einzelbürgschaft besser zu ermöglichen. Das wesensmäßige Charakteristikum einer Versicherung ist dann in dem (planmäßigen) Bestreben des Versicherers zu sehen, das jeweilige übernommene Einzelrisiko dadurch für sich zu verringern, daß er (entgeltlich) eine unbestimmte Vielzahl von Risiken übernimmt, von denen sich aber der Wahrscheinlichkeit nach nur einige verwirklichen und ihn zur Leistung zwingen, so daß durch die Zusammenfassung von sich verwirklichenden und sich nicht verwirklichenden Risiken nach dem Gesetz der großen Zahl ein Risikoausgleich erreichbar, letztlich also gerade ein solcher planmäßig erstrebt und eine entsprechende Kalkulation nach dem Gesetz der großen Zahl möglich wird.455 Nicht hingegen darf das Merkmal einer polypersonalen Ausrichtung die Grundlage bilden für die Forderung nach einer dergestalt zu verstehenden Planmäßigkeit, daß – über eine irgendwie nach dem Gesetz der großen Zahl geartete Risikostreuung hinausgehend – eine bestimmte kalkulatorische oder organisatorische Mindestgüte oder Sicherheit der Versicherung gewährleistet sein soll456. Mit anderen Worten wäre das Vorliegen einer Versicherung bei Anerkennung des Erfordernisses einer polypersonalen Ausrichtung allein danach zu bemessen, ob – rein formal – der die (Ver-)Sicherung Gewährende eine Risikostreuung durch Abschluß einer größeren/großen Zahl von Risikogeschäften anstrebt und eine irgendwie geartete Kalkulation nach dem Gesetz der großen Zahl 454 Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (445); vgl. auch hierzu auch Josef Mugler, Risikopolitische Strategien im Grenzbereich des Versicherbaren, ZVersWiss 1980, S. 71 (75). 455 Vgl. BGH, BB 1962, S. 1062 f. 456 Vgl. Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 82; vgl. ferner BGH, BB 1962, S. 1062 f.

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möglich wird457, nicht aber danach, wie er darüber hinaus gehend diese Risikostreuung auf eine ganz bestimmte kalkulatorische Art zu erreichen sucht, ob er also äquivalente Prämien kalkuliert, nur schätzbare oder nur gleichartige Risiken versichert oder er die Deckung allein aus den Beiträgen der Versicherten oder (auch) auf sonstige Weise aufzubringen gedenkt.458 Solche rein kalkulatorischen oder versicherungsmathematischen Aspekte haben – wie sich auch schon aus den obigen Ausführungen zu den anderen (potentiellen) Begriffsmerkmalen von „Versicherung“ ergibt – keinen Einfluß auf die rechtliche Beurteilung der Versicherungseigenschaft, sondern sind lediglich für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit und der Güte einer Versicherung relevant, entscheiden also nur über das Vorliegen „elitärer“ oder „nicht-elitärer“ Versicherungen.459 Letzten Endes aber muß die Frage nach der Begriffswesentlichkeit einer polypersonalen Ausrichtung jedenfalls für die hier interessierende Bestimmung des Inhalts des Versicherungsbegriffs auf Verfassungsebene – nämlich bezüglich der Begrifflichkeiten „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sowie „privatrechtliches Versicherungswesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG – nicht abschließend geklärt werden, soweit es allein um den Aus- bzw. Einschluß von Einzel(ver)sicherungen geht. Denn daß jedenfalls „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG naturgemäß eine polypersonale Ausrichtung aufweist, bedarf keiner Erörterung. Und für „das privatrechtliche Versicherungswesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ergibt sich das Vorhandensein eines polypersonalen Bezugs bereits aus der Verortung als Teil des „Rechts der Wirtschaft“: denn diese wirtschaftlich-gewerbliche Ausrichtung des Titels „privatrechtliches Versicherungswesen“ beinhaltet, daß die betreffende „Versicherung“ gewerbsmäßig auf eine Vielzahl von Geschäften und somit polypersonal ausgerichtet ist. Und auch in der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der hier untersuchten Versicherungsformen, Sozialversicherung in Gestalt der gesetzlichen Krankenversicherung sowie private Krankenversicherung, ist der polypersonale Bezug gegeben. Soweit man das Merkmal einer polypersonalen Ausrichtung als Begriffsmerkmal des Versicherungsbegriffes anerkennt, gilt aber auch für den auf Verfassungsebene verwendeten Begriff „Versicherung“ das bereits vorhergehend Festgestellte: Die Ausrichtung auf eine Polypersonalität darf dann nur im Sinne der Absicht einer irgendwie gearteten Risikostreuung und nicht im Sinne einer Planmäßigkeit hinsichtlich bestimmter, versicherungsmathematisch anerkannter 457

Vgl. Edgar Hoffmann, Privatversicherungsrecht, 4. Aufl., 1998, § 2 Rn. 12. Siehe dazu schon jeweils oben im Rahmen der jeweiligen Ausführungen zu den betreffenden Merkmalen. 459 Siehe Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (441 ff.); vgl. dens., Unsicherheit und Versicherung, ZVersWiss 1980, S. 37 (49); Ernst Bruck/Hans Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 1. Bd., 8. Aufl., 1961, § 1 Anm. 11 (S. 100). 458

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oder angezeigter Kalkulationsmethoden oder bestimmter Organisationsstrukturen verstanden werden, welche eine bestimmte Rationalität oder Güte einer Versicherung sichern sollen. Gerade auch „nicht-elitäre“ 460, aber auch neuartige, alternative Versicherungsformen müssen vom Versicherungsbegriff in den Gesetzgebungskompetenzen erfaßt sein. Dies ergibt sich für die Verfassungsebene bereits daraus, daß eine Verfassung, und dies gilt insbesondere für die Gesetzgebungskompetenzen, hinreichend dynamisch, flexibel, elastisch sein muß, um auf neue gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und diese erfassen zu können.461 Insbesondere an einem stetigem Wandel unterworfenen System wie der Sozialversicherung bzw. einer darauf gerichteten Gesetzgebungskompetenz wird dies deutlich, so daß schon insoweit von einem „weiten, offenen“, nicht von einem „engen, geschlossenen“ Versicherungsbegriff462 auszugehen ist. Daß der Versicherungsbegriff gerade auf Verfassungsebene ein relativ weiter ist, zeigt sich aber auch daran, daß etwa hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz für das privatrechtliche Versicherungswesen zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen versicherungsregulatorischer Art gerade darauf abzielen, verschiedene organisatorische, wirtschaftliche oder kalkulatorische Gebote aufzustellen, die für eine bestimmte Qualität bzw. Sicherheit von Versicherungen sorgen (siehe etwa das Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG). Dann aber können solche, für ein bestimmtes Maß an Qualität sorgende Elemente nicht bereits begriffliche Voraussetzung für eine „Versicherung“ und damit Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Kompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG sein463, zumal es dem Gesetzgeber auch freisteht, bestimmte „Versicherungen“ von Regulierungsmaßnahmen freizuhalten oder auszunehmen464, was ebenfalls für ein insoweit weites Verständnis von „Versicherung“ spricht. (m) Unternehmensform Mit den vorhergehenden Ausführungen zu einem auch hinsichtlich der polypersonalen Ausrichtung weit zu verstehenden Versicherungsbegriff deckt sich

460 Siehe Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (445). 461 Vgl. Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954), S. 37 (54); Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978), S. 566 ff. (insb. 602); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 88, 100. 462 Werner Mahr, „Versicherung“ – Prolegomena zu einer Inhaltsbestimmung, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, S. 433 (441 ff.); Josef Mugler, Risikopolitische Strategien im Grenzbereich des Versicherbaren, ZVersWiss 1980, S. 71 (75). 463 Vgl. BVerwG, VerBAV 1961, S. 126 (128); Hans-Peter Schwintowski, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 1 Rn. 19: „Das Aufsichtsbedürfnis ist [. . .] nicht Grund, sondern Folge einer Versicherung“. 464 Vgl. BVerwG, VerBAV 1961, S. 126 (128).

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die Ablehnung der sog. „Unternehmenstheorie“465, welche für das Vorliegen einer Versicherung eine dergestalt beschaffene polypersonale Ausrichtung verlangt, daß der Zusammenschluß im Rahmen eines Wirtschaftsunternehmens (Versicherungsunternehmen) erfolgt. Die für eine „Versicherung“ als wesentlich erachtete planmäßige Zusammenfassung der einzelnen Versicherungsverhältnisse müsse zwangsläufig zur Zwischenschaltung eines Versicherungsunternehmens führen. Überwiegend und zu recht wird dieses Erfordernis aber als zu eng abgelehnt, denn der unternehmensmäßige Zusammenschluß ist zwar typischerweise gegeben, weil sich das Versicherungsgeschäft durch Einzel- oder Privatpersonen zumindest langfristig kaum wirtschaftlich erfolgreich realisieren läßt466. Gleichwohl können aber auch nicht als Versicherungsunternehmen organisierte Personen als Versicherer auftreten, so daß auch diese Fälle unter den Versicherungsbegriff fallen müssen467. Denn entscheidend ist der Charakter des zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses, nicht eine bestimmte Unternehmensorganisation.468 Die unternehmerische Organisation bedingt nur eine bessere wirtschaftliche Realisierbarkeit von Versicherungen, entscheidet also ebenfalls „bloß“ über deren Qualität, nicht aber über den Versicherungsbegriff als solchen. Daher sind auch – wie bereits dargelegt – die im Rahmen des Versicherungsaufsichtsgesetzes vorgeschriebenen Organisationsformen für bestimmte Versicherungen bzw. Versicherungsunternehmen nicht maßgeblich für den Versicherungsbegriff. Unerheblich ist es auch, ob eine Versicherung bzw. der Versicherer privat oder öffentlich-rechtlich (als juristische Person des öffentlichen Rechts) organisiert ist.469 Öffentliche (öffentlich-rechtliche) Versicherungseinrichtungen können dabei als „Wettbewerbsversicherer“470 bzw. „Wettbewerbsanstalten“471 in 465 Cesare Vivante, Allgemeine Theorie der Versicherungsverträge, ZHR 39 (1891), S. 451 (474); siehe dazu auch Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 6 f.; Hans Möller, Moderne Theorien zum Begriff der Versicherung und des Versicherungsvertrages, ZVersWiss 1962, S. 269 (271 f.). 466 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 7. 467 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 7. 468 Meinhard Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 34; Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 7; Hans Möller, Moderne Theorien zum Begriff der Versicherung und des Versicherungsvertrages, ZVersWiss 1962, S. 269 (271 f.). 469 Hans Möller, Moderne Theorien zum Begriff der Versicherung und des Versicherungsvertrages, ZVersWiss 1962, S. 269 (270); vgl. dens., Versicherungsvertragsrecht, 3. Aufl., 1977, S. 45 f.; Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 70 ff.; Julius von Gierke, Die öffentlich-rechtlichen Versicherungsanstalten (des sog. Privatversicherungsrechts), ZHR 109 (1943), S. 157 ff.; dens., Versicherungsrecht, Zweite Hälfte, 1947, S. 67 ff. 470 BVerfGE 41, S. 205 (220). 471 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 73.

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freier Konkurrenz zu privaten Versicherungseinrichtungen auftreten; die Eingehung der Versicherungsverhältnisse erfolgt hier auf Grundlage freier Privatautonomie durch (privatrechtlichen) Vertrag472.473 Grundsätzlich können sie aber auch die ausschließliche Berechtigung und Verpflichtung zum Betrieb eines bestimmten Versicherungszweiges in ihrem Gebiet besitzen und fungieren dann als „Monopolanstalten“, die zugleich „Zwangsanstalten“ darstellen, mit denen regelmäßig Versicherungszwang einhergeht.474 Aufgrund europarechtlicher Vorgaben wurden diese öffentlich-rechtlichen Versicherungsmonopole aber aufgehoben und die betreffenden Monopolanstalten in Wettbewerbsbetriebe umgewandelt475. In beiden Fällen aber handelt(e) es sich begrifflich um „Versicherungen“. (4) Zusammenfassung und Ergebnis zum Versicherungsbegriff (a) Maßgebliche Begriffsmerkmale für „Versicherung“ im Rechtssinne Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Versicherungsbegriff durch folgende Merkmale bestimmt ist:476 „Versicherung“ dient der Zukunftsvorsorge 472

Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 73. Die Gesetzgebungskompetenz hierfür resultiert dann aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 (privatrechtliches Versicherungswesen), siehe BVerfGE 41, S. 205 (220 f.); ferner BVerfGE 103, S. 197 (216). 474 Siehe näher Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 71 f.; Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Zweite Hälfte, 1947, S. 75 ff. – Hinsichtlich öffentlicher Zwangs- und Monopolversicherungsanstalten sind die Länder zur Gesetzgebung befugt, denn Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (privatrechtliches Versicherungswesen) greift nicht, wenn die Versicherungsverhältnisse wie in diesem Fällen öffentlich-rechtlich geregelt sind, BVerfGE 10, S. 141 (162 f.); 41, S. 205 (220). 475 Siehe näher dazu Reinhard Renger, Gesetz zur Überleitung landesrechtlicher Gebäudeversicherungsverhältnisse, VersR 1993, S. 942 ff.; die betreffende Landesgesetzgebungskompetenz (siehe die vorhergehende Fußnote) hat damit praktisch erheblich an Bedeutung verloren, siehe Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 100. 476 Auf den Versuch, die nachfolgenden Merkmale im Rahmen einer in einem Satz zusammengefügten Definition zu präsentieren, wird vorliegend verzichtet, um der unnötigen Gefahr aus dem Weg zu gehen, hierbei vor allem eines zu schaffen: ein „sprachliches Mißgebilde“ (Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 76). Siehe insoweit auch die amüsante Kritik von v. Gierke, a. a. O., S. 76 f., Fn. 1, in bezug auf die teils an die legendäre Definition des Begriffes „Eisenbahn“ durch das Reichsgericht, RGZ 1, S. 247 (251 f.), erinnernden Versuche, eine in einem Satz zusammengefaßte Definition von „Versicherung“ zu bewerkstelligen. – Es sei hier erlaubt, an diese wohl „eindrucksvollste“ aller Definitionen zu erinnern: Das Reichsgericht, a. a. O., S. 252, hatte damals den Begriff Eisenbahn definiert als „Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, bzw. die Erzielung einer 473

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zur Erzielung von Mitteln, die der Kompensation eines ungewissen, wirtschaftlich nachteiligen Ereignisses dienen. Ihre Funktion besteht also in der wirtschaftlichen Absicherung durch wirtschaftliche Kompensation des aus dem eingetretenen Ereignis resultierenden wirtschaftlichen Nachteils bzw. Bedarfs. Die mit der Versicherung verbundene Risikoübernahme durch den Versicherer muß auf entgeltlicher (wechselseitiger) Basis erfolgen und einen Rechtsanspruch des von der Versicherung Begünstigten auf Erhalt der Versicherungsleistung bei Eintritt des Versicherungsfalles begründen. Das aus der Versicherung resultierende Rechtsverhältnis muß sich dergestalt als „selbständig“ erweisen, daß es im Rahmen einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung eine gewisse beherrschende Bedeutung hat und nicht in einem inneren wirtschaftlichen Zusammenhang mit einem anderen Rechtsgeschäft steht, neben welchem es nur als zusätzliche Erweiterung bzw. unselbständige Nebenabrede erscheint. Darüber hinaus kann der spezifische Charakter einer Versicherung darin erblickt werden, daß sie (planmäßig) auf die Übernahme einer Vielzahl von Risikogeschäften, mithin auf eine polypersonale wirtschaftliche Grundlage ausgerichtet ist, um angesichts des Umstandes, daß sich (aller Wahrscheinlichkeit nach) nur ein Teil der Risiken verwirklichen wird, eine Risikostreuung nach dem Gesetz der großen Zahl ermöglichen zu können.

verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektrizität, tierischer oder menschlicher Muskelthätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung usw.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, aber auch Menschenleben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist.“ Ähnlich schwerfällig geraten ist etwa die Definition des „Versicherungsvertrags“ durch Albert Ehrenzweig, Versicherungsvertragsrecht, 1935, S. 105; Deutsches (österreichisches) Versicherungsvertragsrecht, 1952, S. 60: „Versicherungsvertrag ist ein Vertrag, bei dem sich der eine Vertragsteil gegen Entgelt (,Prämie‘) entweder (1.) dazu verpflichtet, nach Maßgabe des Vertrages jenen Vermögensschaden zu ersetzen, der durch ein, je nach Abrede Person oder Vermögen betreffendes Schadensereignis etwa verursacht wird; oder (2.) dazu verpflichtet, den im Vertrag festgesetzten Betrag an Kapital oder Rente zu bezahlen oder die sonst vereinbarte Leistung zu bewirken, dies je nach Abrede entweder (a) nach Eintritt eines zumindest dem Zeitpunkt nach ungewissen Personen-Schadenereignisses (Tod, Unfall usw.) oder eines anderen vom Vertragsverkehr bestimmten Lebensereignisses (Verehelichung, Ehescheidung, Kindesgeburt usw.) oder (b) schlechtweg in einem bestimmten Zeitpunkt, vorausgesetzt, daß sich aus einer Vertragsbestimmung, die an Leben oder Sterben einer Person anknüpft, die Ungewißheit des wirtschaftlichen Enderfolges für beide Teile ergibt.“ – Angesichts solcher sprachlichen Ungetüme ist man geneigt, v. Gierke, a. a. O., S. 77, Fn. 1, beizupflichten, wenn er feststellt, „daß es so wirklich nicht geht.“

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(b) Unmaßgebliche Merkmale für den rechtlichen Versicherungsbegriff; Merkmale eines sog. „Versicherungsprinzips“ Unmaßgeblich für den Versicherungsbegriff ist es, ob die Einrichtung der Versicherungsaufsicht unterliegt. Letzteres ist Folge, nicht Grund einer Versicherung. Genauso wenig kommt es darauf an, ob die Versicherung fakultativ oder obligatorisch ist. Auch das Vorhandensein einer (bestimmten) Unternehmensform ist unmaßgeblich. Nicht begriffswesentlich für eine „Versicherung“ im rechtlichen Sinne sind des weiteren Merkmale, welche allein der Beurteilung der Qualität einer Versicherung dienen und insoweit kalkulatorische, versicherungsmathematische oder organisatorische Kriterien beinhalten. Hierzu zählen die „Schätzbarkeit“ bzw. „Versicherbarkeit“ des vom Versicherer übernommenen Risikos ebenso wie die „Gleichartigkeit“ der versicherten Risiken. Ferner gehört hierzu die „Äquivalenz“ von Beiträgen und Leistungen, sei es in Gestalt einer Individual- oder einer Globaläquivalenz. Auch muß die Gesamtheit der Versicherungsleistungen nicht (allein) aus der Gesamtheit der Beiträge der Versicherten aufgebracht werden; ebensogut können zusätzlich Mittel, welche nicht aus Beitragsleistungen resultieren (z. B. Zuschüsse von außen), zur Deckung herangezogen werden, ohne daß dies die Versicherungseigenschaft beeinträchtigt. Soweit solche Merkmale, die sich vor allem in rein wirtschaftswissenschaftlichen oder versicherungsmathematisch basierten Begriffsbestimmungen von „Versicherung“ antreffen lassen477, immer wieder Eingang auch in rechtliche Begriffsbestimmungen von „Versicherung“ finden, beruht dies augenscheinlich nur darauf, daß Versicherungsgeschäfte nahezu ausschließlich gewerblich betrieben werden (im Gegensatz beispielsweise zu Kaufgeschäften, die zumindest in gewissen Maße auch rein privat getätigt werden), so daß sich aufgrund dessen bzw. aufgrund des Bestrebens nach wirtschaftlicher Rationalität und dauerhafter Leistungsfähigkeit bestimmte kalkulatorische, versicherungsmathematische oder organisatorische Typizitäten, ja Prinzipien herausgebildet haben, die insoweit das Erscheinungsbild (gewerblicher) Versicherungsunternehmen prägen, weil es wirtschaftlich sinnvoll ist, auf Grundlage großer Gefahrengemeinschaften vor allem möglichst „schätzbare“ Risiken gleicher Art zu versichern und zumindest globaläquivalent zu wirtschaften, nach Möglichkeit sogar individualäquivalent. Letztlich handelt es sich damit aber „nur“ um aus der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit heraus geborene Prinzipien, die es nahelegen, einen Versicherungsbetrieb auf diese Art zu führen, und sie sind insoweit vor allem für die Versicherungswirtschaft interessant. Insoweit mag es gerechtfertigt sein, diese idealtypi477 Siehe etwa bei Silvia Simon, Umverteilung in der Sozialversicherung, 2001, S. 73 ff.

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schen wirtschaftlichen Kriterien unter dem Begriff eines rein wirtschaftlich zu verstehenden „Versicherungsprinzips“ zusammenzufassen478. Rechtlich gesehen machen diese Prinzipien es aber nicht notwendig, eine Unternehmung gerade auf diese Weise durchzuführen, um von einer „Versicherung“ sprechen zu können. Genau so wenig sind etwa die kalkulatorischen Prinzipien eines typischen Handelsgewerbes maßgeblich für die Beurteilung, ob ein Kauf vorliegt. Soweit „Versicherung“ als Typus begriffen wird479 und diese vorliegend für unmaßgeblich erachteten Kriterien im Rahmen der Typuslehre480 als „typusbildende“ angesehen werden, welche – wie es der Eigenart der Typuslehre entspricht – vorliegen können, es aber nicht müssen, zeigt dies nicht nur die Verzichtbarkeit dieser Kriterien, sondern auch die Schwächen der typologischen Erfassung, durch welche nicht klar gemacht wird, in welchem Maße das Vorliegen (oder Nichtvorliegen) der Merkmale zur Annahme einer „Versicherung“ führt – zumal die hier für begriffswesentlich erachteten Merkmale auch von den Vertretern der Typuslehre an sich als unverzichtbar erachtet werden müßten, obwohl dies der Typuslehre eigentlich widerspricht. Der Versicherungsbegriff ist also auf die hier als maßgebliche genannten begriffsnotwendigen Merkmale beschränkt. Seine durch Hinzunahme insbesondere kalkulatorischer oder versicherungsmathematischer Kriterien zu starke Verengung481 ist – insbesondere im Hinblick auf seine Verwendung auf Verfassungsebene – abzulehnen. dd) Sozialversicherung als „Versicherung“ (1) Sozialversicherung und die Strukturelemente einer „Versicherung“ Ist mit den vorhergehenden Ausführungen der Inhalt des Versicherungsbegriffes bestimmt, kann nun überprüft werden, ob „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bzw. die hierfür in ihren Grundstrukturen als Leitbild dienende „klassische Sozialversicherung“ den für das Vorliegen einer Versicherung maßgeblichen Merkmalen entspricht. Auf die bereits erfolgte Herleitung und Beschreibung dieser Merkmale sei hier zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. 478 Siehe näher zur Bedeutung eines so verstandenen Versicherungsprinzips für den Begriff „Sozialversicherung“ unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (2). 479 Jürgen Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., 2004, § 1 Rn. 16. 480 Zur Typuslehre und der Kritik an ihr siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 3. d) und f). 481 Reimer Schmidt, Gedanken zum Begriff der Versicherung, in: Festgabe für Erich R. Prölss, 1957, S. 247 (252).

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(a) Versicherungsfunktion Die Sozialversicherung dient dem Ausgleich eines wirtschaftlichen Nachteils bzw. der Deckung eines Bedarfs, welcher infolge des Eintritts eines ungewissen Ereignisses (z. B. Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes) entsteht und erfüllt somit unproblematisch die Funktion einer Versicherung. Auf die häufig so bezeichnete „Versicherbarkeit“ in Gestalt einer Schätzbarkeit der versicherten Risiken kommt es dabei nicht an, da die Schätzbarkeit – welche etwa für das Risiko „Arbeitslosigkeit“ verneint wird – letztlich nur eine für den Versicherungsbegriff unmaßgebliche Kalkulationsgröße darstellt, welche die wirtschaftliche Rationalität einer Versicherung beeinflußt, nicht aber darüber entscheidet, ob die Absicherung des betreffenden Risikos begrifflich eine „Versicherung“ darstellt. (b) Ungewißheit des nachteiligen Ereignisses Die Ungewißheit des potentiellen Schadensereignisses kann sowohl auf den generellen Eintritt, den Zeitpunkt des Eintritts oder auch nur auf die Dauer der Wirkung des abgesicherten Ereignisses bezogen sein. Dies trifft auf alle über die „klassische“ Sozialversicherung abgesicherten Risiken zu: Bei den Risiken Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit (und auch bei der Pflegebedürftigkeit), ist bereits das generelle „Ob“ des Eintritts, jedenfalls aber der Zeitpunkt des Eintritts ungewiß, bei dem Risiko „Alter“ bzw. „altersbedingte Erwerbslosigkeit“ ist jedenfalls die Dauer der Wirkung dieses Ereignisses, gegebenenfalls auch der Zeitpunkt dessen Eintritts ungewiß. Allerdings werden in der Sozialversicherung diese Risiken mitunter auch dann abgesichert, wenn sie sich bereits realisiert haben; so leistet etwa die gesetzliche Krankenversicherung auch dann Versicherungsschutz, wenn die Krankheit bereits vor Versicherungsbeginn aufgetreten ist (sog. Vorerkrankungen). Mitunter wird dies als Argument gegen den Versicherungscharakter der Sozialversicherung angeführt, weil aufgrund dieser sozial bedingten Modifizierung des Versicherungsschutzes keine „ungewissen“ Ereignisse mehr abgesichert würden.482 Hiergegen spricht aber, daß die abgesicherten Risiken (Krankheit etc.) sich insgesamt gleichwohl als ungewisse darstellen und prinzipiell auch für diesen Fall abgesichert werden. Die Modifizierung hinsichtlich bereits verwirklichter Schadensfälle besteht hier nur darin, daß der Versicherungsschutz ausnahmsweise aus sozialen Gründen auf einen früheren Zeitpunkt erstreckt, 482 So bereits etwa Walter Kaskel/Fritz Sitzler, Grundriß des sozialen Versicherungsrechts, 1912, S. 32; vgl. hierzu ferner Maximilian Fuchs, Privatversicherung und Sozialversicherung, VSSR 1991, S. 281 (308); Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (180 f.).

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also vorverlagert wird auf einem Zeitpunkt, in welchem auch der konkrete, bereits eingetretene Schadensfall als Teil eines insgesamt ungewissen Risikos seinerseits noch ungewiß war. Dies ist letztlich nur eine – sei es auch wirtschaftlich unvernünftige – Ausgestaltungsform der Absicherung eines insgesamt aber ungewissen Risikos, die zwar in der wirtschaftlich orientierten Privatversicherung unüblich ist, aber dem Begriffscharakter dieser Absicherungsform als „Versicherung“ letztlich nicht entgegensteht.483 (c) Selbständigkeit Die Sozialversicherung bedingt auch völlig unproblematisch ein selbständiges Rechtsverhältnis, das nicht bloß unselbständig neben einem anderen Rechtsverhältnis steht. (d) Entgeltlichkeit (aa) Sozialversicherungsbeitrag als entgeltliche Gegenleistung Die Sozialversicherung ist auch entgeltlich, da die Sozialversicherten Beiträge zu entrichten haben, die als „Gegenleistung“484 für den gewährten Versicherungsschutz zu entrichten sind. Diese Sozialversicherungsbeiträge sind – anders als etwa Steuern – von vornherein an einen ganz bestimmten Zweck gebunden, nämlich die Finanzierung der Sozialversicherung bzw. der Sozialversicherungsleistungen.485 Insoweit stellen sie letztlich ein Entgelt dar, mittels welchem der Sozialversicherungsschutz „erkauft“ wird.486 (a) Entgeltlichkeit und mangelnde Individualäquivalenz Daß der Sozialversicherungsbeitrag dabei regelmäßig nicht eine versicherungsmathematisch äquivalente Gegenleistung zum gewährten Versicherungs483 Jedenfalls im Ergebnis ebenso etwa Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 94; Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (181). 484 Siehe etwa Josef Isensee, Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (23). 485 Siehe etwa BVerfGE 75, S. 108 (148); Josef Isensee, Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (23). 486 Vgl. Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (16); siehe auch Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 143, der insoweit von der „versicherungsmäßigen Natur“ des Sozialversicherungsbeitrages spricht.

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schutz darstellt, beeinträchtigt seinen Entgeltcharakter nicht, da sich ein „Entgelt“ nicht dadurch konstituiert, daß es auch objektiv wirtschaftlich angemessen ist.487 (b) Entgeltlichkeit und Mitversicherung Dritter Ebensowenig steht es dem Entgeltcharakter der Sozialversicherungsbeiträge entgegen, daß einzelne Versicherte keine eigenen Beiträge leisten, sondern über die Beiträge anderer mitversichert sind (wie etwa im Rahmen der Familienversicherung). Denn letztlich wird auch ihr Versicherungsschutz entgeltlich erworben, auch wenn das Entgelt von einem Dritten entrichtet wird. Voraussetzung für den Entgeltlichkeitscharakter ist hierbei allerdings, daß der Versicherungsschutz des Dritten auch im Interesse des Beitragszahlers liegt (was im Rahmen der Familienversicherung im Rahmen einer zumindest formalisierten Betrachtung anzunehmen ist), da ansonsten aus dessen Sicht keine entgeltliche Gegenleistung vorliegt. Daß dessen Entgelt nicht nur seinen Versicherungsschutz, sondern auch den seiner mitversicherten Familienmitglieder bewirkt, ist dann eine bloße Ausgestaltungsmodalität des gewährten Versicherungsschutzes. (g) Entgeltlichkeit und Arbeitgeberbeitrag; „Beteiligte“ der Sozialversicherung Fraglich ist, ob es dem Versicherungs- bzw. Entgeltcharakter der Sozialversicherung entgegensteht, daß die Sozialversicherungsbeiträge regelmäßig teilweise von den Arbeitgebern der Versicherten getragen werden488. Nach der Begriffsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts ist maßgeblich für den verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff „Sozialversicherung“, daß deren Mittel durch Beiträge der „Beteiligten“ aufgebracht werden489. Der Begriff der „Beteiligten“ geht dabei über den Begriff der „Versicherten“ hinaus und umfaßt „herkömmlich die Versicherten und ihre Arbeitgeber“490. Im übrigen sei Beteiligter „nicht einfach jeder, den der Gesetzgeber mit einer Abgabe belegt, deren Aufkommen zur Finanzierung von Sozialleistungen verwandt wird. Die Heranziehung nicht 487 Im Ergebnis ebenso vom Entgeltcharakter ausgehend, allerdings mit abweichender Begründung Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 40: Der Entgeltcharakter einer Abgabe erfordere, daß diese auf individuale Äquivalenz angelegt ist. Dies sei beim Sozialversicherungsbeitrag aber – trotzdem sich Leistung und Gegenleistung nicht die Waage halten – noch der Fall, da bei ihm die Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung nur gelockert, aber nicht gelöst sei. 488 Siehe etwa für die gesetzliche Krankenversicherung die Pflicht zur hälftigen Tragung gemäß § 249 SGB V. Siehe insgesamt die Übersicht über die einschlägigen Normen bei Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 7 Rn. 61. 489 BVerfGE 11, S. 105 (113); 75, S. 108 (146 f.). 490 BVerfGE 11, S. 105 (113).

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selbst Versicherter als Beteiligter bedarf vielmehr eines sachorientierten Anknüpfungspunktes in den Beziehungen zwischen Versicherten und Beitragspflichtigen, der diese Heranziehung nicht außerhalb der Vorstellungen erscheinen läßt, von denen die Sozialversicherung in ihrem sachlichen Gehalt bestimmt wird.“491 Im Hinblick auf den Beitragsanteil des Arbeitgebers, welcher der „klassische“ nicht-versicherte Beteiligte ist492, wird dieser sachorientierte Anknüpfungspunkt vom Bundesverfassungsgericht erblickt in einer „sozialen Fürsorgepflicht“ der Arbeitgeber „für ihre Arbeitnehmer“, mithin einem „Fürsorgeprinzip [. . .], von der das moderne Arbeitsleben geprägt ist“493. Anerkennt man eine solche Fürsorgepflicht innerhalb des in vielfacher Hinsicht und in besonderer Weise und Dichte ausgestalteten Verhältnisses abhängiger Beschäftigung (siehe § 7 SGB IV)494, dann besteht angesichts dessen auch das zumindest nach formalisierter Betrachtung anzunehmende Interesse der Arbeitgeber hinsichtlich des Versicherungsschutzes der Arbeitnehmer, welches – vergleichbar den eben im Vorhergehenden gemachten Ausführungen zur Familienversicherung – den Arbeitgeberbeitrag zu einem Entgelt für den Versicherungsschutz eines Dritten macht. Dieser Aspekt kommt letztlich auch in der gesetzlichen Unfallversicherung zum tragen, in welcher die Besonderheit besteht, daß dort die Beiträge zur Gänze von „den Unternehmern“ zu tragen sind (siehe § 150 Abs. 1 SGB VII). Hintergrund für den dortigen Sonderweg ist neben dem besonders in die Verantwortung der Unternehmer fallenden Schutz der Beschäftigten bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vor allem der weitreichende Haftungsausschluß nach § 104 SGB VII, der ein besondere Interesse der Unternehmer an der Versicherung der Beschäftigten mit sich bringt und den sich der Unternehmer durch seine Beitragspflicht gewissermaßen „erkauft“,495 so daß auch die vollständig vom Unternehmer zu tragenden Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung Entgeltcharakter haben. Ferner ergibt sich der Entgeltcharakter der Arbeitgeberanteile an den Sozialversicherungsbeiträgen aber auch noch aus einem ganz anderen, mindestens ebenso maßgeblichen Gesichtspunkt: der Arbeitgeberbeitrag ist nämlich als Teil der Lohn(neben)kosten letztlich ein externer Lohnbestandteil der Bezüge des Arbeitnehmers und wirtschaftlich somit jedenfalls faktisch dem Versicherten zu491

BVerfGE 75, S. 108 (146 f.). Vgl. BVerfGE 11, S. 105 (113). 493 BVerfGE 11, S. 105 (113, 114); siehe ferner etwa BVerfGE 14, S. 312 (317); Lerke Osterloh, Verfassungsfragen der Künstlersozialabgabe, NJW 1982, S. 1617 (1621). 494 Siehe hierzu auch BVerfGE 75, S. 108 (158 f.); Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 8 Rn. 20. 495 Siehe Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 7 Rn. 61, § 10 Rn. 20, 79 ff. 492

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zurechnen; daß er vom Arbeitgeber abgeführt und nicht dem Versicherten ausbezahlt wird, hat historische Gründe.496 Insoweit läßt sich der Arbeitgeberbeitrag auch aus Sicht des Versicherten selbst als „Entgelt“ für damit bewirkten Versicherungsschutz ansehen, d. h. der Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag wird hier faktisch-wirtschaftlich vollständig von den Versicherten bzw. den Mitgliedern getragen.497 Die für die Eigenschaft des Arbeitgebers als nicht-versicherter Beteiligter maßgeblichen sachorientierten Anknüpfungspunkte stehen dem Entgeltlichkeitsund damit dem Versicherungscharakter der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG mithin nicht entgegen. (d) Entgeltlichkeit und Finanzierung durch Nicht-Beiträge (Zuschüsse, Steuern) Wie bereits oben498 dargelegt, verlangt das Versicherungsmerkmal der Entgeltlichkeit auch nicht, daß die Finanzmasse der Versicherung sich ausschließlich aus den erhobenen Entgelten (Beiträgen) zusammensetzt. Ob zur tatsächlichen Absicherung aller Versicherten deren Beitragsaufkommen genügt, oder ob hierzu weitere Mittel wie etwa Zuschüsse o. ä. in die Finanzmasse der Versicherung eingestellt werden müssen, entscheidet allenfalls über die dauerhafte wirtschaftliche Stabilität einer Versicherung, nicht aber über ihr begriffliches Vorliegen. Insoweit steht es dem Entgeltlichkeits- resp. Versicherungscharakter der Sozialversicherung auch grundsätzlich nicht entgegen, daß zur Gewährleistung ihres finanziell-wirtschaftlichen Gleichgewichts gegebenenfalls Zuschüsse nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG neben die Beitragseinnahmen hinzutreten.499 Der Entgeltlichkeitscharakter und damit der Versicherungscharakter der Sozialversicherung wäre allerdings nicht mehr gegeben, sofern sie überhaupt nicht mehr durch Versichertenbeiträge, sondern ausschließlich durch Fremdmittel finanziert würde. Ein rein steuerfinanziertes System der Absicherung gegen soziale Risiken könnte also nicht mehr als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfaßt werden, weil es das für diesen Kompetenztitel essentielle Merkmal der entgeltlichen Beitragsfinanzierung500 nicht mehr erfüllen würde. 496 Siehe Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (18); ferner auch Ferdinand Kirchhof, Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, in: SDSRV 35 (1992), S. 65 (74 f.). 497 Siehe indes zur Problematik der sog. Künstlersozialabgabe (§§ 23 ff. KSVG) unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (3) (b) (bb) (e). 498 Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (i). 499 Vgl. BVerfGE 109, S. 96 (110). 500 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (112 f.) – st. Rspr.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Darüber hinaus wird man verlangen müssen, daß die Entgeltlichkeit, sprich die Beitragsfinanzierung, nicht zu weit in den Hintergrund gegenüber einer zusätzlichen Finanzierung durch Zuschüsse tritt, soll die Sozialversicherung nicht ihren Entgeltlichkeitscharakter verlieren und damit „entversichert“ werden.501 Über die Beitragsfinanzierung hinaus gehende „Zuschüsse“ (siehe Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) sind dabei schon begriffsnotwendig auf eine Teilfinanzierung beschränkt.502 Wo allerdings die Grenze im Verhältnis zwischen Beitrags- und Zuschußanteil liegt, ab welcher das Versicherungsmerkmal der „Entgeltlichkeit“ nicht mehr gegeben ist, ist schwierig zu beantworten. Wollte man hier eine konkrete prozentuale Grenze festlegen, so läge die einzige zahlenmäßige Grenzziehung, die sich nicht dem Vorwurf der Willkür aussetzen ließe, bei 50%, weil allein bei dieser Grenzziehung ein stichhaltiger nomineller Ansatz vorhanden wäre, nämlich das quantitative Überwiegen. Insoweit wird teilweise auch vertreten, daß der durch entgeltliche Eigenfinanzierung gekennzeichnete Versicherungscharakter regelmäßig dann verloren gehe, wenn die Beitragsgrundlage nicht mehr wenigstens 50% des Gesamtaufkommens erreicht, weil ansonsten der Versicherungscharakter gegenüber dem in der Regel steuer(zuschuß)finanzierten Fürsorgeanteil an der Finanzierungsgrundlage in den Hintergrund trete.503 Ob eine solche strikte Grenzziehung bei 50% – ihrer praktischen Handhabbarkeit zum Trotz – auch in der Sache überzeugend ist, erscheint aber zweifelhaft.504 Zum einen geht diese Ansicht selbst davon aus, daß diese Grenzziehung nur eine „regelmäßige“ ist, in „Krisensituationen“ aber anderes gelten könne505 – was ihre normative Verbindlichkeit schwächt. Und zum anderen könnte hierdurch der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum für eine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unter Umständen in einer nicht sachangemessenen Weise beschränkt werden: Würde man nämlich den Versichertenkreis der Sozialversicherung ihrer ursprünglichen Schutzintention entsprechend 501 Siehe etwa Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 25; Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 74 f. 502 Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 110; Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 37; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 30; ders., Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588); siehe auch Michael Kilian, Finanzströme zwischen öffentlichen Haushalten im Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 87 (122 f.). 503 So etwa Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 75. 504 Gegen eine Grenze in Gestalt eines „exakten Prozentsatzes“ zu Recht auch Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 39. 505 Siehe Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 75.

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deutlich reduzieren (gegenüber den derzeitigen 90% der Bevölkerung) auf allein die tatsächlich oder in besonderem Maße Schutzbedürftigen und/oder sozial Schwachen, so wäre das System wegen der damit verbundenen Konzentration auf ausschließlich „schlechte Risiken“ (geringes Einkommen, hohe individuelle Risikowahrscheinlichkeit) bei gleichzeitiger „sozialer“ Bemessung der Beiträge allein nach der Leistungsfähigkeit in steigendem Maße auf Zuschüsse von außen angewiesen, weil dann das Beitragsaufkommen allein immer weniger zur Kostendeckung beitragen kann. Die beschriebene 50%-Grenze zwischen Beitragsaufkommen und zusätzlichem Finanzbedarf in Form von steuerfinanzierten Zuschüssen wäre unter Umständen schnell erreicht und umso schneller erreicht, je geringer das Gesamtbeitragsaufkommen wird. Damit würde aber gerade dann, wenn man die Sozialversicherung im Hinblick auf den Versichertenkreis wieder stärker zu ihren Wurzeln zurückführen wollte und nur die Bedürftigsten durch sie absicherte (1885, nach Einführung der Sozialversicherung unter Bismarck, lag die Versichertenquote bei gerade einmal 9%, 1910, kurz vor Einführung der Reichsversicherungsordnung, bei knapp 20%)506, das Risiko ihrer „Entversicherung“ steigen, was der Sache nach fast schon ein Widerspruch in sich wäre. Insoweit erscheint ein allzu formales Abstellen auf eine 50%Grenze im Verhältnis zwischen Beitrags- und Zuschußaufkommen sachlich nicht überzeugend. Die Grenze, ab welcher das Versicherungsmerkmal der Entgeltlichkeit nicht erfüllt wäre, wird man daher wohl eher dort zu ziehen haben, wo die Beitragsfinanzierung gegenüber eventuellen Zuschüssen keinerlei eigenständiges Gewicht mehr besitzt und zur bloßen Marginalie gerät, die Beiträge von den Zuschüssen also deutlich überwogen werden.507 Wann dies genau der Fall ist, muß einer Einzelfallbeurteilung überlassen bleiben. Ein an sich steuerfinanziertes System sollte aber jedenfalls nicht allein deshalb auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die „Sozialversicherung“ gestützt werden können, weil rein formal der Gesetzgeber völlig unzureichende und auch für die Versicherten als Entgelt kaum „spürbare“ Bagatellbeiträge vorsieht; hierdurch würde letztlich der inhaltliche Kernbestand der Materie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG umgangen.

506 Siehe ausführlich zur historischen Entwicklung der Sozialversicherung oben 1. Teil, I. 507 In diese Richtung wohl auch BVerfGE 109, S. 96 (110): jedenfalls sei für eine „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG noch ausreichend, wenn „die von den Versicherten geleisteten Beiträge jedenfalls noch als erheblicher Anteil an der Finanzierung angesehen werden können“ – was das Gericht im behandelten Fall der Alterssicherung der Landwirte sogar noch bei einem Steuerzuschuß von um die 70% bejahte. Vgl. ferner auch Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 39: Beiträge der Beteiligten müssen zumindest „maßgebendes und prägendes Finanzierungsinstrument bleiben“.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Jedenfalls keine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wäre mangels Entgeltlichkeitscharakter aber ein rein steuerfinanziertes Absicherungsmodell.508 Als Gesetzgebungskompetenz hierfür käme indes Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG („öffentliche Fürsorge“) in Betracht509. (bb) Kompetenzgrundlage für Sozialversicherungsbeiträge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge ist nach einhelliger Ansicht von der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG mitumfaßt.510 Die Finanzierung der „Sozialversicherung“ durch Sozialversicherungsbeiträge ist ein bestimmendes Inhaltsmerkmal der betreffenden Kompetenzmaterie, da das System Sozialversicherung von vornherein auf eine eigenständige Finanzierung durch die Erhebung von „Beiträgen“ durch die Versicherten ausgerichtet ist.511 Dies war, wie bereits oben dargelegt, auch eines der zentralen Anliegen bei Schaffung der Sozialversicherung unter Bismarck, da eine staatliche Sozialleistung, die nach Aufbringung eigener Beiträge in Anspruch genommen werden konnte und die man sich insofern – anders als ein staatliches Almosen – „redlich verdient“ hatte, nicht nur der Absicherung, sondern auch der Schaffung eines „selbstbewußteren“ sozialen Status der damals zunächst geschützten Arbeiter dienen sollte.512 (cc) Rechtsnatur der Sozialversicherungsbeiträge Im Hinblick auf die Abgrenzbarkeit zu anderen staatlichen Abgaben, aber auch hinsichtlich daraus gegebenenfalls resultierender, besonderer materieller 508

Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 60; Wolfgang Rüfner, Möglichkeiten und Grenzen einer Neuordnung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sozialleistungssysteme, in: SDSRV 45 (1999), S. 101 (102 f.). 509 Siehe ausführlich zu diesem Kompetenztitel und seiner Abgrenzung zur „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unten 2. Teil, Abschnitt 2, I. 510 Siehe etwa BVerfGE 75, S. 108 (148); 81, S. 156 (185 f.); 89, S. 132 (144); 99, S. 202 (212); Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (659); Josef Isensee, Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (18); Ferdinand Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 (162 f.); Heinrich Reiter, Soziallast als Steuerlast, in: Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitk – Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 1101 (1104). 511 Vgl. etwa BVerfGE 11, S. 105 (113). 512 Siehe oben 1. Teil, I. 3.

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Vorgaben für die Zulässigkeit der Erhebung, ist die Rechtsnatur der Sozialversicherungsbeiträge von Bedeutung. (a) Abgrenzung zur Steuer einschließlich der sog. Zwecksteuer Unter Steuern im Sinne des Grundgesetzes versteht man einmalige oder laufende Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einkünften allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.513 Sie dienen insoweit der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs, den der Staat zur Erfüllung allgemeiner Aufgaben benötigt.514 Als Abgrenzungsmerkmal zur Steuer nennt das Bundesverfassungsgericht zum einen, daß der Sozialversicherungsbeitrag anders als eine Steuer nicht in den allgemeinen Staatshaushalt fließt515, sondern eine hiervon getrennte Finanzmasse speist, die Finanzmasse der Sozialversicherung also im Gegensatz zu Steuern „sachlich und rechtlich von den allgemeinen Staatsfinanzen getrennt“ ist.516 Ob dies allein allerdings schon ausreichend sein kann für die Abgrenzung einer Abgabe gegenüber der Steuer, wird zu Recht bezweifelt, da ansonsten die Umgehung einer Steuer und der hinsichtlich ihrer bestehenden Vorgaben der Art. 105 ff. GG allzu leicht dadurch bewerkstelligt werden könnte, daß das Aufkommen einer Abgabe, welche im übrigen alle Merkmale einer Steuer erfüllt, vom Staat einfach in einen außerhalb des allgemeinen Staatshaushalts stehenden Parafiskus umgeleitet wird517. Auch Art. 110 Abs. 1 GG, nach welchem alle Einnahmen des Bundes in den Haushaltsplan einzustellen sind, deutet darauf hin, daß der Zufluß des Abgabenaufkommens in den allgemeinen Staatshaushalt kein Begriffsmerkmal der Steuer, sondern vielmehr materielle Verfassungsmäßigkeitskeitsvoraussetzung für diese ist.518 513 BVerfGE 49, S. 343 (353 ff.); 65, S. 325 (344); 72, S. 330 (433); 93, S. 319 (346); Markus Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 105 Rn. 12. – § 3 Abs. 1 AO, auf den insoweit Bezug genommen wird, dient diesbezüglich als Auslegungshilfe, siehe Klaus Vogel/Hannfried Walter, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Vorbemerkungen zu Art. 104a–115 Rn. 371. 514 Joachim Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 771 (779). 515 Vgl. hierzu auch BVerfGE 91, S. 186 (201). 516 BVerfGE 75, S. 108 (148). 517 Siehe Josef Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, S. 435 (438 f.). 518 In diese Richtung augenscheinlich auch BVerfGE 55, S. 274 (305), wonach die konkrete haushaltsmäßige Behandlung einer Abgabe keine konstitutive Bedeutung für ihre verfassungsrechtliche Qualifizierung als Steuer habe.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Über die Separierung des Sozialversicherungsvermögens vom allgemeinen Staatshaushalt hinaus sind es vielmehr gerade die strenge Zweckbindung des Sozialversicherungsbeitrages und seine Konnexität mit der durch ihn „erkauften“ Versicherungsleistung, die ihn von der Steuer abgrenzen. Die enge, schon von vornherein und von Verfassungs wegen bestehende Zweckbindung des Sozialversicherunsbeitrages besteht darin, daß sein Aufkommen nur zur Finanzierung der Sozialversicherung verwendet werden darf. Hierin finden die Sozialversicherungsbeiträge „ihren Grund und ihre Grenzen“519. Zwar kann auch das Aufkommen einer Steuer von vornherein zweckgebunden sein, jedoch ist bei einer solchen „Zwecksteuer“ die Bindung der Ausgabenseite an einen bestimmten Zweck immer noch weitaus allgemeinerer Natur als bei der ganz besonderen, spezifischen Zweckbindung des Sozialversicherungsbeitrags.520 Denn anders als beim Sozialversicherungsbeitrag besteht die Zweckbindung der Zwecksteuer nicht schon von Verfassungs wegen und besteht auch nicht unumstößlich hinsichtlich eines ganz bestimmten Zweckes, vielmehr kann die Zweckbindung der Zwecksteuer vom Gesetzgeber jederzeit wieder aufgehoben oder auf einen anderen Zweck umgewidmet werden. Ferner fehlt es der sog. Zwecksteuer auch – wie jeder Steuer – am Charakter einer Gegenleistung des Abgabenberechtigten zugunsten des Abgabepflichtigen, weswegen die Erhebung von Zwecksteuern auch nicht auf den Personenkreis beschränkt ist, der einen Vorteil aus dem öffentlichen Vorhaben ziehen.521 Vor allem dieser Gegenleistungsbezug des Sozialversicherungsbeitrags, sprich sein Entgeltcharakter, macht seinen wesentlichen Unterschied zur Steuer aus.522 (b) Abgrenzung zu Beiträgen und Gebühren Beiträge und Gebühren sind sog. Vorzugslasten, da sie eine Gegenleistung für eine besondere Leistung (den Vorzug) darstellen, welche der hoheitliche Abgabengläubiger dem Abgabenschuldner gewährt, wobei die Gebühr eine öffentlichrechtliche Geldleistung als Gegenleistung für die tatsächliche Inanspruchnahme einer individuell zurechenbaren öffentlichen Leistungen ist, wohingegen der Beitrag allein als Gegenleistung für die mit der Bereitstellung einer öffentlichen Leistung verbundene Möglichkeit zu deren Inanspruchnahme erhoben wird.523 519

BVerfGE 75, S. 108 (148). Vgl. BVerfGE 55, S. 274 (310 f.), allerdings zur Abgrenzung der Zwecksteuer gegenüber einer dort streitgegenständlichen „Berufsausbildungsabgabe“. 521 BVerfGE 7, S. 244 (254); 49, S. 343 (353 f.); 69, S. 325 (344); Markus Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 105 Rn. 15. 522 Siehe etwa Josef Isensee, Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (23). 523 Siehe zur allgemeinen Begriffsbestimmung etwa Markus Heintzen, in: v. Münch/ Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 105 Rn. 20. 520

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Insoweit läge beim Sozialversicherungsbeitrag die Einordnung als „Beitrag“ im finanzrechtlichen Sinne näher als die Einordnung als „Gebühr“, da die durch ihn abgedeckte Leistung „Absicherung im Versicherungsfall“ nicht konkret in Anspruch genommen werden muß, um die Abgabepflicht auszulösen; vielmehr reicht hierfür bereits deren Bereitstellung durch den Versicherungsträger.524 Die Titulierung als Sozialversicherungsbeitrag ist hingegen unmaßgeblich, da die Einordnung in die finanzrechtlichen Abgabenarten sich nach dem Inhalt einer Abgabe und nicht durch deren beliebig festsetzbare Bezeichnung richtet525. Beiträge, und ebenso Gebühren, sind allerdings als finanzieller Ausgleich für einen gewährten Vorzug streng auf die Deckung der Kosten des individuell zurechenbaren Aufwands ausgerichtet, welcher durch die Inanspruchnahme oder zumindest Bereitstellung einer Leistung entsteht.526 Daher charakterisieren sie sich durch eine strenge individuelle Äquivalenzbindung.527 Hierdurch allerdings unterscheiden sie sich von den Sozialversicherungsbeiträgen, da diese nicht allein dem Ausgleich eines individuell zurechenbaren (Versicherungs-)Aufwandes dienen, sondern darüber hinaus eine soziale Ausgleichskomponente enthalten (können), die losgelöst von der individuellen Äquivalenz der Beitragshöhe soziale Unterschiede ausgleicht,528 indem etwa – wie in der gegenwärtigen und traditionellen Ausgestaltung der Sozialversicherung – die Sozialversicherungsbeiträge nach dem individuellen Leistungsvermögen bemessen werden und nicht nach dem verursachten Aufwand.529 Als „Beitrag“ im abgabenrechtlichen Sinne kann der Sozialversicherungsbeitrag daher nicht eingestuft werden.530 524 So auch Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 32, der dort (S. 32, Fn. 5) aber zugleich darauf hinweist, daß auch die Einordnung als „Gebühr“ nicht völlig abwegig erscheint, wenn man darauf abstellt, daß die konkret in Anspruch genommene Leistung in der permanenten Freistellung von dem versicherten Risiko besteht. Hiergegen spricht allerdings, daß dann letztlich die Grenzen zwischen Beitrag und Gebühr verschwömmen, weil man danach auch schon in der bloßen Bereitstellung einer konkreten Leistung ihrerseits eine konkret in Anspruch genommene Leistung, nämlich eben die Bereitstellung der „eigentlichen“ Leistung, erblicken könnte. 525 Vgl. BVerfGE 55, S. 274 (304 f.). 526 Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 52; Paul Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rn. 45 ff., 68. 527 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 35; vgl. auch Paul Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rn. 45 ff., 68. 528 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 35. 529 Siehe ausführlich zur „sozialen“ Komponente der Sozialversicherung unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b). 530 Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 52; Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 36 f.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

(g) Abgrenzung zu Sonderabgaben Sonderabgaben sind im Grundsatz nichtsteuerliche Abgaben, die sich auch nicht als Gebühren oder Beiträge qualifizieren lassen.531 Gleichwohl fallen unter den Begriff der Sonderabgaben nicht alle Abgaben, welche sich nicht dieser „Abgabentrias“532 zuordnen lassen, sondern nur ein näher eingegrenzter Teil der nichtsteuerlichen Abgaben.533 Sonderabgaben sind nur solche nichtsteuerlichen Abgaben, die nicht aus einer eigenen Abgabenkompetenz erhoben werden, sondern unter Inanspruchnahme von Kompetenzen zur Regelung bestimmter Sachmaterien, die ihrer Art nach nicht (jedenfalls nicht von vornherein) auf Abgabenerhebung bezogen sind.534 Demgegenüber ist die Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „bereits aus sich heraus auch auf die Regelung der Finanzierung der Sozialversicherung, mithin die Erhebung von Sozialversicherungsabgaben gerichtet“535, so daß es sich bei den Sozialversicherungsbeiträgen nicht um Sonderabgaben handelt und für sie auch nicht die besonderen inhaltlichen Voraussetzungen gelten, unter denen Sonderabgaben nur erhoben werden dürfen536. Zu dem bei der Erhebung von Sonderabgaben typischen Konflikt mit den Regelungen der Finanzverfassung kann es nämlich nicht kommen537, weil Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG insoweit eine „Sonderkompetenz“ enthält, „die von den allgemeinen Regelungen der Finanzverfassung abgetrennt ist“538.

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Siehe BVerfGE 75, S. 274 (297). Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 51. 533 BVerfGE 81, S. 156 (187); Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 51. 534 BVerfGE 75, S. 108 (147); 81, S. 156 (187). – Dies ist letztlich auch der Grund für die besonderen materiellen Vorgaben, die für Sonderabgaben aus kompetenzrechtlichen Gründen aufgestellt werden (siehe zu diesen Vorgaben etwa BVerfGE 55, S. 274 [298 ff.]; 67, S. 256 [275 ff.]), weil eine Gefahr der Aushöhlung der detailierten Regelungen des Grundgesetzes zur Besteuerungskompetenz und der bundesstaatlichen Finanzverfassung insbesondere dann besteht, wenn (Sonder-)Abgaben unter Berufung auf Sachgesetzgebungskompetenzen ohne eigene Abgabenkompetenz erhoben und so ausgestaltet werden, daß sie an die Stelle von Steuern treten können, siehe BVerfGE 75, S. 108 (147). 535 BVerfGE 75, S. 108 (148). 536 BVerfGE 75, S. 108 (147). 537 BVerfGE 75, S. 108 (148). 538 Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (660). 532

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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(d) Abgabe eigener Art Da sich der Sozialversicherungsbeitrag somit weder als Steuer, noch als Gebühr oder Beitrag im finanzrechtlichen Sinne, noch als Sonderabgabe klassifizieren läßt, stellt er nach ganz herrschender Ansicht einen Abgabentyp eigener Art dar539. Sozialversicherungsbeiträge sind also Abgaben sui generis540 und treten somit neben Steuern, Beiträge, Gebühren und Sonderabgaben541. (dd) Konflikt mit Finanzverfassung bei Erstreckung auf die Gesamtbevölkerung? Stellt der Sozialversicherungsbeitrag auch eine eigene Abgabenart „sui generis“ dar, wird im Schrifttum542 gleichwohl häufig problematisiert (und vertreten), ob (bzw. daß) er zumindest dann in Konflikt mit den Regelungen der Finanzverfassung gerät und die Kompetenz für die Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG seine Erhebung nicht mehr deckt, wenn die „Sozialversicherung“ auf die Gesamtbevölkerung erstreckt würde (wie bei der sog. Bürgerversicherung) und dann als „allgemeine Staatsaufgabe“ nur einer Steuerfinanzierung vorbehalten sei. Da diese Problematik in engem Zusammenhang mit der Frage steht, ob der Inhalt der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von vornherein nur auf einen begrenzten Personenkreis gerichtet ist, der nicht die Gesamtbevölkerung umfassen darf, sei sie aus systema539 Siehe für viele Josef Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, S. 435 (447); Heinrich Reiter, Soziallast als Steuerlast, in: Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitk – Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 1101 (1104). 540 Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588). 541 Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 52. 542 Siehe Peter Axer, Verfassungsrechtliche Fragen einer Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 1 (3 f.); Josef Isensee, „Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396 ff.); ders., Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 41; Monika Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 105 Rn. 22; Ferdinand Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, NZS 2004, S. 1 (6); ders., Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 10; Walter Leisner, Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, 2005, S. 35 (48); Friedrich E. Schnapp/Markus Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001, S. 16, 23; vgl. ferner Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, S. 1689 (1694).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

tischen Gründen erst im Rahmen dieses Problemkomplexes ausführlich untersucht; auf diese an späterer Stelle erfolgenden Ausführungen sei hier insoweit verwiesen.543 (e) Verbindlicher Rechtsanspruch Merkmal einer Versicherung ist ferner die Gewährung eines verbindlichen Rechtsanspruchs hinsichtlich des Versicherungsschutzes; die Absicherung bei Eintritt des Versicherungsfalls darf nicht als bloße Fürsorgeleistung im Belieben des die Absicherung Gewährenden stehen. Hinsichtlich der Sozialversicherung ist dies erfüllt. In ihr ist die Leistungsgewährung im Hinblick auf die versicherten Risiken in besonders detaillierter Weise geregelt worden, eigenständige Beurteilungs- oder Ermessensspielräume der Sozialversicherungsträger vor allem hinsichtlich des „Ob“ der Leistungsgewährung stark durch gesetzliche Vorgaben eingeengt bis eliminiert.544 Die Leistungsgewährung durch die Versicherungsträger als Versicherer folgt fest vorgegebenen gesetzlichen Regeln und ist insbesondere auch nicht von einer konkreten Bedürftigkeit bei Vorliegen eines Versicherungsfalles abhängig. Die Einräumung verbindlicher Rechtsansprüche auf die Sozialversicherungsleistungen ist dabei die Kehrseite des Entgelt- und Gegenleistungscharakters infolge der Beitragsfinanzierung; es besteht insoweit also eine Konnexität zwischen der Beitragszahlung und dem gesicherten Erhalt einer konkreten Gegenleistung in Gestalt des gewährten Versicherungsschutzes. Dies war auch ausdrückliche Zielsetzung bei Schaffung der Sozialgesetzgebung unter Bismarck: Es sollte nämlich durch die Ausgestaltung der Sozialversicherung als „Versicherung“ – anders als bei der Armenpflege und öffentlichen Fürsorge – erreicht werden, einen gesicherten individuellen Rechtsanspruch auf die Hilfeleistungen zu erwerben, denn „nur dann verliert sie den Charakter des Almosens und verleiht dem bestimmungsmäßigen Empfänger diejenige Sicherheit des Beistandes, von der die psychologischen Wirkungen seiner Gewährung abhängen“.545

543

Siehe unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (4) (d). Vgl. Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 78. 545 Lutz Richter, Zum Aufbau der Sozialversicherung, in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Richard Schmidt, 1936, S. 1 (14); vgl. zu dieser Motivation für die Errichtung der Sozialversicherung als Versicherung aus der späteren Literatur etwa Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (55); Görg Haverkate, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, DVBl. 2004, S. 1061 (1062); Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 78. Siehe hierzu auch schon oben 1. Teil, I. 3. 544

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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(f) Polypersonale Ausrichtung zur Ermöglichung einer Risikostreuung Soweit man das Merkmal einer polypersonalen Ausrichtung für das Vorliegen einer Versicherung als maßgeblich erachtet, ist dies in der Sozialversicherung unproblematisch erfüllt, denn sie ist planmäßig auf die Übernahme einer Vielzahl von individuellen Risiken, mithin auf eine polypersonale wirtschaftliche Grundlage ausgerichtet, um aufgrund der Tatsache, daß sich (aller Wahrscheinlichkeit nach) nur ein Teil der Risiken verwirklichen wird, eine Risikostreuung nach dem Gesetz der großen Zahl zu ermöglichen. Wie bereits oben dargelegt, darf dabei aber das Merkmal der „Polypersonalität“ nur im Sinne der Absicht einer irgendwie gearteten Risikostreuung und nicht im Sinne einer Planmäßigkeit hinsichtlich bestimmter, versicherungsmathematisch anerkannter oder angezeigter Kalkulationsmethoden oder bestimmter Organisationsstrukturen verstanden werden, denn hierbei handelt es sich nur um Größen, welche eine bestimmte wirtschaftliche Rationalität oder Güte einer Versicherung sichern sollen – worauf es für den rechtlichen Versicherungsbegriff aber nicht ankommt.546 (g) Zusammenfassende Betrachtung Da nach dem hier ermittelten Ergebnis zum Versicherungsbegriff nur die soeben untersuchten Merkmale die begriffswesentlichen für das Vorliegen einer „Versicherung“ im Rechtssinne sind, bezieht sich die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG genannte Materie „Sozialversicherung“ also auf eine „Versicherung“ im Rechtssinne, da sie diese Begriffsmerkmale erfüllt. Um auf die Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden zu können, muß ein gesetzgeberisch installiertes System diese (und nur diese) Merkmale erfüllen, um als „Sozialversicherung“ gelten zu können. (2) Sozialversicherung und „Versicherungsprinzip“ (a) Das „Versicherungsprinzip“ als für die Versicherungseigenschaft unmaßgebliche Größe Soweit der Versicherungscharakter der Sozialversicherung über die bisher genannten Aspekte hinaus problematisiert, teils sogar abgelehnt oder selbst im Rahmen der ihn zumindest im Grundsatz anerkennenden herrschenden Meinung nur als „nicht in Reinform“, „modifiziert“, nur „im Kern“ bestehend oder in

546

Siehe bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (l) sowie (4) (b).

164

2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

sonstiger Weise abgeschwächt erfüllt angesehen wird,547 geschieht dies im Hinblick auf Merkmale, die nach dem hier aufgezeigten Inhalt des Versicherungsbegriffes überhaupt nicht wesentlich für das begriffliche Vorliegen einer Versicherung sind: So entzündet sich die Diskussion um den Versicherungscharakter von „Sozialversicherung“ vor allem an der im bestehenden System fehlenden Individualäquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen, da die Beiträge in der Sozialversicherung klassischerweise und in der derzeitigen Ausprägungsform des Systems unabhängig vom individuellen Risiko (in der gesetzlichen Krankenversicherung also etwa unabhängig von der individuellen Krankheitsanfälligkeit oder bestehenden Vorerkrankungen) kalkuliert werden, vielmehr prozentual in bezug auf das Einkommen, also nach der individuellen Leistungsfähigkeit bemessen sind.548 Da aber, wie zuvor gezeigt, die Äquivalenz kein begriffsnotwendiges Merkmal einer Versicherung ist, kann deren Fehlen auch nicht den Versicherungscharakter der Sozialversicherung in Frage stellen oder auch nur „modifizieren“549. Dasselbe gilt für das – etwa hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung bestrittene550 – Merkmal der „Schätzbarkeit“ bzw. „Versicherbarkeit“ oder im Hinblick auf die regelmäßig in der Sozialversicherung fehlende Freiwilligkeit des Versicherungsverhältnisses551, ferner für die mit dem Äquivalenzgedanken verknüpften Kriterien der „Wechselseitigkeit“ oder „Gegenseitigkeit“ oder die ebenfalls als „versicherungsuntypisch“ erachtete Bezuschussungsmöglichkeit (vgl. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG)552. Teils wird der „echte“ Versicherungscharakter der Sozialversicherung auch wegen „untypischer“ Leistungsbe547 Siehe dazu im einzelnen die Formulierungen und Nachweise oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) aa). 548 Siehe etwa Johannes Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festgabe für Walter Rohrbeck, 1959, S. 175 (184 ff.); Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 72 f.; Ulrich Schlie, Versicherungsmäßige und nicht-versicherungsmäßige Elemente in der gegenwärtigen sozialen Sicherung, insbesondere in der Sozialversicherung, ZVersWiss 1963, S. 281 (283); vgl. auch BVerfGE 76, S. 256 (300 f.). 549 So aber die Formulierung durch BVerfG-Kammer, NJW 2000, S. 2496. 550 Siehe diesbezüglich die näheren Erläuterungen bei Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 165 ff.; Günter Kamitz, Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos in der Sozialversicherung, 1989, S. 13 ff., insb. S. 18 f. 551 Unter anderem deswegen den Versicherungscharakter der Sozialversicherung ablehnend Wolfram Lamping, „Versicherungsfremde Leistungen“ – Historisch-systematisierende Anmerkungen zu einem sozialpolitischen Schlüsselbegriff, ZSR 1997, S. 52 (58): „[. . .] denn bei der Sozialversicherung handelt es sich eben nicht wie bei einem [. . .] Versicherungsvertrag um einen freiwilligen zweiseitigen, individuell gestaltbaren Vertrag nach den Bedingungen des Privatrechts, sondern um eine Zwangsveranstaltung für einen spezifischen Personenkreis.“ 552 Siehe etwa Walter Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Beiträge zur Sozialversicherung – Festgabe für Johannes Krohn, 1954, S. 35 (48).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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reitschaft in Frage gestellt, etwa wenn bereits bestehende Vorerkrankungen anders als in der Privatversicherung nicht zu Risiko- bzw. Leistungsausschlüssen oder Wartezeitenregelungen führen553; auch hierauf kommt es für den Versicherungscharakter aber – wie bereits gezeigt – nicht an. Letztlich kann man diese Merkmale, die zwar (ideal)typischerweise in der Privatversicherung erfüllt sind, in der Sozialversicherung wegen deren sozialer Eigenheiten aber regelmäßig gerade nicht, schlagwortartig als „Versicherungsprinzip“ umschreiben554 (auch wenn häufig der Begriff „Versicherungsprinzip“ nur zur Beschreibung des versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips, d. h. der individualäquivalenten555 Beitragsbemessung nach versicherungsmathematischen Grundsätzen anhand des individuellen Versichertenrisikos, Verwendung findet556, weil die Äquivalenz das wohl wesentlichste Element des Versicherungsprinzips ist557). Soweit der Versicherungscharakter der Sozialversicherung in bezug auf diese nicht begriffswesentlichen Merkmale hinterfragt, abgelehnt, oder mittels Formulierungen beschrieben wird, daß die Sozialversicherung (nur) „im Kern“, nicht „in Reinform“, lediglich in „modifizierter“ Weise etc. (siehe oben) Versicherung sei, wird „nur“ der Vergleich der Sozialversicherung mit vor allem in der Privatversicherung regelmäßig voll ausgeprägten Prinzipien gezogen, die dort aus (markt)wirtschaftlichen Gründen regelmäßig verwirklicht oder zumindest angestrebt sind, die rechtliche Qualifizierung als „Versicherung“ aber eben nicht beeinflussen. Somit gibt es nicht Institutionen, die „mehr“ oder „weniger“, nur „im Kern“ oder „in Reinform“ Versicherung sind, sondern es gibt Institutionen, die im rechtlichen Sinne entweder Versicherung sind oder nicht, und die für den Fall, daß sie „Versicherung“ sind, sich nicht rechtlich, sondern vor allem faktisch dadurch unterscheiden, ob in ihnen bestimmte kalkulatorische, versicherungsmathematische oder organisatorische Prinzipien (gegebenenfalls mehr oder weniger) erfüllt sind.

553 Siehe Maximilian Fuchs, Privatversicherung und Sozialversicherung, VSSR 1991, S. 281 (308). 554 Siehe Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 42. 555 Das Prinzip der sog. Globaläquivalenz ist hingegen keine bestimmte Versicherungstechnik, sondern lediglich eine andere Bezeichnung für die letztlich von jeder Wirtschaftseinheit anzustrebende Kostendeckung, sprich das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Aufwendungen, was im Bereich der Versicherung heißt, daß die Summe der Prämieneinnahmen die Summe der zu erwartenden Versicherungsleistungen (zuzüglich des gegebenenfalls angestrebten Gewinns) decken muß, siehe dazu bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (i). 556 Siehe etwa BVerfGE 79, S. 87 (101). – Kritisch zur mitunter vielgestaltigen Verwendung des Begriffes „Versicherungsprinzip“ Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 208 f. 557 Siehe Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 71.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Das „Versicherungsprinzip“ ist bei genauerer Betrachtung also kein rechtliches Prinzip, sondern es ist ein wirtschaftliches Prinzip, dessen Befolgung in der freien Marktwirtschaft der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit von Versicherern dient.558 Wenn dieses „Versicherungsprinzip“ in der Sozialversicherung hinterfragt wird, wird hiermit – bezogen auf ihre begriffliche Eigenschaft als „Versicherung“ – nicht ein begriffsnotwendiger Mußzustand, sondern ein wirtschaftlicher Idealzustand hinterfragt, da die genannten Größen (Äquivalenz, gegebenenfalls auch Schätzbarkeit etc.) letztlich „nur“ kalkulatorischer bzw. versicherungsmathematischer Natur sind und ihre Beherzigung sich in der freien Privatwirtschaft und im dort herrschenden marktwirtschaftlichen Wettbewerb als wirtschaftlich zweckmäßig erweisen, deren Befolgung also – vor allem unter den Bedingungen einer freien Marktwirtschaft – naheliegt, vielleicht sogar ökonomisch geboten ist, um den Betrieb einer Versicherung wirtschaftlich dauerhaft, autark und erfolgreich bewerkstelligen zu können. Daher erscheint es notwendig, – was in dieser Klarheit selten getan wird – deutlich zwischen einem (rechtlichen) „Versicherungsbegriff“ und einem (wirtschaftlichen) „Versicherungsprinzip“ zu trennen: Der (rechtliche) Versicherungsbegriff befindet mittels seiner Merkmale darüber, ob eine Einrichtung sich im Rechtssinne als „Versicherung“ qualifizieren läßt. Das so zu verstehende „Versicherungsprinzip“ enthält hingegen Kriterien, die über einen wirtschaftlichen Idealzustand einer Versicherung befinden, beschreibt also die – jedenfalls unter marktwirtschaftlichen Bedingungen – idealtypische Versicherung bzw. die idealtypische Versicherungstechnik, wozu vor allem das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip gehört. Die Verwirklichung dieses Versicherungsprinzips mag für eine Versicherung wirtschaftlich gesehen ratsam sein, entscheidet hingegen nicht über ihre rechtliche Einstufung als „Versicherung“.559 Die Einhaltung des „Versicherungsprinzips“ zur begrifflichen Voraussetzung von „Versicherung“ zu machen hieße, Ursache und Wirkung zu verkehren: nicht das wirtschaftliche „Versicherungsprinzip“ befindet darüber, was im Rechts558 Kritisch zur Annahme, Versicherungs- bzw. versicherungstechnisches Äquivalenzprinzip seien Rechtsprinzipien, auch Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 72, 93 f. 559 Insofern ist es jedenfalls unglücklich formuliert, wenn etwa bei Hans-Jürgen Papier/Johannes Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353 (354), davon gesprochen wird, daß ein „völliges Zurücktreten des [. . .] Versicherungsprinzips“ in der Sozialversicherung dazu führen würde, „daß diese nicht mehr als ,Sozialversicherung‘ i. S. d. Art. 74 I Nr. 12 GG angesehen werden könnte, und somit ihre gesetzlichen Grundlagen kompetenzwidrig würden“ (Hervorhebungen nicht im Original). – Die Einhaltung des Versicherungsprinzips im oben genannten Sinne als wirtschaftlicher Idealzustand einer Versicherung entscheidet eben nicht über die Versicherungseigenschaft; für letztere maßgeblich sind die oben (siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc)) herausgearbeiteten Merkmale des Versicherungsbegriffes, die nicht identisch sind mit dem so verstandenen „Versicherungsprinzip“.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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sinne „Versicherung“ ist, sondern das Betreiben einer „Versicherung“ wird regelmäßig rein faktisch zur Folge haben, daß dieser Betrieb, um wirtschaftlich sinnvoll zu sein, unter Beachtung des „Versicherungsprinzips“ erfolgt bzw. zweckmäßigerweise erfolgen sollte – jedenfalls im Bereich der wirtschaftlich auf sich selbst gestellten Privatversicherung. Soweit also in der Literatur der Versicherungscharakter der Sozialversicherung nicht nur abgeschwächt, sondern sogar abgelehnt und sie vielmehr als Sicherungssystem eigener Art bezeichnet wird, geschieht auch dies überwiegend deshalb, weil sie in Vergleich zur Privatversicherung gesetzt und die (zutreffende) Feststellung getroffen wird, daß sie zahlreiche dort verwirklichte Elemente (wie Individualäquivalenz, Schätz- und Versicherbarkeit, Fehlen staatlicher Bezuschussung) nicht erfüllt.560 Damit aber legen die Vertreter dieser Sichtweise letztlich einen zu engen Versicherungsbegriff zugrunde, der allein auf die Privatversicherung und die dort regelmäßig verwirklichten, für den Versicherungsbegriff aber irrelevanten Merkmale eines „Versicherungsprinzips“ begrenzt wird. Insoweit vermag die Einstufung der Sozialversicherung als Sicherungssystem eigener Art unter Verneinung von deren Versicherungscharakter nicht zu überzeugen. Durch die hier herausgearbeitete Trennung zwischen (rechtlichem) Versicherungsbegriff und (wirtschaftlichem) Versicherungsprinzip läßt sich vielmehr die Sozialversicherung unproblematisch als Versicherung qualifizieren, und zwar ohne diesbezüglich die bereits zuvor näher dargestellten, immer wieder anzutreffenden Abschwächungen (um nicht zu sagen: Verrenkungen) vornehmen zu müssen, wonach sie keine „reine“ oder nur „im Kern“ oder nur in „modifizierter“ Weise etc. Versicherung sei, aber gleichwohl doch Versicherung. Denn diese Formulierungen implizieren zum einen eine Abstufbarkeit, ein „Mehr“ oder „Weniger“ an „Versicherung“, das es so, jedenfalls im rechtlichen Sinne, nicht gibt – entweder eine Unternehmung ist rechtlich gesehen „Versicherung“ oder sie ist es nicht. Und sie resultieren, wie bereits erwähnt, letztlich nur aus dem Vergleich mit einem anderen, nämlich dem privatwirtschaftlichen Versicherungssystem, das nicht soziale, sondern erwerbswirtschaftliche Zielsetzungen verfolgt und in dem sich daher das „Versicherungsprinzip“ aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in reiner Form herausgebildet hat und dort weitgehend, aber 560 Siehe etwa Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 44, 396; ähnlich Walter Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Beiträge zur Sozialversicherung – Festgabe für Johannes Krohn, 1954, S. 35 (48): „Sozialversicherung ist vielmehr als eine von Versicherung, Versorgung und Fürsorge wesentlich unterschiedene eigenständige Rechtsform sozialer Sicherung zu betrachten“; ders., Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (48 f.): Sozialversicherung sei „zwar auch von versicherungsmäßigen Prinzipien getragen“, aber letztlich eine „Sicherung eigener Art“, die „sich von der Individualversicherung, Versorgung und Fürsorge [. . .] abhebt“.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

auch nicht durchgängig561, verwirklicht ist. Beide Versicherungssysteme – Privatversicherung sowie Sozialversicherung – sind aber gleichwohl im rechtlichen Sinne, d. h. gemessen an den maßgeblichen Kriterien des Versicherungsbegriffes, „Versicherung“. Das „Versicherungsprinzip“ hingegen taugt aus den genannten Gründen nicht als Strukturmerkmal des Versicherungsbegriffes und folglich auch nicht als Strukturmerkmal der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG562. Zwar spricht das Bundesverfassungsgericht regelmäßig von der Bedeutung, die das Versicherungsprinzip als Grundsatz der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung auch in der Sozialversicherung genieße, jedoch sei es seit jeher kennzeichnend für die Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, daß dieses Prinzip durch deren soziale Eigenheiten modifiziert und mit Elementen der sozialen Fürsorge (Solidarprinzip) verbunden wird.563 Streng genommen wird das Versicherungsprinzip durch das Solidarprinzip dabei nicht nur „modifiziert“, es wird durch dieses vielmehr zurückgedrängt, beeinträchtigt, gegebenenfalls sogar aufgehoben564, weil die sozialen Eigenheiten der Sozialversicherung der Verwirklichung des Versicherungsprinzips regelmäßig gerade entgegenstehen565. Aber auch das „Solidarprinzip“ ist im Rahmen der Sozialversicherung streng genommen nur eine bestimmte Art der Versicherungstechnik, die jedoch grundlegend anders als das Versicherungsprinzip funktioniert und insbesondere zu einer grundlegend anderen Beitragskalkulation führen kann, nämlich unter Zugrundelegung sozialer, und nicht marktwirtschaftlichrationaler versicherungsmathematischer Kriterien.566 Welche dieser beiden Versicherungstechniken in der Sozialversicherung aber verwirklicht wird (oder in welchem Maße sie gegebenenfalls verwirklicht werden), ist für den grundlegenden Versicherungscharakter als Strukturelement der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unerheblich. Dem entspricht es auch, wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, daß einzelne Regelungen der Sozialversicherung einmal mehr durch das Solidarprinzip, ein anderes Mal mehr durch das 561 Vgl. Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 559. 562 So ausdrücklich auch Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 42 ff. 563 Siehe zuletzt BVerfGE 113, S. 167 (196); zuvor u. a. bereits BVerfGE 59, S. 36 (49 f.); 63, S. 152 (171); 79, S. 87 (101). 564 Vgl. Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 42. 565 Jedenfalls durch die derzeit in der Sozialversicherung praktizierte Art der Beitragsbemessung, die sich nicht am individuellen Risiko der Versicherten, sondern an deren Leistungsfähigkeit orientiert, wird das Versicherungsprinzip bzw. das in ihm enthaltene Prinzip der versicherungstechnischen (Individual-)Äquivalenz zugunsten des Solidarprinzips praktisch aufgehoben. 566 Siehe zu dieser „sozialen“ Versicherungsmethode ausführlich unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Versicherungsprinzip geprägt und gerechtfertigt seien567 und ferner dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine definitive Aussage über die Grenzen einer legislatorischen Erstreckung des Solidarprinzips über das Versicherungsprinzip entnommen werden könnten568. Aus diesem völlig indifferenten Nebeneinander von Solidarprinzip und einem hierdurch irgendwie „modifizierten“ Versicherungsprinzip lassen sich für den strukturellen Begriffsinhalt der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine tragfähigen Erkenntnisse ziehen. Vielmehr kann dieses „Nebeneinander“ in seiner konkreten Ausgestaltung erst auf der materiellen Ebene Relevanz entfalten und wird daher vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig auch erst dort zur materiellen Rechtfertigung einzelner Ausgestaltungen der Sozialversicherung herangezogen und beleuchtet569. Die Sozialversicherung am Versicherungsprinzip zu messen, führt grundsätzlich lediglich zum Aufzeigen von faktischen Unterschieden zur idealtypischen Privatversicherung, in der das Versicherungsprinzip regelmäßig (voll) verwirklicht ist. Konsequenzen für die rechtliche Qualifizierung von „Sozialversicherung“ als „Versicherung“ resultieren hieraus nicht. Allein aus dem Aufzeigen dieser zu Durchbrechungen des Versicherungsprinzips führenden Unterschiede folgen auch noch keine rechtlichen Erkenntnisse für die Abgrenzung von Sozialversicherung und Privatversicherung bzw. für die grundgesetzlichen Kompetenztitel für „die Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und „privatrechtliches Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG), da das Versicherungsprinzip auch in der Privatversicherung nicht zwingendermaßen verwirklicht sein muß. Allerdings könnte es für die Sozialversicherung konstituierend und für ihre Abgrenzung zur Privatversicherung maßgeblich sein, daß sie im Gegensatz zu dieser das im rein (markt)wirtschaftlichen Sinne zu sehende Versicherungsprinzip überhaupt nicht erfüllen darf, weil dies mit ihrem „sozialen“ Auftrag nicht vereinbar wäre und letztlich auch ihrem eigentlichen Existenzgrund zuwider liefe, eine sozial ausgestaltete Alternative zu rein nach marktwirtschaftlich-versicherungsprinzipiellen Kriterien operierenden Versicherungsformen zu bieten, die es in Gestalt der Privatversicherung bereits gibt. Um dies beurteilen zu können, bedarf es allerdings zunächst der noch folgenden Untersuchung, was gerade die „soziale“ Komponente der Sozialversicherung ausmacht. (b) Versicherungsprinzip und materielle Vorgaben für die Sozialversicherung Da die Verwirklichung des Versicherungsprinzips beim Betrieb einer Versicherung nur eine bestimmte Form bzw. eine bestimmte, sich unter marktwirt567 568 569

BVerfGE 59, S. 36 (50). BVerfGE 113, S. 167 (197). Siehe etwa BVerfGE 59, S. 36 (49 f.); 63, S. 152 (171); 79, S. 87 (101).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

schaftlichen Gesichtspunkten als sinnvoll erweisende Technik ist, um eine Versicherung durchzuführen, ist es für sich gesehen rechtlich unverbindlich. Weder ist es konstituierend für das Vorliegen einer Versicherung noch resultiert aus ihm als solchem die Verpflichtung, eine Versicherung gerade auf diese Weise zu betreiben. Allein der Rechtscharakter als „Versicherung“ zwingt also nicht zur Verwirklichung des Versicherungsprinzips. Solche Vorgaben können sich nur aus dem einfachen Recht oder gegebenenfalls auch aus dem Verfassungsrecht ergeben. Da das Versicherungsprinzip als wirtschaftlich idealtypischer Zustand einer Versicherung erhebliche Bedeutung für deren wirtschaftliche Bestandsfähigkeit aufweist, mithin für ihre Deckungsfähigkeit und die Erfüllbarkeit der aus den Versicherungsverhältnissen resultierenden Leistungspflichten, werden häufig entsprechende Vorgaben durch den Gesetzgeber angeordnet, um die Leistungskraft von Versicherungen zu erhalten – im Bereich der privaten Versicherungsunternehmen ist dies etwa in Gestalt des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) geschehen, zum Beispiel durch Festlegung auf versicherungsmathematische Kalkulationsformen (siehe etwa in § 12 Abs. 1 Nr. 1; vgl. ferner § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3).570 Eine öffentlich-rechtliche Versicherung ist demgegenüber vor allem am (materiellen) Verfassungsrecht zu messen. Soweit aus ihr etwa freiheitsbeschränkende Wirkungen resultieren (etwa infolge eines Versicherungszwanges), darf dies nicht zur Verletzung von Freiheitsgrundrechten führen. Gleichheitstangierende Wirkungen (wie etwa unterschiedliche Beitragshöhen für den gleichen Versicherungsschutz) sind anhand der Gleichheitsgrundrechte zu überprüfen und zu rechtfertigen. Auch das versicherungsprinzipswidrige Fehlen der Individualäquivalenz zwischen Beitragshöhe und individuellem Versicherungsrisiko ist jedenfalls bei gleichzeitigem Versicherungszwang prinzipiell an den Freiheitsgrundrechten zu messen, weil dann einer staatlichen Abgabenbelastung gegebenenfalls keine adäquate Gegenleistung gegenüber steht und insoweit eine rechtfertigungsbedürftige Freiheitsbeeinträchtigung in Betracht kommt; dies gilt umso mehr, wenn die Abgabenpflicht aus dem staatlichen Betrieb einer „Versicherung“ resultiert und somit – anders als etwa Steuern – gerade in bezug auf eine konkrete Gegenleistung statuiert wird. Die Beachtung bestimmter qualitativer Mindeststandards im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit und dauerhafte Effektivität des Systems wiederum kann aus dem Sozialstaatsprinzip oder aus staatlichen Schutzpflichten (etwa für Leib und Leben, Art. 2 Abs. 2 GG)571 resultieren. Ebenso kann sich aus der abwehrrechtlichen Dimension der Frei570 Siehe dazu etwa Egon Lorenz, Gefahrengemeinschaft und Beitragsgerechtigkeit aus rechtlicher Sicht, 1983, S. 18. 571 Vgl. hierzu Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, S. 1689 (1691).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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heitsgrundrechte ergeben, daß der Staat, wenn er eine (Zwangs-)Versicherung betreibt und hierfür Beiträge einzieht, diese Versicherung auch in einer Art und Weise betreiben muß, die den dauerhaften wirtschaftlichen Bestand dieser Versicherung und damit eine bestimmte Qualität des Versicherungsschutzes gewährleistet. Insoweit können bestimmte Aspekte, die im Versicherungsprinzip verwirklicht sind, beim staatlichen Betrieb einer Versicherung aus dem materiellen Verfassungsrecht folgen. Sie ergeben sich dann aber allein aus dem Verfassungsrecht, und nicht aus dem rein wirtschaftlichen Versicherungsprinzip als solchen, selbst wenn aus dem materiellen Verfassungsrecht im Ergebnis möglicherweise Vorgaben resultieren, die in ihrer Wirkung einzelnen Aspekten des Versicherungsprinzips entsprechen. Im Rahmen der materiellen Rechtfertigungsprüfung zu berücksichtigen sind dabei im Bereich der Sozialversicherung deren soziale Zielsetzungen als Gemeinwohlbelange, die überhaupt den Existenzgrund der Sozialversicherung ausmachen572. Die Untersuchung solcher materiell-verfassungsrechtlichen Aspekte im Bereich der Sozialversicherung kann und soll hier mangels Relevanz für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand nicht bewerkstelligt werden. Diesbezüglich sei daher auf bereits erfolgte Untersuchungen verwiesen, die sich in letzter Zeit an der Verortung von dem Versicherungsprinzip entsprechenden Wirkweisen in der Sozialversicherung versucht haben573. (3) „Entversicherung“ der Sozialversicherung (a) Kompetenzwidrigkeit hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Da „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ein System beinhaltet, welches sich – gemessen an den als relevant zu erachtenden Merkmalen des Versicherungsbegriffes – als Versicherung im Rechtssinne darstellt574, können Sicherungssysteme, die keine „Versicherung“ sind, bzw. gesetzgeberische Maßnahmen, die zu einer „Entversicherung“575 der Sozialversicherung führen, nicht auf die diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz des Art. 74

572 Siehe zu den sozialen Strukturelementen der Sozialversicherung unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b). 573 Insoweit sei hier nur verwiesen auf die umfangreichen Untersuchungen von Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, und von Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000; umfangreiche Ausführungen zum einen wesentlichen Teil der Versicherungsprinzips abbildenden Äquivalenzprinzip in der Sozialversicherung finden sich zudem etwa bei Joachim Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, S. 144 ff. 574 Siehe ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd). 575 Vgl. Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 74.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden, weil hierbei die prägenden Strukturelemente einer Sozialversicherung nicht mehr gewahrt wären. (b) Einzelfälle Welche konkreten Maßnahmen im einzelnen zu einer „Entversicherung“ der Sozialversicherung führen, muß einer Einzelfallbetrachtung überlassen bleiben; gemein ist ihnen aber, daß sie die oben beschriebenen Begriffselemente der „Versicherung“ im Rechtssinne nicht erfüllen. Im übrigen wurde bei der oben erfolgten Überprüfung der einzelnen Begriffsmerkmale in bezug auf „die Sozialversicherung“ im Sinne der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bereits erörtert, welche Eigenheiten der Sozialversicherung deren Versicherungscharakter nicht entgegenstehen, also keine „Entversicherung“ zur Folge haben.576 Exemplarisch seien im folgenden einige Fälle näher erörtert, die im Hinblick auf eine „Entversicherung“ problematisch sind. (aa) Steuerfinanziertes Sicherungssystem Bereits oben wurde dargelegt, daß ein steuerfinanziertes soziales Sicherungssystem keine „Versicherung“ mehr ist und daher nicht auf die Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden könnte:577 Würde die Sozialversicherung in ihrer bestehenden Form durch ein System ersetzt werden, welches sich nicht mehr aus Sozialversicherungsbeiträgen finanziert, sondern aus allgemeinen Steuermitteln, so wäre das begriffliche Versicherungsmerkmal der Entgeltlichkeit nicht mehr erfüllt, da Steuern gegenleistungsfrei sind. Selbst eine zur Finanzierung eines solchen Sicherungssystems erhobene Zwecksteuer hätte nicht diesen Entgelt- bzw. Gegenleistungscharakter, weil die Zweckbindung keine spezifische ist; eine (Zweck-) Steuer kann, muß aber nicht für einen bestimmten Zweck aufgewendet werden, und ebenso ist die Erhebung von Zwecksteuern nicht auf den Personenkreis beschränkt, der einen Vorteil aus dem durch sie finanzierten öffentlichen Vorhaben zieht578. Nicht zu einer „Entversicherung“ führen hingegen Zuschüsse (vgl. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG), auch wenn diese in der Regel steuerfinanziert sind. Die Grenze liegt allerdings dort, wo die vermeintlichen „Zuschüsse“ derartig in den 576

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd). Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (aa) (d). 578 BVerfGE 7, S. 244 (254); 49, S. 343 (353 f.); 69, S. 325 (344); Markus Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 105 Rn. 15; siehe ausführlich auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (cc) (a). 577

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Vordergrund treten, daß die ebenfalls erhobenen Sozialversicherungsbeiträge kein eigenständiges Gewicht mehr aufweisen und zur bloßen Marginalie werden, da dann nicht mehr von einer Teilfinanzierung der Sozialversicherung gesprochen werden kann, auf die die Zuschußfinanzierung schon begriffsnotwendig begrenzt ist579.580 (bb) „Versicherungsfremde“ Leistungen Problematisch im Hinblick auf eine „Entversicherung“ der Sozialversicherung sind auch die sog. „versicherungsfremden Leistungen“. Den Konflikt mit dem für die Einschlägigkeit der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begrifflich notwendigen Versicherungscharakter der Sozialversicherung impliziert dabei schon deren Bezeichnung als versicherungsfremde Leistungen. Allerdings wird dieser Begriff sowie der synonyme Begriff „Fremdlasten“581 in sehr vielgestaltiger Weise verwendet582, so daß vor allem zu klären ist, was überhaupt unter „versicherungsfremden Leistungen“ verstanden wird, bevor man beurteilen kann, welche der unter dem Begriff erfaßten Leistungen zu einer von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht mehr gedeckten „Entversicherung“ der Sozialversicherung führen. (a) Soziale Durchbrechungen des Versicherungsprinzips Häufig werden als „versicherungsfremd“ die in der Sozialversicherung anzutreffenden Durchbrechungen des Versicherungsprinzips bezeichnet, die aus der sozialen Ausgestaltung der Sozialversicherung resultieren, also beispielsweise die nicht individualäquivalente Beitragsbemessung, die Bezuschussungsmöglichkeit durch den Bund (siehe Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG), die Versicherung nicht

579 Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 25; Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 110; Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 37; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 30; ders., Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588); siehe auch Michael Kilian, Finanzströme zwischen öffentlichen Haushalten im Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 87 (122 f.). 580 Siehe auch hierzu bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (aa) (d). 581 Siehe Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 35. 582 Siehe hierzu etwa Wolfgang Rüfner, Möglichkeiten und Grenzen einer Neuordnung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sozialleistungssysteme, in: SDSRV 45 (1999), S. 101 (110), der ihn vor allem als einen in seinen Konturen unklaren „politischen Kampfbegriff“ ansieht; ganz ähnlich Detlef Merten, Die versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung, in: ders., Speyerer Sozialrechtsgespräche 1991– 2000, 2002, S. 375 (375 f.).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

„schätzbarer“ Risiken wie in der Arbeitslosenversicherung oder soziale Besonderheiten der Leistungserbringung wie die Berücksichtigung beitragsfreier Zeiten in der Rentenversicherung oder die Absicherung von bei Versicherungsbeginn bereits realisierten Risiken. Zusammengefaßt sei „versicherungsfremd“ hiernach im weitesten Sinne „grundsätzlich all das, was außerhalb der Äquivalenz von Beitrag und Leistung steht“583. Allerdings wurde bereits oben584 dargelegt, daß das sog. „Versicherungsprinzip“ mit seinem zentralen Teilaspekt der versicherungstechnischen (Individual-)Äquivalenz kein begriffsnotwendiges Kriterium einer „Versicherung“ ist, sondern eine bestimmte Versicherungstechnik bzw. die Zusammenfassung bestimmter versicherungstechnischer oder versicherungsmathematischer Prinzipien, deren Befolgung sich für den Betrieb einer Versicherung als wirtschaftlich besonders sinnvoll herauskristallisiert hat. Die Nichtbefolgung oder Durchbrechung des Versicherungsprinzips in der Sozialversicherung führt also nicht zu deren „Entversicherung“, sondern hat „lediglich“ zur Folge, daß die betreffende Versicherung nicht in der versicherungstechnisch und wirtschaftlich-rational als ideal betrachteten Weise geführt wird. Demgemäß ist in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnung als „versicherungsfremde Leistungen“ mehr als unglücklich; treffender wäre es, insoweit von – gemessen am Maßstab des Versicherungsprinzips als marktwirtschaftlich idealtypischer Versicherungstechnik – „versicherungsuntypischen“585 oder „versicherungsprinzipsfremden“ Leistungen oder Elementen zu sprechen. Außerhalb des Kompetenzbereichs des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG liegen sie deshalb aber nicht. Vielmehr würde ein Sicherungssystem, dem derartige, der sozialen Anpassung des Versicherungsschutzes dienende Elemente fehlen, kaum noch als „Sozialversicherung“ erfaßt werden können.586 583 Franz Ruland, Versicherungsfremde Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1995, S. 28 (31); siehe ferner etwa Karl-Jürgen Bieback, Sozialversicherung und versicherungsfremde Leistungen in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 117 (129); Wolfram Lamping, „Versicherungsfremde Leistungen“ – Historisch-systematisierende Anmerkungen zu einem sozialpolitischen Schlüsselbegriff, ZSR 1997, S. 52 (53 ff.); vgl. auch die Übersichten über die unterschiedliche Ausfüllung der Begrifflichkeit bei Walter Leisner, Fremdlasten in der Sozialversicherung – ein schwerwiegender Verfassungsverstoß, NZS 1996, S. 97 (98 ff.); Wolfgang Rüfner, Möglichkeiten und Grenzen einer Neuordnung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sozialleistungssysteme, in: SDSRV 45 (1999), S. 101 (110 f.); Frank Schwidden, Verfassungsrechtliche Grenzen der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung, ZFSH/ SGB 1997, S. 202 (208) – jeweils m. w. N. 584 Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (4) (b) sowie dd) (2). 585 Siehe auch Wolfram Lamping, „Versicherungsfremde Leistungen“ – Historischsystematisierende Anmerkungen zu einem sozialpolitischen Schlüsselbegriff, ZSR 1997, S. 52 (53). 586 Vgl. Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 48; Christian Rolfs, Versicherungsfremde Leistungen in der Sozialversicherung, NZS

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(b) Nicht vom vermeintlichen Versicherungszweck gedeckte Leistungen Mitunter werden auch Leistungen als „versicherungsfremde“ bezeichnet, die nicht vom eigentlichen Versicherungszweck der Sozialversicherung bzw. eines ihrer Zweige gedeckt seien587. Insoweit seien beispielsweise im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gewährte Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch oder Sterilisation oder Hilfen zur Empfängnisverhütung versicherungsfremde, weil Schwangerschaft oder Empfängnisfähigkeit keine Krankheiten, sprich keine regelwidrigen Körper- oder Geisteszustände darstellten.588 Auch dies stellt bei genauerer Betrachtung keine Versicherungsfremdheit im Sinne einer „Entversicherung“ dar, denn welche Risiken eine Versicherung abdeckt, ist grundsätzlich dem Versicherer überlassen; auch auf eine „Versicherbarkeit“ im Sinne einer „Schätzbarkeit“ kommt es dabei ebensowenig wie auf eine „Gleichartigkeit“ der versicherten Risiken an589. Daß die hier beispielhaft genannten Einzelrisiken keine Krankheiten im engeren Sinne darstellen, ist aus Sicht des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für deren Absicherbarkeit im Rahmen einer „Krankenversicherung“ auch insoweit grundsätzlich unbeachtlich590,591 als die Bezeichnung eines Sozialversicherungszweiges als „Krankenversicherung“ nur eine schlagwortartige Umschreibung des Versicherungszwecks darstellt: umfaßt der tatsächliche Versicherungszweck bzw. -umfang also über Krankheiten im engeren Sinne hinaus die versicherungsmäßige Abdeckung von Belastungen infolge sämtlicher Maßnahmen, die notwendigerweise von einem Arzt durchgeführt werden sollten (und bei Abtreibungen oder Sterilisationen steht dies wohl außer Frage), dann ist der Versicherungszweck eben hierdurch konstituiert und nicht durch eine dann unter Umständen zu enge Bezeichnung als „Krankenversicherung“.592 Die betreffenden Leistungen sind dann auch nicht „versicherungsfremd“. 1998, S. 551 (555 f.); siehe ferner Detlef Merten, Die versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung, in: ders., Speyerer Sozialrechtsgespräche 1991–2000, 2002, S. 375 (377), der darauf hinweist, daß diese „versicherungsfremden“ Leistungen gerade „sozialversicherungsadäquat“ sind. 587 Vgl. Wilhelm Musa, Die Verwendung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung für versicherungsfremde Aufgaben oder Personen, BB 1964, S. 1125 (1125, 1126). 588 Vgl. Josef Isensee, Abtreibung als Leistungstatbestand der Sozialversicherung und der grundgesetzliche Schutz des ungeborenen Lebens, NJW 1986, S. 1645 (1650); Wilhelm Musa, Die Verwendung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung für versicherungsfremde Aufgaben oder Personen, BB 1964, S. 1125 (1126). 589 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (c) und (d). 590 Anders aber Wilhelm Musa, Die Verwendung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung für versicherungsfremde Aufgaben oder Personen, BB 1964, S. 1125 (1126). 591 Vgl. hierzu auch unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a) (ff). 592 Vgl. hierzu auch BVerfGE 88, S. 203 (313 f.).

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Die Grenze hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist allerdings, aber auch erst dort zu ziehen, wo die abgesicherten Risiken sich nicht mehr als solche darstellen, die gerade im Rahmen der „Sozialversicherung“ versicherungsfähig sind, weil bei ihnen das Bedürfnis nach gerade „sozialer“ Absicherung fehlt. Denn nicht jedes beliebige Risiko, das grundsätzlich versicherbar ist, ist deswegen auch zugleich sozialversicherungsfähig. „Der Sache nach als Sozialversicherung“ stellt sich nämlich nur das dar, was in seinen „wesentlichen Strukturelementen“ und damit insbesondere auch „hinsichtlich der abzudeckenden Risiken“ dem Bild entspricht, „das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“.593 Damit aber ist die „soziale“ Komponente der Sozialversicherung angesprochen, also das, was sie gerade zur „Sozialversicherung“ macht, nicht deren Versicherungskomponente. Für die hier in Frage stehenden Leistungen heißt dies, daß sie streng genommen nicht versicherungsfremd, sondern allenfalls sozialversicherungsfremd sein können – was insoweit auch die treffendere Bezeichnung für sie wäre; eine „Entversicherung“ im Sinne einer Durchbrechung bzw. Beseitigung des Versicherungscharakters der Sozialversicherung ist mit ihnen daher nicht verbunden. Zu der anderen Frage, ob es sich bei ihnen noch um „sozialversicherungsfähige“ Risiken handeln kann, sei auf die noch folgenden, allgemeinen Ausführungen zur sozialen Komponente der Sozialversicherung verwiesen594. (g) Präventionsleistungen Auch Präventionsleistungen kommen als „versicherungsfremde“ in Betracht595, weil sie nicht im Sinne des „eigentlichen“ Versicherungszwecks dem Ausgleich eines (eingetretenen) Versicherungsfalles dienen, sondern der Verhinderung von dessen Eintritt. Wenn allerdings der grundlegende Sinn einer Versicherung im Schutz vor bzw. der Vorsorge hinsichtlich Belastungen dient, die aus der Realisierung gewisser Risiken resultieren können, dann dienen Präventionsleistungen ebenfalls diesem Ziel, nur daß sie eine Stufe früher ansetzen, nämlich bei der Eindämmung der Versicherungsrisiken. Da dem Versicherten, aber auch dem Versicherer und auch der Versichertengemeinschaft hiermit mindestens ebenso gedient ist wie mit dem nachträglichen Ausgleich der durch ein realisiertes Risiko verbundenen Belastungen, ist die Prävention als ein dem eigentlichen Versicherungsziel dienender Nebenzweck anzuerkennen und stellt folglich keine „versicherungsfremde“ Leistung dar596. 593

BVerfGE 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313). Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a). 595 Vgl. Peter Krause, Fremdlasten in der Sozialversicherung, VSSR 1980, S. 115 (117, 146). 596 Vgl. im Grundsatz auch Peter Krause, Fremdlasten in der Sozialversicherung, VSSR 1980, S. 115 (146). 594

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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(d) Leistungen an außerhalb der Sozialversicherung stehende Personen („Dritte“) Häufig werden als „versicherungsfremde Leistungen“ auch solche erfaßt, die (zumindest auch) Personen zugute kommen, welche außerhalb der Sozialversicherung stehen, also nicht zu deren Versichertenkreis gehören.597 Beispielhaft598 erwähnt seien als solche etwa die sog. Fremdrenten599 für in die Bundesrepublik übergesiedelte Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler, die keinerlei Rentenbeiträge in die deutsche Rentenversicherung eingezahlt haben, sondern deren Rentenanwartschaft allein aus der Anrechnung von Einzahlungen in das Rentensystem ihres Herkunftslandes resultiert600.601 Solche Leistungen führen in der Tat zu einer „Entversicherung“ des betreffenden Sozialversicherungszweiges, weil sie vom Zweck einer Versicherung nicht mehr gedeckt sind: dieser besteht nämlich in der Absicherung der Versichertengemeinschaft, nicht hingegen in der Absicherung von außerhalb der Gemeinschaft stehenden Personen. Zur Versichertengemeinschaft gehören dabei aufgrund des Entgeltlichkeitscharakters einer Versicherung nur diejenigen Personen, die durch ihre Entgelte in Form der zu entrichtenden Versicherungsbeiträge den ihnen zugute kommenden Versicherungsschutz „erkaufen“; daß diese Beiträge in der Sozialversicherung gegebenenfalls kein versicherungsmathematisch äquivalentes Pendant zum gewährten Versicherungsschutz beinhalten, ist für den 597 Siehe Karl-Jürgen Bieback, Sozialversicherung und versicherungsfremde Leistungen in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 117 (129); Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 42 f.; Walter Leisner, Fremdlasten in der Sozialversicherung – ein schwerwiegender Verfassungsverstoß, NZS 1996, S. 97 (100); vgl. ferner etwa Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 72 ff.; Peter Krause, Fremdlasten in der Sozialversicherung, VSSR 1980, S. 115 (118); Frank Schwidden, Verfassungsrechtliche Grenzen der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung, ZFSH/SGB 1997, S. 202 (209). 598 Es sei hier bei einer beispielhaften Benennung belassen; die Durchforstung und Überprüfung des gesamten Leistungskataloges der einzelnen Sozialversicherungszweige im Hinblick auf derartige „versicherungsfremde“ Leistungen kann nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung sein, sondern muß den Arbeiten überlassen bleiben, die ausschließlich diese Problematik zum Gegenstand haben, verwiesen sei insoweit etwa auf die Zusammenstellungen bei Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 62 ff., 72 ff. – Vorliegend seien die weiteren Ausführungen auf die Herausarbeitung der allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätze beschränkt. 599 Siehe hierzu das Fremdrentengesetz (FRG), BGBl. III/FNA 824-2. 600 Siehe hierzu sowie zum Schutz derartiger Renten(anwartschaften) über Art. 14 GG BVerfGE 116, S. 96 (121 ff.). 601 Siehe etwa Wilhelm Musa, Die Verwendung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung für versicherungsfremde Aufgaben oder Personen, BB 1964, S. 1125 (1126); Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen einer Reform der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (20), mit weiteren Beispielen.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Entgeltcharakter unerheblich.602 Ebenso kann ein (Sozial-)Versicherungsbeitrag zwar auch für einen Dritten geleistet werden, genauer gesagt: der Versicherungsschutz auch für einen Dritten „erkauft“ werden (wie etwa im Falle der Familienversicherung im Bereich der Sozialversicherung), allerdings ist der Entgeltcharakter dann nur unter der Voraussetzung gewahrt, daß der Versicherungsschutz des Dritten im Interesse des Beitragsleistenden liegt, da ansonsten aus dessen Sicht keine entgeltliche Gegenleistung vorliegt603. In Ermangelung dieses Interesses kann bei einer Leistungserbringung an beliebig außerhalb der Sozialversicherung stehende Personen auch nicht davon gesprochen werden, daß die von den Versicherten erhobenen Beiträge insoweit „für Dritte“ erbracht würden. Abgesehen davon, läge hier schon nicht einmal eine Beitragsleistung „für Dritte“ vor, weil es nicht die geringste Verknüpfung zwischen Beitragsleistendem und Leistungsempfänger gibt, d. h. nicht die geringste Zuordnung der Beitragsleistung für die Zwecke der Versicherung (auch) einer anderen Person (anders als etwa im Verhältnis Mitglied/Familienangehöriger oder Arbeitgeber/ Arbeitnehmer). Im übrigen werden die außerhalb der Sozialversicherung Stehenden auch nicht allein durch den Leistungsbezug zum Teil der Versichertengemeinschaft, weil hierzu die entgeltliche Beteiligung an der durch den Zusammenschluß gebildeten Risikogemeinschaft erforderlich ist. In diesen Fällen einer Leistungserbringung durch die Sozialversicherung an außerhalb ihrer stehende Personen fehlt es letztlich in beiden Richtungen am Entgeltlichkeitscharakter der betreffenden Leistungen und damit an einem notwendigen Versicherungsmerkmal: Aus Sicht der Leistungsempfänger fehlt der Entgeltlichkeitscharakter deshalb, weil diese ohne jede entgeltliche Beteiligung an der Versichertengemeinschaft mit Leistungen bedacht werden; man kann auch nicht argumentieren, daß deren „Entgelt“ als soziale Ausprägung der Versicherung vollständig von den Versicherten übernommen würde, weil man nach dieser Logik den Entgeltlichkeitscharakter als Begriffsmerkmal einer Versicherung vollständig aushebeln würde und zudem jedes nicht-entgeltliche Fürsorgesystem als (entgeltliche) Versicherung in Betracht käme, bei der die an sich zu leistenden „Entgelte“ jedoch vom Staat bzw. Steuerzahler übernommen werden. Aus Sicht der Versicherten wiederum fehlt es insoweit am Entgeltlichkeitscharakter, als die entrichteten Beiträge zumindest teilweise gerade nicht mehr für die Finanzierung der Versicherungszwecke verwendet werden, für die sie erhoben werden. Da die Sozialversicherungsbeiträge aber gerade „ihren Grund und ihre Grenzen in der Finanzierung der Sozialversicherung“ finden604 und insoweit, anders als Steuern, gegenleistungsabhängig sind605, werden sie durch die 602 603 604 605

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (aa) mit (a). Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (aa) (b). BVerfGE 75, S. 108 (148). Siehe ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d).

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(Mit-)Verwendung für außerhalb der Sozialversicherung stehende Personen insoweit zweckentfremdet, als die an Außenstehende gewährten Leistungen nicht einmal mehr als zumindest potentielle Gegenleistungen an die Gemeinschaft der Versicherten taugen. Derartige Leistungen treten hierdurch auch in Konflikt zu Steuern, denen die gegenleistungsfreie Finanzierung „allgemeiner Staatsaufgaben“ vorbehalten ist606 und deren Erhebung sich allein nach den Art. 105 ff. GG bemißt. Die Finanzierung von Zwecken außerhalb der Sozialversicherungsgemeinschaft steht nämlich mangels entsprechender Gegenleistung nicht mehr in der Verantwortung der Versichertengemeinschaft, sondern in allgemeingesellschaftlicher Verantwortung und muß daher durch Steuern und nicht durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden.607 Leistungen der Sozialversicherung, welche außerhalb der Versichertengemeinschaft stehenden Personen zugute kommen, führen also zu einer „Entversicherung“ der Sozialversicherung und können demgemäß nicht auf die Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden; ihre Bezeichnung als „versicherungsfremde Leistungen“ ist daher treffend. Selbst wenn ihr außerhalb der Sozialversicherung stehender Finanzierungszweck isoliert betrachtet auf eine andere Gesetzgebungskompetenz gestützt werden könnte, etwa auf die „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG)608, wäre ihre Finanzierung aus der Sozialversicherung heraus immer noch kompetenzwidrig hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil sowohl die Sozialversicherungsbeiträge als auch die gegebenenfalls in die Versicherungsmasse einfließenden Zuschüsse nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG kompetenzgemäß nur zur Finanzierung der „Sozialversicherung“ erhoben werden können und nicht zur Finanzierung versicherungsfremder Leistungen. Es ist auch nicht möglich, den zumindest partiell versicherungsentfremdeten Sozialversicherungsbeitrag in einen regulären „Beitrags-“Anteil und einen durch die Fremdlast veranlaßten „Steuer“-Anteil aufzuspalten, da er als einheitlich erhobene Abgabe auch nur einheitlich qualifiziert werden kann609. Vergleichbares muß insoweit gelten für die das unter Umständen zu niedrige Beitragsaufkommen aufstockenden, sei es auch ihrerseits steuerfinanzierten „Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG gelten. 606

Vgl. BVerfGE 75, S. 108 (148). Siehe Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 42 f.; Walter Leisner, Fremdlasten in der Sozialversicherung – ein schwerwiegender Verfassungsverstoß, NZS 1996, S. 97 (100); Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen einer Reform der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (20); Frank Schwidden, Verfassungsrechtliche Grenzen der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung, ZFSH/SGB 1997, S. 202 (209). 608 Siehe näher zu dieser Kompetenz unten 2. Teil, Abschnitt 2, I. 609 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 43. 607

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Von in diesem Sinne „versicherungsfremden“, weil außerhalb der Sozialversicherung stehenden Personen zugute kommenden Leistungen sind allerdings diejenigen Fälle zu unterscheiden, in denen Versicherungsleistungen, die an innerhalb der Versicherungsgemeinschaft Stehende fließen, aus sozialen Gründen aufgestockt werden gegenüber demjenigen Leistungsumfang, der sich nach versicherungsmathematisch-individualäquivalenten Maßstäben nur ergeben würde (etwa die Anrechnung beitragsfreier Zeiten auf die Erwerbsbiographie im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung). Hierbei handelt es sich nämlich um soziale Modifizierungen des (gleichwohl entgeltlich erlangten) Versicherungsschutzes, die gemessen an als idealtypisch erachteten Versicherungstechniken „versicherungsuntypisch“ sein mögen, nicht jedoch „versicherungsfremd“610. (e) Beitragsbelastung von Nichtversicherten („Dritten“) zur Finanzierung von Versicherungsleistungen „Versicherungsfremd“ könnte es ferner sein, wenn außerhalb der Sozialversicherung stehende, nicht-versicherte Personen zur Beitragsleistung und damit zur Finanzierung der Sozialversicherung herangezogen werden.611 Als exemplarisches Beispiel hierfür sei die sog. Künstlersozialabgabe betrachtet,612 welche im Rahmen der Künstlersozialversicherung und zu deren (Teil-)Finanzierung auf Grundlage der §§ 23 ff. KSVG von Unternehmen erhoben wird, die im weitesten Sinne von der „Vermarktung“ der versicherten Personengruppe der (selbständigen) Künstler und Publizisten (§ 1 KSVG) profitieren bzw. an deren Vermarktung mitwirken (sog. „Vermarkter“). Die Besonderheit dieser Abgabe gegenüber „herkömmlichen“ Arbeitgeberbeiträgen für deren Arbeitnehmer besteht darin, daß die Künstlersozialabgabe losgelöst von den einzelnen versicherungspflichtigen Künstlern (und Publizisten) und deren Beiträgen gezahlt wird, also eine allgemein nach dem Umfang der von dem Vermarkter entrichteten Entgelte bemessene Abgabe ist, wobei sogar solche Entgelte in die Bemessungsgröße miteinfließen, die an nicht-versicherungspflichtige Künstler gezahlt wurden (siehe § 25 KSVG). Fraglich ist, ob die Künstlersozialabgabe aufgrund dieser auch für die Sozialversicherung „außerordentlich atypischen“613 Ausgestaltung überhaupt noch einen Sozialversicherungsbeitrag als versicherungsmäßiges „Entgelt“ darstellt. 610

Siehe bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (3) (b) (bb) (a). Siehe Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen einer Reform der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (18); vgl. ferner Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 77 f. 612 Siehe etwa Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen einer Reform der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (18). 613 Lerke Osterloh, Verfassungsfragen der Künstlersozialabgabe, NJW 1982, S. 1617 (1621). 611

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Es wurde bereits dargelegt614, daß die Heranziehung Nicht-Versicherter zur Finanzierung der Sozialversicherung nicht schlechthin deren Versicherungscharakter und damit den Strukturmerkmalen des in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes entgegensteht: „Beteiligter“ der Sozialversicherung kann vielmehr auch ein Nicht-Versicherter sein, soweit dessen Heranziehung auf einem sachorientierten Anknüpfungspunkt in den Beziehungen zwischen ihm und den Versicherten beruht, der diese Heranziehung nicht außerhalb der Vorstellungen erscheinen läßt, von denen die Sozialversicherung in ihrem sachlichen Gehalt geprägt ist.615 Da der herkömmliche nichtversicherte Beteiligte der „klassischen Sozialversicherung“, die insoweit das Leitbild abgibt, der Arbeitgeber mit dem von ihm zu entrichtenden Beitragsanteil für die bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer/Versicherten ist616, muß dieser „sachorientierte Anknüpfungspunkt“ vergleichbar demjenigen sein, der die „Beteiligten“-Eigenschaft des Arbeitgebers begründet. Hinsichtlich Arbeitgebern sind insoweit zwei Aspekte maßgeblich617: Zum einen, daß aufgrund des abhängigen Beschäftigungsverhältnisses zwischen ihm und den versicherten Arbeitnehmern eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers angenommen wird, aufgrund derer sich ein Interesse des Arbeitgebers am Versicherungsschutz des Arbeitnehmers begründen läßt. Und zum anderen, daß der Arbeitgeberbeitrag wirtschaftlich gesehen als Teil der Lohn(neben)kosten ein Lohnbestandteil des Arbeitnehmers ist, so daß faktisch gesehen er als Versicherter die Beitragslast trägt. Für eine mögliche „Entversicherung“ der Sozialversicherung durch die Künstlersozialabgabe ist folglich entscheidend, ob die genannten Aspekte auch auf sie in vergleichbarer Weise zutreffen, ob also hinlängliche „sachorientierte Anknüpfungspunkte“ im genannten Sinne bestehen. Der Aspekt, daß der Arbeitgeberbeitrag streng genommen ein individualisierbarer Lohnbestandteil des Versicherten ist, welcher nur aus historischen Gründen vom Arbeitgeber abgeführt wird, erscheint hinsichtlich der Künstlersozialabgabe zweifelhaft: denn diese wird pauschal von der Gesamtheit aller Entgelte (Gagen, Honorare, Kaufpreise etc.) berechnet, die der jeweilige „Vermarkter“ an Künstler und Publizisten für deren in selbständiger Arbeit erbrachten Werke und Leistungen zahlt, wobei es gleichgültig ist, ob die betreffenden Künstler/Publizisten überhaupt sozialversicherungspflichtig sind, d. h. ob die Abgabe ihnen überhaupt zugute kommen kann618. Insoweit aber fehlt es der Künstlersozialabgabe anders als den Arbeitgeberbeiträgen an einer individuellen Zurechenbarkeit 614

Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (aa) (g). BVerfGE 75, S. 108 (147 f.). 616 BVerfGE 11, S. 105 (113). 617 Siehe oben, 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (aa) (g). 618 Siehe Thomas Bunge, Künstlersozialversicherung – ein Streit ohne Ende?, JZ 1981, S. 119 (120). 615

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

als Vergütungsbestandteil, so daß sie wirtschaftlich nicht den Versicherten zugeordnet und demgemäß auch nicht zumindest faktisch als deren Entgelt zur Erlangung des Versicherungsschutzes angesehen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht bejaht in seiner das Künstlersozialversicherungsgesetz betreffenden Entscheidung allerdings den „sachorientierten Anknüpfungspunkt“ unter Feststellung einer im Ergebnis wohl der „sozialen Fürsorgepflicht der Arbeitgeber für ihre Arbeitnehmer“ vergleichbar erachteten „wechselseitigen Angewiesenheit von Künstlern und Publizisten auf der einen, ihrer Vermarkter auf der anderen Seite sowie den zwischen ihnen feststellbaren integrierten Arbeits- und Verantwortlichkeitszusammenhängen“619, was ein Verhältnis darstelle, welches „kulturgeschichtlich gewachsen“ sei, „gewisse symbiotische Züge“ aufweise und „über ein bloßes wechselseitiges Aufeinanderangewiesensein, wie es etwa zwischen Produzenten und Handel oder Erzeugern und Verbrauchern besteht“, hinausgehe620. Ob diese Behauptung den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, soll und muß hier nicht abschließend beurteilt werden – auch wenn gewisse Zweifel erlaubt seien, weil es aufgrund der Selbständigkeit der versicherten Künstler und Publizisten grundsätzlich an einer der abhängigen Beschäftigung vergleichbaren Dichte der zugrundeliegenden Sozialbeziehungen fehlt und das Bundesverfassungsgericht auch nicht belegt, worin denn gerade die „symbiotischen Züge“ bestehen, die über die wechselseitige Angewiesenheit in anderen Beziehungen, „etwa zwischen Anwälten und ihren Mandanten oder Ärzten und ihren Patienten“, hinausgeht621. Letztlich machen diese Ausführungen aber klar, daß abseits solcher Bindungen und daraus resultierender Fürsorgepflichten eine „Beteiligung“ Nicht-Versicherter an der Sozialversicherung nicht in Betracht kommt und die Strukturprinzipien des verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verläßt622, weil sie als versicherungsfremdes Element zu einer „Entversicherung“ der Sozialversicherung führt, die von der betreffenden Gesetzgebungskompetenznorm nicht mehr gedeckt ist.

619

BVerfGE 75, S. 108 (149). BVerfGE 75, S. 108 (159). 621 Siehe zu dieser Kritik Klaus-Peter Starke, Anmerkung (zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8.4.1987 zum Künstlersozialversicherungsgesetz), AfP 1987, S. 590 f.; die Vergleichbarkeit mit der den Arbeitgeberbeitrag als Beitrag eines Beteiligten „rechtfertigenden“ arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht ebenfalls bezweifelnd Lerke Osterloh, Verfassungsfragen der Künstlersozialabgabe, NJW 1982, S. 1617 (1621 f., 1625); Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen einer Reform der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (18); s. ferner Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 105 Rn. 23; Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 (113 f.). 622 BVerfGE 75, S. 108 (147 f.). 620

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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b) Die Komponente „Sozial-“ in der Sozialversicherung Nachdem bis hierhin zunächst die Versicherungskomponente des verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ untersucht wurde, soll im folgenden beleuchtet werden, was gerade das „Soziale“ an dieser Versicherungsform ausmacht. aa) Der Begriff „sozial“ Das Wort „sozial“ ist im heutigen Sprachgebrauch unscharf, weil ihm verschiedene Bedeutungen beigemessen werden können. Folgende Sinngehalte lassen sich unterscheiden:623 1. Im philosophisch-anthropologischen Sinne die Eigenschaft des Menschen (oder auch eines Tieres) als gesellschaftliches, auf Gemeinschaft angewiesenes und auf gesellschaftliche Lebensweise hin angelegtes oder dieser zuneigendes Lebewesen. 2. Den Bereich der zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen, Verhältnisse und Ordnungen, kurz: die Gesellschaft sowie die Eingliederung in diese betreffend. 3. Das „Soziale“ als Inbegriff der Eigenschaften und Verhaltensweisen, die einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen als im Sinne der geltenden Wertvorstellungen und Verhaltensnormen positiv zu bewertende („nützliche“) Mitglieder der Gesellschaft erscheinen lassen. 4. „Sozial“ als auf das Wohl der Mitmenschen und der Gesellschaft als Ganzes – nicht nur des eigenen oder der eigenen Gruppe – und daher auf eine gerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bedacht. Im sozialpolitischen und damit verbundenen sozialrechtlichen Kontext hat das Wort „sozial“ die letztgenannte, vierte Bedeutung624: Allerdings darf „sozial“ in diesem Kontext gleichwohl nicht „nur“ im Sinne von „auf das Wohl der Gesellschaft bedacht“ verstanden werden, da ein Allgemeinwohlbezug letztlich Triebfeder jeder politischen Maßnahme und deren rechtlicher Umsetzung ist bzw. sein sollte. Vielmehr geht es in spezifischer Weise darum, insoweit eine „gerechte“ Wirtschafts- und vor allem Gesellschaftsordnung zu schaffen, als bestimmten Menschen oder Menschengruppen mit besonders ungünstigen Lebensumständen – sei es persönlich, sei es gesellschaftlich bedingt – die Möglichkeit verschafft wird bzw. zu verschaffen ist, eine „menschenwürdige“ Existenz zu führen, ohne mit existentiellen Nöten über Gebühr belastet zu sein; es ist also die Zielvorstellung gemeint, durch die Verhinderung, Beseitigung oder zumindest Linderung von gesellschaftlichen Mißständen, Nöten und Schwierig-

623 Nach Wilhelm Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., 1969, S. 948 f. (Stichwort „Sozial, Das Soziale“). 624 Wilhelm Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., 1969, S. 949 (Stichwort „Sozial, Das Soziale“).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

keiten es vor allem gesellschaftlich Benachteiligten zu ermöglichen, sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft entfalten zu können.625 Diese Interpretation des „Sozialen“ spiegelt sich etwa in der Charakterisierung des Inhalts des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips wider als Beschreibung des verfassungsrechtlich gewollten Zustands des Gemeinwesens626, nämlich daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft627, indem er insbesondere die annähernd gleiche Förderung des Wohles aller Bürger und die annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten grundsätzlich erstrebt628 und durch staatliche Vor- und Fürsorge Gruppen der Gesellschaft soweit unterstützt, wie sie aufgrund persönlicher Schwäche, Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind629. Ferner findet sich diese Umschreibung des „Sozialen“ wieder im als einfachgesetzliche Ausformung des Sozialstaatsprinzips verstandenen § 1 SGB I630, wenn dort für das Sozialgesetzbuch als Zielvorstellung zur Verwirklichung sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit formuliert wird, daß es dazu beitragen soll, ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern sowie den Erwerb des Lebensunterhaltes durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen. Hingegen sollte der Inhalt des „Sozialen“ in diesem Sinne nicht dahingehend formuliert werden, daß (auch) auf den „Ausgleich von Wohlstandsdifferenzen“631 abgezielt werde, denn dies kann leicht im Sinne einer Einebnung solcher Differenzen mißverstanden werden, was den Begriff „sozial“ inhaltlich in die Nähe von „sozialistisch“ rücken würde. Nicht aber generell Unterschiede im Wohlstand sind Anknüpfungspunkt für das „Soziale“, sondern Ziel ist vielmehr 625 Vgl. etwa BVerfGE 35, S. 202 (236); Alfred Maurer, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I: Allgemeiner Teil, 1979, S. 35 ff.; Wilhelm Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., 1969, S. 1039 f. (Stichwort „Sozialpolitik“); Hans F. Zacher, Das Vorhaben des Sozialgesetzbuches, 1973, S. 10 f. 626 Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23. 627 BVerfGE 82, S. 60 (80). 628 BVerfGE 5, S. 83 (198). 629 BVerfGE 35, S. 202 (236). 630 Bernd Baron von Maydell, in: Kretschmer/v. Maydell/Schellhorn, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (GK-SGB I), 3. Aufl., 1996, § 1 Rn. 8. 631 So etwa Hans F. Zacher, Das Vorhaben des Sozialgesetzbuches, 1973, S. 11; ganz ähnlich ders., Sozialrecht und soziale Marktwirtschaft, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 715 (729).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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die Schaffung eines Grundniveaus für jeden, das ihm die oben genannten Ziele, also das Führen einer würdigen Existenz und das freie Entfalten seiner Persönlichkeit in der Gesellschaft, ermöglicht. Oberhalb dieses Grundniveaus verbleibende Wohlstandsdifferenzen auszugleichen und damit eine absolute Gleichheit aller anzustreben, hat nichts mehr mit „sozial“ zu tun. Zum „Sozialen“ kann somit nur eine „relative Umverteilung“632 gehören, die dieses gesellschaftliche Grundniveau an Entfaltungsmöglichkeit für jeden sichern soll. Das gleiche gilt bezüglich Formulierungen, mittels des „Sozialen“ werde die Schaffung „annähernd gleicher Lebensbedingungen aller Bürger“ erstrebt633, denn hiermit können nur gleiche Grundbedingungen im Sinne des eben beschriebenen Grundniveaus zur Ermöglichung freier Persönlichkeitsentfaltung gemeint sein, nicht hingegen die über dieses Grundniveau hinausgehenden Lebens- bzw. Wohlstandsbedingungen. bb) Zur sozialen Komponente der Sozialversicherung Um das „Soziale“ bzw. die „sozialen“ Strukturelemente der „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG näher zu bestimmen, muß einerseits auf das bestehende, einfachgesetzlich ausgeprägte Sozialversicherungssystem geschaut werden, da dies in seinen „klassischen“ Grundstrukturen als eine Art „Leitbild“ für den verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff „Sozialversicherung“ dient634. Andererseits ist aber im verfassungsrechtlichen Sinne nicht entscheidend, was einfachgesetzlich als „Sozialversicherung“ ausgestaltet ist.635 Daher ist der verfassungsrechtliche Begriff von Sozialversicherung auch nicht beschränkt auf bestimmte, insbesondere die „traditionellen“ Zweige der Sozialversicherung,636 sondern es konnte etwa die Einrichtung der sozialen Pflegeversicherung (siehe Elftes Buch Sozialgesetzbuch, SGB XI) als neuer Zweig der Sozialversicherung auf diese Kompetenz gestützt werden637. Ebensowenig macht das Grundgesetz, vom in Art. 87 Abs. 2 GG angeordneten Körperschaftsstatus abgesehen (siehe dazu noch später), inhaltliche Vorgaben zur organisatorischen Ausgestaltung der Sozialversicherung.638 Das gleiche muß letztlich auch für die konkreten sozialen Strukturen gelten, die das derzeitige System der So632 Peter Mrozynski, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I), 3. Aufl., 2003, § 1 Rn. 4. 633 Peter Mrozynski, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I), 3. Aufl., 2003, § 1 Rn. 1. 634 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (112); 75, S. 108 (146); zuvor bereits BSGE 6, S. 213 (228). 635 BVerfGE 11, S. 105 (111). 636 BVerfGE 11, S. 105 (112); 63, S. 1 34 f.); 75, S. 108 (146 f.); 87, S. 1 (34). 637 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (215 f.). 638 BVerfGE 113, S. 167 (201); siehe auch BVerfGE 39, S. 302 (314); 89, S. 365 (377) m. w. N.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

zialversicherung, also seine derzeitige einfachgesetzliche Ausprägung, aufweist. Um den verfassungsrechtlichen Begriff „Sozialversicherung“ hinreichend dynamisch und entwicklungsoffen zu halten, muß im Hinblick auf das „Soziale“ der Sozialversicherung also vor allem auch hinterfragt werden, welches ihr hinter den konkreten sozialen Strukturen ihrer einfachgesetzlichen Ausprägung stehender sozialer Grundgedanke ist, was sie also genau an sozialer Wirkung erreichen will. Das Bundesverfassungsgericht spricht daher hinsichtlich des „Sozialen“ im verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff Sozialversicherung auch nur ganz unspezifisch davon, daß „es seit jeher für die Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kennzeichnend [ist], dass das Prinzip des versicherungsrechtlichen Risikoausgleichs sozial modifiziert und mit Elementen der öffentlichen Fürsorge verbunden wird“639. Mit dem Element der Fürsorge, das insoweit „seit jeher“ in der Sozialversicherung enthalten sei640, meint das Bundesverfassungsgericht dabei nicht den technischen Begriff der „Fürsorge“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, sondern einen „untechnischen“, das „Soziale“ kennzeichnenden641 Gegenbegriff zum rein marktwirtschaftlichen „Versicherungsprinzip“.642 Die inhaltlichen Elemente dieses sozial-fürsorgerischen Gedankens sind es, die im verfassungsrechtlichen Sinne „Sozialversicherung“ als Sozialversicherung, als soziale Versicherung, begrifflich konstituieren. Sie gilt es im folgenden näher zu ermitteln. (1) Schutz vor besonderen Belastungen Ein zentrales soziales Element der Sozialversicherung besteht im Schutz vor besonderen Belastungen643. Dies kann sich zum einen darauf beziehen, wovor die Sozialversicherung schützt, also auf die von der Sozialversicherung abgedeckten Risiken, zum anderen auf die Art und Weise, wie die Sozialversicherung schützt, also auf die Methode, durch die der Sozialversicherungsschutz bewerkstelligt wird.

639

BVerfGE 113, S. 167 (196) – Hervorhebung im Original. Vgl. BVerfGE 9, S. 124 (133); 10, S. 141 (166); 11, S. 105 (114); 21, S. 362 (378); 25, S. 314 (323); 28, S. 324 (348 f.); 76, S. 256 (301). 641 Vgl. BVerfGE 35, S. 202 (236). 642 Siehe auch Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 45, Fn. 9; siehe näher zum „Versicherungsprinzip“ oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (4) (b) sowie dd) (2). 643 Vgl. etwa BVerfGE 11, S. 105 (113); 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313): „soziales Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten“. 640

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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(a) Die absicherbaren Risiken Zunächst stellt sich die – selten näher untersuchte – Frage, welche Risiken im Wege der Sozialversicherung absicherbar, mithin „sozialversicherungsfähig“ sind. (aa) Ausgangspunkt: Vergleichbarkeit mit der „klassischen“ Sozialversicherung Da maßgeblich für den Inhalt des weitgefaßten verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ das Leitbild der „klassischen“, bei Entstehung des Grundgesetzes „vorgefundenen“ Sozialversicherung ist, können „neue Lebenssachverhalte“ – mithin auch neue Risiken – „in das Gesamtsystem ,Sozialversicherung‘ einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen [. . .] dem Bild entsprechen, das durch die ,klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“.644 Im Hinblick auf die spezifische soziale Komponente der Sozialversicherung fordert das Bundesverfassungsgericht diese Vergleichbarkeit „insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken“645. Diese Forderung präzisiert das Bundesverfassungsgericht, indem es hierzu regelmäßig ausführt: „Die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine Notlage gehört nicht zum Wesen der Sozialversicherung. Außer dem sozialen Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten ist die Art und Weise kennzeichnend, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird: Träger der Sozialversicherung sind selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch Beiträge der ,Beteiligten‘ aufbringen“.646 Eine nähere Spezifizierung der sozialversicherungsfähigen Risiken erfolgt hierbei indes nicht. Auch als eine vollständig neue Risikoart in die Sozialversicherung einbezogen wurde – nämlich das durch den neugeschaffenen Sozialversicherungszweig „soziale Pflegeversicherung“ abgesicherte Risiko der Pflegebedürftigkeit –, sah das Bundesverfassungsgericht keine Veranlassung, sich näher zu den Anforderungen an ein sozialversicherungsfähiges Risiko zu äußern; es begnügte sich in einer hierzu ergangenen Entscheidung mit der recht lapidaren Feststellung: „Für die Schaffung der sozialen Pflegeversicherung als eines neuen Zweigs der Sozialversicherung kann sich der Bund auf seine Kompetenz zur Regelung der Sozialversicherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen“647.

644 645 646 647

Siehe etwa BVerfGE 88, S. 203 (313) – st. Rspr. BVerfGE 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313). BVerfGE 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313). BVerfGE 103, S. 197 (215).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Die zuvor beschriebenen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vergleichbarkeit der abzudeckenden Risiken mit der „klassischen“ Sozialversicherung lassen insoweit zwei unterschiedliche Interpretationen zu: Entweder, die Vergleichbarkeit muß hinsichtlich der Art der versicherten Risiken bestehen, d. h. sozialversicherungsfähig sind nur Risiken, die bereits von vornherein ihrer Struktur nach mit den klassischen, primär personenbezogenen Sozialversicherungsrisiken (Krankheit, Alter, Unfall, Arbeitslosigkeit) vergleichen lassen, so daß bestimmte, dem nicht entsprechende Risikoarten (z. B. Sach- oder Haftungsrisiken) von vornherein als sozialversicherungsfähige ausscheiden würden. Oder die Vergleichbarkeit muß „nur“ insoweit bestehen, als hinsichtlich des versicherten Risikos ein „soziales Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten“, also kurz gesagt ein bestimmtes Sicherungsbedürfnis zu diagnostizieren ist; auf die Art des Risikos würde es dann nicht ankommen, solange das betreffende Risiko – etwa aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen oder Anschauungen – als sozial sicherungsbedürftig anzusehen ist. Im ersten Fall würde damit ein relativ enges Risikoverständnis zugrunde gelegt, weil bestimmte Risikoarten bereits von vornherein als sozialversicherungsfähige ausscheiden, im zweiten Fall läge ein relativ weites Risikoverständnis vor, weil jedenfalls im Grundsatz sämtliche Risikoarten als sozialversicherungsfähige in Betracht kommen. (bb) Weites Risikoverständnis: prinzipiell alle Risiken sozialversicherungsfähig Soweit in der Literatur zu dieser Frage überhaupt konkret Stellung bezogen wird, wird für die „Sozialversicherung“ mitunter ein weites Risikoverständnis zugrunde gelegt: Die Beschränkung dieses verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffs auf bestimmte Risikoarten, namentlich auf Personenrisiken bzw. Personenversicherungen – wie dies für die bisherigen Sozialversicherungszweige der Fall ist – sei kein notwendiges Begriffsmerkmal der „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.648 Insoweit könne auch eine Sachversicherung649 als Sozialversicherung konzipiert werden650, und auch sonstige 648 So ausdrücklich Christian Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl., 1996, Art. 74 Rn. 831. 649 Unter Sachversicherung versteht man jede Versicherung, die das Risiko des Verlustes von Sachvermögen schützt, etwa die Feuer-, Gebäude- oder Hausratsversicherung, ebenso die Kfz-Kaskoversicherung. Die Sachversicherung ist ein Unterfall der Nichtpersonenversicherung; letztere bildet den Gegenbegriff zur Personenversicherung und umfaßt demgemäß diejenigen Versicherungen, die nicht ein in der Person des Versicherten liegendes Risiko abdecken, sondern ein Risiko, das allein dessen Vermögen betrifft – hierzu gehört insoweit etwa auch die Haftpflicht- oder die Rechtsschutzversicherung. Siehe näher zu alldem Hans Möller, Versicherungsvertragsrecht, 3. Aufl., 1977, S. 33 ff.; Hans Leo Weyers/Manfred Wandt, Versicherungsvertragsrecht, 3. Aufl., 2003, Rn. 27 ff.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Nichtpersonenrisiken bzw. -versicherungen, wie etwa die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung oder die Rechtsschutzversicherung, werden als sozialversicherungsfähig angesehen651. Ein solch weites, grundsätzlich alle Risikoarten umfassendes Verständnis scheint auch in einigen Stellungnahmen zur Schaffung der „sozialen Pflegeversicherung“ als neuen Sozialversicherungszweig zugrunde gelegt zu sein, wenn dort bei der Frage nach der Vereinbarkeit mit den inhaltlichen Merkmalen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht darauf abgestellt wurde, ob und inwieweit eine strukturelle Vergleichbarkeit des Risikos „Pflegebedürftigkeit“ mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken besteht, sondern vielmehr als maßgeblich erachtet wird, daß „die zentralen, das Bild der Sozialversicherung ausmachenden Elemente [. . .] mit der primären Anknüpfung an die GKV [scil. hinsichtlich Versichertenkreis, vgl. § 20 SGB XI, und Organisation, vgl. § 46 SGB XI], der Finanzierung durch Beiträge nach dem Muster der meisten Sozialversicherungszweige und der Normierung sozialen Ausgleichs unter den Versicherten“ gewahrt blieben652. Teilweise wurde bei der Beurteilung der Vergleichbarkeit des Risikos „Pflegebedürftigkeit“ mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken auch als maßgeblich erachtet, daß dieses wie jene im Endeffekt das Risiko eines Vermögensverlustes absichert.653 Dieser Anknüpfungspunkt für eine vermeintliche Vergleichbarkeit der Risiken führt aber letztlich ebenfalls zu einem weiten, alle Risikoarten abdeckenden Verständnis, da selbstredend jedes Risiko, welches über eine Versicherung abgedeckt wird – gleich ob Personen- oder Nichtpersonenrisiko – im Endeffekt immer genau deshalb versichert wird, um im Realisierungsfall den Rückgriff auf eigenes Vermögen vermeiden zu können.

650 Christian Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl., 1996, Art. 74 Rn. 831. 651 Siehe für die Kfz-Haftpflichtversicherung etwa Hans Möller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefüge des Versicherungswesens, in: Festschrift für Hans Schmitz, Bd. II, 1967, S. 391 (397); vgl. für die Rechtsschutzversicherung Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 172, der dort beispielhaft Rechtsschutz in eine Reihe mit den bestehenden Sozialversicherungsrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität, Unfall) stellt. 652 Ingwer Ebsen, Die gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, Jura 2002, S. 401 (402). Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 103, S. 197 (215) – zur Pflegeversicherung –, wo zur Vergleichbarkeit der versicherten Risiken nicht einmal im Ansatz Stellung bezogen, sondern vielmehr impliziert wird, allein die Tatsache, daß der Gesetzgeber einen neuen Sozialversicherungszweig schafft, begründe bereits seine Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – was konsequent zuende gedacht den Kompetenztitel zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stellen würde. 653 Georg Kleemann, Verfassungsrechtliche Probleme der sozialen Pflegeversicherung und ihrer Finanzierung, 1998, S. 98.

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Ausschlaggebend wäre nach einem derart weiten Verständnis der sozialversicherungsfähigen Risiken im Ergebnis allein, daß durch die Realisierung eines Risikos – unabhängig von seiner konkreten Art (Personen-, Sach-, Nichtpersonenrisiko) – ein Vermögensverlust droht (sei es unmittelbar oder durch Notwendigkeit zur Kompensation durch Vermögenseinsatz), welcher eine besondere, ein soziales Absicherungsbedürfnis nach sich ziehende Belastung mit sich bringt. Soll allerdings bei einem derart weiten Verständnis die „Sozialversicherung“ nicht allein auf eine bestimmte Organisationsform sowie („soziale“) Methode654 reduziert werden, wird man zusätzlich fordern müssen, daß die Folgen des Risikos (bzw. dessen Eintritts) ohne besondere „soziale“ Absicherung gerade das beeinträchtigen, was nach dem oben655 Ausgeführten der Inhalt des Sozialen ist: nämlich das Vorhandensein eines hinreichenden sozialen Grundniveaus, welches es dem Einzelnen ermöglicht, selbstverantwortlich und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und seine Persönlichkeit frei zu entfalten. Dies würde insbesondere der Fall sein, wenn infolge der Nichtabsicherung des Risikos die Gefahr besteht, daß den von dem Risiko Betroffenen erhebliche Nachteile im Hinblick auf einen für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bedeutsamen Lebensbereich entstehen. Wollte man etwa als neuen Sozialversicherungszweig eine gesetzliche Rechtsschutzversicherung einführen, wird man das Risiko „Rechtsschutzbedürftigkeit“ nur dann als sozialversicherungsfähig ansehen können, wenn aufgrund der konkreten gesellschaftlichen Umstände bei dessen Nichtabsicherung beispielsweise eine faktische Rechtswegsperre eintritt656, weil bestimmte (vor allem sozial schwächere) Personenkreise aufgrund der (zumindest potentiellen) Gefahr, die betreffenden Kosten (Anwalts-, Gerichtskosten) tragen zu müssen, von vornherein von der Inanspruchnahme von Rechtsschutz absehen.657 Allein der Eintritt von Vermögens654 Siehe zur Methode der Sozialversicherung noch im folgenden 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b). 655 Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) aa). 656 Siehe hierzu etwa Erich Fechner, Kostenrisiko und Rechtswegsperre – Steht der Rechtsweg offen?, JZ 1969, S. 349 ff. 657 Überlegungen zur Einführung einer „allgemeinen gesetzlichen Rechtsschutzversicherung in Form der Sozialversicherung“ hatte es etwa 1973 in der SPD gegeben, die auf ihren Bundesparteitag im Jahre 1973 der Bundesregierung empfahl, die Einführung einer solchen zu prüfen, vgl. SPD-Bundesvorstand (Hrsg.), Parteitag Hannover 1973, Beschlüsse (außer Bodenreform, Vermögensbildung und Orientierungsrahmen ’85), 1973, S. 24; auch Fritz Baur, Armenrecht und Rechtsschutzversicherung, JZ 1972, S. 75 (77 f.), schlug eine an die bestehenden Sozialversicherungszweige angelehnte Rechtsschutzversicherung vor. Bereits vor der Ägide des Grundgesetzes hatte sich Ludwig Bendix, Richter, Rechtsanwälte und Arbeitsgerichte, Die Justiz 1925/26, S. 186 (188 f.), für „staatliche Rechtsschutzkassen in Analogie zu den Krankenkassen“ stark gemacht, da die damals noch im Armenrecht verwurzelten, mittlerweile zum Institut der Prozeßkostenhilfe (siehe §§ 114 ff. ZPO) fortentwickelten, staatlichen Zuwendungen zur Hilfeleistung im Prozeßfall ein „Gnadenerweis“ seien, „über den der Empfänger nicht recht froh werden kann, weil nun einmal das Nehmen von Leistungen der Wohltätigkeit nicht selig“ mache und insoweit „das Armenrecht eine pein-

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nachteilen wird hingegen nicht ausreichen, das beschriebene Mindestniveau gesellschaftlicher Teilhabe zu beeinträchtigen, es sei denn sie würden eine existenzgefährdende Höhe erreichen. Trotz derartiger Eingrenzungen wäre aber bei Zugrundelegung dieses weiten Risikoverständnisses prinzipiell jede Risikoart sozialversicherungsfähig, ohne daß etwa von vornherein danach zu differenzieren wäre, ob es sich um ein Personenrisiko, ein Sachrisiko oder ein allgemeines Vermögensrisiko handelt – über die Sozialversicherungsfähigkeit entschieden danach letztlich allein die mit dem Risiko verbundenen Folgen. Diese müßten mit den durch die klassischen Sozialversicherungsrisiken bewirkten Folgen insoweit vergleichbar sein, als sie das Vorhandensein eines gewissen Grundniveaus in einzelnen, für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlichen Bereichen beeinträchtigen. (cc) Enges Risikoverständnis: nur bestimmte Risiken sozialversicherungsfähig Gleichwohl kann – wie oben dargelegt – die vom Bundesverfassungsgericht auch hinsichtlich der versicherten Risiken geforderte Vergleichbarkeit mit der klassischen Sozialversicherung ebenfalls dergestalt zu verstehen sein, daß von vornherein nur bestimmte Risiken bzw. Risikoarten sozialversicherungsfähig sind.658 Hierzu muß ein Vergleich nicht nur mit den Folgen im Falle der Risikoverwirklichung, sondern mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken selbst gezogen werden (Krankheit, Alter, Unfall sowie das 1927 mit Schaffung der Arbeitslosenversicherung hinzugetretene659 Risiko Arbeitslosigkeit). Die möglichen Vergleichsparameter sind daher im folgenden zu untersuchen. (a) Nur Risiken mit einer bestimmten Eintrittswahrscheinlichkeit? Mitunter wird vertreten, eine Vergleichbarkeit mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken sei nur gegeben bei einer entsprechend hohen Eintrittswahrscheinlichkeit, weil ansonsten kein „allgemeines Lebensrisiko“ bestehe, gegen

liche, um nicht zu sagen, schnöde Einrichtung“ darstelle. Vgl. ferner zu derartigen Überlegungen Mitte der 70er Jahre Helmut André, Chancengleichheit im Rechtsschutz durch obligatorische Rechtsschutzversicherung?, ZRP 1976, S. 177 ff. 658 Vgl. etwa Rupert Stettner, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 74 Rn. 67: Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG umfasse nicht Absicherung „gegen jedwede Unbill des Lebens“, sondern „Versicherung ganz bestimmter sozialer Risiken“ – ohne daß diese von Stettner dann allerdings nach allgemeinen Kriterien spezifiziert werden. 659 Siehe das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16.7.1927 – RGBl. I, S. 187, 320.

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welches die Sozialversicherung nur absichern könne660. Dies wurde in Teilen der Literatur etwa hinsichtlich des Risikos „Pflegebedürftigkeit“ verneint (mit der Folge, daß hierin kein sozialversicherungsfähiges Risiko im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG liege), weil von der Pflegebedürftigkeit lediglich 2% der Bevölkerung betroffen seien, während etwa das Risiko „Krankheit“ oder „Alter“ praktisch jeden Versicherten im Verlaufe der Versicherungsbiographie treffe.661 Allerdings erscheint es zweifelhaft, auf die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos abzustellen, um es als sozialversicherungsfähiges zu klassifizieren: Abgesehen davon, daß wohl schon kaum eine plausible und willkürfreie Grenze zwischen hinreichender und nicht hinreichender Eintrittswahrscheinlichkeit gezogen werden kann, kann sich ein soziales Bedürfnis nach Absicherung eines Risikos nicht allein an dessen Eintrittshäufigkeit, sondern auch an der Schwere der mit dem Risikoeintritt verbundenen Folgen manifestieren. Beim Eintritt des Risikos „Pflegebedürftigkeit“ beispielsweise entsteht regelmäßig ein erheblicher finanzieller Bedarf, um die erforderlichen personellen oder sachlichen Pflegeleistungen bewerkstelligen zu können – wobei diese Belastung noch umso schwerer wiegt, weil der Pflegebedürftige aufgrund seines Zustandes regelmäßig nicht mehr in der Lage ist, die hierfür nötigen Mittel eigenständig zu erwirtschaften. Der soziale Aspekt einer Absicherung gegenüber einem Risiko, das die persönliche Lebensführung und eigenverantwortliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich beeinträchtigt, greift also angesichts der schwerwiegenden Folgen des Risikoeintritts auch hier, selbst wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit verhältnismäßig gering sein mag.662 Für den Kreis der sozialversicherungsfähigen Risiken kommt es also nicht maßgeblich auf deren Eintrittswahrscheinlichkeit an. (b) Nur körperliche Risiken/Personenrisiken? In Betracht kommt, daß die Sozialversicherung ausschließlich sog. Personenrisiken abdeckt, daß also nur solche Risiken sozialversicherungsfähig sind, die im Wege sog. Personenversicherungen663 abgesichert werden. Personenrisiken 660 Siehe Claus Berenz/Gabriele Brock/Michael Worzalla, Verfassungsrechtliche Grenze überschritten, Der Arbeitgeber 1991, S. 381; Fritz-René Grabau, Kritische Gedanken zur Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung, ZRP 1993, S. 142 (143); Ulrich Hoffmann, Gesetzliche Pflegeversicherung stößt auf verfassungsrechtliche Bedenken, ASP 1985, S. 390 (391 f.); Jürgen Husmann, Pflegeversicherung – Aus Strukturfehlern lernen, Der Arbeitgeber 1991, S. 376. 661 Siehe die Nachweise in der vorhergehenden Fußnote. 662 Vgl. Georg Kleemann, Verfassungsrechtliche Probleme der sozialen Pflegeversicherung und ihrer Finanzierung, 1998, S. 95. 663 Siehe zur Unterscheidung zwischen Personen-, Nichtpersonen- und Sachversicherung bereits oben Fn. 649.

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sind solche Risiken, die in der Person des Versicherten eintreten, also körperlich wirken und nicht außerhalb der Person liegende Umstände betreffen. Zu den Personenrisiken gehören etwa das Alter, Unfälle oder Krankheit, und diese werden auch durch die klassischen Sozialversicherungszweige der Renten-, Unfallund Krankenversicherung abgedeckt. Problematisch wäre aber bereits die Erfassung des ebenfalls über die klassische Sozialversicherung (in der Gestalt der Arbeitslosenversicherung) abgedeckten Risikos „Arbeitslosigkeit“ als Personenrisiko, denn das Risiko „Arbeitslosigkeit“ bezieht sich, anders als Personenrisiken, nicht auf die physische oder psychische Konstitution des Versicherten.664 Auch wenn es nicht an körperliche Begebenheiten des Versicherten anknüpft, ist es gleichwohl ein sozialversicherungsfähiges Risiko, wie sich allein schon aus der klarstellenden Erfassung der „Arbeitslosenversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergibt. Für die Charakterisierung der sozialversicherungsfähigen Risiken insgesamt bedeutet dies, daß die abgesicherten „Wechselfälle des Lebens“665 nicht nur solche sind, die unmittelbar die körperliche Physis des Versicherten betreffen. Sozialversicherungsfähige Risiken sind folglich nicht ausschließlich Personenrisiken. (g) Risiken in Zusammenhang mit der Arbeitsfähigkeit Allen bisher in der klassischen Sozialversicherung abgesicherten Risiken ist gemein, daß es sich – im weitesten Sinne – um Risiken in Zusammenhang mit der Arbeitsfähigkeit handelt. Der Eintritt von Krankheit, Alter und Unfällen hindert die Betroffenen regelmäßig, weiterhin oder zumindest mit voller Kraft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Eintritt von Arbeitslosigkeit stellt zwar keine körperliche Beeinträchtigung dar, hindert den hiervon Betroffenen aber daran, seine (vorhandene) Arbeitskraft entsprechend verwerten zu können. Und auch bei dem seit 1.1.1995 mit der Schaffung der sozialen Pflegeversicherung in die sozialversicherungsrechtliche Absicherung miteinbezogenen Risiko der „Pflegebedürftigkeit“ läßt sich dieser Anknüpfungspunkt konstatieren, da mit der hierdurch abgesicherten Gefahr der mangelnden Fähigkeit, sich selbst in hinreichender Weise zu versorgen bzw. die „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens“ auf Dauer eigenständig durchführen zu können (vgl. § 14 Abs. 1 SGB XI), im Endeffekt ebenfalls ein Risiko abgesichert wurde, das sich auf die Arbeitsfähigkeit und die damit verbundene Befähigung zur eigenständigen Erwirtschaftung einer Lebensgrundlage bezieht. Dieses Ergebnis ergibt sich auch aus der Verwandt-

664 Vgl. auch Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 85 f., der insoweit allerdings von einer „Sonderstellung“ der Arbeitslosenversicherung ausgeht. 665 BVerfGE 18, S. 257 (258).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

schaft des Risikos „Pflegebedürftigkeit“ zum jedenfalls sozialversicherungsfähigen Risiko „Krankheit“: Die Pflegeversicherung ist im Grunde eine konsequente Fortführung bzw. Ergänzung zur Krankenversicherung666. Beide decken Risiken ab, die in einer negativen Abweichung vom normalen Körper- oder Geisteszustand bestehen, wobei das von der Krankenversicherung abgedeckte Risiko regelmäßig ein behandel- und rehabilitierbares ist, das von der Pflegeversicherung abgedeckte hingegen ein voraussichtlich für eine längere Dauer (vgl. § 14 Abs. 1 SGB XI: mindestens sechs Monate) bestehen bleibender Zustand. Der vor allem graduelle Unterschied dieser Risiken zeigt sich auch in der Pflicht der Krankenkassen, frühzeitig durch Prävention, Behandlung und Rehabilitation auf eine Vermeidung von Pflegebedürftigkeit hinzuwirken sowie auch nach deren Eintritt entsprechende Leistungen zur Überwindung, Minderung oder Verhinderung einer weiteren Zustandsverschlimmerung zu erbringen (siehe §§ 5 Abs. 1 und 2 SGB XI, § 11 Abs. 2 SGB V). Nicht zuletzt wegen dieser möglichen Leistungsverzahnungen sind die Pflegekassen bei den Krankenkassen angesiedelt (siehe § 46 SGB XI). Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur vertreten, daß sozialversicherungsfähige Risiken nur solche sind, die in einer Verbindung mit der Arbeitsfähigkeit stehen bzw. sich auf diese auswirken667. Mangels Fehlen dieser „auch nur losesten Verbindung zur Arbeit, zum Beruf, zur Ausbildung usw.“ könne daher beispielsweise das allgemeine Risiko „Rechtsschutzbedürftigkeit“ nicht im Wege der Sozialversicherung abgesichert werden, die Schaffung einer gesetzlichen Rechtsschutzversicherung also nicht auf die Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden.668 (dd) Bewertung Bei der Beantwortung der untersuchten Frage, ob das der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugrunde liegende Risikoverständnis eher ein weites, grundsätzlich alle Risiken erfassendes, oder eher ein enges, grundsätzlich einen Bezug zur Arbeitsfähigkeit erforderndes ist, sind die nachfolgend zu erörternden Umstände in die Bewertung einzubeziehen.

666 Vgl. Peter Axer, Gesundheitswesen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 95 Rn. 33 f. 667 Siehe etwa Helmut André, Chancengleichheit im Rechtsschutz durch obligatorische Rechtsschutzversicherung?, ZRP 1976, S. 177 (179); vgl. ferner Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 86, 88. 668 Helmut André, Chancengleichheit im Rechtsschutz durch obligatorische Rechtsschutzversicherung?, ZRP 1976, S. 177 (179).

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(a) Intention der „klassischen“ Sozialversicherung Die „klassische“, auf Bismarck zurückgehende Sozialversicherung hatte sich entwickelt als Reaktion auf die zunehmende Industrialisierung und die dadurch bedingte Hervorbringung einer neuen gesellschaftlichen Gruppe, der Arbeiter, welche in starker wirtschaftlicher Abhängigkeit und unter nur unzureichenden Arbeitsbedingungen lebten. Die daraus resultierenden Gesundheits- und Unfallgefahren, aber auch generell die Gefahr des Verlusts der Möglichkeit, durch diese Arbeit ein Einkommen als Lebensgrundlage zu erzielen, waren die vordringlichen Beweggründe zur Installation der Sozialversicherung.669 Insoweit dienten die klassischen Zweige der Sozialversicherung (Renten-, Unfall-, und Kranken-, sowie die 1927 hinzugetretene670 Arbeitslosenversicherung) der Absicherung von Risiken, deren Verwirklichung vor allem die Gefahr mit sich bringen, nicht mehr eigenständig einem Erwerb nachgehen und folglich keine Lebensgrundlage erwirtschaften zu können (Krankheit, Alter, Unfälle, Verlust des Arbeitsplatzes). Es ging bei der Schaffung der Sozialversicherung also vornehmlich darum, bestimmte, „elementare“671 Risiken, die sich auf die existentiellen Daseinsgrundlagen auswirken konnten, abzusichern. Hiermit deckt sich auch die vom Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig vorgenommene Beschreibung, wonach die Sozialversicherung den in ihr Versicherten „zur Sicherung ihrer Daseinsgrundlagen gegen bestimmte Wechselfälle des Lebens“ diene672. Als „Daseinsgrundlagen“ in diesem Sinne können nicht nur rein sprachlich, sondern auch angesichts der beschriebenen Zielsetzung bei Schaffung der Sozialversicherung nur die Existenzgrundlagen des Einzelnen gemeint sein. Da die Fähigkeit zur Arbeit letztlich die einzige jedermann innewohnende, mithin grundlegende und fundamentale Voraussetzung zur Schaffung einer Lebensgrundlage ist, hatte der Staat mit der Schaffung der Sozialversicherung eine Absicherung gegenüber gerade dieser Fähigkeit drohenden Risiken übernommen, um die Daseinsgrundlagen des Einzelnen zu schützen.673 Wegen der für das gesellschaftliche Individuum überragenden Bedeutung der Befähigung zum eigenständigen Erwirtschaften einer (wirtschaftlichen) Lebensgrundlage kommt in der Absicherung dieser Risiken insoweit auch das „Soziale“ zum Ausdruck, dessen bereits oben beschriebenes Ziel gerade darin besteht, ein bestimmtes Grundniveau zu sichern, auf Grundlage dessen der Einzelne in menschen-

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Siehe ausführlich hierzu bereits oben 1. Teil, I. 3. Siehe das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16.7.1927 – RGBl. I, S. 187, 320. 671 Wolfgang Ost/Gerhard Mohr/Martin Estelmann, Grundzüge des Sozialrechts, 2. Aufl., 1998, S. 63. 672 BVerfGE 18, S. 257 (258). 673 Siehe auch Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 88. 670

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würdiger und selbstbestimmter Weise seine Persönlichkeit frei zu entfalten vermag.674 Bereits die Intention der klassischen Sozialversicherung, die für die Bestimmung des strukturellen Inhalts von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Leitbild dient, spricht daher für das oben beschriebene enge Risikoverständnis, wonach nur Risiken sozialversicherungsfähig sind, die im weitesten die Arbeitsfähigkeit und damit die persönliche Befähigung zur Erwirtschaftung einer Lebensgrundlage betreffen. (b) Sozialversicherungsfähigkeit von nicht auf die Arbeitsfähigkeit bezogenen Risiken (aa) Reiner Vermögensschutz? Für ein demgegenüber weites Risikoverständnis, welches prinzipiell sämtliche Risiken als sozialversicherungsfähig erscheinen läßt, soweit nur die durch die Risikoverwirklichung eintretenden Folgen hinreichend „elementar“ sind (siehe oben), ließe sich allerdings als Argument in Betracht ziehen, daß grundsätzlich auch das Vermögen als solches eine Existenzgrundlage des Einzelnen ist. Zu fragen ist somit, ob die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG über die Absicherung der Daseinsgrundlagen durch Schutz der Arbeitsfähigkeit hinaus auch rein das Vermögen als solches schützen will675 (so daß etwa Rechtsschutz-, Haftpflicht- oder Sachvermögensrisiken sozialversicherungsfähig wären). Die klassischen bzw. bisher erfaßten Sozialversicherungsrisiken wirken sich zwar letztendlich auch auf das Vermögen aus, allerdings tritt der Schaden hier nicht unmittelbar bzw. direkt am Vermögen ein, sondern primäres Schädigungsobjekt ist vielmehr im weitesten Sinne die Person des Versicherten: insoweit nämlich, als das betreffende Risiko bzw. dessen Eintritt eine mit der Person verhaftete Eigenschaft negativ tangiert (Alter, Gesundheitszustand, Fähigkeit zu eigenständiger Verrichtung der Tagesabläufe etc.; auch das Innehaben von Arbeit gehört zu diesen Eigenschaften, selbst wenn man die Arbeitslosenversicherung nicht im engeren Sinne den Personenversicherungen zurechnet, siehe oben), und zwar mit der oben beschriebenen Folge einer Beeinträchtigung oder 674 Vgl. auch Hanno Kube, Äquivalenz und Solidarität im Sozialversicherungsrecht, Der Staat 2002, S. 452 (475 f.), der insoweit von einem „Ermöglichungscharakter“ der sozialversicherungsfähigen Risiken spricht. 675 Hierin augenscheinlich das maßgebliche Kriterium für die Vegleichbarkeit mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken erblickend Georg Kleemann, Verfassungsrechtliche Probleme der sozialen Pflegeversicherung und ihrer Finanzierung, 1998, S. 98 – siehe hierzu aber auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a) (bb).

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Gefährdung der Gestaltung einer eigenverantwortlichen, menschenwürdigen Lebensgrundlage. Erst aus dieser primär die Person betreffenden „Schädigung“ (altersbedingte Erwerbslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit) resultieren hier dann Vermögensbeeinträchtigungen, sei es wegen der Notwendigkeit zum Vermögensaufwand für die Kompensation der Schädigung (z. B. Krankenbehandlung, Pflegeaufwand) oder wegen der schädigungsbedingten Unmöglichkeit, Vermögen zu erwirtschaften (z. B. Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit). Der Vermögensschaden ist hier also ein nur mittelbarer oder „sekundärer“; primär geschädigt wird die Person des Versicherten im Hinblick auf deren konkrete Eigenschaften, die über ihre Befähigung entscheiden, eigenverantwortlich eine menschenwürdige, die freie Persönlichkeitsentfaltung auf einem hinreichenden Grundniveau ermöglichende Lebensgrundlage zu erwirtschaften. „Primäre“ Vermögensschäden hingegen treten direkt am Vermögen ein (etwa durch eine Verpflichtung, Prozeßkosten zu tragen oder für die durch ein Kraftfahrzeug bewirkte Schädigung eines anderen zu haften, oder durch Beeinträchtigung des Sachvermögens, etwa am Hausstand o. ä.). Auch wenn nicht verkannt werden soll, daß der Eintritt „reiner“, primärer Vermögensschäden bei einer entsprechenden Schwere ebenfalls nicht unerheblich die Lebensgestaltung beeinträchtigen kann, bleibt hier aber gleichwohl – anders als bei den beschriebenen Sozialversicherungsrisiken – die Möglichkeit bzw. Befähigung bestehen, aus eigener Kraft und durch eigene Arbeitsleistung das – etwa zur Schadenskompensation – benötigte Einkommen zu erzielen676. Wegen der fehlenden Primärbeeinträchtigung einer mit der Person verbundenen Eigenschaft, die insbesondere letzteres ermöglicht, erscheint es daher aber verfehlt, etwa in einem Gerichtsprozeß und den damit verbundenen Kosten einen mit Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit vergleichbaren Schicksalsschlag oder Wechselfall des Lebens zu erblicken677. Die „elementare“ Fähigkeit zur Schaffung/Erwirtschaftung einer Daseinsgrundlage bleibt, trotz der Beeinträchtigung des bereits vorhandenen Vermögens, bestehen. Auch diese insoweit fehlende Vergleichbarkeit mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken spricht somit dagegen, als sozialversicherungsfähig auch die Absicherung von reinen Vermögensrisiken anzusehen, die nicht primär die Arbeitsfähigkeit des Versicherten und seine hierdurch ermöglichte Befähigung zur Schaffung bzw. Erwirtschaftung einer Lebensgrundlage tangieren. 676 So auch Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 88. 677 So aber Fritz Baur, Armenrecht und Rechtsschutzversicherung, JZ 1972, S. 75 (77). Bzgl. Rechtsschutzversicherung jedenfalls im Ergebnis wie hier hingegen Helmut André, Chancengleichheit im Rechtsschutz durch obligatorische Rechtsschutzversicherung?, ZRP 1976, S. 177 (179); siehe ferner Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 88.

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(bb) Insbesondere: Risiken betreffend das Sachvermögen Im Hinblick auf den Schutz des Sachvermögens spricht gegen eine generelle Erstreckbarkeit der Sozialversicherung auch auf derlei Risiken ferner der Umstand, daß es eine sozial motivierte, staatliche Absicherung gegen bestimmte, rein (sach)vermögensrechtliche Risiken im Wege der Versicherung gibt bzw. gab, die nicht „Sozialversicherung“ ist: nämlich die landesrechtlichen „Zwangsund Monopolanstalten“,678 welche insbesondere auf dem Gebiet der Feuer- und Gebäudeversicherung tätig sind bzw. waren679. Ihre Zielsetzung war ähnlich wie die der Sozialversicherung am Gemeinwohl orientiert, wozu sie vergleichbare soziale Mechanismen aufwiesen wie die Sozialversicherung680. Sie dienten von jeher dem öffentlichen Interesse am Erhalt des Gebäudebestandes und damit der Erhaltung von Wohn- und Arbeitsstätten, der Verhinderung der Verarmung brandgeschädigter Gebäudeeigentümer sowie gleichzeitig dem Erhalt von an den Gebäudebestand anknüpfenden öffentlichen Abgaben als staatlicher Einnahmequelle681 und verfolgten somit ganz überwiegend soziale Ziele. Da dieses Risiko aber gerade nicht der Sozialversicherung zugeordnet worden ist (und auch nie wurde – die öffentlich-rechtlichen Gebäudeversicherungen haben eine lange, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition682), wird man davon ausgehen müssen, daß die Sozialversicherung jedenfalls traditionellerweise gerade nicht vor derartigen oder vergleichbaren Vermögensschäden schützen soll683. Für die Absicherbarkeit von Sachrisiken im Wege der Sozialversicherung läßt sich auch nicht der für die oben genannten Sozialversicherungsrisiken maßgebliche Aspekt der Absicherung der Möglichkeit zur Einkommenserzielung anfüh678 Siehe BVerfGE 10, S. 141 (162 ff.); 41, S. 205 (218 f.); ferner oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (m); ausführlich zu diesen Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989. 679 Das System dieser öffentlich-rechtlichen Versicherungsmonopole ist durch die 1993 vom Rat der Europäischen Gemeinschaften verabschiedete Dritte Richtlinie Schadenversicherung (siehe deren Art. 3) erheblich unter Druck geraten, und es mußten die betreffenden öffentlich-rechtlichen Versicherungen in privatrechtliche Versicherungsverhältnisse übergeleitet werden, siehe näher Reinhard Renger, Gesetz zur Überleitung landesrechtlicher Gebäudeversicherungsverhältnisse, VersR 1993, S. 942 ff. – An der Bedeutung dieser jedenfalls die längste Zeit parallel zur „klassischen“ Sozialversicherung bestehenden Versicherungsform für die hier vorgenommene Untersuchung ändert dies aber nichts. 680 Siehe ausführlicher hierzu unten 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. a). 681 Siehe Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 7. 682 Siehe näher Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 5 ff. 683 So im Ergebnis auch Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 88.

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ren: Zwar kann auch Sacheigentum hierzu dienen, etwa durch die Vermietung von Wohnraum. Jedoch ist Voraussetzung hierfür, daß bereits ein entsprechendes Sachvermögen vorhanden ist. Anders als die generelle Fähigkeit, durch persönlichen Einsatz seiner Arbeitskraft ein Einkommen zu erwirtschaften, handelt es sich hierbei aber gerade nicht um eine fundamentale, von Natur aus gegebene und damit letzten Endes die einzige jedermann innewohnende Voraussetzung für die wirtschaftliche Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung. (gg) Insbesondere: Risiken betreffend Haftungsverpflichtungen Hinsichtlich der Absicherung von Haftungsrisiken, die unbestreitbar zu erheblichen Vermögensbeeinträchtigungen führen können, kann prinzipiell nichts anderes gelten als für Risiken betreffend das Sachvermögen. Denn auch durch den Eintritt einer – sei es auch erheblichen – Haftungsverpflichtung wird nicht die grundlegende persönliche Befähigung genommen, kraft persönlichen Einsatzes ein Einkommen als Grundlage einer selbstbestimmten Lebensführung zu erzielen. Der Unterschied zu Beeinträchtigungen des vorhandenen Sachvermögens mag hier zwar darin liegen, daß eine Belastung mit einer erheblichen Haftungsverpflichtung die persönliche Lebensführung in wirtschaftlicher Hinsicht dauerhaft oder zumindest langfristig negativ tangieren kann, bis die Haftungsverpflichtung getilgt ist. Insoweit könnte hierdurch auch das durch persönlichen Arbeitseinsatz erzielte Fundament einer selbstbestimmten Lebensgestaltung dauerhaft entwertet werden, weil das erzielte Einkommen jedenfalls wirtschaftlich von vornherein mit einer Tilgungsverpflichtung belastet ist bzw. entsprechend geschmälert wird – was zumindest insoweit für eine gewisse Vergleichbarkeit mit den klassischen Sozialversicherungsrisiken sprechen könnte. Gleichwohl aber ist zu berücksichtigen, daß der insoweit von staatlicher Seite für notwendig erachtete, allgemeine Schutz des als Lebensgrundlage fungierenden Einkommens traditionellerweise gerade nicht durch die Sozialversicherung bewerkstelligt wurde und wird, sondern durch die vollstreckungsrechtlichen Regelungen über den Pfändungsschutz (siehe insbesondere die §§ 850 ff. ZPO), die einen gewissen Grundbetrag des Einkommens dem zwangsvollstreckungsrechtlichen Zugriff entziehen. Dieses bis ins 19. Jahrhundert und vor die Zeit der bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung zurückreichende684 Institut ver684 Siehe etwa das Gesetz betreffend die Beschlagnahme des Arbeits- und Dienstlohnes vom 21.6.1869 – BGBl.-NdtB, S. 242 (siehe ferner BGBl.-NdtB 1871, S. 73; RGBl. I 1897, S. 159; RGBl. I 1898, S. 332). Die heutige Ausgestaltung der §§ 850 ff. ZPO geht zurück auf das Gesetz vom 24.10.1934 – RGBl. I, S. 1070. Siehe ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung der das Arbeitseinkommen betreffenden Pfändungsschutzvorschriften Wolfgang Lüke, in: Wieczorek/Schütte, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, Großkommentar, Vierter Band, 2. Teilband, 3. Aufl., 1999, § 850 ZPO Rn. 2.

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folgt ähnlich der Sozialversicherung als Ausfluß sozialstaatlicher Prinzipien die Gewähr eines menschenwürdigen Mindestumfangs an durch eigene Arbeitsleistung ermöglichbarer Lebensgestaltung685. Daß der Schutz des Arbeitseinkommens vor übergebührlicher Belastung durch vermögensrechtliche Verpflichtungen gleichwohl nie der Sozialversicherung überantwortet wurde, sondern durch eine entsprechende Ausgestaltung des Vollstreckungsrechts bewerkstelligt wurde, legt nahe, daß die Sozialversicherung auch insoweit nicht einen allgemeinen, primären Vermögensschutz bezweckt, sondern eben nur die Absicherung vor den oben beschriebenen, an die Person bzw. Arbeitskraft des Versicherten geknüpften Risiken. Gegen eine Einbeziehbarkeit von Haftungsrisiken in die Sozialversicherung spricht ferner, daß Haftungsverpflichtungen regelmäßig nur infolge einer persönlichen Vorwerfbarkeit (Verschulden) entstehen, während die klassische Sozialversicherung gerade solche Risiken abdeckt, die den Versicherten (zumindest auch) unverschuldet, quasi schicksalhaft treffen können (Krankheit, Alter, Unfall, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit) und sich insoweit als „Wechselfälle des Lebens“686 darstellen. Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß gerade gesetzliche Pflicht- bzw. Zwangshaftpflichtversicherungen (wie die derzeitige private Kfz-Haftpflichtversicherung) weitaus weniger dem Vermögensinteresse des Versicherten, sondern vielmehr demjenigen der Geschädigten dienen.687 Auch insoweit bestünde bei einer als Sozialversicherung geführten (Kfz-)Haftpflichtversicherung ein bedeutsamer Bruch mit der traditionellen Konzeption der Sozialversicherung, da diese die ihr erfaßten Risiken ganz vornehmlich im Interesse der Person des Versicherten abdeckt, also gerade diesen schützen will und nicht vornehmlich Dritte. Auch wäre nicht einsichtig, warum bei einem vorrangig verfolgten Drittschutz der Versicherungsschutz für den Versicherten besonders „sozial“ ausgestaltet sein müßte. All dies spricht ebenfalls gegen ein weites, jegliche und damit vor allem auch reine (primäre) Vermögensrisiken erfassendes Risikoverständnis im Rahmen der „Sozialversicherung“ des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.

685 Siehe etwa Hans Arnold, Der neue Pfändungsschutz für Arbeitseinkommen und für Gehaltskonten, BB 1978, S. 1314 (1315 f.); Wolfgang Lüke, in: Wieczorek/Schütte, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, Großkommentar, Vierter Band, 2. Teilband, 3. Aufl., 1999, § 850 ZPO Rn. 3. 686 BVerfGE 18, S. 257 (270). 687 Siehe speziell für die Kfz-Haftpflichtversicherung die amtliche Begründung des Pflichtversicherungsgesetzes in der Fassung vom 7.11.1939: „Die fortschreitende Motorisierung erfordert einen erweiterten Schutz der Verkehrsopfer. Diesem Ziel dient das vorliegende Gesetz.“ (DJ 1939, S. 1771). Siehe allgemein zu dieser vorrangigen Schutzfunktion von Pflichthaftpflichtversicherungen Günter Bauer, Die Kraftfahrtversicherung, 5. Aufl., 2002, Rn. 683 ff.

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(g) Systematische Stellung der „Sozialversicherung“ im Rahmen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Ein enges, vornehmlich auf den Schutz der Arbeitsfähigkeit bezogenes Risikoverständnis legt zudem die systematische Verortung der Kompetenz für die „Sozialversicherung“ im Gesamtregelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nahe. Denn dort ist neben der Kompetenz für „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ die Gesetzgebungszuständigkeit für „das Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung“ geregelt. Ein Blick auf die Kompetenzkataloge in Art. 73 und 74 GG zeigt dabei, daß in den einzelnen, in den „Nummern“ enthaltenen Untergliederungen immer thematisch verwandte Materien geregelt sind. Der gesamte Regelungskomplex des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG steht demgemäß ausweislich seines ersten Gliedes „Arbeitsrecht einschließlich . . .“ in Zusammenhang zu dem Lebensbereich „Arbeit“, so daß auch „die Sozialversicherung“ einen thematischen Bezug hierzu aufweisen muß. Da die Beschränkung des Versichertenkreises der Sozialversicherung auf Arbeitnehmer nicht zum Wesen der Sozialversicherung gehört688, kann dieser thematische Bezug dann nur im Hinblick auf die sozialversicherungsfähigen Risiken bestehen, d. h. diese müssen – im Sinne des oben beschriebenen engen Risikoverständnisses – einen Bezug zum Lebensbereich „Arbeit“ aufweisen, diesen also gefährden. (d) Ergebnis Die aufgezeigten Aspekte sprechen dafür, daß sozialversicherungsfähig nicht im Sinne eines weiten Verständnisses sämtliche und damit auch reine (primäre) Vermögensrisiken sind. Vielmehr liegt „der Sozialversicherung“ ein enges Risikoverständnis zugrunde; sozialversicherungsfähig sind nur solche Risiken, die im weitesten Sinne die Befähigung des Einzelnen tangieren, seine Arbeitskraft zur Schaffung/Erwirtschaftung einer Existenzgrundlage einzusetzen und sich damit eigenständig die Voraussetzungen für eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu schaffen. (ee) Ausweitbarkeit auf sonstige, „neue“ Risiken Welche Risiken – auch unter Zugrundelegung des eben hergeleiteten engen Risikoverständnisses – über die bisher abgesicherten hinaus im Wege der Sozialversicherung absicherbar sind, läßt sich im Vorfeld allerdings nur schwer einzeln bestimmen. Letztlich entscheiden nämlich vor allem auch die gesellschaftlichen Ansichten und Entwicklungen darüber, welche Gefahren im Falle 688

BVerfGE 11, S. 105 (113); 88, S. 203 (313) – st. Rspr.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

ihrer Verwirklichung einem menschenwürdigen Dasein und der Möglichkeit zur freien Entfaltung der Persönlichkeit entgegenstünden. Daß es nach Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahre 1927 mit der 1995 erfolgten Einführung der Pflegeversicherung 68 Jahre brauchte, damit sich ein weiteres Risiko als „sozialversicherungswürdig“ erweist, ist hierfür Beleg. Denn das Bedürfnis nach sozialversicherungsmäßiger Absicherung der Pflegebedürftigkeit hat sich infolge neuerer, „moderner“ gesellschaftlicher Entwicklungen ergeben, die in früherer Zeit so nicht bestanden: Zum einen infolge einer steigenden Lebensdauer, da bei zunehmendem Alter gleichwohl die Anfälligkeit für körperliche Gebrechen, die eine Pflegebedürftigkeit nach sich ziehen, erheblich wächst. Und zum anderen infolge eines geänderten Familienverständnisses bei gleichzeitigem Sinken der Geburtenrate, was einerseits die Möglichkeit, andererseits die Bereitschaft zur Pflege von Angehörigen hat sinken lassen.689 Determiniert sein müssen „neue“ sozialversicherungsfähige Risiken aber jedenfalls durch das oben beschriebene soziale Bedürfnis nach Absicherung gegenüber Risiken, deren Verwirklichung gravierende Auswirkungen für die Befähigung des Einzelnen haben, durch Einsatz seiner Arbeitskraft eine persönliche Existenzgrundlage erwirtschaften und sich hierdurch in selbstbestimmter, menschenwürdiger Weise in der Gesellschaft entfalten zu können. Jedenfalls absicherbar im Wege der Sozialversicherung wäre insoweit etwa das bisher nur unzureichend über die vorhandenen Zweige abgedeckte Risiko der „Berufs-“ bzw. „Erwerbsunfähigkeit“, da hierdurch die Grundlage für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung eines gesellschaftlichen Individuums weitgehend zerstört wird. (ff) Keine Vorgabe zur getrennten Versicherung der Risiken in unterschiedlichen Sozialversicherungszweigen Aus dem Gattungsbegriff „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG resultiert keine verfassungsrechtliche Vorgabe, für die in der Sozialversicherung abgesicherten Risiken eigenständige, voneinander separierte Versicherungszweige (Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung etc.) zu schaffen. Denn die „Gleichartigkeit“ der versicherten Risiken ist kein Begriffsmerkmal einer Versicherung im Rechtssinne690. „Gattungsbegriff“691 meint insoweit nur, daß durch Hinzufügen einer weiteren Differenzierungs- bzw. Abstrahierungsebene eine begriffliche Untergliederung in bestimmte Arten einer Sozialversicherung vorgenommen werden kann, nicht muß. Daher könnte als „Sozialversicherung“ theoretisch sogar eine Einheitsversiche689 Vgl. auch Gerhard Igl, Pflegeversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 18 Rn. 27. 690 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (d). 691 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 3. b) und c).

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rung geschaffen werden, welche sämtliche versicherten Risiken gemeinsam abdeckt – auch wenn dies versicherungstechnisch unpraktikabel wäre. Ebenso ist es für den Begriff „Sozialversicherung“ und die diesbezügliche Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unerheblich, welche Risiken in den einzelnen Sozialversicherungszweigen abgesichert werden, solange es sich um sozialversicherungsfähige Risiken im oben beschriebenen Sinne handelt: Ob also etwa über die gesetzliche Krankenversicherung auch (sozialversicherungsfähige) Risiken abgedeckt werden, die sich nicht im engeren Sinne als „Krankheit“ darstellen (z. B. Schwangerschaftsabbrüche oder Sterilisation692), ist für die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinsichtlich einer „Sozialversicherung“ prinzipiell ohne Belang. Daher muß an dieser Stelle im Hinblick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch nicht näher untersucht werden, welche Risiken gerade von einer so bezeichneten Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung etc. umfaßt sein dürfen, weil diese Zweige nicht für die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG vorgegeben sind. (b) Die Versicherungsmethode der Sozialversicherung (aa) Grundsatz: Primäre Ausrichtung am Ziel der Bedarfsdeckung („Gemeinwirtschaft“) Wesentlich für die Sozialversicherung ist ferner, daß der durch sie bewirkte Versicherungsschutz auf eine „soziale“ Art und Weise bewerkstelligt wird, um den durch sie intendierten „Ausgleich besonderer Lasten“ erreichen zu können. Für die Sozialversicherung muß insoweit eine besondere Methode kennzeichnend sein, die sie insbesondere von der in der Privatversicherung typischerweise vorherrschenden Versicherungsmethode – dem bereits oben näher beleuchteten „Versicherungsprinzip“ – abhebt. Da nämlich die meisten der durch die Sozialversicherung abgedeckten Risiken auch von der Privatversicherung versichert werden (bspw. private Kranken-, Renten-, Unfallversicherung), gäbe es ansonsten überhaupt kein Bedürfnis für eine Sozialversicherung, wenn sich der durch sie vermittelte Versicherungsschutz ebensogut durch die in der Privatversicherung typischen Versicherungsmethoden bewerkstelligen ließe. Bereits bei Schaffung der Sozialversicherung Ende des 19. Jahrhunderts unter Bismarck war ein maßgeblicher Aspekt für ihre Errichtung als staatliche Versicherung, daß man privaten Versicherungseinrichtungen einerseits nicht das notwendige soziale Verantwortungsbewußtsein zutraute und man darüber hinaus auch vom sittlichen Gesichtspunkt her die Wechselfälle des Lebens wie Unfall oder Krankheit nicht zum Gegenstand von privatem Gewinnstreben machen

692

Vgl. hierzu auch schon 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (3) (b) (bb) (b).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

wollte693. Denn die Privatwirtschaft im Rahmen einer Marktwirtschaft funktioniert eigennützig; dies ist ihre primäre Triebfeder und letztlich auch die Voraussetzung, um eigenständig am Markt bestehen zu können. Daher ist sie gekennzeichnet durch eine jedenfalls primäre Ausrichtung an wirtschaftlich-rationalen Kriterien sowie durch Gewinnstreben. Die Deckung öffentlicher Bedarfe ist nicht unmittelbares Ziel privat- bzw. marktwirtschaftlicher Unternehmen, sondern nur Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung, d. h. der öffentliche Bedarf wird nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar – durch Instrumentalisierung des Gewinnstrebens – gedeckt.694 Die hierdurch bewirkte Deckung des Bedarfs der Allgemeinheit findet allerdings – da sie nicht primäre, unmittelbare Triebfeder des privatwirtschaftlichen Handelns ist – ihre Grenzen im Wirtschaftlich-Rationalen sowie im Gewinnstreben: lohnt sich die Bedarfsdeckung aus Sicht der Privatwirtschaft nicht, weil sie nicht wirtschaftlich-rational bzw. nicht gewinnbringend bewerkstelligt werden kann, wird der Bedarf nicht oder nur unzureichend gedeckt. Es überwiegt hier also der Eigennutz (wirtschaftlich-rationales Agieren, Gewinnstreben) den Gemeinnutzen (Bedarfsdeckung) und setzt sich im Konfliktfall gegenüber diesem durch. Zur Beseitigung solcher Störungen einer für nötig befundenen Bedarfsdekkung hat der Staat nun zwei Möglichkeiten: Entweder, er nimmt die Privatwirtschaft durch wirtschaftslenkende Maßnahmen in die Pflicht, was allerdings nur bis zur Grenze des wirtschaftlich Vertretbaren sinnvoll ist, soll die Privatwirtschaft nicht durch staatlichen Zwang zu unwirtschaftlichem Handeln ihrer dauerhaften Funktionsfähigkeit beraubt werden. Oder der Staat tritt selbst als Bedarfsdecker auf, wobei er sich dann – anders als die Privatwirtschaft (und anders als beim erwerbswirtschaftlichen Staatshandeln) – primär dem Ziel der Bedarfsdeckung verschreibt, auch um den Preis, daß er diese gegebenenfalls nur auf unwirtschaftliche Weise erreichen kann (und das Fehlen von Wirtschaftlichkeit gegebenenfalls auf anderem Wege, etwa durch Steuerzuschüsse, ausgleichen muß). In diesem Fall verfolgt der Staat dann eine gemeinwirtschaftliche, d. h. ganz primär auf die Bedarfsdeckung ausgerichtete (und daher regelmäßig auch auf Gewinnstreben verzichtende) Zielsetzung695. Genau umgekehrt zur Privatwirtschaft überwiegt hier also der Gemeinnutz (Bedarfsdeckung) den Eigennutz (wirtschaftliche Rationalität, Gewinnstreben) und setzt sich gegenüber diesem – jedenfalls im Konflikfall – durch. Diesem gemeinwirtschaftlichen Bereich zuzuordnen ist auch die Sozialversicherung, denn sie dient ganz primär dem Zweck der Bedarfsdeckung, nämlich 693

Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 152. Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 16. 695 Vgl. zum Begriff der Gemeinwirtschaft etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 16. – Siehe ausführlich hierzu auch noch unten 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (1). 694

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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der Deckung des Bedarfs „Sicherung gegen bestimmte Elementarrisiken“ für bestimmte Personengruppen, die dieses Versicherungsschutzes bedürfen. Dabei deckt sie zum einen Bedarfe, die in der Privatwirtschaft wegen mangelnder „Versicherbarkeit“ überhaupt nicht versichert werden, wie etwa das Risiko „Arbeitslosigkeit“696. Vor allem aber dient sie dazu – wie ein Blick auf ihre Entstehungsgeschichte697 zeigt –, gerade den sozial Schwächeren und als schutzbedürftig Erachteten einen adäquaten Versicherungsschutz zu vermitteln, dessen Bewerkstelligung durch die Privatversicherer aufgrund der bei diesen herrschenden Typizitäten (etwa marktgerechte, wirtschaftlich-rationale Prämienkalkulation; Risikozuschläge; Leistungsausschlüsse etc.) gerade als nicht ausreichend angesehen wird, weil er Lücken in der Bedarfsdeckung zu hinterlassen droht. Dieser gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung steht es nicht entgegen, wenn die Sozialversicherung im Rahmen dessen grundsätzlich auch einem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegt (siehe etwa § 12 SGB V), denn dies heißt nicht, daß sie nicht primär dem Ziel der Bedarfsdeckung verpflichtet bleibt. Im übrigen spiegelt sich die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung der Sozialversicherung auch in der Bezuschussungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG wider, angesichts welcher der Verfassungsgeber augenscheinlich davon ausging, daß die Sozialversicherung nicht zwingend wirtschaftlich-rational betrieben werden kann oder muß. An dieser gemeinwirtschaftlichen, primär der Bedarfsdeckung verpflichteten Zielsetzung muß sich auch die für die Sozialversicherung kennzeichnende Versicherungsmethode orientieren. Auch diese muß also primär der Ermöglichung einer umfassenden Bedarfsdeckung dienen. Insoweit ist die Sozialversicherung gerade dadurch gekennzeichnet und determiniert, daß sie von einer ganz primär auf wirtschaftliche Rationalität und Gewinnstreben ausgerichteten Versicherungsmethode, deren Reinform regelmäßig in der Privatversicherung als sog. „Versicherungsprinzip“ verwirklicht ist698, abweicht. Wenn nämlich die Sozialversicherung als gemeinwirtschaftlicher Gegenpol zur Privatversicherung geschaffen wurde, dann muß sie sich auch durch gemeinwirtschaftliche Strukturen determinieren. Wie diese (gemeinwirtschaftliche) Versicherungsmethodik im einzelnen beschaffen sein muß, läßt sich im einzelnen allerdings schwer abschließend bestimmen, da es sich bei deren konkreter Ausprägungsform vor allem um eine Ausgestaltungsmodalität der „Sozialversicherung“ handelt, die von Fall zu Fall verschieden sein kann; entscheidend für das Vorliegen einer Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist insoweit, daß überhaupt die beschriebene gemeinwirtschaftliche, d. h. ganz primär auf die Bedarfs-

696

Siehe zur sog. „Versicherbarkeit“ oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (c). Siehe ausführlich hierzu 1. Teil, I. 698 Siehe ausführlich zum sog. Versicherungsprinzip oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (4) (b) sowie dd) (2). 697

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

deckung ausgerichtete Zielsetzung besteht und eine diese Zielsetzung verwirklichende Versicherungsmethode gewählt wird. Um keine Sozialversicherung würde es sich demgemäß handeln, wenn solcherlei sozial motivierte Durchbrechungen eines rein wirtschaftlich-rationalen Versicherungsprinzips überhaupt nicht vorgesehen wären, die Versicherung also streng nach dem reinen Versicherungsprinzip arbeiten würde.699 Ohne soziale Korrekturmechanismen gegenüber einer rein auf wirtschaftliche Rationalität ausgerichteten Versicherungsmethodik, d. h. durch eine primäre Ausrichtung auf das wirtschaftlich Rationale anstatt auf die Bedarfsdeckung, fehlte es der betreffenden Versicherung am „Sozialen“, und es läge stattdessen gegebenenfalls nur eine „normale“ öffentlich-rechtliche Wettbewerbsversicherung700 vor. Auch wenn eine abschließende Aufzählung sämtlicher in Betracht kommender Elemente einer gemeinwirtschaftlichen Versicherungsmethodik, die von dem in der Privatversicherung Typischen abweichen und dies sozial modifizieren, wie gesagt kaum möglich (und an dieser Stelle auch nicht angezeigt) ist, seien im folgenden aber die wichtigsten und am nächsten liegenden gemeinwirtschaftlichen Durchbrechungen des rein wirtschaftlich-rationalen Versicherungsprinzips beleuchtet, deren Vorliegen die gemeinwirtschaftliche Versicherungsmethodik der Sozialversicherung nicht nur kennzeichnen kann, sondern die als so wesentlich für die sozial-gemeinwirtschaftliche Zielsetzung der Sozialversicherung anzusehen sind, daß sie für sie als unverzichtbar gelten müssen. (bb) Wirtschaftlich erschwinglicher Versicherungsschutz durch „leistungsfähigkeitsgerechte“ Beiträge Zum wohl elementarsten Aspekt der Versicherungsmethodik der Sozialversicherung zählt die Gewährleistung eines für den Einzelnen bezahlbaren bzw. wirtschaftlich erschwinglichen Versicherungsschutzes. Wenn bestimmte Risiken als so elementar erachtet werden, daß ihre Absicherung im Wege einer Sozialversicherung sozial geboten erscheint, dann ist es ein weiteres Gebot des „Sozialen“, daß sich die Betroffenen den errichteten Versicherungsschutz auch wirtschaftlich leisten können, seine Erlangung sie also nicht vor finanziell unüberwindbare oder jedenfalls schwer überwindbare Hürden stellt. Dies gilt umso mehr, wenn die Absicherung insbesondere der sozial Schwächsten einer der Hauptbeweggründe für die Errichtung der Sozialversicherung ist701. Die Absicherung solcher elementaren Risiken könnte für sich gesehen zwar auch über 699 Siehe auch Hans-Jürgen Papier/Johannes Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353 (354). 700 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (m). 701 Siehe zu diesem Beweggrund für die Schaffung der Sozialversicherung oben 1. Teil, I. 3.

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die Privatversicherer geschehen (etwa durch Etablierung einer Pflicht zum Abschluß eines entsprechenden Privatversicherung hinsichtlich der betreffenden Risiken, wie beispielsweise in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung), jedoch wäre dann die Ausgestaltung der Versicherungsverträge und insbesondere die Prämienkalkulation dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen. Da das dort regelmäßig herrschende „Versicherungsprinzip“ aber für gewöhnlich eine risikoäquivalente Prämienkalkulation nach sich zieht, kann dies für die Versicherten (oder wenigstens einen Teil von ihnen) bedeuten, daß sie sich die dergestalt kalkulierten Prämien entweder aufgrund einer individuell ungünstigen Risikostruktur oder selbst ohne eine solche allein aufgrund wirtschaftlicher Schwäche nicht leisten können, ihnen ein adäquater Versicherungsschutz also verwehrt bliebe. Beispielsweise in der Krankenversicherung bestünde insoweit die Gefahr, daß wirtschaftlich Schwache, aber auch Menschen mit Vorerkrankungen oder einer schwachen, anfälligen Gesundheit relativ hohe Prämien zahlen müßten oder mit Ausschlüssen gerade der individuell besonders versicherungsbedürftigen Risiken zu rechnen hätten – oder im schlimmsten Fall überhaupt keinen (adäquaten) Versicherungsschutz erhalten. Vor diesem Hintergrund ist es ein zentrales soziales Anliegen der Sozialversicherung, die Beitragsberechnung gegebenenfalls vom individuellen Risiko zu lösen und für eine Prämiengestaltung zu sorgen, die die zu entrichtenden Versicherungsprämien für den Einzelnen, gemessen an seinem Leistungsvermögen, nicht zu einer unzumutbaren Belastung werden lassen. Einer der Beweggründe für die Schaffung der Sozialversicherung unter Bismarck war es insoweit auch – wie bereits dargelegt702 –, die Wechselfälle des Lebens wie Unfall oder Krankheit nicht zum Gegenstand von privatem Gewinnstreben zu machen. Hieraus resultiert, daß in der Sozialversicherung aus sozialen Gründen gerade von einer rein wirtschaftlich orientierten, dem sog. Versicherungsprinzip folgenden Beitragsbelastung abgewichen und die Prämienbelastung an der Leistungsfähigkeit bemessen wird (jedenfalls insoweit, als diese für den Einzelnen nicht überschritten werden darf). Wie dies geschieht, ist unerheblich: ob also – wie derzeitig – die Beiträge nach prozentualen, als insgesamt sozial zumutbar oder sozial verträglich erachteten Anteilen vom Arbeitseinkommen bemessen werden, ob sie in Gestalt von auch den wirtschaftlich Schwachen nicht überfordernden Einheitsprämien („Kopfpauschalen“) erhoben werden703, oder ob sie gar zunächst nach marktwirtschaftlichen, dem Versicherungsprinzip folgenden Kalkulationsparametern ermittelt werden, dies dann aber durch entsprechende Beitragszuschüsse sozial verträglich gemacht wird, ist lediglich eine Ausgestal-

702

Siehe oben 1. Teil, I. 3. Vgl. zu den „Kopfpauschalen“ und dem für die Sozialversicherung ebenfalls begriffsnotwendigen „sozialen Ausgleich“ noch unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (dd) (g). 703

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

tungsmodalität der Erreichung eines für jedermann bezahlbaren Versicherungsschutzes. Folglich ist es ebenso lediglich eine Ausgestaltungsmodalität, wonach sich die Beiträge, wenn sie hinsichtlich ihrer Höhe an der Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden können, bemessen: Ob sie in diesem Fall am Arbeitseinkommen ausgerichtet oder unter Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (vgl. § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V) festgelegt werden, was also mit anderen Worten die Beitragsbemessungsgrundlage darstellt, ist für den Begriff „Sozialversicherung“ unerheblich.704 (cc) Keine Risikoselektion; Aufnahme gerade der „schlechten Risiken“ Ein die Versicherungsmethodik der Sozialversicherung prägendes Element besteht ferner darin, daß in ihr jedenfalls im Grundsatz keine Risikoselektion erfolgen darf. Da in der rein wirtschaftlich orientierten Privatversicherung grundsätzlich – es sei denn, er ist gesetzlich vorgeschrieben – kein Kontrahierungszwang besteht, kann der Versicherer frei darüber entscheiden, welche Risiken er versichert und welche nicht. Zu hohe Risiken oder bereits angelegte Risikoverwirklichungen (etwa aufgrund von Vorerkrankungen hinsichtlich einer privaten Krankenversicherung) werden regelmäßig nicht oder nur gegen entsprechenden Risikoaufschlag versichert (letzteres, damit die Individualäquivalenz zwischen Beitrag und Risiko wieder hergestellt ist). Wenn sich im Gegensatz dazu die Sozialversicherung dadurch konstituiert, daß sie aus sozialen Gründen gerade bestimmte Risiken für jedermann absichern will, und dies gleichzeitig zu für den Einzelnen, gemessen an seiner Leistungsfähigkeit, erschwinglichen Konditionen, dann muß in ihr zugleich ausgeschlossen sein, daß sie sich der „schlechten Risiken“, deren Schutz sie insbesondere zu dienen bestimmt ist, durch Ausschluß entledigt. Das „Soziale“ der Sozialversicherung umfaßt folglich nicht nur, daß jedermann in ihr zu individuell erschwinglichen Konditionen versichert ist, sondern daß auch jedermann überhaupt den Versicherungsschutz erlangen kann, selbst (und gerade) wenn er zu den „schlechten Risiken“ zählt. Der Ausschluß einer Risikoselektion ist für die Sozialversicherung also nicht nur eine bestimmte Ausgestaltungsmodalität, wie sie etwa gesetzlich auch für die Privatversicherung angeordnet werden kann (man denke an die private Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung), sondern ein erforderliches Merkmal, um überhaupt begrifflich von einer Sozialversiche-

704 Vgl. auch Joachim Wieland, Verfassungsrechtliche Grenzen der Beitragserhebung in der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 2003, S. 259 (273 f.)

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rung sprechen zu können. Risikozuschläge oder Leistungsausschlüsse sind damit in einer „Sozialversicherung“ prinzipiell unstatthaft, mithin allenfalls im Rahmen des sozial Verträglichen zulässig und soweit sie einen adäquaten Versicherungsschutz nicht verhindern.705 (dd) Sozialer Ausgleich; Solidaritätsprinzip (a) Über den versicherungsmäßigen Risikoausgleich hinausgehender Solidarausgleich Als ein wesentliches Element des „Sozialen“ in der Sozialversicherung stellt sich auch das Prinzip des sozialen Ausgleichs bzw., häufig synonym verwendet, das Solidaritätsprinzip dar.706 Hiermit gemeint ist das zur Erreichung des sozialen Ziels zwangsläufig notwendige Umverteilungselement707, welches das Mittel ist, um die Erschwinglichkeit/Bezahlbarkeit der Versicherungsbeiträge (siehe im Vorhergehenden) für jeden und damit vor allem auch für die wirtschaftlich Schwachen oder Bedürftigen zu erreichen. Denn wenn für einige Versicherte die Beiträge aus sozialen Gründen niedriger sind als sie es nach streng risikoäquivalenten, am reinen Versicherungsprinzip orientierten Maßstäben eigentlich sein müßten, dann muß die so entstehende Finanzierungslücke auf andere Weise geschlossen werden, damit das System wirtschaftlich im Gleichgewicht bleibt, also Globaläquivalenz zwischen den in das System gelangenden und den aus dem System herausfließenden Geldströmen besteht.

705 Insoweit würde es einer „Sozialversicherung“ nicht entgegenstehen, beispielsweise über die Beitragsgestaltung Anreize zur Vermeidung bestimmter Risiken zu geben oder umgekehrt in erhöhtem Maße schuldhaft herbeigeführte Versicherungsfälle (zum Beispiel in der Krankenversicherung Verletzungen infolge Ausübung von Extremsportarten oder Erkrankungen infolge übermäßigen Rauchens) in gewisser Weise (etwa durch Eigenzuzahlungen) zu sanktionieren, nur dürfte auch dies nur im Rahmen des sozial Angemessenen erfolgen und nicht insgesamt zu einem – sei es auch nur faktischen – Ausschluß eines insgesamt adäquanten Versicherungsschutzes führen. 706 Siehe etwa BVerfGE 17, S. 1 (9); 28, S. 324 (348); 76, S. 256 (300 f.); 113, S. 167 (216 f., 220); Walter Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955, S. 25; Wolfgang Gitter/Jochem Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., 2001, § 4 Rn. 12 ff.; Ferdinand Kirchhof, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 53 Rn. 26 ff.; Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (587); Wolfgang Ost/Gerhard Mohr/Martin Estelmann, Grundzüge des Sozialrechts, 2. Aufl., 1998, S. 64; Wilfried Schreiber, Die gesetzliche Krankenversicherung in der freiheitlichen Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Gesetzliche Krankenversicherung in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1965, S. 9 (13). 707 Vgl. etwa BVerfGE 113, S. 167 (216 f., 220); Wolfgang Ost/Gerhard Mohr/ Martin Estelmann, Grundzüge des Sozialrechts, 2. Aufl., 1998, S. 64; Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (40, 42).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Der „soziale Ausgleich“ innerhalb der Sozialversicherung geht insoweit über den jeder Versicherung immanenten Risikoausgleich zwischen den nur Gefährdeten und den tatsächlich Geschädigten hinaus und darf mit diesem nicht verwechselt werden.708 Der „normale“ Risikoausgleich innerhalb einer Versichertengemeinschaft resultiert daraus, daß ein Risiko zwar allen Versicherten droht, es sich aber erfahrungsgemäß nur bei einem Bruchteil der Versicherten verwirklicht, so daß der Versicherer im Idealfall in die Lage versetzt ist, aus den Beiträgen aller Versicherten die Deckung der sich nur in Einzelfällen realisierenden Schäden vorzunehmen. Daher ist jede Versichertengemeinschaft in gewisser Weise bereits deshalb eine Solidargemeinschaft, weil diejenigen, bei denen sich das Risiko nicht verwirklicht, durch ihre gleichwohl entrichteten Beiträge die Deckung der tatsächlich eintretenden Versicherungsfälle mitermöglichen. Der „soziale Ausgleich“ innerhalb der Sozialversicherung geht in der oben beschriebenen Weise darüber hinaus, weil er einen zusätzlichen Solidaritätsbeitrag etabliert: Während es sich nämlich in der Privatversicherung aus wirtschaftlich-rationalen Gründen als zweckmäßig erwiesen hat, die Versicherungsprämien nach dem individuellen Risiko der Versicherten zu bemessen, also individualäquivalent nach dem sog. „Versicherungsprinzip“709 zu kalkulieren, durchbricht die Sozialversicherung dieses Prinzip aus dem oben genannten Grund der Ermöglichung eines für jedermann, insbesondere für sozial Schwache bezahlbaren Versicherungsschutzes, so daß die nach individualäquivalenten Maßstäben zu niedrigen Versicherungsbeiträge der sozial Schwächeren durch entsprechende Solidarbeiträge anderer ausgeglichen werden müssen, soll das System finanziell aus sich selbst heraus nicht kollabieren. (b) Grundsätzliche Wege zur Bewerkstelligung des sozialen Ausgleichs Für die Bewerkstelligung dieses „sozialen Ausgleichs“ bestehen im Grunde nur zwei prinzipielle Wege: Entweder der Ausgleich erfolgt „von innen“ durch höhere Beiträge derjenigen, die hierzu wirtschaftlich in der Lage sind; „höher“ in dem Sinne, daß sie mehr zahlen als sie es nach risikoäquivalenten, rein versicherungsprinzipiellen Maßstäben eigentlich müßten (insoweit werden sich in der Regel die so bemessenen Beiträge am individuellen Leistungsvermögen orientieren, wie derzeit etwa für die gesetzliche Krankenversicherung gemäß §§ 241 ff. SGB V).710 Oder der Ausgleich erfolgt „von außen“ durch staatliche 708 Vgl. etwa Franz Ruland, Versicherungsfremde Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1995, S. 28 (31). 709 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (4) (b) sowie dd) (2). 710 Diese Umverteilung von wirtschaftlich Stärkeren bzw. weniger Bedürftigen zu wirtschaftlich Schwächeren bzw. stärker Bedürftigen kann sich dabei auf vielfältige Weise ergeben: von höheren Einkommen zu niedrigeren Einkommen, von Alleinste-

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Zuschüsse, wie sie das Grundgesetz in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG als mögliche Ausgestaltungsoption für die Sozialversicherung vorsieht. Da solche Zuschüsse „von außen“ in das System aus Steuermitteln kämen und der wirtschaftlich Stärkere sowohl absolut als auch wegen der Steuerprogression prozentual höhere Steuern zahlt, sein Anteil an den Steuerzuschüssen also insgesamt höher wäre, erfolgte auch auf diesem Wege ein entsprechender sozialer Ausgleich bzw. eine soziale Umverteilung,711 also ein Solidaritätsbeitrag der wirtschaftlich Stärkeren oder weniger Bedürftigen für die wirtschaftlich Schwächeren oder stärker Bedürftigen. Dabei kann dieser Ausgleich „von außen“ neben einen bereits stattfindenden Ausgleich „von innen“ hinzutreten712, etwa wenn die Beiträge diesen Ausgleich nicht oder nicht hinreichend bewerkstelligen. Es ist zudem nichts dafür ersichtlich, warum der soziale Ausgleich in der Sozialversicherung nicht auch vollständig „von außen“ sollte erfolgen können, da der hierdurch bezweckte Solidarausgleich auf diese Weise – wie dargelegt – ebensogut bewerkstelligt werden kann. So spricht angesichts der oben beschriebenen sozialen Zwecksetzung der Sozialversicherung, wirtschaftlich bezahlbaren Versicherungsschutz für jedermann zu gewährleisten, nichts dagegen, die Beiträge beispielsweise zunächst risiko- bzw. individualäquivalent zu bemessen, sie dann aber für den Fall, daß Einzelne (insbesondere wirtschaftlich Schwächere oder Personen, die eine schlechte Risikostruktur aufweisen) hierdurch wirtschaftlich überfordert werden, sozial anzugleichen bzw. individuell zu bezuschussen und die hierzu erforderlichen Finanzmittel, die sich bei dieser Ausgestaltung nicht mehr aus dem Gesamt-Beitragsaufkommen hernehmen ließen, allein durch Steuerzuschüsse (vgl. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) aufzubringen. Die Grenze hierfür läge erst dort, wo durch solche Zuschüsse nicht mehr nur die für „Zuschüsse“ charakteristische Teil-Finanzierung713 erfolgte und der durch Entgeltlichkeit geprägte Versicherungscharakter der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verloren ginge.714

henden auf Familien (im Falle beitragsfreier Familienmitversicherung), von nur in geringem Maße Krankheitsanfälligen (z. B. jungen Menschen) auf in stärkerem Maße Krankheitsanfällige (z. B. ältere Menschen) etc. – siehe dazu etwa BVerfGE 113, S. 167 (220); Jürgen Wasem, Äquivalenzprinzip und Leistungsfähigkeitsprinzip in der Sozialversicherung, in: Groser/Weber/Leienbach/Feige, Beiträge zur Sozialen Ordnungspolitik, 1988, S. 15 (23 ff.). 711 Vgl. BVerfGE 76, S. 256 (301). 712 Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung sind bereits seit längerem in der gesetzlichen Rentenversicherung gang und gäbe, und neuerdings sind sie auch für die gesetzliche Krankenversicherung vorgesehen, siehe § 221 SGB V. 713 Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 110; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 30; ders., Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588). 714 Siehe hierzu ausführlich 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (aa) (d).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

(g) Sozialer Ausgleich und „Kopfpauschalen“ Gelegentlich wird bestritten, daß bei einer Beitragsgestaltung in Form von „Kopfpauschalen“715 noch der für die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begriffsnotwendige soziale Ausgleich bestünde, weil hierdurch eine völlige Abkehr von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit dem „Solidaritätsprinzip als dem das Sozialversicherungsrecht prägenden Grundprinzip“ erfolgen würde716. Hierbei wird allerdings verkannt, daß prägend für die Sozialversicherung vor allem die Erschwinglichmachung des Versicherungsschutzes für jedermann ist, daß also niemand mehr für den Versicherungsschutz leisten muß, als er sich wirtschaftlich leisten kann. Nicht hingegen kann es das zwingend erforderliche Prinzip einer sozialen Versicherung sein, daß jeder für den Versicherungsschutz soviel leisten muß, wie er leisten kann, selbst wenn dies deutlich mehr wäre, als es der Individualäquivalenz und damit der „gerechten“ Prämie entspricht. Hierin mag zwar eine von mehreren möglichen Ausgestaltungsvarianten der Sozialversicherung liegen. Wenn es der Gesetzgeber aber für opportun erachtet, auch denjenigen, der mehr leisten könnte, nur bis zur Grenze des individualäquivalenten (oder sogar darunter) zu belasten, und den insbesondere aus den sozial angepaßten Beiträgen der wirtschaftlich Schwachen (oder der „schlechten Risiken“) für eine Globaläquivalenz des Systems notwendigen Finanzbedarf anderweitig zu decken (etwa durch Zuschüsse nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG), ist nicht einsichtig, warum angesichts der hierdurch ebenfalls verwirklichten sozialen Zielsetzung nicht auch dies eine „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sein soll. Mit der Zielsetzung der Sozialversicherung „Niemand mehr als er kann“ geht nicht zwingend einher „Jeder soviel wie er kann“; letzteres als zwingendermaßen zu verwirklichendes Prinzip verstehen zu wollen, wäre nicht sozial, sondern sozialistisch717. Insoweit muß – wie bereits im Vorhergehenden dargelegt – der soziale Ausgleich auch nicht zwingend durch die Beiträge, also „von innen“, erfolgen, sondern kann auch auf anderweitigem Wege, nämlich durch Zuschüsse „von außen“ bewerkstelligt werden.718 Im Falle von Kopfpauschalen käme insoweit ein „sozialer Ausgleich“ von außen als zulässige Ausgestaltungsvariante dieser 715

Siehe ausführlich zum Begriff oben 1. Teil, III, 2. So Joachim Wieland, Verfassungsrechtliche Grenzen der Beitragserhebung in der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 2003, S. 259 (274 f.); skeptisch auch Stefan Storr, Neuorganisation der Sozialen Sicherungssysteme, SGb 2004, S. 279 (283). 717 Vgl. auch Walter Leisner, Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, 2005, S. 35 (41). 718 Vgl. auch Helge Sodan, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), S. 144 (155). 716

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Form einer Sozialversicherung in Betracht. Und ferner ist auch nicht dargetan, daß bei Kopfpauschalen ein sozialer Ausgleich „von innen“ von vornherein überhaupt nicht gegeben wäre. Denn es wird nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, daß auch durch Kopfpauschalen immer noch ein Ausgleich zwischen guten und schlechten Risiken erfolgt bzw. erfolgen kann, solange durch eine gleichzeitige Versicherungspflicht eine Kumulation nur der schlechten Risiken in der gesetzlichen Krankenversicherung resp. Sozialversicherung verhindert wird.719 Die Ausgestaltung der Sozialversicherungsbeiträge als „Kopfpauschalen“ steht dem Begriffsmerkmal „sozialer Ausgleich“ der Sozialversicherung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und einer Inanspruchnahme dieser Gesetzgebungskompetenz also nicht entgegen. (d) Zusammenfassung Das Umverteilungselement der Sozialversicherung ist keineswegs auf den sozialen Ausgleich „von innen“ beschränkt. Auf welchem dieser Wege der soziale Ausgleich, dieser Solidarbeitrag der Leistungsstärkeren für die Leistungsschwächeren, verwirklicht wird, ist für die begriffliche Erfassung als „Sozialversicherung“ grundsätzlich unerheblich; entscheidend ist nur, daß ein solcher sozialer Ausgleich vorgesehen ist, da auf anderem Wege das soziale Ziel einer Sozialversicherung überhaupt nicht erreicht werden, eine Versicherung also keine „Sozialversicherung“ sein kann720. Auch „Kopfpauschalen“ stehen dem sozialen Ausgleich nicht entgegen. Auf einem ganz anderen Blatt steht allerdings die Frage, in welchem Maße die durch den sozialen Ausgleich bewirkte Umverteilung materiell zulässig ist. Denn natürlich stellt vor allem der derzeit praktizierte Weg des sozialen Ausgleichs über einkommensabhängige Beiträge (vgl. für die gesetzliche Krankenversicherung §§ 241 ff. SGB V), welche die wirtschaftlich Stärkeren regelmäßig stärker belasten als es die risikoäquivalente Prämie täte (womit die betreffenden Personen also letztlich für ihren Versicherungsschutz mehr bezahlen als sie erhalten oder zumindest für den gleichen Versicherungsschutz mehr leisten müssen als andere, die niedrigere Beiträge zahlen müssen), eine freiheits- und gleichheitsrelevante Beeinträchtigung dar, die der Rechtfertigung bedarf.721

719 So Ralf Peter Schenke, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Verfassungs- und Europarecht, Die Verwaltung 2004, S. 475 (489). 720 Siehe auch Christian Rolfs, Versicherungsfremde Leistungen der Sozialversicherung, NZS 1998, S. 551 (555). 721 Diese materiell-verfassungsrechtlichen Aspekte des sozialen Ausgleichs sind vom vorliegenden Untersuchungsgegenstand allerdings nicht umfaßt und daher hier nicht weiter zu behandeln.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

(ee) Sonstige Elemente Die bisher genannten Elemente (bezahlbare Prämien, keine Risikoselektion, sozialer Ausgleich) sind – wie bereits erwähnt – als unverzichtbar für eine Sozialversicherung anzusehen, weil ohne sie die oben beschriebene Zielsetzung der Sozialversicherung kaum oder jedenfalls nur unzureichend verwirklichbar ist: Ohne Mechanismen, die den Versicherungsschutz bezahlbar machen, würde die soziale Wirkung eines gerade für sozial Schwächere erschwinglichen Versicherungsschutzes konterkariert. Ohne einen prinzipiellen Ausschluß von Risikoselektionen würden gerade die „schlechten Risiken“, für die die Erlangung privaten Versicherungsschutzes sich als besonders problematisch darstellt, aus der Sozialversicherung ausgeschlossen werden können, obwohl gerade sie ihrer am meisten bedürfen. Und ohne Elemente des „sozialen Ausgleichs“ würden die mit den ersten beiden Elementen verbundenen wirtschaftlichen Defizite des Systems nicht ausgeglichen werden können, so daß das System wirtschaftlich gesehen von vornherein keine Chance hätte, dauerhaft zu bestehen. Sonstige „soziale“ Elemente in der Versicherungsmethodik erscheinen demgegenüber als weniger elementar für eine Sozialversicherung und können daher als verzichtbar für den Begriffsinhalt dieses verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff eingestuft werden. Es handelt sich bei ihnen folglich um bloße Ausgestaltungsmodalitäten einer Sozialversicherung, deren Nichtvorhandensein das begriffliche Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht tangiert. Beispielhaft zu nennen sind hier etwa die Arbeitgeberanteile, die Familienversicherung, die Anrechnung beitragsfreier Zeiten oder der Versicherungsschutz auch bei bereits verwirklichten Risiken722. Diese in der heutigen Ausprägung der Sozialversicherung weitgehend verwirklichten sozialen Elemente, die zugleich von der in der Privatversicherung vorherrschenden Versicherungsmethodik abweichen bzw. diese sozial modifizieren, sind nicht derart gewichtig, daß ohne sie die beschriebene Zielsetzung der Sozialversicherung nicht erreichbar wäre. Sie können als Ausgestaltungsmodalität der „Sozialversicherung“ selbstverständlich auf die betreffende Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden, sie müssen aber nicht verwirklicht sein, um ein System begrifflich überhaupt als „Sozialversicherung“ im Sinne dieser Kompetenznorm erfassen zu können. (2) Versicherungspflicht (Versicherungszwang)? Nachdem die sozialversicherungsfähigen Risiken und die Sozialversicherungsmethode als Begriffsinhalte des Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ im 722 Siehe hierzu etwa Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 93 ff.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG beleuchtet wurden, stellt sich ferner die Frage, ob auch die Versicherungspflicht ein begriffsnotwendiges Merkmal der „Sozialversicherung“ ist723. Häufig wird die Versicherungspflicht, also die zwangsweise Einbeziehung der Versicherten in das System (Versicherungszwang), als Merkmal der Sozialversicherung betrachtet724. Zutreffend hieran ist, daß die Versicherungspflicht für eine Sozialversicherung ein naheliegendes Instrument ist, um vor allem den sozialen Ausgleich bewerkstelligen zu können. Denn zumindest im Falle der Umverteilung „von innen“ (siehe oben), also durch einkommensabhängige, nicht risikoäquivalente Prämien, bestünde ansonsten die Gefahr, daß diejenigen, welche höhere Beiträge zu entrichten haben, als sie nach rein risikoäquivalenten Maßstäben eigentlich nur entrichten müßten, dem System fernbleiben. In der Sozialversicherung würden sich dann voraussichtlich lediglich diejenigen Personen versichern, die aufgrund der sozialen Beitragsbemessung von dem System profitieren, etwa wegen vergleichsweise niedrigen Beiträgen oder einer hohen individuellen Schadensgeneigtheit, sprich einer zu erwartenden starken und häufigen Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen. Durch ein Ansammeln allein solcher „schlechten Risiken“ unter gleichzeitigem Fernbleiben der „guten Risiken“ (Personen mit hohen Beiträgen und/oder geringer Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen) wäre das System aber nicht in der Lage, durch einen sozialen Ausgleich „von innen“ globaläquivalent zu arbeiten, weil die finanzielle Ausgleichsmasse der „guten Risiken“ fehlen würde – der soziale Ausgleich und die Globaläquivalenz könnten dann nur durch Zuschüsse von außen in das System gewährleistet werden, was allerdings auch eine gangbare Form des sozialen Ausgleichs darstellen würde (siehe oben). Jedenfalls für einen sozialen Ausgleich „von innen“ bedarf es daher – zumindest rein praktisch gesehen – einer Versicherungspflicht, um insbesondere die „guten Risiken“ an die Versicherung zu binden.

723 Streng genommen ließe sich auch dieser Aspekt dem zuvor behandelten der „Versicherungsmethode“ zuordnen; gleichwohl sei er hier isoliert untersucht. 724 Siehe etwa Winfried Boecken, Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 267; Wolfgang Gitter/Jochem Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., 2001, § 4 Rn. 15: „sozialer Ausgleich ist nur möglich, wenn Versicherungszwang besteht“; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 172; Wolfgang Ost/Gerhard Mohr/Martin Estelmann, Grundzüge des Sozialrechts, 2. Aufl., 1998, S. 64: „die Sozialversicherung ist [. . .] ihrem Wesen nach Zwangsversicherung“; Wilfried Schreiber, Die gesetzliche Krankenversicherung in der freiheitlichen Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Gesetzliche Krankenversicherung in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1965, S. 9 (14); Christian Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl., 1996, Art. 74 Rn. 822; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 25; vgl. ferner Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (42).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Ferner dient die Versicherungspflicht nicht nur der Ermöglichung des sozialen Ausgleichs „von innen“, sondern auch dem Ziel, die „Wohltaten“ der Sozialversicherung überhaupt denjenigen zukommen zu lassen, die ihrer bedürfen. Denn selbst der Bedürftige muß nicht zwingend so einsichtig sein, sich freiwillig in ein solches System zu begeben, weil dies für ihn gleichwohl durch die – sei es auch sozial angepaßten – Beiträge eine finanzielle Belastung mit sich bringt, deren Vorteilhaftigkeit er nicht unbedingt überschaut oder die er bewußt vermeiden will in der Hoffnung oder dem Glauben, die betreffenden Risiken würden sich nicht realisieren. Da es in der Sozialversicherung aber auch darum geht, die Allgemeinheit vor vermeidbaren, weil durch eigene Risikovorsorge abdeckbaren Kosten (insbesondere der Inanspruchnahme der Sozialhilfe) zu bewahren725 – und solche Kosten könnten infolge einer Nichtversicherung gerade der sozial Schwachen im Falle des Risikoeintritts durchaus die Folge sein –, besteht insoweit auch ein allgemeines Interesse daran, die sozialen Zwecksetzungen der Sozialversicherung notfalls durch Zwang zu verwirklichen. Ist die Versicherungspflicht insoweit zwar ein sinnvolles, praktisch vielleicht sogar gebotenes Mittel zur Erreichung einer wirkungsvollen Sozialversicherung (zumindest wenn diese den sozialen Ausgleich „von innen“ bewerkstelligen will), ist damit aber noch nicht gesagt, daß es sich hierbei auch um ein konstituierendes, begriffsnotwendiges Merkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG handelt. Hiergegen spricht zunächst schon, daß selbst im derzeitigen Sozialversicherungssystem auch eine freiwillige Versicherung möglich ist.726 Insoweit könnte es als begriffliches Charakteristikum allenfalls darauf ankommen, daß überwiegend oder teilweise Versicherungspflicht in einer Sozialversicherung besteht – was allerdings kaum als trennscharfes Kriterium bezeichnet werden kann. Auch dies aber erscheint jedenfalls begrifflich nicht angezeigt. Denn es spricht nichts dagegen, eine Sozialversicherung mit der oben beschriebenen Zwecksetzung, der Gewährung eines für jedermann erschwinglichen Versicherungsschutzes zur Absicherung elementarer Daseinsrisiken, auch auf rein freiwilliger Basis durchzuführen. Zwar mag dies – voraussichtlich – die bereits zuvor beschriebenen Effekte nach sich ziehen, daß einerseits die „guten Risiken“ der Versicherung fern bleiben, falls es für sie finanziell attraktivere Sicherungsformen gibt (vor allem eine rein risikoäquivalent kalkulierte private Versicherung), und andererseits auch nicht jede den „schlechten Risiken“ zuzurechende Person den Versicherungsschutz in Anspruch zu nehmen gewillt ist, weil dieser wegen individueller Sorglosigkeit oder Risikobereitschaft sowie der damit gleichwohl, wenn 725 Siehe etwa Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (40); vgl. auch Renate Jaeger, Soziale Sicherheit und solidarische Gemeinschaftsbeziehungen, ZRP 1998, S. 55 (61). 726 Siehe etwa für die gesetzliche Krankenversicherung § 9 SGB V.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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auch zu sozialen Konditionen, verbundenen Beitragspflicht für nicht erstrebenswert erachtet wird. Dies schmälerte aber nicht die soziale Zwecksetzung des Systems bzw. dessen generelle Zwecktauglichkeit, sondern allenfalls die Effektivität eines solchen Sozialversicherungssystems: In gesellschaftlich-sozialer Hinsicht, weil nicht alle, die dieses Schutzes vielleicht bedürften, ihn auch annehmen. In finanzieller Hinsicht, weil wegen des zu erwartenden Ausbleibens einer Teilnahme der „guten Risiken“ der soziale Ausgleich nicht mehr oder nicht mehr hinreichend „von innen“, d. h. durch die gemessen am Gedanken der Individualäquivalent zu hohen Beiträge dieser „guten Risiken“, bewerkstelligt werden kann. Gleichwohl kann bei Fehlen einer Versicherungspflicht und für den Fall, daß sich dann Einzelne aus Unvernunft oder Unwissenheit der Versicherung entziehen, gegebenenfalls durch Aufklärungsmaßnahmen oder ähnliches eine erhöhte Versicherungsbereitschaft erreicht werden. Oder man verzichtet auf die Einbeziehung nicht versicherungswilliger Personen, was dem Charakter des „Sozialen“ nicht entgegenstünde, denn sozial motivierte Fürsorgemaßnahmen des Staates müssen nicht oktroyiert werden, um „sozial“ zu sein; hierzu genügt ihre Bereitstellung. Der notwendige soziale Ausgleich wiederum kann auch „von außen“ bewerkstelligt werden, also insbesondere durch staatliche Steuerzuschüsse, wie sie in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG sogar als Instrument vorgesehen sind – was ebenfalls eine legitime Form des sozialen Ausgleich darstellen würde (siehe oben). Je stärker ein Sozialversicherungssystem dabei auf einen sozialen Ausgleich „von außen“ setzt, desto geringer ist die Notwendigkeit einer Versicherungspflicht: denn einer der Hauptgründe, der Versicherung fernzubleiben (vor allem für die „besseren Risiken“ oder die sog. Besserverdiener), entfällt, wenn die finanzielle Ausgleichsmasse zur Bewerkstelligung des sozialen Ausgleichs nicht wie beim sozialen Ausgleich „von innen“ aus den Beiträgen kommen muß (und damit insbesondere aus den im Verhältnis zu deren Risiko relativ hohen Beiträgen der „besseren Risiken“ oder der sog. Besserverdiener), sondern dem System von außen durch Zuschüsse (insbesondere aus Steuermitteln) zugeführt wird. Da dann nämlich die Beitragslast eher dem individuellen Risiko entspricht und die darüber hinaus gehende Solidaritätslast nicht unmittelbar aus der Mitgliedschaft in der Sozialversicherung resultiert, sondern jedermann in Gestalt einer (höheren) allgemeinen Steuerlast trifft, ist der insbesondere für die „besseren Risiken“ und die sog. Besserverdiener bestehende Anreiz, sich der Sozialversicherung zu entziehen, und damit zugleich die praktische Notwendigkeit einer Versicherungspflicht entsprechend geringer. Folglich ist die Versicherungspflicht nur ein Mittel bzw. eine bestimmte Ausgestaltungsform, um eine bestimmte Effektivität der Sozialversicherung zu erreichen, insbesondere sofern diese auf einen sozialen Ausgleich „von innen“ setzt. Nicht aber ist sie ein konstituierendes begriffliches Erfordernis, um überhaupt von einer „Sozialversicherung“ sprechen zu können, da die für die Sozial-

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

versicherung konstituierenden sozialen Zwecksetzungen (siehe oben) grundsätzlich auch – wenn auch gegebenenfalls nicht in gleichem Maße – auf freiwilliger Basis erreicht werden können. Letzten Endes verhält es sich bei der Versicherungspflicht wie mit dem Versicherungsprinzip hinsichtlich der Privatversicherung: Dort mag die Beachtung des Versicherungsprinzips eine besondere Effektivität und wirtschaftliche Funktionstüchtigkeit der (Privat-)Versicherung garantieren (und insoweit regelmäßig verwirklicht sein), begriffserforderlich für das Vorliegen einer „Versicherung“ ist seine Verwirklichung aber nicht. Genauso mag eine Versicherungspflicht im Rahmen einer Sozialversicherung deren soziale Zwecksetzung zwar besonders effektiv verwirklichen helfen (und daher zumindest bei einem sozialen Ausgleich „von innen“ ebenso regelmäßig vorgesehen, also typisch sein), begriffswesentlich bzw. konstituierend ist die Versicherungspflicht aber nicht für das Vorliegen einer Sozialversicherung727, da das „Soziale“ an ihr auch ohne Versicherungspflicht Bestand hat. Auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich nichts anderes entnehmen: Zwar bezeichnet das Gericht mitunter die Sozialversicherung oder einzelne ihrer Zweige als „Zwangsversicherung“728 oder bezeichnet den Versicherungszwang als für sie „charakteristisch“729, tut dies allerdings nur im Rahmen der Beschreibung von deren aktueller einfachgesetzlicher Ausprägung, nicht aber zur Inhaltsbestimmung des Begriffes „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Auch andere Äußerungen des Gerichts stützen das oben gefundene Ergebnis, daß der Versicherungszwang zwar die typische, regelmäßig verwirklichte Ausgestaltungsform des Sozialversicherungsverhältnisses ist, hierin aber kein begriffsnotwendiges Merkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG liegt. So spricht das Bundesverfassungsgericht davon, daß „der Staat [. . .] den Versicherten in der Regel dem Versicherungszwang unterwirft“730, „der Gesetzgeber [. . .] in Erfüllung seiner Aufgabe sozialer Sicherung [. . .] ein System geschaffen“ habe, „das grundsätzlich auf dem Prinzip der Pflichtversicherung kraft Gesetzes beruht“731, oder „der Versicherungszwang bei der Erfüllung der Aufgabe des Gesetzgebers, [. . .] ein System sozialer Sicherheit zu schaffen, eine große Rolle spielt“, dabei aber nicht übersehen werden dürfe, „daß dem freiwillig begründeten Versicherungsschutz [. . .] heute eine erheblich größere Bedeutung als in den Anfängen der Rentenversicherung zukommt“732. Auch die Feststellung, daß der Gesetzgeber für „die Arbeiterrentenversicherung [. . .] die Form der Zwangsversicherung gewählt“ 727 Vgl. auch Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 29. 728 BVerfGE 97, S. 271 (295). 729 BVerfGE 76, S. 256 (308). 730 BVerfGE 76, S. 130 (140) – Hervorhebung durch Verfasser. 731 BVerfGE 71, S. 1 (17) – Hervorhebung durch Verfasser. 732 BVerfGE 71, S. 1 (21) – Hervorhebungen durch Verfasser.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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hat733, impliziert, daß der Versicherungszwang insofern nur eine von mehreren in Betracht kommenden Modalitäten zur Ausgestaltung der Sozialversicherung ist, nicht hingegen ein zwingend begriffsnotwendiges Strukturmerkmal, ohne dessen Vorliegen man nicht von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sprechen könnte. (3) Teilweise Finanzierung durch Arbeitgeberbeiträge? Als begriffsnotwendiges Merkmal einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kommt ferner die Beteiligung der Arbeitgeber an der Beitragserbringung in Betracht,734 wie sie in der bestehenden Sozialversicherung typischerweise vorgesehen ist (etwa gemäß §§ 346 Abs. 1 SGB III, 249 Abs. 1 SGB V)735. Gegen die Begriffsnotwendigkeit spricht allerdings bereits, daß die Sozialversicherung nicht auf Arbeitnehmer beschränkt ist736, sondern auch Personengruppen umfaßt, die überhaupt keinen Arbeitgeber haben737. Abgesehen davon handelt es sich hierbei aber auch um kein derartig elementares Merkmal, daß ohne es die soziale Funktion der Sozialversicherung nicht gewährleistet wäre. Vielmehr verblieben genügend andere Ausgestaltungsoptionen, um die wirtschaftliche Erschwinglichkeit der Sozialversicherungsbeiträge zu gewährleisten, als diese – in der Regel hälftig738 – von den Arbeitgebern tragen zu lassen. Ohnehin ist dabei zu berücksichtigen, daß der Arbeitgeberbeitrag als Teil der Lohn(neben)kosten letztlich ein externer Lohnbestandteil der Bezüge des Arbeitnehmers und wirtschaftlich somit jedenfalls faktisch dem Versicherten zuzurechnen ist; daß er vom Arbeitgeber abgeführt und nicht dem Versicherten ausbezahlt wird, hat historische Gründe.739 Daher kann es keinen Unterschied machen, ob er zunächst dem Arbeitnehmer ausgezahlt würde, damit dieser ihn an die Sozialversicherung abführt, oder ob dies direkt durch den 733

BVerfGE 21, S. 362 (375) – Hervorhebung duch Verfasser. Vgl. Joachim Wieland, Verfassungsrechtliche Grenzen der Beitragserhebung in der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 2003, S. 259 (274), nach dem es sich hierbei um ein Strukturelement der Sozialversicherung handele, das deren verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff „prägt“; siehe ferner Maximilian Gassner, Aktuelle Fragen der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (Teil I), RPG 2003, S. 91 (98). 735 Siehe auch die Übersicht über die einschlägigen Normen bei Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 7 Rn. 61. – Vgl. hierzu auch schon oben, 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (g). 736 BVerfGE 11, S. 105 (113) – st. Rspr.; siehe ausführlich auch im folgenden unter 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (4) (c) (aa). 737 Vgl. im einzelnen oben 1. Teil, II. 1. 738 Siehe zu den Besonderheiten der gesetzlichen Unfallversicherung oben, 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (g). 739 Siehe Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (18); ferner auch Ferdinand Kirchhof, Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, in: SDSRV 35 (1992), S. 65 (74 f.). 734

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Arbeitgeber erfolgt. Letztlich handelt es sich bei der (teilweisen) Finanzierung durch Arbeitgeberbeiträge nur um eine bestimmte Ausgestaltungsmodalität der Sozialversicherung, nicht jedoch um ein begriffsnotwendiges Inhaltsmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. (4) Begriffliche Notwendigkeit der Beschränkung des Versichertenkreises auf bestimmte Personen? Insbesondere die Diskussion um eine alle Bevölkerungsteile umfassende „Bürgerversicherung“ hat in verstärkten Maße die Frage aufgeworfen, ob dem Begriff „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von vornherein eine Beschränkung des (sozial)versicherten Personenkreises immanent ist, ob also mit anderen Worten überhaupt noch eine „Sozialversicherung“ in diesem Sinne sowie eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz gegeben ist, wenn das betreffende Sicherungssystem bestimmte Personengruppen umfaßt, die dort behauptetermaßen nicht „hinein gehören“ – vor allem geht es dabei um nicht-schutzbedürftige Personen im allgemeinen sowie im besonderen um Personengruppen, die vom derzeitigen Sozialversicherungssystem nicht oder nur am Rande erfaßt werden, wie insbesondere Selbständige und Beamte. (a) Schutzbedürftigkeit des versicherten Personenkreises? Als begriffliches Erfordernis von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wird nicht selten verlangt, daß die in der Sozialversicherung erfaßten Personen auch tatsächlich schutzbedürftig, also angewiesen auf den ihnen durch die sozial geprägte Versicherungsform vermittelten Schutz sind.740 Aus diesem Grund wird häufig bereits die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Einführung einer sämtliche Bevölkerungsteile umfassenden Sozialversicherung bzw. gesetzlichen Krankenversicherung (sog. „Bürgerversicherung“ bzw. „Volksversicherung“ bzw. „Einwohnerversicherung“)741 abgelehnt, da hierdurch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht schutzbedürftige Personen erfaßt würden – wie etwa (besonders) Gutverdienende, welche derzeit ein Einkommen oberhalb der Pflichtversicherungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung aufweisen und daher schon nach derzeitigen Maßstäben augenscheinlich nicht als schutzbedürftig betrachtet werden.742 740 Siehe etwa Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396); Hans-Jürgen Papier, Sozialversicherung und Privatversicherung – verfassungsrechtliche Vorgaben –, ZSR 1990, S. 344 (350). 741 Siehe zu diesem Modell oben 1. Teil, III. 1. 742 So etwa Peter Axer, Gesundheitswesen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 95 Rn. 8; Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003,

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Fraglich ist allerdings, ob es sich hierbei bereits um ein begriffliches Erfordernis für das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG handeln kann, oder ob die tatsächliche Schutzbedürftigkeit (bzw. deren Fehlen) nicht vielmehr ein inhaltliches Kriterium ist, welches erst über die materielle Zulässigkeit von mit der Einbeziehung in die Sozialversicherung gegebenenfalls verbundenen Freiheitsbeeinträchtigungen (z. B. einem Versicherungszwang) entscheidet. Zwar ist – wie bereits ausgeführt – die soziale Intention der Sozialversicherung die Absicherung bestimmter elementarer Risiken auf eine Art und Weise, die den Versicherungsschutz finanziell tragbar, bezahlbar, erschwinglich macht. Dieser Aspekt der finanziellen Ermöglichung des betreffenden Versicherungsschutzes kann sich in der Tat nur auf schutzbedürftige Personen beziehen, also solche, die sich einen Versicherungsschutz anderweitig (d. h. vor allem durch eine Privatversicherung) voraussichtlich nicht ohne finanzielle Überforderung leisten können. Diese Personen sind es, die vornehmlich von der Sozialversicherung profitieren – profitieren in dem Sinne, daß sie ohne Sozialversicherungsschutz schlechter stünden, weil sie sich einen „normalen“ Versicherungsschutz nicht oder nur unter finanzieller Überlastung leisten könnten. Hierzu sind grundsätzlich Personen mit einem verhältnismäßig niedrigem Einkommen bzw. Vermögen zu zählen und/oder Personen mit einem hohen individuellen Risiko hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit des Versicherungsfalles.743 Soweit dagegen Personen nicht in diesem Sinne schutzbedürftig sind, also über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um sich einen hinreichenden und gegebenenfalls teureren Versicherungsschutz auch über ein Privatversicherungsunternehmen leisten zu können oder gar drohende Schäden aus ihren vorhandenen Vermögen ersetzen könnten, bedürfen sie der Sozialversicherung und ihrer sozialen Mechanismen im Grunde nicht. Geht man nun davon aus, daß es in diesem Sinne schutzbedürftige und nichtschutzbedürftige Personen gibt und daß lediglich die Schutzbedürftigen des besonderen durch die Sozialversicherung vermittelten Schutzes bedürfen, so ist damit gleichwohl nicht dargetan, daß ein Sicherungssystem nur dann begrifflich als „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gelten kann, S. 76 (78); Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396); Detlef Merten, Die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht und die Grenzen der Verfassung, NZS 1998, S. 545 (547). 743 Diese ziemlich schematische Grenzziehung zwischen Schutzbedürftigkeit und Nicht-Schutzbedürftigkeit kann an dieser Stelle ausreichen, weil es hier nur um die Frage geht, ob Schutzbedürftigkeit überhaupt ein begriffliches Erfordernis von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist. Erst wenn man zu dem Ergebnis käme, daß dies der Fall ist, müßte man sich hier im weiteren Gedanken machen, wo die konkrete Grenze zwischen Schutzbedürftigkeit und Nicht-Schutzbedürftigkeit verläuft und welche weiteren Aspekte in die Ermittlung dieser Grenze gegebenenfalls miteinzufließen zu haben.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

wenn es ausschließlich schutzbedürftige Personen umfaßt und somit Personen, die von diesem System vornehmlich profitieren. Denn die Sozialversicherung konstituiert sich unter anderem dadurch, daß sie bestimmten, als schutzbedürftig erachteten Personengruppen einen sozial ausgestalteten, d. h. in diesem Zusammenhang insbesondere bezahlbaren Versicherungsschutz gewährt. Sofern sie dies bewerkstelligt, handelt es sich – vorbehaltlich weiterer erforderlicher Begriffskriterien – um Sozialversicherung, fehlt es an dieser sozialen Ausgestaltung, liegt keine Sozialversicherung vor. Entscheidend für das begriffliche Vorliegen einer Sozialversicherung könnte es demgemäß auch sein, daß sie darauf ausgerichtet ist, sozial Schutzbedürftige im oben beschriebenen Sinn zu erfassen und daß sie den Schutz dieser Personen auch auf soziale Weise bewerkstelligt. Maßgeblich wäre damit letztlich nur, daß eine Sozialversicherung jedenfalls schutzbedürftige Personen erfaßt bzw. diesen offensteht. Ob sie hingegen darüber hinaus auch Personen umfaßt, die wenig oder überhaupt nicht schutzbedürftig sind, wäre dann eine Frage der konkreten Ausgestaltung, also des „Wie“ der Sozialversicherung, nicht aber des begrifflichen „Ob“. Hierfür spricht bereits, daß es nicht einsichtig ist, warum eine Sozialversicherung nicht auch Nicht-Schutzbedürftigen offenstehen soll (und sei es auf freiwilliger Basis), wenn diese es für sich als erstrebenswert ansehen, ihr beizutreten – die Gründe hierfür mögen vielfältig sein: neben einer altruistisch-solidarischen Motivation könnte es beispielsweise auch für einen an sich nicht Schutzbedürftigen lohnend sein, sozialversichert zu sein, weil er aufgrund eines hohen individuellen Risikos sehr hohe Beiträge in einer Privatversicherung zahlen müßte, die er sich aufgrund seines Einkommens zwar immer noch leisten könnte (so daß er insoweit eben nicht schutzbedürftig ist), die aber deutlich höher als die Beiträge in der nicht risikoindividuell kalkulierten Sozialversicherung sind. Dies käme umso mehr in Betracht, wenn durch einheitliche „Kopfpauschalen“ eine einheitliche Beitragsbelastung aller Versicherten bestünde und der soziale Ausgleich allein durch Zuschüsse aus Steuermitteln bewerkstelligt würde. Der für die Sozialversicherung unter anderem maßgebliche soziale Aspekt, daß elementare persönliche Lebensrisiken nicht zum Gegenstand privaten Gewinnstrebens gemacht werden sollen744, griffe auch hier. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die Absicherung der Schutzbedürftigen isoliert betrachtet im Regelfall ein Zuschußgeschäft darstellen wird, ja zwangsläufig darstellen muß. Denn der Schutzbedürftige ist gerade dadurch gekennzeichnet bzw. gerade deshalb schutzbedürftig, weil er sich risikoäquivalente Prämien (wie in der Privatversicherung unter Beachtung des dort regelmäßig verwirklichten Versicherungsprinzips) nicht leisten kann und insoweit auf die soziale, die Leistungsfähigkeit des Versicherten berücksichtigende Beitragsgestaltung der 744

(bb).

Siehe dazu bereits oben 1. Teil, I. 3; 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b)

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Sozialversicherung angewiesen ist, um Versicherungsschutz zu erlangen. Mit anderen Worten werden die Sozialversicherungsbeiträge der schutzbedürftigen Versicherten gerade nicht individualäquivalent sein (sondern niedriger), also gerade nicht dem entsprechen, was das individuelle Risiko nach versicherungsmathematischen Grundsätzen an sich als Beitrag erfordern würde. Wenn aber die Beiträge der Schutzbedürftigen durchweg nicht individualäquivalent sind, dann kann allein durch die Gesamtheit dieser Beiträge keine kostendeckende, d. h. ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben aufweisende (mithin globaläquivalente) Versicherung betrieben werden, weil die Höhe der Beiträge hinter dem zurück bleibt, was zur Deckung der eintretenden Versicherungsfälle notwendig wäre. Ein Sicherungssystem, welches Schutzbedürftige sozial, also unabhängig von deren individuellem Schadensrisiko versichern will, bedarf also zwangsläufig einer finanziellen Ausgleichsmasse, um die durch die soziale Bemessung der Beiträge der Schutzbedürftigen entstehenden Finanzierungslücken auszugleichen. Diese Ausgleichsmasse kann hier gerade nicht (jedenfalls nicht in hinreichendem Maße) aus der Versichertengemeinschaft der Schutzbedürftigen und dem daraus resultierenden „Prinzip der großen Zahl“ resultieren, weil – anders als bei einer nach dem Versicherungsprinzip arbeitenden Versicherung – die Gesamtheit der Beiträge mangels Individualäquivalenz der einzelnen Beiträge gerade nicht im richtigen wirtschaftlichen Verhältnis zur Gesamtheit der eintretenden Versicherungsfälle steht und der „normale“ Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft mangels Globaläquivalenz damit regelmäßig nicht gelingen wird. Die insoweit notwendige Ausgleichsmasse kann in einem System wie der Sozialversicherung folglich nur aus anderen Einnahmen als den Beiträgen der Schutzbedürftigen kommen, mit anderen Worten: das System „Sozialversicherung“ ist angewiesen auf Einnahmen, die über die Beiträge der Schutzbedürftigen hinaus gehen. Das hierzu in der Sozialversicherung bestehende Instrument ist der „soziale Ausgleich“, der – wie bereits dargelegt – eines ihrer prägenden, begriffsnotwendigen Strukturmerkmale ist. Durch dieses Umverteilungselement soll letztlich die oben beschriebene Finanzierungslücke geschlossen werden, die sich aus der sozialen Beitragsgestaltung für die Schutzbedürftigen ergibt. Zur Bewerkstelligung dieses sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung stehen prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Verfügung: entweder der soziale Ausgleich erfolgt „von außen“ durch (in der Regel steuerfinanzierte) Zuschüsse in das System (vgl. hierzu Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG), oder er vollzieht sich „von innen“ durch die Versichertenbeiträge.745 Im letzteren Falle kann die durch die in risikoäquivalenter Hinsicht zu niedrigen Beiträge der Schutzbedürftigen entstehende Finanzierungslücke nur ausgeglichen werden durch die gleichzeitige Erhebung von in risikoäquivalenter Hinsicht zu hohe Beiträge, damit dieser Über745

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (dd).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

schuß gegenüber dem risikoäquivalenten Beitrag das entsprechende Manko der in risikoäquivalenter Hinsicht zu niedrigen Beiträge der Schutzbedürftigen bis zum Erreichen der Globaläquivalenz des gesamten Systems ausgleicht. Derartige „zu hohe“ Beiträge können aber nur von Nicht-Schutzbedürftigen erhoben werden, da nur solche sich (sogar) diese gegenüber dem risikoäquivalenten Beitrag zu hohen Beiträge leisten können, ohne daß es sie sozial/finanziell überlastet (für die Schutzbedürftigen stellten ja bereits risikoäquivalente Beiträge eine finanzielle Überlastung dar). Kurz gesagt: soll der soziale Ausgleich in der Sozialversicherung „von innen“ bewerkstelligt werden können, kann dies prinzipiell gar nicht anders erfolgen als durch die Einbeziehung auch Nicht-Schutzbedürftiger in das System. Für die hier untersuchte Frage, ob die „Schutzbedürftigkeit“ der Versicherten ein begrifflich notwendiges Kriterium für das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist, bedeutet dies Folgendes: Da die Sozialversicherung begriffsnotwendig das Element des „sozialen Ausgleichs“ umfaßt, und da dieser soziale Ausgleich sowohl „von außen“ durch externe Zuschüsse wie auch „von innen“ durch eine entsprechende Bemessung von Beiträgen Nicht-Schutzbedürftiger bewerkstelligt werden kann, spricht auch insoweit nichts dafür, das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begrifflich davon abhängig zu machen, daß sie ausschließlich Schutzbedürftige versichert. Würde man dies fordern, könnte man als „Sozialversicherung“ begrifflich nur ein System anerkennen, bei dem der notwendige und dieses System konstituierende soziale Ausgleich ausschließlich „von außen“, d. h. durch externe (steuerfinanzierte) Zuschüsse erfolgt, da ohne das Vorhandensein nicht-schutzbedürftiger Versicherter ein sozialer Ausgleich „von innen“ – wie dargelegt – praktisch unmöglich ist. Es ist aber nicht ersichtlich, daß der Begriff „Sozialversicherung“ bereits auf bestimmte Ausgleichsmodalitäten, genauer: auf einen sozialen Ausgleich durch Zuschüsse „von außen“ begrenzt und dementsprechend verengt sein soll. Begrifflich-kompetenzrechtlich ist auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich entscheidend, daß die Einbeziehung auch nichtschutzbedürftiger Personen nicht „außerhalb der Vorstellungen liegt, von denen die Sozialversicherung in ihrem sachlichen Gehalt bestimmt ist“746 Die Grenze ist dann erreicht, „wenn die Absicht, Einnahmen zu erzielen, hinter einen anderen mit der Leistungspflicht verbundenen Zweck völlig zurücktritt“747. Eine zusätzliche Einbeziehung von tatsächlich nicht schutzbedürftigen Personen in dieses System dient aber wie gezeigt dazu, den für die Sozialversicherung charakteristischen sozialen Ausgleich besser oder überhaupt bewerkstelligen zu können und sichert die insoweit Einbezogenen gleichzeitig selbst ab, steht also 746 747

So zu recht BVerfGE 75, S. 108 (149). BVerfGE 14, S. 312 (318).

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in dem zu fordernden Zusammenhang mit den die Sozialversicherung sachlich bestimmenden Vorstellungen, nämlich einem Versichertenschutz unter gleichzeitiger Bewerkstelligung eines sozialen Ausgleichs. Im übrigen bestünden aber auch in rein praktischer Hinsicht Zweifel, daß das Merkmal einer „Schutzbedürftigkeit“ zur begrifflichen Begrenzung der verfassungsrechtlichen Materie „Sozialversicherung“ taugt. Sinnvollerweise könnte diese begriffliche Eingrenzung allenfalls über eine typisierende Betrachtung der „Schutzbedürftigkeit“ erfolgen, damit nicht jeder von der geregelten Materie erfaßte Einzelfall über die begrifflich-kompetentielle Einstufung als „Sozialversicherung“ entscheidet. Von vornherein nicht sachgemäß wäre es aber, typisierend auf die Schutzbedürftigkeit bestimmter Personengruppen abzustellen (z. B. Arbeitnehmer, Selbständige, Rentner), da auch innerhalb dieser Gruppen in der Lebenswirklichkeit eine derartige wirtschaftliche Inhomogenität besteht, daß kaum zutreffend behauptet werden kann, eine Gruppe sei schutzbedürftig, die andere nicht. So gibt es durchaus zahlreiche Arbeitnehmer mit einer Einkommenshöhe, die die Schutzbedürftigkeit zweifelhaft erscheinen läßt, und ebenso gibt es Selbständige, die über ein verhältnismäßig geringes Einkommen verfügen und wirtschaftlich schlechter stehen als mancher Angestellte748. In Betracht käme ferner, diese Typisierung durch eine über die „Schutzbedürftigkeit“ entscheidende Einkommenshöhe oder allgemeinen Vermögensituation vorzunehmen. Dabei erscheint es aber zweifelhaft, ob eine derartige, typisierende Grenzziehung, die eine begriffliche Eingrenzung der Materie „Sozialversicherung“ erlauben würde, überhaupt möglich ist: So kann eine einheitliche Grenze für den gesamten Bereich der „Sozialversicherung“ schon deshalb nicht gezogen werden, weil die Annahme von Schutzbedürftigkeit oder Nicht-Schutzbedürftigkeit beispielsweise maßgeblich dadurch beeinflußt wird, ob der Versicherungsschutz gegen Risiken wie Krankheit oder Alter auch auf privatversicherungsrechtlichem Wege erzielt werden kann749. Das über die Sozialversicherung ebenfalls abgedeckte Risiko der „Arbeitslosigkeit“ wird in der Privatversicherung – anders als etwa das Risiko „Krankheit“ – aber überhaupt nicht versichert, so daß die über die Schutzbedürftigkeit entscheidende Einkommensgrenze hier eine andere als beispielsweise bei der Krankenversicherung sein müßte, weil mangels privater „Alternative“ auf dem Versicherungsmarkt nunmehr zur Ermittlung der Schutzbedürftigkeit nicht darauf abzustellen ist, ob der Betreffende sich privaten Versicherungsschutz leisten kann, sondern ob er die aus dem Eintritt des Risikos resultierenden Lasten eigenständig tragen könnte. Zudem läßt sich über eine typisierend gezogene Vermögens- bzw. Ein748 Siehe zur Einbeziehbarkeit von Selbständigen in die Sozialversicherung auch noch im folgenden 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (4) (c) (aa). 749 Vgl. etwa Natalie Brall/Hans-Joachim Voges, Modell Bürgerversicherung – Verfassungsrechtliche und europarechtliche Fragen, 2005, S. 47 f.; Helge Sodan, Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, ZRP 2004, S. 217 (219 f.).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

kommensgrenze auch nicht erfassen, inwieweit eine frühere Schutzbedürftigkeit eines Versicherten (z. B. als Student oder als – vormalig – Einkommensschwacher) dessen aktuelle Einbeziehung in die Sozialversicherung zu „rechtfertigen“ vermag, wie weit also die Schutzbedürftigkeit gegebenenfalls auch „intertemporal“ bestehen kann750. Des weiteren ist zu beachten, daß dem Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinung wie etwa der Sozialversicherung grundsätzlich eine eigene Typisierungsbefugnis zukommt751. Es umfaßt gerade den Wirkungsbereich des Gesetzgebers, durch legislative Maßnahmen in einem ihm kompetentiell zustehenden Regelungsbereich auf aktuelle tatsächliche Entwicklungen und sich wandelnde gesellschaftliche Anschauungen zu reagieren und reagieren zu können. Dies darf nicht durch eine bereits auf kompetentieller Verfassungsebene ansetzende, typisierende Verengung seiner Kompetenzbereiche konterkariert werden, wie es durch eine typisierende Einkommens- bzw. Vermögensgrenze zwischen „Schutzbedürftigkeit“ und „Nicht-Schutzbedürftigkeit“ aber der Fall wäre. Daher dürfte ihm im Bereich der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ nicht von vornherein, d. h. nicht bereits auf kompetenzrechtlicher Ebene die Möglichkeit genommen werden, aufgrund seiner Vorstellungen und Bewertungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit darüber zu befinden, wen bzw. welche Gruppen er im Hinblick auf die Absicherung der Sozialversicherungsrisiken als konkret schutzwürdig erachtet.752 Überhaupt wird zu Recht darauf hingewiesen, daß die „Schutzbedürftigkeit“ ein „wert- und entwicklungsbezogener Begriff ist“, für den sich „ein objektives und zeitloses Definitionskriterium nur schwer finden“ lasse und der letztlich „von Fall zu Fall bis in die Einzelheiten hinein nachgeprüft werden“ müsse, „und zwar immer mit Rücksicht auf die soziale und wirtschaftliche Lage der zu prüfenden Personengruppe“.753 Auch angesichts dessen erscheint dieses Kriterium als begriffliches Merkmal der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“, also als konstituierendes Element für die begriffliche Entscheidung, für das kategorische „Ja“ oder „Nein“ hinsichtlich des Vorliegens dieser Kompetenzmaterie, denkbar ungeeignet. Wohl nicht zuletzt deshalb wird überwiegend der Aspekt der Schutzbedürftigkeit des sozialversicherten Personenkreises auch nicht im Bereich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern auf der materiell-verfassungsrechtlichen Ebene im Rahmen der „Recht750 Auf diesen Aspekt der Schutzbedürftigkeit hinweisend etwa Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 72 f. 751 Vgl. etwa BVerfGE 87, S. 234 (255); 96, S. 1 (6); 101, S. 297 (309); 103, S. 225 (235 f.). 752 Vgl. auch Ralf Peter Schenke, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Verfassungs- und Europarecht, Die Verwaltung 2004, S. 475 (487). 753 Martin Füllsack, Reformmodelle in der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung, 1996, S. 126.

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fertigung“ der Sozialversicherung bzw. der mit ihr verbundenen Beeinträchtigungen von Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten erörtert754. Wenn überhaupt, könnte auf begrifflich-kompetentieller Ebene die einzig sinnvolle, die genannten Probleme vermeidende Typisierung im Grunde nur im Hinblick auf die versicherten Risiken erfolgen, indem man typisierend fragt, ob das versicherte Risiko als solches schutzwürdig erscheint, weil dessen Eintritt prinzipiell Notlagen zu erzeugen fähig ist, für die der Einzelne der Vorsorge bedarf. Diese Weichenstellung ist aber bereits der Begrenzung der „Sozialversicherung“ auf bestimmte, als sozial schutzwürdig erachtete Risiken inhärent, was in der vorliegenden Untersuchung bereits an anderer Stelle thematisiert worden ist755 – und letztlich bezieht sie sich weniger auf die Schutzbedürftigkeit der versicherten Personen, sondern fragt eher nach der Schutzwürdigkeit der versicherten Risiken. All dies führt zu dem Ergebnis, daß das begriffliche Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht davon abhängig ist, daß sie ausschließlich Personen versichert, die tatsächlich schutzbedürftig sind. Die Beschränkung des Versichertenkreis ausschließlich auf Schutzbedürftige oder die Erstreckung des Versichertenkreises auch auf Nicht-Schutzbedürftige ist somit nur eine Frage des „Wie“ der Sozialversicherung und des durch sie bewirkten und zu bewirkenden sozialen Ausgleichs, mithin nur eine Ausprägungsmodalität im Rahmen des Begriffes „Sozialversicherung“, nicht eine Frage von dessen „Ob“. Die Einbeziehung nicht schutzbedürftiger Personen steht damit begrifflich-kompetenzrechtlich nicht der Annahme einer „Sozialversicherung“ entgegen.756 Vor diesem Hintergrund könnte beispielsweise auch eine „Bürger-“ bzw. „Volksversicherung“ oder „Einwohnerversicherung“ begrifflich als „Sozialversicherung“ gelten und wäre von der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt. Das gleiche gilt für Erhöhungen 754 Siehe etwa Friedhelm Hase, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die staatliche Gewährleistung sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 7 (22 ff.); Daniela Beer/Dominik Klahn, Rechtliche und ökonomische Eckpunkte einer Bürgerversicherung, SGb 2004, S. 13 (17 f.); Ferdinand Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, NZS 2004, S. 1 (2 f.); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (589 ff.); ders., Verfassungsrechtliche Probleme der Bürgerversicherung, ErsK 2004, S. 275 (276); Stefan Storr, Neuorganisation der Sozialen Sicherungssysteme, SGb 2004, S. 279 (283 ff.); Christoph Uleer, Die „richtige“ Abgrenzung von PKV und GKV, in: Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa – Festschrift für Bernd Baron von Maydell, 2002, S. 767 (772 f.). 755 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a). 756 Vgl. BVerfGE 75, S. 108 (148 f.); Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 283; Friedrich E. Schnapp, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, DVBl. 2004, S. 1053 (1055, inkl. Fn. 14); Rupert Stettner, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 74 Rn. 67.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

der Pflichtversicherungsgrenze, durch welche die Versichertenbasis der Sozialversicherung (noch weiter) verbreitert wird.757 Auf einem ganz anderen Blatt steht dann allerdings die von der begrifflichkompetenzrechtlichen Ebene zu trennende758 Frage, ob und inwieweit die Einbeziehung Nicht-Schutzbedürftiger in das System der gesetzlichen Krankenversicherung – jedenfalls wenn sie zwangsweise erfolgt – sowie die entsprechende Beitragspflicht wegen der hiermit verbundenen Freiheitsbeeinträchtigung materiell verfassungsgemäß, insbesondere grundrechtskonform ist. Denn auch wenn die Einbeziehung Nicht-Schutzbedürftiger dem begrifflichen Vorliegen einer Sozialversicherung und damit einer diesbezüglichen Gesetzgebungskompetenz nach dem hier ermittelten Ergebnis nicht entgegensteht, heißt dies keineswegs automatisch, daß damit gegebenenfalls einhergehende Grundrechtsbeeinträchtigungen von vornherein legitimiert wären759. Nicht jede kompetenzgemäße Ausprägungsform der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist automatisch materiell verfassungslegitimiert. Die Einbeziehung NichtSchutzbedürftiger ist ein Instrument zur Bewerkstelligung des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung; ob und bis zu welcher Grenze es sich dabei um ein materiell verfassungsmäßiges Instrument handelt, muß grundsätzlich wie jede andere gesetzgeberische Maßnahme einer materiellen Verfassungsmäßigkeitsprüfung insbesondere anhand der Grundrechte unterzogen werden. In diesem Zusammenhang kann dann allerdings bedeutsam werden, ob und inwieweit den Kompetenztiteln des Grundgesetzes im allgemeinen und dem Kompetenztitel für „die Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG im beson757 Zuletzt geschehen durch das Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz – BSSichG) vom 23.12.2002, BGBl. I, S. 4637 (siehe dazu BVerfGE 114, S. 196 ff.; BVerfGK 2, S. 283 ff.; BVerfG-Kammer, NJW 2004, S. 1859 f.; Helge Sodan, Das Beitragssatzsicherungsgesetz auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, NJW 2003, S. 1761 ff.). – Im übrigen dürfte ansonsten nicht nur eine Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinsichtlich einer „Bürgerversicherung“ zweifelhaft sein, sondern bereits auch eine solche hinsichtlich der derzeitigen Pflichtversicherungsgrenze, aufgrund derer ca. 90% der Bevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind – denn von den „besser verdienenden“ Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung würden vor allem Jüngere, Ledige und/oder solche ohne nennenswerte Vorerkrankungen in der privaten Krankenversicherung einen deutlich niedrigeren Versicherungsbeitrag zu zahlen haben als in der gesetzlichen Krankenversicherung, so daß sie sich einen privaten Krankenversicherungsschutz ohne weiteres leisten könnten und insoweit nicht als „schutzbedürftig“ anzusehen wären (siehe Helge Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 329). 758 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (148 f.); Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 283; Friedrich E. Schnapp, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, DVBl. 2004, S. 1053 (1055, inkl. Fn. 14). 759 Siehe etwa BVerfGE 75, S. 108 (149); Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 283, wobei Butzer, a. a. O., diagnostiziert, daß dies „im Schrifttum vielfach übersehen oder auch bewußt unterschlagen“ wird.

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deren eine materielle Legitimationswirkung zugestanden werden kann, die zumindest in gewissem Umfang die materielle Verfassungsmäßigkeitsprüfung beeinflußt – auf diesen Problemkomplex wird noch an späterer Stelle ausführlich einzugehen sein760. Außer Betracht bleibt in der vorliegenden, auf Kompetenzfragen beschränkten Untersuchung hingegen die Untersuchung potentieller Grundrechtsverletzungen durch die zwangsweise Einbeziehung (insbesondere der Nicht-Schutzbedürftigen) in die gesetzliche Krankenversicherung761. (b) Beschränkung auf einen Bevölkerungsausschnitt? Es wird häufig vertreten, daß „Sozialversicherung“ begrifflich allein gegeben sein könne, wenn sie von vornherein nur auf einen bestimmten Ausschnitt der Bevölkerung bezogen ist762, die in ihr Versicherten also lediglich einen solchen darstellen. Auch hiernach könnte etwa eine sämtliche Bevölkerungsschichten umfassende „Bürger-“ oder „Volksversicherung“ schon begrifflich keine Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sein. Begründet wird dies recht formal damit, daß nach der vom Bundesverfassungsgericht geprägten Begriffsbestimmung zur „Sozialversicherung“ jedenfalls die „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ gehöre763, und „organisierte Vielheit“ immer nur einen Ausschnitt aus der Bevölkerung umfassen könne.764 Sachlich steht allerdings der Gedanke dahinter, daß immer nur Ausschnitte der Bevölkerung schutzbedürftig seien (bzw. bis dato nur Ausschnitte der Bevölkerung es waren)765, so daß dieses Kriterium letztlich in engem Zu760

Siehe unten, Zweiter Teil, Abschnitt 1, IV. Diesbezüglich sei auf die zahllosen bereits erfolgten Untersuchungen verwiesen, von denen hier als kleine „Auswahl“ nur die in Fn. 754 genannten erwähnt seien. 762 Siehe etwa Helmut André, Chancengleichheit im Rechtsschutz durch obligatorische Rechtsschutzversicherung?, ZRP 1976, S. 177 (179); Peter Axer, Verfassungsrechtliche Fragen der Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 1 (2 f.); Paul Glauben, Bürgerversicherung – ein verfassungs- und europarechtliches Risiko, DRiZ 2005, S. 229 f.; Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396); Theodor Maunz, in: MaunzDürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 172; Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 105 ff.; Helge Sodan, Die Bürgerversicherung als „Bürgerzwangsversicherung“, ZRP 2004, S. 217 (218 f.). 763 BVerfGE 11, S. 105 (112); 75, S. 108 (146); zuvor bereits BSGE 6, S. 213 (228). 764 Siehe Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 12; Helge Sodan, Gesetzliche und private Krankenversicherung – Zur Bipolarität der Versicherungsverfassung, in: Ein Leben mit der Versicherungswissenschaft – Festschrift für Helmut Schirmer, 2005, S. 569 (572). 765 Vgl. etwa Paul Glauben, Bürgerversicherung – ein verfassungs- und europarechtliches Risiko, DRiZ 2005, S. 229; Helge Sodan, Die Bürgerversicherung als „Bürgerzwangsversicherung“, ZRP 2004, S. 217 (218 f.); ders., Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), S. 144 (149 f.). 761

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sammenhang steht mit dem bereits zuvor erörterten Erfordernis einer tatsächlichen „Schutzbedürftigkeit“ der in einer Sozialversicherung versicherten Personen766. Diese Sichtweise vermag indes nicht zu überzeugen. Daß die „Schutzbedürftigkeit“ aller Versicherten kein begrifflich-kompetentielles Kriterium für das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist, sondern ein materielles, wurde bereits zuvor erörtert. Aber auch der formale Anknüpfungspunkt, daß eine „organisierte Vielheit“ zwangsläufig nur einen Ausschnitt der Bevölkerung umfassen könne, nicht aber die Gesamtheit, erscheint nicht stichhaltig. Schon rein begrifflich ist nicht ersichtlich, warum „Vielheit“ mengenmäßig dahingehend beschränkt sein solle, nicht auch die „Gesamtheit“ zu umfassen – „Gesamtheit“ ist letztlich nur die maximale „Vielheit“, und damit auch „Vielheit“. Daß die Sozialversicherung in ihrer traditionellen Ausprägung bisher nur auf Bevölkerungsausschnitte bezogen war, steht dem ebenfalls nicht entgegen, denn angesichts der notwendigen dynamischen Offenheit des Kompetenztitels767 für die Sozialversicherung ist eine Zementierung der bisher bestehenden Versichertenstrukturen allein aus rein formalen Gründen nicht angezeigt768. Ferner überzeugt es auch sachlich nicht, die Sozialversicherung von vornherein auf einen Personenkreis beschränkt wissen zu wollen, der kleiner als die „Gesamtheit“ der Bevölkerung ist: Denn jedenfalls theoretisch wäre es bei einer entsprechenden hypothetischen Einkommensstruktur denkbar, daß auch die gesamte Bevölkerung des Schutzes einer Sozialversicherung bedürfte, und dann wäre kein Grund ersichtlich, warum nicht auch der dann notwendige Schutz aller durch eine „Sozialversicherung“ zu bewerkstelligen sein sollte. Oder mit anderen Worten: wenn nicht nur ein Ausschnitt der Bevölkerung schutzbedürftig wäre, sondern die Gesamtheit, ist nicht erkennbar, warum nicht gerade auch hierin eine „Vielheit“ gesehen werden kann, für die die Schutzfunktion der Sozialversicherung zum tragen kommt. Mithin kommt es auf der begrifflich-kompetentiellen Ebene auch nicht aus dem Aspekt einer „organisierten Vielheit“ heraus darauf an, daß „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von vornherein nur auf einen Ausschnitt aus der Gesamtbevölkerung bezogen ist. Insoweit könnte beispielsweise auch eine „Bürger-“ bzw. „Volks-“ oder „Einwohnerversicherung“ hierun766 Vgl. Walter Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 60 f.; dens., Zur Abgrenzung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, 1974, S. 22: der Begriff „Schutzbedürftigkeit“ weise nur dann einen Sinn auf, wenn es auch Nicht-Schutzbedürftige gebe; ähnlich auch Christoph Uleer, Die „richtige“ Abgrenzung von PKV und GKV, in: Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa – Festschrift für Bernd Baron von Maydell, 2002, S. 767 (773). 767 Vgl. oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 1. 768 Vgl. auch Ralf Peter Schenke, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Verfassungs- und Europarecht, Die Verwaltung 2004, S. 475 (487).

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ter fallen und die hiervon erfaßte Gesamtheit eine „organisierte Vielheit“ darstellen.769 (c) Beschränkung auf bestimmte „Formen“ der Einkommenserzielung durch Arbeit? (aa) Einbeziehung von Selbständigen Die Sozialversicherung wurde in ihrer ursprünglichen Gestalt als „Arbeiter“Versicherung konzipiert, und im Laufe der Zeit wurde ihr Versichertenkreis auch auf Angestellte ausgedehnt.770 Damals wie heute stellen die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehenden Personen (siehe dazu § 7 SGB IV) die größte Gruppe der Sozialversicherten. Aus dem Umstand, daß man die Sozialversicherung demgemäß als „im Beschäftigungsverhältnis verwurzelt“ bezeichnen kann771, läßt sich aber nicht schließen, daß für eine „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begriffsnotwendigerweise nur eine Verknüpfung des Versicherungsverhältnisses mit einem (abhängigen) Beschäftigungsverhältnis gegeben sein muß. Die Zielsetzung der Sozialversicherung, die Absicherung vor allem Schutzbedürftiger, erschöpft sich nicht in der Absicherung von abhängig Beschäftigten, sondern kann genauso gut hinsichtlich Selbständigen zum tragen kommen. Die ganz vornehmliche Absicherung abhängig Beschäftigter basierte vor allem auf der im ausgehenden 19. Jahrhundert vorherrschenden (und damals sicherlich auch zutreffenden) Vorstellung, daß derjenige, der als Selbständiger tätig ist, „auf der Seite des Kapitals steht“, und insoweit ohne weiteres über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, selbst für die notwendige Absicherung seiner elementaren Lebensrisiken zu sorgen.772 Allerdings war bereits dem historischen Gesetzgeber klar, daß eine durchgängige Gleichsetzung von „Selbständigkeit“ und „wirtschaftlicher Sicherheit“ nicht der Realität entsprach, weswegen seit jeher auch einzelne Gruppen von Selbständigen sozialversicherungspflichtig wa-

769 Siehe auch Ralf Peter Schenke, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Verfassungs- und Europarecht, Die Verwaltung 2004, S. 475 (487); im Ergebnis etwa auch Karl-Jürgen Bieback, Verfassungsrechtliche Aspekte einer Bürgerversicherung: Der Bund hat die Kompetenz zur Einführung einer umfassenden Versicherung, SozSich 2003, S. 416 (419); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (585 ff.). 770 Siehe ausführlich oben 1. Teil, I. 3. und passim. 771 Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 74; vgl. auch Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (395): „Archetypus der Arbeiterversicherung“. 772 Rainer Schlegel, Wen soll das Sozialrecht schützen? – Zur Zukunft des Arbeitnehmer- und Beschäftigtenbegriffes im Sozialrecht, NZS 2000, S. 421 (422).

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ren, die nach typisierender Betrachtung als schutzbedürftig angesehen wurden, insbesondere soweit sie arbeitnehmerähnlich tätig wurden.773 Umso mehr in der heutigen Zeit, die hinsichtlich des Arbeitsmarktes geprägt ist von Schnellebigkeit, zunehmenden Flexibilitätserfordernissen und einer nicht unerheblichen Anzahl von Arbeitslosen, ist das Leitbild des Selbständigen nicht mehr das des vermögenden Fabrikbesitzers, sondern vielmehr wird die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit jedenfalls in bestimmten Bereichen immer differenzierter, komplizierter und unschärfer sowie losgelöster von traditionellen Begebenheiten774. Zahlreiche vor allem „kleine“ Selbständige775 stehen wirtschaftlich kaum besser da als abhängig Beschäftigte, sind dabei häufig wirtschaftlich von einigen wenigen Auftraggebern abhängig, und für viele auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft Angewiesene bleibt häufig mangels der Aussicht auf ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sogar nur eine Art „Flucht“ in die Selbständigkeit, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Die hier als bekannt vorausgesetzten Stichworte „Ich-AG“ oder „Scheinselbständigkeit“ stützen diesen Befund nur. Für zahlreiche dieser in durchaus prekären wirtschaftlichen Verhältnissen operierenden Selbständigen greift insoweit die Schutzintention der Sozialversicherung – d. h. die sozial gestaltete Absicherung elementarer persönlicher Lebensrisiken, vor allem hinsichtlich der Arbeitskraft – nicht zuletzt angesichts der Gefahr unsicherer Auftragslagen und mangels Segnungen wie etwa dem Kündigungsschutz in mindestens gleichem Maße wie bei abhängig Beschäftigten. Angesichts der Zielsetzung der Sozialversicherung kommt dem Unterschied zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit immer weniger Bedeutung zu, weil Selbständigkeit nicht mehr wie (oder noch weniger als) früher mit wirtschaftlicher Sicherheit gleichgesetzt werden kann.776 Demzufolge ist kein Grund ersichtlich, die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begrifflich von vornherein nur auf abhängig Be-

773 Siehe dazu Franz Ruland, Gesellschaftliche Veränderungen und Rentenversicherung, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats – Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 535 (550); Rainer Schlegel, Wen soll das Sozialrecht schützen? – Zur Zukunft des Arbeitnehmer- und Beschäftigtenbegriffes im Sozialrecht, NZS 2000, S. 421 (422); zu ungenau insoweit Maximilian Fuchs, Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung sozialer Risiken, in: SDSRV 45 (1999), S. 79 (84). 774 Siehe näher Franz Ruland, Gesellschaftliche Veränderungen und Rentenversicherung, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats – Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 535 (550 f.); vgl. auch Ulrich Lohmann, Die „Große Solidarität“ – verfassungsrechtlich möglich?, ZIAS 2003, S. 247 (248 f.). 775 Siehe näher zu diesen sog. „kleinen Selbständigen“ etwa Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 29 ff. 776 Franz Ruland, Gesellschaftliche Veränderungen und Rentenversicherung, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats – Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 535 (551).

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schäftigte als möglichen Versichertenkreis zu begrenzen.777 Dem entspricht es, wenn in die heutige Sozialversicherung bestimmte Gruppen von (in der Regel „kleineren“) Selbständigen einbezogen sind778. (bb) Einbeziehung von Beamten Anders als Selbständige, die nach den bisherigen Ausgestaltungen der einfachgesetzlichen Sozialversicherung zumindest „ausnahmsweise“779 in die Sozialversicherung einbezogen wurden bzw. werden, gehör(t)en Beamte seit jeher nicht zum (Pflicht-)Versichertenkreis der Sozialversicherung780. Im Hinblick auf beispielsweise die Absicherung im Krankheitsfall sind Beamten daher von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V freigestellt. Die Absicherung der Beamten im Krankheitsfall erfolgt – jedenfalls zum Teil – über das beamtenrechtliche Institut der Beihilfe, welches seinerseits Ausfluß des Alimentationsprinzips ist.781 Das Alimentationsprinzip gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gemäß Art. 33 Abs. 5 GG und beinhaltet, daß der Dienstherr seinen Beamten und deren Familien amtsangemessenen Unterhalt (Besoldung und Versorgung) zu gewähren hat782. Kompetenzrechtlich ist das Institut der Beihilfe daher nicht der „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) zuzuordnen, sondern fällt als Teil der Alimentation bzw. Besoldung unter die diesbezüglichen Gesetzgebungskompetenzen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG für die Rechtsverhältnisse der Bundesbediensteten; die ehemals – vor der Föderalismusreform 2006783 – in

777 So im Ergebnis auch BVerfGE 75, S. 108 (146); Detlef Merten, Die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht und die Grenzen der Verfassung, NZS 1998, S. 545 (549); ders., Einbeziehung aller Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung, DRV 1999, S. 609 (610). 778 So sind in die gesetzliche Krankenversicherung etwa gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3, 4 SGB V Landwirte (nach näherer Maßgabe des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte – KVLG 1989) oder Künstler und Publizisten einbezogen (nach näherer Maßgabe des Künstlersozialversicherungsgesetzes – KSVG), in die gesetzliche Rentenversicherung insbesondere die in § 2 SGB VI Genannten (siehe hierzu näher etwa Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 29 ff.). 779 Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 8 Rn. 23. 780 Siehe hierzu den – auch historischen – Überblick über die einschlägigen Regelungen bei Thassilo Unverhau, Endstation Bürgerversicherung? Betrachtungen zur Gesundheitspolitik – gestern und heute – aus beamtenrechtlicher Sicht, ZBR 2005, S. 154 (155 ff.). 781 Wolfgang Rüfner, Beamtenversorgung und Sozialversicherung, in: Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 147 (148). 782 BVerwGE 77, S. 331 (334); Frank Schwidden, Beamte in die gesetzliche Krankenversicherung?, RiA 1998, S. 60. 783 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Art. 74a GG enthaltene Kompetenz für die Besoldung der Landesbediensteten steht nunmehr in der ausschließlichen Kompetenz der Länder784).785 Daher stellt sich die Frage, ob die Personengruppe der Beamten in die Sozialversicherung einbezogen werden könnte (wie dies etwa bei einer sämtliche Einwohner umfassenden „Bürgerversicherung“ der Fall wäre), ohne daß diese sich dadurch so weit von der Vergleichbarkeit mit den traditionellen, klassischen Strukturelementen der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entfernt, daß begrifflich nicht mehr von einer „Sozialversicherung“ in diesem Sinne gesprochen werden könnte und eine Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG diesbezüglich auszuscheiden hätte. Letztlich aber spricht selbst die traditionelle Nichterfassung der Beamten kaum dafür, den Begriff „Sozialversicherung“ inhaltlich so eng zu verstehen, daß eine Beamten erfassende soziale Versicherung keine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wäre. Zwar mag bei Beamten aufgrund der den Dienstherrn treffenden Pflicht zur Sicherstellung eines amtsangemessenen Lebensunterhalts786 die Gleichstellung des Beamtenstatus mit „wirtschaftlicher Sicherheit“ eher noch als bei Selbständigen787 realistisch sein. Allerdings ist die Schutzbedürftigkeit der Versicherten – wie bereits an anderer Stelle dargelegt – kein notwendiges Begriffsmerkmal von „Sozialversicherung“, so daß das Fehlen der Schutzbedürftigkeit von gegebenenfalls einbezogenen Beamten dem begrifflichen Vorliegen einer „Sozialversicherung“ nicht entgegensteht. Im Hinblick auf beispielsweise die Absicherung im Krankheitsfall ist ferner zu beachten, daß unter dem gegenwärtigen Beihilfesystem nur ein Teil (in der Regel die Hälfte) der entstehenden Kosten über Beihilfen abgedeckt werden788, während der andere Teil durch Eigenleistungen abzudecken ist (wobei die Beamtenbezüge so bemessen sein müssen, daß daraus diese Eigenleistung erbracht werden kann, ohne den amtsangemessenen Lebensunterhalt zu beeinträchtigen)789. Diese Abdeckung durch Eigenleistungen geschieht regelmäßig durch Abschluß einer Krankenversicherung. Auch wenn dies in der Praxis regelmäßig eine private Krankenversicherung sein wird, ist es dem Beamten grundsätzlich unbenommen, die nötige Vorsorge gegebenenfalls auch durch (freiwilligen) Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung zu bewerkstelligen (siehe insoweit etwa die Sonderregelung für bestimmte Beamte in § 14 SGB V), sei es aus einer

784

Siehe BT-Drucks. 16/813, S. 14. Siehe Monika Jachmann, Zur Rechtsnatur der Beihilfevorschriften, ZBR 1997, S. 342 (343). 786 BVerwGE 118, S. 277 (279). 787 Vgl. oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (4) (c) (aa). 788 Siehe zu den diesbezüglichen Regelungen ausführlich Frank Schwidden, Beamte in die gesetzliche Krankenversicherung?, RiA 1998, S. 60 (61 f.). 789 Siehe BVerwGE 118, S. 277 (280). 785

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solidarischen Grundhaltung, sei es, weil es sich als finanziell lohnend darstellt. Im übrigen ist das Beihilfesystem nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung auch kein verfassungsrechtlich über Art. 33 Abs. 5 GG geschützter hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums, sondern nur eine Ausgestaltungsmodalität der (ihrerseits in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten) Fürsorgepflicht des Dienstherrn; dieser Fürsorgepflicht könnte der Dienstherr demgemäß auch dadurch entsprechen, daß er es über die Beamtenbezüge ermöglicht, die Absicherung vollständig durch Eigenvorsorge (etwa durch Abschluß einer Krankenversicherung) zu leisten.790 Auch insoweit kann eine (zumindest freiwillige) Absicherung von Beamten im Wege der gesetzlichen Krankenversicherung/Sozialversicherung nicht von vornherein außer Betracht bleiben. Wenn aber die auf Freiwilligkeit beruhende Einbeziehbarkeit von Beamten der Begrifflichkeit „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht entgegensteht, dann tut dies auch die gegebenenfalls sogar zwangsweise Einbeziehung nicht, denn Versicherungszwang ist – wie oben dargelegt – nur eine bestimmte Ausgestaltungsmodalität, nicht aber ein erforderliches Begriffsmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Daß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht gegen eine Einbeziehbarkeit von Beamten in eine „Sozialversicherung“ im Sinne dieser Kompetenznorm spricht, bedeutet aber wiederum nicht von vornherein, daß jede – gerade auch die zwangsweise – Einbeziehung von Beamten in dieses Vorsorgesystem mit materiellen Verfassungsgrundsätzen vereinbar wäre. Neben den hinsichtlich der Einbeziehung Nicht-Schutzbedürftiger zu hinterfragenden Problematiken treten zusätzlich beamtenspezifische Verfassungsprobleme hinsichtlich Art. 33 Abs. 5 GG

790 BVerfGE 83, S. 89 (98) m. w. N.; BVerwGE 118, S. 277 (279 f.) m. w. N. – Bestritten wird allerdings mitunter – etwa von Josef Isensee, „Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (400) –, daß sich der Dienstherr der eigenverantwortlichen Erfüllung seiner Fürsorgepflicht dadurch „entziehen“ darf, daß er die Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht auf ein externes, rechtlich verselbständigtes Vorsorgesystem abschiebt und die Beamten darauf verweist. Wäre dies zutreffend, dürfte dies allerdings nicht nur auf eine Einbeziehung auf das Vorsorgesystem „Sozialversicherung“ bezogen werden, sondern müßte streng genommen immer dann gelten, wenn der Beamte im Hinblick auf die von ihm zu treffende Vorsorge „allein gelassen“ wird – so daß der Dienstherr seiner Fürsorgepflicht dann auch nicht dadurch genügen könnte, daß er den Beamten durch die Beamtenbezüge in die Lage versetzt, sich eine private Vollkrankenversicherung zu leisten. Ferner wäre auch nicht recht einsichtig, warum es die Fürsorgepflicht bei Zugrundelegung dieser Ansicht dann nicht verletzen soll, wenn der Dienstherr sich wie unter dem gegenwärtigen Beihilfesystem immerhin zu 50% der „eigenverantwortlichen Erfüllung seiner Fürsorgepflicht“ entzieht. Die Forderung nach einer „eigenverantwortlichen“ Erfüllung der Fürsorgepflicht durch den Dienstherrn wird man insoweit konsequenterweise nur zur Gänze oder eben gar nicht erheben können – Letzteres erscheint, vor allem auch im Hinblick auf die weithin anerkannte Vorsorgefreiheit der Beamten (siehe etwa BVerfGE 83, S. 89 [105]; Isensee, a. a. O.), vorzugswürdig.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

hinzu791, die in der vorliegenden Untersuchung allerdings mangels Relevanz für den Untersuchungsgegenstand außen vor zu lassen sind. (d) Beschränkung des versicherten Personenkreises aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen? Wie bereits an anderer Stelle792 angesprochen, könnte sich eine begrifflich notwendige Beschränkung der „Sozialversicherung“ auf bestimmte Personengruppen auch aus dem Verhältnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu den Kompetenzbestimmungen der Art. 105 ff. GG ergeben, welche die Kompetenzen des Bundes für die Erhebung von Steuern regeln. Da die Gesetzgebungskompetenzen hinsichtlich Steuern sich nach den gegenüber Art. 70 ff. GG spezielleren Art. 105 ff. GG bemessen793, würde sich eine Aus- bzw. Umgestaltung der Sozialversicherung, infolge derer sich der Sozialversicherungsbeitrag als Steuer darstellen würde, nicht mehr auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen lassen, der Boden des verfassungsrechtlichen Begriffes „Sozialversicherung“ also verlassen werden.794 Der Sozialversicherungsbeitrag stellt – wie oben ausführlich erläutert wurde795 – eine außersteuerliche Abgabe sui generis dar, deren Erhebbarkeit der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung“ inhärent ist. Eine starke Strömung im Schrifttum796 vertritt allerdings, der Sozialversi791 Etwa das Problem, inwieweit die „nach geltendem Recht“ bestehende (BVerfGE 83, S. 89 [105]) Vorsorgefreiheit der Beamten als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG (offengelassen durch BVerfGE 79, S. 223 [232]; 83, S. 89 [105]) einer Versicherungspflicht in der Sozialversicherung materiell entgegenstünde, siehe hierzu und zu sonstigen diesbezüglichen materiellen Fragestellungen Peter Axer, Beihilfe unter dem Regime der Sozialversicherung, DVBl. 1997, S. 698 (700 ff.); Daniela Beer/Dominik Klahn, Rechtliche und ökonomische Eckpunkte einer Bürgerversicherung, SGb 2004, S. 13 (18); Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 123 ff.; Josef Isensee, „Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (400); Ulrich Lohmann, Die „Große Solidarität“ – verfassungsrechtlich möglich?, ZIAS 2003, S. 247 (250 ff.); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Probleme der Bürgerversicherung, ErsK 2004, S. 275 (277); Frank Schwidden, Beamte in die gesetzliche Krankenversicherung?, RiA 1998, S. 60 ff.; Thassilo Unverhau, Endstation Bürgerversicherung? Betrachtungen zur Gesundheitspolitik – gestern und heute – aus beamtenrechtlicher Sicht, ZBR 2005, S. 154 (159 ff.). 792 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (dd). 793 Siehe Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 105 Rn. 4; Klaus Vogel/Hannfried Walter, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 105 (Drittbearbeitung) Rn. 56 ff. 794 Siehe etwa Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588). 795 Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (d) (cc). 796 Siehe Peter Axer, Verfassungsrechtliche Fragen einer Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 1 (3 f.); Natalie Brall/Hans-Joachim Voges, Modell Bürgerversicherung – Verfassungsrechtliche und europarechtliche Fra-

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cherungsbeitrag könne unter bestimmten Voraussetzungen zur Steuer mutieren, nämlich im Rahmen einer sämtliche Einwohner umfassenden „Bürgerversicherung“, weil er dann gleich einer Steuer allen auferlegt werde. Dies gelte umso mehr, sofern zugleich die Beitragsbemessung nicht allein (wie bisher) auf das Arbeitseinkommen bezogen, sondern auf alle Einkommensarten erstreckt wird, weil dann der Sozialversicherungsbeitrag zu einer „zweiten Einkommenssteuer“797 geriete. Innerhalb dieser Meinungsgruppe wird dieser Vorwurf dabei auf zwei Aspekte gestützt, die indes nicht immer klar voneinander getrennt werden: zum einen, daß der Sozialversicherungsbeitrag unter den genannten Voraussetzungen selbst zu einer Steuer werde, zum anderen, daß er in unzulässige „Konkurrenz“ zur Steuer trete, die durch ihn bewirkte Absicherung unter den genannten Voraussetzungen also statt seiner durch eine Steuer finanziert werden müsse. Beide Aspekte sollen im folgenden untersucht werden. (aa) Wandlung des Sozialversicherungsbeitrages in eine Steuer? Zunächst sei hier der Frage nachgegangen, ob der Sozialversicherungsbeitrag im Falle einer Erstreckung der Sozialversicherung auf die gesamte Bevölkerung selbst zu einer Steuer wird, deren Erhebung dann nicht mehr auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern nur auf die Art. 105 ff. GG gestützt werden könnte. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, versteht man unter Steuern im Sinne des Grundgesetzes einmalige oder laufende Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einkünften allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.798 gen, 2005, S. 52 f., 55; Josef Isensee, „Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396 ff.); ders., Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 41; Monika Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 105 Rn. 22; Ferdinand Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, NZS 2004, S. 1 (6); ders., Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 10; Walter Leisner, Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, 2005, S. 35 (48); Friedrich E. Schnapp/ Markus Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001, S. 16, 23; vgl. ferner Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, S. 1689 (1694). 797 Josef Isensee, „Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (398); siehe auch Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, S. 1689 (1694): „verkappte Einkommenssteuer“. 798 BVerfGE 49, S. 343 (353 ff.); 65, S. 325 (344); 72, S. 330 (433); 93, S. 319 (346); Markus Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 105 Rn. 12. § 3 Abs. 1 AO, auf den insoweit Bezug genommen wird, dient diesbezüglich als Auslegungshilfe, siehe Klaus Vogel/Hannfried Walter, in: Dolzer/

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Angesichts dieser Definition ist schon nicht recht einsichtig, warum der behauptete Konflikt mit den Art. 105 ff. GG gegebenenfalls zwar bei Ausdehnung der Sozialversicherung auf sämtliche Einwohner eintreten soll, hingegen aber nicht auch schon bei der gegenwärtigen Erstreckung auf ca. 90% der Bevölkerung.799 Denn eine Steuer konstituiert sich begrifflich nicht dadurch, von wievielen Personen sie erhoben wird, und schon gar nicht liegt eine Steuer nur oder erst dann vor, wenn sie von allen Einwohnern erhoben wird. Zahlreiche Steuern weisen einen Steuertatbestand auf, der nicht von sämtlichen Einwohnern erfüllt wird. Entscheidend ist insoweit nur, wie auch der Steuerbegriff zeigt, daß ein bestimmter Steuertatbestand besteht, an den die Leistungspflicht geknüpft ist – von wievielen Personen dieser Steuertatbestand erfüllt wird, ist unerheblich. Daß es gleichwohl Steuerarten gibt, deren Steuertatbestand sich (wie bei der Einkommenssteuer) praktisch auf die Gesamtbevölkerung erstreckt, ist diesbezüglich unerheblich, weil eben die Erstreckung auf die Gesamtbevölkerung kein zwingendes Begriffsmerkmal einer Steuer ist. Auch im übrigen läßt sich selbst ein im Rahmen einer „Bürgerversicherung“ von der gesamten Bevölkerung erhobener Sozialversicherungsbeitrag immer noch hinlänglich von einer Steuer abgrenzen: So hebt sich der Sozialversicherungsbeitrag – auch bei einer Erstreckung der Sozialversicherung (oder einzelner ihrer Zweige) auf die Gesamtbevölkerung – durch dessen enge Zweckbindung für die Zwecke der Sozialversicherung resp. der Sozialversicherten und durch dessen insoweit bestehenden Gegenleistungs- bzw. Entgeltcharakter800, d. h. durch die Konnexität zwischen Beitragslast und Risikosicherung sowie Leistungsberechtigung, von der Steuer ab801. Zwar kann auch das Aufkommen einer Steuer von vornherein zweckgebunden sein, jedoch fehlt es einer solchen sog. Zwecksteuer dann immer noch am Charakter einer Gegenleistung des Abgabenberechtigten zugunsten des Abgabepflichtigen, weil auch die Erhebung von Zwecksteuern nicht auf den Personenkreis beschränkt ist, der einen Vorteil aus dem öffentlichen Vorhaben zieht802. Allein durch die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf die Gesamtheit der Bevölkerung wird der SozialversicheVogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Vorbemerkungen zu Art. 104a–115 Rn. 371. 799 So zu recht auch Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588 f.). 800 Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (16); siehe hierzu auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d). 801 So auch Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (589); vgl. ferner Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 133; Franz Ruland, Notwendigkeit und Grenzen der Finanzierung der Sozialversicherung, DRV 1985, S. 13 (16). 802 Markus Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 105 Rn. 15.

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rungsbeitrag also nicht zu einer von der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht gedeckten Steuer.803 Auch die (zusätzliche) Erweiterung der Bemessungsgrundlage unter Einbeziehung auch anderer Einkommensarten ändert hieran nichts,804 da es kein konstituierendes Begriffsmerkmal einer Steuer ist, daß sie am gesamten Einkommen bemessen wird (dies zeigt sich allein daran, daß die meisten Steuerarten überhaupt nicht nach dem Einkommen bemessen werden, man denke etwa an die Kfz-Steuer, die Erbschafts- oder die Mehrwertsteuer, um nur einige zu nennen). (bb) Unzulässiges In-Konkurrenz-Treten des Sozialversicherungsbeitrages zu Steuern? Von der Frage, ob der Sozialversicherungsbeitrag bei einer Erstreckung der Sozialversicherung auf die Gesamtbevölkerung begrifflich selbst zu einer Steuer wird, ist die Frage zu trennen, ob die Finanzierung eines die Gesamtbevölkerung umfassenden Sicherungszwecks als Gemeinlast und allgemeine öffentliche Aufgabe („allgemeine Staatsaufgabe“) nicht ausschließlich durch Steuern erfolgen muß, so daß eine Finanzierung über eine nicht-steuerliche Abgabe wie den Sozialversicherungsbeitrag unzulässig wäre. Ob es sich hierbei überhaupt noch um eine kompetentielle Frage oder nicht vielmehr bereits um eine Frage der materiellen Zulässigkeit der Abgabenerhebung handelt, ist schwer zu beantworten: sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zur Zulässigkeit der Erhebung von nichtsteuerlichen Sonderabgaben wird selten klar zwischen diesen beiden Ebenen getrennt.805 Da diese Problematik häufig aber jedenfalls auch unter Kompetenzgesichtspunkten hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erörtert wird806, sei sie hier unter diesem Gesichtspunkt näher untersucht. 803 Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (588 f.); jedenfalls im Ergebnis ebenso Karl-Jürgen Bieback, Verfassungsrechtliche Aspekte einer Bürgerversicherung: Der Bund hat die Kompetenz zur Einführung einer umfassenden Versicherung, in: SozSich 2003, S. 416 (418 f.). 804 Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (589). 805 Siehe insoweit exemplarisch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 55, S. 274 (297 ff.); für das Schrifttum hinsichtlich der hier gestellten Frage etwa Friedrich E. Schnapp/Markus Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001, S. 16, 23 f. mit Fn. 56; ferner auch Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 41, sowie ders., Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (23). 806 Siehe etwa Friedrich E. Schnapp/Markus Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001, S. 16, 23 f. mit Fn. 56.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Ihre Grundlage findet diese Sichtweise im „normativen Steuerstaatsprinzip“, „das den Staat zumindest vorrangig auf eine Steuerfinanzierung seines allgemeines Finanzbedarfs bzw. allgemeiner Staatsaufgaben“ verpflichtet807. Die im Falle einer Erstreckung der Sozialversicherung auf die Bevölkerungsgesamtheit eintretende Wandlung des Sozialversicherungsbeitrags von einer Gruppen- in eine nur die Allgemeinheit treffende Gemeinlast habe daher zur Folge, daß diese Last nur steuerfinanziert werden dürfe resp. der dann von allen erhobene Sozialversicherungsbeitrag wegen Umgehung der gebotenen Steuerfinanzierung unzulässig wäre.808 Ob dies wirklich zutreffend ist, erscheint aber fraglich: Das normative Steuerstaatsprinzip stellt nicht ein unumstößliches Dogma, sondern einen Grundsatz auf, welcher besagt, daß der Gesetzgeber kein Wahlrecht zwischen Steuern und Sonderabgaben hat und die Steuerfinanzierung öffentlicher Lasten der Regelfall sein soll.809 Nichtsteuerliche (Sonder-)Abgaben dürfen daher nur (aber immerhin) innerhalb enger kompetenzrechtlicher Grenzen erhoben werden, nämlich dann, wenn sich die betreffende Abgabe „auf einen besonderen Zurechnungsgrund stützen läßt, der vor den Grundsätzen der bundesstaatlichen Finanzverfassung und vor dem Gebot der Gleichheit aller Bürger vor den öffentlichen Lasten bestand hat“810. Ein solcher auch kompetenzrechtlich bedungener Zurechnungsgrund findet sich aber in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und der in ihm unstrittig sogar mitenthaltenen Kompetenz zur Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, was ihn zugleich von den Sonderabgaben abgrenzt.811 Das Grundgesetz stellt hiermit nämlich neben die Steuerkompetenzen der Art. 105 ff. GG eine eigenständige Abgabenkompetenz zur Erhebung von So807 Joachim Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 771 (779) – Hervorhebungen im Original –, siehe ausführlich zur Entwicklung dieses „normativen Steuerstaatsprinzips“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht sowie im Schrifttum dens., a. a. O., S. 777 ff.; siehe des weiteren etwa BVerfGE 23, S. 12 (23); 55, S. 274 (303 f.); 75, S. 108 (147 f.); Josef Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, S. 435 (441 ff.). 808 Siehe etwa Josef Isensee, „Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, S. 393 (396 ff.); ders., Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (23); Walter Leisner, Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, 2005, S. 35 (48); Friedrich E. Schnapp/ Markus Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001, S. 23 f. mit Fn. 56. 809 Siehe BVerfGE 55, S. 274 (300 ff.); Joachim Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 771 (779): Steuerfinanzierung „vorrangig“. 810 BVerfGE 55, S. 274 (304); siehe ferner Joachim Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 771 (778 f.). 811 Vgl. BVerfGE 75, S. 108 (147 f.); näher oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (cc) (g).

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zialversicherungsbeiträgen812. Wenn aber das Grundgesetz eine außerhalb der Art. 105 ff. GG stehende Abgabenkompetenz wie in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einräumt, dann kann diese auch nicht in „Konkurrenz“ zu den Art. 105 ff. GG treten, zumal sich der Sozialversicherungsbeitrag – wie weiter oben dargelegt – selbst bei einer alle Personen umfassenden Sozialversicherung immer noch hinlänglich von der Steuer abgrenzen läßt, insbesondere aufgrund seiner strengen Zweckbindung resp. seines Gegenleistungscharakters.813 Demgemäß ist vielmehr davon auszugehen, daß die Finanzierung der Staatsaufgabe „Sozialversicherung“ von vornherein der Beitragsfinanzierung vorbehalten ist, und zwar unabhängig von der Frage, wieviele Personen zum Gegenstand dieser über Sozialversicherungsbeiträge zu finanzierenden Aufgabe gemacht werden. Zwar trifft das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit Sozialversicherungsbeiträgen die Aussage, der Gesetzgeber dürfe „sich seiner Regelungskompetenz für die Sozialversicherung nicht bedienen, um dadurch Mittel für die Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben aufzubringen“814. Damit bezieht es sich aber nur darauf, daß es dem Gesetzgeber verwehrt ist, die Sozialversicherungsbeiträge „zur Befriedigung des allgemeinen Finanzbedarfs des Staates“ und damit außerhalb des Finanzierungszwecks „Sozialversicherung“ einzusetzen, sie also als zusätzliche Finanzierungsquelle zur Aufstockung des nicht zweckgebundenen allgemeinen Staatshaushalts zu nutzen, und stellt hierzu zu Recht fest, daß „weitergehende Begrenzungen aus Kompetenzgründen [. . .] weder erforderlich noch angezeigt“ sind.815 Auch das vom Bundesverfassungsgericht benannte „Gebot der Gleichheit aller Bürger vor den öffentlichen Lasten“ (siehe oben) gebietet nichts anderes. Denn die hieraus resultierende Vorgabe bezieht sich nur auf den Fall, daß eine nichtsteuerliche (Sonder-)Abgabe von einer begrenzten Gruppe erhoben wird, obwohl die den Finanzierungszweck bedingenden Lasten ausschließlich die Allgemeinheit treffen816. Bei einem von der Gesamtheit erhobenen Sozialversicherungsbeitrag aber, der dann auch dieser Gesamtheit zugute kommt, ist dieses Gebot nicht verletzt. Im übrigen würde, wenn man eine steuerzufinanzierende Gemeinlast immer schon allein dann bejaht, wenn sie von der gesamten Bevölkerung erhoben wird, auch jeder „normale“ Beitrag oder jede Gebühr in Konflikt mit den

812 BVerfGE 75, S. 108 (148); Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (660). 813 BVerfGE 75, S. 108 (148). 814 BVerfGE 75, S. 108 (148). 815 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (148). 816 Vgl. BVerfGE 23, S. 12 (23); 55, S. 274 (303).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Art. 105 ff. GG geraten, wenn die hierdurch abgegoltene Leistung jedermann in der Bevölkerung zugute kommt bzw. von jedermann genutzt wird. Dieser Schluß wird aber – soweit ersichtlich – für Beiträge und Gebühren nicht gezogen, und er wird zu recht nicht gezogen, weil kein Grund ersichtlich ist, warum die durch Gebühren oder Beiträge erfolgende entgeltliche Abgeltung eines vom Staat zur Verfügung gestellten Vorzugs nur zulässig sein soll, solange der Vorzug nicht der Gesamtbevölkerung zugute kommt. Nichts anderes kann für den Sozialversicherungsbeitrag gelten, der zwar – wie bereits dargelegt – kein „Beitrag“ im allgemeinen finanzrechtlichen Sinne, sondern eine eigenständige Abgabeart ist, gleichwohl aber als Gegenleistung bzw. Entgelt für einen staatlich gewährten Vorzug, nämlich den vermittelten Versicherungsschutz, erhoben wird. Überhaupt ist auch nicht recht einsichtig, warum eine „Sozialversicherung“, welche durch in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Finanzierungsform vorgesehene Beiträge als Gegenleistung für den durch sie vermittelten Schutz finanziert wird, zwar bis zu einem Umfang von 90% der Bevölkerung wie derzeit noch als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG betrieben werden darf, ab 100% hingegen nicht mehr, sondern dann vielmehr einem steuerfinanzierten System weichen müßte. Abgesehen von der kaum zu bewältigenden und allzu formal erscheinenden Abgrenzungsfrage, ob die „Gesamtbevölkerung“ tatsächlich erst bei 100% oder nicht doch schon bei 99,9%, 99%, 95% oder gar knapp 90% (wie derzeit) beginnt, überzeugt hier auch schon der Ansatz nicht, quasi im Vorhinein festzulegen, was (steuerzufinanzierende) Gemeinlast bzw. „allgemeine Staatsaufgabe“ und was (sozialversicherungsbeitragsfähige) Gruppenlast sei. Denn auch Steuern können einzelnen Gruppen auferlegt werden, nämlich der Gruppe der den Steuertatbestand erfüllenden Personen, was selten die Gesamtbevölkerung ist (so ist die Kfz-Steuer nur der Gruppe der KfzHalter auferlegt, um nur ein Beispiel zu nennen). Ebenso können Steuern zur Finanzierung der Zwecke einzelner Gruppen verwendet werden (etwa im Falle steuerfinanzierter Sozialleistungen, die nur der Gruppe der im Hinblick auf die betreffende Leistung Bedürftigen zugute kommen), und gleichwohl sind diese Zwecke dann „allgemeine“ bzw. von der Allgemeinheit zu tragende Staatsaufgaben. Und auch bei der Absicherung des Krankheitsrisikos des derzeitigen Krankenversichertenbestandes von 90% der Bevölkerung handelt es sich zweifelsohne um eine „allgemeine Staatsaufgabe“, ohne daß diesbezüglich die Forderung erhoben wird, schon die derzeitige gesetzliche Krankenversicherung müßte wegen eines Konflikts mit der Finanzverfassung einem steuerfinanzierten System weichen. Die letztlich sehr vagen und in bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung und Literatur im Grunde niemals näher konkretisierten817 Begriffe des „allgemeinen Finanzbedarfs“ und der „allgemeinen Staatsaufgaben“ taugen daher zur Herleitung dessen, was nicht durch Sozialversicherungsbeiträge finan-

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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ziert werden darf, recht wenig.818 Vom Bundesverfassungsgericht werden sie vornehmlich zur Abgrenzung der Steuern von Sonderabgaben verwendet, wobei bei Sonderabgaben der Abgabenzweck in eine besondere Gruppenverantwortung fallen müsse und nicht in die staatliche Gesamtverantwortung, weil im letzteren Falle die Lasten nur die Allgemeinheit treffen dürften und daher „im wesentlichen“ nur eine Steuerfinanzierung erfolgen dürfe.819 Zur Abgrenzung der Steuern von Sozialversicherungsbeiträgen, die gerade keine Sonderabgaben darstellen820, werden die Begriffe wiederum insoweit verwendet, als außerhalb der Finanzierung der Sozialversicherung liegende Zwecke „allgemeine Staatsaufgaben“ seien, die nur aus der „allgemeinen Mittelbeschaffung des Staates“, nicht aber durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden dürfen.821 Damit wird der Begriff der „allgemeinen Staatsaufgabe“ aber nicht in einem losgelösten Sinne, sondern immer nur in Abgrenzung zu einem besonderen Abgabenzweck verwendet; hinsichtlich Sonderabgaben einem gruppennützigen Abgabenzweck, hinsichtlich Sozialversicherungsbeiträgen dem Zweck der Finanzierung der Sozialversicherung. In diese(s) Verhältnis(se) gesetzt, wäre auch der Finanzierungszweck eines von der Gesamtbevölkerung erhobenen Sozialversicherungsbeitrages keine „allgemeine Staatsaufgabe“, weil er immer noch der Finanzierung der Sozialversicherung dient, und im übrigen sogar gruppennützig verwendet würde, da er zweckgerichtet (und spezifisch zweckgebunden im Hinblick auf eine Gegenleistung) im Interesse der Gruppe der Sozialversicherten Verwendung findet. Und umgekehrt würde es selbst in einem losgelösten, nicht in Abgrenzung zu einem besonderen Abgabenzweck verwendeten Sinne nicht überzeugen, den Finanzierungszweck „Finanzierung der Sozialversicherung“ erst dann als „allgemeine Staatsaufgabe“ anzusehen, wenn die Sozialversicherung nicht nur – wie derzeit – 90% der Bevölkerung umfaßt, sondern deren 100%. Auch aus diesen Erwägungen heraus überzeugt der zur Herleitung einer Notwendigkeit der Steuerfinanzierung eines die Gesamtbevölkerung umfassenden Sozialversicherungssystems gewählte Begründungsstrang „allgemeine Staatsaufgabe“ nicht. Im übrigen sollte auch nicht außer acht gelassen werden, daß der Sozialversicherungsbeitrag gegenüber der Steuer gewisse „Vorteile“ mit sich bringt: Im Gegensatz zur Steuer steht er nämlich in dem oben beschriebenen Konnexitätszusammenhang zu den Sozialversicherungsleistungen. Dieser Entgeltcharakter 817 Diesen Befund teilt auch Joachim Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 771 (778 f.). 818 Zu recht kritisch insoweit auch Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 65 f. 819 Siehe etwa BVerfGE 55, S. 274 (306). 820 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (bb) (g). 821 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (148).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

des Beitrages ist beispielsweise einer der Gründe für die Anerkennbarkeit sozialversicherungsrechtlicher Positionen als „Eigentum“ im Sinne des Art. 14 GG, weil er insoweit eine der Sozialversicherungsposition zuzuordnende Eigenleistung darstellt.822 Dieser Entgelt- und Eigenleistungscharakter würde bei einem zur Finanzierung eines sozialen Sicherungssystems aufgewandten Steuerbetrag, welcher lediglich den allgemeinen Staatshaushalt speist, nicht mehr bestehen, weswegen die daraus resultierende Position als eine vom Staat dann lediglich in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht eingeräumte von vornherein nicht dem Schutz des Art. 14 GG unterfallen könnte823. Warum dieser dem Sozialversicherungsbeitrag innewohnende „Vorteil“ gegenüber der Steuer nur bei einem Sicherungssystem bestehen soll, das nicht 100% (aber gegebenenfalls noch über 90%) einbezieht, oder warum er – anders gewendet – in dem Augenblick wegfallen soll, in dem das System nicht mehr 99% (oder 98% . . .) sondern 100% der Bevölkerung erfaßt, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Nach alledem spricht nichts dafür, daß der Begriffsinhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen, sprich wegen eines potentiellen Konflikts mit den Art. 105 ff. GG, von vornherein dahingehend verengt ist, daß eine Sozialversicherung in diesem Sinne immer nur vorliegen kann, wenn sie bloß einen Ausschnitt aus der Bevölkerung und nicht deren Gesamtheit umfaßt. Dies ändert selbstverständlich nichts an der materiellen Rechtfertigungsbedürftigkeit der Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, insbesondere wenn sie von der gesamten Bevölkerung und damit von zahlreichen Nicht-Schutzbedürftigen erhoben werden. Nur kann bei einer Erstreckung der Sozialversicherung auf die gesamte Bevölkerung und einer damit verbundenen, für alle bestehenden Beitragserhebung nicht schon die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung“ verneint werden. c) Organisatorische Inhaltsmerkmale von „Sozialversicherung“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Ist somit bisher die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von ihrer Aufgabe und der Art der Aufgabenerfüllung her bestimmt, stellt sich ferner die Frage, ob verfassungsrechtlich für „die Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine bestimmte (öffentlich-rechtliche) Organisationsform vorausgesetzt ist oder ob diese auch in privatrechtlicher Form durchgeführt werden könnte. Mit anderen Worten geht es um die Frage, ob eine bestimmte Organisationsform zu den zwingend notwendigen, konstituierenden Begriffsmerkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 822

Siehe BVerfGE 53, S. 257 (291 f.); 69, S. 272 (301 f.); 116, S. 96 (121 ff.). Siehe BVerfGE 69, S. 272 (301 f.); ferner auch BVerfGE 16, S. 94 (113); 18, S. 392 (397); 53, S. 257 (292). 823

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Nr. 12 GG gehört oder ob der Begriff „Sozialversicherung“ in diesem Sinne unabhängig von einer bestimmten Organisationsform ist. aa) Sozialversicherung als staatliche Institution; „staatliche“ Organisationsform Es kann prinzipiell als allgemeine Ansicht betrachtet werden, daß die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begriffsnotwendig „staatlich“ bzw. öffentlich-rechtlich organisiert sein muß, also eine staatliche Institution darstellt. So betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, daß kennzeichnend für „die Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die Art und Weise ist, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird, nämlich durch selbständige Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts824. Die Sozialversicherung ist somit Teil des den Gegensatz zum privatrechtlichen Versicherungswesen bildenden öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens825 und enthält insoweit immer auch „ein Stück staatlicher Fürsorge“826, wie es für das öffentlich-rechtliche Versicherungswesen kennzeichnend ist827. Auch im Schrifttum wird praktisch einhellig davon ausgegangen, daß die öffentlich-rechtliche Organisation bzw. die Organisierung durch die öffentliche Gewalt828 zu den unverzichtbaren Merkmalen von „Sozialversicherung“ gehört829, die Sozialversicherung also zwingend eine „staatlich organisierte“830 Versicherung sein muß. 824

BVerfGE 11, S. 105 (113); 63, S. 1 (35); 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34). Vgl. BVerfGE 41, S. 205 (218). 826 BVerfGE 11, S. 105 (114); siehe ferner etwa BVerfGE 76, S. 256 (301); 113, S. 167 (196). 827 BVerfGE 10, S. 141 (166). 828 Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (424). 829 Siehe etwa Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 244 ff.; Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 57; Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003, S. 76 (77); Maximilian Gassner, Aktuelle Fragen der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (Teil I), RPG 2003, S. 91 (98); Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 171; Stefan Mukkel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (587); Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (424); Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (29); ders./ Johannes Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353 (354); Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 116 f.; vgl. ferner etwa Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (51 f.), Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 75; Rupert Scholz, Öffentliche und Privatversicherung unter der grundgesetz825

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Dies wird auch gestützt durch die übrigen Normen des Grundgesetzes, welche sich auf „Sozialversicherung“ beziehen. Art. 87 Abs. 2 GG ordnet für die Sozialversicherungsträger die Organisation als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ an831, so daß die öffentlich-rechtliche Organisationsform auch in dieser Norm ihren Niederschlag findet832, nämlich hinsichtlich einer ganz bestimmten öffentlich-rechtlichen Organisationsform. Der zwingende Charakter der Sozialversicherung im verfassungsrechtlichen Sinne als staatliche Institution spiegelt sich ferner auch in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG wider: Diese Norm, nach welcher der Bund die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung trägt, gehört inhaltlich zur Finanzverfassung und durchbricht den Grundsatz der Konnexität des Art. 104a Abs. 1 GG, wonach Bund und Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben.833 Auch aus dieser der innerstaatlichen Lastenverteilung dienenden Regelung läßt sich somit ableiten, daß die Aufgabe „Sozialversicherung“, wenn sie ausgeführt wird, durch den Staat zu bewerkstelligen ist. Das Erfordernis einer öffentlich-rechtlichen bzw. staatlichen Organisationsform für die Institution „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG resultiert aber auch unmittelbar aus dem Wesen der Sozialversicherung: Die Ausgestaltung der Sozialversicherung als staatliche Einrichtung wurde schon im Rahmen der „Bismarck’schen“ Sozialgesetzgebung bewußt und gewollt gewählt: Wie bereits oben dargelegt, lag der Grund für die Übernahme der Versicherung durch den Staat darin, daß man privaten Versicherungseinrichtungen einerseits nicht das notwendige soziale Verantwortungsbewußtsein zutraute und man darüber hinaus auch vom sittlichen Gesichtspunkt her die Wechselfälle des Lebens wie Unfall oder Krankheit nicht zum Gegenstand von privatem Gewinnstreben machen wollte.834 Ferner bedingte der in der Sozialversicherung typischerweise angeordnete Versicherungszwang als Korrelat ein Versicherungsinstitut, welches billiger und sicherer war als jedes private sowie allein die Leistungsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems und den notwendigen sozialen Ausgleich ermöglichte835. Denn der soziale Ansatzpunkt, eine vom individuellichen Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: Festschrift für Karl Sieg, 1976, S. 507 (511 f.). 830 Wolfgang Gitter/Jochem Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., 2001, § 4 Rn. 7; Konrad Leube, Sozialversicherung in Gestalt der Privatversicherung – Rechtliche Rahmenbedingungen, NZS 2003, S. 449; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 25. 831 Siehe ausführlich dazu unten 3. Teil, II. 3. 832 Vgl. Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 244. 833 Siehe Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 2, 7. 834 Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951, S. 152; siehe oben 1. Teil, I. 3. 835 Walter Vogel, a. a. O., S. 153.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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len Risiko und damit von „marktgerechten“ Prämien losgelöste und für jedermann wirtschaftlich erschwingliche Absicherung gegen elementare Lebensrisiken zu bewerkstelligen836, erschwert den rentablen Betrieb einer solchen Versicherung und damit die Möglichkeit, diese auf privatwirtschaftlichem Wege dauerhaft und sicher zu führen837. Auch heute noch sind dies die maßgeblichen Erwägungen, wegen derer die öffentlich-rechtliche/staatliche Organisation der Sozialversicherung als unverzichtbares Wesensmerkmal angesehen wird838. Als Sozialversicherung ist sie „ein Mittel der Sozialpolitik, ein Instrument des staatlichen Schutzes für wirtschaftlich bedrängte oder wenigstens gefährdete Volksschichten“839. Insoweit wird auch ganz allgemein in „ihrer Wichtigkeit für das Gemeinwesen“ ein Grund dafür gesehen, daß die Gefahrengemeinschaft der Sozialversicherung von der öffentlichen Hand errichtet und mit Mitteln und Formen des öffentlichen Rechts verwaltet werden muß840. Dieser Befund ist „auch von der Erkenntnis geleitet, daß es nur in solchen öffentlich-rechtlichen Bindungen unterliegenden und nicht marktwirtschaftlichen Wettbewerbsstrukturen ausgesetzten Solidargemeinschaften möglich und sinnvoll ist, den die Sozialversicherung im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG prägenden sozialen Ausgleich durchzuführen“841. Vorbehaltlich der im Anschluß842 zu beantwortenden Frage, ob aus dem Wesen der Sozialversicherung oder aus Art. 87 Abs. 2 GG sogar die Festlegung auf eine bestimmte öffentlich-rechtliche Organisationsform bereits auf Ebene der Gesetzgebungskompetenz folgt, läßt sich also als bestimmendes Strukturmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zunächst jedenfalls ausmachen, daß es sich um eine staatliche Einrichtung handelt bzw. handeln muß.843 836

Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b). Wie schwierig dies ist, zeigen nicht zuletzt die akuten Finanznöte nahezu sämtlicher Zweige der Sozialversicherung, die immer wieder Anlaß für Reformen oder zumindest Reformdiskussionen sind. 838 Siehe etwa BVerfGE 76, S. 256 (306 f.); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (587); Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 116 f.; Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 53; vgl. ferner Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (705 ff.). 839 Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 53. 840 Vgl. Wolfgang Ost/Gerhard Mohr/Martin Estelmann, Grundzüge des Sozialrechts, 2. Aufl., 1998, S. 65. 841 Wolfgang Binne, Gesetzgebungskompetenz des Bundes für eine obligatorische kapitalgedeckte Zusatzvorsorge?, DRV 1999, S. 598 (602). 842 Siehe das Nachfolgende unter 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) bb). 843 Deutlich Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 58. 837

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Als staatliche Organisation gilt insoweit jede öffentlich-rechtliche Organisationsform (etwa durch Körperschaften des öffentlichen Rechts). Ebenfalls hierunter müßten indes auch staatlich beherrschte Privatrechtsorganisationen fallen, also privatrechtlich organisierte, aber der öffentlichen Gewalt zuzuordnende Handlungseinheiten; bei dieser sog. Organisationsprivatisierung (auch: formelle Privatisierung) verbleibt die Aufgabenverantwortung beim Staat, d. h. die Aufgabe wird – anders als bei der sogleich näher zu behandelnden sog. Aufgabenprivatisierung – weiterhin durch den Staat erledigt844, allerdings in privatrechtlicher Organisationsform845. Auch hierbei handelt es sich, trotz der formal privatrechtlichen Organisation, um staatliche Gebilde. Desgleichen läge eine staatliche Organisation im Falle einer Beleihung Privater vor, denn die Beleihung bindet den Privaten ein in die Staatsverwaltung; im Umfang der Beleihung wird der Beliehene zum Verwaltungsträger.846 Auch sog. „funktionale Privatisierungen“847 sind auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG möglich, da diese sich nicht auf die Organisation der Sozialversicherungsträger beziehen, sondern nur auf die Heranziehung einzelner „echter“ Privater als Verwaltungshelfer bei der Erfüllung begrenzter Aufgabenbereiche (beispielsweise EDV-Abwicklung, Service oder Werbung), für welche die Aufgabenverantwortung beim Staat verbleibt.848 Fraglich ist indes, ob eine darüber hinaus gehende private Organisation noch als „staatliche Organisation“ und damit als „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfaßt werden kann, ob also auch eine Aufgabenpri844 Siehe Andreas Mackeben, Grenzen der Privatisierung der Staatsaufgabe Sicherheit, 2004, S. 56. 845 Siehe näher zur Organisationsprivatisierung (auch: formelle Privatisierung), deren Erscheinungsformen und der Abgrenzung zur Aufgabenprivatisierung: Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 54 f.; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 86 Rn. 65 f.; Michael Ronellenfitsch, Staat und Markt: Rechtliche Grenzen einer Privatisierung kommunaler Aufgaben, DÖV 1999, S. 705 (708); Friedrich Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVBl. 1994, S. 962 ff. Siehe zu den unterschiedlichen Privatisierungsbegriffen und -formen auch Susanne PetersLange, Vorteile und Schwächen privatrechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 71 (72). 846 Vgl. Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 281; siehe aber zur Beleihung und den Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG noch unten 3. Teil, II. 3. c) cc). 847 Siehe ausführlich zum Begriff Martin Burgi, Privatisierung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 75 Rn. 7. 848 Vgl. hierzu Karl-Jürgen Bieback, Rechtliche Probleme der Kooperation und Ausgliederung von Funktionsbereichen der Sozialversicherungsträger, insbesondere der Krankenkassen, VSSR 1998, S. 177 ff.; Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 80, 82; Bernd W. Dortants/Stephan von Hansemann, Die Auslagerung von „Aufgaben“ durch Krankenkassen und ihre Verbände auf Dritte, NZS 1999, S. 542 ff.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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vatisierung (auch: materielle Privatisierung) der Sozialversicherung bzw. von deren Aufgaben noch auf die Kompetenzgrundlage Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden könnte. Bei der sog. Aufgabenprivatisierung849 wird eine Aufgabe in den privaten Sektor verlagert, also auf „echte“ Private übertragen (statt auf vom Staat beherrschte Privatrechtsorganisationen wie bei der Organisationsprivatisierung), und der Staat verliert seine Aufgabenverantwortung, nimmt die Aufgabe also nicht mehr wahr.850 In Betracht kommt vor allem eine Übertragung auf private Versicherungsunternehmen. Da der Staat hierbei aber jegliche Aufgabenverantwortung abgibt, kann es sich bei einer Aufgabenprivatisierung auch nicht mehr um eine „staatliche“ Organisation handeln. Folglich kann – unabhängig davon, ob dies im Bereich der „Sozialversicherung“ überhaupt materiell zulässig wäre (etwa im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip oder die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger851) – eine solche Aufgabenprivatisierung nicht auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung“ gestützt werden, weil das hierzu begriffskonstituierende Merkmal einer „staatlichen Organisationsform“ nicht mehr gewahrt wäre.852 Vereinzelte Stimmen im Schrifttum853 vertreten gleichwohl die Auffassung, daß die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch – außerhalb einer Beleihung – durch „echte“ Private durchgeführt könne und begründen dies insbesondere damit, daß der Gesetzgeber mit der Schaffung der privaten Pflegeversicherung eine Privatversicherungsform geschaffen habe, die im Hinblick auf die soziale Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse in vielfacher Hinsicht der zur Sozialversicherung zählenden sozialen Pflegeversicherung854 angenähert ist855, mithin also „den besonderen Regeln der Sozialversicherung“ folge; auf die Organisationsform komme es dabei nicht an. Jedoch wird mit dieser Sichtweise verkannt, daß der einfache Gesetzgeber durch die einfachge849 Siehe ausführlich zum Begriff Martin Burgi, Privatisierung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 75 Rn. 9. 850 Näher Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 54 f.; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 86 Rn. 65 f.; Friedrich Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVBl. 1994, S. 962 ff. 851 Siehe zu dieser Schutzpflicht etwa Michael Quaas/Rüdiger Zuck, Medizinrecht, 2005, § 2 Rn. 24 ff.; Udo Steiner, Das Bundesverfassungsgericht und die Volksgesundheit, MedR 2003, S. 1 (2 f.). 852 Vgl. auch Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003, S. 76 f.; Maximilian Gassner, Aktuelle Fragen der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (Teil I), RPG 2003, S. 91 (98). 853 Siehe insbesondere Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 116 ff. 854 Soziale und private Pflegeversicherung bilden zusammen die gesetzliche Pflegeversicherung, siehe BVerfGE 103, S. 197 (198). 855 Siehe hierzu ausführlich unten 2. Teil, Abschnitt 3, III.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

setzliche Ausgestaltung von Sicherungssystemen nicht darüber befinden kann, was im verfassungsrechtlichen Sinne „Sozialversicherung“ ist. Im übrigen geht im Falle der Pflegeversicherung selbst der Gesetzgeber nicht davon aus, daß die private Pflegeversicherung Teil der Sozialversicherung ist, weil er als solchen ausdrücklich nur die soziale Pflegeversicherung benennt (siehe § 1 Abs. 1, 2 SGB XI). Daher hatte das Bundesverfassungsgericht856 hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz für die private Pflegeversicherung den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu recht auch überhaupt nicht in Betracht gezogen, sondern nur die Gesetzgebungskompetenz für die soziale Pflegeversicherung hieraus hergeleitet. Bei einer Übertragung der Sozialversicherung bzw. von deren Aufgaben auf „echte“ Private (Aufgabenprivatisierung) kann sich der Gesetzgeber also nicht auf den Kompetenztitel für die „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) stützen. Erst recht würde eine solche Organisationsform den insoweit noch engeren Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG widersprechen.857 Hieraus resultiert indes keine Sperre, wonach die Einbeziehung echter Privater im Wege einer Aufgabenprivatisierung für die Bewerkstelligung einer sozialen Versicherung nicht auf andere Gesetzgebungskompetenzen gestützt werden könnte858; insoweit ist zwar für die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, nicht aber für alternative soziale Sicherungssysteme eine öffentlich-rechtliche bzw. staatliche Organisationsform vorgeschrieben859. bb) Durchführung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts als Strukturmerkmal? Über das bisher zur Organisation der „Sozialversicherung“ Ermittelte hinaus stellt sich ferner die Frage, ob bestimmendes Strukturmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht nur generell die staatliche Organisation der Sozialversicherung bzw. ihrer Träger ist (siehe das Vorhergehende), sondern ob wesens- bzw. begriffsprägend vielmehr sogar eine bestimmte Form staatlicher Organisation ist, nämlich die durch verselbständigte 856

BVerfGE 103, S. 197 (215 f.). Maximilian Gassner, Aktuelle Fragen der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (Teil I), RPG 2003, S. 91 (98); auch dies verkennt Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 116 ff. – Siehe hierzu auch unten 3. Teil, II. 3. c) bb). 858 Siehe zu möglichen Gesetzgebungskompetenzen für die Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung ausführlich unten 2. Teil, Abschnitt 3, VI., 3. 859 Siehe Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (43); ferner Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 82; vgl. auch BVerfGE 103, S. 197 (217); vgl. auch Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 57. 857

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Verwaltungseinheiten bzw. juristische Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften, Anstalten etc., vgl. Art. 87 Abs. 2 GG). Die Folge wäre, daß für zahlreiche der im Vorhergehenden genannten, staatlichen Organisationsformen bereits keine Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bestünde (und nicht „nur“ keine Verwaltungs- bzw. Organisationskompetenz gemäß Art. 87 Abs. 2 GG), weil sie entweder keine „Körperschaften“ im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG darstellen oder – selbst bei weitem Verständnis des dort zugrunde gelegten Körperschaftsbegriffes – keine Gebilde „des öffentlichen Rechts“ sind (wie etwa im Falle der Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform anläßlich einer Organisationsprivatisierung)860. (1) Herleitung aus dem Wesen, insbesondere aus dem Versicherungscharakter der Sozialversicherung? Häufig wird die spezifische öffentlich-rechtliche Organisationsform durch rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten als ein solches bestimmendes Merkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angesehen861: Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner bereits dargelegten ständigen Rechtsprechung, daß kennzeichnend für „die Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die Art und Weise sei, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird, nämlich durch selbständige Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts862. Dabei spricht das Gericht, ohne dies indes näher zu erläutern, von einer besonderen „Bedeutung, die der Organisationsform für die Abgrenzung der ,Sozialversicherung‘ von anderen Sozialleistungen zukommt“863. Das Schrifttum übernimmt diese Rechtsprechung regelmäßig ohne weiteres, wenn es den Inhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erörtert.864 860 Siehe ausführlich zum Begriff „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ im Sinne von Art. 87 Abs. 2 GG unten 3. Teil, II. 3. c). 861 Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 244 ff.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 171; Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (410 f.); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (587); Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (424); Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (29); ders./Johannes Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353 (354); Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 116 f. 862 BVerfGE 11, S. 105 (113); 62, S. 354 (366); 63, S. 1 (35); 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34). 863 BVerfGE 11, S. 105 (113). 864 Siehe etwa Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 243 ff.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt),

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Obwohl die Organisation der Sozialversicherungsträger als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ durch Art. 87 Abs. 2 GG angeordnet ist865, werden die betreffenden Ausführungen in der Regel nicht unter (ausdrücklichem) Hinweis auf die entsprechende organisatorische Vorgabe in Art. 87 Abs. 2 GG gemacht. Auch wenn demgemäß zwar nicht ausgeschlossen werden kann, daß hierbei zumindest eine stillschweigende Bezugnahme auf den Gehalt des Art. 87 Abs. 2 GG vorliegt, impliziert der Verzicht auf die Nennung des Art. 87 Abs. 2 GG doch eher, daß diese organisatorische Ausgestaltung der Sozialversicherungsträger von vornherein als wesensmäßiges Strukturmerkmal der „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angesehen zu werden scheint, ohne daß es der organisatorischen Vorgabe des Art. 87 Abs. 2 GG überhaupt noch bedürfte.866 Art. 87 Abs. 2 GG hätte im letztgenannten Fall bezüglich seines organisatorischen Gehalts in erster Linie deklaratorische Bedeutung, weil sich der betreffende Gehalt als bestimmendes Strukturmerkmal von „Sozialversicherung“ bereits direkt aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergeben würde (konstitutiv wäre dann in Art. 87 Abs. 2 GG aber immer noch sein föderal-kompetenzrechtlicher Gehalt, der darüber bestimmt, welche Sozialversicherungsträger als bundes- und welche als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen sind).867 Art. 74 Rn. 171; Detlef Merten, Die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht und die Grenzen der Verfassung, NZS 1998, S. 545 (546); Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (587); Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre (Teil I), in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 (424); Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (29); ders., Verfassungsrechtliche Probleme bei der Organisation der Sozialversicherungsträger, in: Der Verwaltungsstaat im Wandel – Festschrift für Franz Knöpfle, 1996, S. 273 (275); ders./Johannes Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353 (354); Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 116 f. – Sogar als letztlich allein tauglich für eine Begrenzung der Definition von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sieht Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 39, die „formalen Kriterien der Organisation durch Sozialversicherungsträger und der Finanzierung durch Beiträge der Beteiligten“ an; dagegen zu Recht Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 109 f. 865 Näher zu Art. 87 Abs. 2 GG unten 3. Teil, II. 866 Relativ deutlich insoweit etwa Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 243 f.: Zu den unverzichtbaren Merkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne des Gesetzgebungskompetenztitels Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gehöre die körperschaftliche oder anstaltliche Organisationsform der Sozialversicherungsträger; diese Organisationsform finde „ihren Niederschlag auch in Art. 87 Abs. 2 GG“ (Hervorhebung durch Verf.). Dies impliziert, daß sich das Erfordernis dieser bestimmten Organisationsform bereits unmittelbar aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergibt, also selbst bei Nichtexistenz des Art. 87 Abs. 2 GG ein bestimmendes Strukturmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darstellen würde. 867 Hinsichtlich seines organisatorischen Gehalts könnte dem Art. 87 Abs. 2 GG dann aber noch insoweit konstitutive Wirkung beizumessen sein, als er festlegt, daß

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Bereits auch im Schrifttum aus der Zeit vor Erlaß des Grundgesetzes und damit vor Geltung der Verfassungsvorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG wird es als zwingendes Strukturelement der Sozialversicherung angesehen, daß diese gerade durch rechtlich verselbständigte öffentlich-rechtliche Körperschaften bewerkstelligt wird868. Neben der auf die „Bismarck’sche“ Sozialgesetzgebung zurückgehenden Tradition wurde und wird hierfür als Argument vor allem der Versicherungscharakter der Sozialversicherung angeführt: Denn dieser erfordere ein abgetrenntes Sondervermögen neben dem allgemeinen Staatsvermögen, also eine Trennung des überwiegend durch Beiträge (zuzüglich eventueller Staatszuschüsse) gebildeten Versicherungsvermögen von den allgemeinen, steuerfinanzierten Staatsfinanzen.869 Insoweit sei die Organisation durch rechtlich selbständige Verwaltungseinheiten „der Gesamtregelung der Sozialversicherung als Medium sachlogisch vorgegeben“870, mithin also unverzichtbares Strukturmerkmal der „Sozialversicherung“, welches sich somit nicht erst aus dem Organisationsgehalt des Art. 87 Abs. 2 GG, sondern bereits aus dem Wesen von „Sozialversicherung“ im verfassungsrechtlichen Sinne ergebe. Allerdings ist es fraglich, ob abseits von Art. 87 Abs. 2 GG eine so weitgehende organisatorische Vorgabe hinsichtlich einer bestimmten Form öffentlichrechtlicher bzw. staatlicher Organisation (nämlich durch rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten) tatsächlich bereits zwingend als Strukturmerkmal allein aus dem „Wesen“ der gesetzgeberischen Materie „Sozialversicherung“ des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG herzuleiten ist: Zunächst erscheint das hierfür hauptsächlich vorgebrachte Argument, aus dem Versicherungscharakter der „Sozialversicherung“ resultiere bereits begrifflich das Vorliegen einer verselbständigten Vermögensmasse (s. oben) und damit zwingend eine rechtlich verselbständigte Organisation der Verwaltungseinheiten, welche die Sozialversicherung vollziehen, nicht stichhaltig. Denn jedenfalls aus dem Versicherungscharakter läßt sich die Forderung nach einem verselbständigdie Sozialversicherungsträger als verselbständigte Verwaltungseinheiten gerade solche des öffentlichen Rechts sein müssen, daß also verselbständigte Verwaltungseinheiten in Privatrechtform (sog. Organisationsprivatisierung) unzulässig sind – siehe näher zu diesem Gehalt des Art. 87 Abs. 2 GG unten 3. Teil, II. 3. c). 868 Siehe etwa Arnold Köttgen, Die rechtsfähige Verwaltungseinheit, 1939, S. 78 f.; Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 10. 869 Arnold Köttgen, Die rechtsfähige Verwaltungseinheit, 1939, S. 78 f.; Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 10; aus heutiger Zeit etwa Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 114 ff.; vgl. auch Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (702 ff., 705 ff., 712): Der Staat könne nicht unmittelbar als Versicherer auftreten, daher könne die Sozialversicherung nur durch in ihrer Fondsverwaltung unabhängig vom Staat bestehende Körperschaften organisiert sein. 870 Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 147.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

ten Versicherungsvermögen nicht ableiten: Diese Forderung ist zwar praktisch nachvollziehbar, da dann das Versicherungsvermögen etwa in allgemeinen Krisenzeiten bzw. staatlichen Finanznöten separiert und insoweit dem Zugriff und der Vermengung mit dem allgemeinen Staatsvermögen entzogen ist871. Begrifflich relevant für das Vorliegen einer „Versicherung“ ist dies aber nicht, ebensowenig wie die Versicherungsleistungen allein aus dem Pool der Versicherungsbeiträge erbracht werden müssen872. Denn das Rechtsgebilde „Versicherung“ konstituiert sich begrifflich – wie bereits zum Versicherungsbegriff ausgeführt873 – nicht dadurch, daß es tatsächlich sicher ist. Entscheidend ist insoweit lediglich (und verfassungsrechtlich gefordert), daß die „Versicherten“ einen rechtlich (nicht wirtschaftlich) gesicherten Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistung erwerben, weil dies als begriffsnotwendiges Merkmal zu einer „Versicherung“, und damit auch zur „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG,874 gehört. Die Einräumung eines solchen Rechtsanspruches ist aber unabhängig von der konkreten Organisationsform der Verwaltungseinheiten, welche die Sozialversicherung vollziehen. Doch selbst wenn man das Erfordernis eines vom allgemeinen Staatsvermögen getrennten Versicherungsvermögens zwar nicht aus dem Versicherungscharakter, wohl aber aus anderen verfassungsrechtlichen Aspekten als begriffliche Voraussetzung für das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG herleitete (siehe dazu noch an späterer Stelle875), wäre damit noch nicht dargetan, daß dies zwingend das Erfordernis rechtlich verselbständigter Sozialversicherungsträger als Begriffsmerkmal von „Sozialversicherung“ nach sich zöge. Denn mag auch die Organisationsform der die Sozialversicherung vollziehenden Verwaltungseinheiten als rechtlich verselbständigte Körperschaften des öffentlichen Rechts insoweit zwar die naheliegende, typische Organisationsform sein,876 ist es doch keineswegs die einzige Möglichkeit, eine Verselbständigung des Versicherungsvermögens, d. h. dessen Abtrennung vom allgemeinen Staatsvermögen, sicherzustellen; dies könnte etwa auch durch die Einrichtung eines – von den die Sozialversicherung vollziehenden Stellen separierten – Sondervermögens geschehen, welches dann von gegebenenfalls auch unselbständigen Verwaltungseinheiten an die Sozialversicherten 871 Diesen Aspekt vor allem betonend Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 10; vgl. auch Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (704 f., 712); vgl. ferner Arnold Köttgen, Die rechtsfähige Verwaltungseinheit, 1939, S. 78 f. 872 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (g). 873 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (l). 874 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (f) und dd) (1) (e). 875 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) cc). 876 Vgl. Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 186.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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im Bedarfsfall ausgeschüttet wird.877 Selbst wenn man also eine Verselbständigung des Sozialversicherungsvermögens als notwendig erachtet, heißt das nicht, daß dies nur durch eine Organisation der Sozialversicherungsträger als rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten gewährleistet werden könnte. Und umgekehrt wiederum bedeutet die Durchführung der Sozialversicherung mittels rechtlich verselbständigter Verwaltungseinheiten nicht auch zwangsläufig, daß diesen das Versicherungsvermögen verselbständigt zugeordnet sein muß, denn den Sozialversicherungsträgern kommt insoweit keine verfassungsrechtlich abgesicherte Ertragshoheit hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge zu878. Sofern im übrigen die aus dem Wesen der Sozialversicherung als Versicherung abgeleitete Forderung nach einer rechtlich verselbständigten Organisation ihrer Träger von der sog. Unternehmenstheorie beeinflußt ist, nach welcher eine Versicherung nur durch ein (selbständiges) Unternehmen geführt werden könne (was dann zwangsläufig auch die Verselbständigung des Versicherungsvermögens zur Folge hätte), ist die Irrelevanz dieser Unternehmenstheorie für den (rechtlichen) Versicherungsbegriff ebenfalls bereits oben dargelegt worden879. Unabhängig davon also, ob zu „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zwingend eine verselbständigtes, vom allgemeinen Staatsvermögen abgesondertes Versicherungsvermögen gehört880, ergibt sich allein aus ihrem Wesen als Versicherung nicht das Erfordernis einer Organisation der sie durchführenden Stellen als rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten, etwa als Körperschaften des öffentlichen Rechts. (2) Herleitung aus bzw. in Verbindung mit Art. 87 Abs. 2 GG? (a) „Zusammenschau“ von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG? Häufig wird vertreten, die Organisation durch rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten als Inhaltsmerkmal der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ ergebe sich aus Art. 87 Abs. 2 GG, da dessen organisationsrechtlicher Gehalt gerade die Organisation der Sozialversicherungsträger als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ zur Pflicht macht881. Die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG solle also im Hinblick auf ihren organisationsrechtlichen Gehalt durch Art. 87 Abs. 2 GG konkretisiert 877 878 879 880 881

Siehe dazu auch unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) cc). Vgl. BVerfGE 113, S. 167 (201 ff.). Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (m). Siehe dazu noch unten 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) cc). Siehe ausführlich zu Art. 87 Abs. 2 GG unten 3. Teil, II.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

sein882; hiernach könne der Inhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur in einer „Zusammenschau“ mit Art. 87 Abs. 2 GG ermittelt werden883. Ob es allerdings überzeugend ist, die Vorgaben einer den Gesetzesvollzug regelnden Norm des Grundgesetzes aus dessen VIII. Abschnitt (Art. 83 ff. GG) heranzuziehen, um den Begriffsinhalt einer Materie der Gesetzgebung zu definieren, ist im folgenden näherer Prüfung zu unterziehen. (b) Relevanz Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein anzunehmen, daß der Beantwortung dieser Frage allenfalls akademische Bedeutung zukomme884. Denn im Ergebnis scheint es bei flüchtiger Betrachtung jedenfalls praktisch unerheblich zu sein, ob die organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG („Körperschaften des öffentlichen Rechts“) hinsichtlich einer „Sozialversicherung“ vom Gesetzgeber bereits deshalb einzuhalten sind, damit er überhaupt die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Anspruch nehmen kann, oder ob sie eine inhaltliche Vorgabe darstellen, die über die Verfassungsmäßigkeit der – dann kompetenzgemäß erlassenen – Sozialversicherung im übrigen entscheidet. Mag es im Ergebnis auch zutreffend sein, daß eine durch Bundesgesetz errichtete Sozialversicherung in verfassungsgemäßer Weise nur entsprechend der organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG ausgestaltet sein kann, so ist aber gleichwohl schon im Sinne einer sauberen dogmatischen Betrachtung zu klären, ob im Falle der Nichtbeachtung dieser Vorgaben bereits die Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Materie „Sozialversicherung“ fehlt, weil die betreffende Organisationsform aufgrund einer „Zusammenschau“ mit Art. 87 Abs. 2 GG bereits Begriffsmerkmal der Legislativkompetenz ist, oder ob das betreffende Bundesgesetz erst im übrigen, d. h. (allein) wegen Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 2 GG verfassungswidrig ist, weil die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und die Organisationsvorgaben des die Exekutive betreffenden Art. 87 Abs. 2 GG getrennt zu betrachten sind. Neben dieser jedenfalls dogmatischen Bedeutung, die zugleich das Verhältnis von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Grundgesetzes näher be882 Vgl. etwa Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (587), der die Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG ausdrücklich als Teil der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG anführt; siehe ferner die in Fn. 864 Genannten. 883 In diesem Sinn ausdrücklich Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 62; vgl. ferner etwa Winfried Boecken, Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 263, unter Berufung auf die oben bei Fn. 862 dargelegte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 884 Vgl. Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 28, Fn. 89.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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leuchtet, hat die Beantwortung dieser Frage aber auch rechtspraktische Auswirkungen, auch wenn diese bisher – soweit ersichtlich – so gut wie keine Beachtung fanden. Diese Auswirkungen resultieren daraus, daß die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung auch Relevanz für die Landesgesetzgeber besitzt. Gemäß Art. 72 Abs. 1 GG verfügen die Länder im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung über die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Die damit verbundene „Sperrwirkung“ der Bundes- für die Landesgesetzgebung bestimmt sich durch den Inhalt der jeweiligen konkurrierenden Gesetzgebungsmaterie. Würde demzufolge eine bestimmte öffentlich-rechtliche Organisationsform (wie die in Art. 87 Abs. 2 GG vorgeschriebene) bereits Inhaltsmerkmal der Legislativmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sein, könnten Systeme mit einer hiervon abweichenden Organisationsform nicht als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfaßt werden, so daß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von vornherein keine Sperrwirkung für die Landesgesetzgebung hinsichtlich derartiger Systeme mit abweichenden Organisationsformen entfalten könnte – was anders wäre, wenn sich das betreffende Organisationserfordernis nicht schon aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern „erst“ bzw. allein aus Art. 87 Abs. 2 GG ergäbe. Ferner ist zu beachten, daß die materiellen Vorgaben der Art. 83 ff. GG einschließlich des Art. 87 Abs. 2 GG ausschließlich für den Vollzug der Bundesgesetze gelten885. Würde also ein Landesgesetzgeber eine vom Bundesgesetzgeber noch nicht besetzte „Lücke“ im Bereich der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ regeln (also etwa einen neuen Sozialversicherungszweig einführen), käme es für die notwendige Organisationsform ebenfalls darauf an, ob diesbezüglich spezifische Vorgaben bereits aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG resultieren (weil sie dann als notwendiger Begriffsinhalt der Gesetzgebungsmaterie auch den Landesgesetzgeber „binden“ würden, damit dieser sich auf diese Gesetzgebungskompetenz stützen kann), oder ob sie allein aus dem – für die Landesgesetzgebung nicht geltenden – Art. 87 Abs. 2 GG stammen. (c) Kritik (aa) Verhältnis zwischen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Grundgesetzes Die oben beschriebene Annahme einer „Zusammenschau“ von Gesetzgebungskompetenzen und den organisatorischen Vorgaben der Art. 85 ff. GG ist vor allem ein Ausfluß der wohl herrschenden Meinung, welche die Gesetzge885 Siehe Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 83 Rn. 25.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

bungszuständigkeiten für die Regelung der Verwaltungsorganisation (und des Verwaltungsverfahrens)886 als Annex zu den Sachregelungskompetenzen für das Gebiet einer Gesetzgebungsmaterie in den Art. 70 ff. GG ansehen, die dann durch die „spezielleren“ Regeln der Art. 83 ff. GG „ergänzt und modifiziert“ würden.887 Die Gegenansicht sieht die Gesetzgebungskompetenzen für verwaltungsorganisatorische (und verwaltungsverfahrensrechtliche) Regelungen entgegen der herrschenden Meinung nicht in den Art. 70 ff. GG, sondern konstituierend in den Art. 83 ff. GG888, so daß eine „Zusammenschau“ von Gesetzgebungskompetenzmaterien und organisatorischen Vorgaben der Art. 83 ff. GG hiernach von vornherein ausscheiden müßte. Überzeugend hinsichtlich dieses Streitstandes erscheint eine differenzierende Betrachtung: Die Annex-These überzeugt nämlich nicht im Hinblick auf die Landeskompetenzen zur Vollziehung der Bundesgesetze (Art. 84, 85 GG), weil die den Ländern hier eingeräumten Kompetenzen zur Verwaltungsorganisation keiner Sachregelungskompetenz aus den Art. 70 ff. GG als „Annex“ folgen können (denn die Sachregelungskompetenzen liegen hier beim Bund), so daß den Ländern diese Kompetenzen „unmittelbar“ (konstituierend) durch Art. 84, 85 GG eingeräumt sein müssen889. Umgekehrt überzeugt die konstituierende Herleitung der Gesetzgebungskompetenz für die Verwaltungsorganisation aus Art. 83 ff. GG statt aus Art. 70 ff. GG nicht für die Bereiche der Bundesverwaltung (Art. 86 ff. GG): Denn abgesehen davon, daß es dessen aufgrund der dem Bund eingeräumten Sachregelungskompetenzen in Art. 70 ff. GG nicht zwingend bedarf, kann man die Sachmaterien der Art. 70 ff. GG und die hierzu 886 Nicht Gegenstand dieser Kompetenzproblematik ist indes die durch Art. 83 ff. GG abschließend beantwortete Grundsatzfrage, ob Bundesgesetze durch den Bund selbst oder durch die Länder ausgeführt werden, siehe Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 83 Rn. 24. 887 Siehe ausführlich Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 83 Rn. 23 f. (i.V. m. Rn. 20 ff.); Friedrich Klein, Das Verhältnis von Gesetzgebungszuständigkeit und Verwaltungszuständigkeit nach dem Grundgesetz, AöR 88 (1963), S. 377 (401 ff.). – Eine „Modifizierung“ im genannten Sinne enthalten insoweit etwa Art. 84, 85 GG, indem sie hinsichtlich des in ihnen geregelten Landesvollzugs von Bundesgesetzen eine Landesgesetzgebungskompetenz für die Behördenorganisation und das Verwaltungsverfahren begründen, siehe Georg Hermes, a. a. O., Art. 84 Rn. 22. 888 Siehe ausführlich Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 83 Rn. 30 ff.; Hans-Heinrich Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 83 Rn. 13 m. w. N.; ferner etwa Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 38. 889 Vgl. hierzu auch Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 84 Rn. 22: er spricht dort zwar von einer „Modifizierung“ der Art. 70 ff. GG durch Art. 84 GG hinsichtlich der durch diesen eingeräumten Landesgesetzgebungskompetenzen zur Regelung von Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren, der Sache nach aber konstituiert Art. 84 GG gemäß Hermes’ Ausführungen die betreffende Landesgesetzgebungskompetenz.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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ergehenden Regelungen der Verwaltungsorganisation kaum sinnvoll trennen890. Wenn die Kompetenz zur gesetzlichen Regelung der Verwaltungsorganisation für den Bund nicht aus Art. 70 ff. GG, sondern aus den Art. 83 ff. GG resultieren würde, dann müßte man dem Bund konsequenterweise versagen, auf Grundlage der Art. 70 ff. GG überhaupt Fragen der Verwaltungsorganisation zu regeln. Daß dies nicht sein kann, zeigt exemplarisch der Art. 87 Abs. 2 GG, da die in ihm angeordnete Verwaltungsorganisation der sozialen Versicherungsträger (als bundes- oder als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts) abhängig ist von einer bestimmten, länderübergreifenden Organisation der Zuständigkeitsbereiche der in ihm benannten Verwaltungseinheiten (Sozialversicherungsträger). Wenn in der länderübergreifenden Zuständigkeit dieser Verwaltungseinheiten aber die Voraussetzung für eine bestimmte, von Art. 87 Abs. 2 GG vorgegebene Verwaltungsorganisationsform dieser Einheiten liegt (bundes- oder landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts), dann kann die Kompetenz zur Errichtung einer länderübergreifenden oder nicht-länderübergreifenden Zuständigkeit nicht aus Art. 87 Abs. 2 GG resultieren, sondern nur aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG891. Damit gelangte man zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß die Behördeneinrichtung im Falle des Art. 87 Abs. 2 GG, d. h. die Errichtung von Sozialversicherungsträgern, auf zwei unterschiedliche Gesetzgebungszuständigkeiten gestützt werden müßte: hinsichtlich der Zuständigkeiten auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, hinsichtlich der konkreten Organisationsform auf Art. 87 Abs. 2 GG, obwohl nach h. M. die Errichtung von Behörden, deren Einrichtung und ihre Aufgabenzuweisung „untrennbar aufeinander bezogen“892 sind. Überzeugender erscheint es hier daher, im Sinne der Annex-These die Bundesgesetzgebungskompetenzen auch für die Verwaltungsorganisation vollständig und ganz grundsätzlich in den Art. 70 ff. GG verortet zu sehen, so daß die Art. 83 ff. diese Kompetenzen nur deklaratorisch voraussetzen893. Folgerichtig stellt auch das Bundesverfassungsgericht fest, daß sich 890 Siehe auch Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 83 Rn. 23, Art. 84 Rn. 21. 891 Es entspricht der ganz überwiegenden Sichtweise, daß der Bund aufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG über die länderübergreifende Zuständigkeit der Sozialversicherungsträger bestimmen und damit über den Eintritt der Rechtsfolgen des Art. 87 Abs. 2 GG disponieren kann, siehe etwa Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 57, 60; Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (661); Hans-Jürgen Papier, Die Regionalisierung der gesetzlichen Rentenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht, NZS 1995, S. 241 (242); Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 50. 892 Armin Dittmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 84 Rn. 7; siehe auch Siegfried Broß, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 84 Rn. 11. 893 Friedrich Klein, Das Verhältnis von Gesetzgebungszuständigkeit und Verwaltungszuständigkeit nach dem Grundgesetz, AöR 88 (1963), S. 377 (401). – Konstituie-

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „auf sämtliche mit der Sozialversicherung zusammenhängenden organisationsrechtlichen Fragen“ erstreckt und der Bund „selbst landesunmittelbare Sozialversicherungsträger [. . .] gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aus eigenem Recht bilden“ kann894. Ist somit zwar dargelegt, daß auch die Bundeskompetenz für die gesetzliche Regelung der Verwaltungsorganisation hinsichtlich einer Sachmaterie aus den Art. 70 ff. GG resultiert (sei es als „Annex“ oder „unmittelbar“), ist hiermit gleichwohl nicht auch gesagt, daß dies zugleich die oben beschriebene „Zusammenschau“ von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG zur Bestimmung des (organisatorischen) Inhalts der Materie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG rechtfertigen würde. Gegen eine solche „Zusammenschau“ mit Art. 87 Abs. 2 GG zur Bestimmung des Inhalts der Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG spricht bereits der in Art. 83 ff. GG zum Ausdruck kommende verfassungsrechtliche Grundsatz, welcher „zeigt, daß das Grundgesetz die Verwaltungszuständigkeit von der Gesetzgebungszuständigkeit für die Sachregelung trennt“895. Das konkrete Verhältnis von Gesetzgebungsund Verwaltungs(organisations)kompetenzen896 spezifiziert das Bundesverfassungsgericht dabei wie folgt: „Es entspricht einem Grundsatz des deutschen Verfassungsrechts, daß die Bundeskompetenzen zur Gesetzgebung weiter reichen als die zur Verwaltung. Nach der Systematik des Grundgesetzes bezeichnet die Gesetzgebungskompetenz des Bundes die äußerste Grenze für seine Verwaltungsbefugnisse. Das heißt aber, daß die Verwaltungskompetenzen den Gesetzgebungsbefugnissen des Bundes folgen und nicht umgekehrt die Gesetzgebungs- den Verwaltungsbefugnissen.“897 Daher kann aus den Verwaltungskompetenzen grundsätzlich nicht auf den Umfang der Gesetzgebungskompetenzen geschlossen werden898, wie dies aber bei einer „Zusammenschau“ mit rend sind dann lediglich die Erfordernisse bundesratlicher Zustimmung für Bundesgesetze, die im Falle des Landesvollzugs (Art. 84, 85 GG) „etwas anderes“ hinsichtlich Behördeneinrichtung oder Verwaltungsverfahren bestimmen, siehe Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 83 Rn. 21. 894 BVerfGE 113, S. 167 (201); vgl. auch BVerfGE 11, S. 105 (123 f.). 895 BVerfGE 14, S. 197 (213). 896 Die in den Art. 83 ff. GG geregelten Verwaltungs- und Organisationskompetenzen hängen unmittelbar miteinander zusammen und können nicht ohne einander vorgestellt werden, denn Verwaltung ist stets organisierte Tätigkeit, und die Errichtung einer Verwaltungseinheit besteht in ihrem rechtlichen Kern in der Zuweisung von Verwaltungskompetenzen – so die treffende Beschreibung von Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 8 f. 897 BVerfGE 12, S. 205 (229); verkürzt, aber inhaltsgleich BVerfGE 15, S. 1 (16). 898 BVerfGE 12, S. 205 (229); 15, S. 1 (16).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

261

Art. 87 Abs. 2 GG zur Ermittlung des Inhalts von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinsichtlich deren konkreter organisatorischer Ausgestaltung letztendlich der Fall wäre. Hierdurch bestünde auch die Gefahr, daß die grundsätzlichen Verteilungsregeln der Art. 30, 70 Abs. 1, 83 GG unterlaufen werden, denn die Festlegung bestimmter Vollzugsformen für die Gesetzgebungsmaterien ist gerade „Aufgabe“ der Art. 83 ff. GG; diese würden inhaltlich entwertet, wenn man deren organisationsrechtliche Vorgaben bereits als Inhaltsmerkmale in die betreffenden Gesetzgebungsmaterien hineininterpretiert, und letztlich wäre auch ihr organisationsrechtlicher Gehalt dann insoweit nur noch ein deklaratorischer. Im übrigen erschiene es jedenfalls hinsichtlich Art. 87 Abs. 2 GG auch „erstaunlich zirkelschlüssig“899, wenn der Inhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bezüglich der konkreten Organisationsbzw. Verwaltungsform durch Art. 87 Abs. 2 GG bestimmt würde, die Inhaltsmerkmale des Gesetzgebungskompetenztitels für „Sozialversicherung“ sich also hinsichtlich deren Organisationsform erst und nur aus der Zusammenschau mit der Verwaltungskompetenznorm des Art. 87 Abs. 2 GG ergäben. Denn Art. 87 Abs. 2 GG knüpft mit seiner Bezugnahme auf die „sozialen Versicherungsträger“ an die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ an und stellt bestimmte organisatorische Vorgaben für diese auf. Die Erfüllung dieser organisatorischen Vorgaben kann dann aber nicht bereits Voraussetzung dafür sein, daß überhaupt die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ einschlägig ist900. Vielmehr muß zunächst eine auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützte „Sozialversicherung“ bestehen, die dann gegebenenfalls an Art. 87 Abs. 2 GG zu messen ist.901 Ansonsten stünde und fiele der Inhalt von „Sozialversicherung“ mit dem Inhalt oder gar der Existenz von Art. 87 Abs. 2 GG, der Inhalt der Gesetzgebungsmaterie also mit den diesbezüglichen Verwaltungskompetenzen, womit auch entgegen dem zuvor dargelegten Grundsatz die Gesetzgebungskompetenz der Verwaltungskompetenz folgen würde und nicht umgekehrt. Somit ist es schon aus diesen Gründen nicht überzeugend, in organisatorischer Hinsicht den Inhalt der Materie „Sozialversicherung“ im Sinne der Gesetzgebungskompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG durch eine „Zusammenschau“ mit den organisatorischen Inhalten des Art. 87 Abs. 2 GG determi899 Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 162. 900 Vgl. Peter Lerche, a. a. O. 901 Siehe auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 53 f.; vgl. ferner BVerfGE 63, S. 1 (35); deutlich zwischen der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und den organisationsrechtlichen Inhalten des Art. 87 Abs. 2 GG trennend auch Helge Sodan, Föderalisierung der gesetzlichen Krankenversicherung – Verfassungsrechtliche Maßstäbe, in: Jahrbuch des Föderalismus 2002 (Bd. 3), 2002, S. 242 (243 f.).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

nieren und die diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG insoweit modifizieren oder verengen zu wollen. Vielmehr erstrecken sich die Gesetzgebungsmaterien der Art. 73 f. GG und im besonderen die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung“ auch auf sämtliche organisationsrechtlichen Fragen902, vermitteln also diesbezüglich eine umfassende Regelungskompetenz903. Durch konkrete organisatorische Vorgaben in den Art. 83 ff. GG hinsichtlich einer bestimmten Organisationsform (wie etwa in Art. 87 Abs. 2 GG: bundes- oder landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts) werden dabei nicht diese aus Art. 70 ff. GG resultierenden Gesetzgebungskompetenzen modifiziert oder verengt, sondern es werden inhaltliche (materielle) Vorgaben904 für die konkrete verwaltungsorganisatorische Ausgestaltung eines auf die betreffende Gesetzgebungsmaterie (hier: „Sozialversicherung“) gestützten Gesetzesvorhabens gemacht – ebenso wie etwa die Grundrechte dem Bundesgesetzgeber inhaltliche (materielle) Vorgaben für die Ausgestaltung einer auf seine Bundesgesetzgebungskompetenz gestützten gesetzlichen Regelung machen (nämlich Grundrechte nicht zu verletzen) und nicht etwa bereits seine Gesetzgebungskompetenz begrenzen. Demnach ist der Begriff „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG grundsätzlich „vollzugsformneutral“, also nicht durch eine bestimmte, in Art. 83 ff. bzw. konkret in Art. 87 Abs. 2 GG vorgegebene Verwaltungsorganisationsform determiniert. Determinierend ist für „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur, daß – wie oben dargelegt – eine „staatliche“ Organisation gewahrt ist.905 Im Rahmen dessen kann der Bundesgesetzgeber dann prinzipiell jede, d. h. auch eine von Art. 87 Abs. 2 GG abweichende Organisationsform auf die umfassende organisatorische Regelungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen. Der Verstoß der gewählten Organisationsform gegen Art. 87 Abs. 2 GG beseitigt dann nicht die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern macht das betreffende Bundesgesetz im übrigen, d. h. wegen Verstoßes gegen die materiell-inhaltlichen Organisationsvorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG verfassungswidrig.

902

Siehe auch BVerfGE 113, S. 167 (201). Vgl. Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 84 Rn. 21. 904 Vgl. auch Ulrich Becker, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 13 Rn. 9: „Das Grundgesetz enthält für die Organisation der Sozialversicherung nicht nicht nur kompetentielle, sondern auch inhaltliche Vorgaben, was durchaus eine Besonderheit zu vielen anderen Verwaltungsbereichen darstellt“ – Hervorhebung im Original; vgl. ferner BVerfGE 113, S. 167 (201): „Vom körperschaftlichen Status der Sozialversicherungsträger abgesehen (vgl. Art. 87 Abs. 2 GG) macht das Grundgesetz dem Bundesgesetzgeber keine inhaltlichen Vorgaben zur organisatorischen Ausgestaltung der Sozialversicherung“. 905 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) aa). 903

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

263

(bb) Verhältnis zum Landesgesetzgeber im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung Das soeben ermittelte Ergebnis wird auch dadurch gestützt, daß die beschriebene „Zusammenschau“ von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG zu recht erstaunlichen und wenig sinnvollen Ergebnissen im Verhältnis zur Landesgesetzgebung führen würde, jedenfalls soweit es den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung betrifft, zu dem auch die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zählt: Wären diesbezüglich nämlich die Organisationsvorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG („Körperschaften des öffentlichen Rechts“) bereits determinierend für den Inhalt der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, dann könnte sich – wie bereits weiter oben angedeutet – die durch bundesgesetzgeberische Maßnahmen auf diesem Gebiet entfaltende Sperrwirkung für die Landesgesetzgebung auch nur auf Gebilde mit dieser Organisationsform beziehen, da nur diese „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wären. Das hätte allerdings zur Folge, daß die Landesgesetzgeber die Kompetenz zur Schaffung einer „Quasi“-Sozialversicherung behielten, solange sich diese nur hinsichtlich der Organisationsform von der den Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG folgenden Sozialversicherung auf Bundesebene unterscheidet – denn wenn die Materie „Sozialversicherung“ durch die Organisation durch „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ determiniert wäre, würden sich die Länder dann überhaupt nicht mehr auf diesem Regelungsgebiet des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bewegen. Streng genommen könnten damit die Länder auch auf den an sich bereits vom Bund „besetzen“ Zweigen der Sozialversicherung (Kranken-, Renten-, Unfall-, Arbeitslosen-, Pflegeversicherung) „Konkurrenzsysteme“ mit einer anderen Organisationsform als der durch „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ (im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG) einführen, was aber letztlich den Sinn der konkurrierenden Gesetzgebung und der dort geltenden Sperrwirkung konterkarieren würde. Denn wenn der Bund sich entschließt, einen Bereich im Wege der „Sozialversicherung“ umfassend staatlich abzusichern, etwa das Risiko der Pflegebedürftigkeit durch Schaffung der sozialen Pflegeversicherung, dann muß bereits hierdurch die Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber für den Bereich „Pflegeversicherung“ ausgelöst sein, und es wäre nicht einsichtig, warum die Länder parallel hierzu nur aufgrund der Wahl einer von der „Sozialversicherung“ bzw. von Art. 87 Abs. 2 GG abweichenden staatlichen Organisationsform ihrerseits noch die Kompetenz zur Einführung einer inhaltlich im übrigen gleichwertigen „Pflegeversicherung“ behalten sollten. Entscheidend für die Sperrwirkung kann demnach nur der konkret geregelte Lebensbereich (z. B. Schaffung einer Pflegeversicherung als Teil der Sozialversicherung) sein, nicht aber eine bestimmte Vollzugsform (wie die des Art. 87 Abs. 2 GG) für die diesen Bereich betreffenden (bundes)gesetzgeberischen Maßnahmen906. Alles andere wäre letztlich eine Umgehung der durch Art. 72 Abs. 1 GG („solange und

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

soweit“) angeordneten Sperrwirkung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. (d) Ergebnis Aus den genannten Gründen ist folglich davon auszugehen, daß die Gesetzgebungsmaterien inhaltlich grundsätzlich vollziehungsformneutral sind, inhaltlich also nicht bereits durch entsprechende Vorgaben der Art. 83 ff. GG konkretisiert werden; deren Vorgaben stehen vielmehr neben den Gesetzgebungszuständigkeiten. Die durch Art. 87 Abs. 2 GG angeordnete Organisationsform der Träger der Sozialversicherung als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ ist demgemäß kein begriffsnotwendiges Strukturmerkmal der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung“. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erstreckt sich vielmehr „auf sämtliche mit der Sozialversicherung zusammenhängenden organisationsrechtlichen Fragen“907, gibt dem Bund also eine umfassende Legislativkompetenz, die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ organisatorisch auszugestalten. Die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ selbst ist dabei nicht von vornherein auf eine bestimmte Verwaltungsorganisationsform beschränkt – lediglich eine staatliche Organisation ist, wie weiter oben dargelegt908, als Strukturmerkmal bestimmend für „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Wie diese staatliche Organisation, also die konkrete Verwaltungsorganisation auszusehen hat, ergibt sich nicht aus Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern erst und allein aus der hiervon zu trennenden Organisationsnorm909 des Art. 87 Abs. 2 GG: mittels dieser hat der Verfassungsgeber zwar die traditionelle Organisationsform der „klassischen“ Sozialversicherung aufgegriffen, diese aber nicht zum begriffsbildenden Merkmal im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gemacht, sondern insoweit vielmehr inhaltliche (materielle) Vorgaben für die konkrete organisatorische Ausgestaltung der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ aufgestellt910.911 906 Daß die Versicherungskomponente der „Sozialversicherung“ unabhängig von einer bestimmten Organisationsform ist, wurde bereits oben dargelegt, siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (m). 907 BVerfGE 113, S. 167 (201). 908 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) aa). 909 Siehe BVerfGE 21, S. 362 (371), wonach Art. 87 Abs. 2 GG „zu den [. . .] Organisationsregelungen der Verfassung gehört und überdies nur als Kompetenznorm für die Abgrenzung der Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu verstehen ist“. 910 Siehe näher zu den Gehalten des Art. 87 Abs. 2 GG unten, 3. Teil. 911 Vgl. auch BVerfGE 113, S. 167 (201); Ulrich Becker, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 13 Rn. 9; Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (34 f.).

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

265

cc) Verselbständigung des Versicherungsvermögens Regelmäßig wird ein begriffsnotwendiges Merkmal der „Sozialversicherung“ auch in der Verselbständigung des Versicherungsvermögens, also in dessen Trennung vom allgemeinen Staatsvermögen gesehen912. Als Hauptargument hierfür wird häufig der allerdings eher praktische Gesichtspunkt angeführt, daß durch die Trennung des Sozialversicherungsvermögens von den allgemeinen Staatsfinanzen die Sozialversicherung „sicherer“ werde, weil die Gefahr eines Zugriffs des Staates – insbesondere in allgemeinen Notlagen – auf ein im allgemeinen Staatsvermögen „untergegangenes“ Versicherungsvermögen ausgeschlossen wird913. Allerdings wurde bereits weiter oben darauf hingewiesen, daß wirtschaftliche Sicherheit kein rechtliches Kriterium einer „Versicherung“ ist914, und daß der Versicherungscharakter der Sozialversicherung auch im übrigen nicht zur Annahme eines separierten Sozialversicherungsvermögens zwingt,915 mag dies rein praktisch auch äußerst sinnvoll und naheligend sein. Rechtlich stichhaltiger ist dagegen die Herleitung dieses Erfordernisses aus dem Aspekt der staatlichen Durchführung der Sozialversicherung, aus der eine strenge Zweckbindung der Sozialversicherungsbeiträge zu deren Einsatz ausschließlich für die Versicherungszwecke resultiert und die deren Trennung von den allgemeinen Staatsfinanzen gebietet916. Das Bundesverfassungsgericht scheint dabei dahin zu tendieren, das Erfordernis einer Trennung von allgemeinem Staatsvermögen und Sozialversicherungsvermögen bereits in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verortet zu sehen, hierin also ein begriffliches Strukturmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu erblicken, wenn es bezüglich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausführt: „Zu dem bei der Erhebung von Sonderabgaben typischerweise drohenden Konflikt mit den Regelungen der Finanzverfassung kann es hier [scil. bei der gesetzlichen Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen] nicht kommen. Die Sozialversicherungsbeiträge dienen von vornherein nicht der Mittelbeschaffung des Staates, sondern finden ihren Grund und ihre Grenze in der Finanzierung der Sozialversicherung. Der Gesetzgeber kann sich seiner Regelungskompetenz für die Sozialversicherung nicht bedienen, um dadurch Mittel für die Finanzierung der allgemeinen Staats912 Siehe etwa Arnold Köttgen, Die rechtsfähige Verwaltungseinheit, 1939, S. 78 f.; Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 10; Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (702 ff., 705 ff., 712); vgl. auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) bb) (1). 913 Siehe insbesondere Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 10; Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (704 ff.). 914 Siehe oben zum „Versicherungsbegriff“. 915 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) bb) (1). 916 Siehe BVerfGE 113, S. 167 (203 ff.); auch schon BVerfGE 75, S. 108 (148).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

aufgaben aufzubringen. Die Finanzmasse der Sozialversicherung ist tatsächlich und rechtlich von den allgemeinen Staatsfinanzen getrennt.“917 Für diese kompetentielle Einordnung des Erfordernis einer Trennung der Finanzmassen von Sozialversicherung und allgemeinem Staatshaushalt spricht dabei auch Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, der offensichtlich von einer dementsprechend organisierten Sozialversicherung ausgeht, wenn er regelt, daß der Bund „die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung“ trägt. Denn „Zuschüsse“ können begrifflich nur zu einer getrennten Vermögensmasse geleistet werden, die nicht in das allgemeine Staatsvermögen, aus welchem diese Zuschüsse zu leisten sind, eingeflossen ist.918 Kompetenzgemäße Bundesgesetzgebung auf dem Gebiet der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG setzt also ein von den allgemeinen Staatsfinanzen getrenntes Sozialversicherungsvermögen voraus, d. h. die zur Finanzierung der Sozialversicherung erhobenen Beiträge müssen in ein getrenntes Sondervermögen einfließen, damit das betreffende System im verfassungsrechtlichen Sinne als „Sozialversicherung“ gelten kann. Bei der organisatorischen Ausgestaltung dieses Sondervermögens ist der Gesetzgeber frei, solange die zweckgebundene Verwendung sichergestellt ist. Aus der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergibt sich auch kein Erfordernis, das gesonderte Sozialversicherungsvermögen den einzelnen Sozialversicherungsträgern i S. d. Art. 87 Abs. 2 GG als „eigenes“ zuzuordnen, zumal – wie oben dargelegt – die sich aus Art. 87 Abs. 2 GG ergebende Verwaltungsorganisation nicht als begriffliches Strukturmerkmal von „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gelten kann. Insoweit geht mit dem Erfordernis eines vom allgemeinen Staatshaushalt getrennten Sozialversicherungsvermögens auch nicht einher, daß bereits der Begriffsinhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine rechtlich verselbständigte Organisationsform der Sozialversicherungsträger erfordern würde – eine solche ergibt sich vielmehr „erst“ und allein aus Art. 87 Abs. 2 GG919. Folglich kann etwa auch eine Gestaltung der Sozialversicherung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden, bei welcher das Versicherungsvermögen in einem nicht nur von den allgemeinen Staatsfinanzen, sondern auch von den einzelnen Sozialversicherungsträgern separierten Fonds gesammelt wird, aus welchem den einzelnen Sozialversicherungsträgern die zur Erfüllung ihrer Sozialversicherungsaufgaben benötigten Mittel zugewiesen werden.920 Ein derartiger 917

BVerfGE 75, S. 108 (148); verkürzt BVerfGE 113, S. 167 (205). Vgl. auch Wilhelm Wertenbruch, Sozialversicherung?, in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 687 (705, Fn. 91). 919 Siehe dazu das Vorhergehende, 2. Teil, Abschnitt I, 4. c) bb). 920 Die hiermit verbundene Beseitigung der „Ertragshoheit“ der Sozialversicherungsträger ist dann allenfalls an Art. 87 Abs. 2 GG zu messen, soweit aus diesem 918

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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Fonds wird durch die Gesundheitsreform 2007921 mit dem zum 1.1.2009 Wirklichkeit werdenden „Gesundheitsfonds“ (siehe § 271 SGB V [2009]) errichtet: Während bisher die Beiträge direkt den Krankenkassen zufließen und dort verbleiben (vgl. §§ 28k, 28i SGB IV), werden sie unter dem „Gesundheitsfonds“ direkt an diesen gezahlt oder an ihn weitergeleitet (siehe § 252 Abs. 2 SGB V [2009]). Der Gesundheitsfonds wird gemäß § 271 Abs. 1 SGB V [2009] vom Bundesversicherungsamt als Sondervermögen verwaltet; neben den Beiträgen werden in ihn auch die Bundeszuschüsse nach § 221 SGB V fließen. Die Krankenkassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds für jeden ihrer Versicherten im Grundsatz standardisierte Pauschalbeträge, deren Höhe sich im einzelnen nach Maßgabe der §§ 266 ff. SGB V [2009] bemißt. d) Zusammenfassung zu den Inhaltsmerkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Der Kompetenztitel für die „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zeichnet sich begrifflich mithin durch folgende Inhaltsmerkmale aus:922 Aus der Versicherungskomponente von „Sozialversicherung“ resultiert, daß es sich bei „Sozialversicherung“ um eine der Daseinsvorsorge (der in ihr Versicherten) zur Bedarfsdeckung infolge Eintritts ungewisser nachteiliger Ereignisse dienende Risikoübernahme (durch den Versicherer) handelt, wobei durch Zusammenfassung der versicherten Gefahrengemeinschaft eine Risikostreuung bzw. ein Risikoausgleich erreicht wird. Der Schutz vor den versicherten Risiken wird entgeltlich erlangt, d. h. durch Beitragsleistungen „erkauft“923; auf ihn besteht ein festen Regeln folgender Rechtsanspruch der Versicherten. Die Beiträge müssen nicht durch die Versicherten selbst aufgebracht werden, sondern können unter bestimmten Umständen (insb. bei einer Fürsorge- oder Interessenbeziehung) auch durch andere „Beteiligte“924 für die Versicherten aufgebracht werden; andererseits ist gerade eine paritätische Beitragsaufbringung wie im derzeitigen System durch Versicherte einerseits und deren Arbeitgeber andererseits kein konstitutives Merkmal von Sozialversicherung925. Auf eine Gleichartigkeit oder eine verfassungsrechtliche Selbstverwaltungsgarantie resultiert und diese auch die Ertragshoheit miteinschlösse – siehe dazu unten 3. Teil, II. 4. 921 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378. 922 Auf das Bemühen, die nachfolgenden Kriterien in einer in einem Satz zusammengefaßten Definition „unterzubringen“, wird hier aus den bereits oben beim Versicherungsbegriff (siehe Fn. 476) erläuterten Gründen verzichtet. 923 Görg Haverkate, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, DVBl. 2004, S. 1061 (1062). 924 Vgl. BVerfGE 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34); 99, S. 202 (212). 925 Stefan Muckel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung (Teil I), SGb 2004, S. 583 (589).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

insbesondere eine Schätzbarkeit der versicherten Risiken kommt es ebenso wenig an wie auf das Vorhandensein einer Äquivalenz, sei es in Gestalt von Individual- oder von Globaläquivalenz. Für das Vorliegen einer „Sozialversicherung“ begrifflich unerheblich ist insoweit auch die Beachtung des rein wirtschaftlichen „Versicherungsprinzips“, dessen Einhaltung nicht einmal für den rechtlichen Versicherungsbegriff konstitutiv ist. Die Sozialversicherung ist im rechtlichen Sinne eine Versicherung. Aus der sozialen Komponente der Sozialversicherung ergibt sich, daß „Sozialversicherung“ auf die Absicherung von Risiken bezogen sein muß, die sich im weitesten Sinne auf die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen und damit auf dessen naturgegebene Möglichkeit auswirken, aus eigener Kraft eine Lebensgrundlage zu erwirtschaften. Die Absicherung derartiger elementarer Risiken ist nach den bestehenden gesellschaftlichen Anschauungen und Notwendigkeiten deshalb sozial angezeigt und Ausfluß der Zielsetzung des „Sozialen“, weil der Eintritt dieser Risiken erhebliche Auswirkungen auf die Möglichkeit des Einzelnen nach sich ziehen kann, seine Persönlichkeit frei zu entfalten und gleichwertig am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Ausfluß des „Sozialen“ ist ferner die Intention, die Absicherung dieser Risiken sozial verträglich zu gestalten. Daher muß die Methode der Sozialversicherung eine solche sein, die jedermann den Erhalt von Versicherungsschutz ermöglicht, sowohl hinsichtlich der dadurch entstehenden wirtschaftlichen Aufwendungen als in bezug auf die generelle Möglichkeit zur Erlangung eines adäquaten Versicherungsschutzes. Im Vordergrund des Versicherungsbetriebs muß demgemäß – anders als typischerweise in der Privatversicherung – nicht das eigene wirtschaftliche Interesse des Versicherers mit der daraus resultierenden Ausrichtung an Gewinnstreben und wirtschaftlicher Rationalität stehen, sondern eine gemeinwirtschaftliche Zielsetzung, die ganz primär der Ermöglichung einer umfassenden Bedarfsdeckung – sei es auch auf Kosten wirtschaftlicher Rationalität oder wirtschaftlichen Gewinns – verschrieben ist. Hierzu darf zum einen keine Risikoselektion erfolgen, d. h. jeder potentiell Versicherungsbedürftige muß unabhängig von seiner individuellen Risikostruktur Zugang zu einem Versicherungsschutz haben. Und dieser Versicherungsschutz muß zudem für alle Personen finanziell erschwinglich bzw. bezahlbar, also gemessen am individuellen Leistungsvermögen (und nicht gemessen an der individuellen Risikostruktur) „angemessen“ und nicht überfordernd sein. Dabei gibt es allerdings kein Gebot, jeden Versicherten so zu belasten wie es seinem Leistungsvermögen „entspricht“; wer viel verdient, muß also nicht automatisch auch entsprechend höhere Beiträge leisten. Entscheidend ist nur, daß das individuelle Leistungsvermögen die Obergrenze für die Beitragsbelastung darstellt. Möglich wären insoweit also auch gleiche Beiträge für alle („Kopfpauschalen“), solange diese für wirtschaftlich Schwächere erschwinglich bleiben. Aus dieser Zielvorgabe der Schaffung eines wirtschaftlich nicht überfordernden Versicherungsschutzes folgt, daß die Beitragsgestaltung gerade nicht

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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(nur) nach rein marktwirtschaftlichen, risikoäquivalenten Grundsätzen erfolgen darf, sondern sozial zu modifizieren ist, so daß das Leistungsvermögen der Versicherten nicht überfordert wird. Gleichsam inhärent ist der Sozialversicherung damit ein sozialer Ausgleich. Denn wenn aus sozialen Gründen teilweise nur Beiträge verlangt werden können, die unterhalb dessen liegen, was risikoäquivalent wäre, muß dies durch anderweitige finanzielle Zuströme (etwa durch staatliche Zuschüsse gemäß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG oder durch über dem Risikoäquivalenten liegende Beiträge von anderen Versicherten, die hierdurch nicht wirtschaftlich überfordert werden) wieder ausgeglichen werden, um den Versicherungsschutz insgesamt bewerkstelligen zu können. Nicht begriffsnotwendig ist hingegen, daß diese sozialen Eigenheiten der „Sozialversicherung“ durch eine Zwangsmitgliedschaft gesichert werden; Versicherungszwang mag hierzu zwar ein effektives Mittel sein, jedoch können die sozialen Zwecke und der soziale Ausgleich auch anders erreicht werden. Wird indes Versicherungszwang etabliert, bedarf er wegen der damit verbundenen Freiheitsbeeinträchtigung der materiellen Rechtfertigung. Ebenfalls nicht erforderlich für das begriffliche Vorliegen einer Sozialversicherung ist es, daß ihr Schutz nur tatsächlich Schutzbedürftigen zugute kommt oder daß sie von vornherein nur auf Teile der Bevölkerung bezogen ist. Somit wäre auch eine „Bürger-“, „Volks-“ oder „Einwohnerversicherung“ begrifflich „Sozialversicherung“. Allerdings bedarf die (zwangsweise) Einbeziehung von nicht sozial Schutzbedürftigen wegen der damit verbundenen freiheits- und gleichheitsrechtlichen Beeinträchtigungen der materiellen Rechtfertigung. Organisatorisch ist die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dadurch determiniert, daß sie staatlich organisiert sein muß, d. h. als vom Staat beherrschte Institution durchzuführen ist. Ferner muß das Versicherungsvermögen ein von den allgemeinen Staatsfinanzen separiertes Sondervermögen sein. Darüber hinausreichende organisatorische Vorgaben wie die spezifische staatliche Organisation durch Körperschaften des öffentlichen Rechts, also die Bewältigung der Sozialversicherungsaufgaben im Wege der mittelbaren Staatsverwaltung,926 ergeben sich nicht aus der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern allein aus den organisatorischen Vorgaben der Verwaltungskompetenz- und -organisationsnorm des Art. 87 Abs. 2 GG.

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Siehe ausführlicher dazu noch unten 3. Teil, II. 3.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

e) Reichweite der Kompetenz und im Zusammenhang mit der „Sozialversicherung“ stehende Regelungsbereiche (insb. „Kassenarztrecht“) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG deckt sämtliche im Zusammenhang mit der Sozialversicherung stehenden Regelungsinhalte ab. Neben der Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse und der Versicherungsorganisation und -methodik gehören hierzu – wie bereits oben dargelegt – auch die Finanzierung der Sozialversicherung durch Beiträge927 sowie gegebenenfalls Zuschüsse im Sinne des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, des weiteren die Regelungen des Risikostrukturausgleichs928.929 Auch der gesamte Bereich der Leistungserbringung ist von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG umfaßt.930 Nicht unproblematisch ist hier allerdings der Bereich des Kassenarztrechts: Die zur Leistungserbringung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung berufenen bzw. zugelassenen Ärzte („Kassenärzte“ oder „Vertragsärzte“) sind hinsichtlich ihrer Berufsausübung in vielfacher Weise durch öffentlich-rechtliche Pflichten in das System der gesetzlichen Krankenversicherung eingebunden931. Anerkanntermaßen aber ist das ärztliche Berufsrecht, soweit es die ärztliche Berufsausübung betrifft, Gegenstand der ausschließlichen Landesgesetzgebungskompetenz; dies ergibt sich aus einem Umkehrschluß aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, welcher dem Bundesgesetzgeber lediglich die Kompetenz zur Regelung der ärztlichen Berufszulassung einräumt.932 Ärztliches Berufs(ausübungs)recht und „Sozialversicherung“ sind also im Grundsatz voneinander zu trennende Materien. Aufgrund der Einbeziehung der Kassen- bzw. Vertragsärzte in die Leistungserbringung der Sozialversicherung wird das Kassenarztrecht gleichwohl ganz überwiegend als Teil der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ angesehen.933 Die danach anzuneh927 Siehe ausführlich zu diesem Kompetenzgehalt des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (bb). 928 Vgl. BVerfGE 113, S. 167 (195 ff.). 929 Siehe im einzelnen zu diesen unproblematisch von der Reichweite der Kompetenz umfaßten Bereichen Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 42. 930 Siehe Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 39; Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 58. 931 Vgl. BVerwGE 65, S. 362 (365). 932 Siehe etwa Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 44; Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 58; Theodor Maunz, in: MaunzDürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 215; siehe ausdrücklich auch BVerfGE 102, S. 26 (37): „. . . nicht bezweifelt, dass die Bundeskompetenz im Arztrecht auf Zulassungsfragen beschränkt ist und sich nicht auf die ärztliche Berufsausübung insgesamt erstreckt“.

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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mende Kompetenz des Bundes zur Regelung der öffentlich-rechtlichen Pflichten des Kassenarztes sei gegenüber der Gesetzgebungszuständigkeit des Landes für eine Regelung der allgemeinen Berufsausübung des Arztes eine speziellere Kompetenz, die gegenüber der generellen den Vorrang hat.934 Dies ist allerdings nur teilweise überzeugend: Spezieller gegenüber der allgemeinen Landeszuständigkeit für das ärztliche Berufsausübungsrecht ist das „Kassenarztrecht“ über Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht schlechthin, sondern nur, soweit es im Zusammenhang mit der „Sozialversicherung“ und damit insbesondere im Zusammenhang mit deren Leistungserbringung steht, in die die Kassenärzte eingebunden sind. Dies ergibt sich auch aus dem Gedanken der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs: Hiernach kann sich eine Bundesgesetzgebungskompetenz auch für Bereiche ergeben, für die der Bund isoliert betrachtet an sich keine Zuständigkeit hat, sofern die betreffende Materie in einem untrennbaren inhaltlichen Zusammenhang mit einer dem Bund zukommenden Kompetenzmaterie steht, letztere also verständigerweise nicht sinnvoll geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird935. Soweit also die Regelung des Kassenarztrechts unerläßlich für die Regelung der Materie „Sozialversicherung“ ist, besteht insoweit eine Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Zweifelhaft erscheint es demgegenüber, den Bereich des Kassenarztrechts auch schlechthin in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verortet zu sehen, d. h. auch soweit kein unerläßlicher Regelungszusammenhang mit der Materie „Sozialversicherung“ besteht. Denn berufsrechtliche Bestimmungen hinsichtlich der Kassenärzte sind genuin nicht untrennbar mit der Sozialversicherung verbunden, sondern können auch unabhängig von ihr bestehen936, so daß insoweit die generelle Landeszuständigkeit für das ärztliche Berufswesen einschlägig sein muß. Daher ist es beispielsweise fraglich, ob die durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz937 bewirkten Regelungen zur Verbesserung der Anstellungs933 Siehe BVerfGE 98, S. 265 (303); Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 58; Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 74 Rn. 32; Theodor Maunz, in: MaunzDürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 175; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 118. 934 BVerwGE 65, S. 362 (365); kritisch zur Konstruktion, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sei insoweit gegenüber Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG spezieller, Helge Sodan, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Regelungen gemeinschaftlicher Berufsausübung von Vertragsärzten, NZS 2001, S. 169 (170 ff.). 935 BVerfGE 3, S. 407 (421); 98, S. 265 (299); Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 17 Rn. 18. 936 Siehe Helge Sodan/Marc Schüffner, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, 2006, S. 12 f.; vgl. auch Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 44. 937 Vom 22.12.2006 – BGBl. I, S. 3439.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

möglichkeiten von Ärzten und Zahnärzten sowie der Ermöglichung überörtlicher Praxen und von Berufsausübungsgemeinschaften tatsächlich, wie vom Bundesgesetzgeber angenommen, auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden können938, oder ob sie nicht vielmehr als allgemeine, von der Leistungserbringung in der Sozialversicherung losgelöste Regelungen Sache der ausschließlichen Landesgesetzgebung sind939.

5. Abschließende Betrachtung zur Einstufung von „Sozialversicherung“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als „(Gattungs-)Begriff“ oder als „Typus“ An dieser Stelle sei abschließend noch Stellung bezogen zu der oben zunächst offen gelassenen Frage, ob der Terminus „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Begriff (bzw. Gattungsbegriff) oder als Typus zu verstehen ist940: Die vorhergehenden Ausführungen zu den inhaltlichen Strukturmerkmalen von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zeigen auf, daß sich die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ mittels der gefundenen Merkmale hinlänglich beschreiben läßt. Die im Vorhergehenden herausgearbeiteten Merkmale stehen in einem klaren Verhältnis zueinander, indem sie kumulativ erfüllt sein müssen, damit ein sie erfüllendes Gebilde als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gelten kann. Keines der Merkmale erscheint verzichtbar, kein weiteres Merkmal erscheint erforderlich zur Beschreibung der Materie. Damit kann „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Begriff gedeutet werden. Des Rückgriffs auf die Figur des Typus als Hilfskonstruktion für den Fall einer bloß unzureichenden Begriffsbildung bedarf es insoweit nicht – zumal grundlegende Bedenken zumindest gegen eine vorschnelle Annahme eines Typus vorzubringen sind941. Der so verstandene verfassungsrechtliche Begriff „Sozialversicherung“ ist trotz seiner – im Vergleich zur Typusbildung – relativ „starren“ Fixierung auf seine Begriffsmerkmale hinreichend weit und interpretationsoffen, um vielfältige Erscheinungsformen von „Sozialversicherung“ zu erfassen. Mittels vor allem der aus dem sozialen Charakter der Sozialversicherung hergeleiteten Begriffsmerkmale wird im Grunde das beschrieben, was die Typuslehre als den für den Typus einheitsstiftenden und konstituierenden leitenden Wertgesichts938

Siehe die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 16/2474, S. 17. Die Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ablehnend Helge Sodan/ Marc Schüffner, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, 2006, S. 13; vgl. auch Christian Pestalozza, Kompetentielle Fragen des Entwurfs eines Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes, GesR 2006, S. 389 (394 f.). 940 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 3. 941 Siehe zur Kritik an der Typuslehre bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 3. f). 939

I. „Sozialversicherung‘‘ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG

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punkt oder festen Wesenskern von „Sozialversicherung“ ihrerseits starr erfassen müßte. Die Hinzunahme oder Bildung von Typusmerkmalen vermittelte keinen erhöhten Erkenntniswert gegenüber der Bildung von Begriffsmerkmalen, da die Typusmerkmale in keinem klaren Verhältnis zueinander stehen und ihre Erfüllung weder hinreichend noch notwendig für die Klassifizierung als „Sozialversicherung“ sind: Die Tatsache etwa, daß „Sozialversicherung“ typischerweise als Zwangsversicherung ausgestaltet ist, hilft für die Einstufung eines Rechtsgebildes als „Sozialversicherung“ wenig, wenn einerseits – wie oben dargelegt942 – „Sozialversicherung“ grundsätzlich auch auf Freiwilligkeit basieren kann (auch wenn sie dann voraussichtlich weniger effektiv wäre), andererseits das Vorliegen von Versicherungszwang auch außerhalb der Sozialversicherung geläufig ist wie etwa in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung. Die Annahme eines Typus erscheint hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Terminus „Sozialversicherung“ somit auch vor diesem Hintergrund entbehrlich. Vielmehr handelt es sich bei den „Typusmerkmalen“ – soweit sie nicht begriffsnotwendig sind wie etwa das Merkmal des Versicherungszwangs – um Ausgestaltungsmodalitäten der (begrifflichen) Materie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, also um Fragen des konkreten „Wie“, der konkreten Weise der Ausgestaltung der Sozialversicherung. Es ist aber „keine Frage der Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, in welcher konkreten Weise ein Sozialversicherungssystem ausgestaltet ist“943. Mit dem Bundesverfassungsgericht kann man bezüglich „Sozialversicherung“ insoweit von einem Gattungsbegriff sprechen, als er eine weitere Untergliederung durch eine zusätzliche Abstrahierungsebene zuläßt, so daß einzelne Arten der „Sozialversicherung“, also insbesondere die einzelnen Sozialversicherungszweige, durch Charakterisierung der versicherten Risiken begrifflich beschrieben werden können. So sichert etwa die gesetzliche Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung das Risiko „Krankheit“ ab; bei der Festlegung der einzelnen Zweige der Sozialversicherung ist der Gesetzgeber allerdings insoweit frei, als der verfassungsrechtliche Gattungsbegriff „Sozialversicherung“ diesbezüglich keine konkreten begrifflichen Vorgaben enthält, wie diese Zweige im einzelnen gebildet sein müssen. Auch aus dem Versicherungsbegriff bzw. aus dem Versicherungscharakter der Sozialversicherung läßt sich nichts anderes herleiten, da – wie oben dargelegt944 – die „Gleichartigkeit“ der versicherten Risiken eine versicherungskalkulatorische Größe, nicht aber erforderliches Merkmal für eine „Versicherung“ im Rechtssinne ist.

942 943 944

Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (2). BVerfGE 109, S. 96 (109 f.). Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (d).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

II. Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG Das gemäß Art. 72 Abs. 2 GG für den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung bestehende Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung945 war für den Bereich der „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nie ernsthaft strittig. So stellte das Bundesverfassungsgericht hierzu in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2005 betreffend den Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung fest: „Die bundesweite Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung hat elementare Bedeutung für die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. Eine in allen Landesteilen gleich funktionsfähige Sozialversicherung ist auf der Basis unterschiedlicher Ländergesetze praktisch kaum denkbar, so dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse entscheidend von einer bundesgesetzlichen Regelung abhängt. Nicht zuletzt die gesundheitsrechtlich gebotene bundesweite Angleichung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung lässt sich mit unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen nicht erreichen. Divergierendes Landesrecht könnte auch die Mobilität der Versicherten innerhalb des Bundesgebiets einschränken und für die abführungspflichtigen Unternehmen Handlungsbeschränkungen verursachen, so dass der Bund auch zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik Deutschland bundeseinheitliches Recht setzen durfte.“946 Diesen für die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG getroffenen Befund teilte auch der verfassungsändernde Gesetzgeber, als er im Zuge der Föderalismusreform 2006947 die bis dahin für sämtliche Materien der konkurrierenden Gesetzgebung geltende Regelung des Art. 72 Abs. 2 GG in ihrem Anwendungsbereich auf bestimmte Materien des Art. 74 GG (nämlich die in Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 22, 25, 26 enthaltenen) beschränkt hat. Die übrigen Materien sind hierdurch von der Erforderlichkeitsprüfung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG ausgenommen, weil Bund und Länder hinsichtlich ihrer übereinstimmend von der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung ausgehen948. Auch für Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und den hierin enthaltenen Regelungsbereich der „Sozialversicherung“ gilt das Erfordernis des Art. 72 Abs. 2 GG seitdem nicht mehr949. 945 Siehe grundlegend zu den Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG BVerfGE 106, S. 62 (135 ff.). 946 BVerfGE 113, S. 167 (198). Vgl. ferner BVerfGE 114, S. 196 (222 f.) zur Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Regelung hinsichtlich der Beitragssätze für die Sozialversicherung. 947 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034. 948 Siehe die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/813, S. 9, 11. 949 Siehe auch Hans-Jürgen Papier, Sozialstaat und berufsständische Versorgung, AnwBl. 2007, S. 97 (100).

II. Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung

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III. „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Landesgesetzgebung 1. Keine abschließende Regelung durch Bundesgesetzgeber Als Materie der konkurrierenden Gesetzgebung steht die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht nur dem Bund zu, sondern nach Art. 72 Abs. 1 GG auch den Ländern, wenn und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat950. Gemeinhin wird davon ausgegangen, daß der Bundesgesetzgeber auf dem Gebiet der „Sozialversicherung“ von seiner Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht abschließend Gebrauch gemacht hat951. Daher können in den vom Bund nicht geregelten „Lücken“ die Länder gesetzgeberische Maßnahmen im Rahmen der Materie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG treffen. 2. Insbesondere: Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe a) „Sozialversicherung“ oder öffentlich-rechtliche Versicherung „eigener Art“? Ob die landesrechtlich geregelten Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe952 (berufsständische Versorgungswerke)953 zur konkurrierenden Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gehören, so daß sich die Landesgesetzgebungszuständigkeit mangels Gebrauchmachens durch den Bundesgesetzgeber aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergibt954, 950 Siehe zu den organisatorischen Anforderungen an den Begriffsinhalt der Materie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und den Auswirkungen auf die „Sperrwirkung“ im Rahmen dieser konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). 951 Siehe etwa BVerfGE 12, S. 319 (323); BVerwGE 87, S. 324 (326); BVerwG, NJW 1983, S. 2650; NJW 1994, S. 1888; OVG Münster, NJW 1990, S. 592; Michael Groepper, Die Rechtsprechung des BVerwG zum berufsständischen Versorgungsrecht, NJW 1999, S. 3008 (3009); Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 222. 952 Siehe zum Begriff des „Freien Berufs“ ausführlich Helge Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 36 ff. 953 Siehe ausführlich zu diesen Winfried Boecken, Berufsständische Versorgungswerke, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 22 Rn. 1 ff., passim; ders., Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, passim. 954 Vgl. BVerwG, Buchholz 430.4, Nr. 28 (v. 22.11.1994), S. 13 (14 f.); Peter Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 12 Rn. 45.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

oder ob sie eine „öffentlich-rechtliche Versicherung eigener Art“955 darstellen, für die mangels ausdrücklicher Zuweisung an den Bundesgesetzgeber eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder (Art. 70 GG) besteht, ist in der obersten Rechtsprechung des Bundes bislang offen gelassen worden.956 Einzelne Oberverwaltungsgerichte sowie ganz überwiegend das Schrifttum gehen jedoch zu Recht davon aus, daß es sich hierbei im verfassungsrechtlichen Sinne um „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG handelt, da die betreffenden Einrichtungen alle Merkmale des verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ erfüllen:957 Sie dienen der vorsorgenden Absicherung des sozialversicherungsfähigen Risikos „Alter“ bzw. „altersbedingte Erwerbslosigkeit“ im Wege einer Versicherung958, enthalten soziale Ausgestaltungsregularien und Ausgleichsmechanismen und sind öffentlich-rechtlich bzw. staatlich organisiert.959 Fraglich könnte die Einstufung als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG allerdings deshalb erscheinen, weil die Versorgungswerke mitunter auch als nichtrechtsfähige Anstalten organisiert, organisatorisch also nicht verselbständigt, sondern vielmehr rechtlich 955 BVerfGE 12, S. 319 (323); Thomas Mann, „Die Friedensgrenze“ zwischen Anwaltsversorgung und gesetzlicher Rentenversicherung, NJW 1996, S. 1315 (1317); für eine derartige Einstufung etwa Hartmut Kilger, Die Geschichte der Rechtsanwaltsversorgungswerke, AnwBl. 1998, S. 424 (425). 956 Siehe BVerfGE 12, S. 319 (323); hierauf Bezug nehmend auch BVerfG-Kammer, NJW 1990, S. 1653; BVerwGE 87, S. 324 (325 f.); BVerwG, NJW 1994, S. 1888; Franz Ruland, Verfassungsrechtliche Fragen aus der Pflichtmitgliedschaft in berufsständischen Versorgungswerken, JuS 1991, S. 1053 f. 957 So etwa OVG Saarland, Beschluß v. 13.11.1992, Az. 8 N 6/91; VGH Mannheim, Urt. v. 15.6.1989, Az. 9 S 3268/87; Winfried Boecken, Berufsständische Versorgungswerke, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 22 Rn. 96, 104; ders., Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 267 m. w. N.; Walter Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Beiträge zur Sozialversicherung – Festgabe für Johannes Krohn, 1954, S. 35 (50 ff.; „neuartige Form der Sozialversicherung“); Reinhard Hendler, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl., 1996, B. 6 Rn. 9 („sozialversicherungsrechtliche Sonderform der Rentenversicherung“); Hans-Jürgen Papier, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der PKV, 1992, S. 8; ders., Sozialstaat und berufsständische Versorgung, AnwBl. 2007, S. 97 (100); Hans Schneider, Die öffentlich-rechtliche Alterssicherung freier Berufe und das Grundgesetz, 1959, S. 55 („bislang noch unbekannte Unterart der Sozialversicherung“); Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 222, 393; Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 59 f. 958 Siehe ausführlich zum Versicherungsbegriff oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc); zum Versicherungsgedanken speziell hinsichtlich der berufsständischen Versorgungswerke Hartmut Kilger, Die Geschichte der Rechtsanwaltsversorgungswerke, AnwBl. 1998, S. 424 (425 ff.). 959 Siehe ausführlich hierzu insbesondere Winfried Boecken, Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 263 ff.; ders., Berufsständische Versorgungswerke, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 22 Rn. 104 ff.

II. Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung

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Teil eines anderen Verwaltungsträgers sind960, der Körperschaftsbegriff in Art. 86, 87 Abs. 2 GG hingegen gerade die rechtliche bzw. organisatorische Verselbständigung erfordert, um von zumindest teilrechtsfähigen Verwaltungseinheiten sprechen zu können961. Oben wurde allerdings bereits dargelegt, daß die Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG hinsichtlich einer bestimmten öffentlichrechtlichen Organisationsform („Körperschaften“ des öffentlichen Rechts) gerade nicht zum Begriffsinhalt der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gehören können, sondern hiervon losgelöste Anforderungen an die Sozialversicherungsträger aufstellen.962 Für die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ als solche ist danach lediglich eine – wie auch immer geartete – öffentlich-rechtliche bzw. staatliche Organisationsform maßgebend, die auch im Falle einer Organisation durch nichtrechtsfähige Anstalten bzw. rechtlich-organisatorisch nicht verselbständigte Verwaltungseinheiten erfüllt sein kann. Die darüber hinaus gehenden Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG determinieren nicht die Gesetzgebungsmaterie als solche, und sie binden – da sie nur für den Vollzug der Bundesgesetze gelten – nicht den Landesgesetzgeber hinsichtlich der rechtlichen Ausgestaltung seiner auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützten Maßnahmen. Mitunter wird die Qualifizierung der berufsständischen Versorgung als „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aber aus anderen Gründen abgelehnt. Die insoweit erhobenen Einwände gehen allerdings fehl: Daß die berufsständische Versorgung nicht auf Arbeitnehmer beschränkt ist, sondern typischerweise auch Selbständige umfaßt, ist ebenso unerheblich wie der gegebenenfalls zu konstatierende Umstand, daß die meisten hierin Einbezogenen aufgrund ihrer Einkommenshöhe nicht als sozial schutzbedürftig angesehen werden können963, denn – wie bereits dargelegt – ist die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG begrifflich weder auf Arbeitneh-

960 Siehe hierzu Winfried Boecken, Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 61 ff.; Michael Groepper, Die Rechtsprechung des BVerwG zum berufsständischen Versorgungsrecht, NJW 1999, S. 3008 (3010). 961 Siehe zum Erfordernis der rechtlich-organisatorischen Verselbständigung als Wesensmerkmal von Körperschaften oder sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 36 ff., insb. 42; vgl. ferner Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 50; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 86 Rn. 16. 962 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). 963 Mit diesen Einwänden aber etwa BayVerfGH, BayVGHE 12 (1959), II S. 14 (17 f.); Hans Schmidt-Lermann, Die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft bei der Bayerischen Ärzteversorgung, 1954, S. 52 ff.; weitere Nachweise bei Winfried Boecken, Berufsständische Versorgungswerke, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 22 Rn. 111, 116.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

mer noch auf die ausschließliche Einbeziehung sozial Schutzbedürftiger beschränkt.964 Daß die berufsständische Versorgung organisatorisch nicht an die Träger der klassischen Sozialversicherungszweige „angelehnt“ ist965, ist ebenfalls unbeachtlich, da – wie eben bereits dargelegt – die für die Ausfüllung der Begriffsmaterie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erforderliche öffentlich-rechtliche Organisation966 im Falle der berufsständischen Versorgungsträger gewahrt ist. Und der Hinweis darauf, daß die berufsständische Versorgung über die kollektive Eigenvorsorge hinaus eine wichtige arbeitsmarktpolitische Funktion erfülle, weil sie einer Überalterung der Berufsstände vorbeuge und damit der Erhaltung voll leistungsfähiger Freier Berufe diene,967 vermag ebensowenig zu überzeugen, da hiermit bloß ein neben der Absicherung verwirklichter Sekundäreffekt beschrieben wird, welcher auch der gesetzlichen Rentenversicherung innewohnt, ohne daß deshalb deren Einstufung als „Sozialversicherung“ ernsthaft in Zweifel zu ziehen wäre968. b) Einbeziehung der berufsständischen Versorgung in die Sozialversicherung Diskutiert wurde die Frage der Gesetzgebungskompetenz für die landesrechtlichen Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, ob eine Einbeziehung der dergestalt Abgesicherten in die gesetzliche Rentenversicherung – etwa im Falle einer sämtliche Bevölkerungsgruppen umfassenden „Bürgerversicherung“ – möglich ist969. Nach bisherigem Recht werden gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI diejenigen von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit, die (Pflicht-)Mitglied in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind. Eine Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung könnte dabei 964 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (4); ferner etwa Winfried Boecken, Berufsständische Versorgungswerke, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 22 Rn. 111; ders., Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 275 ff., 285 ff. 965 Dies als Einwand anführend etwa Hartmut Kilger, Die Geschichte der Rechtsanwaltsversorgungswerke, AnwBl. 1998, S. 424 (425). 966 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). 967 Dies als Einwand anführend wiederum Hartmut Kilger, Die Geschichte der Rechtsanwaltsversorgungswerke, AnwBl. 1998, S. 424 (425). 968 Siehe auch Winfried Boecken, Berufsständische Versorgungswerke, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 22 Rn. 113; ders., Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, 1986, S. 279 ff. 969 Siehe zu dieser Option für die „Zukunft“ der berufsständischen Versorgung etwa Hans-Jürgen Papier, Sozialstaat und berufsständische Versorgung, AnwBl. 2007, S. 97 (99 f.).

II. Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung

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entweder durch Streichung dieser Befreiungsmöglichkeit oder – zur Vermeidung einer Doppelbelastung durch berufsständische Versorgung und gesetzliche Rentenversicherung – durch Auflösung der bestehenden Versorgungseinrichtungen und Überführung der dort bestehenden Rechte und Pflichten in die gesetzliche Rentenversicherung erfolgen.970 Für beides besteht unproblematisch die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, wenn man wie hier auch die berufsständische Versorgung als Teil der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG betrachtet, da dann sogar die Aufhebung der bestehenden Versorgungseinrichtungen und die Überführung der dort bestehenden Rechte und Pflichten vom Bund auf Grundlage der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG geregelt werden könnte; das entgegenstehende Landesrecht würde durch die dann auch in diesem Bereich der Materie ausgeübte Bundesgesetzgebung zum Opfer der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG971. Aber auch wenn man – entgegen der hier vertretenen Sichtweise – die berufsständische Versorgung als in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fallende öffentlich-rechtliche Versicherung „eigener Art“ ansähe, bestünde die Bundeskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zur Einbeziehung der berufsständischen Versorgung (bzw. von deren Mitgliedern) in die gesetzliche Rentenversicherung (etwa durch Streichung der Befreiungsmöglichkeit nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI), da die gesetzliche Rentenversicherung unproblematisch Teil der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist und die berufsständische Versorgung hierdurch thematisch bzw. rechtlich überhaupt nicht berührt würde. Da der Bund die berufsständische Versorgung in diesem Fall mangels Gesetzgebungskompetenz nicht aufheben bzw. in die Rentenversicherung überführen könnte, bliebe die berufsständische Versorgung fortbestehen. Warum hierbei „schon die Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI an die Grenze dessen, was dem Bund verfassungskompetentiell an Regelungsbefugnissen noch eröffnet ist“, gehen solle972, erhellt sich nicht, da aus der parallelen Regelung zweier dann unterschiedlicher Materien („Sozialversicherung“ in Gestalt der Rentenversicherung durch den Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, „öffentlich-rechtliches Versicherungswesen“ in Gestalt der berufsständischen Versorgung durch die Länder gemäß Art. 70 GG) keine Sperrwirkung der Lan970 Siehe auch Hans-Jürgen Papier, Sozialstaat und berufsständische Versorgung, AnwBl. 2007, S. 97 (100). 971 Siehe auch Ulrich Lohmann, Die „Große Solidarität“ – verfassungsrechtlich möglich, ZIAS 2003, S. 247 (250). 972 Siehe zu dieser Ansicht Ulrich Lohmann, Die „Große Solidarität“ – verfassungsrechtlich möglich, ZIAS 2003, S. 247 (250), unter Hinweis auf das Rechtsgutachten von Rupert Scholz, Berufsständische Altersversorgung und gesetzliche Rentenversicherung: Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen gesetzgeberischer Umgestaltung, 1999, S. 114.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

des- für die Bundesgesetzgebung resultieren kann973. Die Kompetenz des Bundes zur Streichung des § 6 Abs. 1 Nr. 1 GG steht daher „außer Frage“974. Eine gänzlich andere und hier nicht zu beantwortende Frage ist dann allerdings wiederum die nach der materiellen, insbesondere grundrechtlichen Verfassungsmäßigkeit der Einbeziehung der berufsständischen Versorgung bzw. von deren Mitgliedern in die gesetzliche Rentenversicherung – sei es unter dem Aspekt einer dann gegebenenfalls eintretenden Doppelabsicherung oder des Verlusts der berufsständischen Versorgungspositionen, der selbst bei einer Überführung der Rechtsverhältnisse in die gesetzliche Rentenversicherung unter Umständen zu „beklagen“ wäre975.

IV. Materielle Legitimationswirkung der grundgesetzlichen Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“? Das Grundgesetz erwähnt oder bezieht sich auf die Materie „Sozialversicherung“ ausdrücklich an drei Stellen: in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, in Art. 87 Abs. 2 GG und in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Auch wenn es sich hierbei jeweils „nur“ um Kompetenznormen handelt, stellt sich gleichwohl die Frage, ob sich hieraus zugleich ein materiell-verfassungsrechtlicher Gehalt herleiten läßt, nach welchem das Grundgesetz die „Sozialversicherung“ nicht nur zum Gegenstand der föderalen Kompetenzverteilung macht, sondern sie darüber hinaus jedenfalls im Kern, also dem Grundsatz nach „billigt“. Eine solche „Billigung“ hätte zur Folge, daß Konflikte, welche die „Sozialversicherung“ im Hinblick auf andere, materielle Verfassungsgehalte (insbesondere Grundrechte) mit sich brächte, zumindest im Rahmen der Reichweite einer solchen kompetentiell-rechtlich vermittelten materiellen Legitimationswirkung gleichsam verfassungsimmanent von vornherein zugunsten der Sozialversicherung gelöst wären. Eine solche kompetentielle Legitimationswirkung wird dabei vor allem im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen diskutiert und soll daher an dieser Stelle näher untersucht werden.

973 Im Ergebnis ebenso Ulrich Lohmann, Die „Große Solidarität“ – verfassungsrechtlich möglich, ZIAS 2003, S. 247 (250). 974 So ausdrücklich auch Thomas Mann, „Die Friedensgrenze“ zwischen Anwaltsversorgung und gesetzlicher Rentenversicherung, NJW 1996, S. 1315 (1318). 975 Siehe zu den Vorzügen der berufsständischen Versorgung gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung Hans-Jürgen Papier, Sozialstaat und berufsständische Versorgung, AnwBl. 2007, S. 97 (99).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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1. Bedeutung einer materiellen Legitimierungswirkung von Kompetenznormen Daß die grundgesetzlichen Kompetenznormen in erster Linie dazu dienen, die staatlichen Befugnisse bzw. deren Wahrnehmung zwischen Bund und Ländern aufzuteilen, resultiert aus dem primären Regelungsgehalt der betreffenden Grundrechtsartikel (insb. Art. 70 ff. für den Bereich der Gesetzgebung, Art. 83 ff. für die Verwaltung)976 und ist unstreitig977. Die Notwendigkeit dieser Aufteilung ist eine Konsequenz der föderalen Struktur, welche das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vorsieht: Die Bundesrepublik ist ein Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG); die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt (Art. 30 GG). Im Bereich der Gesetzgebung, für welchen aufgrund der dort besonders zahlreichen und detaillierten Kompetenzzuweisungen die Diskussion um deren materielle Funktion am bedeutsamsten ist, wird dieser Grundsatz durch Art. 70 Abs. 1 GG präzisiert, wonach die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung haben, soweit nicht das Grundgesetz dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Eine solche Verleihung von Gesetzgebungsbefugnissen des Bundes erfolgt durch insbesondere die Kompetenzkataloge in den Art. 70 ff. GG, ferner etwa durch Art. 105 GG sowie durch einzeln im Grundgesetz verstreute Vorbehalte zur Regelung oder näheren Bestimmung einzelner Materien (etwa in Art. 4 Abs. 3 S. 2, 21 Abs. 3 oder 38 Abs. 3 GG). Diese Kompetenzbestimmungen entscheiden insoweit also darüber, für welche aus der Gesamtzahl möglicher Gesetzgebungsmaterien die Legislativgewalt des Bundes und für welche die der Länder zuständig ist, auf den jeweiligen Gebieten gesetzliche Regelungen zu treffen. Diese für sich gesehen zunächst einmal rein formelle Zuweisungsfunktion besagt aber jedenfalls im Grundsatz noch nichts über die inhaltliche Zulässigkeit der in Ausübung der betreffenden Kompetenz getroffenen Regelungen. Anerkanntermaßen nämlich enthält die Zuweisung einer Aufgabe grundsätzlich nur die Aussage darüber, ob zur Erfüllung einer Aufgabe Maßnahmen überhaupt vorgenommen werden dürfen bzw. wer zur Vornahme solcher Maßnahmen berechtigt ist, nicht hingegen werden hiermit bereits konkrete Eingriffsbefugnisse verliehen, welche über die materielle Erlaubtheit der Maßnahme entscheiden würden.978 Übt der Bund eine ihm zugewiesene Gesetzgebungskompetenz aus, 976 Siehe näher hierzu etwa Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 17 Rn. 2 ff., § 18 Rn. 1 ff. 977 Siehe statt vieler Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (187); Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (442). 978 Siehe etwa Helge Sodan, Gesundheitsbehördliche Informationstätigkeit und Grundrechtsschutz, DÖV 1987, S. 858 (865 f.); vgl. auch BVerfGE 4, S. 7 (15).

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richtet sich die materielle Verfassungsmäßigkeit des erlassenen Gesetzes primär nach den Grundrechten, deren vornehmliche Aufgabe es ist, die Freiheitssphäre des Bürgers vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen zu schützen979. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs bemißt sich dabei vor allem nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit:980 Die grundrechtseingreifende Maßnahme muß einen legitimen Gemeinwohlzweck verfolgen sowie zu dessen Erreichung geeignet und erforderlich sein; erforderlich ist sie, wenn keine milderen Mittel zur gleichwirksamen Erreichung des Ziels zur Verfügung stehen. Sind diese Voraussetzungen gewahrt, ist der Eingriff gleichwohl nur dann gerechtfertigt, wenn er sich als angemessen bzw. als verhältnismäßig im engeren Sinne erweist. Zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit werden die Schwere und Bedeutung der Grundrechtsbeeinträchtigung sowie die Gewichtigkeit des erstrebten Gemeinwohlzwecks ermittelt und gegeneinander abgewogen. Ergibt diese Abwägung, daß die Grundrechtsbeeinträchtigung außer Verhältnis zur Bedeutung des verfolgten Zwecks steht, ist die Maßnahme unverhältnismäßig und somit grundrechtsverletzend. Anderenfalls, d. h. bei hinreichender Gewichtigkeit und Gefährdung des Gemeinwohlzwecks, stellt sich die Maßnahme als angemessen bzw. verhältnismäßig und grundrechtskonform dar. Im Rahmen dieser eben beschriebenen Abwägung wäre der Grundrechtsexeget nun im Grundsatz bzw. unter Außer-Acht-Lassung etwaiger materieller Gehalte von Kompetenznormen nicht von vornherein gehindert, eine Gewichtung von Grundrechtsbeeinträchtigung und Gemeinwohlzweck zu extrahieren, welche eine gewichtige Anzahl von – oder im Extremfall sogar sämtliche – Maßnahmen, die in Ausübung insbesondere einer relativ eng begrenzten und/ oder besonders eingriffsintensiven Gesetzgebungskompetenz vorgenommen werden, für nicht grundrechtskonform erachten würde – mit der Folge, daß die betreffende Kompetenz mangels hinreichender Möglichkeit, sie materiell verfassungskonform auszuüben, weitgehend oder sogar komplett leerzulaufen droht. Würde man also beispielsweise die auf die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG981 gestützte Errichtung von Kernkraftwerken zur friedlichen Nutzung von Kernenergie im Hinblick auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) schlechthin als unangemessen wegen damit verbundener Gesundheitsgefahren oder als nicht erforderlich wegen der Möglichkeit zur Nutzung alternativer Energiequellen be979 Siehe BVerfGE 7, S. 198 (204 f.); 13, S. 318 (325 f.); 21, S. 362 (369); 61, S. 82, (101); 68, S. 193 (205); vgl. auch BVerfGE 4, S. 7 (15). 980 Siehe näher zu diesem etwa BVerfGE 76, S. 1 (50); 103, S. 332 (336 ff.); Horst Dreier, in: ders., Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Vorb. Art. 1 Rn. 145 ff.; Bernhard Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 445 ff. 981 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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werten982, so würde Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einer sinnvollen Ausnutzung der Kompetenz aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG983 praktisch immer im Wege stehen und diese Kompetenz somit unter Umständen faktisch leerlaufen. Die Diskussion um einen materiell-rechtlichen Legitimierungsgehalt von grundgesetzlichen Kompetenznormen dreht sich dabei nun um die Frage, ob und inwieweit aus diesen ein materieller Gehalt hergeleitet werden kann, welcher den Kompetenzzuweisungen bzw. dem auf ihrer Grundlage handelnden Gesetzgeber ein Entfaltungsminimum sichert, ohne welches die Inanspruchnahme der betreffenden Kompetenz wegen eventuell entgegenstehender Grundrechtsverbürgungen von vornherein sinnentleert sein könnte. Mit anderen Worten geht es darum, ob die Verfassung durch die Etablierung von Kompetenzen eine Wertentscheidung dahingehend trifft, daß die Wahrnehmung der Kompetenz zumindest im Kern oder im Rahmen einer näher zu bestimmenden Grenze auch materiell verfassungsgemäß ist bzw. sein muß, und dies bei der Prüfung von möglichen Grundrechtsverletzungen demgemäß zu berücksichtigen ist984. Diese Sichtweise würde sich demgemäß als ein Ausfluß des Grundsatzes von der „Einheit der Verfassung“985 darstellen, wonach das Grundgesetz eine systematische Einheit darstellt und alle Verfassungsnormen so zu interpretieren sind, daß Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen vermieden werden.

982 Diese angesichts der als bekannt vorausgesetzten Kontroversen um die Nutzung von Kernenergie zumindest nicht als völlig fernliegend zu beurteilende Sichtweise sei hier nur beispielhaft zur Problemillustration unterstellt. 983 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.). 984 Bezogen auf das im Absatz zuvor gebildete Kernenergie-Beispiel würde dies bedeuten, daß man der Kompetenz aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG (ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 [Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8. 2006 – BGBl. I, S. 2034], Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG) eine Wertentscheidung der Verfassung entnehmen müßte, daß die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken – trotz der damit verbundenen Gefahren – verfassungstoleriert ist, so daß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ihrer Nutzung jedenfalls nicht schlechthin entgegenstehen kann. Diese Wertung würde zwingend im Rahmen der oben beschriebenen Verhältnismäßigkeitsprüfung beachtet werden müssen bzw. diese Prüfung insoweit gar entbehrlich machen. Siehe zu diesem Beispiel auch BVerfGE 53, S. 30 (55 f.); Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (130); Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 (807); Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (446 f.). 985 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 71; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 131 ff.; vgl. auch BVerfGE 1, S. 14 (32 f.); 3, S. 225 (231).

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2. Rein formelles Kompetenzverständnis in der Anfangszeit des Grundgesetzes Vor allem in den ersten Jahren unmittelbar nach Erlaß des Grundgesetzes herrschte im Schrifttum die Meinung vor, daß dessen Kompetenzregelungen (insbesondere die der Art. 70 ff.) über deren rein aufgabenzuweisende bzw. -verteilende Funktion hinaus keine materielle Wirkung zukomme, die geeignet wäre, die in den Grundrechten manifestierten Freiheitsbereiche der Bürger zu begrenzen; die Kompetenzregelungen des Grundgesetzes wurden insofern als reine Kompetenznormen betrachtet; über die materielle Zulässigkeit der Kompetenzausübung urteilten ausschließlich und allein die Grundrechte.986 Auch das Bundesverfassungsgericht traf in einer frühen Entscheidung die Feststellung: „Die Grenzen für die Ausnutzung einer durch das Grundgesetz gewährten Gesetzgebungskompetenz werden ausschließlich durch die Grundrechte und sonstigen Verfassungsgrundsätze bestimmt“987. 3. Materielles Kompetenzverständnis in Rechtsprechung und Literatur im allgemeinen a) Materielles Kompetenzverständnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In der Folgezeit räumte indes das Bundesverfassungsgericht einzelnen Kompetenz- sowie Organisationsregelungen des Grundgesetzes über deren rein formelle, kompetenzzuweisende Funktion hinaus eine materielle Wirkung ein, welche grundsätzlich geeignet sei, Grundrechtsbeschränkungen zu legitimieren. So zog das Bundesverfassungsgericht im sog. Apothekenurteil hinsichtlich der Auslegung der Schrankenbestimmung in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG, welche ihrem Wortlaut nach nur die Berufsausübung erfaßte, aus der Bundesgesetzgebungskompetenz für die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen in Art. 74 (Abs. 1) Nr. 19 GG den Schluß, daß „das Grundgesetz Zulassungsregelungen nicht schlechthin hat ausschließen wollen“.988 In seiner ersten Entscheidung betreffend das Recht auf Kriegsdienstverweigerung stellte das Gericht ausdrücklich fest, daß die Wehrpflicht (welche zum damaligen Zeitpunkt ausschließlich 986 Siehe etwa Jürgen Biermann, Die Zulässigkeitsvoraussetzungen von staatlichen Monopolen im Grundgesetz, 1965, S. 164 ff.; Andreas Hamann, Rechtsstaat und Wirtschaftslenkung, 1953, S. 25; Herbert Krüger, Neues zur Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung und deren Schranken, NJW 1955, S. 201 (203); Rolf Stödter, Rechtsfragen des Zündwarenmonopols, 1953, S. 53 f. – Weitere Nachweise bei Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl., 1964, Vorb. II 6 a vor Art. 70 ff. (S. 1338). 987 BVerfGE 4, S. 7 (15). 988 BVerfGE 7, S. 377 (401).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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in Art. 73 Nr. 1 GG geregelt war und nicht wie mittlerweile in Art. 12a GG) „durch Art. 73 Nr. 1 GG gedeckt“ sei; wenn „diese Verfassungsbestimmung dem Bunde die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit für ,die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht für Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an‘ zuweist, so ist dies mehr als eine bloße Kompetenzbestimmung; die Verfassung selbst stellt klar, daß ein Bundesgesetz, das die allgemeine Wehrpflicht im bezeichneten Umfang einführt, ihr insoweit auch materiell nicht widerspreche“.989 Zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in Art. 12 GG durch Finanzmonopole, welche eine Erwähnung im Grundgesetz lediglich in den finanzverfassungsrechtlichen Kompetenznormen der Art. 105 Abs. 1, 106 Abs. 1, 108 Abs. 1 finden, stellte das Bundesverfassungsgericht fest: „Wenngleich diese Vorschriften nur Zuständigkeiten im Bereiche der Finanzverfassung regeln, ergibt sich doch aus ihnen, daß das Grundgesetz Finanzmonopole als eine besondere Form der Erhebung von Abgaben anerkennt. Diese Anerkennung bedeutet mehr als nur die Feststellung, daß es Finanzmonopole irgendwelcher Art überhaupt geben könne, nämlich zugleich die Bestätigung des Bestandes der beiden vorhandenen Finanzmonopole, des Branntweinmonopols und des Zündwarenmonopols. Sie waren dem Parlamentarischen Rat bei seinen Beratungen gegenwärtig [. . .]. Diese Bestätigung des Bestandes der Finanzmonopole enthält zugleich die grundgesetzliche Billigung ihrer Struktur im großen. Damit werden diejenigen Beschränkungen der freien wirtschaftlichen Betätigung des einzelnen, die sich aus der vom Grundgesetz angestrebten Struktur der Monopole notwendig ergeben, im Prinzip hingenommen und gebilligt“.990 In ähnlicher Weise sei aus dem Umstand, daß Art. 74 (Abs. 1) Nr. 11 GG dem Bund die Gesetzgebungszuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen zuweist und das hierzu den Gegensatz bildende öffentlich-rechtliche Versicherungswesen (abgesehen von der Sonderregelung über die Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12) somit der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder unterfällt, zu entnehmen, „daß jedenfalls die zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes bestehenden Versicherungsmonopole als solche anerkannt sind“; infolgedessen seien auch hier „diejenigen Beschränkungen der freien wirtschaftlichen Betätigung des Einzelnen im Prinzip hingenommen und gebilligt, die sich aus der vom Grundgesetz angetroffenen Struktur der Monopole notwendig ergeben“.991 Im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit von in Art. 10 GG eingreifenden Überwachungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes zog das Bundesverfassungsgericht, gestützt auf die Erwähnung dieser Institution in den Kompetenz- bzw. Organisationsnormen der Art. 73 (Abs. 1) Nr. 10 und Art. 87 Abs. 1 989

BVerfGE 12, S. 45 (50), siehe auch den 1. Leitsatz. BVerfGE 14, S. 105 (111). 991 BVerfGE 41, S. 205 (218 ff.); unter Berufung auf diese Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit der Nassauischen Brandversicherungsanstalt ohne ernsthafte Grundrechtsprüfung lapidar feststellend VG Koblenz, VersR 1991, S. 909 f. 990

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GG, den Schluß, daß es nicht Sinn der Verfassung sein könne, „zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind“.992 Und im Hinblick auf die vor allem an Art. 2 Abs. 2 GG zu messende Verfassungsmäßigkeit der friedlichen Nutzung von Kernenergie, welche in einer diesbezüglichen Verfassungsbeschwerde vor allem wegen „des Ausmaßes denkbarer Gefahren und einiger wesentlicher, bislang nicht hinreichend gelöster Schwierigkeiten“ in Zweifel gezogen wurde, urteilte das Gericht, „daß die Verfassung selbst die ,Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken‘ durch die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Nr. 11a GG im Grundsatz als zulässig gebilligt hat“.993 Zusammenfassend stellt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung fest, „daß auch aus Kompetenzvorschriften der Verfassung eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst folgt und daß dessen Verfassungsmäßigkeit nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte“.994 b) Materielles Kompetenzverständnis im Schrifttum In der Literatur995 bildete sich nicht zuletzt in Angesicht dieser Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine starke Strömung heraus, die zumindest im Grundsatz die Sichtweise teilt, daß den Kompetenz- sowie den Organisationsnormen des Grundgesetzes jedenfalls insoweit eine materiell-rechtliche, d. h. insbesondere eingriffslegitimierende Wirkung zukomme, als die betreffenden Kompetenz- und Organisationsnormen nicht von vornherein leerlaufen dürfen und die Einräumung der Kompetenz damit sinnlos wäre. Neben dem bereits oben erwähnten Grundsatz von der „Einheit der Verfassung“996 wird zur Be992

BVerfGE 30, S. 1 (20). BVerfGE 53, S. 30 (55 f.). 994 BVerfGE 53, S. 30 (56). 995 Siehe etwa Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 ff.; ders., Schlußwort (zu Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 ff.), DÖV 1983, S. 808 f.; Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (169 ff.); Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (431 ff.); Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 328 ff. – Zahlreiche weitere Nachweise bei Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895 (896, Fn. 18). 996 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 71; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 131 ff. 993

IV. Materielle Legitimationswirkung

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gründung auch das hiermit verwandte „effet-utile“-Prinzip herangezogen, welches verlange, „daß jeder Rechtstext und insbesondere die Verfassung so ausgelegt werden, daß jeder Artikel, jeder Satz, ja jedes Wort einen möglichst selbständigen Inhalt und Sinn erhält“997.998 Dabei weichen diese Literaturansichten in den Einzelheiten recht stark voneinander ab; von einer einheitlichen Linie im Hinblick auf die Einräumung einer materiell-legitimierenden Wirkung von grundgesetzlichen Kompetenznormen kann nicht gesprochen werden. Sind sich die Vertreter dieser Sichtweise zwar über das „Ob“ dieser materiellen Wirkung im Kern einig, bestehen doch – mitunter recht deutliche – Unterschiede hinsichtlich des „Wie“999. Mitunter wird grundgesetzlichen Kompetenznormen dabei in recht umfangreicher Weise eine materielle Legitimierungswirkung beigemessen: Hiernach soll die Grundrechtseinschränkung aus einzelnen Kompetenztiteln soweit möglich sein, daß das „ordnungsgemäße Funktionieren“ der in ihnen beschriebenen Materien und Institute gewährleistet ist (z. B. hinsichtlich des Währungswesens, Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG, des Luftverkehrs, Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG, oder der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Kriminalpolizei und im Verfassungsschutz, Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG), ferner sollen zahlreiche Kompetenztitel „bis zu einem gewissen Grad auch eine institutionelle Garantie“ der „hergebrachten“ Strukturen der Regelungsmaterien enthalten, wie sie bei Einführung der betreffenden Kompetenznormen bestanden – so etwa hinsichtlich der „herkömmlichen Grundzüge“ des bürgerlichen Rechts oder des Strafrechts (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), des Urheberrechts (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 GG), der „sozialstaatlichen Prinzipien“ des Arbeitsrechts (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) oder der „hergebrachten Grundsätze“ des Vereins-, Versammlungs- und Aufenthaltsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 3, 4 GG).1000 Überwiegend erstrecken die Befürworter einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung diese im Ergebnis jedoch lediglich auf ein „Begriffsminimum“ der Kompetenznormen, welches für jede Kompetenznorm gesondert zu ermitteln sei.1001 Zwar sollen Konfliktfälle zwischen Grundrechten und Kompe997 Albert Bleckmann, Schlußwort (zu Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 ff.), DÖV 1983, S. 808. 998 Siehe etwa Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129. 999 Vgl. Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (433). 1000 Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (131); relativ weitgehende Anerkennung materiell-rechtlicher Gehalte insgesamt wohl auch bei Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 328 ff. 1001 Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (169 ff.); Bodo Pieroth, Mate-

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tenzen im Wege des schonendsten Ausgleichs unter möglichst geringer Beeinträchtigung ihrer jeweiligen Geltungsbereiche aufeinander hin interpretiert werden.1002 Konstitutiv und somit „verfassungsfest“ sei dabei allerdings – wegen der primären Funktion der Kompetenznormen als Zuweisungsnormen – nur der „Begriffskern“ der jeweiligen Kompetenznorm, welcher zur sinnvollen bzw. funktionstüchtigen Entfaltung der Kompetenzmaterie unentbehrlich ist; dasjenige, was über diesen Begriffskern hinausgeht, müsse sich an den Grundrechten messen lassen.1003 Im Ergebnis vergleichbar, in den Einzelheiten differierend, wird dabei teils noch zwischen deklaratorischen und konstitutiven Kompetenznormen unterschieden und nur den letzteren ein materiell-rechtlicher Gehalt zugestanden1004, teils der beschriebene materiell-rechtliche Gehalt „nur dort“ anerkannt, wo eine „sinnvolle“ Kompetenzausübung zwingend mit Grundrechtsbeschränkungen verbunden ist1005, teils die „Verfassungstolerierung“ umso eher angenommen, „je bestimmter der Regelungsgegenstand gefaßt ist“, weil dann die Inanspruchnahme der Kompetenz stärker absehbar sei1006. c) Kritische Stimmen bzgl. eines materiellen Kompetenzverständnisses Das Meinungsspektrum im Schrifttum zu einem materiell-rechtlichen Kompetenzverständnis ist dadurch umso unübersichtlicher, als es zwar auch zahlreiche Stimmen gibt, die – zumindest vordergründig – die Annahme einer materiellrechtlichen Legitimierungswirkung von grundgesetzlichen Kompetenznormen

riale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (442); siehe ferner Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 140 f.; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 145 ff.; einschränkend, aber im Ergebnis vergleichbar Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 (806). 1002 Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (182). 1003 Christian Pestalozza, a. a. O., S. 183 f. 1004 Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (169 ff.): Deklaratorisch seien dabei diejenigen Kompetenznormen des Grundgesetzes, welche auf an anderer Stelle im Grundgesetz eingeräumte Beschränkungsmöglichkeiten Bezug nehmen, etwa Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG („Staatsangehörigkeit“) in bezug auf Art. 16 Abs. 1 GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 („Vereins- und Versammlungsrecht“) in bezug auf Art. 9 Abs. 1 und Art. 8 GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 („Enteignung“) in bezug auf Art. 14 GG – insoweit „bedarf“ es für sie aber auch keiner eigenständigen materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung, da sich diese bereits aus den in Bezug stehenden anderen Verfassungsnormen ergibt. 1005 Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 (806 f.). 1006 Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 139.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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kritisieren, sich aber gleichwohl nicht durchringen können, diesen Kompetenznormen keinerlei materielle Wirkung beizumessen1007: So halten es die Richter Mahrenholz und Böckenförde in ihrem abweichenden Sondervotum1008 zur Kriegsdienstverweigerer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.4.19851009 für „verfassungsrechtlich unzulässig, [. . .] Begrenzungen und Beschränkungen der Grundrechte [. . .] aus bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften [. . .] oder Organisationsregelungen [. . .] herzuleiten“1010, weil die materielle Aufladung von Kompetenznormen mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen deren Bestimmung als die Handlungsbereiche von Bund und Ländern abgrenzende Normen in unzulässiger Weise interpretativ umdeute und hiermit ein sehr breites und unbestimmtes Arsenal möglicher Grundrechtseinschränkungen geschaffen würde, für dessen Auflösung die Verfassung keine Maßstäbe enthalte1011. Der normative Gehalt der bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes liege vielmehr darin, „daß in den von ihnen bezeichneten Bereichen das Handeln der Staatsgewalt des Bundes – gegebenenfalls unter näher festgelegten einschränkenden Bedingungen – erlaubt“ bzw. „nicht schlechthin ausgeschlossen“ sei1012. Letztlich besteht aber in solch einem normativen Gehalt generellen Erlaubtseins wiederum eine materiell-rechtliche Wirkung, die über die bloße Zuweisung von Zuständigkeiten an den Bund oder an die Länder hinausgeht1013. Und was dieser den Kompetenznormen zugestandene normative Gehalt konkret für die Grundrechtsprüfung und die Behandlung gleichwohl möglicher Kollisionen zwischen Kompetenzausübung und Grundrechtsgehalt bedeutet, wird nicht weiter beleuchtet. Andere Stimmen im Schrifttum kritisieren unter Hinweis auf eine Umgehung der abgestuften und differenzierten Gesetzesvorbehalte im Grundrechtskatalog ebenfalls die Annahme einer materiellen Legitimierungswirkung, nach der die aus der Inanspruchnahme einer Kompetenz resultierenden Regelungen zumindest im Grundsatz verfassungstoleriert seien, gestehen eben diese Wirkung dann aber doch in den Fällen zu, in denen die Ausübung der Gesetzgebungsbefugnis unumgänglich mit den Grundrechten kollidiere, da die verfassungsrechtliche 1007 Am konsequentesten eine materiell-rechtliche Wirkung negierend wohl noch Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895 (899), der selbst die Zulässigkeit von „Ausnahmen aufgrund ,sinnlosen Verfassungsrechts‘“, also aufgrund ansonsten leerlaufender Kompetenznormen, bezweifelt, auch wenn er dies vornehmlich nur damit begründet, daß diesbezüglich „jedenfalls die hier zumeist genannten Beispiele untauglich“ seien. 1008 BVerfGE 69, S. 57 ff. 1009 BVerfGE 69, S. 1 ff. 1010 BVerfGE 69, S. 57 (59). 1011 BVerfGE 69, S. 57 (60 ff.). 1012 BVerfGE 69, S. 57 (60). 1013 So auch Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenzund Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (433).

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Fundierung bestimmter Gesetzgebungsbefugnisse nicht „eine leere Worthülse“ und nicht von vornherein rechtlich bedeutungslos sein könne.1014 Auch hier bleibt zudem im Unklaren, welche konkreten Auswirkungen dies für die Kollision zwischen Kompetenzausübung und Grundrechtsausübung haben soll – dies umso mehr angesichts des Umstandes, daß nahezu jede Kompetenzausübung zu irgendwie gearteten Eingriffswirkungen in den umfassend gewährten Grundrechtsschutz der Bürger führt. Wiederum andere Stimmen1015 gehen davon aus, daß es hinsichtlich der Annahme einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung darauf ankomme, daß der Verfassungsgeber der Kompetenznorm auch eine materiell-rechtliche Wirkung habe beimessen wollen, sie also gerade (auch) zur Lösung eines erkannten Konfliktes zwischen Grundrecht und dem Regelungsgegenstand der Kompetenznorm geschaffen habe. Dies aber sei selten der Fall, da der Verfassungsgeber regelmäßig davon ausgehe, „daß der Gegenstand seiner Kompetenzregelung verfassungsrechtlich zulässig durch den durch die Verfassung bestimmten Gesetzgeber geregelt werden kann“, so daß er in der Regel nicht den Willen habe, „mit den Kompetenzvorschriften eine zusätzliche, in seinen Augen für die von ihm angenommene Situation der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Kompetenzgegenstands überflüssige materiell-rechtliche verfassungsrechtliche Absicherung des Kompetenzgegenstandes vorzunehmen“.1016 Jedoch bedeute dies nicht, „daß Kompetenznormen im Regelfall ohne jeglichen materiell-rechtlichen Erkenntniswert wären“; dieser bestehe „in der Regel“ darin, daß sie eine „Interpretationshilfe für die Auslegung anderer verfassungsrechtlicher Bestimmungen ohne eigenständige konstitutive materiell-rechtliche Wirkung“ darstellten.1017 Inwieweit hieraus aber im Ergebnis Unterschiede zur Annahme einer eigenständigen konstitutiven materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung resultieren und welche Auswirkungen diese „Interpretationshilfe“ auf den Kollisionsfall zwischen Kompetenzausübung und Grundrechtsgehalt hat, wird nicht näher verdeutlicht. d) Fazit der Bestandsaufnahme Die Bestandsaufnahme zeigt, daß eine materiell-rechtliche Legitimierungswirkung von grundgesetzlichen Kompetenz- (und Organisations-)Bestimmungen im Grundsatz mehrheitlich anerkannt wird, sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom überwiegenden Schrifttum. Selbst die meisten „kritischen“ Stim1014 So etwa Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 (806 ff.). 1015 Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 ff. 1016 Joachim Becker, a. a. O., S. 404. 1017 Joachim Becker, a. a. O., S. 404.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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men verneinen eine solche Wirkung nicht zur Gänze. Uneinheitlich beurteilt wird dabei jedoch, ob diese Wirkung generell oder nur unter bestimmten Voraussetzungen oder nur im Ausnahmefall, ob sie für alle Kompetenztitel oder nur für bestimmte und in welchem konkreten Umfang sie bestehen soll, d. h. insbesondere welche konkreten Folgerungen für die Grundrechtsprüfung aus ihr resultieren. Bevor dieser Frage im Rahmen einer eigenen Bewertung nachgegangen wird, soll aber im folgenden zunächst noch beleuchtet werden, inwieweit eine materiell-rechtliche Legitimierungswirkung gerade für den für die vorliegende Untersuchung besonders interessierenden Kompetenztitel „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG anerkannt wird. 4. Materielles Kompetenzverständnis für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ im speziellen a) Bundesverfassungsgericht aa) Ablehnung einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung? Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Rechtsprechung bisher nur selten explizit zu einer materiell-rechtlichen Wirkung von grundgesetzlichen Kompetenz- und Organisationsnormen, welche sich auf Sozialversicherung beziehen (namentlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG), geäußert. Soweit dies in den nachfolgend dargestellten Entscheidungen geschehen ist, scheint der Befund zumindest auf den ersten Blick eher ein negativer zu sein. In seiner Entscheidung vom 9.4.19751018 betreffend die (erfolglosen) Verfassungsbeschwerden einzelner Allgemeiner Ortskrankenkassen gegen deren Auflösung und Vereinigung mit benachbarten Allgemeinen Ortskrankenkassen durch Rechtsverordnung eines Landes, auf welche es in der Folgezeit insoweit mehrfach Bezug nahm1019, führte das Gericht aus, daß sich dem Grundgesetz und insbesondere der Erwähnung der Institution „Sozialversicherung“ bzw. „soziale Versicherungsträger“ in den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG keine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder doch seiner tragenden Organisationsprinzipien entnehmen lasse.1020 Und in einer früheren Entscheidung (vom 2.5.1967) führte es betreffend der Grundrechtsfähigkeit eines Rentenversicherungsträgers aus, daß – an1018

BVerfGE 39, S. 302 ff. Insbesondere in BVerfGE 77, S. 340 (344); 89, S. 365 (377); BVerfG-Kammer DVBl. 2004, S. 1161 (1163). 1020 BVerfGE 39, S. 302 (314 f.). 1019

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ders als etwa hinsichtlich Gemeinden angesichts Art. 28 GG – eine solche nicht aus Art. 87 Abs. 2 GG herleitbar sei, „weil diese Bestimmung zu den [. . .] Organisationsregelungen der Verfassung gehört und überdies nur als Kompetenznorm für die Abgrenzung der Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu verstehen ist“.1021 In der Literatur wurden diese Aussagen des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf die vorliegend interessierende materiell-rechtliche, potentiell grundrechtsbeschränkende Legitimierungswirkung der betreffenden Kompetenz- und Organisationsregelungen vielfach so gedeutet, daß das Bundesverfassungsgericht eine solche materielle Wirkung betreffend „Sozialversicherung“ für die Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG verneint habe1022. Bei genauerer Betrachtung erscheint diese Interpretation der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts aber keinesfalls zwingend. Denn die den genannten Entscheidungen zugrunde liegenden Gegenstände boten gar nicht die Notwendigkeit, zu der oben beschriebenen, potentiell grundrechtsbeschränkenden Legitimierungswirkung der genannten Normen Stellung zu nehmen. In beiden Entscheidungen ging es nicht um die materielle Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen, sondern die betreffenden Ausführungen erfolgten anläßlich der Frage, ob und inwieweit die als Beschwerdeführer auftretenden sozialen Versicherungsträger grundrechtsfähig sind. In der Entscheidung vom 2.5.1967 machte das Gericht die betreffenden, oben genannten Ausführungen, um den Unterschied zwischen Art. 28 GG herauszuarbeiten, welcher den Gemeinden ebenso wie natürlichen Personen einen verfassungsrechtlich garantierten Raum gegen Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit zugesteht, wohingegen ein solcher Gehalt dem Art. 87 Abs. 2 GG hinsichtlich Sozialversicherungsträgern wegen seiner (primären) Funktion als Organisations- bzw. „Kompetenznorm für die Abgrenzung der Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern“ nicht zukomme und er insoweit keinen dem Art. 28 GG vergleichbaren Regelungsgehalt aufweise1023; nur insoweit wurde eine materieller Gehalt des Art. 87 Abs. 2 GG abgelehnt. Ob dagegen Art. 87 Abs. 2 GG über seinen organisatorisch-kompetentiellen Gehalt hinaus eine potentiell grundrechtsbeschränkende Wirkung zukommen kann, mußte nicht entschieden werden. Allein aus der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, daß es sich hierbei „nur“ um eine Kompetenznorm handle1024, kann daher nicht der Schluß gezogen, daß (auch) einer solchen 1021

BVerfGE 21, S. 362 (371). So etwa Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisationsund Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (406); Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (428, 448); Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895. 1023 Vgl. BVerfGE 21, S. 362 (371). 1024 BVerfGE 21, S. 362 (371). 1022

IV. Materielle Legitimationswirkung

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materiell-rechtlichen Wirkung eine Absage erteilt werden sollte, zumal das Gericht – wie weiter oben dargelegt – sie im Hinblick auf zahlreiche andere Kompetenz- oder Organisationsnormen ausdrücklich anerkannt hat. Vielmehr wurde durch diese Formulierung auf den jedenfalls primären Gehalt der Norm als Organisations- bzw. Kompetenznorm hingewiesen. In der Entscheidung vom 9.4.1975 verneinte das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsfähigkeit des beschwerdeführenden Sozialversicherungsträgers vor allem unter Hinweis darauf, daß dieser seinen Anspruch auf Fortbestand auch nicht darauf stützen könne, daß die Sozialversicherung in ihrer auf dem Selbstverwaltungsgrundsatz aufgebauten Form als Versorgungssystem vom Grundgesetz gewährleistet sei; denn die Erwähnung der Institution „Sozialversicherung“ in den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG sei nicht als „Indiz für eine verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung zu begreifen“.1025 Gemeint war hiermit aber augenscheinlich das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Bestandsschutzgarantie für das bestehende System der Sozialversicherung in seiner konkreten organisatorischen Ausgestaltung, also den jeweiligen status quo. Denn an anderer Stelle führte das Gericht aus, daß sich dem Grundgesetz keine „Verfassungsgarantie des bestehenden Systems oder doch seiner tragenden Organisationsprinzipien“ entnehmen lasse1026. Ferner bemerkte das Gericht, es resultiere auch aus dem Gebot des sozialen Rechtsstaates (Art. 20 Abs. 1 GG) für den Einzelnen kein Anspruch auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein „so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem“; im Gegenteil geböten es die sich ständig wandelnden Verhältnisse auf diesem Gebiet, dem einfachen Gesetzgeber möglichst viel Freiheit zu belassen, diesen Veränderungen im Interesse der sozialen Sicherung mit neuen Lösungen gerade im Bereich der Organisation Rechnung zu tragen, so daß es mit dem Grundgesetz sogar zu vereinbaren wäre, „wenn z. B. der Gesetzgeber sämtliche Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zusammenfaßte und in einem Bundesamt für Krankenversicherung als bundesunmittelbare Körperschaft organisierte“.1027 Wiederum wurde also nur insoweit eine materiell-rechtliche Wirkung der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG verneint, als hieraus keine verfassungsrechtliche Bestandsgarantie des organisatorischen status quo der Sozialversicherung abgeleitet werden könne, nicht aber wurde augenscheinlich zu der Frage Stellung genommen, inwieweit eine potentiell grundrechtsbeschränkende materielle Wirkung hinsichtlich der Sozialversicherung bzw. ihrer prägenden Strukturelemente „als solcher“ besteht1028. Lediglich soweit man diese Wirkung – wie einzeln vertreten – soweit 1025

BVerfGE 39, S. 302 (315). BVerfGE 39, S. 302 (314) – Hervorhebung durch Verfasser. 1027 BVerfGE 39, S. 302 (315); vergleichbar auch BVerfGE 36, S. 383 (393). 1028 Diese Deutung des Urteils teilt Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 138 f. 1026

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versteht, daß hiermit zugleich die „hergebrachten“ Strukturen der in den Kompetenz- und Organisationsnormen genannten Gebiete oder Institutionen verfassungsrechtlich gebilligt und insoweit auch grundrechtsbeschränkend seien1029, wird mit den betreffenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts einem derart weiten Verständnis der materiell-rechtlichen Legitimationswirkung eine Absage erteilt. Auch den nachfolgenden Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht auf die betreffenden Aussagen aus dem Beschluß vom 9.4.1975 Bezug nahm, läßt sich nichts anderes entnehmen: Sowohl in einer Senatsentscheidung vom 15.12.19871030 als auch in einem Kammerbeschluß vom 9.6.20041031 wurden diese Aussagen wiederum wie im Beschluß vom 9.4.1975 herangezogen, um das Fehlen einer Grundrechtsfähigkeit von Sozialversicherungsträgern zu begründen, nicht hingegen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen. Um letztere ging es hingegen zwar in einer Entscheidung vom 8.2.19941032 über eine auf die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde, mittels welcher der Beschwerdeführer sich gegen die unterschiedliche Höhe der Beitragssätze bei den Krankenkassen der gesetzlichen Krankenversicherung wandte. Diese Unterschiede wurden vom Bundesverfassungsgericht, allerdings nur „im Grundsatz“, damit gerechtfertigt, daß der gegliederte Aufbau der gesetzlichen Krankenversicherung, d. h. die Untergliederung in verschiedene Krankenkassen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Zur Herleitung des letzteren wiederum wurde der Hinweis auf die fehlende verfassungsrechtliche Garantie einer bestimmten Organisationsform der gesetzlichen Krankenversicherung verwendet1033. Insoweit wurde also gerade wieder das Fehlen einer den organisatorischen status quo sichernden materiellen Wirkung der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG zur (begrenzten) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung benutzt, nicht hingegen wurde eine generelle negative Aussage über eine potentiell grundrechtsbeschränkende materielle Wirkung der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ als solcher getroffen. Als Fazit läßt sich folglich festhalten, daß – entgegen der häufig im Schrifttum vorgenommenen Bewertung1034 – in den genannten Entscheidungen des 1029 Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (131), siehe dazu auch schon oben. 1030 BVerfGE 77, S. 340 (344). 1031 BVerfG-Kammer, DVBl. 2004, S. 1161 (1163). 1032 BVerfGE 89, S. 365 ff. 1033 BVerfGE 89, S. 365 (377 f.). 1034 Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (406); Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (428, 448); Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895; siehe bereits oben.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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Bundesverfassungsgerichts keine, insbesondere keine negativen, Aussagen über einen materiell-rechtlichen Gehalt von grundgesetzlichen Kompetenzregelungen getroffen wurde, welcher zur Rechtfertigung von Eingriffen in (Freiheits-) Grundrechte herangezogen werden könnte. Das Gericht hat hier einen solchen Gehalt lediglich insoweit negiert, als den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG keine (materiell-rechtliche) Garantie einer bestimmten Organisation der Sozialversicherung zu entnehmen ist; aus den betreffenden Normen ergebe sich insoweit „weder ein Änderungsverbot noch ein Gestaltungsgebot“1035. bb) Annahme einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung In einer jüngeren Entscheidung vom 18.7.2005 zur Verfassungsmäßigkeit des Risikostrukturausgleichs1036 hat das Bundesverfassungsgericht indes im Rahmen seiner Ausführungen eine Argumentation benutzt, welche eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung des im Grundgesetz verwendeten Begriffes „Sozialversicherung“ mehr als nur andeutet. Das Gericht bezeichnet es hier zunächst als „ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung als ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut durch Einrichtung eines sozialen Krankenversicherungssystems sicherzustellen und die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel auf der Grundlage einer Pflichtversicherung von den Versicherten durch Erhebung von auf sozialen Ausgleich angelegten, einkommensbezogenen und damit nicht risikoäquivalenten Beiträgen selbst aufbringen zu lassen“1037. Sodann führt es – unter Hinweis auf vorangegangene Entscheidungen seiner Judikatur – aus: „Der Verfassungsgeber fand ein überkommenes mehrgliedriges Sozialversicherungssystem vor, für das die auf Umverteilung und sozialen Ausgleich angelegte einkommensbezogene Beitragsfinanzierung ein typisches Strukturmerkmal war [. . .]. Das Bundesverfassungsgericht hat daher die Neuerrichtung, die Existenz oder die Erweiterung von beitragsfinanzierten, auf dem Gedanken des sozialen Ausgleichs und der Umverteilung beruhenden Pflichtversicherungen jeweils gebilligt [. . .]“1038. Interessant ist hierbei im Hinblick auf das letztgenannte Zitat die innere Verknüpfung der beiden Sätze durch das Wort „daher“: Das Bundesverfassungsgericht scheint insoweit davon auszugehen, daß die „Billigung“ der „auf dem Gedanken des sozialen Ausgleichs und der Umverteilung beruhenden Pflichtversicherungen“ und mithin die aus dem Pflichtversicherungscharakter und der 1035 1036 1037 1038

So ausdrücklich BVerfGE 89, S. 365 (377). BVerfGE 113, S. 167. BVerfGE 113, S. 167 (218). BVerfGE 113, S. 167 (219) – Hervorhebung durch Verfasser.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Umverteilung resultierenden Grundrechtsbeeinträchtigungen allein schon dadurch erfolgen kann bzw. erfolgt sei, daß der Verfassungsgeber ein Sozialversicherungssystem vorgefunden hat, dem diese „typischen Strukturmerkmale“ inhärent sind. Diese Argumentation beinhaltet im Ergebnis nichts anderes als eine Legitimation dieser „typischen Strukturmerkmale“ aus sich selbst heraus, und damit eine eigenständige materiell-rechtliche Legitimationskraft des in der Verfassung verwendeten Begriffs „Sozialversicherung“ im Hinblick auf seine vom Verfassungsgeber vorgefundene Ausprägung. Zwar werden an dieser Stelle die den Begriff „Sozialversicherung“ (bzw. „soziale Versicherungsträger“) enthaltenden Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG vom Bundesverfassungsgericht noch nicht ausdrücklich als die diese Legitimationswirkung vermittelnden Normen benannt; mittelbar geschieht dies jedoch durch den Hinweis darauf, daß „der Verfassungsgeber“ das überkommene Sozialversicherungssystem „vorfand“. Sodann untermauert das Bundesverfassungsgericht die Annahme einer materiellen Legitimation der Sozialversicherung durch die Verfassung selbst, indem es an späterer Stelle derselben Entscheidung vom „klassischen, vom Verfassungsgeber grundsätzlich gebilligten Konzept einer Sozialversicherung“1039 sowie von „der in verschiedenen Bestimmungen des Grundgesetzes zum Ausdruck gebrachten (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2, Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) und entstehungsgeschichtlich belegten grundsätzlichen Anerkennung des klassischen Modells der Sozialversicherung durch das Grundgesetz“1040 spricht – wegen der Bezugnahme auf die genannten Kompetenznormen des Grundgesetzes ist dies der Sache nach also nichts anderes als kompetentielle, sprich aus Kompetenznormen hergeleitete, materielle Legitimationswirkung dem Grunde nach – zumal die Sozialversicherung an anderer Stelle im Grundgesetz keine Erwähnung findet. Bemerkenswert ist hierbei, daß die vom Bundesverfassungsgericht zum Beleg dieser Aussagen herangezogenen sechs Entscheidungen seiner eigenen Judikatur1041 diesen Befund kaum stützen: In vier dieser Entscheidungen wurden zwar jeweils die Neuerrichtung, die Existenz oder die Erweiterung von beitragsfinanzierten, auf dem Gedanken des sozialen Ausgleichs und der Umverteilung beruhenden Pflichtversicherungen zum Gegenstand der Entscheidung gemacht, die hieraus resultierenden Beeinträchtigungen von (Freiheits-)Grundrechten aber nicht unter Hinweis auf das vom Verfassungsgeber vorgefundene, überkommene Sozialversicherungssystem mit diesen typischen Strukturelementen „aus sich 1039

BVerfGE 113, S. 167 (220). BVerfGE 113, S. 167 (221). 1041 Das Gericht verweist a. a. O., S. 219 insoweit auf: BVerfGE 29, S. 221 (235 ff.); 44, S. 70, (89 f.); 76, S. 256 (300 ff.); 79, S. 223 (236 f.); 103, S. 172 (184 f.); 103, S. 197 (221). 1040

IV. Materielle Legitimationswirkung

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selbst heraus“ gerechtfertigt. Vielmehr wurden im Rahmen einer „normalen“ Grundrechts- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung die Beeinträchtigungen der Grundrechtsträger und die mit der Existenz, Schaffung oder Ausweitung der Sozialversicherungspflicht bezweckten öffentlichen Belange gegenübergestellt und abgewogen – freilich jeweils mit dem Ergebnis, daß letztere überwögen und den Grundrechtseingriff somit rechtfertigten.1042 In den übrigen beiden Entscheidungen ging es um Ungleichbehandlungen, welche nicht unmittelbar aus den vom Bundesverfassungsgericht als „typische Strukturmerkmale“ erkannten Prinzipien der Sozialversicherung (zwangsweise Einbeziehung, einkommensabhängige Beiträge, Umverteilung und sozialer Ausgleich) resultierten, sondern aus spezifischen Einzelproblemen, nämlich zum einen aus Kürzungen der Leistungen von Versorgungsempfängern aus der gesetzlichen Rentenversicherung1043 und zum anderen aus der Erweiterung der Beitragsbemessungsgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherung der Rentner für den Fall des zusätzlichen Beziehens von beamtenrechtlichen Versorgungsbezügen1044. In beiden Fällen wurden die betreffenden Ungleichbehandlungen ebenfalls nicht unter Hinweis auf die vom Verfassungsgeber vorgefundenen Strukturprinzipien der Sozialversicherung quasi „aus sich selbst heraus“ gerechtfertigt, sondern nach den „normalen“ für Art. 3 Abs. 1 GG geltenden Prüfungskriterien, d. h. unter Ermittlung eines die Ungleichbehandlung rechtfertigenden sachlichen Grundes, der nicht von vornherein in der typischen Struktur der Sozialversicherung begründet lag.1045 Allerdings wird man davon ausgehen müssen, daß die oben dargelegten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zum Risikostrukturausgleich1046 vor diesem Hintergrund nicht einfach nur unglücklich formuliert sind und eine potentiell grundrechtsbeschränkende materielle Legitimationswirkung der „typischen Strukturelemente“ von „Sozialversicherung“ nicht implizieren wollten. Vielmehr verschafft sich das Bundesverfassungsgericht hiermit für die Zukunft einen wirkungsvollen Argumentationsstrang, mittels dessen es in zukünftigen Entscheidungen die Legitimation von Ausweitungen der Sozialversicherung und mit ihr verbundener Beeinträchtigungen von Freiheits- und Gleichheitsrechten gleichsam „verfassungsimmanent“ vornehmen könnte. Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts machen die Notwendigkeit nicht kleiner, die materiell-rechtliche Legitimationskraft von grundgesetzlichen Kompetenz- und Organisationsnormen und damit insbesondere die des in den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG enthaltenen Begriffes „Sozialversicherung“ zu hinterfragen. 1042 Siehe im einzelnen BVerfGE 29, S. 221 (235 ff.); 44, S. 70, (89 f.); 103, S. 172 (184 f.); 103, S. 197 (221). 1043 BVerfGE 76, S. 256 ff. 1044 BVerfGE 79, S. 223 ff. 1045 Vgl. im einzelnen BVerfGE 76, S. 256 (300 ff.); 79, S. 221 (235 ff.). 1046 Siehe oben, BVerfGE 113, S. 167 (219).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

b) Bundessozialgericht Eine kompetentielle Legitimationswirkung für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angenommen hat das Bundessozialsozialgericht in einer Entscheidung vom 29.1.1998 über die Zulässigkeit der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen über die Sozialversicherungsbeiträge1047. Im Hinblick auf die dort vom Kläger unter anderem behauptete Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG wegen einer Ungleichbehandlung zwischen den Beitragszahlern (wie dem Kläger) und der Gesamtgesellschaft bzw. Personen, die sich mit ihren Einkünften nicht an der Finanzierung der Sozialversicherung beteiligten, führte das Gericht diesbezüglich aus: „Die Beitragsvorschriften [. . .] verstoßen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. [. . .] Soweit der Gesetzgeber sich [. . .] bei der Aufgabenzuweisung und Finanzierung innerhalb der ihm von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gesetzten Grenzen hält, ist die damit verbundene Ungleichbehandlung der beiden Gruppen gemessen an Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Wenn der Gesetzgeber die Kompetenz hat, die [Sozialversicherung] zu regeln und Beiträge zu erheben, so ist er damit auch befugt, die Beitragszahler in der [Sozialversicherung] anders als die Mitglieder der Gesamtgesellschaft zu behandeln. [. . .] Diese Ungleichbehandlung wird durch die Befugnis gerechtfertigt, Beiträge zur [Sozialversicherung] überhaupt zu erheben. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG kann nicht der Maßstab für die Abgrenzung von versicherungseigenen und versicherungsfremden Leistungen gewonnen werden, der in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fehlt.“1048 Hier hat das Bundessozialgericht also den materiellen Rechtfertigungsmaßstab für eine Ungleichbehandlung bereits allein in der Einräumung der Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung gesehen. Wenn nämlich diese Gesetzgebungskompetenz auch die Beitragserhebung umfasse, dann sei damit auch zugleich die materielle Befugnis (oder Rechtfertigung) zur Ungleichbehandlung der Beitragszahler gegenüber der Gesamtgesellschaft verbunden. Der zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG erforderliche sachliche Grund wird somit allein in dem Vorhandensein der betreffenden Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ (einschließlich der Beitragserhebung) erblickt, dieser somit eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung beigemessen. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde in einem Kammerbeschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen, da sich „durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken“ gegen die betreffenden Ausführungen in dem angegriffenen Urteil des Bundessozialgerichts „nicht entnehmen“ ließen1049. 1047 BSGE 81, S. 276 ff.; kritisch hierzu Friedrich E. Schnapp, Anmerkung, JZ 1999, S. 621 ff. 1048 BSGE 81, S. 276 (286 f.).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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c) Schrifttum Soweit im Schrifttum eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung von grundgesetzlichen Kompetenz- und Organisationsnormen anerkannt wird, wird eine solche ganz überwiegend auch den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG zugestanden; uneinheitlich beurteilt wird und bisweilen unklar bleibt indes der konkrete Umfang der dem in diesen Normen verankerten Begriff „Sozialversicherung“ beigemessenen Legitimationswirkung. Übereinstimmung besteht unter den Befürwortern lediglich insoweit, daß „Sozialversicherung“ aufgrund der Erwähnung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG zwar einerseits verfassungsrechtlich „gebilligt“1050 sei, andererseits hieraus aber auch kein „Freibrief“1051 für Grundrechtseingriffe resultieren könne. Teils wird die materielle Legitimationswirkung dabei lediglich auf einen Begriffskern bzw. ein Begriffsminimum beschränkt, d. h. auf die absolut wesensnotwendigen Strukturelemente von „Sozialversicherung“, welche insoweit genauer Herausarbeitung bedürfen.1052 Nach anderer, weiter gehender Ansicht umfasse die materielle Legitimationswirkung der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG jedenfalls diejenigen Strukturen von „Sozialversicherung“, die der Verfassungsgeber bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefunden hat und insoweit toleriert habe, d. h. die kompetentielle Legitimationswirkung erstrecke sich auf die „traditionellen“ Strukturelemente1053 der „Sozialversicherung“.1054 Die größte Reichweite einer materiellen Legitimierungswirkung wird dem Verfassungsbegriff „Sozialversicherung“ allerdings beigemessen, soweit unter 1049

BVerfG-Kammer, NJW 2000, S. 2496. Ferdinand Kirchhof, Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, in: SDSRV 35 (1992), S. 65 (80); ders., Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 (165). 1051 Karl-Jürgen Bieback, Begriff und verfassungsrechtliche Legitimation von „Sozialversicherung“, VSSR 2003, S. 1 (6). 1052 Siehe auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 141; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 145 ff. 1053 Diese können durchaus über die begriffsnotwendigen Kernelemente von „Sozialversicherung“ hinaus reichen; was „traditionell“ zu den Strukturen der Sozialversicherung zu zählen ist, muß nicht zwingend auch zu den wesensnotwendigen Kernelementen des verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ gehören: So mag beipsielsweise der Versicherungszwang zwar ein „traditionelles“ Strukturmerkmal der Sozialversicherung sein, gleichwohl ist er aber kein wesens- bzw. begriffsnotwendiges Element, siehe dazu oben Erster Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (2). 1054 Siehe etwa Ferdinand Kirchhof, Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, in: SDSRV 35 (1992), S. 65 (80); ders., in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 53 Rn. 36; vgl. auch Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (131); Hans-Jürgen Papier, Sozialversicherung und Privatversicherung – verfassungsrechtliche Vorgaben –, ZSR 1990, S. 344 (348 f.). 1050

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Hinweis auf den „Prozess der permanenten Ausweitung der Sozialversicherung nach 1949 und die intensive Diskussion in allen Parteien der Nachkriegszeit, ob nicht der Prozess der permanenten Ausweitung der Sozialversicherung durch die Einführung einer allgemeinen ,Volksversicherung‘ zu vollenden sei“ vertreten wird, „dass die Kompetenznorm in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eher für die Verfassungsmäßigkeit des dynamischen Prozesses einer Erweiterung der Versicherungspflicht spricht“1055. Hiernach soll mit der Erwähnung von „Sozialversicherung“ in den betreffenden grundgesetzlichen Kompetenz- und Organisationsnormen zumindest ein „Indiz“1056 gegeben sein für die Verfassungsmäßigkeit eines Einbeziehungs- bzw. Ausweitungsprozesses hinsichtlich der Sozialversicherung, welcher weit über den bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundenen bzw. hergebrachten Zustand der Sozialversicherung hinausgeht und seine „Vollendung“ in einer totalen Ausdehnung der Sozialversicherung auf die gesamte Bevölkerung finden würde. Welche Auswirkungen diese „Indizwirkung“ für die Grundrechtsprüfung konkret haben soll und welche grundrechtlichen Implikationen geeignet wären, diese Indizwirkung gegebenenfalls auch wieder zu erschüttern, wird dabei allerdings nicht näher verdeutlicht. d) Fazit Auch der Befund hinsichtlich der bisher vertretenen Sichtweisen zu einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung der auf „Sozialversicherung“ bezogenen Kompetenz- und Organisationsnormen des Grundgesetzes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4) ist uneinheitlich: Das Bundesverfassungsgericht verneint lediglich eine institutionelle Bestandsgarantie für die bestehende Organisation der Sozialversicherung; eine potentiell zur Grundrechtsbeschränkung geeignete materielle Wirkung hat es den betreffenden Normen hingegen bisher weder ausdrücklich zugemessen noch – entgegen anders lautender Interpretationen seiner Judikatur im Schrifttum – eine solche explizit ausgeschlossen. Allerdings hat es im Rahmen seiner Entscheidung vom 18.7.20051057 zum Risikostrukturausgleich Argumentationsstränge eingeführt, welche die Annahme einer solcher kompetentiellen Legitimationswirkung mehr als nur nahe legen. Das Bundessozialgericht hat – gebilligt durch das Bundesverfassungsgericht – eine materielle Legitimationswirkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinsichtlich einer Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG unverhohlen angenommen. Im Schrifttum reicht das Meinungsspektrum von einer auf einen engen „Begriffskern“ beschränkten materiellen Legitimierungswirkung über eine auf die „traditionellen“ Strukturen der Sozialversicherung bezogene 1055 Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 69. 1056 Karl-Jürgen Bieback, a. a. O., S. 69. 1057 BVerfGE 113, S. 167 (219 ff.).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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bis hin zu einer weiten Indizwirkung für die Verfassungsmäßigkeit einer erheblichen Ausdehnung der Sozialversicherung.

5. Stellungnahme zum Problemkomplex einer materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen Wie die vorhergehenden Ausführungen zeigen, kann von einem einheitlichen Befund und einer einheitlichen Lösung zum Problemfeld der materiell-rechtlichen Legitimierungswirkung grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen im allgemeinen sowie des in den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG anzutreffenden Begriffes „Sozialversicherung“ im besonderen nicht gesprochen werden. Angesichts der nicht unerheblichen Bedeutung für die Auswirkungen auf den Grundrechtsschutz, den eine solche Legitimationswirkung durch die Etablierung gleichsam grundrechtsfester Inhalte zu zeitigen geeignet wäre, soll im folgenden der Versuch einer hinlänglichen Durchdringung und Bewältigung der Materie unter Bewertung der bisher vertretenen Positionen unternommen werden. a) Zur materiellen Wirkkraft von grundgesetzlichen Kompetenznormen aa) Generelle materielle Wirkkraft grundgesetzlicher Kompetenznormen? Wie eingangs erwähnt, ist die kontroverse Diskussion um das Problem der materiellen Legitimierungskraft grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen vor allem Ausfluß der Frage, ob das Grundgesetz mit der Zuweisung solcher Kompetenzen zugleich auch ein Werturteil darüber fällt, daß diese Kompetenzen in irgend einer näher zu klärenden Form materiell-verfassungsgemäß wahrgenommen werden können, mithin also die übrigen Verfassungsbestimmungen, insbesondere die Grundrechte, der Wahrnehmung der eingeräumten Kompetenzen innerhalb einer bestimmten Grenze nicht entgegenstehen und insbesondere die Kompetenz nicht von vornherein praktisch sinnentleeren. Es geht also mit anderen Worten darum, ob und inwieweit allein aus der Erwähnung bestimmter Rechtsmaterien oder Institutionen in den grundgesetzlichen Kompetenz- und Organisationsnormen ein verfassungsfester und insbesondere grundrechtsfester Kern dieser Materien und Institutionen resultiert, oder ob über die materielle Verfassungsmäßigkeit einer staatlichen Maßnahme, die in formell legitimer Ausübung einer grundgesetzlich eingeräumten Kompetenz ergriffen wurde, einzig und allein das übrige Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechte, entscheiden.

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Für die letztgenannte Annahme, also gegen eine materiell-rechtliche Legitimierungswirkung, kann insbesondere im Hinblick auf die im Grundgesetz geregelten Gesetzgebungskompetenzen zunächst angeführt werden, daß diese Gesetzgebungskompetenzen das Verhältnis der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern regeln, die vorhandene Gesamtheit aller potentiellen Gesetzgebungsmaterien also zwischen Bund und Ländern aufteilen, nicht hingegen nur bestimmte Materien zur staatlichen Ausgestaltung durch den Bund (oder die Länder) freigeben, andere hingegen nicht.1058 Im letzteren Fall wäre die Annahme einer im Verhältnis zum Bürger materiell-rechtlichen Legitimationswirkung der zugewiesenen Kompetenzen jedenfalls leichter möglich, da die Freigabe nur bestimmter Materien zur gesetzgeberischen Ausgestaltung eher implizieren würde, daß gerade diese Materien gegenüber den nicht freigegebenen Materien zumindest im Grundsatz auch materiell verfassungsgemäß wahrgenommen werden können. Denn der Verfassungsgeber hätte sich damit bewußt dafür entschieden, gerade und nur diese bestimmten Materien einer hoheitlich-legislativen Ausgestaltungsmöglichkeit zu unterwerfen. Im Falle der Art. 70 ff. GG, oder genauer der Kompetenzkataloge in Art. 73 ff. GG, werden hingegen bestimmte, enumerativ aufgelistete Materien einer bestimmten Legislativgewalt, nämlich der des Bundes oder der der Länder1059, zugeordnet, die nicht ausdrücklich genannten Materien unterfallen der ausschließlichen Zuständigkeit der Landesgesetzgeber (Art. 70 Abs. 1 GG). In der Gesamtschau wird damit eine (zuweisende) Aussage nicht nur über einzelne (positiv erwähnte) Gesetzgebungsmaterien, sondern vielmehr über die Gesamtheit sämtlicher denkbaren Gesetzgebungsmaterien getroffen. Mit diesem Befund stellt sich zunächst die Frage, ob man für den Fall der Anerkennung einer materiell-rechtliche Legitimationswirkung diese lediglich den geschriebenen Bundes-(und Länder-)Kompetenzen einräumt oder sogar auch den ungeschriebenen, ausschließlichen Länderkompetenzen. Letzteres verbietet sich indes bereits deshalb, weil dann in der Gesamtschau aus im Grundgesetz erwähnten und nicht erwähnten Kompetenzen sämtliche überhaupt nur denkbaren Gesetzgebungsmaterien zumindest im Kern verfassungstoleriert wären, wodurch die Grundrechte unter einen umfassenden, zumindest auf den jeweiligen „Kern“ jeglicher denkbaren Gesetzgebungsmaterie bezogenen materiellen Vorbehalt gestellt wären, was dem fein austarierten Schrankensystem des Grundgesetzes zuwiderliefe.1060 Außerdem fehlte den unter die alleinige Lan1058 Vgl. Sondervotum der Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde und Gottfried Mahrenholz, BVerfGE 69, S. 57 (60); ferner auch Markus Kaltenborn, Negative Vereinigungsfreiheit als Schutz vor Einbeziehung in die Sozialversicherung?, NZS 2001, S. 300 (302). 1059 Auch für die Länder können sich aus der konkurrierenden Gesetzgebung Kompetenzen ergeben, siehe Art. 72 GG. 1060 Gleichwohl hatte das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 41, S. 205 (218 ff., insb. 223 f.), keine Vorbehalte, sogar der ungeschriebenen, in die alleinige Landesgesetzgebung fallenden Materie des „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens“ eine

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deskompetenz fallenden Materien wegen ihrer nicht vorhandenen ausdrücklichen Fixierung im Grundgesetz jegliche Trennschärfe und damit jegliche begriffliche Begrenzungsfunktion. Denn Gesetzgebungsmaterien können relativ weitumfassend formuliert werden (vgl. „Strafrecht“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG; „Recht der Wirtschaft“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG), aber auch sehr spezifisch auf einen begrenzten Lebensbereich bezogen sein (vgl. „Kernenergie“ in Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG1061; „Zulassung zu ärztlichen Berufen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG). Je nachdem, wie weit oder wie eng man eine Gesetzgebungsmaterie formuliert, variiert auch die ihr gegebenenfalls zuzuerkennende materielle Legitimationswirkung. Bei den grundgesetzlich nicht konkret um- bzw. beschriebenen Länderkompetenzen fehlte somit aber jeder Anhaltspunkt über den Umfang einer materiellen Legitimationswirkung und letztlich jeder verläßliche Anknüpfungspunkt für eine solche Wirkung überhaupt.1062 Eine materiell-rechtliche Legitimierungswirkung kann folglich allenfalls für die ausdrücklich im Grundgesetz benannten Kompetenzmaterien in Frage kommen, nicht hingegen für die nicht ausdrücklich geschriebenen alleinigen Länderkompetenzen. Hieraus wird häufig als Argument gegen eine kompetentielle Legitimierungswirkung gefolgert, daß diese somit zu einer ungerechtfertigten materiellen Privilegierung des Bundesgesetzgebers gegenüber den Landesgesetzgebern führte, da den Materien der Landesgesetzgebung dann eine geringere materiell-verfassungsrechtliche Bedeutung zukäme1063. Dieser Befund wird zwar dadurch etwas entschärft, daß im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung Kompetenzmaterien existieren, die gegebenenfalls auch von den Ländern ausgeübt werden können (vgl. Art. 72 Abs. 1 GG), so daß zumindest diese Materien auch bei Ausübung durch die Länder eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung entfalten würden. Im Gegensatz zu den vollständig1064 im Grundgesetz niedergelegten Legislativkompetenzen des Bundes würden aber gleichwohl jedenfalls die nicht geschriebenen, alleinigen Landesgesetzgebungsmaterien aus materielle Legitimationswirkung zuzugestehen, weil ansonsten die betreffende Landeskompetenz zur Schaffung öffentlich-rechtlicher Versicherungsmonopole Gefahr liefe, „ausgehöhlt“ zu werden (a. a. O., S. 224). 1061 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.). 1062 Vgl. auch Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 (806); Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895 (898). 1063 Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 70 Rn. 71; Markus Kaltenborn, Negative Vereinigungsfreiheit als Schutz vor Einbeziehung in die Sozialversicherung?, NZS 2001, S. 300 (302); Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 70 Rn. 4. 1064 Mit Ausnahme der ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, siehe zu diesen etwa Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 17 Rn. 16 ff.

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den oben genannten Gründen nicht an der materiell-rechtlichen Legitimationskraft teilhaben können, so daß der Vorwurf einer nicht nachvollziehbaren materiell-rechtlichen Privilegierung der Bundesgesetzgebung insgesamt zu Recht erhoben wird. Auch der Vergleich mit einem Einheitsstaat führt zu Ungereimtheiten hinsichtlich der Annahme einer materiell-rechtlichen Legitimationswirkung von Verfassungsnormen, die in einem Föderalstaat Kompetenzen zwischen Bund und Ländern aufteilen: Denn der Einheitsstaat bedarf solcher Zuweisungsnormen nicht. Warum aber nur aus der Entscheidung für eine föderale Struktur des Staatsgebildes eine von vornherein höhere materielle Wirkkraft für die hoheitliche Kompetenzwahrnehmung resultieren soll, ist nicht nachvollziehbar.1065 Beachtliche Ungereimtheiten hinsichtlich einer generellen Legitimationswirkung der grundgesetzlichen Kompetenztitel bestünden zudem, wenn man sich vergegenwärtigt, daß durch Verfassungsänderung Bundeskompetenzen „zurückgeführt“ und (allein) auf die Ländern übertragen werden können, indem man die betreffenden Kompetenztitel schlicht aus dem Grundgesetz streicht. Mit dieser Form der (Rück-)Übertragung auf die Länder müßte dann aber auch die materiell-rechtliche Legitimationswirkung der dann nicht mehr grundrechtlich fixierten Kompetenzmaterie entfallen; eine materielle Entwertung der betreffenden Materie wäre die Folge, obwohl ein und dieselbe Gesetzgebungsmaterie nunmehr lediglich einer anderen Legislativgewalt, nämlich der der Länder, unterstellt wäre. Diese schon aus sich heraus nicht nachvollziehbare Konsequenz würde ferner wiederum zu einer schwer begründbaren Privilegierung des Bundesgesetzgebers führen. Vollends ungereimt wäre es zudem, wenn eine Materie der konkurrierenden Gesetzgebung eliminiert und in die alleinige Zuständigkeit der Länder geführt würde: solange die Länder die betreffende Materie im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung wegen Nichtregelung durch den Bund ausüben dürfen, bestünde die materiell-rechtliche Legitimierungswirkung, sie entfiele aber ab dem Moment, von dem an die Materie durch Eliminierung aus dem Kompetenzkatalog in die alleinige Zuständigkeit der Länder gelangte. Vergleichbare Probleme kommen zustande, wenn die Rückübertragung in die alleinige Ländergesetzgebung nicht durch Streichung eines Kompetenztitels erfolgt, sondern durch ausdrücklichen Ausschluß einzelner (Teil-)Materien, wie dies etwa im Rahmen der Föderalismusreform 20061066 geschah1067. Denn hier ist vollends unklar, ob die ausgeschlossenen (aber gleichwohl geschriebenen) Bereiche an der materiellen Legitimationswirkung teilhaben sollen, und falls ja, warum

1065 Vgl. auch Sondervotum der Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde und Gottfried Mahrenholz, BVerfGE 69, S. 57 (62). 1066 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034. 1067 Siehe etwa die Neufassungen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG („ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs“), Nr. 7 („ohne das Heimrecht“), Nr. 11 („ohne das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, . . .“) etc.

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ausgerechnet diese Bereiche gegenüber den im übrigen ungeschriebenen Materien der ausschließlichen Landesgesetzgebung materiell privilegiert sein sollen. Äußerst problematisch wäre ein generelles materiell-legitimierendes Kompetenzverständnis auch im Hinblick auf die durch Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte: Sie, die Grundrechte, begrenzen die Ausübung der Staatsgewalt einschließlich der Gesetzgebung; durch die Annahme eines materiellen-legitimierenden Kompetenzverständnisses würden umgekehrt aber, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, die Legislativkompetenzen die Grundrechte beschränken – und das außerhalb der vom Grundgesetz hierzu eigens errichteten Schrankensystematik in Gestalt von Gesetzesvorbehalten. Mit dem Aussagegehalt des Art. 1 Abs. 3 GG ließe sich ein generelles materielllegitimierendes Kompetenzverständnis nur schwerlich vereinbaren.1068 Sprechen all diese Argumente gegen eine generelle Legitimationswirkung grundgesetzlicher Kompetenznormen, stellt sich gleichwohl die Frage, welche Berechtigung der zur Begründung einer solchen Legitimationswirkung vornehmlich herangezogene, bereits oben näher erörterte Hinweis auf die „Einheit der Verfassung“ hat. Im Hinblick auf die vorliegende Problematik wird aus diesem die Notwendigkeit einer – zumindest minimalen, auf den Kern der Kompetenztitel beschränkten – materiellen Legitimationswirkung extrahiert, weil ohne einen solchen „grundrechtsfesten“ Kern die Gefahr eines „Leerlaufens“ und damit einer Sinnentleerung der Kompetenztitel drohe, was schwerlich Intention des Verfassungsgebers sein könne.1069 Hieraus resultiere, daß es „,reine‘ Zuständigkeitsnormen, deren Regelungsgegenstand also von Haus aus verfassungswidrig sein könnte, nicht gibt, wenn man von der ferner liegenden Denkmöglichkeit der verfassungswidrigen Verfassungsnorm einmal absieht“1070 Besonders plastisch wird diese Argumentation etwa im Rahmen des Kompetenztitels

1068 So im Ergebnis auch die Kritik von Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 (806); Friedrich E. Schnapp, Grenzen der Grundrechte, JuS 1978, S. 729 (734); Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895 (897). 1069 Siehe insoweit etwa Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 125 f.; Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 ff.; ders., Schlußwort (zu Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 ff.), DÖV 1983, S. 808 f.; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 135; Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (168 f.); Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (437 ff.); Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 333. 1070 Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (169).

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für die friedliche Nutzung der Kernenergie in Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG1071: Die Befürworter einer kompetentiellen Legitimationswirkung sehen hierin eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung, daß die Verfassung selbst die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken grundsätzlich billige1072 – und zwar dergestalt, daß selbst dann (!) eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG ausscheide, „wenn bei den strengsten, nach dem bisherigen Stand der Technik möglichen Sicherheitsanforderungen noch eine Lebensgefahr für die Nachbarn bestehen sollte“, jede Ausnutzung der Kompetenz also zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit führte, welche „unter Anwendung der üblichen Auslegungsregeln“ und „ohne Berücksichtigung des Art. 74 [Abs. 1] Nr. 11a“ GG1073 eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 GG darstellen würde1074. Denn anderenfalls würde – unter der genannten Prämisse bestehender Lebensgefahren – der Ausnutzung des Kompetenztitels Art. 2 Abs. 2 GG entgegenstehen, so daß Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG1075 mangels Ausnutzbarkeit seinen Sinn verliere1076. Aber allenfalls auf den ersten Blick mag es widersinnig anmuten, würde die Verfassung Gesetzgebungskompetenzen einräumen, welche im Extremfall niemals materiell verfassungsgemäß ausgeübt werden könnten. Mit der aus der Einheit der Verfassung hergeleiteten Argumentation der Gefahr einer Sinnentleerung der Kompetenztitel wegen potentiell entgegenstehender Grundrechtsgehalte wird jedoch verkannt, daß eine sinnvolle Ausnutzung von Kompetenztiteln nicht nur deren positive Ausübung umfaßt. Vielmehr ist von der Einräumung einer Kompetenz auch die Möglichkeit für den Kompetenzinhaber umfaßt, sich bewußt gegen die Ausübung der Kompetenz zu entscheiden oder diese gar „negativ“ auszuüben. Dies zeigt sich nicht zuletzt etwa daran, daß die Ausübung einer konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit durch den Bund auch dann zu einer Sperrwirkung für die Landesgesetzgebung gemäß Art. 72 Abs. 1 Hs. 2 GG führt, wenn der Bund sich bewußt für die Nichtregelung einer be-

1071 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.). 1072 BVerfGE 53, S. 30 (55 f.). 1073 Alte Fassung, nunmehr, d. h. seit der Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG. 1074 Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (130); vergleichbar auch Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (446 f.). 1075 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.). 1076 Vgl. Albert Bleckmann, a. a. O., (130); ders., Schlußwort (zu Andreas Menzel, Nochmals: Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 805 ff.), DÖV 1983, S. 808 (809).

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stimmten Materie entscheidet, diese also regelungsfrei wissen will1077. Und ebenso kann der Bund eine bewußte „negative“ Regelung einer Materie treffen, etwa im Hinblick auf die friedliche Nutzung von Kernenergie (Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG1078) also entscheiden, diese gerade nicht zu nutzen bzw. als gesellschaftspolitische Konzeption einen „Atomausstieg“1079 vorzunehmen. Sollte demnach also – um bei diesem hypothetischen Beispiel zu bleiben – einer friedlichen Nutzung der Kernenergie wegen damit verbundener Gefahren das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG kategorisch entgegenstehen, wäre der Kompetenztitel des Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG1080 gleichwohl nicht sinnentleert, weil der Bund ihn noch dergestalt materiell verfassungsgemäß nutzen kann, sich gerade gegen die Kernenergienutzung zu entscheiden1081 – und damit im übrigen auch eine entsprechende Sperrwirkung auf diesem Gebiet für die Landesgesetzgebung zu erzeugen. Natürlich kann und soll die negative Ausnutzung einer eingeräumten Kompetenz nicht der Regelfall sein, aber sie stellt – wie es das aufgezeigte Beispiel zur Kernenergienutzung zeigt – eine legitime Regelungsoption dar, welche den betreffenden Kompetenztitel selbst dann nicht als sinnentleert dastehen ließe, wenn sich jede positive Ausnutzung des Kompetenztitels nach allgemeinen Kriterien als grundrechtswidrig darstellen sollte. Dies gilt umso mehr, als nach ganz herrschender Auffassung die grundgesetzlichen Kompetenzzuweisungen grundsätzlich rein fakultativen Charakter besitzen, ihre Einräumung den jeweiligen Kompetenzinhaber also nicht auch zu deren Wahrnehmung verpflichtet1082. 1077 Siehe BVerfGE 2, S. 232 (236); 32, S. 319 (327); 98, S. 265 (301 f.); Hans D. Jarass, Regelungsspielräume des Landesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und in anderen Bereichen, NVwZ 1996, S. 1041 (1044); Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 72 Rn. 69. 1078 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.). 1079 Siehe zum für die Bundesrepublik beschlossenen Atomausstieg das „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“ vom 22.4.2002, BGBl. I, S. 1351. 1080 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG (a. F.). 1081 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis stellt sich dann auch nicht die von den Vertretern einer materiellen Legitimationswirkung aufgeworfene (und aufzuwerfende) Frage, ob ein materiell-rechtlich legitimierend wirkender Kompetenztitel gegebenenfalls verfassungswidriges Verfassungsrecht darstellt, wenn selbst seine minimalste positive Ausnutzung mit schwersten Grundrechtseingriffen verbunden wäre, welche dann gleichwohl legitimiert sein sollen – siehe dazu etwa Albert Bleckmann, Zum materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (130). 1082 Siehe etwa Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 70 Rn. 60 f.; Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (436 f.); Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staats-

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Mithin gebietet es die „Einheit der Verfassung“ also keineswegs, daß Kompetenztitel zwingendermaßen immer nur positiv ausgeübt werden können, um „sinnvoll“ nutzbar zu sein. Und dementsprechend ist dieses Argument auch ungeeignet, um eine materiell-rechtliche Wirkung von Kompetenztiteln generell zu begründen; zur Vermeidung gegebenenfalls „sinnentleerter“ Kompetenztitel bedarf es dessen nicht. bb) Differenzierende Betrachtung nach allgemeinen Kriterien; Fallgruppenbildung Kann den grundgesetzlichen Kompetenztiteln damit jedenfalls nicht im generellen eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung beigemessen werden1083, bleibt gleichwohl die Frage, ob im Rahmen einer nach allgemeinen Kriterien vorzunehmenden Differenzierung, letztlich also einer Art Fallgruppenbildung, zumindest für bestimmte Gruppen von Kompetenztiteln eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung hergeleitet werden kann. Im Schrifttum wird dies vielfach bejaht. Die hierzu entwickelten Unterscheidungs- bzw. Gruppenmerkmale gilt es im folgenden näher zu beleuchten und zu bewerten. Teils wird eine Differenzierung zwischen deklaratorischen und konstitutiven Titeln vorgeschlagen, wobei nur letzteren eine materiell-rechtliche Wirkung zugestanden wird1084. Deklaratorisch seien dabei diejenigen Kompetenznormen des Grundgesetzes, welche auf an anderer Stelle im Grundgesetz eingeräumte Beschränkungsmöglichkeiten Bezug nehmen, etwa Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG („Staatsangehörigkeit“) in bezug auf Art. 16 Abs. 1 GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG („Vereins- und Versammlungsrecht“) in bezug auf Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 8 GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 GG („Enteignung“) in bezug auf Art. 14 GG. Diese Differenzierung ist indes wenig überzeugend, weil sie die Legitimationswirkung immerhin noch der Gesamtheit derjenigen („konstitutiven“) Kompetenztitel beimißt, hinsichtlich derer es einer solchen Legitimationswirkung mangels Bezug zu einer anderen, Legitimationswirkung entfaltenden Verfassungsnorm „bedarf“. Mit anderen Worten also nähme man hiermit nur all jene Kompetenztitel von der Legitimationswirkung aus, bei denen sich für die in ihnen benannten Materien eine Legitimation ohnehin bereits aus anderen Verfassungsnormen ergibt. Im Ergebnis wirkt diese „Differenzierung“ damit letzten Endes wie eine rechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 14 f.; Michael Terwische, Die Begrenzung der Grundrechte durch objektives Verfassungsrecht, 1999, S. 179; vgl. ferner auch Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 330 f., 336. 1083 So im Ergebnis auch Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 584. 1084 Christian Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – Erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 1972, S. 161 (169 ff.).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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generelle Legitimationswirkung für sämtliche Kompetenztitel, was aber – wie zuvor aufgezeigt – abzulehnen ist. Im übrigen spricht es wohl vielmehr gegen eine „generelle“ kompetentielle Legitimationswirkung der nach dieser Differenzierung als „konstitutiv“ bezeichneten Kompetenztitel, wenn die Verfassung augenscheinlich für bestimmte Materien (nämlich die „deklaratorischen“) eine materielle Legitimation außerhalb der Kompetenzkataloge statuiert, für andere (die vermeintlich „konstitutiven“) hingegen nicht. Wenig überzeugend ist es auch, eine materielle Rechtfertigungswirkung nur den nachträglich ins Grundgesetz eingefügten Kompetenztiteln zuzumessen, wie es aber teilweise vertreten wird1085: Wenn den bereits bei Erlaß des Grundgesetzes bestehenden Kompetenztiteln ausschließlich eine kompetenzverteilende, aber keine materielle Legitimationswirkung zugestanden wird, erschließt sich nicht, warum dies bei nachträglich eingefügten Kompetenztiteln anders sein soll. Unter Zugrundelegung dieses Differenzierungskriteriums ist kein plausibler Grund ersichtlich, warum die vermuteten „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen“1086 nicht genausogut bereits den (oder einzelnen) seit Erlaß des Grundgesetzes bestehenden Kompetenztiteln entnehmbar sein sollen, und umgekehrt kann auch ein nachträglich eingefügter Kompetenztitel ausschließlich darüber befinden wollen, ob der Bund oder die Länder zur gesetzgeberischen Gestaltung der betreffenden Materie berufen sind. Die kategorische Differenzierung allein nach dem Zeitpunkt der Schaffung des Kompetenztitels ist daher ebenfalls untauglich, um über eine materielle Legitimationswirkung zu befinden. Auch ist eine Differenzierung nicht einsichtig, die eine materiell-rechtliche Wirkung allein dann annimmt, wenn in den Kompetenztiteln „Rechtsinstitute“ festgeschrieben sind (z. B. „Finanzmonopole“ in Art. 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 GG; „Post- und Fernmeldewesen“ in Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG; „Strafvollzug“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG; „Wehrpflicht“ in Art. 73 Nr. 1 a. F.1087), nicht hingegen die Kompetenz für einzelne Rechtsbereiche wie etwa das „Strafrecht“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) festgelegt wird1088. Abgesehen davon, daß schon die Grenzziehung häufig schwierig ist, stellt sich die Frage, warum etwa ein 1085 So insbesondere Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 70 Rn. 71; wohl auch Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 14 f. 1086 Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 15, unter Berufung auf BVerfGE 69, S. 1 (21). 1087 Zum damaligen Zeitpunkt eingefügt durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26.3.1954, BGBl. I, S. 45. 1088 Augenscheinlich in diesem Sinne differenzierend Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (447, 445 f.).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Rechtsinstitut wie der „Strafvollzug“ an einer materiell-rechtlichen Legitimationswirkung partizipieren soll, das „Strafrecht“ hingegen nicht. Wenn man eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung für Kompetenznormen anerkennt, erschließt sich nicht, warum eine solche dann nicht konsequenterweise auch hinsichtlich beispielsweise des „Strafrechts“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG eine materiell-verfassungsrechtliche Grundentscheidung für strafrechtliche Sanktionen beinhalten sollte. Eine überzeugende, anhand allgemeiner Kriterien bewerkstelligte Fallgruppenbildung zwischen legitimierenden und nicht-legitimierenden Gruppen von Kompetenznormen des Grundgesetzes erscheint insoweit ebenfalls nicht gangbar. cc) Ausnahmen in begründeten Einzelfällen Scheidet eine generelle Legitimationswirkung von Kompetenznormen ebenso aus wie eine nach allgemeinen Kriterien vorgenommene Kategorisierung nach bestimmten Fallgruppen zwischen legitimierenden und nicht legitimierenden Kompetenznormen, bleibt die Möglichkeit, daß sich im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung einzelne Kompetenzbestimmungen doch als materiell-legitimierend erweisen können1089. Da, wie gezeigt, im Grundsatz eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung auszuscheiden hat, bedarf es zur Durchbrechung dieses Grundsatzes im Einzelfall aber stichhaltiger Umstände, aus denen sich gegebenenfalls und ausnahmsweise eine materielle Legitimationswirkung einzelner Kompetenznormen herleiten läßt. Auch hierzu können letztlich allgemeine Kriterien herausgearbeitet werden, so daß auch hier von bestimmten „Fallgruppen“ gesprochen werden könnte, die durch die jeweilige Erfüllung dieser Merkmale verbunden sind. Anders als in den oben (im Vorhergehenden unter bb) beschriebenen Fallgruppen ist hier die Erfüllung dieser allgemeinen Merkmale aber weitaus enger und spezifischer anhand des jeweils einzelnen Kompetenztitels zu ermitteln, so daß hier trotz der Herausarbeitung allgemeiner Kriterien eher von einer Einzelfallbetrachtung als von einer Fallgruppenbildung gesprochen werden kann (worauf es inhaltlich aber nicht entscheidend ankommt). (1) Spezifische Benennung bestimmter grundrechtsrelevanter Wirkungen Ein derart stichhaltiges Kriterium für die materielle Legitimationswirkung eines Kompetenztitels kann es etwa darstellen, wenn die den Gegenstand der eingeräumten Kompetenz bildende Materie derart spezifisch formuliert ist, daß sie 1089 Siehe auch Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 584 ff.; vgl. ferner Christian Matthias Pecher, Verfassungsimmanente Schranken von Grundrechten, 2002, S. 269.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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nicht nur ein Gebiet oder ein Institut, sondern vor allem die mit der Kompetenzausübung konkret verbundenen, grundrechtsrelevanten Wirkungen benennt, die Gegenstand der Gesetzgebungskompetenz sein sollen1090. Allenfalls dann kann sich die betreffende Norm von einer Zuständigkeitsnorm zu einer konkrete Beeinträchtigungen rechtfertigenden Norm mit Ermächtigungscharakter wandeln, weil erst dann der Verfassung hinlänglich zu entnehmen ist, daß eine und zugleich welche konkrete Freiheitsbeeinträchtigung als verfassungsrechtlich unbedenklich zu gelten hat. Solch spezifisch formulierte Kompetenztitel sind indes die klare Ausnahme. Als Beispiel hierfür mag die alte Fassung des Art. 73 Nr. 1 GG in Betracht kommen, welcher durch Verfassungsänderung1091 dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für „die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht der Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an“ verlieh. Hier wurde, bezogen auf eine konkrete Gruppe, eine konkrete Freiheitsbeeinträchtigung, nämlich die zwangsweise Einbeziehung in die Streitkräfte, ausdrücklich normiert. Da hiermit eine teilweise Konkretisierung der an sich maßgeblichen Kompetenzmaterie „Verteidigung“ im Hinblick auf eine bestimmte Ausgestaltungsform der Streitkräfterekrutierung erfolgt (Zwangsarmee im Gegensatz zur Freiwilligen-/Berufsarmee), kann hierin ausnahmsweise zugleich eine materiellrechtliche Anerkennung der grundsätzlichen Organisationsform als Wehrpflichtarmee und der damit verbundenen Freiheits- und Gleichheitsbeeinträchtigungen gesehen werden. (2) Ausdrücklicher Wille des Verfassungsgebers Die Annahme einer solchen materiellen Legitimationswirkung gilt im Falle des Art. 73 Nr. 1 a. F. GG umso mehr, als der verfassungsändernde Gesetzgeber auch ausdrücklich den Willen hatte, durch die betreffende Grundgesetzänderung die (Wieder-)Aufstellung einer deutschen Streitkraft und die Einführung einer Wehrpflicht1092 verfassungsrechtlich abzusichern1093. Insoweit nämlich diente die Änderung von Art. 73 Nr. 1 a. F. GG ausdrücklich „zur Klarstellung von Zweifeln über die Auslegung des Grundgesetzes“1094, so daß in diesem besonderen Falle (auch) hieraus auf eine von Verfassungs wegen intendierte materiellrechtliche Legitimationswirkung des betreffenden Kompetenztitels geschlossen werden konnte.

1090 Vgl. auch Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 586 ff. 1091 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26.3.1954, BGBl. I, S. 45. 1092 Siehe auch BVerfGE 12, S. 45 (50). 1093 Ausführlich dazu Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (400). 1094 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26.3.1954, BGBl. I, S. 45.

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Verallgemeinernd betrachtet, kann sich mithin eine kompetentielle Legitimationswirkung ausnahmsweise auch daraus ergeben, daß der Verfassungsgeber durch die Schaffung eines Kompetenztitels ausdrücklich auch einen erkannten oder für möglich gehaltenen materiellen Konflikt mit anderen Verfassungsnormen klären wollte1095. Ein solcher Wille zur Konfliktlösung kann dabei allerdings nicht schon in jeder bloßen Erwähnung einer Materie in den Kompetenznormen gesehen werden, sondern muß sich wegen der primären Zuweisungsfunktion der Kompetenznormen des Grundgesetzes und ihrer – wie oben dargelegt – generell äußerst beschränkten Eignung zur Statuierung materieller Gehalte dezidiert herleiten lassen1096, wie etwa im Falle des genannten Art. 73 Abs. 1 a. F. GG. Insgesamt aber tut der Verfassungsgeber allein schon aus Gründen der Rechtsklarheit gut daran, solcherlei materielle Entscheidungen außerhalb der Kompetenzkataloge zu regeln – so wie dies etwa für die Wehrpflicht infolge erneuter Verfassungsänderung1097 durch die Schaffung von Art. 12a GG geschehen ist. (3) Verfassungsauftrag zur positiven Kompetenzwahrnehmung Ferner kann eine materiell-rechtliche Legitimationswirkung für in den Kompetenztiteln des Grundgesetzes genannte Materien dann vorliegen, wenn eine Kompetenzbestimmung anders als im Regelfall (s. o.) nicht bloß fakultativer Natur ist, sondern aus der Kompetenzzuweisung ausnahmsweise zugleich ein Auftragsgehalt resultiert, der den Staat zur positiven Wahrnehmung der Kompetenz verpflichtet, und wenn diese Wahrnehmung gleichzeitig nur unter Beeinträchtigung anderer Verfassungswerte, insbesondere von Grundrechten, erfolgen kann.1098 Bei der Annahme solcher Verfassungsaufträge ist indes wegen der grundsätzlichen Pflichtenfreiheit des Gesetzgebers1099 Zurückhaltung geboten; insbesondere kann nicht aus jeder bloßen Erwähnung einer Materie oder Insti-

1095 So auch Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisationsund Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (404). 1096 Im Ergebnis vergleichbar Joachim Becker, a. a. O., S. 404. 1097 Siehe 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24.6.1968, BGBl. I, S. 709. 1098 Ebenso Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 585 f.; auch Manfred Baldus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87a Rn. 8; vgl. ferner Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (436 f., 448 ff.); Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 331. 1099 Theodor Maunz, Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber, BayVBl. 1975, S. 601; siehe auch Jörg Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, AöR 107 (1982), S. 15 (22 f.).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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tution auf einen Verfassungsauftrag geschlossen werden.1100 Kann jedoch für eine Kompetenzmaterie im Einzelfall ein Verfassungsauftrag zu deren positiver Wahrnehmung nachgewiesen werden, so muß zumindest insoweit, wie dies zur Erfüllbarkeit dieses Auftrages notwendig ist, auch eine materielle Legitimationswirkung für die Materie bestehen. Die Annahme eines Verfassungsauftrages kann sich dabei aber zumindest für die grundsätzlich bloß fakultativen (s. o.) Gesetzgebungskompetenznormen in der Regel allenfalls in der Zusammenschau mit anderen Verfassungsbestimmungen ergeben,1101 die im Gegensatz zu den Gesetzgebungskompetenzen über eine hinreichend imperative Formulierung verfügen oder sich in entsprechender Weise auslegen lassen. Etwas anderes kann hingegen für den Fall einer hinreichend indikativisch formulierten Exekutivkompetenz wie beispielsweise Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG gelten, aus welcher nicht bloß auf eine Staatsaufgabe, sondern zugleich auf einen Verfassungsauftrag zur Aufstellung von Streitkräften geschlossen wird1102. Allerdings muß die hieraus dann resultierende Legitimationswirkung sehr genau bemessen werden; sie kann nur soweit bestehen, wie dies zur sinnvollen Erfüllung des Verfassungsauftrages im Mindestmaß notwendig ist. So mögen im Hinblick auf Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG etwa Beeinträchtigungen des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gerechtfertigt sein, die bei einem völkerrechtsgemäßen Einsatz der Streitkräfte zwangsläufig auch bei der Zivilbevölkerung eintreten können, um eine wirkungsvolle Landesverteidigung zu gewährleisten1103, ebenso Regelungen, die die zur Erfüllung ihrer militärischen Aufgaben notwendige Disziplin in den Streitkräften sichern sollen1104. Nicht hingegen vom Verfassungsauftrag des Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG umfaßt ist beispielsweise die Wehrpflicht, da dieser Auftrag auch durch Schaffung einer Freiwilligen- bzw. Berufsarmee erfüllt werden könnte1105. 1100 Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 585; näher zu Verfassungsaufträgen etwa Erhard Denninger, Verfassungsauftrag und gesetzgebende Gewalt, JZ 1966, S. 767 ff.; Peter Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 341 ff. (insb. 354 ff.); Jörg Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, AöR 107 (1982), S. 15 (23 f.); Theodor Maunz, Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber, BayVBl. 1975, S. 601 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 85, 122. 1101 Vgl. Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 70 Rn. 63. 1102 Siehe etwa BVerfGE 28, S. 36 (47); Manfred Baldus, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87a Rn. 5 m. w. N. 1103 Siehe BVerfGE 77, S. 170 (221). 1104 Siehe BVerfGE 28, S. 36 (46 f.); kritisch hierzu Manfred Baldus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87a Rn. 8 ff. 1105 Siehe BVerfGE 48, S. 127 (160); Juliane Kokott, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87a Rn. 8; Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 559.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

dd) Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß den Kompetenztiteln des Grundgesetzes grundsätzlich keine materielle Legitimationswirkung zukommt. Auch eine anhand allgemeiner Differenzierungskriterien vorgenommene Fallgruppenbildung zwischen materiell legitimierend und materiell nicht legitimierend wirkenden Kompetenztiteln ist nicht überzeugend. Möglich ist lediglich, daß in bestimmten, näher zu begründenden Einzelfällen eine materielle Legitimationswirkung aus Kompetenztiteln resultiert. Dies kann namentlich der Fall sein, wenn in dem Kompetenztitel über ein Rechtsgebiet oder ein Rechtsinstitut hinaus die mit der Kompetenzausübung konkret verbundenen, grundrechtsrelevanten Wirkungen benannt werden, die Gegenstand der Gesetzgebungskompetenz sein sollen, der Kompetenztitel also ganz konkret bestimmte grundrechtsbeschränkende Regelungen beschreibt. Zum anderen kommt eine legitimierende Wirkung in Betracht, wenn sich aus der Entstehungsgeschichte der Kompetenznorm konkret herleiten läßt, daß der Verfassungsgeber ganz bewußt auch eine materielle Regelung treffen wollte, mittels welcher Konflikte mit anderen Aussagegehalten des Grundgesetzes gelöst werden sollen. Auch sofern sich im Einzelfall aus einer Kompetenznorm zugleich ein Verfassungsauftrag zur positiven Wahrnehmung der Kompetenz herleiten läßt, besteht insoweit eine materielle kompetentielle Legitimationswirkung, als dies zur Erfüllbarkeit des Auftrages nötig ist. Insgesamt ist aber auch bei der Einzelfallbetrachtung zur Konstatierung einer materiell-rechtlichen kompetentiellen Legitimationswirkung Zurückhaltung zu üben, da die grundgesetzlichen Kompetenztitel hierzu aus den oben dargelegten Gründen im Grundsatz ungeeignet sind; die Annahme einer solchen Wirkung im Einzelfall hat Ausnahmecharakter. b) Zur Reichweite einer materiellen kompetentiellen Legitimationswirkung Soweit man eine eigenständige kompetentielle Legitimationswirkung anerkennt, stellt sich die Frage, wie weit diese reicht. Unabhängig davon, ob man eine solche Wirkung – wie hier vertreten – nur in begründeten Ausnahmefällen zuläßt oder ob man sie in größerem oder gar generellem Maße als den grundgesetzlichen Kompetenznormen innewohnend ansieht, kann sich aus ihr jedenfalls kein materieller „Freibrief“ für jedwede Inanspruchnahme der betreffenden Kompetenz ergeben.1106 Da der primäre Gehalt einer Kompetenznorm in ihrer Zuweisungswirkung liegt1107 und eine ihr gegebenenfalls innewohnende ma1106 Karl-Jürgen Bieback, Begriff und verfassungsrechtliche Legitimation von „Sozialversicherung“, VSSR 2003, S. 1 (6). 1107 Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 584.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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teriell-legitimierende Wirkung nur sekundäre Funktion hat,1108 kann die durch eine Kompetenznorm getroffene Wertentscheidung der Verfassung sich nur darin erschöpfen, daß die betreffende Kompetenzmaterie überhaupt positiv wahrgenommen werden kann, ohne daß andere Verfassungsinhalte, insbesondere grundrechtliche, dem per se entgegenstehen. „Abwägungsfest“ gegenüber anderen Verfassungswerten kann im Falle der Anerkennung einer materielle Legitimationswirkung von Kompetenznormen dann also nur deren minimaler Begriffskern, oder mit anderen Worten das Begriffsminimum sein, welches erfüllt sein muß, um die betreffende Kompetenzmaterie als solche sinnvoll zu konstituieren.1109 Die Herausarbeitung der essentiellen, begriffsnotwendigen Merkmale einer Gesetzgebungsmaterie gewinnt dann zusätzliche Bedeutung, vor allem auch um diese begriffsnotwendigen Merkmale von denjenigen abzugrenzen, welche zwar häufig und typischerweise bei der Regelung einer bestimmten Materie (mit-)erfüllt werden, dabei aber eben nicht begriffsnotwendig bzw. konstituierend für die betreffende Materie sind. Ausschließlich die begriffsnotwendigen, nicht aber die bloß typischerweise auftretenden Merkmale kommen überhaupt in Betracht, eine kompetentielle Legitimationswirkung in dem beschriebenen Umfang zu vermitteln, da die Ausübung einer Gesetzgebungsmaterie auch unter Verzicht auf die bloß typischen, nicht aber begriffsnotwendigen Merkmale noch möglich ist.1110 c) Konsequenzen für die materielle Wirkkraft der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ Da, wie gezeigt, nach der hier vertretenen Auffassung den Kompetenztiteln des Grundgesetzes keine generelle Legitimationswirkung zukommt, kann sich auch hinsichtlich des Kompetenztitels „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine materielle Legitimationswirkung allenfalls im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung ergeben. Dies gilt es im folgenden anhand der hierzu im Vorhergehenden1111 aufgestellten Kriterien näher zu untersuchen. aa) Spezifische Benennung bestimmter grundrechtsrelevanter Wirkungen? Wie oben bereits dargestellt, kann eine materielle Legitimationswirkung aus Kompetenztiteln des Grundgesetzes daraus resultieren, daß in dem Kompetenz1108 Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (442). 1109 So auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 141; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 145 ff.; Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (442). 1110 So auch Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 145 ff. 1111 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. a) cc).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

titel über ein Rechtsgebiet oder Rechtsinstitut hinaus die mit der Kompetenzausübung konkret verbundenen, grundrechtsrelevanten Wirkungen benannt werden, die Gegenstand der Gesetzgebungskompetenz sein sollen, der Kompetenztitel also ganz konkret bestimmte grundrechtsbeschränkende Regelungen beschreibt. Soweit der Inhalt der möglicherweise im Rahmen der Kompetenzwahrnehmung eintretenden Grundrechtsbeeinträchtigungen hingegen nicht absehbar ist, scheidet eine solche Annahme regelmäßig aus1112. Für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ fehlt es – anders als etwa beim in Art. 73 Nr. 1 a. F. GG enthaltenen Kompetenztitel „Wehrpflicht der Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an“ (s. oben) – an einer solchen konkreten Beschreibung ganz bestimmter grundrechtsbeschränkender Regelungen: Weder wird eine konkrete Personengruppe als „Adressat“ der potentiellen Beeinträchtigungen genannt, noch werden konkrete Beeinträchtigungswirkungen beschrieben, die sich aus der Installation einer „Sozialversicherung“ ergeben – zumal der Begriff „Sozialversicherung“ selbst noch in hohem Maße im Hinblick auf seine prägenden, gegebenenfalls grundrechtsbeeinträchtigenden Strukturmerkmale konkretisierungsbedürftig ist. Welche Beeinträchtigungen mit anderen Worten von einer materiellen Legitimationswirkung gedeckt sein sollen, geht aus der allgemeinen Verwendung des Begriffes „Sozialversicherung“ nicht in hinreichend konkretem Maße hervor, so daß eine ausnahmsweise materielle Legitimationswirkung unter diesem Gesichtspunkt ausscheidet. bb) Sozialversicherung als Verfassungsauftrag? Wie oben gezeigt, kann eine kompetentielle Legitimationswirkung auch dann in Betracht kommen, wenn hinsichtlich der betreffenden Kompetenzmaterie ein Verfassungsauftrag nachgewiesen werden kann, der den Gesetzgeber zur positiven, sprich ausgestaltenden Wahrnehmung der Kompetenz verpflichtet. Zu beantworten ist insoweit die Frage, ob ein solcher verpflichtender Verfassungsauftrag hinsichtlich der Materie „Sozialversicherung“ besteht, der Gesetzgeber verfassungsrechtlich also zur Schaffung eines Sozialversicherungssystems im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verpflichtet ist, so daß – um die Erfüllbarkeit dieses Auftrages zu gewährleisten – ein solches System zumindest im Kern von vornherein verfassungstoleriert und insoweit materiell legitimiert sein müßte. Wie bereits ausgeführt, können Verfassungsaufträge nicht schon allein aus der Erwähnung einer Materie in den grundsätzlich nur fakultativen Gesetzgebungskompetenztiteln hergeleitet werden. Möglich wäre es jedoch, daß sich ein solcher Verfassungsauftrag für die „Sozialversicherung“ aus anderen Verfassungsbestimmungen ableiten läßt. 1112 Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 586, vgl. auch S. 588.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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(1) Aus der Verwaltungskompetenzregelung des Art. 87 Abs. 2 GG Für materielle kompetentielle Legitimationswirkungen gelten – unabhängig davon, inwiefern man solche anerkennt – hinsichtlich der grundgesetzlichen Verwaltungskompetenzen grundsätzlich die gleichen Maßstäbe wie bezüglich der Gesetzgebungskompetenzen1113. Im Gegensatz zu letzteren kann aus den Verwaltungskompetenztiteln der Art. 87 ff. GG nach überwiegender Ansicht indes in höherem Maße auf Verfassungsaufträge geschlossen werden, die eine materielle Legitimationswirkung in oben beschriebenem Umfang zu vermitteln geeignet sind: Namentlich für die Gegenstände der obligatorischen Bundesverwaltung, bei welcher im Gegensatz zur fakultativen Bundesverwaltung die Verwaltung durch den Bund von Verfassungs wegen angeordnet und nicht bloß zugelassen ist1114, wird ein Pflichtmoment dahingehend gesehen, daß die vom Grundgesetz normierte und vorausgesetzte Existenz bestimmter Behörden zu der Annahme zwinge, daß diese Behörden rechtmäßigerweise auch tätig werden dürfen, und daß insoweit den betreffenden Kompetenznormen auch ein staatsaufgabenrechtlicher, materiell-legitimierender Gehalt zukomme.1115 Zwingend ist diese Einschätzung allerdings selbst für den Bereich der obligatorischen Bundesverwaltung nicht: Denn das „Obligatorische“ an dieser Form der Bundesverwaltung muß nicht zwangsläufig so zu verstehen sein, daß es für eine Materie, die Gegenstand der Verwaltungskompetenz ist, eine jeweilige Verwaltung auch geben muß, mithin also ein Verfassungsauftrag zur Wahrnehmung der Materie besteht. Vielmehr könnte das Obligatorische auch nur darin bestehen, daß die Materie zwingend in Gestalt der Bundesverwaltung zu führen ist, wenn und soweit sie als Aufgabe wahrgenommen wird1116 – ohne daß der Staat zu ihrer Wahrnehmung aber verpflichtet wäre; nur wenn er sie indes wahrnimmt, muß er sie in Bundesverwaltung wahrnehmen.

1113 Vgl. nur Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisationsund Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397; Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422; Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895. 1114 Siehe etwa Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 86 Rn. 6; Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 18 Rn. 13. 1115 Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (436); ferner etwa auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 7; Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 86 Rn. 16; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 17 ff. 1116 Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 18.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Im Hinblick auf Art. 87 Abs. 2 GG wird häufig die bereits oben näher erörterte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.4.19751117 dergestalt interpretiert, daß das Gericht jedenfalls bezüglich Art. 87 Abs. 2 GG eher der letztgenannten Deutung des Pflichtgehalts der Art. 87 ff. GG zuneige und insoweit nicht von einer verfassungsrechtlichen Garantie der Sozialversicherung als staatlich vorgeschriebener Aufgabe ausgehe: In der betreffenden Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht geäußert, daß Art. 87 Abs. 2 GG „nur als Kompetenznorm und nicht etwa als Indiz für eine verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung zu begreifen“ sei1118 – was in der Tat als Ablehnung jeglichen materiellen Gehalts des Art. 87 Abs. 2 GG begriffen werden könnte1119. An anderer Stelle indes führte das Gericht aus, daß sich dem Grundgesetz keine „Verfassungsgarantie des bestehenden Systems“ entnehmen lasse1120; insoweit sei es mit dem Grundgesetz sogar zu vereinbaren, „wenn z. B. der Gesetzgeber sämtliche Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zusammenfaßte und in einem Bundesamt für Krankenversicherung als bundesunmittelbare Körperschaft organisierte“.1121 Hiermit und durch die an selber Stelle getroffene Feststellung, daß auch aus dem Gebot des sozialen Rechtsstaates (Art. 20 Abs. 1 GG) für den Einzelnen kein Anspruch auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein „so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem“1122 resultiere, legte das Gericht vielmehr den anderweitigen Schluß nahe, daß es seine Ausführungen auch zu Art. 87 Abs. 2 GG insgesamt nur auf das Fehlen einer Bestandsgarantie für das Sozialversicherungssystem in seiner bestehenden organisatorischen Ausgestaltung, also den jeweiligen status quo, bezogen wissen wollte, nicht hingegen auf das Fehlen einer Verfassungsgarantie oder eines Verfassungsauftrages für die „Sozialversicherung“ schlechthin. Ein insoweit eindeutiger Befund ist der Entscheidung daher nicht ohne weiteres zu entnehmen. Aber unabhängig vom Befund dieser Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und auch unabhängig davon, ob man generell das obligatorische Moment der Art. 87 ff. GG in der Pflicht zur Aufgabenwahrnehmung sieht oder es nur 1117

BVerfGE 39, S. 302 ff. – siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 4. a) aa). BVerfGE 39, S. 302 (315). 1119 Dieser Interpretation des Urteils zuneigend etwa Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (406); Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 60; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 152; Bodo Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, AöR 114 (1989), S. 422 (428, 448); Michael Selk, Einschränkung von Grundrechten durch Kompetenzregelungen?, JuS 1990, S. 895. 1120 BVerfGE 39, S. 302 (314) – Hervorhebung durch Verfasser. 1121 BVerfGE 39, S. 302 (315); vergleichbar auch BVerfGE 36, S. 383 (393). 1122 BVerfGE 39, S. 302 (315). 1118

IV. Materielle Legitimationswirkung

319

für den Fall der Aufgabenwahrnehmung in der Pflicht zur Wahrnehmung in Gestalt der Bundesverwaltung erblickt, gilt es speziell für Art. 87 Abs. 2 GG eine Besonderheit zu berücksichtigen, die – entgegen vereinzelt vertretener Sichtweisen1123 – dagegen spricht, daß diese Norm dem Bund die Wahrnehmung von Sozialversicherungsaufgaben zwingend vorschreibt: Denn Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG macht die Verwaltungszuständigkeit von der länderübergreifenden Zuständigkeit der sozialen Versicherungsträger abhängig; über diese, gegebenenfalls länderübergreifende, Ausgestaltung kann der Bund im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) indes selbst bestimmen1124, so daß er letzten Endes darüber disponieren kann, ob die Rechtsfolge des Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG eintritt.1125 Insoweit kann jedenfalls für Art. 87 Abs. 2 GG das obligatorische Moment gerade nicht in der Pflicht zur Aufgabenwahrnehmung liegen, sondern nur in der Pflicht zur Einhaltung der vorgeschriebenen Verwaltungsform für den Fall der staatlichen Aufgabenwahrnehmung. Folglich beinhaltet Art. 87 Abs. 2 GG keine Grundlage für eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Aufbau und zur Erhaltung einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG,1126 so daß ein Verfassungsauftrag und eine daraus resultierende materielle kompetentielle Legitimationswirkung hinsichtlich der „Sozialversicherung“ nicht aus Art. 87 Abs. 2 GG hergeleitet werden kann. (2) Aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Ein Verfassungsauftrag zur Etablierung oder zur Beibehaltung von „Sozialversicherung“ könnte sich ferner aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG1127 ergeben, in welchem die „Sozialversicherung“ ebenfalls eine Regelung erfährt. Nach dieser Vorschrift trägt der Bund die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluß der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe. Insofern 1123

Insbesondere Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 152, geht davon aus, daß es mit Funktionen ausgestattete Sozialversicherungsträger geben müsse, wenn Art. 87 Abs. 2 GG „sinnvoll“ sein solle. 1124 Hans-Jürgen Papier, Die Regionalisierung der gesetzlichen Rentenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht, NZS 1995, S. 241 (242). 1125 So auch Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 57, 60; Siegfried Broß, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 87 Rn. 18; wohl auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 82: „normstrukturelle Spezifika“ des Art. 87 Abs. 2 GG; vgl. ferner Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (661). 1126 So etwa auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 82; Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 60; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 57. 1127 Siehe zu Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG auch unten, 4. Teil.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

scheint die Norm jedenfalls von der Existenz eines sozialversicherungsrechtlichen Systems auszugehen, wenn sie in bezug auf dieses konkrete Lastentragungspflichten statuiert. Fraglich ist aber, ob damit zugleich eine verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung in Gestalt eines Auftrages, diese einzurichten resp. zu erhalten, einhergeht1128. Teilweise wird Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG als eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips dahingehend verstanden, daß sich hieraus die Verpflichtung des Staates resp. des Bundes entnehmen lasse, „für das Funktionieren eines staatlichen Sozialversicherungssystems zu sorgen“1129. Dem ist aber schon entgegenzuhalten, daß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG angesichts seiner Entstehungsgeschichte und seiner systematischen Stellung nach zutreffender Ansicht eine „reine“ Zuständigkeitsvorschrift darstellt, welche eine Frage der Finanzverantwortung im föderalen System regelt, insoweit ausschließlich im Verhältnis zwischen Bund und Ländern Wirkung entfaltet, und aus der sich auch keine konkreten Ansprüche von Sozialversicherungsträgern herleiten lassen.1130 Denn Art. 120 Abs. 1 GG regelt zwar die Verteilung bestimmter, bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundener Lasten (oder genauer: von Lasten, die aus bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundenen Umständen resultieren). Dies heißt aber nicht, daß die für diese Lasten verantwortlichen Umstände zugleich verfassungsrechtlich vorausgesetzt und damit materiell „abgesichert“ wären. Wenn also Art. 120 Abs. 1 GG dem Bund neben den „Lasten der Sozialversicherung“ auch die „Aufwendungen für Besatzungskosten und die sonstigen inneren und äußeren Kriegsfolgelasten“ auferlegt (Art. 120 Abs. 1 S. 1 bis 3 GG), wird man hieraus ersichtlich nicht den Schluß ziehen können, daß das Grundgesetz etwa die Existenz oder Aufrechterhaltung einer Besatzung vorschreiben würde. Nur wenn und soweit es sie und daraus resultierende Lasten gibt (oder gab), trägt diese der Bund. Aufgrund des „entstehungsgeschichtlichen und systematischen Zusammenhangs“1131 der Sätze 1 bis 3 und des Satzes 4 des Art. 120 Abs. 1 GG, kann insoweit der letzteren Regelung nichts anderes entnommen werden: Nur wenn und soweit aus dem Vorhandensein eines Sozial1128 Für eine Garantiehaftung des Bundes aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG etwa Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 29 f.; Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 53. 1129 Vgl. BSGE 47, S. 148 (157), unter Berufung auf: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 41. Sitzung, 1948/49, S. 516. – Siehe hierzu auch noch ausführlich unten 4. Teil, III. 2. 1130 Ausdrücklich und ausführlich BVerfGE 113, S. 167 (Ls. 2, S. 207 ff.); deutlich auch Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 40 ff.; sieher zu Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG auch noch unten, 4. Teil. – Inwieweit sich eine finanzielle Einstandspflicht hingegen aus dem Sozialstaatsprinzip herleiten läßt, ist eine andere Frage; vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter (3). 1131 BVerfGE 113, S. 167 (210).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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versicherungssystem Lasten resultieren, trägt die diesbezüglichen Zuschüsse aufgrund der Lastenverteilungsregel des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG der Bund1132. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG trifft also lediglich eine Regelung für den Fall des Bestehens von Lasten der Sozialversicherung und verteilt diese dann nur, begründet aber nicht selbst solchen Lasten zugrunde liegende Verpflichtungen. Über eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, ein Sozialversicherungssystem zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, sagt Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG demgemäß nichts aus1133. (3) Aus Sozialstaatsprinzip In Betracht kommt ferner, daß sich ein Verfassungsauftrag zur Schaffung resp. Erhaltung einer Sozialversicherung und eine daraus resultierende kompetentielle Legitimationswirkung aus dem Gesetzgebungskompetenztitel für die „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aus dem in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Sozialstaatsprinzip ergibt. Grundsätzlich ist anerkannt, daß das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes eine Staatszielbestimmung darstellt1134. Insoweit bringt es unmittelbar nur eine Beschreibung des verfassungsrechtlich gewollten Zustands des Gemeinwesens zum Ausdruck1135, nämlich daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft1136, indem er insbesondere die annähernd gleiche Förderung des Wohles aller Bürger und die annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten grundsätzlich erstrebt1137 und durch staatliche Vor- und Fürsorge Gruppen der Gesellschaft soweit unterstützt, wie sie aufgrund persönlicher Schwäche, Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind1138. Das Sozialstaatsprinzip begründet somit einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber1139, dieser ist also „verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität [. . .] ver1132

Vgl. BVerfGE 113, S. 167 (211). So im Ergebnis auch Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 41. 1134 Siehe etwa Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23; Karl-Peter Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 20 Rn. 103. 1135 Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23. 1136 BVerfGE 82, S. 60 (80). 1137 BVerfGE 5, S. 83 (198). 1138 BVerfGE 35, S. 202 (236). 1139 Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (26); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 916. 1133

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

pflichtet“1140. Angesichts der Weite und Unbestimmtheit1141 des Sozialstaatsprinzips bestehen aber jedenfalls im Grundsatz keine spezifischen Konkretisierungen dieses Gestaltungsauftrages – „Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt nur das ,Was‘, das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er läßt aber für das ,Wie‘, d. h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen“1142. Insoweit vermag das Sozialstaatsprinzip für sich allein keine Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Grundrechtssphäre der Bürger zu legitimieren, allerdings kommt ihm Bedeutung für die Auslegung von Grundrechten und grundrechtseinschränkenden Gesetzen zu.1143 Auch resultiert aus dem sozialstaatlichen Regelungs- und Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber prinzipiell kein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch Einzelner1144; lediglich wenn der Gesetzgeber diese mit einem weiten Gestaltungsspielraum versehene Pflicht willkürlich, d. h. ohne sachlichen Grund vollständig versäumte, könnte hieraus möglicherweise ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch erwachsen1145. Angesichts dieses Befundes spricht zunächst einmal wenig dafür, daß das Sozialstaatsprinzip – jedenfalls für sich genommen – eine von Verfassungs wegen bestehende institutionelle Festlegung auf ein bestimmtes Sozialversicherungssystem oder auf ein Sozialversicherungssystem schlechthin beinhaltet. Gleichwohl wird nicht selten vertreten, das Sozialstaatsprinzip enthalte in Verbindung mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung, denn die Erwähnung der „Sozialversicherung“ in den genannten Normen des Grundgesetzes impliziere, daß es sich insoweit um spezielle Konkretisierungen des Sozialstaatsprinzips handele, so daß hieraus der Schluß zu ziehen sei, die Verfassung habe sich institutionell auf das (Fort-)Bestehen eines Sozialversicherungssystems festgelegt, gebiete also die Einrichtung bzw. den Erhalt von „Sozialversicherung“, wenn auch nicht in einer konkreten Gestalt.1146 1140

BVerfGE 1, S. 97 (105). BVerfGE 82, S. 60 (80). 1142 BVerfGE 22, S. 180 (204); vgl. auch Josef Isensee, Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung – Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 365 (371). 1143 BVerfGE 59, S. 231 (262 f.); Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (26). 1144 BVerfGE 27, S. 253 (283); 41, S. 126 (153 f.); Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (26); vgl. Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 20 Rn. 50. 1145 BVerfGE 1, S. 97 (105). 1146 Siehe etwa BSGE 47, S. 148 (157); Bengt Beutler, Die Länderverfassungen in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, JöR (n. F.) 26 (1977), S. 1 (34); Karl-Jürgen Bieback, Die Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung, VSSR 1993, S. 1 (20); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1997, Rn. 213; Werner Weber, Die verfassungsrechtlichen 1141

IV. Materielle Legitimationswirkung

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Daß das Bundesverfassungsgericht dieser Ansicht mit seiner bereits oben1147 erörterten Rechtsprechung zum (Nicht-)Bestehen einer grundgesetzlichen Garantie des „bestehenden“ Sozialversicherungssystems1148 oder eines Anspruchs des Einzelnen auf ein „in bestimmter Weise ausgestaltetes Sozialversicherungssystem“1149 konkret widersprochen habe,1150 läßt sich – wie bereits dort zur Frage einer Garantiewirkung allein aus den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG ausgeführt – nicht sicher beantworten: Denn aus dieser Rechtsprechung geht nicht klar hervor, ob das Fehlen der Verfassungsgarantie sich nur auf das bestehende Kranken- bzw. Sozialversicherungssystem in seiner konkreten Form erstreckt oder ob es sich auch auf ein System von Sozialversicherung schlechthin bezieht. Auch die betreffenden, zu dieser Frage erneut Stellung nehmenden Aussagen in einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Risikostrukturausgleichs sind insoweit nicht eindeutig; das Gericht führte hier aus: „Da sich dem Grundgesetz eine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystems nicht entnehmen lässt [. . .], bleibt es dem Gesetzgeber [. . .] unbenommen, Krankenversicherungsschutz auf andere Weise zu gewährleisten, diesen insbesondere auf andere Weise zu finanzieren. Die Verfassung enthält keine Bestimmung, wonach es geboten oder verboten wäre, die gesetzliche Sozialversicherung teilweise aus Steuermitteln zu finanzieren [. . .]“1151. Ob hieraus gefolgert werden kann, daß es dem Grundgesetz nicht entgegenstünde, die Sozialversicherung etwa zur Gänze zugunsten eines hinreichend effektiven, aber vollständig steuerfinanzierten Sicherungssystems abzuschaffen, welches sich nicht mehr als „Sozial-“ bzw. „Krankenversicherung“ darstellen würde1152, wird vom Bundesverfassungsgericht mit diesen Ausführungen insoweit nicht beantwortet. Entgegen der zuvor genannten Ansicht läßt sich eine solche verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung dem Sozialstaatsprinzip indes auch in Verbindung mit den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG nicht entnehmen. Diesen – jedenfalls ihrer primären Funktion nach (s. o.) – als Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, Der Staat 4 (1965), S. 409 (416); Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 778 f.; wohl auch Christian Matthias Pecher, Verfassungsimmanente Schranken von Grundrechten, 2002, S. 256 ff. – Siehe ferner auch die zahlreichen weiteren Nachweise bei Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 27. 1147 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) bb) (1). 1148 Siehe etwa BVerfGE 39, S. 302 (314). 1149 BVerfGE 89, S. 365 (377) – Hervorhebung nicht im Original. 1150 Diese Rechtsprechung so interpretierend etwa Gunther Schwerdtfeger, Die praktische Relevanz der sozialen Rechte (§§ 2–10 SGB I), in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 543 (546 f.). 1151 BVerfGE 113, S. 167 (219) – ohne die Hervorhebungen. 1152 Siehe oben, 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (3) (b) (aa).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

Kompetenznormen fungierenden Vorschriften des Grundgesetzes einen zusätzlichen, ihrer Grundausrichtung nach nicht vorgesehenen materiellen Gehalt zuzuweisen, vermag das in seiner Abstraktheit und Unbestimmtheit lediglich eine soziale Zielrichtung vorgebende Sozialstaatsprinzip nicht1153. Daß diese Kompetenzbestimmungen zusätzlich materiell wirkende Konkretisierungen des Sozialstaatsprinzip darstellen sollen, ist eine bloße und nicht näher begründete Behauptung; umgekehrt spricht viel eher ihre – jedenfalls zuvörderst bestehende – kompetentielle Zwecksetzung dafür, daß ihnen im Grundsatz gerade kein darüber hinaus gehender materieller Gehalt zukommt (vgl. oben). Vielmehr ist davon auszugehen, daß diese Kompetenznormen an eine vorgefundene Realität in Gestalt eines bestehenden und traditionell etablierten Systems einer Sozialversicherung anknüpfen und diesbezüglich lediglich Aussagen über die dieses System betreffende Zuständigkeiten von Bund und Ländern treffen – ohne dabei dieses vorhandene System zwangsläufig gleich in den Verfassungsrang zu erheben. Wenn aber auf der einen Seite das Sozialstaatsprinzip für sich gesehen lediglich das Ziel, das „Was“, und nicht den konkreten Weg, das „Wie“ vorgibt1154, und auf der anderen Seite die Kompetenznormen der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG aus sich heraus ebenfalls keine verfassungsrechtliche Festlegung auf die Existenz von „Sozialversicherung“ implizieren, dann erschließt sich nicht, warum aus der schlichten Kumulation zweier insoweit bestehender Negativbefunde ein Positivbefund hinsichtlich einer institutionellen Gewährleistung resultieren soll, welcher genau das Gegenteil zu den Inhalten des Sozialstaatsprinzips (unbestimmter Gestaltungsauftrag) und den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG (Kompetenznormen) darstellen würde. Mit diesem Ergebnis übereinstimmend hat auch das Bundesverfassungsgericht in einer anderen Entscheidung als den oben genannten, welche sich augenscheinlich eher auf das (Nicht-)Vorhandensein einer Garantie der Sozialversicherung in ihrer konkreten Ausgestaltung beziehen, ausdrücklich gegen eine aus dem Sozialstaatsprinzip herzuleitende Pflicht zur Errichtung oder Erhaltung einer Sozialversicherung schlechthin ausgesprochen: Im Hinblick auf die Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung hatte das Bundesverfassungsgericht nämlich ausgeführt, daß der mit der Sozialversicherungspflicht verbundene „Ausschluß selbstverantwortlicher Eigenvorsorge [. . .] nicht vom Sozialstaatsprinzip gefordert“ werde; dieses lasse „vielmehr für die Verwirklichung des Zieles einer gerechten Sozialordnung auch andere Wege offen. Der Gesetzgeber hätte auch die Möglichkeit, die Eigenvorsorge vorzusehen“.1155 1153 1154 1155

Vgl. Detlef Merten, Verfassungsstaat und Sozialstaat, VSSR 1980, S. 101 (105). BVerfGE 22, S. 180 (204). BVerfGE 29, S. 221 (236).

IV. Materielle Legitimationswirkung

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Dem richtigerweise folgend ist davon auszugehen, daß weder das Sozialstaatsprinzip für sich noch dieses Prinzip in Verbindung mit den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG eine institutionelle Gewährleistung der Sozialversicherung bzw. einen Verfassungsauftrag zur Schaffung resp. Erhaltung eines Sozialversicherungssystems umfassen. Die Sozialversicherung mag ein „besonders prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips“1156 sein, aber sie ist keine zwingende inhaltliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips auf Verfassungsebene1157. Verfassungsrechtlich bzw. durch das Sozialstaatsprinzip gefordert sein kann nur, daß der Staat ein – hinreichend effektives – System der sozialen Sicherheit installiert, welches dem sozialen Staatsziel und Gestaltungsauftrag genügt. Ob dies ein Sozialversicherungssystem oder ein gänzlich anderes System ist, bleibt dem Gesetzgeber im Rahmen seines sozialen Gestaltungsauftrages überlassen.1158 Das schließt selbstredend nicht aus, daß beispielsweise eine Abschaffung der Sozialversicherung oder eines ihrer Teilsysteme an der Verfassung zu messen wäre. In Betracht kommen hier etwa Grundrechtspositionen hiervon Betroffener, insbesondere der Sozialversicherten, oder bei ersatzloser Abschaffung das Sozialstaatsprinzip selbst, soweit es wenigstens ein funktionierendes Sicherungssystem vorschreibt,1159 ferner auch – soweit man dies anerkennt – ein aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitetes „Verbot sozialen Rückschritts“1160. Aber das Sozialstaatsprinzip begründet keine institutionelle Garantie der Sozialversicherung schlechthin.

1156

BVerfGE 28, S. 324 (348). Gunther Schwerdtfeger, Die praktische Relevanz der sozialen Rechte (§§ 2–10 SGB I), in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 543 (546 f.). 1158 So im Ergebnis auch: Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 28; ders., Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung – Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 365 (371); Detlef Merten, Verfassungsstaat und Sozialstaat, VSSR 1980, S. 101 (105); Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 6 Rn. 22; ders., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 41; Dagmar Schieck, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 20 Abs. 1–3 V Rn. 73; Gunther Schwerdtfeger, Die praktische Relevanz der sozialen Rechte (§§ 2–10 SGB I), in: Im Dienst des Sozialrechts – Festschrift für Georg Wannagat, 1981, S. 543 (546 f.); Dieter Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Der Staat 9 (1970), S. 67 (92); Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 223 f.; vgl. ferner auch BVerfGE 68, S. 193 (209); 113, S. 167 (215). 1159 Vgl. Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 223 f. 1160 Dieter Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Der Staat 9 (1970), S. 67 (92); vgl. auch Michael Kittner, in: Denninger/Ridder/Simon/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., 1989, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 29; Dagmar Schieck, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 20 Abs. 1–3 V Rn. 73. 1157

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

cc) Wille des Verfassungsgebers zu materieller Absicherung der Sozialversicherung; „Traditionsargument“? Nach dem oben Ausgeführten kann eine materielle kompetentielle Legitimationswirkung in Ausnahmefällen ferner anzunehmen sein, wenn sich aus der Entstehungsgeschichte der Kompetenznorm konkret herleiten läßt, daß der Verfassungsgeber ganz bewußt auch eine materielle Regelung treffen wollte, mittels welcher Konflikte mit anderen Aussagegehalten des Grundgesetzes gelöst werden sollen. Dies gilt es somit für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG näher zu untersuchen. In seiner bereits oben dargelegten Entscheidung vom 18.7.2005 zum Risikostrukturausgleich behauptet das Bundesverfassungsgericht zwar – ohne hierfür aber Belege anzugeben – daß die grundsätzliche Anerkennung des „klassischen Modells der Sozialversicherung“ durch das Grundgesetz „entstehungsgeschichtlich belegt“ sei1161. Tatsächlich aber enthalten die entstehungsgeschichtlichen Materialien zur Grundgesetzgebung hierzu keine konkreten Hinweise1162. Teils wird indes vertreten, daß eine kompetentielle Legitimationswirkung im Einzelfall auch daraus resultieren könne, daß die betreffende Kompetenzbestimmung als Billigung bereits stattfindender, insbesondere vorkonstitutionell vorgefundener Grundrechtsbeeinträchtigungen zu verstehen sei1163. Übertragen auf die Kompetenz für „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wird hieraus häufig der Schluß gezogen, daß eine kompetentielle Legitimationswirkung für diejenigen Strukturen von „Sozialversicherung“ bestehe, die der Verfassungsgeber bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefunden hat und die er insoweit toleriert habe; die Legitimationswirkung wird hiernach also auf die „traditionellen“, vom Verfassungsgeber vorgefundenen Strukturelemente1164 von „Sozialversicherung“ erstreckt.1165 Wenn über1161 BVerfGE 113, S. 167 (221); siehe zu dieser Entscheidung und der in ihr angenommenen kompetentiellen Legitimationswirkung der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 4. a) bb). 1162 Zu diesen Befund gelangt auch Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (405). 1163 Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 588. 1164 Diese können durchaus über die begriffsnotwendigen Kernelemente von „Sozialversicherung“ hinaus reichen; was „traditionell“ zu den Strukturen von Sozialversicherung zu zählen ist, muß nicht zwingend auch zu den wesensnotwendigen Kernelementen von Sozialversicherung gehören. 1165 So etwa Ferdinand Kirchhof, Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, in: SDSRV 35 (1992), S. 65 (80); vgl. auch Albert Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, S. 129 (131); Hans-Jürgen Papier, Sozialversicherung und Privatversicherung – verfassungsrechtliche Vorgaben –, ZSR 1990, S. 344 (350); aus der Rechtsprechung vgl. neuerdings etwa BVerfGE 113, S. 167 (219). Siehe dazu auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 4. c).

IV. Materielle Legitimationswirkung

327

haupt, kann das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung vom 18.7. 2005 mit „entstehungsgeschichtlich belegt“ nur dies gemeint haben. Diese Sichtweise vermag indes nicht zu überzeugen: Zum einen ist schon generell nicht ersichtlich, warum ausgerechnet beim Kompetenztitel für die „Sozialversicherung“ dieses „Traditionsargument“ gelten sollte, bei anderen hingegen nicht; streng genommen könnte bzw. müßte man hiernach die grundgesetzliche Billigung vorgefundener Zustände auf jede einfachgesetzliche Ausgestaltung der Regelungsgehalte sämtlicher grundgesetzlicher Kompetenztitel erstrecken. Jedes vorkonstitutionelle Recht, das sich den grundgesetzlichen Gesetzgebungsmaterien zuordnen läßt, wäre damit „verfassungstoleriert“. Daß dies aber nicht der Fall ist, zeigt schon die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfbarkeit und Verwerfbarkeit von vorkonstitutionellen Normen anhand des Grundgesetzes1166. Daß (gerade) für die vorgefundenen Strukturen der „Sozialversicherung“ etwas anderes gelten solle, geht – wie bereits gesagt – aus den Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes nicht hervor. Zwar mag der Verfassungsgeber von der Existenz und dem Fortbestehen der vorhandenen bzw. vorgefundenen Sozialversicherung ausgegangen sein; dem läßt sich allerdings nicht auch zugleich entnehmen, daß er ihre bisherige Ausgestaltung verfassungsrechtlich absichern wollte, um einen tatsächlichen oder möglichen Konflikt mit Grundrechten zu lösen.1167 Daher wird zurecht darauf hingewiesen, daß es für eine aus Kompetenzbestimmungen resultierende materielle Billigung vorkonstitutionell vorgefundener Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht allein ausreicht, daß das betreffende Staatshandeln nur als freilich schon realisierte Möglichkeit vorausgesetzt wird; vielmehr muß es um ein verfassungsrechtlich notwendiges Staatshandeln gehen, oder das kompetenzrechtlich aufgegriffene Staatshandeln muß mit seinen überkommenen grundrechtsbeeinträchtigenden Wirkungen genau bestimmt sein.1168 Beides trifft aber, wie bereits in den vorhergehenden Ausführungen1169 gezeigt wurde, für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ nicht zu. Gegen eine verfassungsrechtliche Billigung bzw. „Absicherung“ der vom Verfassungsgeber vorgefundenen Sozialversicherungs-Strukturen spricht ferner, daß es sich hierbei um ein System handelt, welches nicht nur in der bundesrepublikanischen, sondern schon in der vorkonstitutionellen Zeit ständigem Wandel – etwa hinsichtlich des (pflicht-)versicherten Personenkreises – unterlegen war, wie die obigen Ausführungen zur Geschichte der Krankenversicherung aufzeigen. Vor diesem dem Verfassungsge1166 Siehe BVerfGE 2, S. 124 (128 ff.); 32, S. 296 (300); 45, S. 187 (220 ff.); 63, S. 181 (188); 64, S. 217 (221). 1167 Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (405). 1168 Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 588. 1169 Siehe 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) aa) und bb).

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

ber bekannten Hintergrund spricht wenig für die Annahme, daß er ausgerechnet die zum Zeitpunkt des Grundgesetzes vorgefundenen Strukturen verfassungsrechtlich absichern wollte, wenn er sich der stetigen Anpassungsbedürftigkeit des Sozialversicherungssystems und zusätzlich noch des in der Nachkriegszeit bestehenden Bedürfnisses nach Restatuierung und Restrukturierung der Sozialversicherung1170 bewußt war. Dies gilt umso mehr, als die Sozialversicherung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes noch von zahlreichen aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden „Modifikationen“ durchzogen war, welche der Verfassungsgeber wohl kaum „billigen“ wollte und die teilweise erst in der – sei es auch unmittelbaren – Folgezeit beseitigt wurden; beispielhaft genannt sei hier nur die erst ab 1951 wiedereingeführte Selbstverwaltung, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft durch das „Führerprinzip“ ersetzt worden war1171. Abgesehen davon erscheint es aber auch ohnehin problematisch, der Verfassung unterstellen zu wollen, daß sie ohne weiteres – etwa ohne zugleich nähere und konkrete Eingriffswirkungen zu charakterisieren – in ihr erwähnte Institutionen, deren Ausgestaltung wegen stetigem gesellschaftlichem Wandel ihrerseits einem stetigen Wandel unterliegen, gerade in dem vorgefundenen Zustand verfassungsrechtlich absichere und damit eine bloße und beinahe schon rein zufällige „Momentaufnahme“ verfassungsrechtlich legitimieren wolle.1172 Denn eine Verfassung „lebt nicht in einem Ruhezustand; sie steht in der Zeit und ist den in ihr wirkenden Kräften und Ideen ausgesetzt“1173. Um ihrer Funktion als dauerhafte Grundordnung gerecht werden zu können, muß sie daher zukunftsoffen, dynamisch, elastisch sein.1174 Gerade bei einem System wie der Sozialversicherung, das im gesamten Laufe seines Bestehens immer wieder an die sich verändernden tatsächlichen Gegebenheiten oder sozialpolitischen Sichtweisen angepaßt wurde, kann die Verfassung nicht eine statische materielle Zementierung des gerade Vorgefundenen wollen, dessen Rechtfertigungsumfang von der Zeit in absehbarer Weise überholt werden kann1175 – und 1170 Siehe oben 1. Teil, 7. und 8.; ausführlich zu den für notwendig erachteten Umgestaltungen der Sozialversicherung in den Anfängen der bundesrepublikanischen Zeit auch Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherungen, 3. Aufl., 1978, S. 147 ff.; Michael Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 209 ff., 287 f. 1171 Siehe oben 1. Teil, I. 6. und 8. 1172 Ähnlich auch Annegret Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, 2000, S. 142. 1173 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 88. 1174 Vgl. Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954), S. 37 (54); Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978), S. 566 ff. (insb. 602); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 100. 1175 Vgl. auch Hans Schneider, Die öffentlich-rechtliche Alterssicherung freier Berufe und das Grundgesetz, 1959, S. 48.

IV. Materielle Legitimationswirkung

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zwar (jedenfalls theoretisch) auch dahingehend, daß der statische Rechtfertigungsumfang sich wegen veränderter, zu einer reduzierten Notwendigkeit des Systems führender Umstände als „zu hoch“ erweist. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG soll es dem Gesetzgeber gerade ermöglichen, mit der jeweiligen sozialpolitischen Lage Schritt zu halten und gegebenenfalls Neuerungen der Sozialversicherung vorzunehmen.1176 Hieraus kann dann aber nicht auf eine materielle Billigung ausgerechnet des gerade (und nur) bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundenen Zustandes geschlossen werden. Noch weniger kommt eine solche „Billigung“ für zukünftige Zustände in Betracht, welche noch gar nicht in einer konkreten Ausgestaltung von der Verfassung in Blick genommen sein können (siehe auch im folgenden). Eine „dynamische“ materielle Rechtfertigung ermöglichen insoweit nur die Grundrechte als alleiniger Prüfungsmaßstab, da hierbei die jeweils aktuellen Umstände bei der Überprüfung der materiellen Vereinbarkeit in angemessener Weise Berücksichtigung finden können. Die Annahme einer aus sich heraus bestehenden grundgesetzlichen Billigung jedenfalls der bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundenen Sozialversicherungsstrukturen ist nach alledem abzulehnen. Umso mehr gilt dies für Bestrebungen, vermittels des oben genannten „Traditions“-Arguments sogar eine verfassungsrechtliche Billigung der fortschreitenden Ausweitung der Sozialversicherung und deren „Vollendung“ zur Volksversicherung in Betracht zu ziehen1177. Die in der Geschichte der Sozialversicherung vorgenommenen Ausweitungen des Versichertenkreises erfolgten nicht als Selbstzweck und nicht als Teil eines Prozesses, der zu vollenden ist; vielmehr wurden hiermit jeweils aus den konkreten Sachumständen heraus für opportun oder notwendig erachtete sozialpolitische Zwecke verfolgt bzw. verwirklicht, anhand derer diese Ausweitungen und die damit verbundenen grundrechtsrelevanten Zwangswirkungen zu rechtfertigen waren.1178 Jede weitere Ausweitung bedarf genauso einer eigenständigen Rechtfertigung und kann nicht unter Hinweis auf einen bisherigen „Prozeß der permanenten Ausweitung der Sozialversicherung“1179 ohne weiteres legitimiert werden. Im übrigen wäre hierzu selbst ein materiell wirkender grundgesetzlicher Kompetenztitel für „Sozialversicherung“ auch gar nicht in der Lage, da sich seine Legitimationswirkung – sofern man sie entgegen dem hier gefundenen Ergebnis anerkennen würde – allenfalls auf die von der Verfassung vorgefundenen Strukturen erstrecken könnte, nicht 1176 Walter Bogs, Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Sozialversicherung, in: Neue Wege der Fürsorge, Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 47 (50); Hans Schneider, Die öffentlich-rechtliche Alterssicherung freier Berufe und das Grundgesetz, 1959, S. 48 ff. 1177 So etwa Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 69. 1178 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Historie der Sozialversicherung, oben 1. Teil, I. 1179 Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 69.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

aber auf rein virtuelle, in der Zukunft liegende und daher von der Verfassung noch gar nicht erfaßbare Ausprägungen einer Sozialversicherung. Außerdem würde hiermit im Hinblick auf die aus einer weiteren Ausweitung resultierenden Grundrechtsbeeinträchtigungen die von nahezu allen Vertretern eines auch materiellen Kompetenzverständnisses gezogene Grenze überschritten, wonach einem materiellen Kompetenzverständnis keinesfalls ein Freibrief für Grundrechtsbeeinträchtigungen entnommen werden darf1180. dd) Sonstige Aspekte, insb. Quantität der Nennung? Sonstige Aspekte, die für eine materielle Legitimationswirkung aus der Erwähnung der Materie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG oder in anderen Kompetenznormen (Art. 87 Abs. 2 GG, Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) sprechen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, daß allein die vermeintlich exponierte Erwähnung der „Sozialversicherung“ an immerhin drei unterschiedlichen Stellen im Grundgesetz zugleich deren materielle Billigung von Verfassungs wegen nach sich zöge.1181 Denn die bloße Quantität der Nennung des Begriffes kann nicht normative Kriterien wie die zuvor genannten ersetzen. Da zudem nach den bisherigen Feststellungen aus den betreffenden Bestimmungen jeweils für sich betrachtet keine materielle Legitimationswirkung resultiert, ist auch nicht ersichtlich, warum aus der Summierung dreier Negativbefunde ein Positivbefund resultieren soll. Daß der Verfassungsgeber das von ihm vorgefundene System der Sozialversicherung über die Aufnahme in den Katalog der Gesetzgebungskompetenzen hinaus auch in Art. 87 Abs. 2 GG sowie Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG einer Reglementierung zuführte, beruhte vielmehr auf praktischen Gründen, die mit einer materiellen Billigung dieses Systems nichts zu tun hatten: Über Art. 87 Abs. 2 GG wurde insoweit die vorgefundene, traditionelle Organisationsform der Sozialversicherungsträger als verselbständigte Verwaltungseinheiten der mittelbaren Staatsverwaltung als sinnvoll erachtet und aufgegriffen1182. Und daß für ein staatlich durchgeführtes System von Ausmaß und Bedeutung der Sozialversicherung zugleich eine spezielle Regelung der Vollzugskompetenzen erfolgt, ist ebenfalls aus einer rechtspraktischen Notwendigkeit heraus nachvollziehbar. Eine solche bestand ebenso hinsichtlich der Lastenverteilungsregel des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, der eine gleichmäßige Verteilung der aus einem eventuellem Zuschussbedarf resultierenden Sozialversicherungslasten auf die gesamte Bundesbevölkerung bewirken will, was insbesondere zur Zeit des Erlasses des Grundgesetzes 1180 So selbst Karl-Jürgen Bieback, Begriff und verfassungsrechtliche Legitimation von „Sozialversicherung“, VSSR 2003, S. 1 (6). 1181 Vgl. auch Walter Leisner, Grundgesetz und gesetzliche Krankenversicherung, in: Empter/Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung, 2003, S. 43 (44 ff.). 1182 Vgl. oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c), insb. dd).

IV. Materielle Legitimationswirkung

331

aufgrund des kriegsbedingt notwendigen Aufbaubedarfs der in ihren finanziellen Grundlagen weitgehend zerstörten Sozialversicherung das Gebot der Stunde war.1183 Daher war es aus Sicht des Verfassungsgebers durchaus naheliegend und vernünftig, die Sozialversicherung über die bloße Aufnahme in den Gesetzgebungskompetenzen hinaus auch in Art. 87 Abs. 2 GG und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG spezifischen Regelungen zu unterwerfen, ohne daß damit zugleich eine implizite verfassungsrechtliche „Billigung“ dieses Systems verbunden werden müßte. Allein aus der mehrfachen Nennung der Materie „Sozialversicherung“ im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes läßt sich also ebenfalls nicht auf eine durch diese Kompetenznormen vermittelte materielle Legitimationswirkung für die Sozialversicherung schließen. 6. Ergebnis a) Keine materielle Legitimationswirkung für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2, Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Somit läßt sich als Ergebnis festhalten: Aus der Erwähnung der Institution „Sozialversicherung“ in den grundgesetzlichen Kompetenznormen der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG resultiert keinerlei materielle Legitimationswirkung hinsichtlich der Sozialversicherung. Kompetenznormen der Verfassung sind hierzu generell nicht in der Lage; nur in besonderen Ausnahmefällen kann ihnen über ihre zuständigkeitsverleihende Wirkung hinaus eine materiell-rechtliche Wirkung beigemessen werden, welche in einem bestimmten Umfang geeignet ist, etwa Grundrechtseingriffe „aus sich heraus“, ohne daß es insoweit noch einer konkreten Abwägung im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bedürfte, zu legitimieren. Solche Ausnahmefälle liegen hinsichtlich der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG und des in ihnen enthaltenen Begriffes „Sozialversicherung“ nicht vor: Weder sind die mit „Sozialversicherung“ verbundenen Eingriffswirkungen so hinreichend spezifisch beschrieben, daß hieraus entnommen werden könnte, welche und zugleich in welchem Umfang Freiheitsbeeinträchtigungen als verfassungsrechtlich unbedenklich gelten sollen, noch läßt sich auf einen ausdrücklichen Willen des Verfassungsgebers schließen, mit der Erwähnung von „Sozialversicherung“ in den Kompetenznormen der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG zugleich die Institution „Sozialversicherung“ verfassungsrechtlich abzusichern. Und auch aus dem Sozialstaatsprinzip – sei es isoliert, sei es in Verbindung mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG – resultiert nicht ein konkreter Auftrag, das soziale Staatsziel im Hinblick auf den mit der Sozialversicherung verfolgten Sicherungszweck gerade und zwingend mittels

1183

Vgl. hierzu auch unten 4. Teil, I. und II.

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2. Teil, Abschn. 1: Gesetzgebungskompetenz für „Sozialversicherung‘‘

einer Sozialversicherung zu erreichen. Die Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG knüpfen vielmehr nur in formell-organisatorischer Weise an eine vorgefundene Realität in Gestalt eines traditionell etablierten sozialen Sicherungssystems an, ohne diesem damit zugleich aus sich selbst heraus den Stempel der – sei es auch nur dem Grunde nach – materiellen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit zu verleihen.1184 Letztere bemißt sich vielmehr allein nach dem übrigen Verfassungsrecht, insbesondere den Grundrechten.1185 b) Reichweite einer kompetentiellen materiellen Legitimationswirkung im Falle ihrer Anerkennung für die Materie „Sozialversicherung“ Soweit man aber doch – entgegen dem hier ermittelten Ergebnis – eine kompetentielle Legitimationswirkung für „Sozialversicherung“ aus den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG herausliest, könnte sich diese allenfalls auf die absolut begriffsnotwendigen Strukturelemente von „Sozialversicherung“ beziehen, das heißt auf diejenigen Merkmale, die nicht nur typisch für die Sozialversicherung, sondern vielmehr derart prägend für sie sind, daß eine Institution, welche sie nicht aufweist, nicht mehr als „Sozialversicherung“ im Sinne der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 S. 4 GG bezeichnet werden könnte1186. Dies ergibt sich aus den bereits oben gemachten Ausführungen zur Reichweite einer materiellen Legitimationswirkung von Kompetenznormen, die sich – soweit man sie anerkennen würde – allenfalls auf ein Begriffsminimum, d. h. auf den minimalen Begriffskern beziehen kann, der durch die begriffsnotwendigen Merkmale der betreffenden Kompetenzmaterie determiniert wird.1187 Eine kompetentielle materielle Legitimationswirkung hinsichtlich der Sozialversicherung gäbe es daher nicht im Hinblick auf die Anordnung von Versicherungszwang und die damit verbundenen Beeinträchtigungen von Freiheitsgrundrechten, denn wie bereits dargelegt wurde1188, ist Versicherungszwang kein begriffsnotwendiges Merkmal einer „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern allenfalls ein typisches Merkmal bzw. eine typische Ausgestaltungsoption der Sozialversicherung ist. Die Gesetzgebungskompetenz

1184 Vgl. auch Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz-, Organisationsund Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 (406). 1185 Vgl. auch Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 28; Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (26). 1186 So auch Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 145 f. 1187 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. b). 1188 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (2).

IV. Materielle Legitimationswirkung

333

aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Sozialversicherung kann auch ohne die Errichtung von Versicherungszwang in Anspruch genommen werden. Ferner schiede eine solche Wirkung auch hinsichtlich des Merkmals „sozialer Ausgleich“ und hierdurch entstehender Ungleichbehandlungen durch unterschiedlich hohe, weil an der Leistungsfähigkeit bemessene Sozialversicherungsbeiträge aus.1189 Das gleiche gilt im Hinblick auf die Belastung mit nicht individualäquivalenten Beiträgen. Zwar handelt es sich bei dem sozialen Ausgleich um ein begriffsnotwendiges Element der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, so daß an sich eine kompetentielle Legitimationswirkung in Betracht käme. Jedoch ist die Erreichung des sozialen Ausgleichs durch ungleiche, nach der Leistungsfähigkeit bemessene, nicht individualäquivalente Beiträge nicht die einzige Möglichkeit zu seiner Bewerkstelligung; vielmehr kann er statt „von innen“ (d. h. durch die Beiträge) auch „von außen“, d. h. (allein) durch Zuschüsse aus Fremdmitteln, insb. Steuermitteln von statten gehen.1190 Da die Ausübung der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG somit nicht notwendigerweise mit der Belastung einer spezifischen Personengruppe einhergehen muß, um den sozialen Ausgleich bewerkstelligen zu können, sondern dieser auch durch den Einsatz allgemeiner Finanzmittel des Staatshaushalts erfolgen kann, ist nicht einsichtig, warum sich eine kompetentielle Legitimationswirkung gerade für eine besondere Art der Ausgestaltung des sozialen Ausgleichs („von innen“) ergeben soll, wenn noch andere, weniger beeinträchtigende Ausgestaltungsoptionen zur Verfügung stehen. Schon gar nicht kann eine kompetentielle Legitimationswirkung für die Materie „Sozialversicherung“ im Hinblick auf eine zumindest indizielle Verfassungstoleriertheit eines „Prozesses der permanenten Ausweitung der Sozialversicherung“ (und der damit verbundenen Versicherungspflicht) bis hin zur „Vollendung“ dieses Prozesses durch Einführung einer „allgemeinen Volksversicherung“ anerkannt werden,1191 denn die Ausweitung der Sozialversicherung ist keines ihrer begriffsnotwendiges Merkmale, sondern lediglich eine bestimmte Ausgestaltungsoption. Überdies handelt es sich hierbei um rein virtuelle, in der Zukunft liegende und insoweit von der Verfassung noch gar nicht erfaßbare Ausprägungen einer Sozialversicherung. Selbst wenn man also entgegen dem hier ermittelten Ergebnis eine materielle Legitimationswirkung der grundgesetzlichen Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ prinzipiell anerkennen würde, bestünde sie gleichwohl gerade für diejenigen, besonders eingriffsintensiven Ausgestaltungsmerkmale nicht, für die sie – zu Unrecht – überwiegend behauptet wird, nämlich den Versicherungszwang, 1189

Entgegen etwa BSGE 81, S. 276 (286 f.). Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (dd). 1191 Entgegen Karl-Jürgen Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005, S. 68 f. 1190

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

die aus dem sozialen Ausgleich resultierenden ungleichen bzw. nicht individualäquivalenten Beitragssätze und die Ausweitung ihres Versichertenbestandes. Abschnitt 2

Andere Gesetzgebungskompetenzen für soziale Vorsorge und ihre Abgrenzung zur „Sozialversicherung“ i. S. v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Sofern der Bundesgesetzgeber Maßnahmen sozialer Absicherung gegen bestimmte Elementarrisiken tätigt, können diese auch andere Gesetzgebungsmaterien als „die Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG betreffen. Eine Abgrenzung ist daher geboten. Zu betrachten sind hier namentlich diejenigen Gesetzgebungsmaterien, welche neben der Sozialversicherung die anderen beiden wesentlichen Gestaltungsformen der Trias sozialer Sicherung1192 betreffen, nämlich die „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und die „Versorgung“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG1193, hinsichtlich Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen). Ferner ist hier auch die Kompetenz für die Regelung des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ als Teil des Rechts der Wirtschaft in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG von Belang, denn zum einen sichert auch die Privatversicherung Elementarrisiken wie Krankheit, Alter etc. ab, und zum anderen gewinnt die Einführung von an sich die Sozialversicherung kennzeichnenden sozialen Mechanismen auch in der Privatversicherung immer stärkere Bedeutung, wie etwa das Beispiel der privaten Pflegeversicherung1194 oder neuerdings des sog. Basistarifs in der privaten Krankenversicherung zeigt.1195

1192 Siehe zur „klassischen Trias“ der sozialen Sicherung, „Versicherung, Fürsorge, Versorgung“, etwa B. Fichtner, Fürsorge – Versicherung – Versorgung, ZSR 1967, S. 385 ff.; Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 17; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 1 ff. – Zu neueren Einteilungsversuchen der sozialen Sicherungsleistungen siehe etwa Wolfgang Rüfner, a. a. O., S. 17 ff.; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, a. a. O., § 2 Rn. 3 ff.; Hans F. Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 571 (583 ff.). Die Beibehaltung der „klassischen“ Trias auf der einfachgesetzlichen Ebene ist nicht verfassungsrechtlich vorgegeben, siehe Wolfgang Rüfner, a. a. O., S. 17 Fn. 31. 1193 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), geregelt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 1194 Die private Pflegeversicherung ist neben der sozialen Pflegeversicherung Teil der im Elften Buch Sozialgesetzbuch geregelten gesetzlichen Pflegeversicherung, siehe dazu BVerfGE 103, S. 197 (198). 1195 Siehe ausführlich zu diesem speziellen Problemkomplex daher auch noch den Abschnitt 3 des 2. Teils dieser Untersuchung.

I. „Öffentliche Fürsorge‘‘

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I. „Öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG 1. Inhalt Unter „Fürsorge“ wird im klassisch-traditionellen Sinne eine – regelmäßig, aber nicht notwendig wirtschaftliche – individuelle, konkret auf bestimmte Notlagen oder Bedürfnisse bezogene Hilfeleistung verstanden, die dem Betroffenen ein zumindest menschenwürdiges Dasein ermöglichen soll.1196 Staatliche oder „öffentliche“ Fürsorge folgt dabei dem Grundsatz der Subsidiarität, greift also prinzipiell erst, wenn andere Hilfen nicht erreichbar sind,1197 und wird „durch öffentlich-rechtliche oder öffentlich-rechtlich beliehene Rechtsträger mit öffentlichen Mitteln“ gewährt1198. Die wohl typischste Fürsorgeleistung und häufig mit Fürsorge im engeren verwaltungsrechtlichen Sinne gleichgesetzt ist die Sozialhilfe.1199 Jedenfalls staatliche Leistungen, die hiermit vergleichbar sind, d. h. zur Linderung einer konkreten und akuten wirtschaftlichen Notlage dienen, fallen damit unter die „öffentliche Fürsorge“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG.1200 Allerdings ist der Kompetenztitel nach ganz überwiegender Auffassung über diese klassischen Sozialleistungen einer im weitesten Sinne Armenfürsorge hinaus zu erstrecken.1201 Wie in dem Begriff „Sozialversicherung“ erblickt das 1196 Vgl. Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 107; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2. 1197 Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 156; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 6. 1198 Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 107; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 61. 1199 Siehe vor allem Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 6; ferner auch Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 17; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2. 1200 Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 61. 1201 Siehe etwa BVerfGE 88, S. 203 (329): „nicht eng“ auszulegen; ebenso BVerfGE 97, S. 332 (341); BSGE 6, S. 213 (219): „wesentlich weiter“ auszulegen als im verwaltungsrechtlichen Sinne; siehe ferner etwa Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 35 ff.; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 63 ff.; Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 155; Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 60, 62; im Ergebnis ebenso, wenn auch vorsichtiger (weite Auslegung „nicht zwingend“) Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 74 Rn. 32 ff.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

Bundesverfassungsgericht in dem Terminus „öffentliche Fürsorge“ einen verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff1202, der alles umfaßt, was in seinen wesentlichen Strukturelementen dem Bild entspricht, das durch die „klassische Fürsorge“ geprägt ist1203. „Öffentliche Fürsorge“ ist hiernach nicht beschränkt auf Hilfsmaßnahmen bei wirtschaftlichen Notlagen oder bei akuter Hilfsbedürftigkeit.1204 So unterfallen dem Kompetenztitel auch Leistungen, welche unabhängig von einer konkret-individuellen Bedürftigkeit auch für unspezifisch-typisierte Bedarfslagen gewährt werden (etwa das Kindergeld)1205 sowie vorbeugende Maßnahmen, um künftige Notlagen nicht entstehen zu lassen (etwa die Jugendpflege zur Förderung des geistigen, körperlichen und sittlichen Wohls von Jugendlichen)1206. Die Leistungen erschöpfen sich nicht in finanziellen Zuwendungen, sondern können auch in Sachleistungen, Dienstleistungen (z. B. Unterbringung, Beratung) oder sonstigen materiellen oder immateriellen Hilfeleistungen bestehen.1207 Insbesondere durch die Loslösung von einer konkret-individuellen Bedürftigkeit und die Ausdehnung auch auf unspezifisch-typisierte Bedarfslagen sowie vorbeugende Maßnahmen erfaßt die „öffentliche Fürsorge“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zahlreiche Leistungen, die gemessen an der klassischen sozialrechtlichen Trias „Fürsorge – Versorgung – Versicherung“ eher dem Bereich der Versorgung zuzuordnen sind1208. Durch diese Loslösung muß jedoch der Gefahr einer Entgrenzung der Materie dadurch begegnet werden, daß andere Gesetzgebungsmaterien, welche ebenfalls im weitesten Sinne fürsorgerische Inhalte umfassen, vorrangig herangezogen werden.1209 Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG enthält insoweit keine umfassende Kompetenz des Bundes für alle sozialen Angelegenheiten oder für die soziale Sicherung schlechthin.1210 Problematisch im Hinblick auf die vom Wortlaut her explizite Begrenzung des Kompetenztitels auf die öffentliche Fürsorge, welche den Kompetenztitel abgrenzt von der anerkanntermaßen nicht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (son1202

BVerfGE 81, S. 156 (186). BVerfGE 106, S. 62 (133). 1204 BVerfGE 106, S. 62 (134). 1205 Siehe näher Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 62. 1206 BVerfGE 97, S. 332 (341); 106, S. 62 (134); Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 36. 1207 Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 35; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 107 – jeweils mit zahlreichen Beispielen. 1208 Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 114. Siehe näher zur „Versorgung“ sogleich unter 2. Teil, Abschnitt 2, II. 1209 Ausführlich Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 115 ff. 1210 Vgl. BVerfGE 11, S. 105 (111); Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 39; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 109. 1203

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dern in die Zuständigkeit der Länder) fallenden privaten Fürsorge1211,1212 ist hingegen die Ausweitung auf fürsorgerisch motivierte Inpflichtnahmen Privater wie etwa im Falle der Festlegung von Pflichtplatzquoten für die Beschäftigung von Schwerbehinderten bei gleichzeitiger Erhebung einer Ausgleichsabgabe bei Nichteinhaltung der Pflichtplatzquote1213. In solchen Fällen wird die fürsorgerische Leistung nicht mehr durch den Staat („öffentlich“) erbracht, sondern nur noch durch ihn angeordnet1214; Erbringer sind Private. Teils wird versucht, dies mit der Begründung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zu fassen, daß der Begriff „öffentlich“ nicht im Hinblick auf die Organisation der Träger der Fürsorge, sondern im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Aufgabe zu ermitteln sei: insoweit liege es „im Rahmen des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 grundsätzlich im Ermessen des Gesetzgebers, wie weit er [. . .] fürsorgerische Maßnahmen zur öffentlichen Aufgabe macht“.1215 Mit dieser Begründung indes wird die Beschränkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG auf „öffentliche“ Fürsorge zur Makulatur, da dann jegliche fürsorgerische Maßnahme, die sich der Gesetzgeber zur Aufgabe macht, zur öffentlichen Fürsorge würde1216. Ebensowenig überzeugt die Begründung öffentlicher Fürsorge in Fällen der genannten Art über die Figur der Inpflichtnahme (auch: Indienstnahme) Privater1217 zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben1218, denn mangels Beleihung 1211 Private Fürsorge erfolgt durch private Träger, etwa durch Privatheime etc. Problematisch war – bevor das Heimrecht durch die Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006, BGBl. I, S. 2034) in die ausschließliche Ländergesetzgebung überführt wurde – insofern etwa die Herleitung der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG für das auch private Heimträger umfassende Heimgesetz vom 7. August 1974, BGBl. I S. 1873, siehe Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl., 2003, Art. 74 Rn. 35; zur neuen Rechtslage ders., a. a. O., 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 37. Ebenfalls zur privaten Fürsorge zählt die kirchliche Fürsorge, da die Kirchen keine originäre Staatlichkeit aufweisen. 1212 Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 41; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 110; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 65. 1213 BVerfGE 57, S. 139 (166 f.) stützte dies ohne nähere Begründung auf Art. 74 (Abs. 1) Nr. 7 GG; die Literatur scheint dem überwiegend zu folgen, siehe etwa Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 65. 1214 Vgl. auch Wolfgang Binne, Gesetzgebungskompetenz des Bundes für eine obligatorische kapitalgedeckte Zusatzvorsorge?, DRV 1999, S. 598 (604). 1215 So Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 110; dem folgend etwa Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 157. 1216 Dies eingestehend Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 110 a. E. 1217 Siehe zu dieser Rechtsfigur Hans Peter Ipsen, Gesetzliche Indienstnahme Privater für Verwaltungsaufgaben, in: Um Recht und Gerechtigkeit – Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, S. 141 ff.; ders., Gesetzliche Bevorratungsverpflichtung Privater,

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

der Inpflichtgenommenen bleibt deren erzwungenes (in diesen Fällen fürsorgerisches) Handeln privatrechtlich,1219 also letztlich private Fürsorge. Auch wäre es bei Anerkennung dieser Argumentationsmuster nicht recht ersichtlich, warum dann etwa die gesetzgeberische Reglementierung privater Fürsorgeeinrichtungen, welche anerkanntermaßen nicht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG fällt (siehe oben), nicht gleichfalls eine Statuierung einer „öffentlichen“ Aufgabe oder gegebenenfalls einer Inpflichtnahme zur Folge und demgemäß als öffentliche Fürsorge zu gelten hätte, denn bereits das aus Sicht des Gesetzgeber bestehende Regelungsbedürfnis müßte dann folgerichtig diese Fürsorge bereits zur „öffentlichen“ machen. Ob insgesamt eine derart übermäßige, die Grenzen der Materie aufweichende1220 Ausdehnung der Kompetenztitels „öffentliche Fürsorge“ hin zu einer allumfassenden, „uneingeschränkten Kompetenz für die unter Fürsorgegesichtspunkten regelungsbedürftigen Rechtsverhältnisse“1221 noch dem Inhalt des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG entspricht, ist insoweit zweifelhaft, entfernt sich der „verfassungsrechtliche Gattungsbegriff der öffentlichen Fürsorge“1222 damit doch mehr als nur unerheblich von den wesentlichen, durch die „klassische Fürsorge“ geprägten Strukturelementen (staatliche Hilfeleistung durch öffentlichrechtliche oder öffentlich-rechtlich beliehene Rechtsträger mit öffentlichen Mitteln, siehe oben), denen auch neue Lebenssachverhalte, die auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG gestützt werden sollen, entsprechen müssen1223.1224 AöR 90 (1965), S. 393 (417 ff.); Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 364. 1218 Auf diese Begründung stützen sich augenscheinlich etwa Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 41; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 65. 1219 Siehe Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 364. 1220 Vgl. Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 67. 1221 BVerfGE 106, S. 62 (135); 108, S. 186 (214) – jeweils bzgl. Altenpflegeeinrichtungen; für allumfassende Fürsorgekompetenz ohne jegliche Begrenzung auch BSGE 6, S. 213 (223): dem Art. 74 (Abs. 1) Nr. 7 GG unterfalle jede „durch Gesetz verordnete und geordnete, allgemein fürsorgerischen Zwecken dienende Maßnahme [. . .], ohne daß im Einzelfall unmittelbar ein Gefährdungstatbestand vorzuliegen braucht“ oder es darauf ankomme, „wer die Mittel hierfür aufzubringen hat“; dem folgend etwa Rainer Pitschas, Der Schutz pflegebedürftiger Bürger, ZRP 1987, S. 283 (288). 1222 BVerfGE 81, S. 156 (186). 1223 Diese Vorgabe aufstellend BVerfGE 108, S. 186 (214). 1224 Vgl. insoweit auch Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 62: obwohl Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG nicht auf die Fürsorge im „engeren, technischen Sinne“ begrenzt ist, ist sie gleichwohl doch „keine kompetenzrechtliche Generalklausel für das Recht der sozialen Sicherheit“; vgl. ferner Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 156: der Kompetenztitel Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG deckt

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2. Abgrenzung zur „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) In Abgrenzung zu „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG besteht der wesentliche Unterschied der Materie „(öffentliche) Fürsorge“ zum einen darin, daß die Fürsorgeleistungen gegenleistungsunabhängig gewährt werden, also keine Beitragsleistungen der (potentiell) Begünstigten voraussetzen, anders als Sozialversicherungsleistungen mithin nicht „erkauft“ werden, und zum anderen werden die Fürsorgeleistungen nicht wie bei der Sozialversicherung aus einer separierten und (zumindest auch) aus Beitragszahlungen der Begünstigten gespeisten Vermögensmasse aufgebracht.1225

3. Kompetenz für eine steuerfinanzierte „Quasi-Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG? Würde der Gesetzgeber sich entschließen, die Sozialversicherung in ein nicht mehr beitragsfinanziertes, sondern (zumindest schwerpunktmäßig) steuerfinanziertes Sicherungssystem umzuwandeln, könnte hierfür mangels Erfüllung des wesentlichen Strukturelements der Beitragsfinanzierung nicht mehr die Gesetzgebungskompetenz für „die Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Anspruch genommen werden.1226 Für die Etablierung eines die Sozialversicherung und ihre Aufgaben ersetzenden Systems einer steuerfinanzierten „Quasi-Sozialversicherung“ käme wegen dessen Gegenleistungsunabhängigkeit aber die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG für die „öffentliche Fürsorge“ in Betracht. Selbst wenn man in den aus einem solchen System resultierenden Sicherungsleistungen lediglich vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Hilfsbedürftigkeit erblickt1227, stünde dies dem Bereich „öffentlicher Fürsorge“ nicht entgegen, da dieser – wie oben zum Inhalt des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG dargelegt – prinzipiell auch solche vorbeugenden Maßnahmen erfaßt.

nicht allgemein „soziale Sicherheit“ ab, auch nicht im Verband mit dem Kompetenztitel „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). 1225 Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 107; Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 156; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2. 1226 Siehe bereits oben, 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (3) (b) (aa). 1227 Diese Sichtweise ist keinesfalls zwingend: Die Leistungen der Sozialversicherung bzw. eines deren Funktionen übernehmenden, steuerfinanzierten Systems sind nur dann als vorbeugende zu betrachten, wenn man als Leistung die Risikoübernahme ansieht. Stellt man als Leistung hingegen auf die konkreten Leistungserbringungen bei Eintritt des Schadensfalles ein, erfolgen diese nicht vorbeugend, sondern anläßlich eines eingetretenen Bedürfnisses.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

Gleichwohl wird mitunter bezweifelt, daß ein in Funktion und Ausmaß der Sozialversicherung vergleichbares, aber steuerfinanziertes System auf die Kompetenz für die öffentliche Fürsorge gestützt werden könne. Denn für die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ist auch im Falle bloß vorbeugender Maßnahmen ein gewisser Zusammenhang mit einer zumindest typisierend festzustellenden Schutzbedürftigkeit oder Notlage gefordert.1228 Daran aber fehle es bei einem rein steuerfinanzierten System sozialer Grundsicherung gerade1229. Die Absicherung gegen „die normalen Risiken des Lebens“ zur öffentlichen Fürsorge zu zählen, sei „zumindest gewagt“1230. Ob es sich indes bei den Sozialversicherungsrisiken wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit noch um „normale Risiken des Lebens“ handelt, muß angesichts ihrer schwerwiegenden Folgen für die Lebensgestaltung des Einzelnen, die sie immerhin in den Kreis der über eine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG absicherungsfähigen Risiken1231 erheben, bezweifelt werden. Angesichts dessen wird man bei ihrem Eintritt auch eine zumindest typisierte Bedarfslage bzw. zu verhindernde, potentielle Notlage annehmen können1232, so daß man eine Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG für die steuerfinanzierte Absicherung dieser Risiken zumindest nicht vorschnell ablehnen sollte1233.

II. „Versorgung“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG1234) 1. Begriff „Versorgung“ Im traditionellen sozialrechtlichen Sinne umfaßt „Versorgung“ gemäß der klassischen Dreiteilung des Rechts der sozialen Sicherheit (Fürsorge – Versorgung – Versicherung) einseitige (staatliche) Leistungen, die beitragsunabhängig 1228 Siehe Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 39; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 69; vgl. auch Theodor Maunz, in: MaunzDürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 111; Wolfgang Rüfner, Möglichkeiten und Grenzen einer Neuordnung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sozialleistungssysteme, in: SDSRV 45 (1999), S. 101 (103). 1229 Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 69; vgl. auch Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 39. 1230 So Wolfgang Rüfner, Möglichkeiten und Grenzen einer Neuordnung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sozialleistungssysteme, in: SDSRV 45 (1999), S. 101 (103). 1231 Siehe hierzu ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a). 1232 Vgl. hierzu auch oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (4) (a). 1233 Vgl. insoweit auch Wolfgang Rüfner, Möglichkeiten und Grenzen einer Neuordnung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sozialleistungssysteme, in: SDSRV 45 (1999), S. 101 (103). 1234 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.).

II. „Versorgung‘‘

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aus allgemeinen Steuermitteln und unter Einräumung eines Rechtsanspruchs bei Vorliegen bestimmter Tatbestände für einen typischen Bedarf nach festen Regeln ohne Rücksicht auf eine individuelle Notlage gegeben werden.1235 Gemeinhin unterscheidet man dabei zwischen zwei Arten der Versorgung: die „Sonderversorgung“ und die „Staatsbürgerversorgung“.1236 Die sog. Sonderversorgung wird als Ausgleich für erlittene Schäden oder sonstige Einbußen oder Beeinträchtigungen gewährt, die der Betroffene aufgrund bestimmter Umstände zumeist im Interesse der Allgemeinheit hinnehmen mußte (beispielsweise als Kriegsopfer oder -geschädigter, durch Vertreibung etc.). Die Sonderversorgung gewährt also Leistungen zum Ausgleich bestimmter Schäden, die aus einer ganz bestimmten, staatspolitisch erheblichen Ursache erwachsen; da es gerade diese Ursache ist, die den Staat dazu veranlaßt, Leistungen zu gewähren, gehen die Sonderversorgungen von einer kausalen Betrachtung aus.1237 Im Gegensatz zur Fürsorge im engen verwaltungsrechtlichen Sinne ist die Versorgung dabei nicht subsidiärer Natur und ihre Gewährung weniger an der konkret-individuellen Bedürftigkeitsprüfung ausgerichtet, sondern sie besteht im allgemeinen aus klar abgegrenzten Ansprüchen auf im voraus dem Umfang nach bestimmte Leistungen oder bemißt sich allenfalls nach einer generell-typisierenden Bedürftigkeitsprüfung.1238 Im Gegensatz dazu geht die sog. Staatsbürgerversorgung nicht von einer kausalen, an bestimmte Ursachen anknüpfenden, sondern von einer finalen Betrachtung aus, gerichtet auf einen bestimmten Sicherungszweck, der grundsätzlich die gesamte Bevölkerung umfassen kann und nicht nur einzelne, mit einer kausalen Ursache konfrontierte Personengruppen: ihr Ziel ist die Absicherung eines Mindeststandards an sozialer Sicherung durch Abdeckung eines (potentiellen) Bedarfs aller Bevölkerungsgruppen, der in bestimmten Lebenslagen einzutreten pflegt (z. B. im Alter, durch Unfall, durch Krankheit usw.).1239 Insoweit kommt es bei ihr, anders als bei der Sonderversorgung, „grundsätzlich nicht auf den Grund des Schadens an, der nach einem Ausgleich verlangt; vielmehr berücksichtigt sie nicht einmal den tatsächlich erlittenen Schaden, sondern stellt nur

1235 Siehe Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 17; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 7; vgl. ferner Walter Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955, S. 19 ff. 1236 Siehe Walter Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955, S. 19 ff.; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 8 f. 1237 Walter Bogs, a. a. O., S. 20 f. 1238 Walter Bogs, a. a. O., S. 20. 1239 Walter Bogs, a. a. O., S. 20 f.; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 8 f.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

darauf ab, ob typischerweise ein Notstand besteht, dessen Beseitigung für die Zukunft notwendig erscheint“1240. 2. Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG1241 sowie weite, auch „Versorgung“ umfassende Auslegung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG Unter Zugrundelegung der eben dargestellten Unterscheidung räumt Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG1242 dem Bund die Kompetenz zur gesetzlichen Regelung der Sonderversorgung von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen ein. Weitere „Versorgungs“-Kompetenzen sind in den Kompetenzkatalogen der Art. 73 f. GG seit der im Zuge der Föderalismusreform 20061243 erfolgten Streichung des Art. 74a Abs. 1 GG (Versorgung der Landesbeamten und -richter) nicht mehr ausdrücklich erwähnt. Durch die ganz überwiegend praktizierte weite Auslegung der Kompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG über die Fürsorge im traditionell-klassischen Sinne hinaus durch Erstreckung auch auf Leistungen, welche unabhängig von einer konkret-individuellen Bedürftigkeit auch für unspezifisch-typisierte Bedarfslagen gewährt werden, sowie auf vorbeugende Maßnahmen, um Notlagen nicht entstehen zu lassen,1244 umfaßt der verfassungsrechtliche Gattungsbegriff der „öffentlichen Fürsorge“ aber letztlich auch Leistungen, die im Sinne der klassischen sozialrechtlichen Dreiteilung eher dem Bereich der „Versorgung“ (vor allem der oben beschriebenen Staatsbürgerversorgung) zuzurechnen sind1245.1246 So wurde etwa auch das im Sinne dieser 1240

Walter Bogs, a. a. O., S. 21. Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 1242 Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 1243 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034. 1244 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1. 1245 Vgl. Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 17. 1246 Im Hinblick auf die auch auf Verfassungsebene, insbesondere in Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 a. F. GG) selbst anzutreffende begriffliche Dualität von „Fürsorge“ und „Versorgung“ ist dieser Befund zumindest nicht selbstverständlich (vgl. auch Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 74 Rn. 32: weite Auslegung „nicht zwingend“). Allerdings erschien die Eigenständigkeit des Gehaltes von Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 a. F. GG angesichts Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ohnehin zweifelhaft, da jedenfalls die „Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen“, auf Grund der weiten Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG aber auch „die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen“ ohne weiteres auf die „öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG hätte gestützt werden können. Angesichts der zur Zeit der Verortung in Art. 74 GG gleichen Rechtsfolge wie mit der von Nr. 7 (nämlich konkurrierende Bundeskompetenz) taugte Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 a. F. GG auch nicht wirklich als lex specialis zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 1241

II. „Versorgung‘‘

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Dreiteilung eher als (Sonder-)Versorgung einzustufende Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz1247 als der Kompetenz für die „Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG, ehemals Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG) unterfallend angesehen.1248 3. Abgrenzung von „Versorgung“ zu „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) Da einerseits Fürsorge und Versorgung gemeinsam haben, daß sie beitragsunabhängig gewährt und aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden, und da andererseits auf verfassungsrechtlicher Ebene Leistungen, welche im Sinne der klassischen Sozialrechtstrias an sich der Versorgung zuzurechnen wären, aufgrund der weiten Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG regelmäßig unter die Kompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ gefaßt werden1249, kann hinsichtlich der Abgrenzung zur „Sozialversicherung“ auf die bereits oben gemachten Ausführungen zur Abgrenzung gegenüber Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG1250 verwiesen werden.

GG (so aber Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 75), sondern hatte letztlich wohl eher deklaratorischen oder angesichts der Nöte infolge des Zweiten Weltkrieges appellatorischen Charakter. Als echte lex specialis zur „öffentlichen Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG kann die Kompetenz wohl nunmehr erst seit ihrer Verlagerung in die ausschließliche Bundesgesetzgebungskompetenz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG) im Zuge der Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034) angesehen werden. Die dort nach wie vor bestehende Trennung von „Fürsorge“ und „Versorgung“ macht die im Rahmen von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG praktizierte Verwischung der Grenzen dieser beiden Begriffe indes nicht selbstverständlicher. 1247 Vom 30. Januar 1954 – BGBl. I, S. 5, aufgehoben durch Art. 5 des Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen vom 21. Dezember 1992 – BGBl. I, S. 2094 (2101). 1248 Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 128; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 75. 1249 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1. 1250 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, II. 2.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen“ als Teil des „Rechts der Wirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG 1. Allgemeines zum „Recht der Wirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ verleiht Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit als Teil des „Rechts der Wirtschaft“. Der Kompetenztitel gehört zu den praktisch bedeutsamsten des Grundgesetzes und wurde so häufig wie kein zweiter in Anspruch genommen.1251 Seine Bedeutung ergibt sich zum einen aus der Wichtigkeit der Materie als solcher, betrifft sie doch eine der elementarsten menschlichen sowie gesamtgesellschaftlichen Grundlagen.1252 Zum anderen resultiert sie aus dem Umstand, daß zahlreiche Lebens- und Regelungsbereiche zumindest Berührungspunkte mit dem Bereich „Wirtschaft“ haben, was indes zu nicht unerheblichen Abgrenzungsproblemen zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG und anderen Kompetenztiteln führen kann.1253 Diese Berührungspunkte resultieren letztlich aus der Weite des – in der Rechtswissenschaft allerdings selten näher bestimmten – Begriffes „Wirtschaft“: Als Ausgangspunkt für diesen kann – auch wenn sich im folgenden die Notwendigkeit gewisser Präzisierungen zeigen wird – auf den wirtschaftswissenschaftlichen Begriff von „Wirtschaft“ zurückgegriffen werden: hiernach versteht man unter „Wirtschaft“ die Gesamtheit aller Einrichtungen und Maßnahmen zur Deckung des Bedarfs des Menschen an knappen (d. h. nicht unbegrenzt verfügbaren) Gütern, wobei der Begriff „Güter“ nicht auf Sachgüter beschränkt ist, sondern etwa auch Dienstleistungen etc. beinhaltet; „Wirtschaft“ umfaßt damit einerseits die materielle (sachliche) und institutionelle Ausstattung, derer sich der Mensch zur Beschaffung der knappen Güter bedient, und andererseits das menschliche Verhalten selbst, das der Beschaffung und Bereitstellung dieser Güter dient.1254 1251 Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 165 m. w. N. 1252 Siehe Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 130; Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 Nr. 11 (Drittbearbeitung) Rn. 17. 1253 Vgl. Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 167. 1254 Siehe Horst Wagenblaß, Volkswirtschaftslehre, öffentliche Finanzen und Wirtschaftspolitik, 7. Aufl., 2001, S. 1; vgl. ferner Ulrich Baßeler/Jürgen Heinrich/Burkhart Utecht, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, 18. Aufl., 2006, S. 12 ff.; Wolfgang Cezanne, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 6. Aufl., 2005, S. 2 ff.

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen‘‘

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Mit der dargelegten Bedeutung des Kompetenztitels korrespondiert seine grundsätzlich weite Auslegung, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorzunehmen ist: Zum Recht der Wirtschaft „gehören nicht nur diejenigen Vorschriften, die sich in irgendeiner Form auf die Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs beziehen, sondern auch alle anderen das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen“, einschließlich Gesetzen „mit wirtschaftsregulierendem oder wirtschaftslenkendem Inhalt“.1255 „Eine Regelung kann zum ,Recht der Wirtschaft‘ ergehen im Hinblick auf die Wirtschaft ,als solche‘, die Wirtschaft insgesamt, Branchen, Organisation, Ordnung, Lenkung und Planung der Wirtschaft, Wirtschaftssubjekte und wirtschaftliche Betätigung“.1256 Dementsprechend ist das „Recht der Wirtschaft“ auch nicht dekkungsgleich mit dem des „Wirtschaftsrechts“, sofern man unter Letzterem nur das spezifisch wirtschaftslenkende und marktordnende Recht versteht1257, d. h. Normen, die ihrer Intention und Wirkung nach primär oder sogar ausschließlich wirtschaftslenkende Funktion haben (sog. „wirtschaftsbezogene“ Normen1258). Solche können jedenfalls auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden. Problematischer ist dies hingegen bei den bloß „wirtschaftsrelevanten“ Normen, welche primär nicht auf die Wirtschaftsgestaltung gerichtet sind, ihrer primären oder ausschließlichen Zweckbestimmung nach also andere, etwa sozial- oder bildungspolitische Ziele verfolgen, aufgrund der vielfachen Interdependenzen jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft haben1259. Um andere Kompetenzen neben Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht leerlaufen zu lassen oder zumindest nicht beträchtlich auszuhöhlen, muß man hinsichtlich solcher bloß „wirtschaftsrelevanten“ Regelungen sehr genau hinterfragen, ob nicht im Schwerpunkt ganz andere Zielsetzungen verfolgt werden als die Regelung der wirtschaftlichen Rahmenbedingen, selbst wenn diese 1255 BVerfGE 68, S. 319 (330) unter zahlreichen Bezugnahmen auf die eigene Rechtsprechung. 1256 Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 166. – Ausgeschlossen aus dem Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG sind allerdings seit der Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034) Regelungen betreffend das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellungen von Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte. 1257 Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 167. 1258 Winfried Brohm, Wirtschaftsrecht – Anrecht und Aufgabe, DÖV 1979, S. 18 (23), der den Begriff „Wirtschaftsrecht“ allerdings nicht nur auf diese „wirtschaftsbezogenen Normen“ beschränkt wissen will, sondern durch sie nur den „Kernbestand“ des Wirtschaftsrechts erfüllt sieht. 1259 Winfried Brohm, Wirtschaftsrecht – Anrecht und Aufgabe, DÖV 1979, S. 18 (23).

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

in nicht unerheblichem Maße mitbetroffen sind1260. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG darf nicht so weit interpretiert werden, daß eine „Universalgesetzgebungszuständigkeit des Bundes“ entsteht, „die alle im einzelnen aufgeführten Zuständigkeiten entbehrlich macht, weil kein Gesetz denkbar ist, das nicht zumindest mittelbare ökonomische Folgen auslöst“.1261 Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht1262 etwa im Falle der Festlegung von Pflichtplatzquoten für die Beschäftigung von Schwerbehinderten bei gleichzeitiger Erhebung einer Ausgleichsabgabe bei Nichteinhaltung der Pflichtplatzquote die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nicht, wie man auf den ersten Blick wegen der Reglementierung der Beschäftigung (bestimmter Gruppen) von Arbeitnehmern vermuten könnte, im „Recht der Wirtschaft“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG erblickt, sondern wegen des sozial-fürsorgerischen Bezuges (Beschäftigung von Schwerbehinderten) in der Kompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG1263. Allerdings sollte man Vorsicht bei der Formulierung walten lassen, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG enthalte eine „Generalklausel“ oder einen „Auffangtatbestand“1264, denn hierdurch würde „das an der Ausführlichkeit und teilweisen Detailliertheit der Kompetenzkataloge erkennbare Bemühen des Verfassungsgebers in Frage gestellt, eine differenzierte Kompetenzverteilung vorzugeben“1265, impliziert dies doch, der Bund könne auf diesem Wege, obwohl ihm die an sich vorrangig einschlägige Kompetenz nicht offensteht, bei (auch) wirtschaftsrelevantem Bezug der behandelten Materie immerhin noch „hilfsweise“ auf den „Auffangtatbestand“ Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zurückgreifen und gegebenenfalls die entsprechenden Landeskompetenzen aushebeln.1266 1260 Siehe etwa Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 70 Rn. 43; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 101. 1261 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 54; Helge Sodan, Der „Beitrag“ des Arbeitgebers zur Sozialversicherung für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, NZS 1999, S. 105 (111). 1262 BVerfGE 57, S. 139 (166 f.). 1263 Siehe näher zu dieser Kompetenz bereits oben 2. Teil, Abschnitt 2, I., dort ebenso zur kritischen Hinterfragung dieser Entscheidung wegen der extrem weiten Ausdehnung des Begriffes „öffentliche Fürsorge“. 1264 So aber etwa Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 166. 1265 Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 70 Rn. 43. 1266 Sieht man etwa in dem zuvor genannten Beispiel der Pflichtplatzquoten für die Beschäftigung von Schwerbehinderten eine „Fürsorge“-Kompetenz als vorrangig einschlägig an, scheiterte dann aber die Annahme von „öffentlicher Fürsorge“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, weil man (entgegen der h. M., siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1.) das hierfür grundsätzlich erforderliche Merkmal der Erbringung der Fürsorgeleistung „durch öffentlich-rechtliche oder öffentlich-rechtlich beliehene Rechtsträger mit öffentlichen Mitteln“ (siehe Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar [Loseblatt], Art. 74 Rn. 107) als nicht erfüllt ansieht, so dürfte sich der

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen‘‘

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Umfänglich zu verstehen ist „Recht der Wirtschaft“ im Sinn des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auch insoweit, als es nicht nur die wirtschaftliche Betätigung von Privaten umfaßt, sondern grundsätzlich auch den Staat als Wirtschaftssubjekt, also wirtschaftliche Betätigung durch die öffentliche Hand.1267 Ferner können sowohl privates als auch öffentliches „Recht der Wirtschaft“ auf den Kompetenztitel gestützt werden1268.1269

2. „Privatrechtliches Versicherungswesen“ als Teil des Rechts der Wirtschaft Kraft des in ihm enthaltenen Klammerzusatzes umfaßt Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ausdrücklich auch das „privatrechtliche Versicherungswesen“.1270 Hinsichtlich des Begriffes „Versicherung“ kann dabei auf die bereits oben1271 gemachten Ausführungen verwiesen werden. Die Beschränkung auf das „privatrechtliche“ Versicherungswesen klammert das den Gegensatz hierzu bildende „öffentlich-rechtliche“ Versicherungswesen aus dem Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG aus.1272 Die Abgrenzung zwischen „privatrechtlichem“ und „öffentlich-rechtlichem“ Versicherungswesen bemißt sich dabei allerdings nicht maßgeblich nach der (privaten oder öffentlich-rechtlichen) Organisations- bzw. Rechtsform,1273 zumal das „Recht der Wirtschaft“, dessen Unterfall das „privatrechtliche Versicherungswesen“ ja darstellt, seinerseits – wie bereits dargelegt – die wirtschaftliche Betätigung sowohl durch Private als auch durch die Bund nun nicht „hilfsweise“ auf seine Kompetenz für „das Recht der Wirtschaft“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen, weil er hierdurch in den Kompetenzraum der Länder für das private Fürsorgewesen eindringen würde. 1267 Allgemeine Ansicht, siehe statt aller etwa Christoph Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 74 Rn. 44; Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 86. 1268 Siehe ausführlich zur Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 287 ff. 1269 Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 70 Rn. 45; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 135. 1270 Siehe ausführlich zu dem für die vorliegende Untersuchung unerheblichen Streit, ob die Aufzählung einzelner Wirtschaftszweige in dem Klammerzusatz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG abschließend oder nur beispielhaft ist Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 84 ff. 1271 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc). 1272 Siehe BVerfGE 41, S. 205 (218 f.). 1273 BVerfGE 41, S. 205 (218 ff.); 103, S. 167 (216); Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 179.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

öffentliche Hand umfaßt, und letztere ihre wirtschaftliche Betätigung auch in den Organisationsformen des öffentlichen Rechts bewerkstelligen kann1274. Ohne damit den Inhalt des Kompetenztitels abschließend bestimmen zu wollen, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß sich der Bundesgesetzgeber „jedenfalls“ auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen kann, „wenn sich seine Regelungen auf Versicherungsunternehmen beziehen, die in Wettbewerb mit anderen durch privatrechtliche Verträge Risiken versichern, die Prämien grundsätzlich am individuellen Risiko und nicht am Erwerbseinkommen des Versicherungsnehmers orientieren und die vertraglich zugesagten Leistungen im Versicherungsfall aufgrund eines kapitalgedeckten Finanzierungssystems erbringen“1275. In einer früheren Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht für die Charakterisierung der dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG unterfallenden Versicherungsunternehmen darauf ab, daß diese im (wirtschaftlichen) Wettbewerb zueinander stehen und ihre Versicherungsverhältnisse dem Privatrecht angehören.1276 Insoweit gehören zum „privatrechtlichen Versicherungswesen“ auch öffentlich-rechtlich organisierte bzw. durch die öffentliche Hand betriebene Versicherungen, sofern sie Versicherungsgeschäfte „wie Privatversicherungen, also auf wettbewerblicher Grundlage“ betreiben1277; gemeint sind hiermit also die sog. „Wettbewerbsversicherer“ bzw. „Wettbewerbsanstalten“1278 der öffentlichen Hand. 3. Abgrenzung zum „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen“ einschließlich „Sozialversicherung“ a) „Abgrenzung“ nach den unterschiedlichen Versicherungsinstitutionen Zu dem den Gegensatz zum „privatrechtlichen Versicherungswesen“ bildenden „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen“ gehören demgegenüber neben der „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) jedenfalls diejenigen (staatlich betriebenen) Versicherungen, die – wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert – „als Zwangs- oder Monopolanstalten das Versicherungsgeschäft nicht auf wettbewerblicher Grundlage betreiben, sondern bei denen das Versicherungsverhältnis hoheitlich ausgestaltet ist“; letztere fallen in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder.1279 Hierzu gehörten vor allem die 1274 Dirk Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, S. 1089 (1092). 1275 BVerfGE 103, S. 197 (216 f.). 1276 Siehe BVerfGE 41, S. 205 (219). 1277 Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 148; siehe auch BVerfGE 41, S. 205 (219 ff.); 103, S. 197 (216, 220). 1278 Siehe zu diesen Begriffen bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (3) (m). 1279 BVerfGE 10, S. 141 (162); 41, S. 205 (219).

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen‘‘

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öffentlichen Feuer- und Gebäudeversicherungsanstalten1280. Diese auf eine lange Tradition in Deutschland zurückblickenden1281 Versicherungsanstalten verfolgten seit jeher keine wettbewerblich-wirtschaftlichen, sondern ganz primär soziale, fürsorgerische Ziele, denn sie dienten der Erhaltung des Gebäudebestandes1282 und damit der Erhaltung von Wohn- und Arbeitsstätten, der Verhinderung der Verarmung brandgeschädigter Gebäudeeigentümer sowie dem Erhalt von an den Gebäudebestand anknüpfenden öffentlichen Abgaben als staatliche Einnahmequelle1283. Um diese im Gegensatz zu den privatrechtlichen Versicherungsunternehmen am Gemeinwohl orientierte Zielsetzung verwirklichen zu können, wurden die betreffenden, als Anstalten des öffentlichen Rechts geführten1284 Unternehmen wenn auch nicht durchgängig, so doch regelmäßig als Zwangsversicherungen ausgestaltet, unterlagen auf der anderen Seite einem Kontrahierungszwang, verzichteten – anders in der Privatversicherung üblich – auf an einer Gefahrenklassifikation ausgerichtete Prämienbemessung und wurden, um sie vor einer zu ihren Lasten eintretenden Risikoauslese zu schützen, von privater Konkurrenz „befreit“, indem man sie regelmäßig (aber nicht durchgängig) als Monopole ausgestaltete.1285 Die Parallelen zum zweiten großen Teilbereich des öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens, zur Sozialversicherung, sind damit unverkennbar1286: einer gemeinwohlorientierten Zwecksetzung folgende, sozial und mit Kontrahierungszwang ausgestaltete, staatlich betriebene 1280 Allerdings ist das System der öffentlich-rechtlichen Versicherungsmonopole durch die 1993 vom Rat der Europäischen Gemeinschaften verabschiedete Dritte Richtlinie Schadenversicherung (siehe deren Art. 3) erheblich unter Druck geraten, und es mußten die betreffenden öffentlich-rechtlichen Versicherungen in privatrechtliche Versicherungsverhältnisse übergeleitet werden, siehe näher Reinhard Renger, Gesetz zur Überleitung landesrechtlicher Gebäudeversicherungsverhältnisse, VersR 1993, S. 942 ff.; siehe ferner Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 100 a. E. – Damit ist die praktische (nicht aber die rechtsdogmatische) Bedeutung dieser – gleichwohl fortbestehenden – Gesetzgebungskompetenz der Länder erheblich geringer geworden. 1281 Siehe zur historischen Entwicklung dieser öffentlich-rechtlichen Zwangs- und Monopolversicherungen Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 5 ff.; Reinhard Renger, Gesetz zur Überleitung landesrechtlicher Gebäudeversicherungsverhältnisse, VersR 1993, S. 942 f. 1282 BVerfGE 10, S. 141 (166). 1283 Siehe Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 7. 1284 Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 30 f. 1285 Siehe zu all dem ausführlich Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 7 f., 43 ff., 56 ff., 84 ff. 1286 Siehe zur Abgrenzung zwischen diesen beiden – Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und (landesrechtliche) Zwangs- und Monopolversicherer – im Hinblick auf die Art der versicherten Risiken bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a) (dd) (b) (bb).

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

Versicherungen, die typischerweise mit Versicherungszwang operieren und (zumindest faktisch) eine Monopolstellung aufweisen. b) Abgrenzung nach allgemeinen Kriterien Sind damit zwar zunächst die Institutionen benannt, die unter das „privatrechtliche Versicherungswesen“ auf der einen Seite fallen (private Versicherer, „Wettbewerbsversicherer“ der öffentlichen Hand) sowie unter das „öffentlichrechtliche Versicherungswesen“ auf der anderen Seite (Sozialversicherung, öffentlich-rechtliche „Monopol- und Zwangsanstalten“), bedarf es gleichwohl allgemeiner Kriterien, um diese Institutionen generell voneinander abgrenzen zu können. Gemeinsam ist ihnen dabei allen, daß sie nach Maßgabe der oben herausgearbeiteten Begriffsmerkmale „Versicherungen“ im Rechtssinne sind1287. Diese Notwendigkeit der Abgrenzbarkeit nach allgemeinen Kriterien erscheint im übrigen dadurch umso höher, als im Bereich der die Sozialversicherung betreffenden Gesetzgebung verstärkt Tendenzen zu beobachten sind, die Privatversicherer in die an sich der Sozialversicherung obliegenden Aufgabe der Bereitstellung eines „sozialen“ Versicherungsschutzes einzubeziehen:1288 So erfolgte etwa die Etablierung der im Elften Buch Sozialgesetzbuch geregelten gesetzlichen Pflegeversicherung durch Aufsplittung in eine „soziale“ und eine „private“ Pflegeversicherung.1289 Und im Rahmen der ab dem Jahre 2003 aufgekommenen Diskussion um die Einführung einer „Bürgerversicherung“ in der gesetzlichen Krankenversicherung wurde unter anderem ein Vorschlag entworfen, der eine „abgeschwächte“ Bürgerversicherung vorsah, indem man zwar am grundsätzlichen Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenkassen festhalten wollte, allerdings unter weitgehender Angleichung der privaten Krankenversicherer sowie deren Versicherungsbedingungen an die gesetzliche Krankenversicherung.1290 Und zuletzt ist nunmehr durch die Gesundheitsreform 20071291 ein sog. Basistarif eingeführt worden, welcher von den privaten Krankenversicherungsunternehmen ab dem 1.1.20091292 angeboten werden muß und der starke soziale Elemente, wie sie in der gesetzlichen Krankenversicherung üblich sind, auf die private Krankenversicherung überträgt1293. 1287 Siehe ausführlich zum Versicherungsbegriff und seinen Merkmalen oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc). 1288 Siehe ausführlich hierzu noch unten 2. Teil, Abschnitt III. 1289 Siehe dazu BVerfGE 103, S. 197 ff. 1290 Siehe näher oben 1. Teil, III. 1. b). 1291 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007 – BGBl. I, S. 378. 1292 Siehe Art. 43, 44 i.V. m. Art. 46 Abs. 10 GKV-WSG sowie Art. 10, 11 i.V. m. Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11. 2007 – BGBl. I, S. 2631.

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen‘‘

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Zur notwendigen Abgrenzung kommen dabei zunächst vor allem die Kriterien in Betracht, welche das Bundesverfassungsgericht in seinen bereits oben dargelegten Entscheidungen ins Spiel brachte: Darin hatte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ insoweit festgestellt – wenn auch unter ausdrücklichem Hinweis, hiermit keine abschließende Bestimmung des Kompetenztitels vorzunehmen –, daß sich der Bundesgesetzgeber „jedenfalls“ auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen könne, „wenn sich seine Regelungen auf Versicherungsunternehmen beziehen, die in Wettbewerb mit anderen durch privatrechtliche Verträge Risiken versichern, die Prämien grundsätzlich am individuellen Risiko und nicht am Erwerbseinkommen des Versicherungsnehmers orientieren und die vertraglich zugesagten Leistungen im Versicherungsfall aufgrund eines kapitalgedeckten Finanzierungssystems erbringen“1294. Nicht hingegen greife Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG „jedenfalls für [. . .] Versicherungen, die als Zwangs- oder Monopolanstalten das Versicherungsgeschäft nicht auf wettbewerblicher Grundlage betreiben, sondern bei denen das Versicherungsverhältnis hoheitlich ausgestaltet ist“1295. Bezüglich beider Aussagen ist zu beachten, daß angesichts der jeweiligen Einschiebung des Wörtchens „jedenfalls“ letztendlich keine abschließende Inhaltsbestimmung vorgenommen wurde oder werden sollte; vielmehr werden nur die typischen, quasi mustergültigen Erscheinungsformen des „privatrechtlichen“ und des „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens“ (zu welchem auch die Sozialversicherung zu zählen ist1296) beschrieben. Gleichwohl sollen die insoweit anklingenden Kriterien im folgenden auf ihre Tauglichkeit zur Abgrenzung zwischen „privatrechtlichem“ und „öffentlich-rechtlichem Versicherungswesen“ resp. „Sozialversicherung“ (mit)untersucht werden. aa) Organisationsform? Die (privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche) Organisationsform ist, wie bereits oben sowie vom Bundesverfassungsgericht1297 ausgeführt, kein geeignetes Abgrenzungskriterium, da einerseits Wettbewerbsunternehmen der öffentlichen Hand trotz einer öffentlich-rechtlichen Organisationsform1298 gleichwohl 1293 Siehe näher zu diesem Basistarif bereits oben 1. Teil, II. 2. sowie im folgenden unter 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. b) aa). 1294 BVerfGE 103, S. 197 (216 f.). 1295 BVerfGE 41, S. 205 (219); siehe auch BVerfGE 10, S. 141 (162). 1296 Siehe BVerfGE 41, S. 205 (218). 1297 BVerfGE 41, S. 205 (218 ff.); 103, S. 167 (216); ferner auch Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 179. 1298 Vgl. hierzu Dirk Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, S. 1089 (1092).

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

zum „Recht der Wirtschaft“ bzw. zum „privatrechtlichen Versicherungswesen“ zu zählen sind1299, und andererseits die nicht dem Bereich „Recht der Wirtschaft“ zuzuordnenden staatlichen Erbringer von Leistungen wie jede andere Verwaltungseinheit vor allem im Bereich der Leistungsverwaltung nach h. M. grundsätzlich eine „Wahlfreiheit“ zwischen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Organisationsform haben bzw. haben können, soweit nicht verfassungs- oder einfachrechtlich eine öffentlich-rechtliche Organisationsform vorgeschrieben ist1300. Demgemäß hätten die „Monopol- und Zwangsanstalten“ des „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens“ auf Grundlage einer solchen Wahlfreiheit grundsätzlich auch privatrechtlich organisiert sein können, und selbst für die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist dies bei genauerer Betrachtung nicht von vornherein ausgeschlossen: Zwar verböte sich dies angesichts der strikten organisationsrechtlichen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG, nach denen die Sozialversicherungsträger als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ zu führen sind,1301 jedoch sind – wie oben dargelegt1302 – Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG voneinander zu trennen, wenn es formal um die Inhaltsbestimmung des Begriffes „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG geht. Dieser Begriff gebietet aber als unabdingbares Strukturmerkmal nur die „staatliche“ Durchführung der „Sozialversicherung“,1303 also die Durchführung durch die öffentliche Hand. Demgemäß wäre es nicht von vornherein kompetenzrechtlich ausgeschlossen, auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine einfachgesetzliche Ausgestaltung der „Sozialversicherung“ zu wählen, bei der deren Träger in Ausübung einer bestehenden „Wahlfreiheit“ (oder sogar kraft gesetzlicher Anordnung) privatrechtlich organisierte Verwaltungseinheiten sind (sog. Organisationsprivatisierung1304), auch wenn dies in materiell-inhaltlicher Hinsicht den derzeit geltenden Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG („Körperschaften des öffentlichen Rechts“) widerspräche und eine solche Ausgestaltung daher wegen Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 2 GG (nicht aber gegen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) verfassungswidrig wäre1305.

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Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 1. und 2. Siehe näher zum Grundsatz der Wahlfreiheit der Verwaltung Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 312 ff. 1301 Siehe näher zu Art. 87 Abs. 2 GG unten 3. Teil, II. 1302 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). 1303 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). 1304 Siehe zum Begriff „Organisationsprivatisierung“ oben bei Fn. 845. 1305 Bei einer entsprechenden (Verfassungs-)Änderung des Art. 87 Abs. 2 GG erscheint ein solchermaßen ausgestaltetes Sozialversicherungssystem hingegen verfassungsrechtlich möglich. Im übrigen können eine solche Ausgestaltung die nicht an Art. 87 Abs. 2 GG gebundenen Landesgesetzgeber wählen, soweit sie von der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG mangels entgegenstehender bundesgesetzlicher 1300

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen‘‘

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bb) Art der Prämienkalkulation? Für eine „privatrechtliche“ Versicherung ist es zwar grundsätzlich üblich und wirtschaftlich geboten, die Prämien am individuellen Risiko auszurichten, mithin also eine am Gedanken der Individualäquivalenz oder einem versicherungsmathematischen „Versicherungsprinzip“1306 ausgerichtete Prämienkalkulation zu betreiben. Jedoch ist dies weder notwendig, um sie begrifflich überhaupt als „Versicherung“ qualifizieren zu können, noch besteht dies als Erfordernis, um sie als „privatrechtliche“ Versicherung einstufen zu können. Denn – unbeschadet von möglichen einfachgesetzlichen Vorgaben (etwa in Gestalt des Versicherungsaufsichtsgesetzes), welche aber nicht die auf Verfassungsebene angesiedelte Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG determinieren können – liegt es in der unternehmerischen Freiheit von Subjekten der Privatwirtschaft, ihre Kalkulation in einer von ihnen als zweckmäßig erachteten Weise vornehmen zu können (auch wenn dies dann regelmäßig zur Prämienbemessung am individuellen Risiko führen wird). Demgemäß sind auch in der Privatversicherung sozial modifizierte Kalkulationsmethoden, die dort freiwillig eingeführt werden, jedenfalls nicht begriffsnotwendig ausgeschlossen, mögen sie auch auf längere Sicht unter Wettbewerbs- und Konkurrenzgesichtspunkten wirtschaftlich wenig erfolgversprechend wirken. cc) Art des Finanzierungssystems? Vergleichbares gilt hinsichtlich der Ausgestaltung der grundlegenden Finanzierung einer Versicherung: auch hier kann es für die Qualifizierung als privatrechtliche Versicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht darauf ankommen, ob ein kapitalgedecktes oder etwa ein umlagefinanziertes System gewählt wird – dies kann nur durch Zweckmäßigkeitserwägungen oder gegebenenfalls durch einfachgesetzliche Vorgaben determiniert werden, nicht aber durch den Begriff „privatrechtliches Versicherungswesen“, sowie es umgekehrt auch für eine „öffentlich-rechtliche“ oder die „Sozialversicherung“ begrifflich unmaßgeblich ist, ob sie nach einem Umlage- oder einem Kapitaldeckungsverfahren arbeitet. dd) Im „Wettbewerb mit anderen“? Auch das Merkmal „Wettbewerb mit anderen“1307 hilft für eine entscheidende Kennzeichnung des privatrechtlichen Versicherungswesens gegenüber der Ausübung der Kompetenz Gebrauch machen können (siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, III.). 1306 Siehe dazu näher oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (4) (b) sowie dd) (2). 1307 BVerfGE 103, S. 197 (216); vgl. auch BVerfGE 41, S. 205 (219).

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

öffentlich-rechtlichen bzw. der Sozialversicherung nur bedingt: denn zumindest denkbar ist einerseits auch ein privates Monopolunternehmen (etwa infolge Verdrängung der Konkurrenz oder Besetzung einer Marktnische), und umgekehrt war auch hinsichtlich der zum „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen“ zählenden landesrechtlichen Monopol- und Zwangsanstalten die gesetzlich angeordnete Monopolstellung zwar die Regel, aber auch nicht durchgängig verwirklicht1308. Zudem wird auch in der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung regelmäßig von „Wettbewerb“ der Krankenkassen gesprochen, was sich nicht zuletzt in der Benennung des zentralen Anliegens der geplanten Gesundheitsreform 2006 im Namen des entworfenen Gesetzes widerspiegelt: „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKVWSG)“1309. ee) Handlungsform? Als letztes im Zuge der oben genannten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts bleibt das Merkmal der Durchführung des Versicherungsverhältnisses als „privatrechtliches“ (durch privatrechtlichen Vertrag) oder als „hoheitliches“ bzw. „öffentlich-rechtliches“. In der Tat kann ein privates bzw. ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen lediglich privatrechtlich handeln (vom hier außer Betracht liegenden Fall der Beleihung einmal abgesehen), auch wenn es sich um ein privatrechtlich organisiertes „öffentliches Wettbewerbsunternehmen“ handelt.1310 Allerdings müssen öffentliche „Wettbewerbsunternehmen“, welche ebenfalls unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu fassen sind (siehe oben), nicht zwingend privatrechtlich organisiert sein, sondern können vielmehr auch in öffentlich-rechtlicher Organisationsform wirtschaftlich tätig sein1311, und in diesem Fall ist es auch möglich (wenn auch unüblich), daß ihre Leistungserbringung öffentlich-rechtlich geschieht.1312 Und auf der anderen Seite steht der öffentlichen Hand bei der Erfüllung ihrer Verwaltungsaufgaben, die nicht zu ihrer „wirtschaftlichen“ Tätigkeit gehören, nach h. M. grundsätzlich die bereits erwähnte Wahlfreiheit zwischen den (Organisations- und) Handlungsformen des 1308 Siehe Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 57. 1309 BT-Drucks. 16/3100. 1310 Siehe Dirk Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, S. 1089 (1094); Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 316. 1311 Siehe Dirk Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, S. 1089 (1092). 1312 Siehe Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 27 f.; vgl. ferner Dirk Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, S. 1089 (1094).

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öffentlichen wie des privaten Rechts zu, soweit ihr nicht einfachgesetzlich (oder gar verfassungsrechtlich) anderes vorgeschrieben ist1313. Demgemäß kam bei den nicht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fallenden „Zwangs- und Monopolanstalten“ des öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens grundsätzlich auch eine privatrechtliche Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse in Betracht,1314 zumal der Versicherungszwang hier zwar die Regel, aber eben auch nicht durchgängig angeordnet war1315.1316 Und auch im Hinblick auf den Verfassungsbegriff „Sozialversicherung“ erscheint eine einfachgesetzliche Ausgestaltung als denkbar, bei der auf Grundlage einer prinzipiellen Wahlfreiheit der Verwaltung hinsichtlich der Handlungsformen die Sozialversicherungsverhältnisse anders als im Rahmen der derzeitigen Ausgestaltung nicht als öffentlich-rechtliche1317, sondern als privatrechtliche Schuldverhältnisse ausgestaltet sind, zumal der (öffentlich-rechtliche) Versicherungszwang kein begriffsnotwendiges Element der Sozialversicherung ist und demgemäß auch eine auf Freiwilligkeit basierende Sozialversicherung als legitime einfachgesetzliche Ausgestaltungsform der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG offensteht1318. Verfassungsrechtlich aus dem Begriff „Sozialversicherung“ resultiert insoweit nur das Erfordernis fester Rechtsansprüche für die Versicherten1319, was aber auch mittels privatrechtlicher Verträge erreicht werden kann. Folglich ist auch die Rechtsnatur der Handlungsform kein eindeutiges und damit letztlich ein wenig geeignetes Kriterium zur Grenzziehung zwischen „privatrechtlichen“ Unternehmen einschließlich öffentlichen Wettbewerbsunternehmen einerseits (welche unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fallen), und öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen, nicht (primär) dem Bereich der Wirtschaft bzw. dem „Recht der Wirtschaft“ zuzuordnenden Unternehmensgebilden andererseits.1320

1313 Siehe zur sog. „Wahlfreiheit“ der Handlungsform der öffentlichen Hand Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 312 ff. 1314 Siehe Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 89. 1315 Siehe Thomas Kummle, a. a. O., S. 45. 1316 Siehe insgesamt auch Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (185 f.). 1317 Ralf Kreikebohm/Friedrich von Koch, Das Sozialleistungsverhältnis – generelle Rechte und Pflichten zwischen Sozialleistungsempfängern und -trägern, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 6 Rn. 4. 1318 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (2). 1319 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (e). 1320 Mit demselben Ergebnis hinsichtlich dieses Abgrenzungskriteriums Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 27 f.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

ff) (Kein) Versicherungszwang oder Kontrahierungszwang? Wie im Vorhergehenden bereits angedeutet, ist auch der Versicherungszwang bzw. dessen Fehlen kein geeignetes Abgrenzungskriterium, denn auch im Bereich des privatwirtschaftlichen Versicherungswesens kann es einen gesetzlich angeordneten Zwang zum Abschluß von (Privat-)Versicherungen geben (siehe die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung), ohne daß dies den Charakter als „privatrechtliches Versicherungswesen“ tangieren würde; vergleichbares gilt für den Kontrahierungszwang.1321 Und umgekehrt wurde bereits oben dargelegt, daß das öffentlich-rechtliche Versicherungswesen einschließlich der Sozialversicherung zwar regelmäßig auf Versicherungszwang beruht, dies aber kein begriffsnotwendiges, konstituierendes Merkmal ist, vielmehr auch im Bereich der Sozialversicherung eine auf Freiwilligkeit beruhende Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse in Betracht kommt.1322 gg) Abgrenzung nach der Zielsetzung bzw. den hierzu angewandten Arbeitsmethoden (1) Unterscheidung verschiedener Wirtschaftsformen Da die bisher genannten Kriterien insoweit allenfalls typische Erscheinungsformen des privatrechtlichen Versicherungswesens bzw. des öffentlich-rechtlichen resp. der Sozialversicherung beschreiben,1323 für eine allgemeingültige Abgrenzung aber wie gezeigt nicht hinlänglich sind, verbleibt als Abgrenzungskriterium – wie es ebenfalls verschiedentlich in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anklingt1324 – die (zumindest primäre) Zielsetzung der betreffenden Versicherungen: nämlich, zunächst vereinfacht gesagt, die (primär) „wirtschaftliche“ oder die (primär) „nicht-wirtschaftliche“, anderweitige (z. B. soziale, gemeinwohlorientierte) Zielsetzung. Dies deckt sich auch mit den oben dargelegten Prämissen zur Abgrenzung des „Rechts der Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG von anderen Kompetenztiteln im Hinblick auf bloß „wirtschaftsrelevante“, aber der primären Ausrichtung nach anderen Zielsetzungen verpflichtete Regelungsgegenstände1325.

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Siehe etwa BVerfGE 103, S. 197 (218). Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (2). 1323 Insoweit würden diese Kriterien allenfalls im Sinne der Typuslehre – die allerdings mit der gebotenen Skepsis zu betrachten ist (siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 3. f)) – als „Typusmerkmale“ herhalten können; für eine Abgrenzung abseits der typischen Erscheinungsformen hat dies aber, wie aufgezeigt, keinen echten Wert. 1324 Siehe im folgenden. 1325 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 1. 1322

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Allerdings ist der Wirtschaftsbegriff, wie er oben im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne und als Ausgangspunkt für die Inhaltsbestimmung von „Recht der Wirtschaft“ vorgestellt wurde („Gesamtheit aller Einrichtungen und Maßnahmen zur Deckung des Bedarfs des Menschen an knappen, d. h. nicht unbegrenzt verfügbaren Gütern“), insgesamt zu weit, um für die hier vorzunehmende Abgrenzung hilfreich zu sein. Denn er umfaßt – dem Bestreben der Wirtschaftswissenschaften nach Vermeidung einer unnötigen Verengung ihres Forschungsgebietes entsprechend – letztlich jede entfernt denkbare Form des Wirtschaftens, von der allgemeinen Volkswirtschaft über die Haushalts- oder die Unternehmerwirtschaft bis hin zur Erwerbs- oder Gemeinwirtschaft. Danach könnte etwa auch die Sozialversicherung als „Wirtschaft“ betrachtet werden, da sie der Bereitstellung eines knappen Gutes, nämlich des Gutes „Versicherungsschutz gegen elementare, existentielle persönliche Risiken“, dient, und zwar in der spezifischen Weise einer bedarfsgerechten Verteilung1326, was sie gerade zur „Sozialversicherung“ macht1327. Das gleiche gilt für die bereits mehrfach erwähnten „Zwangs- und Monopolanstalten“ des öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens: auch diese stell(t)en das Gut Versicherungsschutz zur Verfügung, und zwar in einer gemeinwohlorientierten Art und Weise1328. Demgemäß bedarf es der Herausarbeitung eines spezifischen materiellen Gehalts des Begriffes „Wirtschaft“, wie er im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu verstehen ist und wie er eine weitestgehend verläßliche Abgrenzung von Unternehmungen oder Tätigkeiten mit einer materiell-wirtschaftlichen Natur zu anderen Materien zuläßt, die sich zwar im weitesten (wirtschaftswissenschaftlichen) Sinne als „Wirtschaft“ erfassen ließen, aber eben nicht im spezifischen Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG.1329

1326 Unter bedarfsgerechter Verteilung versteht man die Verteilung der knappen Güter in der Weise, daß jeder – unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit – das erhält, was er braucht, getreu dem marx’schen Motto „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Auch dies ist im weitesten (wirtschaftswissenschaftlichen) Sinne ein wirtschaftliches Verteilungsprinzip. Den Gegensatz stellt das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit dar, nach welchem die Güterverteilung – vereinfacht gesagt – danach erfolgt, wie (und ob) die Bedürftigen es „sich leisten“ können. Siehe hierzu näher Wolfgang Cezanne, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 6. Aufl., 2005, S. 13 ff. 1327 Siehe zu den spezifischen sozialen Elementen der Sozialversicherung oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b). 1328 Siehe Thomas Kummle, Versicherungspflicht, Versicherungsmonopol und Versicherungsverhältnis in der Gebäudeversicherung, 1989, S. 7, 57 ff., sowie bereits oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 4. b) bb) (1) (a) (dd) (b) (bb). 1329 Siehe zur begrenzten Tauglichkeit des weiten wirtschaftswissenschaftlichen Wirtschaftsbegriffes auch Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 27 f.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

(2) „Wirtschaft“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG als ökonomisch-rationale, gewinnorientierte Erwerbswirtschaft (Privatwirtschaft) Als zentrales Kernelement von „Wirtschaft“, wie sie im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu verstehen ist, läßt sich zum einen eine spezifische Weise, wie die Bedarfsdeckung bewerkstelligt wird, herauskristallisieren, sowie zum anderen und damit zusammenhängend eine bestimmte Ausrichtung der Zielsetzung. Die besondere Art und Weise der Güterbereitstellung, also die besondere „Arbeitsmethode“ des Wirtschaftens im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG bzw. das diese Arbeitsmethode beeinflussende Prinzip ist das Prinzip der (wirtschaftlichen) Rationalität, also die Maxime eines „vernünftigen“, rationalen Verhältnisses zwischen Aufwand und Nutzen bzw. ins Wirtschaftliche übertragen die Erreichung des Bedarfsdeckungszieles mit dem geringst möglichen bzw. zumindest einem rationellen Aufwand.1330 Somit ist „rationelles“ Handeln wirtschaftliches Handeln, und Kennzeichen der Wirtschaft hinsichtlich ihrer Arbeitsmethode ist „die nüchterne Gegenüberstellung von Aufwand und Ertrag“.1331 Damit einher geht im Hinblick auf die Regelungsmaterie „(Recht der) Wirtschaft“ des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG eine bestimmte Ausrichtung in der Zielsetzung des wirtschaftlichen Handelns: nämlich die ganz primäre Ausrichtung auf die Erzielung eines Ertrages in Gestalt einer materiellen Wertschöpfung oder Wertsteigerung infolge der Produktion bzw. der Bereitstellung der Bedarfsgüter1332, mit anderen Worten also eine erwerbswirtschaftliche, gewinnorientierte Ausrichtung. Dies ist im Gegensatz etwa zu den Einheiten der Haushaltswirtschaft, bei welchen die Bedarfsdeckung ausschließlich für eigene Zwecke erwirtschaftet wird, die natürliche Triebfeder jeder nicht bloß für die eigene Bedarfsdeckung produzierenden Wirtschaftseinheit, und gerade diese ihrer (jedenfalls ganz primären) Ausrichtung nach auf Fremdbedarfsdeckung ausgelegten Wirtschaftseinheiten oder -prozesse sind es, die die Materie des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ausfüllen. Durch diese Merkmale läßt sich „Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG also beispielsweise von der eben genannten Haushaltswirtschaft abgrenzen, welche zwar auch nach rationellen Kriterien operiert, dies aber nur im Hinblick auf die Eigenbedarfsdeckung. Und ebenso läßt sich die Grenze ziehen zu primär eine soziale Zielsetzung verfolgenden 1330 Vgl. Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 30; Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 74 (Drittbearbeitung) Rn. 40; siehe allgemein zu diesem „ökonomischen Prinzip“ Artur Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl., 2003, S. 58 ff., insb. S. 60 f. 1331 Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 30. 1332 Vgl. Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 30; siehe allgemein zu dieser Verhaltensmotivation als Grundlage des Wirtschaftens Artur Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl., 2003, S. 60 f.

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Bedarfsdeckungseinheiten wie im Bereich des Versicherungswesens der Sozialversicherung oder den öffentlich-rechtlichen „Monopol- und Zwangsanstalten“: Denn diese richten ihre Arbeitsweise naturgemäß wegen ihres sozialen Auftrages gerade nicht primär nach rationellen Kriterien aus, sondern vielmehr nach bedürfnis- bzw. leistungsfähigkeitsgerechten,1333 damit all diejenigen das zur Verfügung gestellte Gut (Versicherung) in Anspruch nehmen können, die dessen bedürfen, und nicht nur diejenigen, die sich dies leisten können. Insoweit stellt dies gerade einen bewußten Gegenpol zu einer auf rationeller Grundlage erfolgenden Zurverfügungstellung von Gütern dar, zumal etwa auch das Bundesverfassungsgericht konstatiert, daß die sozial motivierte Beitrags- und Leistungsbemessung in der Sozialversicherung für Privatversicherungsunternehmen, die auf rationeller Grundlage operieren (müssen), überhaupt nicht dauerhaft realisierbar wäre1334. Ebensowenig verfolgen die Sozialversicherung oder öffentlich-rechtliche Zwangs- und Monopolanstalten primär oder allein erwerbswirtschaftliche Zwecke, wie sie – wie oben dargelegt – für die Einschlägigkeit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG determinierend sind, sondern sie verfolgen in erster Linie den öffentlichen oder sozialen Zweck, zu dessen Erreichung sie als Mittel eingerichtet wurden. Mithin ist der Sozialversicherung die Gewinnwirtschaft fremd; sie strebt (allenfalls) Kostendeckung an.1335 Und selbst dies tritt gegebenenfalls hinter die Erreichung des sozialen Ziels zurück, wie bereits die Zuschußregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG zeigt, aus welcher entnommen werden kann, daß die Sozialversicherung – anders als ein Wirtschaftsunternehmen – nicht von vornherein als ein sich finanziell selbst tragendes bzw. darauf angelegtes (oder gar angewiesenes) System konzipiert ist. Hiermit unterscheiden sich solche öffentlichen Bedarfsdeckungseinheiten wie die Sozialversicherung auch von öffentlichen Wirtschaftsunternehmen („Wettbewerbsunternehmen“), wie sie insbesondere auf gemeindlicher Ebene anzutreffen sind1336 oder im Bereich des Versicherungswesens von den (öffentlichen) „Wettbewerbsversicherern“1337: denn auch diese verfolgen in der Regel zwar einen „öffentlichen Zweck“ bzw. müssen zu ihrer Rechtfertigung einen solchen verfolgen1338, jedoch muß sich 1333 Siehe für die Sozialversicherung oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 4. b) bb), insb. (1) (b), für die öffentlich-rechtlichen „Monopol- und Zwangsversicherer“ oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a) (dd) (b) (bb) und 2. Teil, Abchnitt 2, III. 3. a). 1334 Siehe BVerfGE 76, S. 256 (306). 1335 Siehe BVerfGE 76, S. 256 (307). 1336 Siehe hierzu etwa Helge Sodan, Rechtsschutz gegen den gesetzwidrigen Marktzutritt kommunaler Wirtschaftsunternehmen, in: Festschrift für Peter Raue, 2006, S. 335 ff. 1337 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 2. 1338 Siehe hierzu Dirk Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, S. 1089 (1091f.); siehe ferner etwa auch die Nr. 1 des § 67 Abs. 1 der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) vom 30. Januar 1935 (RGBl. I, S. 49), welcher im Kern die Grundlage der Voraussetzungen gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit in den Gemeindeordnungen der Länder bildet, dazu wie-

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

dieser hier zumindest im Rahmen der ebenfalls gegebenen rationell-erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung bewegen1339. Aus dem gleichen Grund beeinträchtigt beispielsweise auch eine „soziale“ Ausrichtung eines Privatunternehmens (z. B. durch Einrichtung von Low-Price-Segmenten oder ähnlichem) nicht dessen Zugehörigkeit zum „Recht der Wirtschaft“, weil sich solch ein „soziales Nebenziel“ gleichwohl immer im Rahmen der grundsätzlich rationellen Ausrichtung bewegt oder sogar zu dieser gehört, wenn sich das Unternehmen hierdurch bestimmte Marktvorteile verspricht (Aufbau eines bestimmten Images, Erreichung einer bestimmten Zielgruppe etc.). Demgegenüber tritt in den sozialen Bedarfsdeckungseinheiten wie etwa der Sozialversicherung das rationelle Element ganz bewußt hinter das soziale zurück oder wird sogar zur Erreichung des sozialen Ziels ganz bewußt durchbrochen. Für Bedarfsdeckungseinheiten, die unter die Kompetenz für das „Recht der Wirtschaft“ resp. das „privatrechtliche Versicherungswesen“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fallen, ist es mithin kennzeichnend, daß bei diesen eine auf Erwerb gerichtete, also eine erwerbswirtschaftliche Ausrichtung im Vordergrund ihrer Tätigkeit steht, die sie durch eine auf wirtschaftliche Rationalität ausgerichtete Methode zu erreichen suchen. Ob sie dann nach objektiven Kriterien tatsächlich rationell arbeiten und ihre erwerbswirtschaftliche Zielsetzung „aufgeht“, ist dabei unerheblich; entscheidend ist nur die prinzipielle Ausrichtung hierauf. Auch wenn eine als rationell erachtete Arbeitsweise sich im Ergebnis nicht als rationell erweist oder eine nach wirtschaftlich-rationellen Gesichtspunkten unkonventionelle Arbeitsmethode angewandt wird, ändert dies nichts daran, daß hiermit eine erwerbswirtschaftliche Zielsetzung verfolgt wird, zumal jederzeit die Möglichkeit besteht, eine tatsächlich rationelle(re) Arbeitsweise zu ergreifen, wenn sich die verfolgte nicht als zielführend erweist. Daher würde es der Einstufung als Teil der „Wirtschaft“ bzw. des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auch nicht entgegenstehen, wenn Privatversicherer entgegen dem im privaten Versicherungsderum näher Helge Sodan, Rechtsschutz gegen den gesetzwidrigen Marktzutritt kommunaler Wirtschaftsunternehmen, in: Festschrift für Peter Raue, 2006, S. 335 (336 ff.). 1339 Vgl. insoweit etwa für die Kommunalwirtschaft die sog. Subsidiaritätsklausel in Nr. 3 des § 67 Abs. 1 der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) vom 30. Januar 1935 (RGBl. I, S. 49), welche die wirtschaftlich-rationelle Ausrichtung der gemeindlichen Wirtschaftsunternehmen unterstreicht und Grundlage für die verschiedenen Subsidiaritätsklauseln in den Gemeindeordnungen der Länder ist, siehe hierzu näher Helge Sodan, Rechtsschutz gegen den gesetzwidrigen Marktzutritt kommunaler Wirtschaftsunternehmen, in: Festschrift für Peter Raue, 2006, S. 335 (337 f.). Siehe zu den gleichwohl bestehenden Schwierigkeiten, allgemeine Regelungen über diese grundsätzlich „zum Bereich der Wirtschaft“ gehörenden öffentlichen Unternehmen (Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 145) auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu stützen Günter Püttner, a. a. O., S. 144 ff., 16 ff. – dem muß hier allerdings im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand nicht weiter nachgegangen werden.

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wesen aus Wirtschaftlichkeitsgründen vorherrschen „Versicherungsprinzip“, also insbesondere der versicherungsmathematischen Ausrichtung am Prinzip der Individualäquivalenz,1340 abweichen, weil sie – sei es auch irrigerweise – davon ausgehen, ihre erwerbswirtschaftliche Zielsetzung besser auf andere, für Versicherungsmaßstäbe eher unkonventionelle Weise erreichen zu können. Demgemäß kommt es für die Kennzeichnung des „privatrechtlichen Versicherungswesen“ weniger auf die konkrete Beachtung eines starr definierten Versicherungsprinzips an, sondern vielmehr auf die grundsätzliche unternehmerische Freiheit1341, als rationell erachtete Arbeits- resp. Kalkulationsmethoden anwenden zu können, um die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung zu erreichen (auch wenn dies regelmäßig in der Ausrichtung am Versicherungsprinzip münden wird, hat sich dies doch als wirtschaftlich am zweckmäßigsten herauskristallisiert). Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG geht mithin von einem Wirtschaftsbegriff aus, der durch eine gewisse unternehmerische Freiheit gekennzeichnet ist,1342 welche es den zur Wirtschaft in diesem Sinne gehörigen Bedarfsdeckungseinheiten ermöglicht, die von ihnen angestrebten erwerbswirtschaftlichen Ziele mittels selbst festgelegter rationeller oder für rationell erachteter Methoden zu erreichen zu suchen. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG meint mit „Wirtschaft“ also die privatnützige Erwerbs- oder Gewinnwirtschaft. Diese läßt sich in einem Wort bezeichnen mit dem Begriff „Privatwirtschaft“, verstanden als „privatnützige Wirtschaft auf der Grundlage privaten Eigentums und privater Verfügung darüber mit dem Interesse privater Gewinnmaximierung“1343, was indes – wie gezeigt – nicht öffentliche Wettbewerbs- bzw. Erwerbsunternehmen ausschließt1344. (3) „Gemeinwirtschaft“ als Gegensatz Den Gegensatz hierzu bildet folglich die unter Verzicht auf Gewinnstreben fungierende „Gemeinwirtschaft“1345 (vgl. Art. 15, Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG), de1340 Siehe näher zum „Versicherungsprinzip“ 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) cc) (4) (b) sowie dd) (2). 1341 Vgl. Meinhard Heinze, Soziale Sicherheit vor neuen Grenzziehungen zwischen öffentlichem und privatem Recht, in: SDSRV 51 (2004), S. 145 (148 f.). 1342 So ausdrücklich auch Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (246). 1343 Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 23. 1344 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 1. sowie 2.; vgl. auch Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 243. 1345 Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 22 f.; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 239.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

ren Ziel allein die optimale (d. h. nicht zuletzt bedürfnisgerechte1346) Bedarfsdeckung der Allgemeinheit oder die Verfolgung sonstiger Gemeinwohlziele ist1347 und bei der das an der (wirtschaftlichen) Rationalität ausgerichtete Element demgemäß allenfalls sekundären Charakter hat1348.1349 Sie wird entweder dadurch bewerkstelligt, daß die hierzu eingesetzten Produktionsmittel als „Gemeineigentum“ von einer überindividuellen Gesamtheit (regelmäßig dem Staat) getragen und im Interesse der Gesamtheit oder der Allgemeinheit genutzt werden, oder sie erfolgt durch „andere Formen“ (siehe Art. 15, 74 Abs. 1 Nr. 15 GG), etwa indem die Nutzung der in Privateigentum verbleibenden Produktionsmittel unter Ausschaltung des Gewinnstrebens (und somit letztlich dessen Privatnützigkeit) von statten geht1350. Die oben beschriebenen Zwangs- und Monopolanstalten des öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens sind daher ebenso wie die Sozialversicherung dem Bereich der Gemeinwirtschaft zuzuordnen1351. Die „Überführung“ von Einheiten der Privatwirtschaft in die Gemeinwirtschaft regelt Art. 15 GG, die diesbezügliche Gesetzgebungsbefugnis verleiht Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG. Die Gemeinwirtschaft unterfällt somit nicht dem „Recht der Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, welches „nur“ die Privatwirtschaft im zuvor beschriebenen Sinne umfaßt, also die auf einer gewissen unternehmerischen Freiheit begründete Erwerbswirtschaft, deren Triebfeder die (privatnützige) Ausrichtung auf Gewinnerzielung ist und die im Rahmen dieser grundsätzlichen Unternehmerfreiheit auf rationelle oder für rationell 1346 Vgl. Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (289). 1347 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 73 ff.; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 11 m. w. N.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 7 ff.; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/ Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 240; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 24 ff.; siehe auch die schlagwortartig verkürzte Formulierung zur Charakterisierung der gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung bei Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch. 1980, S. 287 (289): „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. 1348 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2309. 1349 Vgl. hierzu auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (aa). 1350 Siehe Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 76 ff.; Theodor Maunz, in: MaunzDürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 188 f. 1351 Siehe für die Sozialversicherung bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (aa); vgl. für die Zwangs- und Monopolanstalten des öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens insoweit etwa Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (248 ff.); vgl. ferner bereits Julius von Gierke, Versicherungsrecht, Erste Hälfte, 1937, S. 70, 72 f.

III. „Privatrechtliches Versicherungswesen‘‘

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erachtete Arbeitsmethoden zurückgreifen kann1352. Anders bzw. nach anderen Kriterien ließe sich die Aussonderung des „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens“ aus dem Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG1353 ebensowenig zufriedenstellend erklären wie etwa die eigenständige Existenz der Kompetenzregelung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG, könnte doch die dort geregelte „Überführung in Formen der Gemeinwirtschaft“ ansonsten zwanglos auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden1354. (4) Zusammenfassung Die Grenzlinie zwischen „privatrechtlichem Versicherungswesen“ als Teil des „Rechts der Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG und dem „öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen“ einschließlich der Sozialversicherung verläuft also zwischen „Privatwirtschaft“ („Erwerbswirtschaft“) und „Gemeinwirtschaft“. Privatwirtschaft und Gemeinwirtschaft sind zwar beides Formen der Bedarfsdeckung, unterscheiden sich aber zuvörderst in ihren Zielsetzungen (und demzufolge regelmäßig ihren Methoden):1355 Privat- bzw. Erwerbswirtschaft ist gekennzeichnet durch ein Mindestmaß an unternehmerischer Freiheit, welche es erlaubt, primär privatnützig und damit gewinnorientiert zu operieren und hierzu auf rationale bzw. für rational erachtete Arbeitsmethoden zurückzugreifen (in der Versicherungswirtschaft also regelmäßig das Versicherungsprinzip). Gemeinwirtschaft hat hingegen ganz primär die optimale Bedarfsdeckung der Gemeinschaft als Zielsetzung, wirtschaftet also nicht privatnützig und gewinnorientiert, sondern bedürfnisgerecht1356. Da bei ihr die bedürfnisgerechte Produktion bzw. Verteilung und die Bedarfsdeckung schlechthin 1352 Vgl. Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (246). 1353 BVerfGE 41, S. 205 (218 f.). 1354 Auch das hiergegen zu erhebende Argument, Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG enthalte eine „notwendige“ lex speciales zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, weil er die Überführung in Formen der Gemeinwirtschaft auf bestimmte, enumerativ aufgezählte Wirtschaftsbereiche beschränkt, ginge fehl, weil sich diese Beschränkung nicht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG, sondern aus der (insoweit wortlautgleichen) materiellen Norm des Art. 15 GG ergibt. 1355 Siehe Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 9. 1356 „Bedürfnisgerecht“ darf hier nicht als „bedürfnisorientiert“ verstanden werden. Auch die Privatwirtschaft wirtschaftet bedürfnisorientiert, da sie nur Absatz findet, wenn sie Waren produziert, für die ein Bedarf besteht; die Verteilung der Waren erfolgt indes „leistungsgerecht“ und nicht „bedürfnisgerecht“, d. h. in der Privatwirtschaft erhält derjenige die produzierten Waren, der sie sich „leisten“ kann. In der „bedürfnisgerecht“ operierenden Gemeinwirtschaft hingegen werden die Waren so produziert bzw. verteilt, daß jeder sie sich leisten kann. Insoweit meint „bedürfnisgerecht“ hier zugleich „leistungsfähigkeitsgerecht“.

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2. Teil, Abschn. 2: Abgrenzung zu anderen Kompetenzen

im Vordergrund steht, treten das Prinzip der (wirtschaftlichen) Rationalität sowie die Gewinnorientierung in den Hintergrund. Die Organisationsform der Gemeinwirtschaft kann sowohl öffentlich-rechtlich als auch privatrechtlich sein.1357 Da ihr der wirtschaftliche Triebmotor der Privatnützigkeit fehlt, wird Gemeinwirtschaft aber regelmäßig öffentlich-rechtlich bzw. staatlich organisiert sein.1358 Die „Sozialversicherung“, für welche sich die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergibt, ist ein staatliches, gemeinwirtschaftliches (und damit „soziales“1359) Versicherungssystem, welches sich von anderen gemeinwirtschaftlichen Einrichtungen des öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens wie den (ehemaligen) landesrechtlichen „Zwangs- und Monopolanstalten“ der Gebäudefeuerversicherung insbesondere durch die versicherten Risiken unterscheidet: die Sozialversicherung sichert bestimmte soziale Risiken, nämlich persönliche Elementarrisiken ab, die nicht das (vorhandene) Vermögen als solches betreffen, sondern die persönliche Befähigung, den Aufbau eines solchen als Lebensgrundlage durch Arbeitskraft zu bewerkstelligen (z. B. die Krankenversicherung das Risiko „Krankheit“), wohingegen die genannten „Zwangs- und Monopolanstalten“ Sachrisiken bzw. konkret eingetretene Vermögensschäden absichern.1360 Vom „privatrechtlichen Versicherungswesen“ unterscheidet sich die „Sozialversicherung“ substantiell letztendlich durch ihre gemeinwirtschaftliche Ausrichtung; öffentlich-rechtlich organisiert wie sie können hingegen auch nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen operierende Wirtschaftseinheiten sein, und auch die Absicherung elementarer existentieller Risiken ist keineswegs der Sozialversicherung vorbehalten1361. Eine Sozialversicherung, die nicht mehr nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen operiert, sondern nach privatwirtschaftlichen, ist keine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG mehr, da bei ihr nicht mehr der soziale Schutzauftrag im Vordergrund stünde. Vielmehr wäre sie eine öffentlichrechtliche „Wettbewerbsversicherung“, die dem Bereich der Privatwirtschaft zuzuordnen ist.1362 Umgekehrt könnte man nicht mehr von „privatrechtlichem 1357 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 9; Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 21. 1358 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 9. 1359 Siehe zum „Sozialen“ an der Sozialversicherung näher oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b). 1360 Siehe dazu bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (a) (dd) (b) (bb). 1361 BVerfGE 103, S. 197 (217). 1362 Dies gälte etwa hinsichtlich des Angebotes von Zusatzkrankenversicherungen durch die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, siehe ausführlich zu diesem Problemkomplex Bernd Baron von Maydell/Beatrix Karl, Das Angebot von Zusatzkrankenversicherung – Dürfen gesetzliche Krankenkassen Zusatzversicherungen anbieten?, 2003, passim.

I. „Sozialversicherungsrechtliche‘‘ Strukturen in der Privatversicherung

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Versicherungswesen“ sprechen, wenn ein privates Versicherungsunternehmen durch gesetzgeberische Maßnahmen zu einer der Sozialversicherung vergleichbaren sozialen, gemeinwirtschaftlichen Ausrichtung gezwungen wird, die die privatwirtschaftlichen Elemente der privatnützigen Gewinnorientierung und einer hinreichenden unternehmerischen Freiheit, um eigenverantwortlich nach wirtschaftlich rationellen Kriterien operieren zu können, beseitigte. Gerade im Hinblick auf Letzteres ergeben sich aber wegen der fließenden Übergänge von privatwirtschaftlichem zu gemeinwirtschaftlichem Handeln1363 in concreto nicht unerhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten, die sich im Hinblick auf das „privatrechtliche Versicherungswesen“ insbesondere bei der zunehmenden oder zumindest zunehmend ins Auge gefaßten Übertragung sozialversicherungstypischer Elemente und damit sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung manifestieren und die im Nachfolgenden näher untersucht werden sollen. Abschnitt 3

Gesetzgebungskompetenzen für die Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturen auf die Privatversicherung I. Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturelemente auf die Privatversicherung (Beispiele) Immer häufiger werden Privatversicherer in die Erfüllung der Zielsetzung der Sozialversicherung, der Erbringung eines „sozialen“1364 Versicherungsschutzes, miteinbezogen – oder ihre Einbeziehung wird für die Zukunft verstärkt diskutiert.1365 Regelmäßig wird hiermit einhergehen, daß der dann durch Privatversicherer vermittelte Versicherungsschutz „sozialstaatlich aufgeladen“1366, also mit bestimmten, an sich für die Sozialversicherung typischen oder diese gar deter1363 Vgl. etwa Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch. 1980, S. 287 (290); Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (318). 1364 Siehe zum „Sozialen“ an der Sozialversicherung oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b). 1365 Vgl. hierzu Peter Axer, Soziale Sicherheit vor neuen Grenzziehungen zwischen öffentlichem und privatem Recht, in: SDSRV 51 (2004), S. 111 (129 f.); Renate Jaeger, Die Reformen in der gesetzlichen Sozialversicherung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NZS 2003, S. 225 (229): „Diesem ganz neuen Aspekt eines verpflichtenden sozialen Ausgleichs in der Privatversicherung kommt [. . .] für die Zukunft erhebliche Bedeutung zu“; Hartmut Reiners, Die Einnahmeprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 2004, S. 249 (253 ff.). 1366 Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (43).

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

minierenden Elementen versehen wird1367, so daß im Extremfall eine „Sozialversicherung in privater Hand“1368 entsteht. So erfolgte etwa die Etablierung der im Elften Buch Sozialgesetzbuch geregelten gesetzlichen Pflegeversicherung durch Aufteilung in eine „soziale“ und eine „private“ Pflegeversicherung, wobei in die „private Pflegeversicherung“ zahlreiche für die Sozialversicherung charakteristische Elemente integriert wurden1369.1370 Im Zuge von Reformbestrebungen im Jahre 2003 wurde die Auslagerung der GKV-Leistungsbereiche „zahnärztliche Behandlungen und Zahnersatz“ auf eine die diesbezügliche Funktion der gesetzlichen Krankenversicherung übernehmende private Pflichtversicherung diskutiert.1371 Und im Rahmen der ab dem Jahre 2003 aufgekommenen Diskussion um die Einführung einer „Bürgerversicherung“ in der gesetzlichen Krankenversicherung wurde unter anderem ein Vorschlag entworfen, der eine „abgeschwächte“ Bürgerversicherung vorsah, indem man zwar am grundsätzlichen Nebeneinander von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherern festhalten wollte, allerdings unter weitgehender Angleichung der privaten Krankenversicherer sowie deren Versicherungsbedingungen an die gesetzliche Krankenversicherung.1372 Und zuletzt ist nunmehr durch die Gesundheitsreform 20071373 zum 1.1.2009 ein sog. Basistarif eingeführt worden, der starke soziale Elemente, wie sie in der gesetzlichen Krankenversicherung üblich sind, auf die private Krankenversicherung überträgt1374.

II. Problematik hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG („privatrechtliches Versicherungswesen“) Werden durch gesetzgeberische Maßnahmen sozialversicherungsrechtliche Strukturelemente auf die Privatversicherung übertragen, kommt hierfür als Gesetzgebungskompetenz natürlich zuvörderst die Gesetzgebungskompetenz für

1367 Siehe zu den insoweit in Betracht kommenden „sozialen“ Elementen Konrad Leube, Sozialversicherung in Gestalt der Privatversicherung – Rechtliche Rahmenbedingungen, NZS 2003, S. 449 (451 ff.). 1368 So die Metapher von Udo Steiner, Versicherungsfreiheit und Versicherungszwang – Bilanz und Perspektiven, in: Bitburger Gespräche Jahrbuch 2004/II, 2005, S. 139 (147). 1369 Siehe hierzu im folgenden, 2. Teil, Abschnitt 3, III. 1370 Siehe dazu BVerfGE 103, S. 197 ff. 1371 Siehe ausführlich hierzu Helge Sodan, Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung – Dargestellt am Beispiel der Versorgung mit Zahnersatz, NZS 2003, S. 393 ff. 1372 Siehe näher oben 1. Teil, III. 1. b). 1373 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.3.2007, BGBl. I, S. 378. 1374 Siehe näher im folgenden unter 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. b).

II. Problematik hinsichtlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG

367

das privatrechtliche Versicherungswesen als Teil des Rechts der Wirtschaft gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in Betracht. Hierbei stellt sich allerdings, unter Berücksichtigung der oben1375 herausgearbeiteten Ergebnisse zum Inhalt der Kompetenzmaterie „privatrechtliches Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG), die Frage, ob bei bzw. ab welchem Grad an Überbürdung von solchen Elementen auf Privatversicherer diesen das Gepräge einer unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fallenden Einheit der „Privatwirtschaft“ im oben beschriebenen Sinne genommen wird – mit der Folge, daß die betreffenden Maßnahmen nicht mehr auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden könnten (und der Folgefrage, auf welche Gesetzgebungskompetenznorm sie dann zu stützen wären). Zwar versteht es sich, daß nicht jede wirtschaftslenkende gesetzgeberische Maßnahme, sei sie auch „sozial“ motiviert, bereits den Boden des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG verläßt, nur weil sie den die Privatwirtschaft kennzeichnenden unternehmerischen Freiraum einengt und die Aussicht erschwert, im Rahmen dieser Unternehmerfreiheit nach eigenem Gutdünken mittels rationeller Ausrichtung der Wirtschaftseinheit Gewinn zu erwirtschaften. Vielmehr sind es gerade die wirtschaftslenkenden und wirtschaftsregelnden Maßnahmen, die ihre Kompetenzgrundlage in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG finden und finden sollen,1376 liegt es doch im Aufgabenbereich des Staates, für einen „geregelten Ablauf“ der Wirtschaft im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu sorgen, diesbezüglichen Fehlentwicklungen, etwa infolge „ungezügelten“ unternehmerischen Gewinnstrebens, entgegenzuwirken sowie eine funktionierende, auch „soziale“1377 Wirtschaftsordnung mit dementsprechenden Rahmenbedingungen zu gewährleisten.1378 Auf der anderen Seite aber sollte ebenso klar sein, daß etwa eine überbordende soziale Inpflichtnahme der „Privatwirtschaft“ im oben beschriebenen Sinne dieser jedenfalls ab einem gewissen Grad (insoweit sind die Grenzen fließend) all das nehmen kann, was für „Privatwirtschaft“ kennzeichnend und konstituierend ist.1379 Dies zeigt sich allein systematisch spätestens darin, daß die ultimative soziale Inpflichtnahme der Privatwirtschaft, nämlich deren „Sozialisierung“ (siehe Art. 15 GG), eben nicht mehr auf die Kompetenz aus Art. 74

1375

Siehe Teil 2, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). Siehe insoweit etwa BVerfGE 68, S. 319 (330). 1377 Siehe insoweit zur „sozialen Marktwirtschaft“ Walter Leisner, Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, 2005, S. 35 (39 ff.). 1378 Vgl. etwa auch Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 86. 1379 Vgl. insoweit etwa Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (410 f.): Der Kompetenztitel „Recht der Wirtschaft“ verschaffe dem Bundesgesetzgeber „keine unbegrenzte Handhabe zur Regulierung“. 1376

368

2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden kann, sondern hierfür die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG zu bemühen ist.

III. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur privaten Pflegeversicherung Auch das Bundesverfassungsgericht mußte sich in einer seiner Entscheidungen zur (privaten) Pflegeversicherung1380 mit dieser Frage auseinandersetzen und darüber befinden, ob der Bundesgesetzgeber die Überbürdung von an sich für die Sozialversicherung charakteristischen Elementen auf private (Pflege-) Versicherer noch auf die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ stützen konnte. Bei diesen „sozialen“ resp. „sozialversicherungstypischen“ Elementen handelte es sich um die folgenden, vor allem in § 110 SGB XI geregelten: Kontrahierungszwang, Verbot des Ausschlusses von Vorerkrankungen der Versicherten sowie des Ausschlusses von bereits pflegebedürftigen Personen, Verbot der Prämienstaffelung nach Geschlecht und Gesundheitszustand der Versicherten, Begrenzung der Prämienhöhe auf den Höchstbeitrag der sozialen Pflegeversicherung (bzw. auf 150% des Höchstbeitrages im Falle der Mitversicherung eines Ehegatten oder Lebenspartners), beitragsfreie Mitversicherung von Kindern der Versicherten sowie die (Mindest-)Vorgabe eines bestimmten, der sozialen Pflegeversicherung nach Art und Umfang vergleichbaren Leistungsinhalts (vgl. § 23 Abs. 1 S. 2 SGB XI). In den vom Bundesverfassungsgericht eingeholten Stellungnahmen wurde insoweit etwa vertreten, daß die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG hierfür gerade nicht einschlägig sei, da es sich um einen von dieser Norm nicht erfaßten „Mischtyp“ einer „Sozialversicherung“ in privatrechtlicher Form handele (der zudem mangels öffentlich-rechtlicher bzw. „staatlicher“ Organisation auch nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden könne).1381 Auch in Stellungnahmen im Schrifttum wurde bezweifelt, daß die private Pflegeversicherung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden kann, weil sie sich zu sehr vom das „privatrechtliche Versicherungswesen“ ausmachenden Leitbild einer nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen operierenden „Individualversicherung“1382 entferne1383.

1380

BVerfGE 103, S. 197 ff. Siehe BVerfGE 103, S. 197 (214 f.). 1382 Der Begriff „Individualversicherung“ wird häufig als Gegensatzbezeichnung zu „Sozialversicherung“ verwendet und soll damit die „Privatversicherung im weiteren Sinne“ kennzeichnen (siehe etwa Hermann Eichler, Versicherungsrecht, 2. Aufl., 1976, S. 73), also die – im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen (einschließlich der Sozialversicherung) – privatwirtschaftlich operierende Versicherung, die – wie oben dargelegt – sowohl „echte“ Privatversicherungen (also von Privaten geführte) als auch von der öffentlichen Hand geführte Versicherungsunternehmen 1381

III. BVerfG-Entscheidung zur privaten Pflegeversicherung

369

Das Bundesverfassungsgericht hat gleichwohl entschieden, daß für die private Pflegeversicherung die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ in Anspruch genommen werden konnte1384. Hierzu führte das Gericht zunächst aus, daß es bis dahin keine Gelegenheit gehabt habe, „Inhalt und Reichweite der Gesetzgebungskompetenz für das ,privatrechtliche Versicherungswesen‘ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG abschließend zu klären und insbesondere gegenüber der Zuständigkeit für die ,Sozialversicherung‘ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) abzugrenzen“, daß aber auch der zu beurteilende Fall der privaten Pflegeversicherung „keine abschließende Bestimmung des Kompetenztitels ,privatrechtliches Versicherungswesen‘“ erfordere.1385 Insoweit löste das Bundesverfassungsgericht den Fall eher kasuistisch, stellte allerdings – wie auch oben schon dargelegt – allgemein fest, daß sich der Bundesgesetzgeber „jedenfalls“ auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen könne, „wenn sich seine Regelungen auf Versicherungsunternehmen beziehen, die in Wettbe-

(in privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Organisationsform) umfaßt, sofern letztere eben als „Erwerbsversicherer“ nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen arbeiten (daher „Privatversicherung im weiteren Sinne“, da in einem „engeren Sinne“ auch allein die in privater Hand befindlichen Versicherungen als „Privatversicherung“ bezeichnet werden können). Der Begriff „Individualversicherung“ hat sich weitgehend eingebürgert, erscheint allerdings nicht sehr glücklich gewählt: Soweit er damit begründet wird, daß die Individualversicherung der Sicherung individueller (privater) Interessen diene, während die Sozialversicherung in erster Linie öffentlichen oder sozialen Interessen verpflichtet sei (so Heinz Leo Müller-Lutz, Allgemeine Versicherungslehre [Teil I], in: Große/Müller-Lutz/Schmidt, Versicherungsenzyklopädie, Bd. 1, 3. Aufl., 1984, S. 399 [420]), ist er untreffend, da auch am Abschluß „flächendeckender“ Individualversicherungen in bestimmten Bereichen ein öffentliches Interesse bestehen kann, was sich dann regelmäßig in einem Versicherungszwang niederschlägt (siehe als Beispiel die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung), während umgekehrt ebenfalls die Sozialversicherung gerade (auch) im Interesse des einzelnen Versicherten und nicht nur dem der Allgemeinheit besteht. Auch im Hinblick auf die Versicherungsverhältnisse überzeugt der Begriff „Individualversicherung“ nicht, wird doch auch in der Sozialversicherung ein „individuelles“ Versicherungsverhältnis mit jedem Versicherten begründet. Am überzeugendsten noch erscheint die Begriffswahl im Hinblick darauf, daß in der „Individualversicherung“ die Prämienbemessung regelmäßig am „individuellen“ Risiko des jeweiligen Versicherten ausgerichtet wird, in der Sozialversicherung hingegen gerade nicht (siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b)); allerdings sollte der Begriff „Individualversicherung“ damit nicht fälschlicherweise implizieren, daß die Bemessung am individuellen Risiko ein notwendiges Kriterium für eine „privatwirtschaftliche“ bzw. „Individualversicherung“ sei, da die Privatwirtschaft grundsätzlich frei darin ist festzulegen, nach welchen von ihr als rationell-zweckmäßig erachteten Kriterien sie die Versicherungsprämien bemißt (regelmäßig wird dies aber zu einer Bemessung nach dem individuellen Risiko führen, so daß für die „Individualversicherung“ die Prämienbemessung am individuellen Risiko zwar nicht notwendig, aber doch immerhin typisch ist). 1383 Siehe etwa Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (410 f.). 1384 Im einzelnen BVerfGE 103, S. 197 (215 ff.), siehe dazu das Nachfolgende. 1385 BVerfGE 103, S. 197 (216).

370

2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

werb mit anderen durch privatrechtliche Verträge Risiken versichern, die Prämien grundsätzlich am individuellen Risiko und nicht am Erwerbseinkommen des Versicherungsnehmers orientieren und die vertraglich zugesagten Leistungen im Versicherungsfall aufgrund eines kapitalgedeckten Finanzierungssystems erbringen“1386. Dabei sei „ebenso wie die Kompetenz ,Sozialversicherung‘ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG [. . .] auch die Kompetenznorm ,privatrechtliches Versicherungswesen‘ Entwicklungen nicht von vornherein verschlossen“; der Gesetzgeber des Bundes könne „sich deshalb auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auch dann berufen, wenn er für einen von ihm neu geschaffenen Typ von privatrechtlicher Versicherung Regelungen des sozialen Ausgleichs vorsieht und insbesondere während einer Übergangszeit die das privatwirtschaftliche Versicherungswesen prägenden Merkmale nur begrenzt wirken lässt“.1387 Auch wenn bereits oben dargelegt wurde, daß die vom Bundesverfassungsgericht insoweit zur Kennzeichnung des „privatrechtlichen Versicherungswesen“ zumindest auch bemühten Kriterien der Art des Versicherungsverhältnisses, einer bestimmten Finanzierungssystems oder des Wettbewerbs mit anderen nicht hinreichend sind, um eine allgemeine Abgrenzung des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11GG) insbesondere von der „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) bewerkstelligen zu können,1388 erkennt das Bundesverfassungsgericht hiermit doch an, daß das „privatrechtliche Versicherungswesen“ als Teil der Wirtschaft durch bestimmte Prinzipien bzw. Elemente gekennzeichnet ist, bei deren Beseitigung der betreffende Regelungsgegenstand demnach nicht mehr zum Inhalt des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gezählt werden könnte1389. Der Qualifizierung der privaten Pflegeversicherung als „privatrechtliche“ bzw. „privatwirtschaftliche“1390 im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG standen dabei indes nicht entgegen der Versicherungszwang, der Kontrahierungszwang, die Mindestvorgaben für den zu gewährenden Leistungsumfang sowie das Ausschlußverbot für bereits dem Versicherungsfall unterliegenden Personen,1391 da derlei zwar die privatautonome Gestaltungsfreiheit beeinträchtigt (und teilweise auch vom allgemeinen Versicherungsvertragsrecht abweicht), im Rahmen dessen aber immer noch die eine „privatwirtschaftliche“ Betätigung ausmachenden Elemente einer gewissen unternehmerischen Freiheit verblieben, die eine gewinnorientierte, an rationellen oder für rationell erachteten Kriterien ausgerichtete Erwerbswirtschaft ermöglichen.

1386

BVerfGE 103, S. 197 (216 f.). BVerfGE 103, S. 197 (217). 1388 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b). 1389 Diesen Befund teilt Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlichrechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (44). 1390 Vgl. oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). 1391 BVerfGE 103, S. 197 (218 f.). 1387

IV. BVerfG-Entscheidung zur privaten Pflegeversicherung

371

Das Hauptaugenmerk der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Gesetzgebungskompetenz für die private Pflegeversicherung lag dann allerdings auf den besonderen gesetzgeberischen Vorgaben für deren Prämiengestaltung (prämienfreie Mitversicherung von Kindern, zum Teil erhebliche Prämienvergünstigungen für Angehörige, Verbot des Ausschlusses von Vorerkrankungen, Verbot der Prämienstaffelung nach Geschlecht oder Gesundheitszustand des Versicherten), da hiermit die „weitesten“ Abweichungen „vom herkömmlichen Bild einer Privatversicherung“1392 etabliert worden waren, mit denen zugleich eine „erhebliche finanzielle Unterdeckung“ einherging1393. Den Grund, warum trotz dieser Unterschiede zum „herkömmlichen Bild einer Privatversicherung“ diese sozialversicherungsähnlichen Regelungen auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden konnten, sah das Bundesverfassungsgericht nun darin, daß im Rahmen dieser kalkulatorischen Vorgaben immer noch genügend Raum verblieb für eine „herkömmliche“, nach wirtschaftlich-rationellen resp. versicherungsmathematischen Kriterien bemessene Prämiengestaltung, weil die in § 110 SGB X vorgesehene „Begrenzung der Prämien und die dort ausgesprochenen Verbote, bestimmte risikoerhöhende Umstände bei der Prämiengestaltung zu berücksichtigen, [. . .] keine Nivellierung der Prämien zur Folge“ haben und die Prämien immer noch im Hinblick auf das Alter der Versicherten aufgefächert werden können1394. Das Gericht resümierte: „Das auf statistischer Grundlage zu ermittelnde Risiko, pflegebedürftig zu werden, und die sich daran orientierende versicherungsmathematische Berechnung der Prämien bestimmen die gesamte Tarifgestaltung so maßgeblich, dass die private Pflege-Pflichtversicherung trotz der Umlageanteile ihren Charakter als Individualversicherung nicht verliert.“1395 Demzufolge konnte aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts die private Pflegeversicherung als Teil des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ kompetentiell auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden.

IV. Bewertung der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur privaten Pflegeversicherung und der Reichweite des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Betrachtet man diese Aussagen des Bundesverfassungsgerichts näher, so lassen sich – obwohl sie auf den ersten Blick eher kasuistisch anmuten und ausdrücklich „keine abschließende Bestimmung des Kompetenztitels ,privatrecht1392

BVerfGE 103, S. 197 (219). Dies konstatierend BVerfGE 103, S. 197 (219); zum „Ausgleich“ dieser Unterdeckung wurden die privaten Pflegeversicherer zudem zum Aufbau eines „Risikoausgleichssystems“ untereinander verpflichtet (siehe § 111 SGB XI). 1394 BVerfGE 103, S. 197 (220). 1395 BVerfGE 103, S. 197 (220). 1393

372

2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

liches Versicherungswesen‘“ bezwecken1396 – einige grundlegende allgemeine Erkenntnisse für die konkreten Grenzen des Kompetenztitels Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG daraus ableiten. Aus seiner Schlußfolgerung, daß „die private PflegePflichtversicherung trotz der Umlageanteile ihren Charakter als Individualversicherung nicht verliert“1397, läßt sich folgern, daß sie diesen Charakter unter anderen Umständen aber hätte verlieren können, womit das Bundesverfassungsgericht die bereits oben1398 getroffene Aussage bestätigt, daß eine überbordende soziale Inpflichtnahme der „Privatwirtschaft“ dieser jedenfalls ab einem gewissen Grad das nehmen kann, was für „Privatwirtschaft“ kennzeichnend und konstituierend ist1399. Zugleich erkennt das Bundesverfassungsgericht damit an, daß die Privatwirtschaft sich durch bestimmte Prinzipien auszeichnet, bei deren Beseitigung sie sich gerade nicht mehr als Teil der „Wirtschaft“ resp. des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG darstellt.1400 Diese die Privatwirtschaft konstituierenden Prinzipien werden vom Bundesverfassungsgericht zwar nicht ausdrücklich benannt, aber umschrieben, indem das Gericht den Grund für den fortbestehenden Charakter der privaten Pflege-Pflichtversicherung als „Individualversicherung“1401 in der verbleibenden Möglichkeit erblickt, trotz gewisser Einschränkungen die Prämienkalkulation im Rahmen dieser Einschränkungen nach wie vor an versicherungsmathematischen Grundsätzen und damit an Prinzipien der wirtschaftlichen Rationalität auszurichten, womit sich immer noch „bei einer Gesamtbetrachtung eine risikoorientierte Berechnung“ der Prämien ergebe1402 – zumal sich die versicherungstechnischen Auswirkungen des § 110 SGB XI nach einer Übergangszeit abschwächten, so daß „die privatversicherungstypischen Merkmale der Prämiengestaltung“, deren Vorhandensein das Bundesverfassungsgericht mithin ebenfalls anerkennt, „noch deutlicher“ hervorträten1403. Das Bundesverfassungsgericht bewegt sich hiermit letztlich auf einer Linie mit den oben gefundenen Ergebnissen – daß nämlich der Begriff „Wirtschaft“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nur die „Privatwirtschaft“ bzw. „Erwerbswirtschaft“ im oben beschriebenen Sinne umfaßt, die sich durch Erwerbsstreben auszeichnet und durch eine hinreichende unternehmerische Freiheit hinsichtlich ihrer Arbeitsmethoden resp. ihrer Kalkulationsgrundlagen, um die erwerbliche Zielsetzung mittels rationeller oder für

1396

BVerfGE 103, S. 197 (216). BVerfGE 103, S. 197 (220). 1398 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, II. 1399 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). 1400 Vgl. insoweit auch Konrad Leube, Sozialversicherung in Gestalt der Privatversicherung – Rechtliche Rahmenbedingungen, NZS 2003, S. 449 (451). 1401 Siehe zum Begriff „Individualversicherung“ oben Fn. 1382. 1402 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (220 f.). 1403 BVerfGE 103, S. 197 (221). 1397

IV. BVerfG-Entscheidung zur privaten Pflegeversicherung

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rationell erachteter Kriterien verfolgen und erreichen zu können1404. Zudem präzisiert das Gericht seine frühere Rechtsprechung, nach welcher sich die Abgrenzung zwischen „privatrechtlichem Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) und „öffentlich-rechtlichem Versicherungswesen“ nach dem Betrieb „auf wettbewerblicher Grundlage“ bemißt1405.

V. „Privatwirtschaftskonforme“ Regelungen als „Recht der Wirtschaft/privatrechtliches Versicherungswesen“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Für die konkreten Grenzen (privat)wirtschaftlicher resp. privatversicherungsrechtlicher Tätigkeit lassen sich die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts dahingehend fruchtbar machen, daß es im Hinblick auf die Prämienbemessung darauf kommt, ob und inwieweit den in Bezug genommenen Bedarfdeckungseinheiten im Rahmen ihnen gemachter gesetzlicher Vorgaben noch ein hinreichender Freiheitsspielraum für selbständige, an rationellen Kriterien (beispielsweise versicherungsmathematischen) ausgerichtete Kalkulation verbleibt und insoweit das privatwirtschaftliche Gepräge der Betätigung nicht vollständig in den Hintergrund gedrängt wird; in diesem Fall können die betreffenden Regelungen auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden. Dem ist zuzustimmen, da – wie bereits oben erwähnt1406 – nicht jede wirtschaftslenkende oder wirtschaftsreglementierende gesetzliche Vorgabe, sei sie auch „sozial motiviert“, bereits aufgrund der mit ihr regelmäßig verbundenen Beschränkung unternehmerischer Freiheit das privatwirtschaftliche Gepräge einer Tätigkeit komplett beseitigt. Vielmehr kann dies erst dann der Fall sein, wenn die gesetzlichen Beschränkungen und Vorgaben jegliche unternehmerischen resp. kalkulatorischen Freiräume zur Ausrichtung an Rationalitätskriterien soweit eliminieren, daß eine sinnvolle, ansatzweise erfolgversprechende erwerbswirtschaftliche Betätigung praktisch nicht mehr möglich erscheint oder die kalkulatorischen Vorgaben soweit von nicht-wirtschaftlichen Aspekten durchsetzt sind, daß nicht mehr die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung im Vordergrund steht, sondern eine andere, insbesondere eine soziale, bedürfnisgerechte resp. gemeinwirtschaftliche, mittels welcher die Privatversicherung zu einer Art privaten „Quasi-Sozialversicherung“ umgeformt wird, deren vorrangige Zielsetzung die Bedarfsdeckung schlechthin ist. Dabei wird nicht verkannt, daß sich die Beurteilung, ob dieses oder jenes der Fall ist, im Einzelfall nicht immer einfach darstellen wird, sind die Grenzen doch, wie bereits 1404

Siehe 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). Siehe die bereits angesprochenen Entscheidungen BVerfGE 10, S. 141 (162); 41, S. 205 (219 ff.) 1406 Siehe 2. Teil, Abschnitt 3, II. 1405

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

angemerkt, letztlich fließend; dies allein allerdings ist kein Grund, die Berechtigung dieses Abgrenzungsmaßstabes in Zweifel zu ziehen.1407 Ob das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung zur privaten Pflegeversicherung die Grenze im konkreten Fall „richtig“ gezogen und die private Pflegeversicherung zu recht noch als Teil des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG angesehen hat, soll hier – auch angesichts der verbindlichen Entscheidung durch das Gericht – nicht abschließend beurteilt werden. Angemerkt sei insoweit nur, daß hier jedenfalls schon ein kritischer Grenzfall vorlag, bei dem eine andere Beurteilung als die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene keinesfalls hätte verwundern dürfen. Denn immerhin sah das Gericht und anerkannte zugleich, daß mit den besonderen sozialen Vorgaben für die private Pflegeversicherung eine „erhebliche finanzielle Unterdeckung“ einhergehen würde,1408 zu deren Ausgleich nach § 111 SGB XI die Einrichtung eines Risikoausgleichssystems zwischen den Versicherern vorgeschrieben wurde. Wenn aber infolge gesetzgeberischer Vorgaben bereits eine solche „erhebliche finanzielle Unterdeckung“ bei der Bereitstellung des betreffenden Gutes absehbar ist, die verbleibenden unternehmerischen Spielräume also augenscheinlich kaum noch zu einer rationellen gewinnbasierten Wirtschaftsweise genutzt werden können, und gleichzeitig zur Einrichtung eines für grundsätzlich im Wettbewerb miteinander stehende Bedarfsdeckungseinheiten komplett artfremden gemeinsamen Ausgleichssystems gezwungen wird, dann erscheint es jedenfalls keineswegs fernliegend, hierin eine so weite Entfernung von den oben beschriebenen privatwirtschaftlichen Strukturelementen zu sehen, daß die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auszuscheiden hätte1409.

1407 Vgl. auch Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (44). 1408 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (219, ebenso 208: „versicherungstechnische Unterdeckung“). 1409 Im Ergebnis die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für die private Pflege(pflicht)versicherung ablehnend Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (410); die private Pflege(pflicht) ebenfalls in ihrer Ausgestaltung nicht mehr dem Bereich der Privatversicherung zuordnend – wenn auch im Rahmen einer primär wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchung – Silvia Simon, Umverteilung in der Sozialversicherung, 2001, S. 93.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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VI. „Privatwirtschaftseliminierende“ Regelungen 1. Beseitigung der „privatwirtschaftstypischen“ Arbeitsweisen oder Zielsetzungen; Schaffung einer privaten „Quasi-Sozialversicherung“ Reglementierungen der Privatwirtschaft, die deren Charakter eben als „Privatwirtschaft“ eliminieren und demzufolge nicht mehr auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden können, liegen nach dem vorhergehend Ausgeführten also jedenfalls dann vor, wenn die gesetzlichen Beschränkungen und Vorgaben jegliche unternehmerischen resp. kalkulatorischen Freiräume zur Ausrichtung an Rationalitätskriterien soweit beseitigen oder in Hintergrund drängen, daß eine sinnvolle, ansatzweise erfolgversprechende erwerbswirtschaftliche Betätigung praktisch nicht mehr möglich erscheint oder die kalkulatorischen Vorgaben soweit von nicht-wirtschaftlichen Aspekten durchsetzt sind, daß nicht mehr die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung im Vordergrund steht, sondern eine andere, insbesondere eine soziale, bedürfnisgerechte resp. gemeinwirtschaftliche. Insoweit liegt die Grenze für die Inanspruchnahme der Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG dort, wo infolge betreffender Reglementierungen kein Raum mehr verbleibt für privatwirtschaftstypische (d. h. insbesondere an Rationalitätskriterien ausgerichtete) Arbeitsweisen oder die privatwirtschaftliche Zielsetzung (Gewinn- bzw. Erwerbswirtschaftlichkeit; Privatnützigkeit) nicht mehr ansatzweise mit der Aussicht auf Erfolg verfolgt werden kann. Sind folglich gesetzliche Verpflichtungen, die die Privatversicherung in besonderer Weise sozial verträglich machen sollen, so weitgehend, daß jede Privatwirtschaftstypik im genannten Sinne beseitigt wird, dann mutiert die Privatversicherung zu einer Art privaten „Quasi-Sozialversicherung“, für welche die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht mehr in Anspruch genommen werden kann.1410 2. Exemplarische Einzelfälle a) Nivellierung der Prämien Das Bundesverfassungsgericht selbst benennt zumindest einen Fall, in welchem angesichts der im Vorhergehenden genannten Maßstäbe eine Qualifizierung als „privatrechtliches Versicherungswesen“ und damit als „Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG konsequenterweise auszuscheiden hätte: den einer „Nivellierung der Prämien“, wie sie in der derzeitigen Sozialversiche-

1410 Vgl. auch Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (410 f.); Reimund Schmidt-De Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), S. 29 (44).

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

rung durch die strikte Bemessung der Prämienhöhe am Einkommen bzw. der Leistungsfähigkeit ohne Berücksichtigung individueller Risiken oder risikoerhöhender Umstände der in ihr Versicherten gegeben ist. Das Bundesverfassungsgericht begründete nämlich, wie bereits dargelegt, die Zuordnung der privaten Pflegeversicherung unter die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vor allem damit, daß die „in § 110 Abs. 1 und Abs. 3 SGB XI vorgesehenen Begrenzungen der Prämien und die dort ausgesprochenen Verbote, bestimmte risikoerhöhende Umstände zu berücksichtigen, [. . .] keine Nivellierung der Prämie zur Folge“ haben, sondern die Prämien immerhin noch „deutlich nach Lebensjahren aufgefächert“ werden können und das „auf statistischer Grundlage zu ermittelnde individuelle und vom Lebensalter anhängige Risiko, pflegebedürftig zu werden, und die sich daran anschließende versicherungsmathematische Berechnung der Prämien [. . .] die gesamte Tarifgestaltung so maßgeblich“ bestimme, daß sich „bei einer Gesamtbetrachtung eine insgesamt risikoorientierte Berechnung der Nettoprämie“ ergebe und „die private Pflege-Pflichtversicherung trotz der Umlageanteile ihren Charakter als Individualversicherung nicht verliert“.1411 Im Umkehrschluß kann aus diesen Ausführungen gefolgert werden, daß die besagte „Nivellierung der Prämien“ dem Charakter einer Versicherung als Individualversicherung bzw. als privatwirtschaftliche (resp. „privatrechtliche“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) entgegenstünde, weil dann die Prämienbemessung von jedem individuellen Risiko gelöst und eine rationelle, risikoorientierte Bemessung praktisch in keinerlei Hinsicht mehr möglich wäre,1412 mithin keinerlei „privatversicherungstypische Merkmale der Prämiengestaltung“1413 mehr vorlägen. Eine Übertragung von nivellierenden Prämienbemessungsmodellen, wie sie derzeit in der Sozialversicherung verwirklicht sind, könnte also nicht unter Inanspruchnahme des Kompetenztitels Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ erfolgen. Vielmehr müßten, etwa auch im Rahmen einer grundsätzlich möglichen Beschränkung der Prämienhöhe auf zumutbare Höchstsätze, hinreichende Differenzierungsspielräume verbleiben, die eine Berücksichtigung rationeller Kriterien (hier also vor allem individueller Risikofaktoren der Versicherten) ermöglichen1414.1415 1411

BVerfGE 103, S. 197 (220, 221) – Hervorhebung nicht im Original. So auch Helge Sodan, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), S. 144 (153). 1413 BVerfGE 103, S. 197 (221). 1414 Helge Sodan, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), S. 144 (153); vgl. dens., Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung – Dargestellt am Beispiel der Versorgung mit Zahnersatz, NZS 2003, S. 393 (399 f.). 1415 Insoweit hätten bei der Verwirklichung des im Bericht der Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Parteivorstandes vom 26. August 2004 sowie im Rahmen der auf Grundlage dieses Berichts vom SPD-Parteivorstand auf seiner Klausur am 28./ 1412

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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b) Bedarfsfallorientierte Prämienkappung, wie etwa im Rahmen des sog. „Basistarifs“ Ein Beispiel für eine im Hinblick auf die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ebenfalls problematische Reglementierung des privaten Versicherungswesens enthält auch der anläßlich der Gesundheitsreform 2007 durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKVWSG)1416 geregelte „Basistarif“, welcher von den privaten Krankenversicherungsunternehmen ab dem 1.1.20091417 angeboten werden muß. aa) Die Regelungen des „Basistarifs“ Durch diesen vornehmlich in den §§ 12 ff. VAG [2009]1418 geregelten sog. „Basistarif“ in der privaten (substitutiven) Krankenversicherung, soll – unter Ablösung des bis dato in § 257 SGB V geregelten, in seiner Wirkung aber für unzureichend erachteten1419 „Standardtarifs“ in der privaten Krankenversicherung – für bestimmte Personengruppen ein den Leistungen und Tarifen der gesetzlichen Krankenversicherung angenäherter Versicherungsschutz errichtet werden. Gewährt werden muß dieser Basistarif gemäß § 12 Abs. 1b VAG [2009] allen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 1 VAG [2009]), allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig sind, nicht zum Personenkreis nach Nr. 1 (oder nach § 193 Abs. 3 S. 2 Nr. 3, 4 VVG [2009]) gehören, und die nicht bereits eine private Krankheitskostenvollversicherung mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben, welche der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 VVG genügt (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 2 VAG [2009]), des weiteren Personen, die beihilfeberechtigt sind oder vergleichbare Ansprüche haben, so29. August 2004 beschlossenen „Eckpunkte für eine solidarische Bürgerversicherung“ vorgesehenen Modells einer „Bürgerversicherung“ unter Beteiligung der privaten Krankenversicherer mittels eines einheitlichen „Tarif Bürgerversicherung“ diese Vorgaben Berücksichtigung finden müssen, um noch die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in Anspruch nehmen zu können, siehe auch Helge Sodan, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), S. 144 (152 f.). 1416 Vom 26.3.2007 – BGBl. I, S. 378. 1417 Siehe Art. 43, 44 i.V. m. Art. 46 Abs. 10 GKV-WSG sowie Art. 10, 11 i.V. m. Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11. 2007 – BGBl. I, S. 2631. 1418 Durch den Klammerzusatz „[2009]“ werden im folgenden diejenigen gesetzlichen Regelungen gekennzeichnet, welche zum 1.1.2009 in Kraft treten (siehe dazu Fn. 1417). 1419 Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 245.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

weit sie zur Erfüllung der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 VVG [2009] ergänzenden Versicherungsschutz benötigen (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 VAG [2009]), sowie allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die bereits eine private Krankheitskostenvollversicherung mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben und deren Vertrag nach dem 31.12.2008 abgeschlossen wird (§ 12 Abs. 1b S. 1 Nr. 4 VAG [2009]). Ist der private Krankheitskostenversicherungsvertrag vor dem 1.1.2009 abgeschlossen, kann bei Wechsel oder Kündigung des Vertrages der Abschluß eines Vertrages im Basistarif nur bis zum 30.6.2009 verlangt werden (§ 12 Abs. 1b S. 2 VAG [2009]. Durch diese Regelungen sollen letztlich „jeder PKV-Versicherte, freiwillig GKV-Versicherte und alle Nichtversicherten, die vormals in der PKV versichert waren oder systematisch der PKV zuzuordnen sind, [. . .] in den Basistarif wechseln“ können1420. Der Basistarif soll damit „Personen [. . .], die zuletzt privat krankenversichert waren“, zugute kommen1421, sei zudem „für bereits privat Krankenversicherte besonders interessant, die bislang Risikozuschläge bezahlen müssen“1422, und dient ferner dazu, die private Krankenversicherung „bei den freiwillig Versicherten zukünftig auch zur Aufnahme schlechter Risiken zu verpflichten“1423. Ferner flankiert die „Bezahlbarkeit“ des Basistarifs den durch § 193 Abs. 3 VVG [2009] angeordneten Versicherungszwang. Es besteht hinsichtlich des Basistarifs grundsätzlich Kontrahierungszwang; der Vertragsschluß darf nur unter den engen Voraussetzungen des § 12 Abs. 1b S. 4 VAG [2009] abgelehnt werden. Hinsichtlich der zu gewährenden Leistungen muß der branchenweit einheitlich anzubietende Basistarif gemäß § 12 Abs. 1a S. 1 VAG [2009] in Art, Umfang und Höhe den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß dem dritten Kapitel des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, auf die ein Anspruch besteht, jeweils vergleichbar sein. Den Versicherten muß die Möglichkeit zur Vereinbarung von Selbstbehalten in verschiedenen Stufen offen stehen (§ 12 Abs. 1a S. 3 VAG [2009]). Gemäß § 12 Abs. 1d VAG [2009] wird der Verband der privaten Krankenversicherung damit beliehen, Art, Umfang und Höhe der Leistungen im Basistarif nach Maßgabe der Regelungen in § 12 Abs. 1a VAG [2009] festzulegen; die Fachaufsicht übt das Bundesministerium der Finanzen aus. 1420

Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 92. Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 87. 1422 Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 207. 1423 Siehe die im Vorfeld vom Bundeskabinett am 12.7.2006 verabschiedeten und als Grundlage für die Erarbeitung des GKV-WSG-E dienenden „Eckpunkte zu einer Gesundheitsreform 2006“ vom 4.7.2006, S. 24 – einzusehen etwa unter http://www. die-gesundheitsreform.de / gesundheitspolitik/pdf/eckpunkte_gesundheitsreform _ 2006. pdf?param=reform2006. 1421

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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„Um die Bezahlbarkeit des Basistarifs zu gewährleisten“1424, sieht § 12 Abs. 1c VAG [2009] bezüglich der Kalkulation der Prämien bzw. Beiträge des Basistarifs Einschränkungen der Kalkulationsfreiheit vor: Vergleichbar den bereits oben1425 beschriebenen Vorgaben für die Prämienkalkulation in der privaten Pflegeversicherung darf der Beitrag für den Basistarif den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übersteigen. Da nach der gesetzgeberischen Intention die Berücksichtigung des individuellen Risikos der Versicherten im Basistarif „keine Rolle spielen darf“1426, regelt § 203 Abs. 1 S. 2 VVG [2009], daß Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse infolge eines erhöhten individuellen Risikos im Basistarif nicht vorgesehen werden dürfen (möglich bleibt insoweit aber die Berücksichtigung der „gruppenspezifischen“ Risiken von „Alter“ und „Geschlecht“)1427; die Erfassung individueller Risikodaten ist gemäß § 203 Abs. 1 S. 3 VVG [2009] nur noch für Zwecke des nach § 12g VAG [2009] durchzuführenden Risikoausgleichs (siehe dazu sogleich) oder im Hinblick auf spätere Tarifwechsel gestattet. § 12 Abs. 1c S. 4–6 VAG [2009] sieht Maßnahmen zur Verhinderung finanzieller Überforderung von Versicherten vor, sofern durch die Bezahlung der „regulären“ Beiträge des Basistarifs Hilfebedürftigkeit im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausgelöst würde: Entsteht eine solche Hilfsbedürftigkeit allein durch die Zahlung des Beitrages nach § 12 Abs. 1c S. 1, 3 VAG [2009], so vermindert sich der Beitrag für die Dauer der Hilfebedürftigkeit um die Hälfte (§ 12 Abs. 1c S. 4 VAG [2009]). Besteht die Hilfsbedürftigkeit selbst dann noch, beteiligt sich der zuständige Träger nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch auf Antrag des Versicherten in dem erforderlichen Umfang (§ 12 Abs. 1c S. 5 VAG [2009]). Besteht die Hilfebedürftigkeit unabhängig von der Höhe des zu zahlenden Beitrags des Basistarifs, so gilt § 12 Abs. 1c S. 4 VAG [2009] entsprechend und es zahlt der zuständige Träger den Beitrag, der auch für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen ist (§ 12 Abs. 1c S. 6 VAG [2009]). Gemäß § 12 Abs. 4b VAG [2009] werden die Beiträge für den Basistarif ohne die Kosten für den Versicherungsbetrieb auf der Basis gemeinsamer Kalkulationsgrundlagen einheitlich für alle beteiligten Unternehmen ermittelt. Nach § 12g VAG [2009] müssen die Versicherungsunternehmen, die einen Basistarif anbieten, sich zur dauerhaften Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus den Versicherungen am Ausgleich der Versicherungsrisiken im Basistarif betei1424

Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 207. 2. Teil, Abschnitt 3, III. 1426 Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 207. 1427 Siehe die vom Bundesgesundheitsministerium herausgegebene Übersicht „Was ändert sich? Fragen und Antworten zur Gesundheitsreform 2006 – GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)“, Stand: 26.10.2006, S. 16; ferner Helge Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, 2. Aufl., 2007, S. 78. 1425

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

ligen und dazu ein Ausgleichssystem schaffen, dem sie angehören. Das Ausgleichssystem muß einen dauerhaften und wirksamen Ausgleich der unterschiedlichen Belastungen gewährleisten. Mehraufwendungen, die im Basistarif aufgrund von Vorerkrankungen entstehen, sind auf alle Versicherten gleichmäßig zu verteilen; Mehraufwendungen, die zur Gewährleistung der in § 12 Abs. 1c VAG [2009] genannten Begrenzungen entstehen, sind auf alle beteiligten Versicherungsunternehmen so zu verteilen, daß eine gleichmäßige Belastung dieser Unternehmen bewirkt wird. Der Gesetzgeber stützt sich hinsichtlich der Regelungen des Basistarifs auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (privatrechtliches Versicherungswesen als Teil des Rechts der Wirtschaft).1428 bb) Bewertung dieser Regelungen hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Bei genauerer Betrachtung ist der Basistarif für die private Krankenversicherung ist in vielerlei Hinsicht der privaten Pflegepflichtversicherung gemäß den §§ 110 f. SGB XI1429 nachgebildet: Es herrscht aus Sicht der privaten Versicherungsunternehmen Kontrahierungszwang, der Leistungsumfang ist vorgeschrieben, die Beiträge sind auf die durchschnittlichen Höchstbeiträge des betreffenden Zweigs der Sozialversicherung begrenzt und die individuelle Risikostruktur der Versicherten darf nicht bzw. nur in erheblich eingeschränktem Maße Eingang in die Prämienkalkulation finden. Zudem muß ein Risikoausgleichsystem aufgebaut werden, um die aus dem Kontrahierungszwang bei gleichzeitigem Ausschluß von individuellen Risikoberücksichtigungen resultierenden „Belastungen“1430 bzw. finanziellen „Unterdeckungen“1431 abzufedern, indem sie im Rahmen dieses Risikoausgleichs gleichmäßig auf alle beteiligten Unternehmen verteilt werden. (1) Gemeinsamkeiten mit den Regelungen zur privaten Pflegepflichtversicherung Zieht man nunmehr im Hinblick auf die Frage der Gesetzgebungskompetenz für diese Regelungen den Vergleich mit der privaten Pflegeversicherung, würde bis hierhin für die Antwort weitgehend Paralleles gelten müssen: Wie bei der privaten Pflegeversicherung verbleibt den Versicherungsunternehmen trotz der 1428

Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 93. Siehe zu den „sozialen“ Beschränkungen der privaten Pflege(pflicht)versicherung bereits oben 2. Teil, Abschnitt 3, III. 1430 Siehe Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 208: „Belastung der Unternehmen mit Kosten aufgrund von Vorerkrankungen“. 1431 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (208, 219). 1429

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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sozialen Einschränkungen immer noch ein gewisser Rahmen, innerhalb dessen sie nach rationellen, versicherungsmathematischen Kriterien die Beiträge für den Tarif festlegen können, da im Rahmen des Basistarifs – wie bei der privaten Pflegeversicherung – die Prämien zumindest noch nach Alter sowie nach Geschlecht differenziert werden dürfen. Folgt man dem Bundesverfassungsgericht und seinen Ausführungen zur insoweit vergleichbaren privaten Pflegeversicherung1432, verblieben hiermit in ausreichendem Maße noch eine gewisse Risikoorientierung und privatversicherungstypische Merkmale der Prämienkalkulation, so daß der Charakter als Individualversicherung erhalten bliebe und die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG einschlägig wäre. Geteilt werden müßten aber auch die bereits oben geäußerten Bedenken zu dieser Einstufung durch das Bundesverfassungsgericht: Denn bereits die vom Gesetzgeber gesehene Notwendigkeit zur Einrichtung eines Risikoausgleichssystems nach § 12g VAG [2009] (vergleichbar dem in der privaten Pflegeversicherung gemäß § 111 SGB XI) zeigt, daß auch der Basistarif infolge seiner sozialen Inpflichtnahmen der Versicherer erhebliche Belastungen der beteiligten Unternehmen (etwa infolge von nun nicht mehr kalkulatorisch erfaßbaren Vorerkrankungen der Versicherten) nach sich zieht1433 und damit ein an wirtschaftlichen Kriterien gemessener rationeller Betrieb dieses Basistarifs nicht zu erwarten ist. Wenn aber infolge gesetzgeberischer Vorgaben bereits solche finanziellen Unterdeckungen oder Belastungen bei der Bereitstellung des Versicherungsschutzes absehbar sind, die verbleibenden unternehmerischen Spielräume also augenscheinlich kaum noch zu einer rationellen gewinnbasierten Wirtschaftsweise genutzt werden können, und gleichzeitig zur Einrichtung eines für grundsätzlich im Wettbewerb miteinander stehende Unternehmen komplett artfremden gemeinsamen Ausgleichssystems gezwungen wird, dann erscheint es jedenfalls keineswegs fernliegend, hierin eine so weite Entfernung von den oben beschriebenen privatwirtschaftlichen Strukturelementen1434 zu sehen, daß die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG jedenfalls zweifelhaft erscheint.1435 (2) Unterschiede zu den Regelungen der privaten Pflegepflichtversicherung Unabhängig von den insoweit bestehenden Bedenken unterscheidet sich der Basistarif von den Regelungen der privaten Pflegeversicherung allerdings ganz erheblich, nämlich im Hinblick auf die für ihn in § 12 Abs. 1c S. 4 bis 6 VAG 1432 1433 1434 1435

BVerfGE 103, S. 197 (219 ff.) – ausführlich dazu oben 2. Teil, Abschnitt 3, III. Siehe Begründung zum GKV-WSG-E, BT-Drucks. 16/3100, S. 208. Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). Vgl. auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 3, V.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

[2009] vorgesehenen Prämienkappungen im Falle von Hilfebedürftigkeit im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (siehe oben). Mittels der Regelungen in § 12 Abs. 1 S. 4 und 6 VAG [2009] werden die ohnehin schon eingeschränkten Möglichkeiten zur Prämienkalkulation nochmals beschnitten, und zwar dergestalt, daß – abhängig von der entweder generell bestehenden oder infolge der Zahlung des Beitrags für den Basistarif eintretenden individuellen Hilfebedürftigkeit eines Versicherten – die ohnehin nur noch in einem eingeschränkten Rahmen nach rationell-wirtschaftlichen, privatwirtschaftstypischen Merkmalen kalkulierbaren Prämien entweder (im Falle des S. 4) um die Hälfte gekappt werden oder (im Falle des S. 6) auf den Betrag beschränkt sind, der von dem zuständigen Träger nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen ist. Durch diese Regelungen werden die privatwirtschafts- bzw. privatversicherungstypischen, zumindest innerhalb gewisser Grenzen noch rationell-wirtschaftlich resp. risikoorientierten Prinzipien der Prämiengestaltung vollständig durchbrochen, weil die konkrete Prämienhöhe einzig und allein abhängig von der konkreten Hilfsbedürftigkeit eines einzelnen Versicherten gemacht wird und jegliche in der einzelnen Prämie nach Beachtung der Vorgaben von § 12 Abs. 1c S. 1 bis 3 VAG [2009] noch verbleibende Wirtschaftlichkeits- bzw. Risikobemessung vollständig wegfällt infolge der Kappung nach § 12 Abs. 1c S. 4, 6 VAG [2009]. Die einzige Leitlinie für die Prämienbemessung in diesen Fällen ist dann noch die Ausrichtung an der (eingeschränkten) Leistungsfähigkeit des Versicherten. Die Versicherungsleistung muß von dem Versicherer vollständig bedürfnisgerecht bzw. leistungsfähigkeitsgerecht1436 erbracht werden, also unter Gegenleistung dessen, was der Versicherte sich leisten kann. Die Prämien bzw. die Versicherungsleistungen werden hierdurch vollständig „sozialisiert“, also ganz und gar in den „Dienst des Sozialen“ gestellt. Jegliche privatwirtschaftliche, d. h. auf Erwerb gerichtete Zielsetzung wird unterminiert, jegliche privatwirtschaftliche, d. h. an rationellen Kriterien ausgerichtete Arbeitsweise unmöglich gemacht. Vielmehr wird die betreffende Versicherung zu einer gemeinwirtschaftlichen umgeformt, da sie ganz vordergründig, wenn nicht einzig und allein, dem sozialen Zweck, dem Gemeinwohl verpflichtet wird und der Versicherer die hieraus entstehenden finanziellen Defizite zu tragen hat (was sich allein schon in der Notwendigkeit der Errichtung eines Risikoausgleichssystems nach § 12g VAG [2009] manifestiert). Hierdurch wird eine so weite Abkehr von den oben beschriebenen privatwirtschaftlichen bzw. privatversicherungsrechtlichen Prinzipien vollzogen1437, 1436

Siehe zu diesem Begriff oben Fn. 1356. Vgl. auch Helge Sodan, Verpflichtende Basistarife in der privaten Krankenversicherung als Verfassungsproblem, in: Staat im Wort – Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 983 (991 ff., insb. 996); ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007 – Verfassungs- und europarechtliche Probleme des GKV-Wettbewerbs1437

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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daß jedenfalls die Kappungs-Regelungen in § 12 Abs. 1c S. 4, 6 VAG [2009] nicht mehr auf die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das „Recht der Wirtschaft“ bzw. das „privatrechtliche Versicherungswesen“ gestützt werden können.1438 Zugleich wird durch die Kappungs-Regelungen in § 12 Abs. 1c S. 4, 6 VAG [2009] und die alleinige Ausrichtung der Prämienermittlung an der Leistungsfähigkeit des Versicherten eine Nivellierung der Prämien bewirkt, welche schon für sich genommen derart privatwirtschaftsfremd ist, daß auch insoweit eine Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ausscheidet1439. (3) Unmaßgeblichkeit der eventuellen Möglichkeit zur „Quersubventionierung“ Diesem Befund kann auch nicht entgegengehalten werden, daß die Versicherungsunternehmen die aus der Prämienkappung nach § 12 Abs. 1c S. 4, 6 VAG [2009] resultierenden Einbußen bzw. Belastungen auf die übrigen Versicherten (im Basistarif und vor allem der „normalen“ Krankenvollversicherung außerhalb des Basistarifs) bzw. deren Prämien umlegen könnten. Denn zum einen ist eine solche Umlage bereits gesetzlich ausgeschlossen, da § 12g Abs. 1 S. 3 Hs. 2 VAG [2009] bestimmt, daß im Rahmen des in § 12g VAG [2009] angeordneten Risikoausgleich die Mehraufwendungen, die zur Gewährleistung der in § 12 Abs. 1c VAG [2009] genannten Begrenzungen entstehen, auf die beteiligten Versicherungsunternehmen zu verteilen sind. Doch selbst wenn eine solche Umlage nicht gesetzlich ausgeschlossen wäre, würde dies nicht dem genannten Befund entgegenstehen: Denn zum einen änderte ein solches Vorgehen nichts an der Tatsache, daß gleichwohl die der Kappung nach § 12 Abs. 1c S. 4, 6 VAG [2009] unterliegenden Prämien nicht mehr ansatzweise nach privatwirtschaftlichen Kriterien kalkulierbar sind. Im Gegenteil würden hierdurch in die Kalkulation der Prämien Kriterien einfließen, die gerade nicht mehr privatwirtschaftstypisch sind, weil sie letztlich nur noch der Quersubventionierung einer von vornherein defizitären, rein gemeinwirtschaftlichen und nicht ansatzweise mehr privatwirtschaftlichen Prämiengestaltung im Rahmen der Kappungsregelungen des § 12 Abs. 1c Nr. 4, 6 VAG [2009] dienten. Umso mehr gälte dies hinsichtlich der Umlagemöglichkeit auf die Versicherten außerhalb des Basistarifs, da es insoweit gerade kein Ausdruck von Wirtschaftlichkeit, sondern vielmehr von stärkungsgesetzes, 2006, S. 76 ff. – problematisiert allerdings nicht im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz für den Basistarif, sondern dessen grundrechtliche Implikationen. 1438 Vgl. auch Jan Boetius, „Gegen die Wand“ – Der Basistarif der Gesundheitsreform bricht Europa- und Verfassungsrecht, VersR 2007, S. 431 (432 ff.). 1439 Vgl. oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. a).

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

Nichtwirtschaftlichkeit ist, wenn in die Kalkulation für ein Produktsegment die Quersubventionierung für ein anderes Produktsegment und damit ein komplett produktfremder Umstand einfließen muß. Und im übrigen kann dieses Argument der Möglichkeit einer Quersubventionierung zwischen verschiedenen Produktsegmenten auch schon deshalb nicht greifen, weil generell auch Wirtschaftseinheiten denkbar sind, die überhaupt kein zweites Produktsegment aufweisen, welches zur Quersubventionierung eines anderen Produktsegmentes herangezogen werden kann1440. Im Hinblick auf eine Umlage auf die übrigen Versicherten im Basistarif wiederum wäre zudem zu berücksichtigen, daß aufgrund der engen verbleibenden Kalkulationsspielräume des Basistarifs eine Umlage der Kappungsdefizite schon kaum möglich ist und zudem der gesamte Basistarif noch näher an die (privatversicherungsuntypische) Beitragsfestsetzung in der gesetzlichen Krankenversicherung rücken würde, wenn die im Basistarif Versicherten im Rahmen ihrer Beiträge zusätzlich die Lasten der Versicherten tragen müßten, für die die Beiträge aus sozialen Gründen gemäß § 12 Abs. 1c S. 4, 6 VAG [2009] gekappt werden. Nach alledem bleibt also festzuhalten, daß solche wie die in § 12 Abs. 1 S. 4, 6 VAG [2009] vorgesehenen Prämienfestsetzungen in der Privatversicherung, welche ausschließlich die Bedarfssituation bzw. die Leistungsfähigkeit des Versicherten berücksichtigen und keinerlei Raum mehr für die Berücksichtigung rationeller (insbesondere risikoorientierter) Kriterien belassen, keinen privatwirtschaftlichen Charakter mehr aufweisen und demgemäß nicht auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützbar sind, weil sie nicht mehr dem „Recht der Wirtschaft“ bzw. dem „privatrechtlichen Versicherungswesen“ in dessen Sinne zugeordnet werden können. 3. Mögliche Gesetzgebungskompetenzen Verlassen Regelungen wie die im Vorhergehenden dargelegten wegen der durch sie bewirkten „überbordenden“ sozialen bzw. sozialversicherungsähnlichen Inpflichtnahme der Privatwirtschaft den Boden des „Rechts der Wirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, stellt sich die Frage, welche Gesetzgebungskompetenzen hierfür stattdessen in Anspruch genommen werden können bzw. hierfür in Betracht kommen. 1440 So wäre es zumindest theoretisch denkbar, daß alle „normal“ Krankenvollversicherten in den Basistarif wechseln, so daß eine Quersubventionierung aus der „normalen“ Krankenvollversicherung heraus überhaupt nicht möglich wäre. Auch insgesamt kann die Qualifizierung als „Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht davon abhängen, daß einzelne Unternehmen neben der Produktsparte, hinsichtlich derer eine soziale Inpflichtnahme die Stützung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG isoliert betrachtet ausschlösse, mehr oder weniger zufällig noch andere Produktsparten aufweisen, aus denen heraus eine Quersubventionierung der sozial inpflichtgenommenen Sparte möglich wäre.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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a) „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Da die betreffenden Regelungen letztlich Elemente einer sozialen Tarifgestaltung sowie eines sozialen Ausgleichs enthalten, könnte man zunächst daran denken, derartige Regelungen auf die Kompetenz für „die Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu stützen. Dies scheitert aber daran, daß – wie bereits oben ausführlich dargelegt1441 – mit „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG letztlich ein staatliches Sicherungssystem gemeint ist, also eine vom Staat eingerichtete bzw. der öffentlichen Hand geführte Einrichtung; „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfordert demgemäß begriffsnotwendig eine öffentlich-rechtliche Organisationsform bzw. eine staatliche Trägerschaft. Dies ergibt sich nicht erst aus den spezifischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG hinsichtlich dieser Organisationsform („Körperschaften des öffentlichen Rechts“)1442, sondern bereits unmittelbar aus dem Begriffsinhalt von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, so daß es für die Schaffung einer nicht mehr dem „Recht der Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG unterfallenden „privaten Sozialversicherung“ bereits an einer Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fehlt und nicht erst an der Wahrung der organisationsrechtlichen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG. Auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden könnte allenfalls eine Organisationsprivatisierung der „Sozialversicherung“, also eine gleichwohl noch „staatliche“ Durchführung der Sozialversicherung, allerdings in den Organisationsformen des Privatrechts, d. h. durch der öffentlichen Hand zuzuordnende privatrechtliche Organisationseinheiten.1443 Allerdings wäre eine solche im Hinblick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kompetenzgemäße Organisationsprivatisierung nicht vereinbar mit den Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG1444. Um eine solche Organisationsprivatisierung handelt es sich bei den hier in Frage stehenden Regelungen aber nicht; vielmehr werden durch sie „echte“ Private in die Pflicht genommen, einen der Sozialversicherung vergleichbaren Versicherungsschutz zu gewährleisten. b) „Öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG In Betracht kommt ferner die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG für die „öffentliche Fürsorge“,1445 denn diese wird von der Recht1441

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). Siehe ausführlich zu den organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG noch unten 3. Teil, II., zum Verhältnis zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Art. 87 Abs. 2 GG bereits ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c). 1443 Siehe bereits oben bei Fn. 845. 1444 Siehe ausführlich dazu noch unten 3. Teil, II. 3. c). 1442

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

sprechung des Bundesverfassungsgerichts – in nicht unbedenklicher Weise – über die Erbringung staatlicher Sozialleistungen wie etwa der Sozialhilfe hinaus ausgedehnt zu einer „uneingeschränkten Kompetenz für die unter Fürsorgegesichtspunkten regelungsbedürftigen Rechtsverhältnisse“1446, so daß auch ein Privater bzw. die Privatwirtschaft aus Gründen der „öffentlichen Fürsorge“ entsprechende Verpflichtungen auferlegt bekommen könne (wie etwa im Falle der Festlegung von Pflichtplatzquoten für die Beschäftigung von Schwerbehinderten bei gleichzeitiger Erhebung einer Ausgleichsabgabe bei Nichteinhaltung der Pflichtplatzquote1447).1448 Selbst bei Zugrundelegung dieser weiten Auslegung aber besteht das Kennzeichnende der „Fürsorge“ anerkanntermaßen darin, daß die Fürsorgeleistungen gegenleistungsunabhängig gewährt werden, also in Abgrenzung zur sozialen Sicherung in Gestalt einer „Versicherung“ keine Beitragsleistungen der (potentiell) Begünstigten voraussetzen, so daß die Rechtsansprüche der Bedachten insoweit nicht „erkauft“ werden.1449 Und des weiteren werden Fürsorgeleistungen nicht wie bei einer (sozialen) Versicherung aus einer separierten und (zumindest auch) aus Beitragszahlungen der Begünstigten gespeisten Vermögensmasse aufgebracht.1450 „Fürsorge“ und „Versicherung“ sind als unterschiedliche Arten sozialer Sicherung also zu trennen; ansonsten würden auch die Grenzen zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 („Fürsorge“) und Nr. 12 („Sozialversicherung“) aufgehoben. Wenn eine „Versicherung“ aber wegen der eben beschriebenen Charakte1445 So hatten etwa die zuständigen Ministerien die Gesetzgebungskompetenz für die im Hinblick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zumindest nicht unproblematische private Pflege-Pflichtversicherung auch in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG erblickt, siehe BVerfGE 103, S. 197 (209 f.). 1446 BVerfGE 106, S. 62 (135); 108, S. 186 (214) – jeweils bzgl. Altenpflegeeinrichtungen; für allumfassende Fürsorgekompetenz ohne jegliche Begrenzung auch BSGE 6, S. 213 (223): dem Art. 74 (Abs. 1) Nr. 7 GG unterfalle jede „durch Gesetz verordnete und geordnete, allgemein fürsorgerischen Zwecken dienende Maßnahme [. . .], ohne daß im Einzelfall unmittelbar ein Gefährdungstatbestand vorzuliegen braucht“ oder es darauf ankomme, „wer die Mittel hierfür aufzubringen hat“; dem folgend etwa Rainer Pitschas, Der Schutz pflegebedürftiger Bürger, ZRP 1987, S. 283 (288). 1447 BVerfGE 57, S. 139 (166 f.) stützte dies ohne nähere Begründung auf Art. 74 (Abs. 1) Nr. 7 GG; die Literatur scheint dem überwiegend zu folgen, siehe etwa Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 74 Rn. 65. 1448 Siehe ausführlich zum Inhalt dieses Kompetenztitels sowie der Kritik an der weiten Auslegung seines Inhalts durch das Bundesverfassungsgericht oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1. 1449 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1. sowie 2. 1450 Siehe Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 107; Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 100 Rn. 156; Bertram Schulin/Gerhard Igl/Felix Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 2 Rn. 2; siehe ferner oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1. sowie 2.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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ristika gerade nicht „Fürsorge“ ist, dann kann auch eine soziale Ausgestaltung privater Versicherungen bzw. eine entsprechende Bindung der privaten Versicherungsunternehmen nicht auf die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG gestützt werden, nur weil sie sozial oder im weitesten (aber eben nicht mehr von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG erfaßten) Sinne fürsorgerisch motiviert ist1451. Ferner vermittelt die Fürsorge-Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG auch keine Grundlage für die Umverteilung von Lasten, wie es in einer zur „QuasiSozialversicherung“ umgeformten Privatversicherung der Fall wäre, sondern umfaßt nur eine „Technik des Gebens“1452. Auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG („öffentliche Fürsorge“) scheidet als Kompetenzgrundlage für Regelungen der in Frage stehenden Art also aus. c) „Versorgung“ Aus dem Bereich der „klassischen“ Trias sozialer Sicherheit1453 kommt neben den Gesetzgebungskompetenzen für „Fürsorge“ und „Versicherung“ noch die für „Versorgung“ in Betracht. Unter „Versorgung“ fallen einseitige (staatliche) Leistungen, die beitragsunabhängig aus allgemeinen Steuermitteln und unter Einräumung eines Rechtsanspruchs bei Vorliegen bestimmter Tatbestände für einen typischen Bedarf nach festen Regeln ohne Rücksicht auf eine individuelle Notlage gegeben werden.1454 Da demgemäß „Versorgung“ ebenso wie „Fürsorge“ insbesondere durch eine Gegenleistungs- bzw. Beitragsunabhängigkeit gekennzeichnet ist, läßt sich indes eine als „Versicherung“ ausgestaltete Form sozialer Sicherung nicht als „Versorgung“ klassifizieren. Insoweit gilt das gleiche wie im Vorhergehenden hinsichtlich der Inanspruchnahme der Kompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ ausgeführt; dies umso mehr, als die Grenze zwischen „Fürsorge“ und „Versorgung“ jedenfalls auf verfassungsrechtlicher Ebene relativ verschwommen ist, weil aufgrund einer relativ weiten Auslegung

1451 „Fürsorge“ kann insoweit auch untechnisch und nicht im Sinne der sozial- bzw. verfassungsrechtlichen Terminologie benutzt werden, vgl. Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 45 Fn. 9; insoweit spricht auch das Bundesverfassungsgericht davon, daß etwa die Sozialversicherung von je her auch ein „Stück staatlicher“ bzw. „sozialer Fürsorge“ enthalte, siehe etwa BVerfGE 11, S. 105 (114); 28, S. 324 (349); 76, S. 256 (301), ohne daß hiermit „Fürsorge“ im „technischen“ Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG gemeint wäre. Gemeint sind vor allem die sozialen Elemente der Sozialversicherung wie etwa die soziale Tarifgestaltung oder der soziale Ausgleich. 1452 Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 53 f. 1453 Siehe zu dieser „Trias“ bereits oben bei Fn. 1192. 1454 Siehe Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 17; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 7; vgl. ferner Walter Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955, S. 19 ff.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG auch zahlreiche Fälle auf diese Kompetenz gestützt werden, die im klassischen sozialrechtlichen Sinne eher als „Versorgung“ eingestuft würden1455. Explizit enthalten die Kompetenzkataloge des Grundgesetzes ohnehin nur Zuständigkeiten zur Regelung bestimmter Sonderversorgungen, nämlich in Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG1456 (Versorgung von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen). Regelungen der genannten Art, welche die privatversicherungsrechtlichen Strukturen aus sozialen Gründen soweit beseitigen, daß die betreffenden Versicherungen nicht mehr dem „privatrechtlichen Versicherungswesen“ zuzuordnen sind, können demzufolge auch nicht auf eine Gesetzgebungskompetenz für „Versorgung“ gestützt werden. d) „Hybridkompetenzen“, insbesondere aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 in Verbindung mit Nr. 12 GG? Rein vorsorglich (da bisher, soweit ersichtlich, noch nicht ernsthaft Gegenteiliges vertreten wurde) sei hier zudem darauf hingewiesen, daß sich für Regelungen der besagten Art auch keine Gesetzgebungskompetenzen durch „Mischung“ vorhandener, aber für sich isoliert jeweils nicht einschlägiger Kompetenzmaterien herleiten lassen: Solche hybriden Kompetenzen ließen sich etwa aus dem Gedanken heraus in Betracht ziehen, daß eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) gegeben ist sowie eine für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) und demgemäß auch „Zwischenformen“1457 in die konkurrierende Zuständigkeit fallen könnten, welche sozial- und privatversicherungsrechtliche Elemente vermischen und so etwa eine „private Quasi-Sozialversicherung“ darstellen würden. Die bestehenden Einzelkompetenzen wären insoweit die „Eckpunkte“ eines dazwischen liegenden Gesamtspektrums (der Regelungsmöglichkeit hinsichtlich Versicherungen und deren sozialer Ausgestaltung), welches man aufgrund der Kompetenz für die „Eckpunkte“ dann zur Gänze der betreffenden Legislativgewalt von Bund (oder gegebenenfalls Ländern) zuordnen würde. Eine solche Vorgehensweise wäre aber strikt abzulehnen. Zum einen schon stellte es eine bloße Fiktion dar zu unterstellen, daß die Kompetenzkataloge des

1455

Siehe dazu bereits oben 2. Teil, Abschnitt 2, I. 1. Ehemals, d. h. bis zur Föderalismusreform 2006 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034), Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.). 1457 Vgl. insoweit auch die Stellungnahme des „Deutschen Juristinnenbundes“ in BVerfGE 103, S. 197 (214 f.): Die private Pflege-Pflichtversicherung sei ein „Mischtyp“, weil sie einerseits private Versicherungen betrifft, andererseits aber diese mit für die Sozialversicherung typischen Risiko- und Solidarausgleichsmechanismen versieht. 1456

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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Grundgesetzes dem Bund nicht bloß die konkret umschriebenen Materien („Sozialversicherung“, „privatrechtliches Versicherungswesen“) zuweisen, sondern gegebenenfalls zugleich auch ein „zwischen“ diesen Materien befindliches Spektrum an hybriden, d. h. aus einzelnen Elementen der Eckmaterien „zusammengesetzten“ Materien, welches sich aber keiner der dieses Spektrum begrenzenden, explizit benannten Kompetenzmaterien zuordnen läßt. Auch würde hierdurch der numerus clausus der geschriebenen Bundeskompetenzen aufgeweicht und auf Regelungsinhalte ausgedehnt, welche zwar einzelne Elemente geschriebener Materien aufweisen, gleichwohl aber keine der betreffenden Materien vollständig ausfüllen. Letztlich würden also ungeschriebene Kompetenzen kreiert, welche nach der Konzeption der Art. 70 ff. GG an sich in die (ausschließliche) Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen oder gegebenenfalls einem gänzlich anderen Kompetenztitel zuzuordnen sind. Auch aus systematischen Gesichtspunkten würde ein solches Vorgehen nicht überzeugen. Würde etwa eine der „eckpunktbildenden“ Kompetenzen durch Verfassungsänderung aus der konkurrierenden in die ausschließliche Bundeskompetenz verlagert, wäre nicht mehr ersichtlich, ob die im „Spektrum“ befindlichen Materien nun der ausschließlichen oder der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen. Würde man, um diese Ungereimtheit zu vermeiden, in solchen Fällen die Annahme des „Spektrums“ verneinen (ein solches also nur gelten lassen, wenn die „eckpunktbildenden“ Kompetenzen im Rahmen derselben Kompetenzart angesiedelt sind), hätte die beschriebene Verlagerung einer der „eckpunktbildenden“ Kompetenzen aus der konkurrierenden in die ausschließliche Gesetzgebung den Verlust der Zuständigkeit für das dazwischen liegende „Spektrums“ zur Folge, was im Ergebnis eine Schwächung der Bundeskompetenz bedeuten würde, obwohl die Kompetenzverlagerung hin zur ausschließlichen Zuständigkeit diese gegebenenfalls sogar stärken soll. Auch insoweit entstünden also systematische Ungereimtheiten. Ferner ist anerkannt, daß die kompetenzrechtliche Qualifikation eines Gesetzes die eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Kompetenztitel erfordert, also nicht auf mehrere Kompetenztitel gleichzeitig gestützt werden kann.1458 Dies gilt selbst dann, wenn der Regelungsinhalt wegen seiner Vielgestaltigkeit mehrere unterschiedliche Kompetenzmaterien vollständig ausfüllt; in solchen Fällen ist der Regelungsinhalt dann auf diejenige Kompetenzmaterie zu stützen, die dem primären Hauptzweck der Norm am ehesten entspricht.1459 Wenn aber 1458 Siehe statt vieler Jochen Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 70 Rn. 55, 56; Friedrich E. Schnapp, Der Apothekenrabatt – eine Sonderabgabe sui generis?, VSSR 2003, S. 343 (347 f.) – jeweils m. w. N. 1459 Jochen Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 70 Rn. 56; Friedrich E. Schnapp, Der Apothekenrabatt – eine Sonderabgabe sui generis?, VSSR 2003, S. 343 (348); vgl. ferner BVerfGE 97, S. 228

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

schon in diesen Fällen, in denen eine Regelung an sich unter mehrere Kompetenzmaterien fällt, die kompetenzrechtliche Zuordnung nur eindeutig und zu einer bestimmten dieser in Betracht kommenden Materien erfolgen muß, dann muß eine „hybride“ Kompetenz im oben genannten Sinne, die man nur aus einer Verbindung oder Vermischung aus (Teilelementen von) mehreren Kompetenzmaterien herleiten könnte, auch aus diesem Grund ausscheiden, weil hier weder eine eindeutige Zuordnung noch eine Zuordnung zu einem bestimmten Kompetenztitel möglich ist. e) „Überführung in Gemeinwirtschaft“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG Für Regelungen der genannten Art, mittels welcher der Boden des Privatwirtschaftlichen und damit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG verlassen wird infolge zu starker, „privatwirtschaftseliminierender“ sozialer Bindungen des privaten Versicherungswesen, kommt bei konsequenter Betrachtung noch eine weitere Gesetzgebungskompetenz in Betracht, die in der bisherigen Geschichte des Grundgesetzes allerdings ein Schattendasein geführt hat: Die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG.1460 Hiernach hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für „die Überführung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Die Norm stellt damit das kompetenzrechtliche Gegenstück zur materiellen Regelung des Art. 15 GG dar, welche bestimmt, daß Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, welches – entsprechend Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG – Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können. Aus der Struktur des Art. 15 GG ergibt sich dabei, daß der Begriff „Ge(251 f.). – Dies schließt übrigens nicht aus, daß unterschiedliche Einzelregelungen im Rahmen eines Gesetzes auf unterschiedliche Kompetenzmaterien gestützt werden können, aber auch dann muß die jeweilige Einzelregelung eindeutig (und vollständig) einem bestimmten Kompetenztitel zugeordnet werden, siehe Friedrich E. Schnapp, a. a. O. 1460 An sich erstaunlicherweise – und zu Unrecht, wie sich zeigen wird – wird diese Kompetenz nicht einmal im Ansatz in Betracht gezogen, wenn es um die Übertragung sozialversicherungsgleicher Strukturen auf die Privatversicherung geht: so attestiert Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (406 f., 410 f.) der privaten Pflege(pflicht)versicherung zwar einen im oben (2. Teil, Abschnitt 3, VI.) beschriebenen Sinne privatwirtschaftseliminierenden Charakter und verneint für sie folgerichtig die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, sieht in ihr gleichzeitig eine „Art von Sozialisierung“ der Privatversicherung (a. a. O. S. 406), und geht doch mit keiner Silbe auf die bei Verneinung einer privatwirtschaftlichen Versicherungsform zumindest nicht völlig außer Betracht liegende „Sozialisierungsnorm“ des Art. 15 GG und die diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG ein.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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meineigentum“ nur ein Unterfall des insoweit maßgeblichen Oberbegriffes „Gemeinwirtschaft“ ist; daher ist „Gemeinwirtschaft“ der „verfassungsrechtliche Schlüsselbegriff des Art. 15 GG“1461 (resp. des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG). Unter Gemeinwirtschaft versteht man – wie bereits oben dargelegt1462 – eine wirtschaftliche Bedarfsdeckung, die (anders als „Privat-/Erwerbswirtschaft“) nicht, oder jedenfalls nicht primär, erwerbswirtschaftlich motiviert ist, also nicht auf privater Gewinnerzielungsabsicht basiert, sondern deren Ziel allein oder zumindest ganz vorrangig die optimale (d. h. nicht zuletzt bedürfnisgerechte1463) Bedarfsdeckung der Allgemeinheit oder die Verfolgung sonstiger Gemeinwohlziele ist1464 und bei der das an der (wirtschaftlichen) Rationalität ausgerichtete Element insoweit allenfalls sekundären Charakter hat1465. Die in Art. 15 GG geregelte Überführung in Gemeinwirtschaft kann durch Überführung in „Gemeineigentum“ verwirklicht werden, also durch Überführung des Privateigentums auf eine überindividuelle Gesamtheit (Staat oder Kollektivkörperschaften),1466 oder durch Überführung in „andere Formen der Gemeinwirtschaft“, die im folgenden noch näher zu untersuchen sein werden. Soweit also durch entsprechende gesetzliche Reglementierungen sozialversicherungsähnliche Strukturen auf die Privatversicherung übertragen werden, welche – wie in den oben beschriebenen Fällen – die Grenzen des Privatwirtschaftlichen verlassen und vielmehr gemeinwirtschaftliche Strukturen in der Privatversicherung etablieren, muß folgerichtig die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG hierfür in Betracht in gezogen werden.

1461 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 15; vgl. auch Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/ Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 6. 1462 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). 1463 Vgl. Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (289). 1464 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 73 ff.; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 11 m. w. N.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 7 ff.; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/ Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 240; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 24 ff.; siehe auch die schlagwortartig verkürzte Formulierung zur Charakterisierung der gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung bei Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (289): „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. 1465 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2309. 1466 Siehe etwa Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 188.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

aa) Entstehungsgeschichte und überkommenes Verständnis von Art. 15 GG vor allem als „Sozialisierungsermächtigung“ Auf den ersten Blick allerdings mag die Heranziehbarkeit des bisher praktisch bedeutungslosen Art. 15 GG bzw. des mit ihm korrespondierenden Kompetenztitels in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG für Fälle der hier genannten Art gewissen Zweifeln ausgesetzt sein. Dies hängt vor allem mit der Entstehungsgeschichte und dem daraus resultierenden überkommenen Verständnis der Art. 15 und 74 Abs. 1 Nr. 15 GG zusammen: Art. 15 GG ist seiner Entstehungsgeschichte nach als Folge eines politischen Kompromisses in den Beratungen des Parlamentarischen Rates in das Grundgesetz aufgenommen worden, da für die damalige SPD die durch Art. 15 GG vermeintlich eröffnete Möglichkeit zu einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschaftsordnung hin zu einer „sozialistischen“ der tragende Grund für die Zustimmung zum Grundgesetz als Ganzem war1467.1468 Aus dieser damaligen Motivation zur Aufnahme des Art. 15 GG (resp. Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) folgt die auch heute noch verbreitete Assoziation dieser Regelung mit einer Ermächtigung zur „Sozialisierung“, verstanden als Überwindung des Kapitalismus durch Etablierung einer sozialistischen, nicht auf Privat- sondern auf Gesellschaftseigentum basierenden Wirtschaftsordnung1469, weswegen die Norm mitunter als „Verfassungsfossil“ angesehen wird, da sie spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und des „real existie1467 Siehe die Stellungnahme des Abgeordneten der SPD Walter Menzel, wiedergegeben in: Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, 1948/49, S. 205, und bei Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 159, Fn. 34, nach welcher sich die Sozialdemokraten mittels Art. 15 GG erhofften, „in der Vorstellungswelt der Deutschen eine zunehmende Einsicht über die Notwendigkeit, die deutschen Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen“, erzeugen und „den arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung“ befreien zu können. – Die hierzu nötigen Voraussetzungen sah man durch die in Art. 14 GG eingeräumte Möglichkeit zur Enteignung nicht als ausreichend gegeben an, siehe näher Werner Matz, a. a. O., S. 154 ff. 1468 Siehe Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 1; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 2; Joachim Wieland, in: Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 7 ff. 1469 Exemplarisch etwa die frühe Beschreibung des Art. 15 GG durch Willibalt Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, NJW 1949, S. 481 (482), der ihm „sozialrevolutionären Charakter“ beimißt und seinen Hauptzweck in der Möglichkeit zur „Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems“ sieht; siehe ferner etwa Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 141, der den Gehalt des Art. 15 GG vor allem fokussiert auf die Ermächtigung zur „Sozialisierung“, verstanden als „Vollzugsakt, durch den die in der modernen industriellen Gesellschaft entstandene sozialistische Bewegung die Wirtschaftsverfassung des bürgerlich-liberalen Kapitalismus durch ein System der Gemeinwirtschaft ersetzen will, das den besitzlosen Schichten kollektive Verfügungsmacht über das Wirtschaftseigentum verschafft.“

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renden Sozialismus“ nur noch Ausdruck einer in der Praxis gescheiterten und widerlegten politischen Ideologie und ökonomischen Theorie sei1470. Mitunter wird daher sowie aufgrund ihrer bisherigen Nichtanwendung sogar diskutiert, ob die Norm obsolet geworden sei.1471 Aus dem genannten Verständnis der Norm resultieren auch die heute regelmäßig in Gesetzestexten und Kommentierungen anzutreffenden inoffiziellen Überschriften für diese Norm, die ihren Inhalt mit den eher sozialistisch belegten Begriffen „Sozialisierung“ oder „Vergesellschaftung“1472 umschreiben, den zentralen und neutraleren Begriff der „Gemeinwirtschaft“ hingegen unterschlagen. Art. 15 GG hat sich aufgrund dieser Entwicklung – und nicht zuletzt wegen seiner vergleichsweise geringen wissenschaftlichen Aufarbeitung – ins kollektive Bewußtsein vornehmlich als eine Norm eingebrannt, die vor allem der Ermöglichung einer sozialistischen Umgestaltung der Eigentums- und Wirtschaftsordnung diene und insoweit sogar eine „Achillesferse des Grundgesetzes und der Demokratie“1473 sei. Daß vor diesem Hintergrund die Relevanz des Art. 15 GG resp. des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG für Fälle der vorliegend interessierenden Art – also für die Überbürdung sozialversicherungsähnlicher und zugleich gemeinwirtschaftlicher Strukturen auf die Privatversicherung – zumindest auf den ersten Blick bezweifelt werden könnte, mag insoweit zwar durchaus nachvollziehbar erscheinen, resultiert aber aus einer nicht hinreichenden Durchdringung des Art. 15 GG (und der zugehörigen Kompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG), wie im folgenden zu zeigen sein wird. bb) Aktuelles, modernes Verständnis des Art. 15 GG vor allem als „Sozialisierungsvermeidungsnorm“ Mag Art. 15 GG (und mit ihm Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) nach dem Scheitern des Experiments eines „real existierenden Sozialismus“ in der heutigen politischen Wirklichkeit sicherlich seines bei der Schaffung des Grundgesetzes 1470 Vgl. dazu Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 4 f. 1471 Siehe hierzu etwa Helmut K. J. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 124 (146 f., 149); ferner Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/ Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 19 ff. 1472 Zwar taucht, anders als der Begriff „Sozialisierung“, zumindest der Begriff „Vergesellschafttung“ zur Zweckbestimmung in Art. 15 GG auf, jedoch kommt diesem kein eigenständiger bzw. zusätzlicher Regelungsgehalt neben dem Begriff „Gemeinwirtschaft“ zu, da er letztlich nur das bereits in dem Begriff „Gemeinwirtschaft“ angelegte Ziel einer gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung deutlich fixiert, siehe Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311 m. w. N. 1473 Zitat bei Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 2.

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von einzelnen politischen Gruppen vornehmlich im Visier gehabten „Anwendungsfalls“ der Ermöglichung eines „vehementen Spannungsausgleichs quasirevolutionärer Art“1474 jedenfalls in der Praxis verlustig geworden sein1475, heißt dies jedoch weder, daß damit sein rechtlicher Gehalt überhaupt zutreffend erfaßt war, noch daß diese Rechtsnorm damit praktisch bedeutungslos wäre. Um sich dies zu vergegenwärtigen, muß man allerdings den Fokus von der vornehmlich auf seine Entstehungsgeschichte zurückgehenden Deutung des Art. 15 GG ausschließlich und vor allem als Ermächtigung zur „Überwindung des Kapitalismus“ und somit quasi klassenkämpferischen Fremdkörper im Gefüge des Grundgesetzes abwenden. Mit fortschreitender Zeitdauer seit Erlaß des Grundgesetzes und zunehmendem Verblassen des seinerzeit bei der Schaffung des Art. 15 GG durch die damalige Sozialdemokratie an die Wand projizierten Schreckgespenstes einer sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaftsordnung1476 setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß es angesichts der freiheitlichen Konzeption des Grundgesetzes unrichtig ist, den Art. 15 GG und den in ihm enthaltenen, sprachlich mit „Sozialisierung“ gleichsetzbaren1477 Begriff „Vergesellschaftung“ aus der Theorie des Sozialismus heraus auszulegen und seine Anwendung an die Geistesgeschichte des Sozialismus anzulehnen1478. Da Art. 15 GG demgemäß weit weniger als andere Grundrechtsnormen „an einen festen, geschichtlich gewachsenen und wissenschaftlich analysierbaren Bestand von Assoziationen“ anknüpft,1479 ist er – vor allem im Hinblick auf seine Variante „Überführung in andere Formen der Gemeinwirtschaft“, die noch weit weniger als die Variante „Überführung in Gemeineigentum“ als Anleitung zur Etablierung einer sozialistischen Eigentums- und Wirtschaftsordnung verstanden

1474 Helmut K. J. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 124 (146). 1475 Siehe zur rechtlichen Unzulässigkeit einer Aushöhlung der freiheitlichen Privatrechtsordnung durch eine umfassende Sozialisierung den Diskussionsbeitrag von Werner Flume, in: VVDStRL 10 (1952), S. 156 f. (zum ab S. 74 ff. behandelten Zweiten Beratungsgegenstand „Enteignung und Sozialisierung“); ferner auch Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (281 ff.). 1476 Vgl. hierzu nochmals die in Fn. 1467 wiedergegebene Stellungnahme des SPDAbgeordneten Walter Menzel. 1477 Siehe Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2309. 1478 Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 6; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (269); a. A. vor allem noch im älteren Schrifttum, etwa Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 141: „Sozialisierung ist die auf Umgestaltung der Eigentumsverfassung gerichtete Verwirklichungsform des Sozialismus“. 1479 Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 6.

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werden kann – „seinem Wesen nach nichts anderes als eine Anweisung auf etwas, was erst noch zu finden ist“1480. Tauscht man sodann die ideologische Brille gegen die juristische und schiebt damit zugleich die Furcht beiseite, Art. 15 GG diene allein dazu, die Diktatur des Proletariats zu ermöglichen, dann fällt auf, daß Art. 15 GG viel weniger nur eine „Ermächtigung“ enthält als vielmehr (auch) eine starke Einengung der Voraussetzungen, unter denen eine „Sozialisierung“ nur möglich ist: Zwar „ermächtigt“ Art. 15 GG – zumindest auf den ersten Blick – zur Überführung der dort genannten Produktionsgüter in „Gemeineigentum“ oder „in andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Gleichzeitig aber stellt er enge Voraussetzungen bzw. hohe Hürden hierfür auf, indem er etwa den Kreis der in Gemeinwirtschaft überführbaren Güter auf die in ihm aufgezählten verengt, diese Überführung von einer Entschädigung entsprechend der Enteignungsentschädigung abhängig macht, und die „Sozialisierung“ nur durch, nicht aber aufgrund Gesetzes gestattet.1481 Wegen der in ihm enthaltenen Variante „Überführung in sonstige Formen der Gemeinwirtschaft“ ist Art. 15 GG dabei nicht auf den Fall der Eigentumsentziehung durch „Überführung in Gemeineigentum“ beschränkt.1482 Vielmehr unterfallen ihm neben Eigentumsentziehungen durch „Überführung in Gemeineigentum“ auch gesetzliche Regelungen, die das zum Wirtschaften genutzte Eigentum in Privathand belassen, es aber auf gemeinwirtschaftliche Vorstellungen und Arbeitsweisen hin verpflichten, also die beherrschenden Nutzungsbefugnisse dergestalt „sozialisieren“ (etwa durch Etablierung öffentlicher Einflußnahmeoder Direktionsbefugnisse), daß eine auf Gewinnmaximierung ausgerichtete, marktorientierte Eigentumsnutzung (gesetzlich) ausgeschlossen wird.1483 Damit 1480 Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 7; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (269); siehe ferner Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 19. 1481 Siehe zu diesen „Grenzen“ der „Sozialisierung“ etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 30 ff., 39 ff., 44 f., 46. 1482 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 6; gerade ältere Stellungnahmen verkennen dies und fokussieren sich auf die eigentumsentziehende Dimension der „Sozialisierung“ (siehe etwa Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 143: „verfassungsgestaltender Akt der Eigentumsentziehung“). 1483 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 77; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 20 ff.; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2310; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (296 ff.); Theodor Maunz, in:

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stellen sich gesetzliche Maßnahmen der „Überführung in Gemeinwirtschaft“ vornehmlich als Beeinträchtigungen der in Art. 12 GG geregelten Berufsfreiheit und insbesondere der in Art. 14 GG normierten Eigentumsfreiheit1484 dar1485. Demgemäß ist Art. 15 GG nicht als isolierte Norm oder gar als isolierte „Ermächtigung“ zu lesen, sondern im Zusammenhang mit den anderen Grundrechtsnormen, insbesondere den eben genannten Art. 12 und 14 GG1486. Grundrechtsdogmatisch enthält Art. 15 GG mithin zwar einen zusätzlichen Eingriffsvorbehalt vornehmlich für die Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG1487, indem er „Sozialisierungsmaßnahmen“ der in ihm genannten Art grundsätzlich als mögliche Eingriffsformen in diese Grundrechte zuläßt. Jedoch gilt es auch zu bedenken, daß sich die in Art. 15 GG benannten Maßnahmen der „Überführung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ als Beeinträchtigungen der Freiheitsgehalte insbesondere der Berufs- und/oder der Eigentumsfreiheit grundsätzlich auch auf die in diesen Grundrechten enthaltenen Regelungs- und Eingriffsvorbehalte (Art. 12 Abs. 1 S. 2; Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 GG) stützen ließen1488. Eine „Sozialisierung“ der Nutzungsbefugnisse des zum Wirtschaften verwendeten Privateigentums etwa stellt sich regelmäßig zumindest als Berufsausübungsregelung im Sinne der im sog. „Apothekenurteil“ vom Bundesverfassungsgericht1489 entwickelten Stufenkategorien (sog. DreiStufen-Theorie) dar und kann ebenso zumindest eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG enthalten. Die Überführung sogar in „Gemeineigentum“ wiederum würde wegen der damit verbundenen Unmöglichkeit, den betreffenden Beruf „frei“ auszuüben, eine objektive Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 189. – Näher hierzu sogleich unter 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (1). 1484 Bezüglich Art. 14 GG können sich diese Maßnahmen sowohl als Inhalts- und Schrankenbestimmungen erweisen (zumeist im Falle der das Eigentum belassenden und nur die Verfügungsmacht hierüber einschränkenden Überführungen in „sonstige Formen der Gemeinwirtschaft“) oder (vor allem im Falle der Überführung in Gemeineigentum) als Eigentumsentziehungen. 1485 Vgl. auch Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (250 f.). 1486 Vgl. Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2305; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 6. 1487 Möglich erscheint es ferner auch, daß beispielsweise Art. 9 GG durch Art. 15 GG derogiert wird, siehe näher Ernst Rudolf Huber, Besprechung von „Rechtslage der Wirtschaft unter dem Bonner Grundgesetz“ von Hans-Ulrich Scupin, AöR 78 (1952/ 53), S. 499/506 (507). 1488 Vgl. etwa Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 2: „. . . Sozialisierung bestimmter Güter [. . .] wäre notfalls, wie in den Beratungen zu Art. 15 mehrfach zum Ausdruck gebracht worden ist, auch über die Enteignungsregelung des Art. 14 zu erreichen gewesen . . .“. 1489 BVerfGE 7, S. 377 (404 ff.).

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Berufssperre und damit eine objektive Berufswahlregelung im Sinne der „DreiStufen-Theorie“ mit sich bringen.1490 Und zugleich läge hierin eine die Freiheitsgewährleistung des Art. 14 GG berührende Eigentumsentziehung, welche sich grundsätzlich auch als Enteignung im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG erfassen ließe1491, da sie sich letztlich als staatliche Güterbeschaffung durch Eigentumsentziehung zur Ermöglichung des öffentlichen Zwecks „gemeinwirtschaftliche Bedarfsdeckung“ darstellte1492. Art. 15 GG stellt diesen Eingriffsvorbehal1490 Siehe Walter Leisner, Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, in: Isensee (Hrsg.), Walter Leisner – Eigentum, 1996, S. 233 (246 f.). 1491 Siehe etwa Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2305; Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (112); Franz W. Jerusalem, Das Bonner Grundgesetz und die hessische Sozialisierung, insbesondere der Eisenbahnbetriebe, NJW 1950, S. 210; Walter Leisner, Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 66 ff.; Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 24. Aufl., 2008, Rn. 954 („strukturelle Enteignung“); Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 7; siehe außerdem die nachfolgende Fn. 1492. – Allerdings wird häufig in der Sozialisierung (in Gestalt der Überführung in Gemeineigentum) kein Sonder- oder Unterfall der Enteignung gesehen, sondern ein eigenständiges Rechtsinstitut, so etwa von Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 42; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 14; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 160; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 15; Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 11 f.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 5. Die hierfür vorgebrachten – und mitunter recht stereotyp aufgegriffenen und wiederholten – Argumente vermögen aber nicht zu überzeugen: So ist nicht ersichtlich, warum der neben der Eigentumsentziehung gleichfalls erfolgende „Eingriff in die Wirtschaftsverfassung“ (siehe etwa Huber, Maunz, jeweils a. a. O.) eine Enteignung ausschließen soll (so auch Dietlein, a. a. O.). Ebensowenig erschließt sich, warum vor allem die „Sozialisierung“ durch Überführung in Gemeineigentum nicht durch den Eingriff in das Eigentum, sondern durch die Art der wirtschaftlichen Verwendung gekennzeichnet sein soll (so aber Kimminich, Klein, jeweils a. a. O.). Soweit darauf hingewiesen wird, daß die „Sozialisierung“ nicht notwendig mit einem Trägerwechsel, also einem Eigentumsentzug, einhergehen muß (Depenheuer, a. a. O.), wird schlicht nicht hinreichend zwischen Überführung in Gemeineigentum und den sonstigen Formen der Gemeinwirtschaft differenziert. Und daß die „Sozialisierung“ von der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG „entkoppelt“ wurde (so Berkemann, a. a. O.), spricht ebenfalls nicht dagegen, in der „Überführung in Gemeineigentum“ einen speziell geregelten Fall einer Enteignung zu sehen. 1492 Somit entspricht sie den Voraussetzungen des Enteignungsbegriffes: Die Enteignung im verfassungsrechtlichen Sinn ist auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet, siehe BVerfGE 70, S. 191 (199 f.); 102, S. 1 (15 f.); 104, S. 1 (9 f.), und dabei beschränkt auf solche Fälle, in denen Güter hoheitlich beschafft werden, mit denen ein konkretes, der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienendes Vorhaben durchgeführt werden soll, siehe BVerfGE 104, S. 1 (10); Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 42 Rn. 19. – Art. 15 GG regelt somit im Hinblick auf die Variante „Überführung in Gemeineigentum“ einen speziellen Sonderfall einer Enteignung unter

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ten der Art. 12 und 14 GG gegenüber allerdings einen „spezielleren“ Eingriffsvorbehalt dar, da er einerseits ausdrücklich klarstellt1493, daß „Sozialisierungen“ der in ihm genannten Art grundsätzlich eine mögliche Eingriffsoption darstellen, andererseits aber besondere materielle Grenzen in Gestalt der schon beschriebenen „Sozialisierungsvoraussetzungen“ aufstellt, die als solche in Art. 12 und 14 GG nicht enthalten sind. Der Charakter von Art. 15 GG als – wie er häufig tituliert wird – „Ermächtigungsnorm“ relativiert sich also, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die in ihm benannten „Sozialisierungsmaßnahmen“ grundsätzlich auch – wie eben ausgeführt – auf die grundrechtlichen Eingriffsvorbehalte der Art. 12 Abs. 1 S. 2, 14 Abs. 1 S. 2, 14 Abs. 3 GG gestützt werden könnten und keinesfalls dargetan ist, daß sie ohne die Existenz von Art. 15 GG von vornherein die Freiheitsgehalte der Art. 12 und 14 GG verletzen würden. Da die durch „Sozialisierungsmaßnahmen“ im Sinne des Art. 15 GG ausgelösten Berufsausübungs- oder -wahlregelungen, Inhaltsbestimmungen des Eigentums oder Enteignungen grundsätzlich mögliche Eingriffsoptionen darstellen, würden sie letztlich wie jede andere beeinträchtigende gesetzgeberische Maßnahme auf die Eingriffsvorbehalte dieser Normen gestützt werden können, und im Rahmen insbesondere einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erwiese sich, ob sie durch die ihnen zugrunde liegenden Gemeinwohlzwecke (die im Falle einer als notwendig erachteten „Sozialisierung“ wohl als ziemlich gewichtig einzustufen wären) gerechtfertigt sind1494. Daß hierbei Art. 15 GG nun – obwohl selbstverständlich auch die in ihm bezeichneten Maßnahmen wie jede andere Grundrechtsbeeinträchtigung nur nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit zulässig sind1495 – eine die Rechtfertigung gleichzeitiger Etablierung besonderer materieller, in Art. 14 Abs. 3 GG nicht enthaltener Grenzen hierfür. 1493 Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 18. 1494 Etwas „optimistischer“ insoweit hingegen Walter Leisner, Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 70 f., wenn er meint, daß die mittels einer „Sozialisierung“ ausgelösten „Berufssperren“, würden sie allein – also „ohne“ Art. 15 GG – an Art. 12 GG gemessen werden, „in aller Regel verfassungswidrig“ wären; bereits etwas vorsichtiger formulierend ders., Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, in: Isensee (Hrsg.), Walter Leisner – Eigentum, 1996, S. 233 (71): Rechtfertigung „nur schwer oder überhaupt nicht nachweisbar“. 1495 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 14; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2317; vgl. auch Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 42 Rn. 39; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 14; rechtsstaatlich und im Hinblick auf die freiheitliche Bedeutung der Grundrechte bedenklich hingegen Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 250, für den Art. 15 GG keinerlei Rechtfertigungspflicht und damit auch nicht der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliege; ähnlich Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 91, wonach im Rahmen von

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„erleichternde“, weil die prinzipielle grundgesetzliche Billigung von „Sozialisierungen“ klarstellende Funktion aufweist, liegt auf der Hand. Damit ist aber umgekehrt nicht auch gesagt, daß ohne die Existenz des Art. 15 GG die Rechtfertigung von „Sozialisierungseingriffen“ in Art. 12 oder 14 GG schlechthin mißlingen würde, zumal Art. 15 GG wegen seiner „gemeinnützigen Zielsetzung“ häufig als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips angesehen wird1496, so daß man im Falle seiner Nichtexistenz auch aus dem Sozialstaatsprinzip herleiten könnte, daß „Sozialisierungen“ jedenfalls nicht von vornherein verfassungsrechtlich unstatthaft sind. Wieder anders ausgedrückt, erscheint es also verfehlt, sich der Illusion hinzugeben, daß das Grundgesetz ohne Art. 15 GG von vornherein sozialisierungsresistent wäre. Eine wirklich „eigenständige“ Ermächtigungsfunktion käme Art. 15 GG daher letztlich nur insoweit zu, als er besondere Eingriffsformen legitimiert, die so in Art. 12 oder 14 GG überhaupt nicht vorgesehen sind. Dies allerdings wäre überhaupt nur im Hinblick auf die „Überführung in Gemeineigentum“ denkbar, sofern man darin, anders als hier vertreten, keinen Sonderfall einer Enteignung sieht, sondern eine eigenständige Art von Eigentumsentziehung, die als solche nicht in Art. 14 GG vorgesehen ist1497. Im übrigen hat die mit Art. 15 GG ausgesprochene „Ermächtigung“ jedenfalls im Endeffekt vor allem die oben beschriebene „klarstellende“ Funktion, durch die verdeutlicht wird, daß „Sozialisierungen“ eine jedenfalls prinzipiell nicht unstatthafte Eingriffsoption („Schranke“) für die Grundrechte der Art. 12 und 14 GG darstellen.1498 Relativiert sich aber mit der Erkenntnis, daß auch ohne Art. 15 GG das Grundgesetz nicht von vornherein sozialisierungsresistent ist, der (gleichwohl auch nicht zu unterschätzende) „Ermächtigungsgehalt“ des Art. 15 GG1499, so Art. 15 GG der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „nur in einem sehr eingeschränkten Maße“ gelte. 1496 Siehe etwa Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (110); Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 21; vgl. auch Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/ 1, 1958, S. 267 (282 f.). 1497 Siehe zu diesem Streit bereits oben Fn. 1491. 1498 Vgl. Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 18. – Den Geltungsbereich des Art. 15 GG insgesamt aber zu weit zurückdrängend und wohl auch grundrechtssystematisch kaum haltbar ist die Ansicht, wonach Art. 15 GG nicht auch Art. 12 GG „zu derogieren vermag“ (so aber Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 21); nicht zuletzt wohl deshalb ist die „Sozialisierung“ außerhalb des Art. 14 GG geregelt worden, weil sie sich eben nicht nur gegen Art. 14 GG, sondern gegebenenfalls auch gegen andere Grundrechte wie vor allem den regelmäßig mitbetroffenen Art. 12 GG „durchsetzen“ können soll. 1499 Vgl. auch Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2319: „Ermächtigungsgehalt deutlich eingeschränkt“; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 23.

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rückt umso mehr dessen ebenfalls in ihm enthaltene „Schutzkomponente“ in den Vordergrund, welche darin besteht, daß er „Sozialisierungen“ nur innerhalb der in ihm enthaltenen engen Grenzen erlaubt, nämlich – siehe bereits oben – nur hinsichtlich der in ihm explizit aufgezählten Güter (die zudem noch „sozialisierungsgeeignet“ und „sozialisierungsreif“ sein müssen1500), nur durch ein förmliches Gesetz (und nicht aufgrund eines solchen) und nur gegen Entschädigung.1501 Damit zieht er für staatliche Maßnahmen, die sich als „Überführung in Gemeinwirtschaft“ in seinem Sinne darstellen, besondere materielle Hürden in der Gestalt der genannten „Sozialisierungsvoraussetzungen“, welche etwa in Art. 12 und 14 GG gerade nicht enthalten sind und sich im Hinblick auf deren Eingriffsvorbehalte sogar als zusätzliche materielle Schranken bzw. „SchrankenSchranken“ für Eingriffe darstellen. Im Schrifttum hat sich daher auch zu Recht ganz überwiegend die Sichtweise etabliert, daß Art. 15 GG vornehmlich eine abwehrrechtliche bzw. eine Schutzfunktion zukommt, indem er Sozialisierungsmaßnahmen der in ihm genannten Art von den beschriebenen Sozialisierungsvoraussetzungen abhängig macht, für „Überführungen in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft“ also hohe materielle Hürden aufstellt.1502 Denn „insoweit der Gesetzgeber eine Sozialisierung als solche ausdrücklich und nur in den in Art. 15 angegebenen

1500 Siehe zu diesen Merkmalen noch im weiteren Verlauf, Zweiter Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (c). 1501 Vgl. insoweit etwa Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 2: „Die rechtliche Bedeutung des Art. 15 ist nicht so sehr darin zu erblicken, daß eine Sozialisierung bestimmter Güter überhaupt für zulässig erklärt wird – das wäre notfalls [. . .] auch über die Enteignungsregelung des Art. 14 zu erreichen gewesen –, sondern sie liegt in der Klarstellung, daß die Sozialisierung ebenso wie die Enteignung einer Entschädigungspflicht unterworfen ist [. . .]. Daher kann dem Urteil, Art. 15 sei die ,Achillesferse des Grundgesetztes und der Demokratie‘, nicht zugestimmt werden. Möglicherweise ist gerade die Entschädigungsregelung des Art. 15 Ursache dafür gewesen, daß von tiefgreifenden Wirtschaftsumgestaltungen bisher abgesehen worden ist und wohl auch in der Zukunft abgesehen werden wird.“ 1502 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 35; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 7 ff., 19; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/ 1, 2006, S. 2304, 2305, 2319 f.; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 152; Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (108); Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 23, 24; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (322); Walter Leisner, Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, in: Isensee (Hrsg.), Walter Leisner – Eigentum, 1996, S. 233 (234 ff.); ders., Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 69; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 2, 3, 7; Hans H. Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, 1974, S. 40; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 20 ff.

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Formen und Grenzen zum Gegenstand einer gesetzlichen Regelung machen darf, schützt die Vorschrift im Gegenteil die privatwirtschaftliche Wirtschaftstätigkeit“1503. Art. 15 GG setzt dabei das Fortbestehen von (Individual-)Eigentum als Regelfall gerade voraus.1504 Insoweit wird in Art. 15 GG – jedenfalls der Sache nach – häufig auch ein „Freiheitsrecht auf Nichtsozialisierung“ außerhalb seiner engen Grenzen gesehen1505. „Im Lichte der Freiheitsgewährleistungen des Grundgesetzes erschöpft sich seine Funktion – auch vor dem Scheitern der sozialistischen Staatsformen in Osteuropa – zukünftig wohl in derjenigen einer abwehrrechtlich geprägten ,Sozialisierungsvermeidungsnorm‘“1506. Daß hiermit Art. 15 GG „eine den Intentionen des parlamentarischen Rates entgegengesetzte Bedeutung gewonnen“ habe1507, ist einerseits nicht ganz richtig, und andererseits wäre es von untergeordneter Bedeutung: Richtig ist es nur insoweit, als er eine den Intentionen der damaligen SPD entgegengesetzte Bedeutung gewonnen hat1508, die aber nicht den gesamten Parlamentarischen Rat repräsentierte. Dagegen hatten Christdemokraten und Liberale mittels der Norm vor allem auch einen Schutz des Privateigentums bezweckt und wollten sie daher in Anforderungen und Voraussetzungen möglichst stark der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG angleichen1509. Und zum anderen hat eine reine politische Intention (in diesem Falle die der damaligen SPD) nur sehr begrenzten Einfluß auf die grundrechtsdogmatische Interpretation und Einordnung einer Verfassungsnorm. Nur weil einzelne politische Strömungen vor mittlerweile knapp sechs Jahrzehnten mit der Norm vor allem und gerade eine „Sozialisie-

1503 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 8; vgl. auch Walter Leisner, Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, in: Isensee (Hrsg.), Walter Leisner – Eigentum, 1996, S. 233 (234 ff.). 1504 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 8; siehe auch Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/ Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 24. 1505 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 8; Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (108); Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/ Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (322); Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 3. 1506 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2319 f. 1507 Dies kritisch feststellend Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/ Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 250. 1508 Siehe zu deren Intentionen oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) aa), insb. auch Fn. 1467. 1509 Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 10.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

rungsermächtigung“ verbanden, heißt dies noch lange nicht, daß Art. 15 GG ein solcher Gehalt auch strikt beizumessen ist, wenn sich allein schon aufgrund seiner Struktur und der systematischen Zusammenschau insbesondere mit Art. 12 und 14 GG sowie nicht zuletzt auch aufgrund der zeitlichen und politischen Überholung tradierter sozialistischer Vorstellungen eine andere Deutung aufdrängt, zumal auch und gerade Normen der Verfassung dynamisch und zeitgemäß zu interpretieren sind1510. Somit läßt sich festhalten, daß Art. 15 GG heutzutage zu recht und ganz überwiegend vor allem eine abwehrrechtlich geprägte Schutzfunktion zugemessen wird, die seine „Ermächtigungsfunktion“ eher in den Schatten stellt, auch wenn diese natürlich im oben dargelegten Rahmen nach wie vor bedeutsam ist. Fraglich ist dabei allerdings, wie weit seine vor allem durch die in ihm enthaltenen besonderen Sozialisierungshürden vermittelte „Schutzfunktion“ tatsächlich reicht. Um dies zu beantworten, sollen im folgenden die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Art. 15 GG näher untersucht werden. Hierbei wird sich auch erweisen, ob die hier in Frage stehenden Übertragungen sozialversicherungsähnlicher Strukturen auf die Privatversicherung gegebenenfalls durch Art. 15 GG erfaßt werden, so daß hierfür einerseits die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG offenstünde, sie sich aber andererseits in materieller Hinsicht an den speziellen Sozialisierungsvoraussetzungen des Art. 15 GG messen lassen müßten. cc) Die Tatbestandsmerkmale des Art. 15 GG resp. des korrespondierenden Kompetenztitels in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG Art. 15 GG bestimmt seinem Wortlaut nach: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“ Die hierzu korrespondierende Gesetzgebungskompetenz verleiht Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG. Nach ihm erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf „die Überführung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Über die für die Verleihung der Gesetzgebungskompetenz erforder1510 Vgl. Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954), S. 37 (54); Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978), S. 566 ff. (insb. 602); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 100; ferner etwa auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) cc).

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lichen Merkmale hinaus gehend enthält also Art. 15 GG noch die zusätzlichen materiellen Voraussetzungen, daß die in ihm behandelten Maßnahmen nur „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ und nur unter Gewährung einer „Entschädigung“ vorgenommen werden dürfen. (1) Überführung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft (a) Allgemeines zum Begriffsinhalt von „Gemeinwirtschaft“ Der zentrale Begriff in Art. 15 resp. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG ist der der „Gemeinwirtschaft“; dieser untergliedert sich in einerseits „Gemeineigentum“ und andererseits die nicht näher konkretisierten „anderen Formen“ der Gemeinwirtschaft; „Gemeinwirtschaft“ ist aber der Oberbegriff.1511 Wie auch schon weiter oben dargelegt1512, bildet der Begriff „Gemeinwirtschaft“ den Gegenbegriff zur „Privatwirtschaft“ (oder auch: „Erwerbswirtschaft“)1513. Während Privatwirtschaft durch eine grundsätzlich erwerbswirtschaftliche, auf Gewinnerzielung durch privatnützigen Einsatz des zum Wirtschaften benutzten Privateigentums angelegte Ausrichtung gekennzeichnet ist, zielt Gemeinwirtschaft unter Verzicht auf die Absicht der Gewinnmaximierung auf eine unmittelbare und optimale Bedürfnisbefriedigung der Allgemeinheit1514. Für die Privatwirtschaft ist die (Fremd-)Bedarfsdeckung insoweit nur Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung, also nur sekundäres Ziel, primär ist sie privatnützig motiviert. Für die Gemeinwirtschaft hingegen ist das unmittelbare Ziel die Bedarfsdeckung der Allgemeinheit, so daß sie ihrer ganzen Ausrichtung nach gemeinnützig motiviert ist. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Wirtschaftsmethoden: Privatwirtschaft greift zur Ermöglichung der Gewinnerzielung vornehmlich auf wirtschaftlich rationelle (oder zumindest auf für rationell erachtete) Methoden zurück, ohne dabei – jedenfalls im Grundsatz – die optimale Bedürfnisbefriedigung aller (insbesondere auch der wirt1511 Siehe etwa Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 24 ff.; vgl. auch Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (287 f.). 1512 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). 1513 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 76. 1514 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 76; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 16; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 7, 9; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (288 ff.).

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

schaftlich Schwachen) im Auge zu haben. Gemeinwirtschaft hingegen wählt Methoden, die die Deckung aller für maßgeblich erachteten Bedürfnisse sichert, gegebenenfalls auch um den Preis, daß dies wirtschaftlich nicht rationell ist, und ist insoweit primär gemeinwohlorientiert1515.1516 „Überführung“ (in Gemeinwirtschaft) bedeutet dabei, daß gemeinwirtschaftliche Strukturen unter staatlichem Zugriff zwangsweise1517 auf (vormals) privatwirtschaftlichen etabliert werden; nicht erfaßt ist hiermit also die „originäre“, ohne Zugriff auf die Privatwirtschaft erfolgende Schaffung gemeinwirtschaftlicher Bedarfsdeckungseinheiten durch den Staat. Nicht zuletzt weil Art. 15 resp. Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG – wie oben bereits dargelegt – angesichts der freiheitlichen Konzeption des Grundgesetzes nicht aus der Theorie des Sozialismus heraus auszulegen und seine Anwendung nicht an die Geistesgeschichte des Sozialismus anzulehnen ist1518, ist mit „Gemeinwirtschaft“ nicht ein gesamtes Wirtschaftssystem gemeint1519, sondern bereits die Schaffung einzelner gemeinwirtschaftlicher Strukturen (etwa im Hinblick auf ein oder mehrere Unternehmen oder einen einzelnen Wirtschaftszweig) fällt hierunter; insoweit können gemeinwirtschaftliche Strukturen auch im Rahmen eines im übrigen privatwirtschaftlichen Wirtschaftssystems vorkommen.1520

1515 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 76; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 11; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 2; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 20. 1516 Siehe hierzu auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (aa); 2. Teil, Abschnitt 2, III. 3. b) gg). 1517 Siehe etwa Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311; die freiwillige Übernahme gemeinwirtschaftlicher Zielsetzungen und Strukturen erfolgt außerhalb des Art. 15 GG, siehe Dietlein, a. a. O.; Herbert Scholtissek, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, BB 1952, S. 981 (983). 1518 Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 6; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (269) – siehe auch oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). 1519 So aber teilweise noch nachzulesen in Teilen des älteren Schrifttums, etwa bei Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 168. 1520 Ganz h. M., siehe etwa Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 7; Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 20 f.; Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 16 f.; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 24.

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(b) Gemeineigentum „Gemeinwirtschaft“ ist nicht gleichzusetzen mit „Verstaatlichung“.1521 Die Überführung in staatliches (oder gesellschaftliches) Eigentum ist nur für den Unterbegriff „Gemeineigentum“ maßgeblich: Gemeineigentum bedeutet Innehabung des Eigentums durch eine überindividuelle, sich im Staat, in den Kommunen oder in Selbstverwaltungskörperschaften konstituierende Gesamtheit unter Nutzung im Interesse der Gesamtheit oder der Allgemeinheit.1522 Ein erwerbswirtschaftliches Staatsunternehmen steht mangels gemeinwirtschaftlicher Ausrichtung nicht in Gemeineigentum1523, so daß die Überführung in ein erwerbswirtschaftliches Unternehmen des öffentlichen Hand von vornherein nicht von Art. 15 GG erfaßt ist.1524 Die Überbürdung sozialversicherungsähnlicher Strukturen auf eine Privatversicherung kann jedenfalls nicht als „Überführung in Gemeineigentum“ erfaßt werden, weil die Eigentumsverhältnisse an den betroffenen Versicherungsunternehmen unangetastet bleiben. In Betracht kommt nur, daß es sich hierbei um die Überführung in eine „andere Form der Gemeinwirtschaft“ im Sinne des Art. 15 GG handelt. (c) Andere Formen der Gemeinwirtschaft Gegenüber der „Überführung in Gemeineigentum“ umfassen die „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ gerade Fälle der Überbürdung gemeinwirtschaftlicher Strukturen unter – zumindest formalem – Verbleib des Eigentums in privater Hand.1525 Was aber genau zu diesen „anderen Formen“ gehört, ist bisher nicht endgültig geklärt und hängt – wie im folgenden sogleich zu erörtern sein 1521 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 12; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (287). 1522 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 10; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 74 Rn. 188; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 26. 1523 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 11; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 26. 1524 Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 12; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 5. 1525 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 76; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2310; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/ 1, 1958, S. 267 (296); Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 6.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

wird – nicht zuletzt davon ab, ob in Art. 15 GG der Begriff „Gemeinwirtschaft“ in einem engen oder in einem weiten Sinne zu verstehen ist. (aa) „Gemeinwirtschaft“ im engen oder im weiten Sinne? Wie der Begriff „Gemeinwirtschaft“ speziell im Sinne des Art. 15 GG auszulegen ist, ist bisher noch nicht abschließend geklärt. Hiervon hängt allerdings in erheblicher Weise ab, was zu den „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ in dessen Sinne zu zählen ist. Nicht selten wird zwischen einem Gemeinwirtschaftsbegriff im „engen“ sowie im „weiten“ Sinne differenziert:1526 Im weiten Sinne seien hierunter sämtliche Wirtschaftstätigkeiten zu verstehen, die durch eine gemeinwirtschaftliche Zielsetzung im oben beschriebenen Sinne (optimale, gemeinwohlorientierte Bedarfsdeckung ohne Gewinnabsicht) gekennzeichnet sind. Im engen Sinne hingegen umfasse „Gemeinwirtschaft“ nicht nur die beschriebene Zielsetzung, sondern auch eine bestimmte, „die Interessen der Allgemeinheit in besonderem Maße berücksichtigende Organisationsform“ der betreffenden Wirtschaftseinheiten1527. Vielfach wird der Gemeinwirtschaftsbegriff in Art. 15 GG in diesem engen Sinne verstanden: Hiernach sei von einer „Überführung in Gemeinwirtschaft“ nur dann auszugehen, wenn neben der Wandlung in der Zweckbestimmung auch eine entsprechende, von der Privatwirtschaft insoweit abweichende organisatorische bzw. institutionelle Umgestaltung erreicht wird.1528 Teils wird diese Forderung wegen der ausdrücklichen Benennung der Gemeinwirtschaftsform „Gemeineigentum“ in Art. 15 GG dahingehend konkretisiert, daß auch hinsichtlich der „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ die organisatorische Umgestaltung „einem Eigentümerwechsel“ gleichkommen1529 oder zumindest ein beherr-

1526 Ausdrücklich so differenzierend Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 7. 1527 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 7. 1528 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 77 f.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 8 ff.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 20; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 241 f.; vgl. auch Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 171 ff. 1529 Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 241; dagegen etwa BrunOtto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 13.

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schender Einfluß gesellschaftlicher Gruppen bzw. der öffentlichen Hand organisatorisch sichergestellt werden müsse, z. B. durch eine (Zwangs-)Beteiligung der öffentlichen Hand, Unterstellung unter einen Staatskommissar, Etablierung einer genossenschaftlichen Organisationsform oder den Zwangszusammenschluß privatwirtschaftlicher Unternehmen zu einem Verband, dem aufgetragen wird, die Erzeugung oder die Einfuhr, den Absatz, die Absatzbedingungen, die Preise oder andere Faktoren der Wirtschaftstätigkeit auf der Grundlage der Selbstverwaltung gemeinwirtschaftlich zu ordnen1530.1531 Die Details bleiben aber auch innerhalb dieser Meinungsgruppe unklar: Während etwa vereinzelt vertreten wird, daß „traditionelle Unternehmensformen wie GmbH, AG, GmbH & Co. KG“ damit stets ausscheiden dürften1532, schließen andere Vertreter dieser Sichtweise bestimmte Organisationsformen gerade nicht aus1533. Allerdings wird aus diesem Erfordernis einer so verstandenen „organisatorischen Umgestaltung“ zumindest vielfach der Schluß gezogen, daß „bloße“ Maßnahmen gesetzlicher Wirtschaftslenkung oder -intervention, also beispielsweise bestimmte Vorgaben zur Gestaltung des Produktions- oder Kalkulationsprozesses, nicht ausreichend sein können, um eine „Form der Gemeinwirtschaft“ zu erzeugen –

1530 Vgl. im einzelnen Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 78; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 13; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 171 ff.; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 2; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 9; Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 21 f.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 20; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 242. 1531 Anzumerken sei an dieser Stelle der Vollständigkeit halber, daß auch bei Zugrundelegung eines solchermaßen „engen“ Gemeinwirtschaftsbegriffs die bloße Etablierung der betrieblichen Mitbestimmung nicht eine „Überführung in Gemeinwirtschaft“ bewirkt, wenn nicht gleichzeitig der Wirtschaftszweck hin zu einem gemeinwirtschaftlichen gewandelt wird, siehe Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 14 m. w. N. – Daher ist das Bundesverfassungsgericht im sog. „Mitbestimmungsurteil“ (BVerfGE 50, S. 290 ff.) richtigerweise auch nicht auf Art. 15 GG eingegangen, denn Mitbestimmung ohne Änderung des Wirtschaftszwecks ist nicht Überführung in Gemeinwirtschaft, vgl. Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 235. 1532 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 78. 1533 So etwa Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 20; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/ Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 242 f.; im Ergebnis auch Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2312.

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Wirtschaftslenkung und „Sozialisierung“ schlössen sich von vornherein gegenseitig aus; Wirtschaftslenkung sei kein Minus zur Sozialisierung, sondern ein aliud.1534 Gleichzeitig wird teilweise aber auch eingeräumt, daß die „Möglichkeit, ohne eine solche organisatorische Verfestigung eine gemeinwirtschaftliche Orientierung zu erreichen, [. . .] noch nicht abschließend diskutiert“ sei1535. Insoweit gilt gerade für die „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ die bereits oben zitierte Erkenntnis, daß es sich hierbei um etwas handelt, „was erst noch zu finden ist“1536. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund aber erscheint es sinnvoll, den Blick nicht zu sehr auf eine bestimmte rechtliche Organisationsform oder organisatorisch-institutionelle Aus- oder Umgestaltung betroffener Unternehmen, also auf die „institutionelle“ Organisation zu fixieren, sondern den Begriff „Organisation“ – wenn man ihn insoweit überhaupt verwenden will – in einem weiteren, weniger institutionellen, sondern eher untechnischen Sinne zu verstehen: Zwar kann richtigerweise der Begriff „Gemeinwirtschaft“ in Art. 15 GG sich nicht in der oben beschriebenen weiten Bedeutung erschöpfen, also nicht nur in der gesetzgeberischen Anordnung einer gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung der überführten Wirtschaftseinheiten. Vielmehr erfordert „Gemeinwirtschaft“ im Sinne des Art. 15 GG über die bloße Zielsetzung hinaus gleichzeitig eine durch entsprechende gesetzliche Vorgaben bewirkte Sicherstellung der Erreichung oder zumindest der Erreichbarkeit des gemeinwirtschaftlichen Zweckes. Dies gilt insbesondere für die „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“, bei denen ja – anders als beim „Gemeineigentum“ – das Eigentum und damit die grundsätzliche Herrschaftsbefugnis prinzipiell in privaten Händen und somit als Privateigentum verbleibt. Insoweit besteht auch weitgehend Einigkeit, daß die „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ gerade gekennzeichnet sind durch das – zumindest formale – Fortbestehen des Privateigentums unter allerdings gleichzeitiger Beschränkung der privaten Nutzungsbefugnisse, um die gemeinwirtschaftliche Produktionsweise zu gewährleisten, also kurz gesagt durch eine Sozialisierung der beherrschenden Nutzungsbefugnisse.1537 1534 Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 37; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 8. 1535 Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 13. 1536 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 19; Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 7; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (269). 1537 Siehe etwa Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (290); ders., Hat die Investitionslenkung verfassungs-

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Aber es erscheint zu kurz gegriffen, mit anderen Worten also zu eng, wenn man diese „Sozialisierung der Nutzungsbefugnisse“ und damit den Begriff „andere Formen der Gemeinwirtschaft“ nur durch organisationsrechtlich bewirkte Mitbeteiligungen oder Einflußnahmemöglichkeiten der öffentlichen Hand oder gesellschaftlicher Gruppen als erfüllt ansehen wollte, wie dies die oben beschriebene, enge Sichtweise aber augenscheinlich meint. Denn im Endeffekt kann nicht entscheidend sein, wie die Sicherstellung des gemeinwirtschaftlichen Auftrages erreicht wird, sondern nur daß sie erreicht wird: Ob dies etwa durch Einflußnahmerechte, Eigentümerstreuung, vorgeschaltete Instanzen usw., also eine organisatorische-institutionelle Umgestaltung, oder allein durch rechtliche Bindungen wie etwa gesetzliche Vorgaben hinsichtlich des Produktionsumfangs, der Art der zu produzierenden Waren, der Kalkulation oder der Preise bewerkstelligt wird, ist sowohl aus Sicht der betroffenen Unternehmer als auch hinsichtlich der gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung selbst unerheblich. So besteht kein relevanter Unterschied, ob etwa ein vorgeschalteter Staatskommissar1538 oder ob gesetzliche Normen verbindliche Vorschriften machen, wie die Produktion zur Erreichung des gemeinwirtschaftlichen Ziels zu gestalten ist. Ebensowenig ist ersichtlich, warum es einen Unterschied machen soll, wenn statt einem Zwangsverband von privatwirtschaftlichen Unternehmen auch einzelnen, nicht zwangszusammengeschlossenen Unternehmen gesetzlich „aufgetragen wird, die Erzeugung oder die Einfuhr, den Absatz, die Absatzbedingungen, die Preise oder andere Faktoren der Wirtschaftstätigkeit [. . .] gemeinwirtschaftlich zu ordnen“1539. Dies verdeutlicht, daß die Tür zu einer „Überführung in (andere Formen der) Gemeinwirtschaft“ nicht nur durch Etablierung öffentlichen Einflusses infolge einer Umgestaltung der rechtlichen Organisationsform privatwirtschaftlicher Unternehmen aufgeschlagen wird, sondern bereits auch durch die Schaffung öffentlicher (gesetzlicher) Bindungen, durch welche eine gemeinwirtschaftliche Produktionsweise bzw. Bedarfsdeckung erreicht werden soll. Demgemäß können auch Maßnahmen „bloßer“ Wirtschaftslenkung oder Wirtschaftsinter-

rechtlich eine Chance?, DVBl. 1980, S. 625 (629); Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 77; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 11; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2310; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (296 ff.); Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 20 f.; vgl. auch Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 15. 1538 Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 13. 1539 Siehe zu diesem Beispiel für eine „andere Form der Gemeinwirtschaft“ Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 173; wortgleich übernommen von Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 22 f.

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vention gegebenenfalls zur „Überführung in (andere Formen der) Gemeinwirtschaft“ führen, sofern durch sie jede privatwirtschaftliche Komponente, jegliche Privatwirtschaftstypik beseitigen und somit im Ergebnis eine gemeinwirtschaftliche Ausrichtung etabliert wird. Richtigerweise ist also die Wirtschaftslenkung nicht ein aliud zur „Sozialisierung“ (oder sie ist dies nur „grundsätzlich“1540), sondern die Übergänge zwischen beiden sind fließend: „Sozialisierung“ kann auch in einem liberalen Staats- und Wirtschaftssystem die ultima ratio der staatlichen Wirtschaftsintervention sein.1541 Dies soll selbstverständlich nicht heißen, daß jede Wirtschaftslenkung eine Form der Sozialisierung darstellt; im Grundsatz sind Wirtschaftslenkung und Sozialisierung verschieden. Aber Wirtschaftslenkung kann ab einem gewissen Grad in eine „Sozialisierung“ umschlagen, wenn durch sie die privatwirtschaftlichen Elemente – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – soweit zurückgedrängt werden, daß das Verbleibende sich nicht mehr als „Privatwirtschaft“, sondern eben als „Gemeinwirtschaft“ darstellt, etwa weil jede realistische Möglichkeit zu privatnütziger Gewinnoptimierung beseitigt wurde. Auch hierin kann übrigens im weitesten Sinne die Etablierung eines öffentlichen oder staatlichen Einflusses auf die Nutzung der betreffenden Wirtschaftseinheit gesehen werden, wie er von den Vertretern des Erfordernisses einer „organisatorischen Umgestaltung“ als maßgeblich für die „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ angesehen wird1542, nur daß dieser Einfluß nicht durch in die Entscheidungsfindung organisatorisch eingebundene Personen, Gruppen oder Institutionen, sondern durch gesetzliche, wirtschaftslenkende Vorgaben erreicht wird. Und im weitesten Sinne kann hierin auch eine „organisatorische“ Umgestaltung erblickt werden, zwar nicht der unternehmerischen Organisationsform, wohl aber in der Organisation der Produktions- und Kalkulationsabläufe in den betroffenen Unternehmen. Auch insoweit zeigt sich, daß die Forderung nach einer bestimmten unternehmerischen Organisationsform im von der oben beschriebenen, „engen“ Ansicht vertretenen, eher institutionellen Sinne „eine Überfrachtung des Gemeinwirtschaftsbegriffes mit Formalem“ beinhalten würde1543.

1540 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 28. 1541 Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (276). 1542 Siehe etwa Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 2; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 171 f.; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 6. 1543 Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (290).

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Vor diesem Hintergrund wird auch im Schrifttum vielfach und zu Recht anerkannt, daß ebenfalls „bloß“ wirtschaftslenkende Maßnahmen gegebenenfalls zu einer „Überführung in (andere Formen der) Gemeinwirtschaft“ führen können und somit insbesondere an den Vorgaben des Art. 15 GG zu messen sind, wenn sie das gemeinwirtschaftliche Disponieren der (Privat-)Eigentümer normativ sicherstellen sollen und insoweit die Schaffung gemeinwirtschaftlicher Bedarfsdeckung bezwecken bzw. bewirken; die Schaffung einer „anderen Form der Gemeinwirtschaft“ kann also auch allein durch entsprechende gesetzliche Bindungen der Nutzungsbefugnisse erfolgen und muß nicht zugleich mit einer institutionell-organisatorischen Umgestaltung des Eigentums im von der oben beschriebenen Gegenansicht geforderten Sinne einhergehen.1544 Angemerkt sei auch, daß hierdurch gerade nicht die „Ermächtigungswirkung“ des Art. 15 GG auf (gemeinwirtschaftsorientierte) Wirtschaftslenkungsmaßnahmen ausgedehnt wird1545, da Maßnahmen der Wirtschaftslenkung nun relativ unstreitig ihre materielle „Ermächtigungsgrundlage“ ohnehin schon in den Eingriffsvorbehalten insbesondere der Art. 12 und 14 (jeweils Abs. 1 S. 2) GG finden; vielmehr errichtet Art. 15 GG insoweit zusätzliche materielle Hürden in Gestalt der in ihm enthaltenen, bereits weiter oben beschriebenen Sozialisierungsvoraussetzungen, an denen sich dementsprechend auch Wirtschaftslenkungsmaßnahmen messen lassen müssen, die so exzessiv sind, daß sie eine „Überführung in Gemeinwirtschaft“ bewirken. Somit wirkt Art. 15 GG also vor allem „auch als Schutznorm gegen schleichende und verdeckte Sozialisierungen in Form wirtschaftslenkender Maßnahmen“.1546 Diese Funktion des Art. 15 GG wird von Depenheuer sehr treffend verdeutlicht und zusammengefaßt: „Diese Funktion ist umso bedeutsamer, als es fortbestehende politische Affekte gegen eine politische Anerkennung des Marktge1544 Siehe Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (290); ders., Hat die Investitionslenkung verfassungsrechtlich eine Chance?, DVBl. 1980, S. 625 (629); Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 9, 29; Klaus Eschenbruch, Verfassungsrechtliche Grenzen staatlicher direktiver Investitionslenkung, 1984, S. 137; Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 254; Hans Peter Ipsen, Öffentliche Subventionierung Privater, 1956, S. 13; Ernst Knoll, Eingriffe in das Eigentum im Zuge der Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, AöR 79 (1953/54), S. 455 (496); Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (276, 299 ff.); wohl auch Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 20 f.; zumindest offen lassend („noch nicht abschließend diskutiert“) Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 13. 1545 In dieser Befürchtung allerdings dürfte einer der Gründe liegen, warum einige Autoren Wirtschaftslenkung kategorisch als aliud zur „Sozialisierung“ sehen – insoweit scheint es vor allem darum zu gehen, den Ermächtigungsgehalt des Art. 15 GG nicht „noch weiter“ auszudehnen. 1546 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 9.

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schehens und des seine Logik bestimmenden Gewinnstrebens gibt. Das hinter der Idee der Sozialisierung steckende Misstrauen gegen privatnützige Eigentumsverwendung bedient sich zu dessen Überwindung oder Hegung vielfältigster Modi. Wenn gegenwärtig auch keine Tendenzen und ernst zu nehmende Initiativen hin auf Sozialisierungsgesetze zu erkennen sind, so haben sich doch auch unter Geltung des Grundgesetzes stillschweigend Entwicklungen vollzogen, die in Wirkung und Ergebnis materiell in die Nähe einer Vergesellschaftung gelangten. [. . .] auch im Bereich der wirtschaftslenkenden Maßnahmen wirkt Art. 15 insoweit rechtspraktisch im Sinne eines Freiheitsschutzes, indem er dem Gesetzgeber nur in Grenzen die Einführung einer Wirtschaftslenkung in gemeinwirtschaftlicher Absicht gestattet.“1547 „Staatliche Wirtschaftslenkung fällt [. . .] dann in den Anwendungsbereich des Art. 15, wenn sie das gemeinwirtschaftliche Disponieren der Eigentümer normativ sicherstellt [. . .]. Weil die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung die nach Art. 15 einzig zulässige Intention der Sozialisierung ist, scheidet nur jede anderweitig intendierte Wirtschaftslenkung aus dem Anwendungsbereich des Art. 15 GG aus. Staatliche Wirtschaftslenkung in gemeinwirtschaftlicher Absicht [. . .] ist an die Voraussetzungen des Art. 15 gebunden“.1548 (bb) Konsequenz für „privatwirtschaftseliminierende“ Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung Überträgt man das gefundene Ergebnis zum Inhalt des Begriffes „Gemeinwirtschaft“ bzw. der „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ im Sinne des Art. 15 GG (resp. des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) auf die hier untersuchten Fälle der Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung, so ergibt sich Folgendes: Soweit durch eine solche Übertragung die Grenzen des Privatwirtschaftlichen bzw. des Privatversicherungswesens wie in den oben näher bezeichneten Konstellationen verlassen werden, weil die Versicherungstätigkeit nicht mehr privatwirtschaftlichen, sondern gemeinwirtschaftlichen Regeln folgt,1549 handelt es sich zugleich um eine „Überführung in (andere Formen der) Gemeinwirtschaft“ im Sinne von Art. 15/Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG. Zwar gehen diese Fälle nicht auch mit einer organisationsrechtlichen Umgestaltung der betroffenen Versicherungsunternehmen einher, durch welche der öffentlichen Hand oder kollektiven gesellschaftlichen Gruppen ein bestimmender Einfluß auf die Unternehmenslei1547 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 9. 1548 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 29. 1549 Siehe dazu bereits ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 1. und 2.

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tung und damit die Nutzung der betroffenen Unternehmen eingeräumt wird. Doch kommt es darauf nach dem hier ermittelten Begriffsinhalt von „Überführung in Gemeinwirtschaft“ im Sinne des Art. 15 GG nicht an. Es genügt, daß die gemeinwirtschaftliche Bedarfsdeckung mit Krankenversicherungsleistungen durch im weitesten Sinne wirtschaftslenkende Regelungen vorgegeben und abgesichert wird, indem entsprechende gesetzliche Vorgaben im Hinblick auf das zu erbringende Produkt „Versicherung“ (durch vorgegebenen Leistungsumfang), den Umfang des zu deckenden Bedarfs (durch Kontrahierungszwang) und vor allem auf die Kalkulation und Beitragsgestaltung (durch Ausschluß individueller Risikoermittlung und vor allem durch allein an das individuelle Leistungsvermögen der Versicherten angepaßte Beitragskappungen bzw. -nivellierungen) verbindlich statuiert werden. Die Erbringung der betreffenden Versicherungsleistungen wird in diesem Sinne „sozialisiert“, d. h. in eine („andere“) Form der Gemeinwirtschaft im Sinne des Art. 15 GG überführt, weil zumindest im Umfang der betreffenden Regelungen eine unmittelbar gemeinwohlorientierte, auf optimale Bedarfsdeckung der potentiell Versicherungsbedürftigen ausgerichtete, „soziale“ Wirtschaftsweise vorgeschrieben und normativ abgesichert wird, die keinen Raum mehr für rationelles, auf Gewinnerzielung ausgerichtetes Wirtschaften beläßt1550. Daß dies gegebenenfalls nur eine Tarifart betrifft, und insoweit unter Umständen nicht die gesamte Nutzung der betroffenen Wirtschaftsunternehmen zu einer „gemeinwirtschaftlichen“ macht, ist dabei unerheblich, wie sich aus den bereits weiter oben1551 gemachten Ausführungen zur Unmaßgeblichkeit der Möglichkeit zu Quersubventionierungen aus „privatwirtschaftlich“ bleibenden Unternehmensteilen für den in Gemeinwirtschaft überführten Teil ergibt; gegebenenfalls liegt dann immerhin eine Teil-Sozialisierung der betroffenen Unternehmen vor. Auch Teil-Sozialisierungen müssen aber unter Art. 15 GG fallen. Zum einen hinge ansonsten die Qualifizierung als „Sozialisierung“ von dem mehr oder weniger zufälligen Umstand ab, ob ein betroffenes Unternehmen neben einem sozialisierten Produkt1552 oder einer sozialisierten Produkt(ions)linie oder Unternehmenssparte noch über weitere Produkte, Produktlinien oder Unternehmenssparten verfügt, auf die der Staat nicht zugreift und die daher zur Quersubventionierung genutzt werden können. Damit würde aber ein und derselbe Zugriff bei solchen Unternehmen nicht zu einer „Sozialisierung“ führen, bei anderen Unternehmen, die von vornherein nur über das eine Produkt, die eine Produkt1550

Siehe ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 1. und 2. Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. b) bb) (3). 1552 Steng genommen wird nicht das einzelne Produkt sozialisiert, sondern die zu seiner Herstellung dienenden Unternehmensteile; der sprachlichen Einfachheit sei dies in diesem Zusammenhang aber als „sozialisierten Produkt“ o. ä. bezeichnet. 1551

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linie oder Sparte verfügen oder hierfür jeweils rechtlich eigenständige Teilunternehmen gegründet haben, hingegen schon. Überdies werden durch eine Teilsozialisierung auch die übrigen Unternehmensteile/Produkte in Mitleidenschaft gezogen und quasi „mitsozialisiert“, weil diese nun maßgeblich dazu herhalten müssen, den sozialisierten Teil bzw. das sozialisierte Produkt querzusubventionieren und somit ihrerseits kaum noch nach privatwirtschaftlich zu nennenden Grundsätzen kalkuliert werden können – mithin würden im Endeffekt auch sie in den Dienst der „Sozialisierung“ gestellt. Daß es kein Maßstab für das Vorliegen einer (Teil-)Sozialisierung sein kann, ob oder wieviele Unternehmensteile bzw. Prokukt(ions)segmente nicht von der Sozialisierung betroffen sind, zeigt sich auch daran, daß in der Überführung nur eines Unternehmensteils in Gemeineigentum unproblematisch eine Sozialisierung dieses Unternehmensteils zu erblicken wäre, da hierdurch dieser Teil aus seiner bisherigen Eigentümerposition herausgelöst und zum Zwecke der Vergesellschaftung auf eine übergeordnete Gesamtheit übertragen, mithin also vollständig sozialisiert würde. Nichts anderes kann dann aber für die gleichberechtigte Variante der Überführung in „andere Formen der Gemeinwirtschaft“ gelten, auch wenn hierbei die Sozialisierung nicht mit einem formalen Verlust des Eigentums einhergeht – auch hier müssen also staatliche „Zugriffe“ auf bloße Unternehmensteile bzw. einzelne Produkt(ions)segmente als Sozialisierungen im Sinne des Art. 15 GG (resp. Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) erfaßbar sein. Im übrigen bestünde ansonsten auch die Gefahr, daß der Gesetzgeber durch selektive Teilsozialisierungen die für Sozialisierungen aufgestellten Hürden des Art. 15 GG bewußt und allzu leicht umgehen könnte. Überhaupt zeigt sich die Möglichkeit zu Teil-Sozialisierungen auch daran, daß nach praktisch einhelliger Ansicht der Produktionsmittel-Begriff in Art. 15/ 74 Abs. 1 Nr. 15 GG nicht nur den Zugriff auf ganze Unternehmen, sondern auch auf einzelne zum Wirtschaften genutzte Gegenstände umfaßt1553. Als Zwischenergebnis läßt sich also festhalten, daß die Übertragung sozialversicherungsähnlicher Strukturen auf die Privatversicherung, sofern hierdurch die „Privatwirtschaftlichkeit“ der betroffenen Unternehmen beseitigt wird1554, als „Überführung in eine (andere) Form der Gemeinwirtschaft“ im Sinne von Art. 15/74 Abs. 1 Nr. 15 GG zu klassifizieren ist, selbst wenn hiervon nur einzelne Produktlinien oder Tarifarten betroffen sind.

1553

Siehe sogleich unten, bei Fn. 1556. Siehe zu den diesbezüglichen Beispiel-Konstellationen oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. 1554

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(2) Die in Gemeinwirtschaft überführbaren Gegenstände (insbesondere „Produktionsmittel“) Fraglich ist allerdings noch, ob Versicherungsunternehmen überhaupt zu den sozialisierungsfähigen Gegenständen im Sinne von Art. 15/Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG zählen. Wäre dies nicht der Fall, so stellte sich deren „Überführung in Gemeinwirtschaft“ als von vornherein materiell unzulässig dar, weil Art. 15 GG festlegt, daß „Sozialisierungen“ überhaupt nur in den von ihm festgelegten Formen und Grenzen durchgeführt werden dürfen1555. Gleichzeitig schiede auch die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG aus. Sowohl Art. 15 GG als auch der korrespondierende Gesetzgebungskompetenztitel in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG zählen diejenigen Gegenstände auf, für die eine „Überführung in Gemeinwirtschaft“ überhaupt in Betracht kommt, nämlich „Grund und Boden“, „Naturschätze“ sowie „Produktionsmittel“. Während die – inhaltlich unproblematischen – Gegenstände „Grund und Boden“ sowie „Naturschätze“ vorliegend nicht weiter von Interesse sind, ist hier vor allem der Frage nachzugehen, ob Versicherungen bzw. Versicherungsunternehmen unter den den Begriff „Produktionsmittel“ subsumiert werden können. (a) Enges oder weites Verständnis des Begriffes „Produktionsmittel“? Weitgehende Einigkeit besteht nur insoweit, daß mittels der Sozialisierung der „Produktionsmittel“ auch der Zugriff auf die betreffenden Unternehmen eröffnet ist, nicht bloß auf einzelne zum Wirtschaften genutzte Gegenstände.1556 Was hingegen zu den „Produktionsmitteln“ im Sinne von Art. 15/74 Abs. 1 Nr. 15 GG zu zählen ist, ist lebhaft umstritten. Nach wohl überwiegender Ansicht1557 sei der Begriff in einem engen Sinne zu verstehen und beziehe sich nicht auf sämtliche zu wirtschaftlichen Zwecken 1555 Siehe etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 8; Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (108); Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 37; Hans H. Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, 1974, S. 40; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 4. 1556 Siehe etwa Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 165 ff.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 32; im Ergebnis auch Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 37, für den die Unternehmen zumindest „faktisch“ sozialisiert werden, weil sie nicht selbst Produktionsmittel seien, sondern über diese verfügen. 1557 Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (291); Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum

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eingesetzte Mittel, sondern ausschließlich auf sachliche und rechtliche Mittel, die der Erzeugung („Produktion“) von Gütern dienen. Produktionsmittel im Sinne von Art. 15/74 Abs. 1 Nr. 15 GG seien folglich „nur die der Gewinnung und Herstellung (einschließlich Be- und Verarbeitung) wirtschaftlicher Erzeugnisse dienenden Gegenstände und Rechtstitel, und zwar sowohl die der Produktion unmittelbar dienenden Betriebsanlagen (Gebäude, Maschinen, Werkzeuge) als auch die für die Produktion verwandten Betriebsmittel (Rohstoffe, Halbfabrikate) als auch die in der Produktion eingesetzten Urheberrechte (Patente, Warenzeichen)“1558. Ausgeschlossen werden damit insbesondere Dienstleistungsbetriebe wie etwa Banken und Versicherungen sowie Verkehrsbetriebe. Als Argumente werden hierfür neben dem „Ausnahmecharakter“ des Art. 15 GG vor allem auch der Wortlaut angeführt, da die enumerative Aufzählung der Sozialisierungsgegenstände gerade eine gegenständliche Begrenzung nahelege und bei einem weiten Verständnis der „Produktionsmittel“ auch die ausdrückliche Benennung von „Grund und Boden“ und „Naturschätzen“ überflüssig sei. Nach der Gegenansicht1559 sei hingegen die Beschränkung nur auf die Güterherstellung unsachgemäß. Vielmehr müsse der Begriff „Produktionsmittel“ in einem weiten Sinne verstanden werden, der jegliche Bereitstellung wirtschaftlicher Güter und somit auch Dienstleistungen umfaßt. Begründet wird dies vor allem mit der ursprünglich mit Art. 15 GG verbundenen Intention, gegebenenfalls die gesamte Wirtschaftsordnung umgestalten zu können sowie insbeson-

Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 33 ff.; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2316; Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl., 2008, Art. 15 Rn. 15; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 165; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Komment ar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 30 ff.; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (305 ff.); Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 14 f.; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 9 ff. 1558 Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 165. 1559 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 66 f.; Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlichrechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (249 f.); Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 18; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 3; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 248; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 23; vgl. auch Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 8; Herbert Scholtissek, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, BB 1952, S. 981 (983).

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dere auch mit der besonderen wirtschaftlichen Bedeutung, die heutzutage gerade dem Banken- aber auch dem Versicherungswesen beigemessen wird. Angesichts dieser gegensätzlichen Sichtweisen soll der Begriff „Produktionsmittel“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG unter Heranziehung der anerkannten Auslegungsmethoden näher untersucht werden: (b) Auslegung des Begriffes „Produktionsmittel“ im Sinne von Art. 15/74 Abs. 1 Nr. 15 GG (aa) Wortlautauslegung Beide Sichtweisen stützen sich zunächst jeweils auf den Wortlaut des Begriffes „Produktionsmittel“. Die enge Sichtweise verweist dabei vor allem auf den „gewöhnlichen Sprachgebrauch“: danach seien unter Produktionsmitteln Mittel zur Herstellung gegenständlicher Güter („Produkte“), also Mittel zur „Produktion“ zu verstehen.1560 Dies überzeugt allerdings nur bedingt, denn ist es sprachlich ebenso möglich, die Begriffe „Produkt“ bzw. „Produktionsmittel“ in einem weiteren Sinne zu interpretieren: So versteht sowohl die sozialistische Wirtschaftstheorie als auch vor allem die allgemeine Volkswirtschaftslehre unter „Produkten“ sämtliche Wirtschaftsgüter, also auch Dienstleitungen, und unter „Produktionsmitteln“ demnach sämtliche Mittel, die der Bereitstellung von Wirtschaftsgütern einschließlich Dienstleistungen dienen.1561 Da Art. 15 GG sich ganz vornehmlich auf eine bestimmte Art des Wirtschaftens bezieht, also seiner ganzen Intention nach eine wirtschaftsbezogene Regelung darstellt, liegt es vor diesem Hintergrund nahe, den Begriff „Produktionsmittel“ im fachterminologischen, wirtschaftswissenschaftlichen Sinne zu verstehen1562, mithin also weit – zumal auch der „allgemeine Sprachgebrauch“ stark hierdurch beeinflußt erscheint. Ferner wird auch der Gesamtwortlaut der Aufzählung in Art. 15 GG („Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“) zur Auslegung des Begriffes „Produktionsmittel“ herangezogen. Die enge Sichtweise wird vor allem auch hierauf gestützt, da diese Enumeration einerseits aufzeige, daß Art. 15 GG ge1560 Siehe etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 38; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 163 f. 1561 Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 14; siehe aus der Volkswirtschaftslehre etwa Ulrich Baßeler/Jürgen Heinrich/ Burkhard Utecht, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, 18. Aufl., 2006, S. 15. 1562 So etwa auch Herbert Scholtissek, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, BB 1952, S. 981 (983); Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 23.

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rade eine Beschränkung der sozialisierbaren Güter durch ausdrückliche Aufzählung wolle1563; ferner erwiese sich die Aufzählung von „Grund und Boden“ und „Naturschätzen“ in Art. 15 GG überflüssig, wenn dieser weit wie insbesondere in der sozialistischen Wirtschaftstheorie zu verstehen wäre, wo der Begriff „Produktionsmittel“ bereits auch „Grund und Boden“ und „Naturschätze“ umfasse1564. Auch dieses Argument ist aber weder zwingend noch überzeugend: Denn die ausdrückliche Aufzählung von „Grund und Boden“ und „Naturschätzen“ hat nicht nur eine klarstellende, größere Plastizität vermittelnde Funktion, sondern darüber hinaus auch den Sinn zu verdeutlichen, daß diese Gegenstände auch sozialisiert werden können, ohne konkret in einen wirtschaftlichen Produktionsprozeß eingebunden bzw. ohne „Teil“ eines Wirtschaftsunternehmens – und damit ihrerseits bereits „Produktionsmittel“ – zu sein1565.1566 Genau aus diesem letztgenannten Grund vermag ferner auch nicht der für ein enges Verständnis der „Produktionsmittel“ vorgebrachte Hinweis darauf zu überzeugen, daß Art. 15 GG aus der Sozialisierungsermächtigung der Weimarer Reichsverfassung (Art. 156 WRV) zwar die Begriffe „Vergesellschaftung“, „Gemeinwirtschaft“ und „Gemeineigentum“ übernommen hat, nicht hingegen den dort (allein1567) verwendeten Terminus „private wirtschaftliche Unternehmen“, welcher unstreitig weit zu verstehen war und insbesondere auch Dienstleistungsunternehmen erfaßte1568. Die Analyse des Wortlautes sowohl des Begriffes „Produktionsmittel“ als auch der Aufzählung „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ legt also keineswegs ein enges, auf gegenständliche Güterproduktion beschränk1563 Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (306); Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 14; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 12. 1564 Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 164. 1565 Man denke etwa an die Sozialisierung eines „nackten“, unbebauten Grundstücks, um dies für gemeinwirtschaftliche Wohnungswirtschaft zu nutzen, oder an die Sozialisierung von Naturschätzen, die noch nicht erschlossenen oder von wirtschaftlichen Unternehmen erworben wurden oder an denen noch keine Rechtstitel begründet wurden, auf deren Grundlage sie wirtschaftlich genutzt werden. – Vgl. insoweit näher zu den Sozialisierungsgegenständen „Grund und Boden“ und „Naturschätze“ Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 161 ff. 1566 So auch Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (249). 1567 „Grund und Boden“ und „Naturschätze“ wurden in Art. 156 WRV nicht erwähnt. 1568 Mittels dieses Wortlautvergleichs mit Art. 156 WRV aber für ein enges Verständnis von „Produktionsmittel“ im Sinne des Art. 15 GG votierend etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 36 f.

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tes Verständnis nahe, sondern spricht sogar eher für einen „weiten“, etwa auch Dienstleistungen umfassenden Begriffsinhalt des Terminus „Produktionsmittel“ im Sinne von Art. 15/74 Abs. 1 Nr. 15 GG. (bb) Historisch-genetische Auslegung Zur Stützung des weiten Verständnisses des Begriffes „Produktionsmittel“ wird häufig die bereits näher beschriebene Entstehungsgeschichte des Art. 15 GG herangezogen und darauf verwiesen, daß diejenigen politischen Kräfte, welche die Aufnahme des Art. 15 GG in das Grundgesetz forcierten (namentlich die damalige Sozialdemokratie), hiermit die Möglichkeit verbanden, in umfassendem Maße die Wirtschaftsordnung in eine sozialistische umgestalten zu können – was durch ein enges Verständnis des Produktionsmittelbegriffes konterkariert würde.1569 Dieser Hinweis auf die Entstehungsgeschichte vermag allerdings nicht zu überzeugen: Zum einen ist zu berücksichtigen, daß nicht nur die damalige SPD mit Art. 15 GG gewisse Intentionen verband, sondern umgekehrt Christdemokraten und Liberale mittels der Norm vor allem auch einen Schutz des Privateigentums bezweckten und ihn daher in Anforderungen und Voraussetzungen möglichst stark der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG angleichen wollten1570. Vor diesem Hintergrund ist schon keineswegs auszuschließen, daß andere politische Strömungen als die damalige SPD mit dem Begriff „Produktionsmittel“ gerade kein weites Verständnis verbanden. Unabhängig davon aber ist vor allem zu berücksichtigen, daß die damaligen, mittlerweile fast sechs Jahrzehnte zurückliegenden Vorstellungen von einer sozialistischen Wirtschaftsordnung spätestens mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime Osteuropas Anfang der Neunziger Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts politisch überholt sind. Überdies hat sich – wie schon zuvor dargelegt – frühzeitig die Erkenntnis durchgesetzt, daß es angesichts der freiheitlichen Konzeption des Grundgesetzes

1569 Mit diesem Argument für ein „weites“ Verständnis des Begriffes „Produktionsmittel“ votierend etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 66 f.; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 18; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 248; Werner Weber, Zur Problematik von Enteignung und Sozialisierung nach neuem Verfassungsrecht, NJW 1950, S. 401 (404) unter Hinweis auf das weite Verständnis des Begriffes „Produktionsmittel“, wie er im Erfurter Programm der Sozialdemokratie von 1891 zum Ausdruck kommt; siehe ferner zu diesem Argument Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2314 f.; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 22. 1570 Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 10.

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verfehlt ist, den Art. 15 GG aus der Theorie des Sozialismus heraus auszulegen und seine Anwendung an die Geistesgeschichte des Sozialismus anzulehnen1571. Interessanterweise wird gelegentlich unter Zugrundelegung einer historischgenetischen Betrachtung gerade auch umgekehrt für ein enges Verständnis des Produktionsmittelbegriffes votiert, nämlich unter Bezugnahme auf den Umstand, daß die damaligen Sozialdemokraten mit Art. 15 GG die Hoffnung verbanden, „die deutschen Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen“1572 – unter „Schlüsselindustrien“ falle indes gerade nicht der Dienstleistungssektor1573. Auch dies vermag wenig zu überzeugen: Da der Begriff „Schlüsselindustrien“ nicht näher erläutert wird, kann hiermit auch gemeint sein, daß besonders bedeutsame Wirtschaftszweige sozialisierbar sein sollen, wozu damals wohl vor allem noch Industriezweige gehörten, da der Dienstleistungssektor noch keine ähnlich hohe Bedeutung wie heute erlangt hatte. Ist die Bezeichnung aber vor allem im weiteren Sinne als „Schlüsselwirtschaftszweige“ zu verstehen – was dem damaligen sozialdemokratischen Bestreben nach Offenhaltung einer weitgehenden Sozialisierung der Wirtschaft weitaus eher entspricht –, so würden heute wohl gerade bestimmte Dienstleistungszweige wie insbesondere das besonders bedeutsame Bankenwesen erfaßt sein müssen1574. Im übrigen gilt aber auch hier, daß diese Äußerungen der damaligen Sozialdemokratie in einem heute politisch völlig überholten Kontext erfolgten, verband die Sozialdemokratie damit doch aus ihrer Sicht „das entscheidende Ziel unseres politischen Kampfes zur Befreiung des arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung“, die Erfüllung der „Hoffnungen von Millionen auf eine Sozialisierung“ und die Möglichkeit, „an dieses große Werk der Sozialisierung heranzugehen, da es die Ära eines dauerhaften Friedens einleiten kann“1575.

1571 Siehe Friedrich Klein, Eigentumsbindung, Enteignung, Sozialisierung und Gemeinwirtschaft im Sinne des Bonner Grundgesetzes, 1972, S. 6; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (269). 1572 Siehe die bereits oben in Fn. 1467 auszugsweise wiedergegebene Stellungnahme des Abgeordneten der SPD Walter Menzel, vollständig wiedergegeben in: Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, 1948/49, S. 205, und bei Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 159, Fn. 34. 1573 So etwa Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 11. 1574 Auf die besondere wirtschaftliche Bedeutsamkeit der Banken hinweisend etwa Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (249 f.); dem folgend Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 23. 1575 Siehe insoweit wiederum die Stellungnahme des Abgeordneten der SPD Walter Menzel (Fn. 1572).

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Demgemäß sind die Vorstellungen, die insbesondere die damalige Sozialdemokratie zur Einfügung des Art. 15 GG in das Grundgesetz bewegten, heute als obsolet und nicht zielführend für die Auslegung des Art. 15 GG und seiner Tatbestandsmerkmale zu betrachten – egal in welche Richtung. Die historischgenetische Betrachtungsweise gibt folglich keine wirklich erhellenden Hinweise, ob der Begriff „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG weit oder eng zu verstehen ist. (cc) Systematische Auslegung Häufig wird für ein enges Verständnis des Begriffes „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG dessen „Ausnahmecharakter“ im Verhältnis zu Art. 14 GG angeführt, welcher insoweit eine insgesamt restriktive Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 15 GG gebiete.1576 Allerdings überzeugt hierbei schon die Annahme nicht, Art. 15 GG habe einen „Ausnahmecharakter“ im Verhältnis zu Art. 14 GG. Art. 15 GG enthält einen speziellen Eingriffsvorbehalt, der klarstellt, daß bestimmte gesetzgeberische Maßnahmen als Eingriffe in Freiheitsgrundrechte wie insbesondere Art. 14 GG grundsätzlich möglich sind, die Zulässigkeit solcher Eingriffe dann aber gleichzeitig von besonderen materiellen Voraussetzungen abhängig macht. Daß ein Eingriffsvorbehalt eine „Ausnahme“ vom „Grundsatz“ der prinzipiell durch ein Grundrecht gewährten Freiheit darstellt, gilt für jeden Eingriffsvorbehalt, nicht bloß für Art. 15 GG. Und von welcher „Regel“ Art. 15 GG im übrigen eine „Ausnahme“ beinhalten soll, bleibt schleierhaft: Richtig ist zwar, daß Art. 15 GG eine prinzipielle Entscheidung des Grundgesetzes für die Privatwirtschaft dokumentiert, weil er Sozialisierungen nur unter engen Voraussetzungen zuläßt, so daß „Sozialisierungen“ grundsätzlich eine Art „Ausnahme“ vom „Grundsatz“ der privatwirtschaftlichen Güterbereitstellung sind: Nur kann hieraus nicht auf den konkreten Umfang geschlossen werden, in welchem Art. 15 GG „Sozialisierungen“ gerade zum Gegenstand hat. Und daß die auf Art. 15 GG zu stützenden Eingriffe regelmäßig besonders intensiv sein dürften oder daß die Norm bisher keine praktische Anwendung fand, verleiht Art. 15 GG ebenfalls keinen seine enge Auslegung gebietenden „Ausnahmecharakter“. Ansonsten könnte im übrigen auch Art. 14 Abs. 3 GG als restriktiv auszulegende „Ausnahmevorschrift“ angesehen werden, weil auch er eine „Ausnahme“ vom Grundsatz des Privateigentums enthält, Enteignungen eine sehr hohe Eingriffsqualität haben und sie außerdem verhältnismäßig selten vorkommen. Des weiteren kann kein Ausnahmecharakter daraus hergeleitet werden, daß die Norm in 1576 Siehe etwa Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (291); Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2316.

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ihrem Anwendungsbereich eng umgrenzt ist: Art. 15 GG regelt vielmehr für einen bestimmten Lebensbereich einen speziellen Katalog von Maßnahmen, die zugegebenermaßen eher selten zum Einsatz kommen dürften – nur ist eine Norm, die sich auf einen stark umgrenzten Regelungsbereich bezieht, nicht allein deshalb eine von vornherein eng auszulegende „Ausnahmevorschrift“. Und selbst wenn man Art. 15 GG einen „Ausnahmecharakter“ zugestünde, heißt dies noch lange nicht, daß er deshalb auch automatisch eng auszulegen ist: Im welchem Umfang eine Norm bestimmte „Ausnahmen“ zulassen bzw. regeln will, bemißt sich nach ihrem Regelungszweck und nicht nach einem im Vorfeld behaupteten Ausnahmecharakter, mittels dessen man ihren Regelungsgehalt von vornherein einzuschränken sucht. Mit anderen Worten: Außer vielleicht, wenn eine Norm ausdrücklich tatbestandlich nur für „Ausnahmefälle“ gelten soll, kann man die Feststellung, ob und vor allem inwieweit einer Norm Ausnahmecharakter zukommt, im Grunde erst nach Bestimmung ihres Regelungsumfangs ermessen, nicht hingegen kann man den zu bestimmenden Regelungsumfang abhängig machen von einem im übrigen noch nicht dargetanen „Ausnahmecharakter“. Somit läßt sich aus einem vermeintlichen „Ausnahmecharakter“ des Art. 15 GG nicht auf eine bestimmte, enge Auslegung seines Tatbestandsmerkmals „Produktionsmittel“ schließen. Vielmehr kann sich erst nach einer unabhängig hiervon vorzunehmenden Bestimmung des Umfangs des Begriffes „Produktionsmittel“ erweisen, inwieweit auf Grundlage von Art. 15 GG „ausnahmsweise“ Überführungen in Gemeinwirtschaft („Sozialisierungen“) denkbar sind. (dd) Teleologische Auslegung (a) Sinn und Zweck von „Sozialisierungen“ im Sinne des Art. 15 GG Zuletzt verbleibt, die Reichweite des Begriffes „Produktionsmittel“ teleologisch, also aus dem Sinn und Zweck des Art. 15 GG heraus zu ermitteln. Art. 15 GG regelt die Überführung von privatwirtschaftlichen Bedarfsdekkungseinheiten in Formen der Gemeinwirtschaft. Wie bereits dargelegt, versteht man unter „Gemeinwirtschaft“ eine Form der Fremdbedarfsdeckung, die unmittelbar auf die optimale Deckung eines Bedarfs der Allgemeinheit abzielt und insoweit nicht primär privatnützig, d. h. nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet, sondern ganz vornehmlich gemeinnützig orientiert ist. Die insoweit prägende Gemeinwohlorientierung, welche sich an sich bereits aus dem Charakter der Gemeinwirtschaft selbst ergibt, wird nochmals verstärkt dargelegt durch die in Art. 15 GG enthaltene Formulierung, nach welcher Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ in Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können: Denn da Art. 15 GG gerade

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nicht aus der Tradition und Gedankenwelt des Sozialismus heraus auszulegen ist1577, meint der mit „Sozialisierung“ synonyme Begriff „Vergesellschaftung“ nicht im sozialistisch-ideologischen Sinne die vollständige Etablierung einer „neuen“, nicht auf Privateigentum basierenden Wirtschaftsordnung, sondern in einem allgemeineren Sinne bezeichnet er die „Umwidmung“ privater Eigentumspositionen durch die Abkopplung von eigennützigen Gewinnerzielungsabsichten zugunsten einer nicht gewinnorientierten Eigentumsnutzung im Interesse der Allgemeinheit bzw. des Gemeinwohls; die Güter bzw. ihre Nutzung sollen nicht mehr dem individuellen Nutzen des Eigentümers dienen, sondern unmittelbar der gesellschaftlichen Bedarfsdeckung oder der Verfolgung sonstiger Gemeinwohlziele.1578 Mit diesem Inhalt hat die Formulierung „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ letztlich keinen eigenständigen, über den Inhalt von „Gemeinwirtschaft“ hinaus gehenden Gehalt.1579 Vielmehr dient sie „lediglich der deutlichen Fixierung des verfassungsmäßigen Überführungsziels“1580 in Gestalt einer unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung1581. Der vom Grundgesetz mit Art. 15 GG verbundene Zweck ist also – zumindest ganz grundsätzlich – die Einräumung der Möglichkeit für den Gesetzgeber, unter bestimmten Voraussetzungen auf Privateigentum zuzugreifen, um dieses zum Zweck einer unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung der Allgemeinheit, sprich gemeinwirtschaftlich einzusetzen. Maßgebliches Motiv für die Etablierung einer unmittelbar gemeinwohlorientierten Wirtschaftsform kann dabei nur das Bestehen gewisser „Mängel“ einer privatwirtschaftlich durchge1577

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). Siehe etwa Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2309; Helmut Rittstieg, in: Denninger/HoffmannRiem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/ 15 Rn. 245; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 11; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 24. 1579 Ausdrücklich Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311; Helmut Rittstieg, in: Denninger/HoffmannRiem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/ 15 Rn. 245; vgl. auch Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 7, 11. 1580 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311. 1581 Andere Überführungsziele sind daher ausgeschlossen bzw. nicht von Art. 15 GG „gedeckt“, wie etwa rein fiskalische Ziele (z. B. die Überführung eines Privatunternehmens in ein erwerbswirtschaftliches Unternehmen der öffentlichen Hand; siehe Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 12 m. w. N.), die Umverteilung von Eigentum unter Privaten (wie im Falle einer Bodenreform; siehe Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 69; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 6) oder der „Umsturz der Gesellschaftsordnung“ (Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311). 1578

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führten und damit ganz primär auf der Triebfeder des Gewinnstrebens basierenden Bedarfsdeckung der Bevölkerung sein, die sich für das Gemeinwohl aus den Eigenheiten einer privatwirtschaftlich organisierten Bedarfsdeckung ergeben.1582 Zwar sind bei einer privatwirtschaftlich durchgeführten Bedarfsdekkung individueller und kollektiver Nutzen in der Regel deckungsgleich, weil das unmittelbar privatnützige Wirtschaften zu einer wirtschaftlich rationellen und damit dauerhaft leistungsfähigen Güterproduktion führt; die öffentliche Bedarfsdeckung wird hier also mittelbar durch Instrumentalisierung des Gewinnstrebens erreicht, weil sie Mittel zum Zweck der privaten Nutzenmaximierung ist.1583 Gleichwohl können im Rahmen der demzufolge nur mittelbar gemeinnützigen, unmittelbar aber privatnützigen Privatwirtschaft individueller Nutzen und Kollektivnutzen auch auseinanderfallen1584. Bei Zugrundelegung eines natürlichen, realen und nicht bloß ideellen (oder idealen) Menschenbildes wird aber in den Momenten, in welchen kollektiver und individueller Nutzen gegenläufig sind, der Einzelne (Private) sich immer für die Befolgung der den individuellen Nutzen bewirkenden Option entscheiden, so daß „der Gegensatz von individueller Nutzenmaximierung und kollektivem Nutzen, von individueller und kollektiver Rationalität realistischerweise auf freiwilliger Grundlage nicht zu überwinden ist“1585. Der einzig realistische Sinn von Art. 15 GG besteht vor diesem Hintergrund darin, dem Staat zu ermöglichen, auf die in dieser Norm beschriebenen Weise einzugreifen zu können, wenn die von der Privatwirtschaft organisierte Bedarfsdeckung nicht mehr auf eine Art und Weise funktioniert, welche im Hinblick auf das Gemeinwohl wünschenswert wäre – und wenn eine gemeinwohlkonforme Bedarfsdeckung letztlich nur noch durch eine gemeinwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaftseinheiten erreicht werden kann, welche als Leitmotiv nicht Privatnützigkeit resp. Gewinnstreben und das Rationalitätsprinzip hat, sondern dies um der Ermöglichung einer umfassenden Bedarfsdeckung willen gegebenenfalls hinten an stellt.1586 Gemeinwohltangierende „Mängel“ privatwirtschaftlicher Güterbereitstellung als Auslöser für den Einsatz der Instrumentarien des Art. 15 GG liegen dabei aber nicht schon in jeder Beeinträchtigung einer umfassenden Bedarfsdeckung mit beliebigen Gütern: denn der umfassende sozialistische Ansatz einer gleich1582 Siehe Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 261 f.; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (275 ff.); vgl. Theodor Maunz, in Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 7; Helmut K. J. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 124 (140). 1583 Siehe Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 16. 1584 Siehe näher sogleich im Nachfolgenden. 1585 Christof Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 269. 1586 Deutlich in diese Richtung den „Zweck“ des Art. 15 GG interpretierend vor allem auch Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 261 f., 263 f.

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mäßigen und bedürfnisorientierten Verteilung sämtlicher Güter unter Nivellierung von Wohlstandsunterschieden liegt der „Sozialisierungsermächtigung“ des Art. 15 GG gerade nicht zugrunde, da er nicht aus der Theorie des Sozialismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung heraus zu interpretieren ist1587. Vielmehr ist Art. 15 GG als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips1588 und damit von dessen Zielsetzung der Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger1589 zu verstehen, so daß die Funktion des Art. 15 GG nur darin bestehen kann, die umfassende Bedarfsdeckung mit elementar notwendigen, im öffentlichen Interesse liegenden Gütern zu gewährleisten, sofern dies durch privatwirtschaftlich operierende Wirtschaftseinheiten nicht hinreichend geschieht oder geschehen kann. Nicht hingegen soll Art. 15 GG dazu herhalten, auch für die sozial Schwachen bestimmte Luxusgüter oder zumindest wünschenswerte, aber für die Ermöglichung eines menschenwürdigen, selbstbestimmten Lebens nicht unbedingt erforderlich Güter „erschwinglich“ zu machen1590. Im Hinblick auf solche, für die Führung eines menschenwürdigen, selbstbestimmten Daseins elementar notwendige Güter (etwa Nahrung, Wohnraum, Energie, Gesundheitsversorgung etc.) kann die Bedarfsdeckung durch privatwirtschaftliche Produktion oder Bereitstellung vor allem insoweit gestört oder „mangelbehaftet“ sein, als die nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Rationalität und der Gewinnmaximierung kalkulierten Preise vor allem für finanziell schwächere Bevölkerungsteile nicht bezahlbar sind – etwa aufgrund einer besonderen Knappheit dieser Güter oder der für sie benötigten Grundstoffe und aufgrund der damit verbundenen hohen Produktions- bzw. Bereitstellungskosten oder der Möglichkeit, aufgrund einer im Vergleich zum (knappen) Angebot besonders hohen Nachfrage entsprechend hohe Preise zu erzielen.1591 Für solche Fälle nun, in denen wegen der privatwirtschaftlichen Logik bestimmte, elemen1587

Siehe bereits oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). Betonung der sozialstaatlichen Dimension des Art. 15 GG etwa durch Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (110); Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 21; vgl. auch Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (282 f.). 1589 Siehe insoweit zum Sozialstaatsprinzip etwa BVerfGE 82, S. 60 (80); siehe ferner auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) aa). 1590 Dieser „sozialistische“ Ansatz ist obsolet, siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). 1591 Ähnliche Beispiele bei Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 261; siehe zu einem diesbezüglichen, modellhaften Beispiel im Hinblick auf das Gut „medizinische Versorgung“ sehr anschaulich Wolfgang Kersting, Gerechtigkeit und Verantwortung in der sozialen Krankenversicherung, RPG 2003, S. 3 (4 ff.), mittels welchem er zugleich zu verdeutlichen sucht, warum die Versorgung mit diesem Gut großteilig der gemeinwirtschaftlich operierenden „Sozialversicherung“ anvertraut wurde bzw. anzuvertrauen ist. 1588

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tar notwendige Güter für die Allgemeinheit nicht mehr hinreichend erschwinglich sind, bietet Art. 15 GG eine Lösung, indem er nämlich dem auf das Gemeinwohl verpflichteten Staat die grundsätzliche Möglichkeit offeriert, die zur Bedarfsdeckung notwendigen und bis dahin privatwirtschaftlich genutzten Ressourcen („Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“) in eine Wirtschaftsform (Gemeinwirtschaft) zu überführen, die unmittelbar der gemeinnützigen, für alle Bevölkerungsteile erschwinglichen Bedarfsdeckung hinsichtlich elementarer Güter verpflichtet ist, indem sie auf Gewinnerwirtschaftung verzichtet und gegebenenfalls Erwägungen strikter wirtschaftlicher Rationalität zurücktreten läßt hinter das Ziel der bedürfnisgerechten, an die Leistungsfähigkeit des bzw. der Einzelnen angepaßten Güterbereitstellung und -verteilung für jedermann. (b) Konsequenzen für den Begriff „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG Liegt in dem soeben Ermittelten (und nicht in der Umsetzung real gescheiterter Ideologien) der Sinn und Zweck der „Sozialisierungsermächtigung“ des Art. 15 GG, so stellt sich nun die Frage, was dies für die Auslegung bzw. den inhaltlichen Umfang des in ihm enthaltenen Tatbestandsmerkmals „Produktionsmittel“ bedeutet. Der Staat ist „für das moderne Denken diejenige soziale Institution, die ausschließlich der Idee des Gemeinwohls verbunden ist, wenn man ihn nicht sogar als die Wirklichkeit der sittlichen Idee versteht“1592, wohingegen der einzelne Private natürlicherweise ganz primär seinem eigenen Wohl verbunden ist. Ist die Bereitstellung von Gütern grundsätzlich Privaten überlassen und folgt sie damit in natürlicher Weise privatnützigen Mechanismen (wie etwa dem für die Privatwirtschaft charakteristischen Gewinnstreben), ist die Beseitigung von gegebenenfalls auftretenden, oben beschriebenen „Mängeln“ in der umfassenden Verfügbarmachung von (elementar notwendigen) Gütern im Gemeinwohlinteresse Sache des Staates. Hierzu kommt einerseits in Betracht, die Privatwirtschaft mittels entsprechender gesetzlicher Vorgaben „sozial zu binden“, also die reinen Privatwirtschaftsmechanismen sozial abzufedern (z. B. durch Kontrahierungszwang oder gewisse Einschränkungen der Kalkulationsfreiheit), ohne hierbei aber deren Charakter als Privatwirtschaft vollständig zu beseitigen. Soweit dies jedoch nicht ausreichend erscheint, weil im Grundsatz immer noch nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen (Gewinnstreben, Rationalität) gewirtschaftet wird, kommt zudem die Etablierung einer gemeinwirtschaftlichen Bedarfsdekkung in Betracht. Im Hinblick auf Letzteres hat der Staat nun grundsätzlich zwei Möglichkeiten: entweder, er übernimmt die gemeinwirtschaftliche Bedarfs1592 Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (287).

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deckung von vornherein selbst, indem er staatliche Bedarfsdeckungseinheiten errichtet, die nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen arbeiten (so im Bereich des Gutes „Gesundheitsversorgung/Absicherung gegen Krankheit“ geschehen durch die Schaffung der staatlichen Institution „gesetzliche Krankenversicherung“), oder er instrumentalisiert privatwirtschaftliche Bedarfsdeckungseinheiten, indem er sie zu gemeinwirtschaftlichen „umfunktioniert“. Für letzteres gibt ihm Art. 15 GG die dort geregelten Instrumente an die Hand: Entweder, der Staat beseitigt private Eigentumsrechte an u. a. „Produktionsmitteln“ und überführt sie in „Gemeineigentum“ (Staats- bzw. Gesellschafts-/Kollektiveigentum), oder er überführt diese in „andere Formen der Gemeinwirtschaft“, d. h. er bindet – unter formaler Belassung der privaten Eigentumsposition – die Nutzungsbefugnisse an den „Produktionsmitteln“ etc. derart, daß fortan eine gemeinwirtschaftliche Nutzung sichergestellt ist. Da der Staat somit die gemeinwirtschaftliche Produktion auch selbst resp. durch Aufhebung der privaten Eigentumsverhältnisse bewerkstelligen kann, könnte dies für die Auslegung des Art. 15 GG bedeuten, daß der Staat zur Ermöglichung einer von ihm durchgeführten Gemeinwirtschaft auf solche – und nur auf solche – Produktionsmittel etc. soll Zugriff nehmen dürfen, die er selbst nicht ohne weiteres verfügbar hat oder für sich selbst nicht ohne weiteres verfügbar machen kann außer eben durch Zugriff auf bereits in Privateigentum vorhandene Produktionsmittel etc. Dies könnte für eine Begrenzung der Sozialisierungsgüter des Art. 15 GG auf gegenständlich begrenzte, sprich knappe, nicht ohne weiteres vermehrungsfähige Sozialisierungsgüter sprechen, da solche der Staat nicht (oder nicht in ausreichendem Maße) bereitstellen oder schaffen kann. Jedenfalls angesichts der knappen, nicht vermehrungsfähigen Güter „Grund und Boden“ und „Naturschätze“ wäre eine solche Auslegung durchaus einsichtig. Aber auch im Hinblick auf den Sozialisierungsgegenstand „Produktionsmittel“ könnte dies für eine enge, insbesondere Dienstleistungen nicht umfassende Auslegung sprechen, da Dienstleistungen als solche prinzipiell nicht gegenständlich begrenzt sind, sondern je nach Arbeitsaufwand in nahezu beliebiger Weise bereitgestellt werden können. Man könnte also anders ausgedrückt argumentieren, daß der Staat mangels gegenständlicher Begrenztheit Dienstleistungen auch ohne weiteres selbst bereitstellen kann (wie dies etwa der Dienstleistung „Krankenversicherung“ durch die gesetzliche Krankenversicherung geschieht), so daß es insoweit eines Zugriffs auf privatwirtschaftliche Dienstleistungs-/Versicherungsunternehmen überhaupt nicht bedarf und der Begriff „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG solche daher auch nicht umfaßt. „Produktionsmittel“ wären damit nach Sinn und Zweck des Art. 15 GG nur solche, die der gegenständlichen Produktion dienen, nicht hingegen solche, die bei der Bereitstellung von Dienstleistungen o. ä. zum Einsatz kommen. Eine dergestalt begründete Verengung des Begriffes „Produktionsmittel“ erschiene allerdings nur auf den ersten Blick überzeugend. Denn abgesehen da-

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von, daß hiermit der Fokus weniger auf den Begriff „Produktionsmittel“ als vielmehr auf die damit erzeugten „Produkte“ gerichtet würde, liefe dies auf die rein schematische Behauptung hinaus, daß der Staat gegenständliche Produkte niemals, Dienstleistungen hingegen immer selbst bereitstellen kann. Aber auch zur Bereitstellung von Dienstleistungen bedarf es gewisser „Produktionsmittel“ wie jedenfalls Immobilien, Büroeinrichtungen, Computer und Software, Logistik etc. Geht man davon aus, daß der Staat solche Einsatzmittel sich ohne weiteres selbst (etwa durch Kauf) beschaffen und damit dann die Dienstleistung durch Einsatz durch Einsatz von Arbeitskraft und Kapital bereitstellen kann, ist nicht einsichtig, warum der Staat dies nicht auch hinsichtlich jedenfalls einfach zu produzierender gegenständlicher Produkte soll bewerkstelligen können, sofern dies mittels „handelsüblich“ zu erwerbender Produktionsmittel möglich wäre. Die Notwendigkeit zum Zugriff auf „fremde“ Produktionsmittel ergäbe sich auch bei gegenständlicher Produktion im Grunde erst dann, wenn es sich hierbei um auf speziellem, nicht frei zugänglichem Know-How basierende oder etwa patentrechtlich geschützte Produktionsmittel handeln würde. Und umgekehrt wiederum erscheint es auch nicht ausgeschlossen, daß etwa zur Bereitstellung bestimmter, insbesondere höherwertiger Dienstleistungen ebenfalls bestimmte „Produktionsmittel“ benötigt werden, die der Staat sich nicht in „handelsüblicher“ Weise verschaffen kann, wie etwa spezielle Computerprogramme, spezielle Maschinen, spezielle Patente oder ein spezielles unternehmerisches Know-How. Sofern man also den Umfang der sozialisierungsfähigen Gegenstände in Art. 15 GG teleologisch von vornherein allein auf solche „Produktionsmittel“ etc. beschränken wollte, die der Staat zur Bewerkstelligung einer vom ihm (oder gesellschaftlichen Kollektiven) durchgeführten gemeinwirtschaftlichen Güterbereitstellung nicht abseits der Wege des Art. 15 GG erlangen kann, erscheint es nicht überzeugend, zwischen Produktionsmitteln zur gegenständlichen Produktion und solchen zur Bewerkstelligung von Dienstleistungen zu differenzieren und letztere aus dem Produktionsmittelbegriff in Art. 15 GG auszuschließen. Ferner ist zu bedenken, daß eine solche Argumentation überhaupt nur im Hinblick auf Gemeinwirtschaftsformen Geltung beanspruchen könnte, bei denen der Staat die gemeinwirtschaftliche Produktionen durch Enthebung der Privaten aus der Eigentümerposition „an sich zieht“ und selbst durchführt (also in erster Linie bei der Überführung in Gemeineigentum), da nur hierbei der Aspekt der notwendigen Beschaffung von Produktionsmitteln durch den Staat überhaupt zum Tragen käme. Wie bereits dargelegt1593, umfaßt Art. 15 GG aber auch die Möglichkeit zur Überführung in „andere Formen der Gemeinwirtschaft“, bei denen das Eigentum zumindest formal in privaten Händen verbleibt und „nur“ die Nutzungsbefugnisse sozialisiert werden. 1593

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (1) (c).

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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Überdies dürfte in einzelnen Bereichen auch schon die Abgrenzung zwischen „gegenständlicher Produktion“ und „Dienstleistung“ schwierig, vielleicht sogar fließend sein: Ist beispielsweise die kommerzielle Energieerzeugung und -bereitstellung (Strom etc.) eine Dienstleistung oder handelt es sich hierbei um gegenständliche Produktion? Angesichts zunehmender Energieknappheit und -verteuerung jedenfalls dürfte sich der eben ermittelte Zweck von Sozialisierungen zukünftig durchaus auch für den Energiesektor als einschlägig erweisen können, selbst wenn hierin „nur“ eine Dienstleistung zu erblicken wäre – was angesichts des Telos von Art. 15 GG ebenfalls eher für einen weiten als für einen engen Produktionsmittelbegriff spricht. Eine Eingrenzung der Sozialisierungsfähigkeit von Unternehmen kann insoweit nicht schon beim Begriff „Produktionsmittel“ ansetzen, sondern sich nur aus anderen materiellen Gesichtspunkten ergeben, die im Rahmen des Art. 15 GG zu beachten sind1594 – wie etwa den gemeinhin geforderten Kriterien der Sozialisierungseignung und -reife der betroffenen Unternehmen1595. Insgesamt ist somit davon auszugehen, daß Art. 15 GG im oben beschriebenen Sinne die grundsätzliche Möglichkeit eröffnen soll, hinsichtlich jeglicher Güter, mit denen eine umfassende und bedürfnisgerechte Bedarfsdeckung im öffentlichen Interesse liegt, gegebenenfalls eine gemeinwirtschaftliche und damit unmittelbar gemeinwohlorientierte Bereitstellung zu bewerkstelligen. Eine einengende Interpretation des Begriffes „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG, mittels welcher bestimmte Produktionsmittel zur Herstellung bestimmter Güter wie Dienstleistungen von vornherein ausgenommen wären, ist aus dieser Zweckbestimmung des Art. 15 GG heraus weder geboten noch überzeugend1596. (ee) Ergebnis der Auslegung Wie gezeigt, spricht bereits die Wortlautauslegung eher für ein weites als für ein enges Verständnis des Begriffes „Produktionsmittel“. Während aus historisch-genetischer und systematischer Auslegung keine weiteren Erkenntnisse für den Umfang des Begriffes gewonnen werden können, stützt gerade auch die teleologische Auslegung die Annahme eines weiten Begriffsverständnisses, so 1594 Vgl. Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 19. 1595 Siehe näher hierzu noch 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (c). 1596 Vgl. Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (250): Er hält „die Herausnahme der Banken und Versicherungen aus dem Anwendungsbereich des Art. 15 GG für unvertretbar. Sie ist wohl nur aus der Abneigung der betreffenden Autoren gegen die Sozialisierung erklärbar. Diese Abneigung mag gute Gründe haben. Aber sie rechtfertigt nicht Interpretationskünste oder -kunststücke, die juristisch und ökonomisch nicht haltbar sind.“

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

daß der Begriff „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG jegliche Produktionsmittel zur Bereitstellung von wirtschaftlichen Güter einschließlich Dienstleistungen umfaßt1597. (3) Ergebnis hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG Da der Produktionsmittelbegriff in Art. 15 resp. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG nach dem hier ermittelten Ergebnis weit zu verstehen ist und insbesondere auch Unternehmen umfaßt, die Dienst- bzw. Versicherungsleistungen „produzieren“, kann für die vorliegend untersuchten Konstellationen der Übertragung von sozialversicherungsähnlichen Strukturen auf die Privatversicherung, durch welche die betreffenden Unternehmen in eine Form der Gemeinwirtschaft überführt werden1598, auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG gestützt werden. (4) Exkurs: Materielle Schranken für die Überführung in Gemeinwirtschaft nach Art. 15 GG Kann eine zur Überführung in Gemeinwirtschaft gemäß Art. 15 GG führende Überbürdung sozialversicherungsähnlicher Strukturen auf die Privatversicherung kompetenzrechtlich auf die Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG gestützt werden, resultieren hieraus zugleich besondere materielle Vorgaben, die im Rahmen von Art. 15 GG für die damit verbundenen Eingriffe in Art. 12 und 14 GG gelten.1599 Um den Problemkomplex Art. 15/74 Abs. 1 1597 Im Ergebnis ebenso Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 66 f.; Karl August Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen öffentlich-rechtlicher Anstalten insbesondere bei der Gebäudefeuerversicherung, WiR 1973, S. 184/241 (249 f.); Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 18; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 3; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 248; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 23; vgl. auch Günter Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, S. 8; Herbert Scholtissek, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, BB 1952, S. 981 (983). 1598 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (1) (c) (bb). 1599 Siehe zu den „allgemeinen“, d. h. abseits von Art. 15 GG bestehenden, materiellen Grundrechtsproblemen hinsichtlich Art. 12 und 14 GG, die aus den „privatwirtschaftseliminierenden“ Regelungen des Basistarifs resultieren, Helge Sodan, Verpflichtende Basistarife in der privaten Krankenversicherung als Verfassungsproblem, in: Staat im Wort – Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 983 (991 ff.); ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007 – Verfassungs- und europarechtliche Probleme des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes, 2006, S. 75 ff.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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Nr. 15 GG geschlossen zu untersuchen, sollen diese materiellen Besonderheiten hier im Rahmen eines materiellen Exkurses zumindest kurz erörtert werden, auch wenn der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung materielle Grundrechtsfragen an sich nicht umfaßt. Seinem Wortlaut nach stellt Art. 15 GG für Sozialisierungen zwei besondere materielle Voraussetzungen auf. Erstens, dürfen Sozialisierungen nur „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ erfolgen. Und zweitens, dürfen sie nur vorgenommen werden „durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt“; Sozialisierungen sind demzufolge nur gegen Gewährung einer Entschädigung zulässig und dürfen zudem nicht – anders als etwa Enteignungen im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG – „aufgrund eines Gesetzes“ erfolgen. Als weitere materielle Einschränkung wird in der Literatur zudem vielfach eine „Sozialisierungsreife“ oder „Sozialisierungseignung“ der betroffenen Unternehmen gefordert1600. (a) Zum Zwecke der Vergesellschaftung Dem Wortlaut des Art. 15 GG nach darf eine Sozialisierung nur „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ erfolgen. Wie bereits zuvor dargelegt1601, wird damit die für jede „Überführung in Gemeinwirtschaft“ prägende Gemeinwohlorientierung, welche sich im Grunde bereits aus dem Charakter der Gemeinwirtschaft selbst ergibt, nochmals besonders betont. Denn da Art. 15 GG gerade nicht aus der Tradition und Gedankenwelt des Sozialismus heraus auszulegen ist1602, meint der mit „Sozialisierung“ synonyme Begriff „Vergesellschaftung“ nicht im sozialistisch-ideologischen Sinne die vollständige Etablierung einer „neuen“, nicht auf Privateigentum basierenden Wirtschaftsordnung, sondern in einem allgemeineren Sinne bezeichnet er die „Umwidmung“ privater Eigentumspositionen durch die Abkopplung von eigennützigen Gewinnerzielungsabsichten zugunsten einer nicht gewinnorientierten Eigentumsnutzung im Interesse der Allgemeinheit bzw. des Gemeinwohls; die Güter bzw. ihre Nutzung sollen nicht mehr dem individuellen Nutzen des Eigentümers dienen, sondern unmittelbar der gesellschaftlichen Bedarfsdeckung oder der Verfolgung sonstiger Gemeinwohlziele.1603 Mit diesem Inhalt hat die Formulierung „zum Zwecke der Verge1600 Siehe dazu etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 16; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2317 f.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 34. 1601 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (2) (b) (dd). 1602 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). 1603 Siehe etwa Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2309; Helmut Rittstieg, in: Denninger/HoffmannRiem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

sellschaftung“ letztlich keinen eigenständigen, über den Inhalt von „Gemeinwirtschaft“ hinaus gehenden Gehalt.1604 Vielmehr dient sie „lediglich der deutlichen Fixierung des verfassungsmäßigen Überführungsziels“1605 in Gestalt einer unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung. Andere Überführungsziele sind daher ausgeschlossen bzw. nicht von Art. 15 GG gedeckt, wie etwa rein fiskalische Ziele (z. B. die Überführung eines Privatunternehmens in ein erwerbswirtschaftliches Unternehmen der öffentlichen Hand)1606, die Umverteilung von Eigentum unter Privaten (wie im Falle einer Bodenreform)1607 oder der „Umsturz der Gesellschaftsordnung“1608. Die gesetzliche Überbürdung von gemeinwirtschaftlichen sozialversicherungsähnlichen Strukturen der oben genannten Art auf die Privatversicherung hält sich im Rahmen dieser von Art. 15 GG vorgezeichneten Zwecksetzung, weil sie zum Ziel hat, ein bestimmtes Wirtschaftsgut, hier die Dienst- bzw. Versicherungsleistung „Absicherung im Krankheitsfall“ von privatwirtschaftlichen Strukturen abzulösen, um eine bedarfsgerechte „Erschwinglichmachung“ dieses für die persönliche Lebensführung elementaren Wirtschaftsgutes für jedermann, insbesondere auch für wirtschaftlich Schwächere, zu gewährleisten; insoweit ist dies die gleiche Zielsetzung, die der Gesetzgeber auch mit der gesetzlichen Krankenversicherung verfolgt1609. (b) Durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt Gemäß Art. 15 (S. 1) GG ist eine Sozialisierung nur durch ein Gesetz möglich, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt; für die Entschädigung gilt 15 Rn. 245; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 11; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 24. 1604 Ausdrücklich Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311; Helmut Rittstieg, in: Denninger/HoffmannRiem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/ 15 Rn. 245; vgl. auch Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 7, 11. 1605 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311. 1606 Siehe etwa Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 12 m. w. N. 1607 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 69; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 6. 1608 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311. 1609 Siehe ausführlich zu dieser Zielsetzung der Sozialversicherung oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (aa) und (bb).

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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Art. 14 Abs. 3 S. 3 und 4 GG entsprechend (Art. 15 S. 2 GG). Wie in Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG für Enteignungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG besteht somit eine Junktimklausel auch hinsichtlich Sozialisierungen nach Art. 15 GG – mit der Folge, daß Gesetze, welche eine Sozialisierung durch Überführung in Gemeinwirtschaft bewirken, bereits allein wegen des Fehlens einer Entschädigungsregelung verfassungswidrig sind1610. (aa) Pflicht zur Entschädigung und deren Reichweite Dem eindeutigen Wortlaut des Art. 15 S. 1 GG nach besteht das Entschädigungserfordernis für sämtliche Arten der Sozialisierung, mithin nicht nur für Überführungen in Gemeineigentum, sondern auch für Überführungen in andere Formen der Gemeinwirtschaft. Während der Großteil des Schrifttums hierin keinerlei Problem zu erblicken scheint und dies jedenfalls nicht weiter problematisiert, wird vereinzelt bestritten, daß das Entschädigungserfordernis für sämtliche unter Art. 15 GG fallenden Sozialisierungsmaßnahmen bestehe1611: Die dem Entschädigungserfordernis für Enteignungen nach Art. 14 GG nachgebildete Regelung in Art. 15 GG könne vielmehr nur für vergleichbare Eigentumsentziehungen gelten. Da aber die „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ im Gegensatz zum „Gemeineigentum“ solche sind, durch welche das Privateigentum gerade nicht entzogen wird, sondern dem Eigentum „nur“ gesetzliche Bindungen gemeinwirtschaftlicher Art auferlegt werden1612, könne das Erfordernis einer Entschädigung – für welches zumal die Regelungen des Art. 14 Abs. 3 S. 3 und 4 GG „entsprechend“ Anwendung finden – entweder ausschließlich für Überführungen in Gemeineigentum gelten1613 oder darüber hinaus gehend hinsichtlich der Überführungen in andere Formen der Gemeinwirtschaft nur dann, wenn diese – trotz formeller Belassung der Eigentumsposition beim bisherigen privaten Eigentümer – „materiell eine Eigentumsentziehung darstellen, wenn nämlich die wirtschaftliche Substanz des Privateigentums vernichtet oder erheblich beeinträchtigt wird“1614. Begründet wird diese vom klaren Wortlaut des Art. 15 GG abweichende Sichtweise vor allem mit einem vermeintlichen Redaktionsversehen des Verfassungsgebers: Ursprünglich nämlich regelte Art. 15 GG nur die 1610 Siehe näher zur Junktimklausel die diesbezüglichen Kommentierungen im Rahmen von Art. 14 GG, etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 14 Rn. 437 ff. 1611 Siehe Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 175; Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (112 ff.). 1612 Siehe ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (1) (c). 1613 So Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (113). 1614 So Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 175.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

„Überführung in Gemeineigentum“, während für Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG bereits die weitere Fassung einschließlich der „anderen Formen der Gemeinwirtschaft“ vorgesehen war, um zu „erreichen, daß neben dem Gemeineigentum im gegebenen Fall andere Formen der Gemeinwirtschaft zulässig sind“1615. Daraufhin war Art. 15 GG an den bereits weiter gefaßten Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG redaktionell angeglichen worden, indem er um den Zusatz „oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ erweitert wurde.1616 Hierbei habe es der Verfassungsgeber schlichtweg übersehen, daß sich das bis dato für die Überführungen in Gemeineigentum vorgesehene Entschädigungserfordernis nach dem Wortlaut des Art. 15 GG nunmehr auch auf die Überführungen in andere Formen der Gemeinwirtschaft erstreckt.1617 Von einem solchen vermeintlichen Redaktionsversehen kann allerdings kaum ernsthaft ausgegangen werden: Zum einen überzeugt schon nicht die Annahme, der Verfassungsgeber – dem man bei seiner Arbeit getrost eine gewisse Sorgfalt unterstellen darf – habe sich bezüglich einer derart gravierenden Sachfrage wie der Entschädigungspflicht und angesichts einer derart klar und übersichtlich formulierten Norm wie Art. 15 GG einfach nur geirrt und übersehen, welche rechtlichen Folgewirkungen mit der vorgenommenen redaktionellen Angleichung des Art. 15 GG verbunden sind. Und auch die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes stützen diese Annahme nicht: So hatte etwa Hermann v. Mangoldt bei den Beratungen zu dieser redaktionellen Angleichung des Art. 15 GG zu bedenken gegeben, „daß eine Überführung in Gemeinwirtschaft ohne Enteignung [sprich: ohne Überführung in Gemeineigentum, m. a.W. also eine ,andere Form der Gemeinwirtschaft‘] dennoch eine so weitgehende Entziehung des Eigentums bedeute, daß sie mit einer Enteignung gleichbedeutend wäre“1618. Die Formulierung dieser Bedenken gegen eine Beschränkung des Art. 15 GG bloß auf Fälle der „Überführung in Gemeineigentum“ spricht aber eher dafür, daß es für sachgemäß gehalten wurde, das Entschädigungserfordernis gerade auch hinsichtlich der Überführung „in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ zu etablieren. Für die Annahme eines Redaktionsversehens ist insoweit kein Raum. Zur Begründung einer möglichen Einschränkung des Entschädigungserfordernisses in Art. 15 GG überzeugt ferner nicht der Hinweis darauf, daß Art. 15 S. 2 GG die Regelungen des Art. 14 Abs. 3 S. 3 und 4 GG für „entsprechend“ an1615 Siehe Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 158. 1616 Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 158; siehe auch Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (114). 1617 So Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (114 f.). 1618 Siehe bei Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 157.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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wendbar erklärt1619: denn diese „entsprechende“ Anwendbarkeit bezieht sich lediglich auf den Umfang der Entschädigung, nicht aber auf das Entschädigungserfordernis überhaupt. Aber auch in der Sache ist die vom Wortlaut des Art. 15 GG vorgesehene Erstreckung des Entschädigungserfordernisses auch auf die Überführung in andere Formen der Gemeinwirtschaft nicht in einer Weise unangebracht oder ein dogmatischer Fremdkörper, daß sie etwa zu einer teleologischen Reduktion des Art. 15 GG zwingen würde. Denn wegen der mit einer Überführung in (andere Formen der) Gemeinwirtschaft einhergehenden, sehr weitgehenden Bindung der Nutzungsbefugnisse der in Gemeinwirtschaft überführten Eigentumsgegenstände handelt es sich hierbei regelmäßig um äußerst schwerwiegende Beeinträchtigungen der unternehmerischen Freiheit der Betroffenen und damit von deren Grundrechtspositionen aus Art. 12 und 14 GG. Gerade aber für Beeinträchtigungen des Art. 14 GG ist anerkannt, daß auch Eingriffe unterhalb der Enteignungsschwelle gegebenenfalls aus Verhältnismäßigkeitsgründen Ausgleichspflichten nach sich ziehen können, um verfassungsmäßig zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu festgestellt: „Inhalts- und Schrankenbestimmungen, die für sich genommen unzumutbar wären, aber vom Gesetzgeber mit Ausgleichsmaßnahmen verbunden sind, können ausnahmsweise mit Art. 14 Abs. 1 GG im Einklang stehen. Es ist dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, eigentumsbeschränkende Maßnahmen, die er im öffentlichen Interesse für geboten hält, auch in Härtefällen durchzusetzen, wenn er durch kompensatorische Vorkehrungen unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige Belastungen des Eigentümers vermeidet und schutzwürdigem Vertrauen angemessen Rechnung trägt. Durch einen solchen Ausgleich kann in bestimmten Fallgruppen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer sonst unverhältnismäßigen oder gleichheitswidrigen Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG herbeigeführt werden.“1620 Nichts anderes als solche Ausgleichspflichten ordnet Art. 15 GG auf Verfassungsebene ausdrücklich für bestimmte Inhalts- und Schrankenbestimmungen – nämlich solche, die sich aus einer „Überführung in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ ergeben – an. Die Erstreckung der Entschädigungspflicht auch auf andere Formen der Überführung in Gemeinwirtschaft als diejenigen, die eine Eigentumsentziehung bewirken, kann folglich auch vor diesem Hintergrund nicht als Ausfluß eines Redaktionsversehens angesehen werden – vielmehr läßt sie sich, wie gezeigt, sogar nahtlos in die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Eigentumsdogmatik einfügen.

1619 In diese Richtung aber wohl Hans Peter Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 (115). 1620 BVerfGE 100, S. 226 (244), vgl. ferner BVerfGE 58, S. 137 (149 ff.); 79, S. 174 (192); 83, S. 201 (212 f.); siehe auch etwa Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 42 Rn. 30 f.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

Die von Art. 15 GG angeordnete Entschädigungspflicht besteht somit in Übereinstimmung mit seinem Wortlaut sowohl hinsichtlich der Überführung in Gemeineigentum als auch hinsichtlich der Überführung in andere Formen der Gemeinwirtschaft. Daß grundsätzlich die Überführung in eine andere Form der Gemeinwirtschaft eine weniger intensive Beeinträchtigung als die Überführung in Gemeineigentum darstellt, kann bei der Höhe der Entschädigung Berücksichtigung finden. Werden – wie in den oben beschriebenen Fällen1621 – durch gesetzgeberische Vorgaben sozialversicherungsähnliche Strukturen auf die Privatversicherung übertragen, welche sich als „Überführung in Gemeinwirtschaft“ im Sinne des Art. 15 GG darstellen1622, so besteht demgemäß das Entschädigungserfordernis auch für diese. Sehen die betreffenden gesetzlichen Regelungen keine Entschädigung vor, verstoßen solche gemeinwirtschaftlichen Inpflichtnahmen der Privatversicherung gegen Art. 15 GG und sind somit materiell verfassungswidrig. Keinesfalls als Entschädigung in diesem Sinne zu klassifizieren ist ein Risikoausgleichssystem wie das in § 12g VAG [2009] vorgesehene, welches von Versicherungsunternehmen, die einen Basistarif in der privaten Krankenversicherung anbieten, zu errichten ist und das einen dauerhaften und wirksamen Ausgleich der unterschiedlichen finanziellen Belastungen gewährleisten soll, die für die Privatversicherer aus dieser sozialen Inpflichtnahme resultieren1623. Ein solches Ausgleichssystem stellt keinen von Staat gewährten Ausgleich dar, sondern dient lediglich der gleichmäßigen Verteilung der vom Gesetzgeber vorausgesehenen Belastungen der einzelnen Privatversicherer, die im Basistarif aufgrund von Vorerkrankungen oder zur Gewährleistung der in § 12 Abs. 1c VAG [2009] genannten Begrenzungen entstehen. Die vom Gesetzgeber gesehene Notwendigkeit, zur „Abmilderung“ der eintretenden finanziellen Belastungen ein solches Ausgleichssystem von den betroffenen Privatversicherungsunternehmen untereinander einrichten zu lassen, dokumentiert vielmehr die gesetzgeberische Intention, daß die aus der sozialen Inpflichtnahme resultierenden finanziellen Defizite – welche eigentlich den Grund für die verfassungsrechtlich vorgesehene Entschädigungspflicht (auch) bei Überführungen in andere Formen der Gemeinwirtschaft darstellen – voll und ganz von den betroffenen Unternehmen getragen werden müssen. (bb) Höhe der Entschädigung Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung erklärt Art. 15 S. 2 GG die Sätze 3 und 4 des Art. 14 Abs. 3 GG für entsprechend anwendbar. Demgemäß ist die 1621 1622 1623

Siehe 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3. VI. 3. e) cc) (1) (c) (bb). Ausführlich hierzu siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 2. b).

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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Entschädigung unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen (Art. 15 S. 2 i.V. m. Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG), und wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten offen (Art. 15 S. 2 i.V. m. Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG). Teilweise wird hierbei vertreten, daß für die Sozialisierungsentschädigung von vornherein andere Maßstäbe gelten sollen als für die Enteignungsentschädigung nach Art. 14 Abs. 3 GG, so daß im Ergebnis die Sozialisierungsentschädigung regelmäßig niedriger ausfallen müsse als die Enteignungsentschädigung in vergleichbaren Fällen. Begründet wird diese Sichtweise vor allem in früheren Stellungnahmen damit, daß für die Sozialisierung von vornherein das Motiv der Vermögensumschichtung kennzeichnend sei, so daß anders als bei der Enteignung nicht eine grundsätzlich äquivalente Entschädigung in Betracht komme, sondern nur ein „Billigkeitsausgleich“, der dem Betroffenen unter Würdigung seiner bisherigen Rechtsstellung eine „angemessene Existenz“ ermöglichen soll.1624 Dem kann nicht gefolgt werden: Denn abgesehen davon, daß dieser Sichtweise ein dem Art. 15 GG gerade nicht zukommendes1625 Verständnis als Instrument zur Etablierung einer sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zugrunde liegt1626, zeigt die vom Grundgesetz ausdrücklich gewollte „entsprechende“ Anwendbarkeit der Vorschriften über die Enteignungsentschädigung deutlich, daß gerade kein substantieller Unterschied zwischen den Grundsätzen über die Enteignungsentschädigung und denen über die Sozialisierungsentschädigung bestehen soll1627. Wäre letzteres gewollt gewesen, hätte es sich als naheliegend sowie Leichtes dargestellt, dies durch eine von Art. 14 Abs. 3 S. 3, 4 GG abweichende Regelung deutlich zu machen1628. Ferner kann es auch nicht überzeugen, wenn andere, gegenüber der Enteignungsentschädigung von vornherein geringere Maßstäbe für die Sozialisierungs-

1624

Siehe Helmut K. J. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 124 (144 f.); Werner Weber, Zur Problematik von Enteignung und Sozialisierung nach neuem Verfassungsrecht, NJW 1950, S. 401 (402). 1625 Siehe dazu bereits oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). 1626 Besonders deutlich aber tritt dieses Verständnis bei Werner Weber, Zur Problematik von Enteignung und Sozialisierung nach neuem Verfassungsrecht, NJW 1950, S. 401 (402), zutage, wenn er eine an Äquivalenzgesichtspunkten bemessene Entschädigungshöhe vor allem deswegen ablehnt, weil hierdurch der „politische Zweck“ der Sozialisierung illusorisch würde, da dem Betroffenen dann immer noch die gleiche „wirtschaftliche Machtposition“ zukäme. 1627 Dies verkennt Helmut K. J. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 124 (144 f.), wenn er meint, nichts zwinge dazu, angesichts des Verweisung in Art. 15 Abs. 2 GG auf Art. 14 Abs. 3 und 4 GG „auch den Maßstab für die Angemessenheit der Entwährungsentschädigung einer besseren Erkenntnis zuwider dem Vorgang der Enteignungsentschädigung des Art. 14 zu entnehmen.“ 1628 Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 178.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

entschädigung damit begründet werden, daß Sozialisierungen ansonsten wegen der damit verbundenen finanziellen Belastung der Staatskasse (insbesondere bei Sozialisierung ganzer Gruppen von Eigentümern1629 oder ganzer Wirtschaftszweige) praktisch unmöglich gemacht würden und die Entschädigung insoweit als „Sozialisierungsbremse“ wirkte, was dem Zweck des Art. 15 GG nicht entsprechen könne1630. Denn mit einer solchen Argumentation wird verkannt bzw. negiert, daß Art. 15 GG seiner ganzen Struktur nach Sozialisierungen gerade nur unter besonders engen Voraussetzungen gestattet wissen will und daher die materielle Zulässigkeit von eben den in ihm genannten „Sozialisierungshürden“ abhängig macht – und zu diesen zählt eben auch eine Entschädigung, die kraft des ausdrücklichen Verweises auf Art. 14 Abs. 3 S. 3, 4 GG „entsprechend“ einer Enteignungsentschädigung zu bemessen ist. Insoweit liegt gerade hierin die Bedeutung des Art. 15 GG1631, und „möglicherweise ist gerade die Entschädigungsregelung des Art. 15 Ursache dafür gewesen, daß von tiefgreifenden Wirtschaftsumgestaltungen bisher abgesehen worden ist und wohl auch in der Zukunft abgesehen werden wird“1632. Wenn Art. 15 GG aufgrund seiner Struktur und seiner tatbestandlichen Vorgaben als „Sozialisierungsbremse“ wirkt, dann ist gerade dies die Funktion, die das Grundgesetz ihm beimißt.1633 Im übrigen ist die Behauptung, der Staat könne sich bei einer Entschädigungsbemessung entsprechend der Enteignungsentschädigung nach Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG Sozialisierungen in größerem Umfang nicht „leisten“, weil ihn dies finanziell überfordern würde, zum einen nicht nur viel zu pauschal, sondern zum anderen auch als rein praktische Erwägung überhaupt nicht geeignet, einen

1629

Vgl. dazu auch im Nachfolgenden unter (cc). So aber etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 96 f.; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 22; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 5; Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 252 f.; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 28. 1631 Deutlich Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 2; siehe ferner auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). 1632 Theodor Maunz, a. a. O. 1633 Ausdrücklich Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 18: Funktion als „Sozialisierungsbremse [. . .] ist von der Verfassung gewollt“; vgl. auch Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 153 f.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 2. – A. A. Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 97, der hierin eine „a-historische“ Interpretation des Art. 15 GG sieht. Siehe indes zum bloß sehr eingeschränkten Erkenntniswert der Entstehungsgeschichte des Art. 15 GG für dessen Verständnis bereits oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb) sowie cc) (2) (b) (bb). 1630

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

439

rechtlichen Maßstab für die Bemessung einer Sozialisierungsentschädigung zu liefern1634. Hinsichtlich der Entschädigungshöhe bei Sozialisierungen gelten somit – in Übereinstimmung mit der wohl überwiegenden Meinung im Schrifttum1635 – prinzipiell die gleichen Grundsätze wie für die Enteignungsentschädigung nach Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG1636: Folglich ist dem Betroffenen grundsätzlich ein äquivalenter Ausgleich für den Rechtsverlust zu gewähren, weswegen sich die Entschädigungshöhe prinzipiell – unter Berücksichtigung gewisser Spielräume für die Angemessenheit im Einzelfall – am Verkehrswert zu orientieren hat. Inwieweit hiervon Ausnahmen denkbar sind, muß an dieser Stelle nicht geklärt werden. Bei einer Entschädigung für eine Überführung in eine andere Form der Gemeinwirtschaft ist dabei allerdings zu berücksichtigen, daß anders als bei der Überführung in Gemeineigentum keine Eigentumsentziehung vorliegt.1637 Die Entschädigungshöhe muß hier aber gleichwohl eine angemessene Entschädigung für die stark eingeschränkte Nutzungsbefugnis mit sich bringen, so daß insbesondere die zu erwartenden Defizite bzw. wirtschaftlichen Verluste angemessen auszugleichen sind, welche sich aus einer nicht mehr marktkonformen, sondern nur noch „sozialkonformen“ Kalkulation und Preisgestaltung ergeben. Ausgeglichen werden müßten hierbei zumindest die (zusätzlichen) Defizite oder Einbußen, die sich gegenüber einer noch unterhalb der Sozialisierungsschwelle liegenden und damit prinzipiell nicht ausgleichspflichtigen sozialen Eigentumsbindung ergeben. Die Entschädigung könnte indes entsprechend niedriger ausfallen oder wäre sogar verzichtbar, wenn der Staat von vornherein bestimmte 1634 Dies ausdrücklich konstatierend (obwohl er dann aus anderen Gründen ein Abweichen von den Maßstäben des Art. 14 GG befürwortet) Helmut K. J. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 124 (145), „Daß eine Sozialisierung nach Art. 15 erst bei einem Abgehen von den Entschädigungsmaßstäben des Art. 14 ohne einen Ruin der Staatsfinanzen möglich wird, wäre natürlich, für sich allein genommen, kein Grund, einen anderen Maßstab zu nehmen.“ 1635 Siehe Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 46; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2318; Walter Leisner, Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, in: Isensee (Hrsg.), Walter Leisner – Eigentum, 1996, S. 233 (244 f.); Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 18 f.; vgl. ferner Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 153 f., 177 ff.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 42; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (312). 1636 Siehe ausführlich zu den Maßstäben für die Entschädigungshöhe nach Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 14 Rn. 443 ff. 1637 Siehe auch Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (292).

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

Zuschüsse vorsieht, welche die zu erwartenden Defizite (auch zur Gewährleistung einer dauerhaften wirtschaftlichen Leistungs- und Lebensfähigkeit der betroffenen Unternehmen) abmildern oder ausgleichen sollen – etwa vergleichbar den Zuschüssen, die der Bund nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG zu den Lasten der Sozialversicherung zu tragen hat, mit denen er also gegebenenfalls die in der Sozialversicherung durch deren gemeinwirtschaftliche Ausrichtung eintretenden Defizite aus Steuergeldern ausgleicht oder mildert. Ob man solche staatlichen Zuschüsse dabei als eine Ausgestaltung der Sozialisierung ansieht, die im Rahmen der nach Art. 15 S. 2, 14 Abs. 3 S. 3 GG vorzunehmenden Abwägung eine Entschädigung ausnahmsweise entbehrlich erscheinen läßt, oder man diese Zuschüsse selbst als die Entschädigung im Sinne des Art. 15 GG ansieht, kann dabei dahinstehen. Entfallen kann eine Entschädigung nach dem Prinzip der Vorteilsausgleichung auch dann, wenn (ausnahmsweise) nachweisbar ist, daß die Ausrichtung der betroffenen Unternehmen auf eine unmittelbare Bedarfsdeckung trotz Ausschluß der Gewinnerzielungsabsicht die Ertragslage dieser Unternehmen positiv beeinflußt,1638 was – etwa aufgrund einer gesetzlich angeordneten Pflicht zur Inanspruchnahme der von den sozialisierten Unternehmen bereitgestellten Güter (z. B. Versicherungspflicht) – in Einzelfällen zumindest nicht undenkbar erscheint1639. (cc) Verbot der Administrativsozialisierung Während nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG Enteignungen „durch oder aufgrund eines Gesetzes“ zu erfolgen haben, können nach Art. 15 S. 1 GG Sozialisierungen nur „durch ein Gesetz“ erfolgen. Auf die Möglichkeit zu Sozialisierungen „aufgrund eines Gesetzes“ wurde bei der Schaffung des Art. 15 GG bewußt verzichtet, da man mit der Sozialisierung einen Vorgang im Auge gehabt hat, der sich „durch eine Enteignung ganzer Gruppen von Eigentümern und nicht durch eine individuelle Enteignung einzelner Eigentümer vollzieht“1640. Daher soll die Sozialisierung nur unmittelbar durch Gesetz bewirkt werden können; die rechtliche Bedeutung des Art. 15 GG liegt insoweit darin, „daß hier nicht eine Individual-Enteignung auf Grund eines Gesetzes in dem darin vorgesehenen Verfahren und vermittels eines Verwaltungsaktes oder einer gerichtlichen Einzelentscheidung, sondern eine Gruppenenteignung unmittelbar, aber auch 1638 Helmut Bäumler, Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, GewArch 1980, S. 287 (292). 1639 Vgl. zur insoweit „ambivalenten Grundrechtslage“ der Privatversicherer auch Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (412). 1640 Siehe bei Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 157 f.

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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nur durch Gesetz ermöglicht wird“1641. Administrativsozialisierungen sind damit anders als Administrativenteignungen unzulässig.1642 Nicht gefolgt werden kann allerdings der nicht selten anzutreffenden Ansicht, Art. 15 GG enthalte insoweit eine Ausnahme vom in Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG verankerten Verbot des Einzelfallgesetzes und erlaube daher auch individuellkonkrete Sozialisierungen einzelner Unternehmen unmittelbar durch ein Gesetz1643. Vielmehr stellt Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG einen allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz auf, der für alle in Grundrechte eingreifenden Gesetze gilt; warum dies hinsichtlich Art. 15 GG anders sein soll, erschließt sich nicht.1644 Die in Art. 15 GG angeordnete Beschränkung auf Legalsozialisierungen zwingt keineswegs zum Dispens vom Verbot des Einzelfallgesetzes. Vielmehr verdeutlicht sie, daß von Verfassungs wegen individuelle Sozialisierungen, also das „Herauspicken“ einzelner Unternehmen, gerade von vornherein unzulässig sind1645. In Betracht kommen – neben Maßnahmegesetzen1646 – folglich nur Gruppensozialisierungen, wobei sich allerdings eine Sozialisierung auf bestimmte Gruppen von Unternehmen einer Branche beschränken kann, sofern sie nach abstrakt-generellen Maßstäben bestimmbar ist (z. B. auch nach Größe, wirtschaftlicher Bedeutung, Anzahl der Beschäftigten etc.)1647. Auch die im vorhergehenden Absatz erläuterten Beweggründe für den Verzicht auf die Einräumung der Möglichkeit zu Administrativsozialisierungen belegen, daß Art. 15 GG ganz vornehmlich nur „Gruppensozialisierungen“ erfassen soll. Soweit sich

1641 Siehe bei Werner Matz, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 158. 1642 Allgemeine Ansicht, siehe etwa Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 44; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2316; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 40; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 24. 1643 So aber etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 70, 84; Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 20; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2316; Joachim Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 15 Rn. 29. 1644 Vgl. Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 6. 1645 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 44; siehe auch Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 6. 1646 Siehe näher Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 6. 1647 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 44.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

dies wegen der damit verbundenen Entschädigungslasten für ganze Gruppen von Eigentümern als „Sozialisierungsbremse“ darstellt, ist auch dies gerade von Art. 15 GG gewollt.1648 Die Übertragung sozialversicherungsähnlicher, gemeinwirtschaftsbegründender Strukturen auf die Privatversicherung muß also nicht nur durch Gesetz erfolgen, sondern darf zugleich nicht nur einzelne Unternehmen individuell-konkret betreffen. Vielmehr müssen die betroffenen Unternehmen nach abstraktgenerellen Kriterien bestimmbar sein. Im Hinblick auf die Etablierung eines Basistarifs in der privaten Krankenversicherung ist dies allerdings erfüllt. (c) Sozialisierungseignung, Sozialisierungsreife In Anlehnung an Art. 156 WRV, der die Sozialisierung auf „für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmen“ beschränkte, wird überwiegend – quasi als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal – und im Ergebnis zu recht gefordert, daß nur solche Produktionsmittel zur Sozialisierung in Betracht kommen, die über eine hinreichende „Sozialisierungseignung“ bzw. „Sozialisierungsreife“ verfügen1649, wobei die beiden Begriffe regelmäßig synonym verwendet werden. Danach hängt die „Sozialisierungseignung“ bzw. „Sozialisierungsreife“ jedenfalls von einer gewissen wirtschaftlichen Bedeutung der zu sozialisierenden Unternehmen ab, welche regelmäßig bei Großunternehmen, nicht hingegen bei handwerklichen oder kleinbäuerlichen Betrieben gegeben sein wird1650. Bei genauerer Betrachtung wird man aber sogar noch zwischen „Sozialisierungseignung“ und „Sozialisierungsreife“ unterscheiden müssen. Da legitimes Ziel der Sozialisierung („zum Zwecke der Vergesellschaftung“) eine umfassende, gemeinwohlorientierte, die individuelle Leistungsfähigkeit nicht überfordernde Bedarfsdeckung der Allgemeinheit mit elementar notwendigen Gütern

1648

Vgl. oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (b) (bb). Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 89; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 40 f.; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2317 f.; Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 34; Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Zweiter Band, 2. Aufl., 1954, S. 152 ff.; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 23; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 14. 1650 Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 40; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 15 Rn. 23. 1649

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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ist, dürfte die „Sozialisierungseignung“ in der Tat – wie im vorhergehenden Absatz beschrieben – von der wirtschaftlichen Bedeutung bzw. Größe der zu sozialisierenden Unternehmen abhängen, da Klein- oder Kleinstbetriebe eine umfassende Bedarfsdeckung regelmäßig überhaupt nicht bewerkstelligen können bzw. ihr Beitrag hierzu kaum ins Gewicht fiele. „Sozialisierungseignung“ beschreibt somit die betroffenen Unternehmen. Demgegenüber ist ferner zu fordern, daß die von den „sozialisierungsgeeigneten“ Unternehmen produzierten Güter auch „sozialisierungsreif“ sind: Da Art. 15 GG als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips die Sozialisierung nur als Instrument zur Ermöglichung einer gemeinwohlorientierten, gemeinwirtschaftlichen Bedarfsdeckung mit für eine „menschenwürdige“ und selbstbestimmte Lebensführung elementar notwendigen Gütern vorsehen kann, hängt die „Sozialisierungsreife“ davon ab, ob und inwieweit die von den zu sozialisierenden Unternehmen her- oder bereitgestellten Güter in diesem Sinne elementar notwendige sind. Dies wird man wohl beispielsweise bei Nahrung, Wohnraum, Energie bejahen, bei reinen „Luxusgütern“ hingegen verneinen müssen. Art. 15 GG dient insoweit nämlich nicht der sozialistischen Zielvorstellung einer gleichmäßigen Wohlstandsverteilung, sondern der sozialstaatlichen einer Schaffung gleichmäßiger Grundvoraussetzungen für die Führung eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Lebens. Was in diesem Sinne „elementar notwendig“ ist, kann dabei natürlich einem zeitlichen Wandel unterliegen wegen sich ändernder gesellschaftlicher Anschauungen oder angesichts wachsenden Grundniveaus des Lebensstandards. Im Hinblick auf die Überführung in Gemeinwirtschaft von Privatversicherungsunternehmen durch Etablierung bestimmter sozialversicherungsähnlicher Strukturen wird man feststellen können, daß sowohl Sozialisierungseignung als auch Sozialisierungsreife im hier beschriebenen Sinne gegeben sind: Privatversicherungsunternehmen verfügen aufgrund ihrer Größe und aufgrund des Umstandes, daß sie auf privater Ebene regelmäßig auch die einzigen Anbieter von Krankenversicherungsleistungen sind, über die notwendige Sozialisierungseignung. Das Produkt „Krankenversicherung“ schützt vor einem für die persönliche Lebensführung in sowohl tatsächlicher als auch finanzieller Hinsicht sehr bedeutsamen Risiko und kann daher als elementar notwendig zur Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung angesehen werden; es ist somit prinzipiell „sozialisierungsreif“. (d) Verhältnismäßigkeit (aa) Kein Dispens vom Verhältnismäßigkeitsprinzip Die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen von Art. 15 GG ist umstritten. Gelegentlich wird behauptet, dieses gelte hinsichtlich Sozialisierun-

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

gen im Sinne des Art. 15 GG überhaupt nicht1651 oder jedenfalls nur „in einem sehr eingeschränkten Maße“1652. Begründet wird dies – wenn überhaupt1653 – damit, daß die gemeinwirtschaftliche Umgestaltung der Wirtschaft durch Art. 15 GG zum legitimen gesetzgeberischen Ziel werde1654 und „die Zielsetzung, die Durchführung, die Erfolgsprognose und die Zumutbarkeit für betroffene Wirtschaftszweige [. . .] von Verfassungs wegen dem politischen Diskurs überantwortet“ sei, so daß sie nicht gerechtfertigt werden müsse1655. Diese Sichtweise ist nicht haltbar, zumal sie auch keinerlei Stütze im Verfassungsrecht findet. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein allgemeiner verfassungsrechtlicher Grundsatz1656, der nicht nur aus dem Rechtsstaatsprinzip resultiert, sondern „im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist“1657. Ein Dispens vom Verhältnismäßigkeitsprinzip ist daher auch für die besonderen Eingriffsinstrumente in Art. 15 GG nicht vertretbar, zumal auch überhaupt nicht ersichtlich ist, warum gerade in Art. 15 GG – und nicht etwa beispielsweise auch in Art. 14 Abs. 3 GG, der in der Enteignung ja ebenfalls eine besondere Eingriffsform bereithält – quasi eine rechtfertigungsfreie, lediglich von einem Entschädigungserfordernis abhängige Blankoermächtigung zur Vornahme der in ihm beschriebenen Grundrechtseingriffe enthalten sein soll. Zutreffend ist lediglich, daß die Existenz des Art. 15 GG – zumindest klarstellend – verdeutlicht, daß Sozialisierungen nicht im Grundsatz und vornherein als zu schwerwiegende Grundrechtsbeeinträchtigungen materiell unzulässig, insbesondere unverhältnismäßig sind, daß also „einem konkreten Sozialisierungsprojekt nicht die prinzipielle Illegitimität der Verfolgung gemeinwirtschaftlicher Zielsetzungen entgegengehalten werden kann“1658. Im übrigen aber muß sich jedes Sozialisierungsprojekt ebenso wie jede andere Grundrechtsbeeinträchtigung auch am Grundsatz der 1651 Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 250; wohl auch BrunOtto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 10. 1652 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 91. 1653 Ohne jegliche Begründung Helmut Rittstieg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/ Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 14/15 Rn. 250. 1654 Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 10. 1655 Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 91. 1656 BVerfGE 103, S. 332 (336 f.). 1657 BVerfGE 19, S. 342 (348 f.); vgl. ferner BVerfGE 61, S. 126 (134); 76, S. 1 (50 f.).

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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Verhältnismäßigkeit messen lassen,1659 selbst wenn hierbei dem Gesetzgeber sicherlich gewisse Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen nicht vollständig abgesprochen werden können1660. (bb) Legitimer Zweck Der Prüfung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst die Prüfung der Verfolgung eines legitimen Zwecks voranzustellen.1661 Art. 15 GG gibt hierzu eine besondere Zweckbestimmung vor, indem er Sozialisierungen nur „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ erlaubt. Legitimer Zweck von Sozialisierungen ist somit allein die Erreichung einer unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung, wie es bereits oben näher erläutert wurde1662. Andere Überführungsziele sind daher ausgeschlossen bzw. keine „legitimen“, wie etwa rein fiskalische Ziele (z. B. die Überführung eines Privatunternehmens in ein erwerbswirtschaftliches Unternehmen der öffentlichen Hand)1663, die Umverteilung von Eigentum unter Privaten (wie im Falle einer Bodenreform)1664 oder der „Umsturz der Gesellschaftsordnung“1665. Wie ebenfalls bereits dargelegt, kann sich diese unmittelbar gemeinwohlorientierte Bedarfsdeckung dabei nur auf solche Güter beziehen, welche für eine menschenwürdige, selbstbestimmte Lebensführung elementar notwendig sind, mit anderen Worten also auf „sozialisierungsreife“ Güter. Folglich wäre es 1658 Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 14; vgl. ferner auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). 1659 So auch Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 39 f. m. w. N.; Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2317; Rupert Scholz, Identitätsprobleme der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie, NVwZ 1982, S. 227 (338); wohl auch Otto Kimminich, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 15 (Zweitbearbeitung) Rn. 14; siehe ferner Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 42 Rn. 39; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 14: neben hinreichender Gemeinwohlverfolgung zumindest Geeignetheit und Erforderlichkeit zu prüfen. 1660 Vgl. Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 15 Rn. 39; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 14. 1661 Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 24 Rn. 34. 1662 Siehe etwa 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (a). 1663 Siehe etwa Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 12 m. w. N. 1664 Siehe etwa Jörg Berkemann, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 15 Rn. 69; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 6. 1665 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2311.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

ebenfalls keine legitime Zielsetzung, die Sozialisierung zur Bedarfsdeckung mit nicht-sozialisierungsreifen Gütern, also etwa Luxusgütern (bspw. Plasmafernsehern o. ä.) vorzunehmen. Da Sozialisierungsmaßnahmen regelmäßig nicht bloß in die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG), sondern auch in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) eingreifen, gilt der in Art. 15 GG enthaltene Eingriffsvorbehalt auch hinsichtlich Art. 12 GG1666. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art. 12 GG hat das Bundesverfassungsgericht die sog. „Drei-Stufen-Theorie“ entwickelt, welche die Anforderungen an die legitime Zwecksetzung umso höher schraubt, je höher die betroffene Eingriffsstufe (Berufsausübungsregelung, subjektive oder objektive Berufswahlregelung) ist: Während auf der untersten Stufe (Berufsausübungsregelungen) vernünftige Gemeinwohlerwägungen ausreichen, muß die Zwecksetzung bei Eingriffen auf der dritten und höchsten Stufe (objektive Berufswahlregelungen) die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut umfassen.1667 Da andererseits aber Art. 15 GG hinsichtlich der in ihm geregelten Eingriffsformen ausdrücklich eine bestimmte Zwecksetzung („zum Zwecke der Vergesellschaftung“) enthält, wird man nicht umhinkommen, bei durch Art. 15 GG ausgelösten Eingriffen in Art. 12 GG beide Zweckbestimmungen – die des Art. 15 GG und die der Drei-Stufen-Theorie – zu kombinieren: Insoweit muß auch bei Eingriffen „bloß“ auf ersten Stufe zugleich die Zwecksetzung „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ im oben beschriebenen Sinne gewahrt sein, und bei Eingriffen auf der dritten Stufe muß sich diese Zwecksetzung zugleich als Schutz vor nachweisbaren oder höchstwahrscheinlichen Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut darstellen. Um also weder das generelle, durch die Drei-StufenTheorie vermittelte Schutzniveau des Art. 12 GG noch das in der Zwecksetzung des Art. 15 GG enthaltene auszuhebeln, muß letztlich auf jeder Stufe immer die jeweils höhere Zweckanforderung gelten. Geht man im ungünstigsten Falle davon aus, daß mit der Überbürdung sozialversicherungsähnlicher, gemeinwirtschaftsbegründender Strukturen auf die Privatversicherung wegen des damit verbundenen Zwanges zu – an rationellen Maßstäben gemessen – unwirtschaftlichem Arbeiten sowie den daraus resultierenden Defiziten auf Dauer der Geschäftsbetrieb nicht aus eigener Kraft aufrecht zu erhalten ist, somit faktisch eine „Berufssperre“ eintritt und folglich ein Eingriff auf der dritten Stufe vorliegt, so gilt für die legitime Zwecksetzung Folgendes: Die betreffenden Sozialisierungsmaßnahmen müßten gemäß Art. 15 „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ im oben beschriebenen Sinne erfolgen,

1666

Siehe bereits oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) bb). Siehe ausführlich zur Drei-Stufen-Theorie statt vieler Helge Sodan, in: Sodan/ Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 40 Rn. 28 ff. 1667

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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was – wie bereits oben dargelegt1668 – aber der Fall wäre. Ferner müßte im Hinblick auf die für Art. 12 GG aufgestellte Drei-Stufen-Theorie der Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes vor nachweisbaren oder höchstwahrscheinlichen schweren Gefahren intendiert sein: Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, welcher die gemeinwirtschaftliche Erschwinglichmachung des Wirtschaftsgutes „Krankenversicherung“ dient, ist ein solches überragend wichtiges Gemeinschaftsgut.1669 Des weiteren bedürfte es für dieses Gemeinschaftsgut auch nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren: Bereits hierbei wird man aber fragen müssen, inwieweit solche Gefahren angesichts der gleichzeitigen Existenz eines staatlichen Sozialversicherungssystems, welches sich der Absicherung sozialer Problemfälle verschrieben hat, überhaupt bestehen können. (cc) Geeignetheit Die Sozialisierungsmaßnahmen müßten auch geeignet sein zur Erreichung des intendierten Vergesellschaftungszweckes einer umfassenden, unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung. Insoweit geht es hier um das bereits oben erläuterte Kriterium der „Sozialisierungseignung“, so daß auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann1670. Im Hinblick auf die Geeignetheit stellt es sich zudem als problematisch dar, wenn die betroffenen Unternehmen infolge der gemeinwirtschaftlichen Arbeitsweise, zu der sie gesetzlich verpflichtet werden, zu – gemessen an rationellen Maßstäben – unwirtschaftlicher und somit defizitärer Produktion gezwungen werden. Ist unter diesen Voraussetzungen eine eigenständige wirtschaftliche Überlebensfähigkeit nicht möglich, kann auch das Ziel einer umfassenden gemeinwirtschaftlichen Bedarfsdeckung nicht erreicht werden, so daß in diesem Fällen die Sozialisierung auch nicht geeignet zur Zweckerreichung wäre. Der Staat wird also regelmäßig Maßnahmen ergreifen müssen, um die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der sozialisierten Unternehmen sicherzustellen – was, sofern die sozialisierten Unternehmen nicht einmal kostendeckend arbeiten würden, gegebenenfalls auf Zuschüsse aus der Staatskasse hinauslaufen dürfte. Gerade im Falle einer Überführung in „andere Formen der Gemeinwirtschaft“, bei denen das Eigentum in Privathand verbleibt und „lediglich“ die Nutzungsbefugnisse durch gemeinwirtschaftliche Bindungen sozialisiert werden, zeigt dies umso mehr die Erforderlichkeit einer hinreichenden Entschädigung oder gegebenenfalls anderer staatlicher Ausgleichszahlungen auch für diese Fälle1671, wo1668

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (a). Vgl. BVerfGE 9, S. 338 (346); 25, S. 236 (248); 78, S. 179 (192); 103, S. 172 (184); 114, S. 196 (248). 1670 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (c). 1671 Siehe dazu oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (b) (bb). 1669

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

bei die Entschädigung (oder sonstige Ausgleichszahlung wie etwa ein staatlicher Zuschuß) dann gegebenenfalls schon aus Gründen der Geeignetheit der Sozialisierungsmaßnahme so hoch bemessen sein muß, daß sie die zu erwartenden Defizite ausgleicht und somit die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des sozialisierten Unternehmens sichert. Ob unter Geeignetheitsgesichtspunkten auch die Etablierung eines finanziellen Ausgleichssystems unter den sozialisierten Unternehmen (wie etwa im Falle des Basistarifs in der privaten Krankenversicherung nach § 12g VAG [2009]) ausreichend ist, kann nur im Einzelfall beurteilt werden. Sofern ein solches Ausgleichssystem allerdings nur der gleichmäßigen Verteilung der zu erwartenden Defizite unter allen betroffenen Unternehmen dient, dürfte sich seine Geeignetheit als zweifelhaft darstellen. Da die Geeignetheit letztlich nur rein faktisch zu beurteilen ist, dürfte es für sie indes ausreichen, wenn die betroffenen Unternehmen wirtschaftlich stark genug sind, die aus der Sozialisierung nur eines Teilbereichs (etwa des der Produktion eines einzelnen von mehreren Produkten dienenden Unternehmensteiles oder einer Sparte von mehreren) resultierenden Defizite durch „Quersubventionierung“ aus anderen, nicht sozialisierten Unternehmensbereichen dauerhaft auszugleichen. Dies beeinflußt allerdings nur die Geeignetheit, entbindet aber nach der Konzeption des Art. 15 GG nicht von dem Erfordernis einer angemessenen Entschädigung für den sozialisierten Unternehmensteil, da diese nicht davon abhängt, inwieweit der Betroffene die aus der Sozialisierung der wirtschaftlichen Nutzungsbefugnisse seines unternehmerischen Eigentums resultierenden Defizite wirtschaftlich „verkraften“ bzw. anderweitig kompensieren kann. (dd) Erforderlichkeit Eine Sozialisierung ist nur erforderlich, wenn anderweitig und auf mildere Weise der Zweck einer umfassenden, unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung nicht erreicht werden kann. Daher kann, entsprechend dem oben herausgearbeiteten Zweck der Sozialisierungsermächtigung in Art. 15 GG, eine Sozialisierung überhaupt nur zulässig sein, „wenn die individuelle Bedürfnisbefriedigung anders nicht mehr ausreichend gewährleistet ist“1672, wenn also die privatwirtschaftliche Bedarfsdeckung mit bestimmten elementaren (sozialisierungsreifen) Gütern nicht mehr in gemeinwohlverträglicher Weise vonstatten geht.1673 Die Sozialisierung kann nur eine Ausnahme für den Fall sein, daß die individuelle Bedürfnisbefriedigung 1672 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2317; Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 264. 1673 Siehe ausführlich zu diesem Zweck des Art. 15 GG etwa oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (2) (b) (dd).

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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und Existenzsicherung nicht durch eine eigenständige, privatwirtschaftliche Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten zur Bedarfsdeckung gewährleistet werden kann.1674 Nur unter dieser Voraussetzung kann eine Sozialisierung überhaupt erforderlich sein. Auch für diesen Fall aber erweist sich die Sozialisierung nur als „ultima ratio“1675. Selbst bei einem nicht mehr gemeinwohlkonformen „Versagen“ privatwirtschaftlicher Bedarfsdeckung können Sozialisierungsmaßnahmen im Sinne des Art. 15 GG wegen der Schwere ihrer belastenden Auswirkungen für die Betroffenen unter Erforderlichkeitsgesichtspunkten erst dann zulässig sein, wenn andere Methoden zur Beseitigung der Bedarfsdeckungsmißstände nicht ausreichen. Vorrangig sind also beispielsweise wirtschaftslenkende Maßnahmen, die noch nicht die Schwelle zur Sozialisierung überschreiten. Als vorrangige Maßnahme kommt vor allem auch in Betracht, auf bereits vorhandene, gemeinwirtschaftlich produzierende Bedarfsdeckungseinheiten des Staates zurückzugreifen und gegebenenfalls deren „Produktion“ auszuweiten. Dies ist vor allem relevant hinsichtlich der an dieser Stelle untersuchten Übertragung sozialversicherungsähnlicher, gemeinwirtschaftsbegründender Strukturen auf die Privatversicherung: Die zwangsweise Schaffung einer privaten „QuasiSozialversicherung“, die in ihrer Zwecksetzung letztlich nichts anderes zu erfüllen hat als das, was die bereits vorhandene gesetzliche Krankenversicherung leisten soll – nämlich einen sozialen, „erschwinglichen“ Krankenversicherungsschutz für jedermann (und damit insbesondere für die „schlechten Risiken“) zu gewährleisten –, ist unter Erforderlichkeitsgesichtspunkten zumindest zweifelhaft, da die gleiche Zwecksetzung auf mildere Weise dadurch erfüllt werden könnte, daß die durch Schaffung einer privaten Quasi-Sozialversicherung zu schützenden Personen (also vornehmlich die besagten „schlechten Risiken“1676) vielmehr in das staatliche System „Sozialversicherung“ einbezogen werden, welches sich der Gewährleistung eines sozialen, gemeinwirtschaftlichen Versicherungsschutzes ohnehin verschrieben hat. Daß dies die Sozialversicherung noch weiter in ihrer „finanziellen Stabilität“ belasten und den Staat zur Schaffung einer vergleichbaren „Geeignetheit“ gegebenenfalls zu entsprechenden Zuschüssen zur Sozialversicherung zwingen würde, kann dem nicht entgegengehalten werden. Denn der Staat wäre im Rahmen von Art. 15 GG genauso gehal1674 So auch Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 264, unter Hinweis auf BVerfGE 12, S. 354 (364). 1675 Johannes Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2317; Herbert Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann/Nipperdey/ Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 267 (276); vgl. auch Ulrich Hösch, Freiheit und Eigentum, 2000, S. 264. 1676 Auf den Schutz der „guten Risken“ kann sich dieser Aspekt hingegen von vornherein nicht beziehen, da zu deren Schutz eine private „Quasi-Sozialversicherung“ überhaupt nicht erforderlich sein dürfte, sondern eine „normale“ Privatversicherung ausreicht.

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

ten, die sich für die Privatversicherung aus der Verpflichtung zum Anbieten einer „Quasi-Sozialversicherung“ ergebenden Defizite entweder angemessen (d. h. im Umfang dieser Defizite) zu entschädigen oder zur Vermeidung einer solchen Entschädigung von vornherein entsprechende Staatszuschüsse oder ähnliches für die betroffenen Unternehmen vorzusehen1677. Im übrigen kann es auch nicht Sinn eines sozialisierenden Zugriffs auf Privatunternehmen sein, bereits vorhandene staatliche Gemeinwirtschaftssysteme wie die Sozialversicherung vor einer Ausweitung der Aufgaben, für die sie gerade geschaffen wurden (hier also vor der Ausweitung des für schützenswert erachteten Versichertenkreises), wegen der damit verbundenen Risiken (hier also der Zuführung weiterer „schlechter Risiken“) zu „schützen“. (ee) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) Letztlich muß sich eine Sozialisierung auch als verhältnismäßig im engeren Sinne, also als angemessen darstellen, das heißt die durch die Sozialisierung eintretenden Belastungen bei den von der Sozialisierung Betroffenen dürfen nicht außer Verhältnis zur Wertigkeit des angestrebten, legitimen Gemeinwohlzwecks stehen. Zwar werden sich die Auswirkungen einer Sozialisierung bei den davon Betroffenen aufgrund der Entziehung oder zumindest einschneidenden Bindung des Eigentums und der unternehmerischen Betätigungsfreiheit regelmäßig als sehr schwerwiegend darstellen. Andererseits ist aber zu konstatieren, daß die legitime Zwecksetzung einer Sozialisierung, nämlich die Beseitigung von vorhandenen „Störungen“ einer gemeinwohlverträglichen Bedarfsdeckung mit elementar wichtigen Gütern, ein sehr hochwertiges Schutzgut ist. Berücksichtigt man zudem, daß mit den Kriterien der Sozialisierungseignung und Sozialisierungsreife nicht unbedeutende materielle Vorgaben bestehen, sowie vor allem, daß eine Sozialisierung nach Maßgabe einer strengen Erforderlichkeitsprüfung nur als „ultima ratio“ zulässig sein kann und daß eine Pflicht zu adäquater, angemessener Entschädigung besteht, so dürften kaum Fälle denkbar sein, in denen sich eine Sozialisierung nach Überwindung all dieser Hürden gleichwohl noch als im Sinne der Verhältnismäßigkeit nicht angemessen darstellt. Wohl aus diesem Grund auch wird in der Literatur dem Kriterium der „Angemessenheit“ bei Art. 15 GG mitunter keine größere Bedeutung beigemessen und die Prüfung der Verhältnismäßigkeit vornehmlich auf legitimen Zweck, Geeignetheit und Erforderlichkeit fokussiert1678.

1677

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e) cc) (4) (b) (bb) sowie (d) (cc). Siehe etwa Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 42 Rn. 39; Rudolf Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 15 Rn. 14. 1678

VI. „Privatwirtschaftseliminierende‘‘ Regelungen

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VII. „Einvernehmliche“ Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung Zu untersuchen ist noch, welche Auswirkungen auf die bisher gefundenen Ergebnisse es hat, wenn die gesetzliche Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung im „Einvernehmen“ mit den Privatversicherern erfolgt. Insbesondere bei einer Aufgabenprivatisierung1679 kommt insoweit eine einvernehmliche Übertragung der ehedem durch den Staat wahrgenommenen Aufgabe (hier also der „sozialen“ Versicherung bestimmter existentieller Risiken) auf „echte“ Private in Betracht. Und beispielsweise auch der Schaffung der privaten Pflege(pflicht)versicherung mit ihren sozialversicherungsähnlichen Vorgaben für die Versicherungsmethodik (siehe § 1 Abs. 2 S. 2, § 110 SGB XI) lag eine Übereinkunft mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung zugrunde1680. Grundsätzlich hat eine solche einvernehmliche Übereinkunft allerdings keine Auswirkung auf die hier untersuchte Frage nach der Gesetzgebungskompetenz, da sich eine solche Übereinkunft allenfalls als ein Grundrechtsverzicht darstellen könnte1681 und somit erst auf der materiell-verfassungsrechtlichen Ebene zum Tragen käme. Die Rechtsfolge eines Grundrechtsverzichts ist nämlich die materielle Grundrechtsmäßigkeit der betreffenden staatlichen Maßnahme; aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen ist dessen Dispositionsbefugnis über seinen Schutz durch die Grundrechte prinzipiell anzuerkennen.1682 Dabei ist durch sorgfältige Auslegung zu ermitteln, ob tatsächlich ein Grundrechtsverzicht vorliegt oder lediglich eine keinen Grundrechtsverzicht darstellende Duldung einer Grundrechtsbeeinträchtigung1683. Ein Grundrechtsverzicht kann im übrigen auch nicht in einer „einvernehmlichen“ Übereinkunft mit dem Staat gesehen werden, mittels welcher die Betroffenen lediglich versuchen, bestimmte negative Folgen abzumildern, also noch stärkere Beeinträchtigungen ihrer Grundrechtspositionen zu vermeiden. Darüber hinaus muß die erforderliche „Einwilligung“ in die Grundrechtsbeeinträchtigung auch frei von Willensmän1679

Siehe zur Aufgabenprivatisierung auch oben Teil 2, Abschnitt 1. I. 4. c) aa). Siehe Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (413); Christoph Uleer, Die private Pflegeversicherung kommt, ZfV 1994, S. 190 (191 f.); Gert Wagner, Kontrahierungszwang für private Krankenversicherungen überfällig, KrV 1994, S. 410. 1681 Vgl. Josef Isensee, Sozialversicherung über Privatversicherer, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 401 (412 f.), der allerdings im von ihm konkret untersuchten Fall der mit dem PKV-Verband im Vorfeld der Schaffung der privaten Pflegeversicherung erzielten Übereinkunft einen Grundrechtsverzicht ablehnt. 1682 Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 23 Rn. 19 f. 1683 Siehe Helge Sodan, a. a. O., Rn. 19. 1680

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2. Teil, Abschn. 3: Kompetenzen für „soziale‘‘ Privatversicherung

geln sein und insbesondere im Bewußtsein der Tragweite des Grundrechtsverzichts erfolgen.1684 Wegen dieser prinzipiellen Auswirkung eines Grundrechtsverzichts allein auf der materiell-verfassungsrechtlichen Ebene würde also auch ein solcher Grundrechtsverzicht nichts an den für die Übertragung sozialversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Privatversicherung gegebenen Gesetzgebungskompetenzen aus entweder Art. 74 Abs. 1 Nr. 111685 oder Art. 74 Abs. 1 Nr. 151686 GG ändern. Etwas anderes ließe sich allenfalls im Hinblick auf die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG in Betracht ziehen, sofern man davon ausginge, daß eine „Überführung in Gemeinwirtschaft“, wie sie bei Beseitigung jeglicher privatwirtschaftsrelevanten Strukturen in Betracht kommt, dann keine „Sozialisierung“ im Sinne des Art. 15 GG darstellt, wenn sie nicht gegen den Willen der Betroffenen, sondern im Einvernehmen mit diesen erfolgt. Begründen ließe sich dies damit, daß das Akzeptieren (nicht: das bloße Dulden) solcher Regelungen sich als Ausdruck der für Privatwirtschaft konstituierenden unternehmerischen Freiheit darstellte, im Rahmen derer eine Privatwirtschaftseinheit auch nicht gehindert wäre, von sich aus (also ohne entsprechende gesetzliche Vorgaben) einen der Methodik der Sozialversicherung komplett vergleichbaren Versicherungsschutz anzubieten, der jedenfalls bei zwangsweiser gesetzlicher Aufbürdung unter Art. 15 GG fiele. In diesem Fall würde sich der Grundrechtsverzicht nicht erst bzw. nicht allein auf der materiellen Grundrechtsebene auswirken, sondern bereits auf den Tatbestand des Art. 15 GG und damit auch auf die korrespondierende Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG, welche mithin ausschiede. Allerdings bestünde dann wiederum die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, weil sich die einvernehmliche Übernahme der betreffenden sozialversicherungsrechtlichen Strukturen als Ausübung der unternehmerischen Freiheit darstellt, wie sie für Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG maßgeblich ist. An dem Vorhandensein einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz würde sich also jedenfalls im Ergebnis nichts ändern.

1684 1685 1686

Helge Sodan, a. a. O., Rn. 19. Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, V. Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 3, VI. 3. e).

3. Teil

Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben für die „Sozialversicherung“ I. Die Regelungen der Art. 83 ff. GG Vorgaben für die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung enthalten die Art. 83 ff. GG (VIII. Abschnitt des Grundgesetzes). Sie verteilen vornehmlich die Kompetenzen zum Verwalten der durch Bundesgesetz geregelten Materien zwischen Bund und Ländern. Neben diesen „Verwaltungskompetenzen“1687 enthalten sie einzelne Vorgaben für die organisatorische Ausgestaltung der zur Gesetzesausführung vorgesehenen Verwaltungseinheiten.1688 Die grundsätzliche Kompetenz für den Bundesgesetzgeber, die Verwaltungsorganisation (und das Verwaltungsverfahren) für die ihm zugewiesenen Legislativmaterien zu regeln, resultiert dabei aus den Gesetzgebungszuständigkeiten Art. 70 ff. GG (sei es als „Annex“ oder unmittelbar).1689 So erstreckt sich die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Sozialversicherung auch „auf sämtliche mit der Sozialversicherung zusammenhängenden organisationsrechtlichen Fragen“.1690 Jedoch können aus den Art. 83 ff. GG bestimmte inhaltliche Vorgaben folgen, wie diese „Organisationskompetenz“ konkret auszuüben ist. Den Grundsatz für die Verwaltungskompetenzen enthält Art. 83 GG. Danach führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus („landeseigene Verwaltung“1691), soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt 1687 Siehe Hans-Heinrich Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 83 Rn. 1. 1688 Die in den Art. 83 ff. GG geregelten Verwaltungs- und Organisationskompetenzen hängen unmittelbar miteinander zusammen und können nicht ohne einander vorgestellt werden, denn Verwaltung ist stets organisierte Tätigkeit, und die Errichtung einer Verwaltungseinheit besteht in ihrem rechtlichen Kern in der Zuweisung von Verwaltungskompetenzen – so die treffende Beschreibung von Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 8 f. 1689 Siehe hierzu ausführlich bereits oben 2. Teil, Abschnit 1, I. 4. c) bb) (2) (cc) (a). 1690 BVerfGE 113, S. 167 (201). 1691 BVerfGE 114, S. 196 (223).

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

oder zuläßt. In diesem Fall regeln sie gemäß Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren. Der Behördenbegriff ist weit zu verstehen und meint nicht nur Behörden im organisationsrechtlichen Sinne, sondern jede Verwaltungseinheit1692. „Einrichtung“ der Behörden umfaßt nicht nur die Errichtung von (neuen) Behörden, sondern auch die Festlegung der inneren Organisation und der Aufgaben von (bestehenden) Behörden.1693 Regelungen des Verwaltungsverfahrens sind „gesetzliche Bestimmungen, die die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden im Blick auf die Art und Weise der Ausführung des Gesetzes einschließlich ihrer Handlungsformen, die Form der behördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und Kontrollvorgänge in ihrem Ablauf“ festlegen1694. Das für Bundesgesetze, die abweichend vom Grundsatz des Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, vorgesehene generelle Erfordernis bundesratlicher Zustimmung (Art. 84 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 a. F. GG) ist im Zuge der Föderalismusreform 20061695 aufgehoben worden.1696 Nunmehr können nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 (n. F.) GG Bundesgesetze ohne Zustimmung des Bundesrates „etwas anderes bestimmen“ (also die Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens regeln), allerdings dürfen die Länder hiervon abweichende Regelungen treffen. Nur noch „in Ausnahmefällen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln“ (Art. 84 Abs. 1 S. 5 [n. F.] GG); solche Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (Art. 84 Abs. 1 S. 6 [n. F.] GG). „Anderes bestimmt“ im Sinne des Art. 83 GG das Grundgesetz in seinen Art. 85 ff. Für die Sozialversicherung enthält hier vor allem Art. 87 Abs. 2 GG eine spezifische Regelung (dazu im folgenden unter II.). Ferner kommt (auch) für die Sozialversicherung die Anwendung des Art. 87 Abs. 3 GG als „andere Bestimmung“ im Sinne des Art. 83 GG in Betracht (dazu im folgenden unter III.). Soweit keine „anderen Bestimmungen“ in diesem Sinne greifen, bleibt es

1692 Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 34; siehe ferner Armin Dittman, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 84 Rn. 7 sowie Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 84 Rn. 26: alle „amtlichen Stellen“. 1693 Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 13 Rn. 8. 1694 BVerfGE 55, S. 274 (320 f.); 75, S. 108 (152). 1695 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 – BGBl. I, S. 2034. 1696 Siehe zu diesem Zustimmungserfordernis (nach alter Verfassungslage) für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung BVerfGE 114, S. 196 (223 ff.) – „Beitragssatzsicherungsgesetz“.

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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bei der Grundregel des Art. 83 GG, d. h. bei der landeseigenen Ausführung der die Sozialversicherung betreffenden Bundesgesetze gemäß Art. 84 GG.1697 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch, daß die Art. 83 ff. GG (einschließlich der speziellen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG für die Sozialversicherung) nur für die Vollziehung von Bundesgesetzen gelten, nicht hingegen für die Vollziehung von Landesgesetzen1698. Die nachfolgenden Ausführungen zu diesen Vorschriften betreffen insoweit – vor allem hinsichtlich der organisatorischen Vorgaben1699 – nur Sozialversicherungsgebilde, die vom Bundesgesetzgeber geschaffen werden/wurden, nicht aber solche, die die Länder aufgrund ihrer subsidiär gegenüber der Bundeszuständigkeit bestehenden konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf dem Gebiet der „Sozialversicherung“ errichten1700.1701

II. Art. 87 Abs. 2 GG 1. Überblick über die Regelungsgehalte des Art. 87 Abs. 2 GG Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt, daß als „bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts“ diejenigen „sozialen Versicherungsträger“ geführt werden, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt. Abweichend hiervon sind derartige „länderübergreifende“ Sozialversicherungsträger nach Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen, wenn sie sich nicht über mehr als drei Länder hinaus erstrecken und das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist. Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG ist zum einen Kompetenznorm im Bereich der Verwaltungskompetenzen, indem er die in ihm benannten Gegenstände in Durch1697

Vgl. BVerfGE 114, S. 196 (223 f.). Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 83 Rn. 25. 1699 Hinsichtlich der „Aufteilung“ der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern sind die Art. 83 ff. GG grundsätzlich abschließend. 1700 Siehe zur Landesgesetzgebung auf dem Gebiet der „Sozialversicherung“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG oben 2. Teil, Abschnitt 1, III. 1701 Organisatorische Verfassungsvorgaben für auf Landesgesetzen beruhende „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG können allerdings aus den Landesverfassungen resultieren. So regeln etwa Art. 57 BremVerf sowie Art. 35 HessVerf, daß im Bereich der in diesen Vorschriften vorgesehenen „Sozialversicherung“ die „Selbstverwaltung der Versicherten anerkannt“ wird, was für eine „körperschaftliche“ Organisation der betreffenden Sozialversicherungsträger spricht, da die Selbstverwaltung für „Körperschaften“ ein typisches Element ist (vgl. hierzu unten 3. Teil, II. 4.). 1698

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

brechung des in Art. 83 GG für den Vollzug der Bundesgesetze geregelten Grundsatzes (Ländervollzug) dem Verwaltungskompetenzraum des Bundes zuschlägt („föderaler Primärgehalt“)1702. Zudem enthält Art. 87 Abs. 2 GG bestimmte Vorgaben für die Organisation dieser „sozialen Versicherungsträger“ („organisationsrechtlicher Sekundärgehalt“)1703. „Soziale Versicherungsträger“ im Sinne dieser Vorschrift meint die Träger der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG1704. Die Vorschrift gilt nicht nur für die bei Schaffung des Grundgesetzes bereits bestehenden, sondern auch für neue (neugeschaffene) Sozialversicherungsträger.1705 Sozialversicherungsträger sind diejenigen Institutionen, deren Aufgaben in unmittelbaren Bezug zu den Sozialversicherungsverhältnissen stehen.1706 Nicht nach Art. 87 Abs. 2 GG, sondern nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG bemessen sich daher beispielsweise die sog. Dachverbände der Krankenkassen oder Zusammenschlüsse von Leistungserbringern.1707 2. Föderaler Gehalt: Verteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern a) Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG: mittelbare Bundesverwaltung Art. 87 Abs. 2 GG entscheidet über die Verteilung der Verwaltungskompetenzen auf Bund und Länder nicht durch Anknüpfung an eine bestimmte Rechtsmaterie (anders als etwa Art. 87 Abs. 1 GG), sondern durch Anknüpfung an einen bestimmten Zuschnitt der Sozialversicherungsträger im Hinblick auf deren Zuständigkeitsbereiche: Sind die Sozialversicherungsträger länderübergreifend (also „über das Gebiet eines Landes hinaus“) zuständig, so sind sie dem Grundsatz des Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG nach in Bundesverwaltung zu führen, und zwar in mittelbarer Bundesverwaltung durch bundesunmittelbare Körper-

1702 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 66. 1703 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 70. 1704 Allgemeine Ansicht, siehe für viele Peter Axer, Soziale Versicherungsträger als Thema der grundgesetzlichen Kompetenzordnung, in: Fiat iustitia – Recht als Aufgabe der Vernunft, Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag, 2006, S. 79 (81); Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 59; vgl. auch BVerfGE 114, S. 196 (223). 1705 BVerfGE 11, S. 105 (123 f.); Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 154; Christoph Waibel, Rechtliche Vorgaben für eine regionale Neugliederung der Rentenversicherungsträger – dargestellt am Beispiel der „LVA Nordwest“ –, VSSR 2003, S. 115 (127). 1706 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 60. 1707 Siehe dazu noch im folgenden 3. Teil, III.

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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schaften des öffentlichen Rechts1708. „Länderübergreifend“ ist ein Sozialversicherungsträger zuständig, wenn sein Zuständigkeitsbereich auf mindestens zwei Länder oder auch nur auf Gebietsteile mindestens zweier Länder ausgedehnt ist.1709 Da sich die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung „auf sämtliche mit der Sozialversicherung zusammenhängenden organisationsrechtlichen Fragen“ erstreckt,1710 kann der Bund über die länderübergreifende Ausgestaltung der Sozialversicherungsträger im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) selbst bestimmen1711, so daß er es grundsätzlich in der Hand hat, ob die in Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG angeordnete Rechtsfolge „(mittelbare) Bundesverwaltung“ eintritt.1712 b) Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG: mittelbare Landesverwaltung Abweichend von Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG sieht Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG für die Organisation der Sozialversicherung(sträger) als Verwaltungsform die mittelbare Landesverwaltung durch landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts vor, wenn diese zwar länderübergreifend, aber nicht über das Gebiet 1708 „Bundesverwaltung“ ist der Oberbegriff für die Ausführung der Bundesgesetze durch den Bund; diese kann gemäß Art. 86 GG durch „bundeseigene Verwaltung“ (auch: „unmittelbare Bundesverwaltung“; durch rechtlich unselbständige Verwaltungseinheiten) oder „durch bundesunmittelbare Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts“ (sog. „mittelbare Bundesverwaltung“, durch rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten) erfolgen. Allerdings wird der Begriff „bundeseigene Verwaltung“ in – angesichts Art. 86 GG – unpräziser Weise mitunter auch als Synonym für den weiter gefaßten Oberbegriff „Bundesverwaltung“ verwendet (siehe etwa BVerfGE 114, S. 196 [223]). Zur Bezeichnung der engeren „bundeseigenen Verwaltung“ im Sinne des Art. 86 GG kann daher auch die weniger mißverständliche Bezeichnung als „unmittelbare Bundesverwaltung“ verwendet werden (siehe Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 13). Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder als eigene Angelegenheit gemäß Art. 83, 84 GG wiederum wird gemeinhin als „landeseigene Verwaltung“ bezeichnet (siehe etwa BVerfGE 114, S. 196 [223]) und läßt sich ihrerseits in unmittelbare und mittelbare Landesverwaltung unterteilen. Siehe zu den Begriffen auch Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 2. Aufl., 2007, § 18 Rn. 12. 1709 Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 155 mit Fn. 36. Nach BSGE 1, S. 17 (33) soll es dabei allerdings nicht ausreichen, wenn sich die örtliche Zuständigkeit eines Sozialversicherungsträgers nur „geringfügig“ auf das Gebiet eines anderen Landes erstreckt. 1710 BVerfGE 113, S. 167 (201). 1711 Hans-Jürgen Papier, Die Regionalisierung der gesetzlichen Rentenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht, NZS 1995, S. 241 (242). 1712 So auch Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 57, 60; Siegfried Broß, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 87 Rn. 18; wohl auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 82: „normstrukturelle Spezifika“ des Art. 87 Abs. 2 GG; vgl. ferner Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (661).

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

von mehr als drei Ländern hinaus zuständig sind und wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist. Zur Erfüllung der letztgenannten Voraussetzung haben die Länder den zum 1.6.1997 in Kraft getretenen „Staatsvertrag über die Bestimmung aufsichtsführender Länder nach Art. 87 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland“1713 geschlossen. Dieser bestimmt gemäß seinem Art. 1 Abs. 1 (und vorbehaltlich der Abweichungsmöglichkeit in seinem Art. 1 Abs. 2), daß die Aufsicht jeweils das Land führt, in dem der Versicherungsträger seinen Sitz hat. Da hiermit die Aufsichtsführung abstrakt-generell für alle Fälle geregelt ist und auch sämtliche Länder am Abschluß des Staatsvertrages beteiligt waren, ist die Voraussetzung der „Bestimmung des aufsichtsführenden Landes“ in Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG derzeit erfüllt. Dabei dürfte das in Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG genannte Erfordernis der Bestimmung „durch die beteiligten Länder“ bereits dadurch gewahrt sein, daß alle Länder am Abschluß des Staatsvertrages beteiligt waren und damit immer auch die jeweils „beteiligten Länder“ die Bestimmung des aufsichtsführenden Landes nach Art. 1 Abs. 1 des Staatsvertrages vorgenommen haben. Im übrigen wird angenommen, daß durch die Möglichkeit abweichender Vereinbarungen nur der jeweils beteiligten Länder nach Art. 1 Abs. 2 des Staatsvertrages und zum Ausschluß der Anwendung des Vertrages in Neufällen (Art. 3 des Staatsvertrages) sowie das Kündigungsrecht für jedes Land (Art. 4 des Staatsvertrages) hinreichend sichergestellt ist, daß es nicht zu Bindungen an den Vertrag gegen den Willen auch nur eines der konkret beteiligten Länder kommt.1714 Ist die Voraussetzung der „Bestimmung des aufsichtsführenden Landes durch die beteiligten Länder“ nicht (mehr) erfüllt (etwa infolge Kündigung des Staatsvertrags gemäß dessen Art. 4), gilt für länderübergreifende Sozialversicherungsträger allein Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG1715. Durch Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG ändert sich nichts an der Einrichtungskompetenz des Bundes,1716 d. h. dieser richtet die Sozialversicherungsträger nach wie vor ein und bestimmt deren Zuständigkeitsbereiche. Erstreckt ein Zuständigkeitsbereich sich aber über nicht mehr als drei Länder und ist das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt, so ist der Sozialversicherungsträger gemäß den Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG als landesunmit1713

GVBl. NW 1996, S. 566; 1997, S. 202. Siehe Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 59; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 59a. 1715 Vgl. auch Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 34 mit Fn. 122. 1716 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 86; Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 12; siehe auch Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 33 f. 1714

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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telbare Körperschaft des öffentlichen Rechts zu führen. Der Bund ist aufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch dazu befugt, aus eigenem Recht landesunmittelbare Sozialversicherungsträger zu errichten1717. c) Nicht-länderübergreifende Sozialversicherungsträger Werden die Sozialversicherungsträger durch den Bund hinsichtlich ihres Zuständigkeitsbereichs nicht-länderübergreifend ausgestaltet, trifft Art. 87 Abs. 2 GG keine Aussage hinsichtlich der Verteilung der Verwaltungskompetenzen, so daß insoweit durch ihn nichts „anderes bestimmt oder zugelassen“ im Sinne des Art. 83 GG ist. Damit bleibt es hier nach der Grundregel des Art. 83 GG prinzipiell bei der landeseigenen Ausführung der betreffenden Bundesgesetze.1718 3. Organisatorischer Gehalt: bundes- oder landesunmittelbare „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ In organisatorischer Hinsicht stellt Art. 87 Abs. 2 GG als Erfordernis auf, daß Sozialversicherungsträger als (bundes- oder landesunmittelbare) „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ zu führen sind. a) Kein begriffsnotwendiges Merkmal für „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Wie bereits zuvor dargelegt wurde, handelt es sich bei den organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG nicht zugleich um begriffliche Inhaltsmerkmale der Materie „Sozialversicherung“ im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern um hiervon zu trennende materiellinhaltliche Vorgaben für „die Sozialversicherung“, sprich für deren materielle Verfassungsmäßigkeit.1719 D. h. daß auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG prinzipiell auch Maßnahmen gestützt werden können, die eine andere Organisationsform als die in Art. 87 Abs. 2 GG angeordnete aufweisen, solange die unmittelbar in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als organisatorisches Begriffsmerkmal der „Sozialversicherung“ vorausgesetzte „staatliche“ 1717 BVerfGE 113, S. 167 (201); vgl. auch BVerfGE 11, S. 105 (123 f.); siehe ferner Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (661). 1718 Vgl. auch BVerfGE 114, S. 196 (223). – Siehe aber in organisatorischer Hinsicht noch 3. Teil, II. 3. b) bb). 1719 Siehe ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) bb).

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

Organisationsform (öffentlich-rechtliche oder staatlich beherrschte privatrechtliche Organisation) gewahrt ist.1720 Die Nichtwahrung der organisationsrechtlichen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG beseitigt also nicht die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern macht das betreffende, vom Gesetzgeber geschaffene Sozialversicherungsgebilde im übrigen, d. h. wegen Verstoßes (allein) gegen Art. 87 Abs. 2 GG, verfassungswidrig. Mit anderen Worten entscheidet Art. 87 Abs. 2 GG nicht über das „Ob“ von „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern über deren „Wie“. b) Obligatorische mittelbare Staatsverwaltung aa) Länderübergreifende Sozialversicherungsträger Unmittelbar bezieht sich Art. 87 Abs. 2 GG nur auf länderübergreifende Sozialversicherungsträger. Diese sind im Falle seines Satzes 1 als bundesunmittelbare, im Falle seines Satzes 2 als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen. Insoweit bestimmt Art. 87 Abs. 2 GG also für landesübergreifende Sozialversicherungsträger, daß sie als bundes- oder landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt werden müssen, mithin in mittelbarer Staatsverwaltung (mittelbare Bundes- oder Landesverwaltung)1721. bb) Nicht-länderübergreifende Sozialversicherungsträger Nicht ausdrücklich benannt wird in Art. 87 Abs. 2 GG hingegen die Organisationsform der auf das Gebiet eines Landes beschränkten, also der nicht-länderübergreifend zuständigen Sozialversicherungsträger, die wegen des Grundsatzes der Art. 30, 83 GG jedenfalls in Landeseigenverwaltung zu führen sind1722. Damit würden an sich die Länder gemäß Art. 84 GG die Einrichtung der Behörden einschließlich deren Organisation regeln können. Da Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG aber eine „Rückholung“ der dort genannten landesübergreifenden Sozialversicherungsträger in den Kompetenzraum der Länder bezweckt1723, und er auch für diesen Fall die Organisation als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts vorsieht, wird man davon ausgehen müssen, daß damit nur diejenige Organisationsform aufgegriffen wird, die Art. 87 Abs. 2 GG ohnehin 1720

Siehe hierzu oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) aa). Siehe zu den Begriffen oben bei Fn. 1708. 1722 Siehe oben 3. Teil, II. 2. c); siehe ferner BVerfGE 114, S. 196 (223). 1723 Vgl. Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 84; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 58 ff.: „Rückholklausel“. 1721

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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auch für die von den Ländern zu führenden Sozialversicherungsträger als verbindlich erachtet und von der er somit generell für alle durch Bundesgesetz errichteten Sozialversicherungsträger ausgeht, unabhängig davon, ob sie länderübergreifend fungieren oder nicht1724. Somit sind also sämtliche durch Bundesgesetz errichteten Sozialversicherungsträger in mittelbarer Staatsverwaltung als bundes- oder als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen1725.1726 1724 Keine Vorgaben macht Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG hingegen für durch Landesgesetz errichtete „Sozialversicherungsträger“, d. h. für solche, mittels derer Sozialversicherungsgesetze der Länder vollzogen werden, welche prinzipiell ebenfalls auf die Gesetzgebungszuständigkeit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden können, solange und soweit der Bund von seiner konkurrierenden Kompetenz in diesem Bereich nicht Gebrauch gemacht hat. Siehe hierzu oben 2. Teil, Abschnitt 1, III. 1725 Vgl. Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 269, 282; Ulrich Becker, Staat und autonome Träger im Sozialleistungsrecht, 1996, S. 123 f.; ders., Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 13 Rn. 15; Detlef Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, in: Der Verwaltungsstaat im Wandel – Festschrift für Franz Knöpfle zum 70. Geburtstag, 1996, S. 219 (226 f.); Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 6 Rn. 20; Christoph Waibel, Rechtliche Vorgaben für eine regionale Neugliederung der Rentenversicherungsträger, VSSR 2003, S. 115 (127); vgl. ferner BR-Drucks. 360/92, S. 13 f. (betreffend Neufassung des Art. 87 Abs. 2 GG); BVerfGE 11, S. 105 (123 f.); Josef Isensee, Föderalisierung der Sozialversicherung, NZS 1993, S. 281 (282, 283); Hans-Jürgen Papier, Die Regionalisierung der gesetzlichen Rentenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht, NZS 1995, S. 241 (242); ders., Verfassungsrechtliche Probleme bei der Organisation der Sozialversicherungsträger, in: Der Verwaltungsstaat im Wandel – Festschrift für Franz Knöpfle, 1996, S. 273 (277 f.); Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 222. Etwas vorsichtiger Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 35 f.: „. . . wird man der Norm [Art. 87 Abs. 2 GG, scil.] wenn nicht ein Gebot, so doch zumindest ein Votum dafür entnehmen können, auch bei der Organisation der Sozialversicherung innerhalb eines Landes die dafür zuständigen Verwaltungseinheiten als landesunmiitelbare Körperschaften zu führen“. 1726 Insoweit zumindest mißverständlich zum Gehalt des Art. 87 Abs. 2 GG etwa Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 (34 f.), wenn er dort formuliert, daß aus Art. 87 Abs. 2 GG „für die Sozialversicherung [. . .] nicht die mittelbare Staatsverwaltung durch rechtlich verselbständigte Sozialversicherungsträger vorgeschrieben“ sei, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder auch nur seiner tragenden Organisationsprinzipien weder dem Art. 87 Abs. 2 GG noch anderen Bestimmungen des Grundgesetzes zu entnehmen ist, siehe BVerfGE 39, S. 302 (314), und das Grundgesetz für die Vollziehung der Sozialversicherungsgesetze keine Aufgliederung in selbständige, voneinander unabhängige und nach dem Selbstverwaltungsprinzip organisierte Versicherungsträger verlangt, siehe BVerfGE 36, S. 383 (393). Indes beziehen sich diese Aussagen des Bundesverfassungsgerichts nur auf die konkrete Ausgestaltung der in mittelbarer Staatsverwaltung geführten und zu führenden Sozialversicherungsträger, insbesondere die Aufgliederung in verschiedene Träger – diese kann nach den genannten Aussagen des Bundesverfassungsgerichts beseitigt oder verändert und so etwa ein einziger (körperschaftlicher) Sozialversicherungsträger (etwa ein „Bundesamt für Krankenversicherung als bundesunmittelbare Körperschaft“, BVerfGE 39,

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

c) „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG Probleme hinsichtlich seines organisationsrechtlichen Gehalts bereitet der in Art. 87 Abs. 2 GG verwendete Begriff der „Körperschaften des öffentlichen Rechts“: Anders als in Art. 86 GG oder Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG, welche neben den „Körperschaften“ auch die „Anstalten“ des öffentlichen Rechts textlich umfassen1727, ist in Art. 87 Abs. 2 GG ausschließlich von „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ die Rede, womit sich die Frage stellt, ob in Art. 87 Abs. 2 GG andere rechtlich verselbständigte1728 Verwaltungseinheiten der mittelbaren Staatsverwaltung wie etwa die Anstalten ausscheiden, in Art. 87 Abs. 2 GG also ein enger Körperschaftsbegriff gilt1729. aa) Untechnischer, weitgefaßter Sammelbegriff Gegen ein solch enges, rein „technisches“ Verständnis des Körperschaftsbegriffes in Art. 87 Abs. 2 GG spricht aber, daß auch im zum Vergleich herangezogenen Art. 86 GG (ebenso wie in dem an Art. 86 GG anknüpfenden Art. 87 S. 302 [315]) geschaffen werden. Nicht hingegen steht die in Art. 87 Abs. 2 GG angeordnete mittelbare Staatsverwaltung als solche zur Disposition des Bundesgesetzgebers; lediglich kann er die länderübergreifenden Zuständigkeiten im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG auf Grundlage seiner Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) festlegen (siehe dazu bereits oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. c) bb) (2) (cc) (a) und 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) bb) (1)). – Papiers Aussage ist aber insoweit zutreffend (und augenscheinlich auch in diesem Sinne zu verstehen), als aus Art. 87 Abs. 2 GG kein begriffsnotwendiges Strukturmerkmal für die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG resultiert, sondern eine von der Gesetzgebungskompetenz zu trennende materielle Vorgabe, die der sich auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützende Bundesgesetzgeber bei der Ausgestaltung der „Sozialversicherung“ zu beachten hat, vgl. insoweit Papier, a. a. O., S. 35; siehe ferner ausführlich oben 2. Teil, Abschnitt I. I. 4. c) sowie 3. Teil, II. 3. a). 1727 Siehe zur Unterscheidung zwischen „Körperschaften“ und „Anstalten“ des öffentlichen Rechts etwa Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 51. 1728 Siehe zum Erfordernis der rechtlichen bzw. organisatorischen Verselbständigung als Wesensmerkmal von Körperschaften oder sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 36 ff., insb. 42; vgl. ferner Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 50; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 86 Rn. 16. 1729 Dafür etwa Armin Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 94 f., 244; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 54; Eberhard Schmidt-Aßmann, Zum staatsrechtlichen Prinzip der Selbstverwaltung, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 249 (253); Stefan Storr, Neuorganisation der Sozialen Sicherungssysteme, SGb 2004, S. 279 (281) unter unzutreffendem Hinweis auf Rudolf Werner Füsslein, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR (n. F.) 1 (1951), S. 644 f.

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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Abs. 3 S. 1 GG1730) die Aufzählung von „Körperschaften“ und „Anstalten“ nicht als abschließende Aufzählung angesehen wird, sondern diese beiden nur als typische Formen der mittelbaren Staatsverwaltung durch rechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten in Art. 86 GG herausgestellt werden, so daß etwa auch Stiftungen des öffentlichen Rechts als Form mittelbarer Staatsverwaltung unter Art. 86 GG fallen1731. Dann spricht nichts dagegen, das gleiche auch im Rahmen von Art. 87 Abs. 2 GG anzunehmen, solange es sich um Formen mittelbarer Staatsverwaltung durch rechtlich selbständige Verwaltungseinheiten des öffentlichen Rechts handelt. Der Begriff „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ ist in Art. 87 Abs. 2 GG daher weit zu verstehen und erfaßt neben den „eigentlichen“ Körperschaften des öffentlichen Rechts auch Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts; es handelt sich insoweit um einen untechnischen Sammelbegriff, welcher sämtliche Formen bundes- (oder landes-)unmittelbaren Rechtsträger der mittelbaren Staatsverwaltung beinhaltet.1732 Denn ratio legis des Art. 87 Abs. 2 GG ist die Anordnung mittelbarer Staatsverwaltung, so daß eine Beschränkung nur auf bestimmte Formen der mittelbaren Staatsverwaltung, d. h. nur auf bestimmte bundes- oder landesunmittelbare, rechtlich verselbständigte Rechtsträger auch nicht recht einsichtig wäre.1733 Auch soweit man die Einräumung von (zumindest einem gewissen Maß an) Selbstverwaltung als verfassungsrechtlich gewolltes Element der Sozialversicherung bzw. ihrer Träger ansieht1734, zwingt dies nicht zur Annahme eines engen Verständ1730 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 99. 1731 Siehe Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 22 ff., insb. 52; Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 68; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 86 Rn. 86 f.; für zumindest analoge Anwendung des Art. 86 GG hinsichtlich etwa Stiftungen Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 86 Rn. 43 ff. 1732 So etwa auch Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 280 f.; Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 71; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 244 f.; Matthias Jestaedt, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. II, 2002, Art. 87 Rn. 90; Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 28 f.; ders., Verwaltungsorganisation, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 69 Rn. 56 sowie Rn. 33 zum häufig indifferenten Körperschaftsbegriff im allgemeinen; Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 6 Rn. 21; Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 10; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 823. 1733 Vgl. Siegfried Broß, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 87 Rn. 17 ff.; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 160. 1734 Siehe ausführlich hierzu im folgenden unter 3. Teil, II. 4.

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

nisses des Begriffes „Körperschaften“ in Art. 87 Abs. 2 GG1735, da auch über die Etablierung anderer Organisationsformen des öffentlichen Rechts wie etwa der Anstalt ein hinreichendes Maß an Selbstverwaltung geschaffen werden kann1736. Auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes legt nahe, daß in Art. 87 Abs. 2 GG der Begriff „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ im allgemeineren Sinne von „juristische Personen des öffentlichen Rechts“ zu verstehen ist1737. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht etwa in der gemäß § 34 Abs. 2 des Schornsteinfegergesetzes (SchfG) als bundesunmittelbare rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts geführten Versorgungsanstalt der deutschen Bezirksschornsteinfegermeister eine „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ im Sinne von Art. 87 Abs. 2 GG erblickt1738. Überdies spricht das Gericht regelmäßig davon, daß für die organisatorische Art und Weise der Sozialversicherung kennzeichnend sei, daß sie durch „selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts“ bewerkstelligt werde1739. Auch die vermeintlich zweifelhafte Zulässigkeit der früheren „Bundesanstalt für Arbeit“ (heute: „Bundesagentur für Arbeit“, siehe § 367 SGB III) ist vor diesem Hintergrund kein Problem1740. bb) Privatrechtliche Organisationsformen Nicht unter selbst einen weit zu verstehenden Körperschaftsbegriff im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG fallen indes privatrechtliche Organisationsformen der Verwaltung1741.1742 Denn im Gegensatz zum Begriff „Körperschaft“ bietet die 1735 So aber etwa Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 54. 1736 Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 160. 1737 Siehe den Berichterstatter des Hauptausschusses für das Plenum des Parlamentarischen Rates Wilhelm Laforet in seinem Schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland betreffend Abschnitt VIII. Ausführung der Bundesgesetze und Verwaltung, Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 6. Mai 1949, wortgleich abgedruckt unter dem Titel „Verwaltung und Ausführung der Gesetze nach dem Bonner Grundgesetz“ in DÖV 1949, S. 221 (226); vgl. ferner Heinrich Herrfahrdt, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 87 (Erstbearbeitung) Erl. zu Abs. 2; Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 6 Rn. 21. 1738 BVerfGE 63, S. 1 (34 ff.); dazu auch Willi Blümel, Verwaltungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 101 Rn. 11. 1739 Siehe etwa BVerfGE 11, S. 105 (113); 63, S. 1 (35); 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34) – st. Rspr. 1740 Vgl. hierzu auch Armin Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 248 ff.; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 160 mit Fn. 63. 1741 Siehe näher zum Verwaltungsprivatrecht etwa Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 312 ff.; zu den

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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Formulierung „des öffentlichen Rechts“ keinen Spielraum für eine weite Interpretation, und der Befehl des Art. 87 Abs. 2 GG bezieht sich – anders als etwa bei Art. 87 Abs. 1 GG – auf die Verwaltungsträger selbst und nicht auf eine bestimmte Verwaltungsmaterie.1743 Mithin scheidet im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG nicht nur eine Organisationsprivatisierung aus1744 und erst Recht eine Aufgabenprivatisierung durch Übertragung der Aufgabe auf „echte“ Privatpersonen1745,1746 sondern auch eine sog. funktionale Privatisierung1747 der Sozialversicherungsträger, bei welcher die Aufgabenerledigung zwar wie bei der Aufgabenprivatisierung auf ein „echtes“ Privatrechtssubjekt übertragen wird, anders als bei dieser aber die Aufgabenverantwortung beim Staat verbleibt, der Private also in der Regel als Verwaltungshelfer eingesetzt wird. Möglich ist jedoch eine funktionale Privatisierung unterhalb der Ebene der Sozialversicherungskörperschaften im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG durch Auslagerung einzelner Aufgaben wie etwa für die Bereiche EDV-Abwicklung, Service oder Werbung1748; gleiches erscheint hinsichtlich einer Organisationsprivatisierung einzelnen Organisationsformen Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 54 f. 1742 Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 281; Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 56, Art. 87 Rn. 80; Matthias Jestaedt, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. II, 2002, Art. 87 Rn. 89; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 86 Rn. 88, Art. 87 Rn. 162; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 86 Rn. 17, Art. 87 Rn. 56. 1743 Peter Axer, a. a. O.; Martin Burgi, a. a. O.; Peter Lerche, a. a. O. 1744 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 80: Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 GG als „unübersteigbare Grenze“ für Organisationsprivatisierungen. 1745 Siehe Karl-Jürgen Bieback, Rechtliche Probleme der Kooperation und Ausgliederung von Funktionsbereichen der Sozialversicherungsträger, insbesondere der Krankenkassen, VSSR 1998, S. 177 (182), der demgegenüber allerdings die Organisationsprivatisierung für mit Art. 87 Abs. 2 GG vereinbar zu halten scheint; Hartmut Egger, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, SGb 2003, S. 76 (77); Maximilian Gassner, Aktuelle Fragen der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (Teil I), RPG 2003, S. 91 (98). 1746 Bei der Organisationsprivatisierung (auch: formelle Privatisierung) entledigt sich der Staat nicht einer bestimmten Aufgabe, sondern erfüllt sie weiterhin, bedient sich zu ihrer Erledigung aber der (Organisationsformen-)Formen des Privatrechts, bei der Aufgabenprivatisierung (auch: materielle Privatisierung) wird eine Aufgabe hingegen in den privaten Sektor verlagert, der Staat nimmt sie nicht mehr wahr. Näher hierzu Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 54 f.; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 86 Rn. 65 f.; Friedrich Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVBl. 1994, S. 962 ff. 1747 Näher zur funktionalen Privatisierung Friedrich Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVBl. 1994, S. 962 (963, 974). 1748 Näher Karl-Jürgen Bieback, Rechtliche Probleme der Kooperation und Ausgliederung von Funktionsbereichen der Sozialversicherungsträger, insbesondere der Kran-

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

bezüglich eigener Aufgaben als zulässig, etwa wenn Sozialversicherungsträger gemeinsame privatrechtliche Organisationen zur Erfüllung einzelner Aufgaben gründen (z. B. gemeinsame EDV-Abwicklung, gemeinsame Prüfung und Abrechnung mit Leistungserbringern)1749. cc) Beliehene Problematisch ist ferner, ob Beliehene1750 als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG gelten können. Einige Autoren bejahen dies, weil die dem Beliehenen durch den Beleihungsakt übertragene Möglichkeit, mit den Mitteln und Handlungsformen des öffentlichen Rechts zu handeln1751, diesen im Umfang der Beleihung zum Verwaltungsträger macht und der Beliehene insoweit „eigentlich ein Stück juristische Person des öffentlichen Rechts“ sei1752. Dies erscheint aber zweifelhaft: Denn gleichwohl ändert die Beleihung anerkanntermaßen nichts an der rechtlichen Organisationsform des Beliehenen; dieser bleibt vom Organisationsstatus her Privater1753. Da der Befehl des Art. 87 Abs. 2 GG sich aber direkt auf die (öffentlich-rechtliche) Organisationsform der Sozialversicherungsträger bezieht, verbietet sich die Klassifizierung Beliehener als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG.1754 Bezüglich Beliehener kann insoweit nichts anderes gelten als für die übrigen der Verwaltung zur Verfügung stehenden Privatisierungskenkassen, VSSR 1998, S. 177 ff.; Bernd W. Dortants/Stephan von Hansemann, Die Auslagerung von „Aufgaben“ durch Krankenkassen und ihre Verbände auf Dritte, NZS 1999, S. 542 ff.; siehe ferner auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 80, 82. 1749 Vgl. Karl-Jürgen Bieback, Rechtliche Probleme der Kooperation und Ausgliederung von Funktionsbereichen der Sozialversicherungsträger, insbesondere der Krankenkassen, VSSR 1998, S. 177 (180 ff.). 1750 Siehe näher zur Rechtsfigur des Beliehenen etwa Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 359 ff. 1751 Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 2. Aufl., 2006, § 40 Rn. 359. 1752 Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 45; ebenfalls für Zulässigkeit von Beliehenen im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 281. 1753 Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 80; vgl. auch Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 45. 1754 So auch die wohl herrschende Ansicht im Schrifttum, etwa Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 80; Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 62; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 162 (vgl. dort insb. Fn. 65); Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 10; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 86 Rn. 17.

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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formen, welche ebenfalls nicht als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG angesehen werden können1755. 4. (Garantie der) Selbstverwaltung a) Selbstverwaltung als „juristische“ und/oder als „politische“ Selbstverwaltung Einfachgesetzlich ist den Sozialversicherungsträgern „Selbstverwaltung“ in § 29 SGB IV eingeräumt. Selbstverwaltung meint nach herkömmlichem Begriffsverständnis „die dezentralisierte Verwaltung eigener Angelegenheiten durch Träger öffentlicher Verwaltung im eigenen Namen und auf eigene Kosten“1756. Darüber hinaus verlange Selbstverwaltung „nach herkömmlichem Verständnis mitgliedschaftliche Willensbildung“1757, d. h. das Wesen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung könne man dahin charakterisieren, „daß die Beteiligten, d. h. die Versicherten und ihre Arbeitgeber, in vorgegebenen Interessengemeinschaften durch die – demokratisch bestellten – Organe der [. . .] Versicherungsträger ihre eigenen, vom Staat als öffentlich anerkannten und gesetzlich näher ausgestalteten Aufgaben mit – im wesentlichen – eigenen Beitragsmitteln selbstverantwortlich in der Form der öffentlichen Verwaltung und infolgedessen unter der Aufsicht des Staates nach Gesetz und Satzung wahrzunehmen berechtigt und verpflichtet sind“1758. Bei genauerer Betrachtung werden damit zwei unterschiedliche inhaltliche Aspekte betont, die mit dem Begriff „Selbstverwaltung“ impliziert sein können, weswegen mittlerweile häufig auch zwischen „juristischer“ und „politischer“ Selbstverwaltung unterschieden wird: „Juristische“ Selbstverwaltung meint vor allem die selbständige, fachweisungsfreie Wahrnehmung eigener öffentlicher Angelegenheiten durch unterstaatliche Träger oder Subjekte öffentlicher Verwaltung im eigenen Namen1759, betont also vor allem den Aspekt der Eigenverantwortlichkeit durch eine gewisse Staatsdistanz1760, während bei „politischer“ Selbstverwaltung der Aspekt der Partizipation, d. h. der Betroffenenmitwirkung, hinzukommt bzw. im Vorder1755

Siehe dazu die vorhergehenden Ausführungen, 3. Teil, II. 3. c) bb). Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 7 Rn. 12. 1757 Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 283. 1758 Harry Rohwer-Kahlmann, Die Einwirkung verfassungsrechtlicher Normen auf das Recht der sozialen Sicherheit, NJW 1960, S. 1641 (1645). 1759 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 399 f.; Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht II, 5. Aufl., 1987, § 84 Rn. 34; vgl. auch Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: VVDStRL 12 (1954), S. 37 (47/49). 1760 Vgl. Reinhard Hendler, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl., 1996, B. 6 Rn. 15; Friedrich E. Schnapp, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 44; ders., Die Selbstverwaltung in der So1756

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

grund steht1761. Nicht selten werden aber auch beide Aspekte miteinander vermengt, die Inhalte „juristischer“ sowie „politischer“ Selbstverwaltung also vereint1762. b) Verfassungsrechtliche Absicherung der „sozialen Selbstverwaltung“? In der Sozialversicherung ist die einfachgesetzlich angeordnete Selbstverwaltung traditionell nicht nur in rechtlicher Hinsicht, sondern vor allem auch unter dem Aspekt der Betroffenenmitwirkung etabliert,1763 also – gemessen an obiger Terminologie – (auch) im Sinne „politischer“ Selbstverwaltung. Es stellt sich aber die Frage, ob und inwieweit die „soziale Selbstverwaltung“ für die Sozialversicherungsträger verfassungsrechtlich garantiert ist, Sozialversicherungsträger also von Verfassungs wegen mit derlei (rechtlichen oder politischen) Selbstverwaltungsbefugnissen ausgestattet sein müssen. aa) Absicherung durch Sozialstaats- oder Demokratieprinzip? Teils wird eine im eben beschriebenen Sinne auf Partizipation der Betroffenen ausgerichtete, (auch) „politische“ Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger als verfassungsrechtlich garantiert angesehen und diese Garantie aus allgemeinen Verfassungsprinzipien wie insbesondere dem Sozialstaatsgebot oder dem Demokratieprinzip hergeleitet1764. Jedoch sind diese allgemeinen Verfassungsprinzipien hierzu nicht geeignet: Das Sozialstaatsprinzip ist viel zu abzialversicherung, in: Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft – Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh, 1983, S. 881 (885). 1761 Siehe Reinhard Hendler, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl., 1996, B. 6 Rn. 12 f.; Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht II, 5. Aufl., 1987, § 84 Rn. 33. 1762 Siehe Reinhard Hendler, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl., 1996, B. 6 Rn. 12 f.; Winfried Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 3, 5. Aufl., 2004, § 97 Rn. 1 ff. 1763 Vgl. §§ 29 ff. SGB IV: § 29 Abs. 2 SGB IV regelt dabei die „politische“ Selbstverwaltung, d. h. die Betroffenenpartizipation, Abs. 3 hingegen die „rechtliche“ Selbstverwaltung (vgl. auch § 87 Abs. 1 SGB IV: grundsätzlich Beschränkung auf staatliche Rechtsaufsicht), siehe dazu auch BT-Drucks. 7/1422, S. 34 f.; vgl. ferner Ulrich Becker, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., 2008, § 13 Rn. 47 ff.; Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, in: VVDStRL 31 (1973), S. 179 (255); Friedrich E. Schnapp, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft – Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh, 1983, S. 881 (885 ff.). 1764 Harry Rohwer-Kahlmann, Die Einwirkung verfassungsrechtlicher Normen auf das Recht der sozialen Sicherheit, NJW 1960, S. 1641 (1644 f.); Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, in: VVDStRL 31 (1973), S. 179 (255 ff.).

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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strakt und garantiert – wie bereits weiter oben dargelegt1765 – nicht einmal die Sozialversicherung als solche; umso weniger lassen sich hieraus dann ganz konkret hinsichtlich Art und Umfang bestimmte Einzelprinzipien für die Sozialversicherung herleiten1766. Und das Demokratieprinzip besagt nichts über organisatorische Strukturen oder über die Aufgabenverteilung zwischen staatlichem Gesetzgeber und Verwaltungseinheiten der mittelbaren Staatsgewalt1767. bb) Absicherung durch Art. 87 Abs. 2 GG Als verfassungsrechtliche Grundlage für eine garantierte Verankerung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung kommt indes Art. 87 Abs. 2 GG selbst in Betracht.1768 Dieser stellt – wie zuvor bereits dargelegt – für die Organisation der Sozialversicherungsträger als Vorgabe die obligatorische mittelbare Staatsverwaltung durch bundes- bzw. landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts auf. (1) „Juristische“/„rechtliche“ Selbstverwaltung Gemeinhin wird das Spezifikum der mittelbaren Staatsverwaltung gegenüber der unmittelbaren (bundeseigenen) Verwaltung (durch unselbständige Verwaltungseinheiten) in einem bestimmten Grad an Entkoppelung vom Staat, also einer relativen Staatsdistanz durch Einräumung von Eigenverantwortlichkeit gesehen1769, ohne daß damit natürlich die Zuordnung zur Staatlichkeit beseitigt wäre. Gemeint ist mit „Staatsdistanz“ bzw. „Eigenverantwortlichkeit“ insoweit eine weniger intensive Form der Anbindung der Verwaltungseinheiten an die Entscheidungszentrale1770. Infolgedessen ist prägend für die mittelbare Staatsverwaltung, daß die sie tragenden bundes- bzw. landesunmittelbaren juristi1765

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) bb) (3). Siehe etwa Karl Heinrich Friauf, Das Verhältnis zwischen Selbstverwaltung und Aufsicht, DRV 1982, S. 113 (116); vgl. ferner Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 249; Friedrich E. Schnapp, in: Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft – Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh, 1983, S. 881 (889 f.). 1767 Friedrich E. Schnapp, in: Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft – Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh, 1983, S. 881 (890). 1768 Dafür etwa Karl Heinrich Friauf, Das Verhältnis zwischen Selbstverwaltung und Aufsicht, DRV 1982, S. 113 (116 ff.). 1769 Siehe etwa Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 86 Rn. 50; Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 66; vgl. ferner BVerfGE 39, S. 302 (313, 314). 1770 Vgl. Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 66. 1766

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3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

schen Personen des öffentlichen Rechts über ein gewisses Maß an Selbstverwaltung verfügen, und zwar dergestalt, daß sie prinzipiell nur der Rechtsaufsicht unterliegen und nicht wie die unselbständigen Verwaltungseinheiten der unmittelbaren Staatsverwaltung (auch) der Fachaufsicht, demgemäß also juristische/ rechtliche Selbstverwaltung (siehe oben) genießen. Dies gilt jedenfalls im Grundsatz1771. Soll die im Grundgesetz mitunter – wie etwa in Art. 87 Abs. 2 GG – vorgesehene obligatorische Anordnung von mittelbarer Staatsverwaltung einen rechtlich bzw. in bezug auf die damit verbundenen Rechtsfolgen relevanten Sinngehalt gegenüber der (insoweit ausgeschlossenen) unmittelbaren, bundeseigenen Veraltung durch unselbständige Verwaltungseinheiten haben, wird man dabei zumindest für diese Bereiche, in denen durch das Grundgesetz bestimmte Aufgaben obligatorisch gerade Trägern der mittelbaren Staatsverwaltung zugeschrieben sind, nicht umhinkommen, die Beschränkung auf die Rechtsaufsicht über einen unspezifischen „Grundsatz“ hinaus dergestalt als abgesichert anzusehen, daß im Hinblick auf diese eigenen Angelegenheiten jedenfalls ein Grundbestand an rechtlicher/juristischer Selbstverwaltung eingeräumt sein muß1772 und eine volle fachliche Weisungsbefugnis der zuständigen Exekutivspitzen ausgeschlossen ist1773. Sofern danach Fachaufsicht überhaupt in Betracht kommt, darf sie allenfalls auf einzelne Aufgabenbereiche bezogen sein1774 oder bedarf besonderer sachlicher Rechtfertigung1775. 1771 Insoweit davon ausgehend, daß Beschränkung auf Rechtsaufsicht typischerweise bzw. regelmäßig, nicht aber zwingend bzw. begriffsnotwendig der Fall ist bzw. sein muß: Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 283; Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 246; Matthias Jestaedt, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. II, 2002, Art. 87 Rn. 90; Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 66; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 86 Rn. 40, Art. 87 Rn. 159; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 4. Aufl., 2005, § 18 Rn. 21; Stefan Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2007, § 6 Rn. 21. 1772 Siehe auch Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 246 f.; Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 159; für „Grundbestand an Selbstverwaltungsrechten“ in diesem Sinne etwa auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 77. 1773 Vgl. Hans-Peter Bull, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 87 Rn. 43 f.; Georg Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 43; Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 10; Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 117; Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht II, 5. Aufl., 1987, § 84 Rn. 35, 39. 1774 Siehe insoweit etwa § 87 Abs. 2 SGB IV, der Fachaufsicht für den Bereich der Prävention in der gesetzlichen Unfallversicherung anordnet. 1775 Vgl. Karl Heinrich Friauf, Das Verhältnis zwischen Selbstverwaltung und Aufsicht, DRV 1982, S. 113 (118); Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 159.

II. Art. 87 Abs. 2 GG

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In diesem Umfang garantiert Art. 87 Abs. 2 GG somit („juristische“/„rechtliche“) Selbstverwaltungsbefugnisse für die Sozialversicherungsträger.1776 Die insoweit abgesicherte Selbstverwaltung resultiert dabei allerdings – um diesem möglichen Mißverständnis vorzubeugen – nicht aus dem Status als Sozialversicherungsträger, stellt also „kein speziell sozialversicherungsrechtliches Phänomen“1777 dar, sondern ist eine Folge der obligatorischen Anordnung mittelbarer Staatsverwaltung, wie sie Art. 87 Abs. 2 GG für die Sozialversicherungsträger ausspricht. (2) „Politische“ Selbstverwaltung Eine über dieses Maß an rechtlicher/juristischer Selbstverwaltung hinausgehende „politische“, d. h. auf Betroffenenpartizipation ausgerichtete Selbstverwaltung ist in Art. 87 Abs. 2 GG hingegen nicht verbürgt; dies ergibt sich nicht zuletzt bereits daraus, daß eine dergestalt verstandene politische Selbstverwaltung eine mitgliedschaftliche Willensbildung erfordert, welche aber nur die mitgliedschaftlich verfaßten Körperschaften des öffentlichen Rechts im engeren, „technischen“ Sinne kennzeichnet, nicht hingegen sonstige Organisationsformen verselbständigter Verwaltungseinheiten, welche vom in Art. 87 Abs. 2 GG verwendeten weiten, „untechnischen“ Körperschaftsbegriff (siehe oben) aber ebenfalls erfaßt sind.1778 5. Keine Garantie der Sozialversicherung Der Verwaltungskompetenz- und Organisationsnorm des Art. 87 Abs. 2 GG ist keine Garantie der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu entnehmen: Weder ist durch Art 87 Abs. 2 GG das bestehendes System der Sozialversicherung gegen Änderung oder Abschaffung geschützt, noch resultiert aus ihm ein Verfassungsausftrag zu ihrer Schaffung oder Erhaltung. Dies wurde bereits an anderer Stelle ausführlich hergeleitet, so daß hier auf die betreffenden Ausführungen1779 verwiesen sei. 1776

Siehe jeweils auch die Nachweise in den vorhergehenden fünf Fußnoten. Reinhard Hendler, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl., 1996, B. 6 Rn. 11. 1778 Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 282 f. – Im Ergebnis gegen eine Verfassungsgarantie der „sozialen Selbstverwaltung“ als einer „politischen“, auf Betroffenenpartizipation ausgerichteten Selbstverwaltung wohl auch die insgesamt h. M., siehe etwa Peter Axer, a. a. O., S. 282 ff.; Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 77 f.; Reinhard Hendler, Das Prinzip Selbstverwaltung, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 106 Rn. 57; Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 55; Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 225; a. A. (partizipatorische Selbstverwaltung verfassungsrechtlich gewährleistet) wohl Friedrich E. Schnapp, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 43. 1777

472

3. Teil: Verwaltungskompetenzen und organisationsrechtliche Vorgaben

Nur die Preisgabe der Verfolgung des heute in Form der Sozialversicherung angestrebten Sicherungszwecks überhaupt dürfte am Sozialstaatsprinzip, der Menschenwürdegarantie oder auch dem staatlichen Schutzauftrag aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für Leben und körperliche Unversehrtheit, nicht aber an Art. 87 Abs. 2 GG, scheitern.1780

III. Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG regelt einen Fall fakultativer Bundesverwaltung, der – anders als Art. 87 Abs. 2 GG – nicht spezifisch auf die Träger der Sozialversicherung zugeschnitten ist, sondern für alle „Angelegenheiten“ gilt, „für die dem Bunde die Gesetzgebung zusteht“. Für diese kann der Bund selbständige Bundesoberbehörden und neue bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts durch Bundesgesetz errichten. Hinsichtlich der Sozialversicherung betrifft dies Institutionen, die nicht Sozialversicherungsträger im Sinne des Art. 87 Abs. 2 GG sind.1781 Zwar tritt die Ermächtigung des Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG im Ganzen zu den sonstigen Ermächtigungen und Verpflichtungen des Art. 87 GG hinzu (arg. „Außerdem“), jedoch bildet Art. 87 Abs. 2 GG für seinen gesonderten Bereich (Sozialversicherungsträger) eine abschließende, weder modifizierungs- noch ergänzungsfähige Regelung.1782 Mangels unmittelbarem Bezug zu den Versicherungsverhältnissen und damit zur Durchführung der Sozialversicherung sind keine Sozialversicherungsträger insbesondere die sog. Dachverbände von Versicherungsträgern (etwa der AOKBundesverband oder sonstige Bundesverbände von Krankenkassen) oder die Zusammenschlüsse von Leistungserbringern (wie etwa die Kassenärztliche Bundesvereinigung, KBV, oder die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, KZBV), da sie bloße Koordinationsaufgaben wahrnehmen1783. Für ihre Errichtung gilt daher nicht Art. 87 Abs. 2 GG, sondern Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG.1784 1779

Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) bb) (1). Siehe Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 87 Rn. 57. 1781 Vgl. Armin Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 246 f. 1782 Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 170. 1783 Peter Lerche, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 87 Rn. 156. 1784 Siehe Willi Blümel, Verwaltungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 101 Rn. 113 mit Fn. 655; Hans Peter Bull, in: Denninger/Ridder/Simon/Stein, Alternativkommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 87 Rn. 103; Armin Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 246 f.; Detlef Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, in: Der Verwaltungsstaat im Wandel – Festschrift für Franz Knöpfle zum 70. Geburtstag, 1996, S. 219 (228 f.); vgl. auch Martin Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 87 Rn. 60. 1780

4. Teil

Die Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG I. Allgemeines zu Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Neben Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG ist Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG die dritte Vorschrift des Grundgesetzes, die speziell der „Sozialversicherung“ gewidmet ist. Nach ihr trägt der Bund „die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluß der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe“. Der Begriff „Sozialversicherung“ entspricht dabei dem in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.1785 Die Vorschrift ist eine Lastenverteilungsregelung1786 und wird daher als Zuständigkeitsvorschrift angesehen1787. Trotz seiner systematischen Stellung im Bereich der Übergangsbestimmungen im XI. Abschnitt des Grundgesetzes ist Art. 120 Abs. 1 (S. 4) GG als Regelung zur Abgrenzung der Finanzverantwortung im Bundesstaat inhaltlich dem Bereich der Finanzverfassung zuzuordnen.1788 Er durchbricht den allgemeinen, in Art. 104a Abs. 1 GG enthaltenen Lastenverteilungsgrundsatz, nach welchem der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben (Ausgabenverantwortung1789), und enthält somit eine andere Bestimmung im Sinne von Art. 104a Abs. 1 Hs. 2 GG.1790 Nach ganz überwiegender Auffassung ist er daher – seiner „irrefüh1785 Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 7. 1786 Heinrich Reiter, Soziallast als Steuerlast, in: Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitk – Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 1101 (1105); Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 26. 1787 BVerfGE 113, S. 167 (Ls. 2, S. 207 ff., 213). 1788 Siehe BVerfGE 113, S. 167 (200): „spezielle finanzverfassungsrechtliche Norm“; Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 1; Ferdinand Kirchhof, Die Verteilung der Finanzverantwortung für die Rentenversicherung zwischen Solidargemeinschaft und Staat, DRV 1993, S. 437 (439); Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 1. 1789 Heinrich Reiter, Soziallast als Steuerlast, in: Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitk – Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 1101 (1105). 1790 Vgl. Ferdinand Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 (162); Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 3.

474

4. Teil: Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

renden“1791 Verortung im XI. Abschnitt des Grundgesetzes zum Trotz – auch keine Übergangsvorschrift, sondern eine auf Dauer angelegte Regelung.1792 Ferner ist er nicht auf solche Sozialversicherungslasten beschränkt, die Folge des Krieges sind, denn für solche hätte es in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG keiner eigenständigen Regelung bedurft, da Kriegsfolgelasten bereits von Art. 120 Abs. 1 S. 1–3 GG erfaßt sind.1793 Seine Verortung in Art. 120 GG Abs. 1 GG dürfte allerdings dem Umstand geschuldet sein, daß die Sozialversicherung infolge des Zweiten Weltkrieges erhebliche finanzielle Schäden erlitten hatte, die allein durch die Beiträge der Versicherten nicht wett zu machen waren, womit sich die Frage der Lastenverteilung hinsichtlich notwendiger Zuschüsse ganz besonders stellte.1794 Zusammen mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG bildet Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG „ein in sich geschlossenes Regelungssystem für die Sozialversicherung und deren Finanzierung. Diese Bestimmungen gehen als speziellere Normen den allgemeinen, steuerzentrierten Vorschriften des X. Abschnitts des Grundgesetzes vor.“1795

II. Gehalt als Lastenverteilungsregelung Der „kompetenzrechtliche Gehalt“1796 des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG besteht darin, daß er eine Regelung über die Abgrenzung der Ausgabenverantwortung im Bundesstaat, also eine bundesstaatliche Regelung über die finanziellen Verhältnisse von Bund und Ländern trifft.1797 Er verteilt die „Ausgabenkompe1791 Gertrude Lübbe-Wolff, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 120 Rn. 16. 1792 Siehe etwa Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 1; Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (662); Gertrude LübbeWolff, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 120 Rn. 16; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 7. 1793 Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 26; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 22; siehe auch Heinrich Reiter, Soziallast als Steuerlast, in: Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitk – Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 1101 (1105). 1794 Vgl. hierzu Karsten Kayser, Inhalt und Grenzen der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz, 2005, S. 140 f. 1795 BVerfGE 113, S. 167 (200); ganz ähnlich Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (665). – Vgl. ausführlich zur Abgrenzung zwischen Sozialversicherungsbeitrag und Steuer oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (cc) und (dd) sowie 2. Teil, Abschnitt I, 4. b) bb) (4) (d). 1796 Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 34.

II. Gehalt als Lastenverteilungsregelung

475

tenz“1798 für die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung im Verhältnis des Bundes zu den Ländern, indem er – in Durchbrechung des Konnexitätsgrundsatzes des Art. 104a GG1799 – bestimmt, daß diese Zuschüsse der Bund zu tragen hat. Zuschüsse sind staatliche Zuweisungen an die Sozialversicherungsträger bzw. allgemein in das Sozialversicherungsvermögen, welche in pauschalisierter Form und ohne konkreten Bezug zu bestimmten Versicherungsverhältnissen aus Steuermitteln gezahlt werden1800 und über die durch die Sozialversicherungsträger erwirtschafteten eigenen Mittel der Sozialversicherung (also insbesondere das Beitragsaufkommen) hinausgehen. Sie sollen gewährleisten, daß die Sozialversicherungsträger ihre gesetzlichen Leistungspflichten erfüllen können.1801 Wie bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt, sind sie schon begrifflich auf eine Teilfinanzierung beschränkt und dürfen die Beitragsfinanzierung nicht soweit in den Hintergrund treten lassen, daß der entgeltliche Versicherungscharakter der Materie „Sozialversicherung“ beseitigt würde.1802 Erfaßt sind von Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG nur die Sachausgaben der Sozialversicherung, nicht hingegen die Personal- und Verwaltungskosten der Sozialversicherungsträger.1803 Bundeszuschüsse werden derzeit zur gesetzlichen Rentenversicherung (siehe §§ 213 ff. SGB VI), zur Arbeitslosenversicherung (siehe §§ 363 ff. SGB III) und zur gesetzlichen Krankenversicherung (siehe § 221 SGB V) geleistet. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG verleiht indes keine eigenständige Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der Zuschüsse zur Sozialversicherung; diese resultiert vielmehr aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.1804 Dies ergibt sich auch daraus, daß 1797 BVerfGE 113, S. 167 (211); Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 33. 1798 BVerfGE 113, S. 167 (208). 1799 Siehe im Vorhergehenden (4. Teil, I.). 1800 Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 24. 1801 Vgl. Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 110 ff.; Karl-Heinz Schaefer, in: v. Münch/Kunig, GrundgesetzKommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 120 Rn. 17; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 25. 1802 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (1) (d) (aa) (d). 1803 Karl-Jürgen Bieback, Die Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung, VSSR 1993, S. 1 (17); Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 31. 1804 Siehe auch Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 2; vgl. BVerfGE 113, S. 167 (212): „So kann der Bund unter Inanspruchnahme seiner Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unterschiedlichste Maßnahmen (etwa [. . .] Staatszuschüsse) ergreifen, um die finanziellen Verhältnisse der Sozialversicherung zu regeln“. Vgl. ferner BVerfGE 9, S. 305 (315): Dort hatte es das Bundesverfassungsgericht zwar offen gelassen, ob die Gesetzgebungskompetenz für das dort streitgegenständliche Tilgungsgesetz „nur“ auf Art. 73 Nr. 4 GG oder „auch“ auf Art. 120 GG beruht. Fraglich war

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4. Teil: Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

die lex generalis über die Verteilung der Ausgabenverantwortung zwischen Bund und Ländern, Art. 104a GG, anders als etwa Art. 105 GG keine eigenständigen Gesetzgebungszuständigkeiten begründet, sondern solche vielmehr voraussetzt: denn nach dem allgemeinen Grundsatz über die Lastenverteilung bzw. die Ausgabenverantwortung folgen die Ausgaben der Wahrnehmung der Aufgaben1805, mithin den Verwaltungskompetenzen1806, diese wiederum folgen den Gesetzgebungskompetenzen1807. Besonders deutlich zeigt auch Art. 104a Abs. 3 GG, daß die Vorschrift Gesetzgebungskompetenzen voraussetzt und nicht verleiht1808, da er auf bereits erlassene, sich folglich bereits auf eine (anderweitige) Kompetenz stützende Bundesgesetze Bezug nimmt. Werden auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Staatszuschüsse vorgesehen, um die finanziellen Verhältnisse der Sozialversicherung zu regeln,1809 dann bestimmt Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, daß diese letztlich allein vom Bund aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren sind1810. Der Bund darf von seiner Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur in einer Weise Gebrauch machen, die im Einklang mit den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes, also auch im Einklang mit Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG steht.1811 Es ist dem Bund hierdurch also verboten, die Länder gesetzlich zu verpflichten, Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung aus den jeweiligen Landeshaushalten zu lei-

damit aber nur, ob sie allein aus Art. 70 ff. GG resultierte oder aus Art. 70 ff. GG in Verbindung mit Art. 120 GG, so daß sie jedenfalls ihre Grundlage in Art. 70 ff. GG hat. Im Hinblick auf die Prüfung der Vereinbarkeit des Tilgungsgesetzes mit Art. 120 GG konnte das Gericht die Frage offen lassen, denn „auch wenn die Gesetzgebungskompetenz des Bundes lediglich aus Art. 73 Nr. 4 GG herzuleiten ist, muß Art. 120 GG beachtet werden. Der Bundesgesetzgeber darf von seinen Befugnissen nach Art. 73 ff. GG GG nur in einer Weise Gebrauch machen, die in Einklang mit den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes, also auch in Einklang mit Art. 120 GG, steht“. Vgl. auch Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (664). 1805 BVerfGE 9, S. 305 (329); Hans-Wolfgang Diemer, Zum Staatszuschuß bei den Sozialversicherungen, VSSR 1982, S. 31 (38). 1806 Siehe Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 2. 1807 Siehe etwa BVerfGE 12, S. 205 (229); BVerfGE 15, S. 1 (16). 1808 Vgl. Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 5. 1809 Vgl. BVerfGE 113, S. 167 (212); Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (664): „Der Bund hat durch sein Gesetzgebungrecht im Bereich der Sozialversicherung gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die vollständige Regelungsgewalt über die gesamte Finanzierung sowie die Leistungen und Ausgaben der Sozialversicherung“. 1810 BVerfGE 113, S. 167 (211). 1811 Vgl. BVerfGE 9, S. 305 (315).

II. Gehalt als Lastenverteilungsregelung

477

sten.1812 Die Vorschrift betrifft damit im Ergebnis vor allem diejenigen Zuschüsse, die an die zum Aufgabenbereich der Länder gehörenden Sozialversicherungsträger1813 geleistet werden, da sich die Lastentragung des Bundes für die zu dessen Verwaltungsbereich gehörenden Träger bereits aus der Grundregel des Art. 104a GG ergäbe.1814 Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG will sicherstellen, daß die Länder als Gebietskörperschaften von Sozialversicherungslasten verschont bleiben.1815 Er schützt die Länder davor, daß der Bund auf Grundlage seiner umfassenden Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung und deren Finanzierung die Länder durch Gesetz zwingt, die von ihm verursachten Defizite der Sozialversicherung zu finanzieren.1816 Strittig ist indes, ob mit Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG gleichzeitig ein Verbot für die Länder einhergeht, ihrerseits Zuschüsse zur Sozialversicherung (insbesondere den landesunmittelbaren Sozialversicherungsträgern) zu leisten. Mitunter wird ein solches Verbot für die Länder verneint, da Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG nur ein an den Bund gerichtetes Verbot beinhalte, diese Zuschüsse bzw. deren Tragung auf die Länder abzuwälzen.1817 Mit der wohl herrschenden Meinung1818 ist demgegenüber davon auszugehen, daß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Zuschüssen durch die Länder entgegensteht. Denn die grundgesetzlichen Vorschriften über die Lastenverteilung treffen eine zwingende und abschließende 1812 Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 73; Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (663); Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 120 Rn. 24; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 34. 1813 Vgl. oben, 3. Teil, II. 2. 1814 Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (663); Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 25. 1815 BVerfGE 113, S. 167 (211). 1816 Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (664). 1817 So etwa Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 28; Hans-Wolfgang Diemer, Zum Staatszuschuß bei den Sozialversicherungen, VSSR 1982, S. 31 (38); Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 73. 1818 Siehe etwa Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (663); Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 37; ders., Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 (162); Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 34; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 25.

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4. Teil: Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

Regelung zur Ausgabenverantwortung im Bundesstaat, so daß der Regelungsgehalt des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG für Landeszuschüsse keinen Raum läßt.1819 Außerdem soll Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG seinem Gesetzeszweck nach eine gleichmäßige Belastung der gesamten Bevölkerung des Bundesgebietes mit Sozialversicherungslasten erreichen1820, was durch die Möglichkeit von Landeszuschüssen konterkariert würde.

III. Sonstige Gehalte, insbesondere Einstandspflichten des Bundes? Fraglich und strittig ist, ob und inwieweit Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG über den im Vorhergehenden untersuchten lastenverteilenden Gehalt hinaus weitere Gehalte zukommen. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG über die Lastentragungspflicht hinausgehende Einstandspflichten des Bundes begründet, ihn also verpflichtet, sich im Bedarfsfalle mit (laufenden) Zuschüssen an der Finanzierung der Sozialversicherung zu beteiligen oder zumindest im Krisenfall das Bestehen der Sozialversicherung im Wege einer Art Garantiehaftung zu gewährleisten.1821 Einher geht dies mit der Frage, ob aus derartigen Pflichten des Bundes gegebenenfalls konkrete Ansprüche Dritter (insbesondere der Sozialversicherungsträger) resultieren können. 1. Allgemeine Zuschußpflicht des Bundes nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG? a) Keine allgemeine Zuschußpflicht des Bundes aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Fraglich ist zunächst, ob aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG eine „allgemeine Zuschußpflicht des Bundes“1822 herausgelesen werden kann, d. h. eine generelle Verpflichtung des Bundes, aufgrund von Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG bei unzureichender Finanzausstattung der Sozialversicherungsträger einen Finanztransfer

1819 Vgl. Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 34. 1820 BVerfGE 113, S. 167 (214); Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 1; Karl-Heinz Schaefer, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 120 Rn. 2. 1821 Diese beiden Fragestellungen unterscheidet auch Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 35 f. 1822 Hans-Wolfgang Diemer, Zum Staatszuschuß bei den Sozialversicherungen, VSSR 1982, S. 31 (43).

III. Sonstige Gehalte, insbesondere Einstandspflichten des Bundes?

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durch Zuschüsse zur Defizitausgleichung vorzunehmen1823. Dies verbietet sich indes schon aus der einfachen Erwägung heraus, daß es der Bund auf Grundlage seiner auch sämtliche Finanzierungsfragen der Sozialversicherung umfassenden Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG selbst in der Hand hat darüber zu befinden, wie er Leistungen, Ausgaben und Finanzierung der Sozialversicherung konkret ausgestaltet.1824 Zum Defizitausgleich stehen ihm daher neben eventuellen Bundeszuschüssen auch zahlreiche andere Instrumentarien zur Verfügung wie etwa Versichertenzuzahlungen, Beitragserhöhungen, Leistungskürzungen oder sonstige Einsparmaßnahmen. Insofern bestünde schon kein plausibler Ansatzpunkt, wann dem Bund der Zugriff auf diese anderen Instrumentarien verwehrt sein und er stattdessen zwingend zur Vornahme von Bundeszuschüssen verpflichtet sein soll. Abgesehen davon betrifft Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG als finanzverfassungsrechtliche Lastenverteilungsregelung1825 aber auch ausschließlich das Verhältnis von Bund und Ländern hinsichtlich der Ausgabenverantwortung. Ebenso wie die diesbezügliche lex generalis des Art. 104a Abs. 1 GG bestimmt er somit nur über die Verteilung entstehender Lasten und besagt damit lediglich, daß, wenn vom Bund Zuschüsse vorgesehen werden, diese auch von ihm zu tragen sind1826, trifft damit aber keine Aussage, ob solche Zuschüsse vorzusehen sind.1827 b) Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG und Zuschüsse für „versicherungsfremde Leistungen“ Der im Vorhergehenden getroffene Befund gilt auch im Hinblick auf sog. „versicherungsfremde Leistungen“1828 in der Sozialversicherung.1829 Soweit als 1823 Vgl. Ferdinand Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 (162): Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG weise dem Bund „die Pflicht zum Finanztransfer bei unzureichender Finanzausstattung der Sozialversicherungsträger zu“; ders., Die Verteilung der Finanzverantwortung für die Rentenversicherung zwischen Solidargemeinschaft und Staat, DRV 1993, S. 437 (439 f.). 1824 Vgl. BVerfGE 113, S. 167 (212). 1825 Siehe oben, 4. Teil, I. und II. 1826 Siehe BVerfGE 113, S. 167 (211); Josef Isensee, Finanzverfassung und Sozialrecht, in: SDSRV 35 (1992), S. 7 (38); Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 37. 1827 Siehe Hans-Wolfgang Diemer, Zum Staatszuschuß bei den Sozialversicherungen, VSSR 1982, S. 31 (43); Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 8; Gertrude Lübbe-Wolff, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 120 Rn. 16; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 120 Rn. 24. 1828 Siehe zu den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten dieses Begriffes oben 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. a) dd) (3) (b) (bb). 1829 Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 30, Fn. 114; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kom-

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4. Teil: Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

solche nur „versicherungsuntypische“ Leistungen infolge sozialer Modifizierungen des Versicherungsschutzes gemeint sind, ist nicht ersichtlich warum hierfür eine Einstandspflicht des Bundes durch Zuschüsse begründet sein sollte – denn diese sozialen Modifizierungen begründen letztlich gerade den „sozialen“ Versicherungsschutz, sind also „sozialversicherungstypisch“. Sie zwingend durch Zuschüsse finanziert wissen zu wollen, liefe darauf hinaus, den „sozialen Ausgleich“ allein durch Zuschüsse zu bewerkstelligen und nicht auch durch eine bestimmte, von der Individualäquivalenz abgelöste Beitragsgestaltung. Dies mag eine zulässige Ausgestaltungsform der Materie „Sozialversicherung“ sein, ist aber kein zwingendes begriffliches Erfordernis des Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“,1830 und es kann damit auch keine Vorgabe des auf diese Materie bezogenen Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG darstellen. Handelt es sich hingegen um tatsächlich den Versicherungscharakter beseitigende „versicherungsfremde Leistungen“, kommt ein auf Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG gestützter Zuschuß zur „Sozialversicherung“ überhaupt nicht mehr in Betracht, weil es dann bereits an den Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz für die Materie „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fehlt.1831 c) Keine Anspruchsnorm Der Beschränkung auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entspricht es auch, daß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG nur von den Lasten der Sozialversicherung insgesamt spricht, nicht aber von Lasten einzelner Sozialversicherungsträger.1832 Daraus resultiert, daß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG keine Regelung über die Lastenverteilung zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern enthält.1833 Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG ist insoweit auch keine Anspruchsnorm, und die Sozialversicherungsträger gehören nicht zum Adressatenkreis der Vorschrift.1834 Selbst wenn also eine Zuschußverpflichtung des Bundes bestünde, handelte es sich hierbei um eine „Verpflichtung ohne Berechtigte“1835. Nicht nur für die Sozialversicherungsträger, sondern erst recht für „Dritte“, welche dem von

mentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 38; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 27. 1830 Siehe dazu oben, 2. Teil, Abschnitt 1, I. 4. b) bb) (1) (b) (dd). 1831 Siehe auch Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 89. 1832 Siehe Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (664). 1833 BVerfGE 113, S. 167 (207 ff.); Werner Heun, Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 657 (664). 1834 BVerfGE 113, S. 167 (207 ff.); Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 37.

III. Sonstige Gehalte, insbesondere Einstandspflichten des Bundes?

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Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG in Bezug genommenen Bund-Länder-Verhältnis noch ferner stehen (etwa Versicherte), bestehen keine Ansprüche aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG.1836 d) Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG und Binnentransfers zwischen Sozialversicherungsträgern (Risikostrukturausgleich) Aus den genannten Gründen steht Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG auch nicht einem Binnenausgleich zwischen den Sozialversicherungsträgern in Gestalt eines Risikostrukturausgleichs (wie in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 266 SGB V) entgegen: Denn wenn eine generelle Zuschußpflicht des Bundes zur Defizitausgleichung der Sozialversicherung schlechthin schon nicht besteht, besteht sie erst recht nicht hinsichtlich der Defizite einzelner Sozialversicherungsträger. Als ausschließlich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern regelnde Vorschrift will Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG sicherstellen, daß die Länder als Gebietskörperschaften von Sozialversicherungslasten verschont bleiben, nicht aber will er verhindern, daß andere Rechtsträger, insbesondere Sozialversicherungsträger, belastet werden.1837 Vor diesem Hintergrund ist ein Binnentransfer zwischen defizitären und nicht-defizitären Sozialversicherungsträgern auch deshalb im Hinblick auf Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG unbedenklich, weil die bestehende, in einzelne Träger untergliederte Organisationsstruktur der Sozialversicherung eine einfachgesetzliche Systementscheidung darstellt, welche verfassungsrechtlich nicht garantiert ist, so daß es dem Gesetzgeber nicht verwehrt wäre, sämtliche Träger eines Sozialversicherungszweiges zu einem einzigen Sozialversicherungsträger gemäß Art. 87 Abs. 2 GG zusammenzufassen1838 – dann aber 1835 Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 37; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 28. 1836 Ganz h. M., siehe etwa BVerfGE 14, S. 221 (235); 113, S. 167 (207 ff., 213); BSGE 34, S. 177 (178 f.); BSGE 47, S. 148 (154); Karl-Jürgen Bieback, Die Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung, VSSR 1993, S. 1 (18); Manfred Glombik, Das Grundgesetz und die Finanzverantwortung für die Rentenversicherung, RiA 1993, S. 280; Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 217; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 8; Gertrude Lübbe-Wolff, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 120 Rn. 16; Theodor Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar (Loseblatt), Art. 120 Rn. 24; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 37; Karl-Heinz Schaefer, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 120 Rn. 17, 19 f.; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 6, 26. 1837 BVerfGE 113, S. 167 (211). 1838 BVerfGE 113, S. 167 (201); ebenso schon BVerfGE 36, S. 383 (393); 39, S. 302 (315); 89, S. 365 (377). – Siehe hierzu auch oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 4. a) aa) sowie 5. c) bb) (1).

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4. Teil: Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

vollzöge sich ein zeitlich unbegrenzter, vollständiger Lastenausgleich von selbst.1839 e) Keine materielle Wirkung hinsichtlich Grundrechten Als rein staatsorganisatorischer Lastenverteilungsregelung im Bund-LänderVerhältnis kann Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG auch kein materieller Gehalt im Hinblick auf die Grundrechtspositionen der Sozialversicherten entnommen werden: Er enthält daher etwa im Hinblick auf Binnentransfers zwischen einzelnen Sozialversicherungsträgern (wie etwa den Risikostrukturausgleich nach § 266 SGB V) auch „kein spezielles verfassungsrechtliches Differenzierungsverbot, das die ungleiche Behandlung der Mitglieder ausgleichspflichtiger Krankenkassen einerseits und der Gesamtheit der Steuerzahler andererseits verbieten würde“.1840 Ebensowenig kann ihm ein gegenläufiger Gehalt entnommen werden, der solche oder andere Ungleichbehandlungen sachlich rechtfertigen könnte, da bloßen Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes prinzipiell keine materielle Legitimationswirkung innewohnt1841. 2. Zuschußpflicht des Bundes in besonderen „Krisensituationen“ (Garantiehaftung des Bundes)? Weitaus häufiger als eine im Vorhergehenden untersuchte allgemeine Zuschußpflicht des Bundes wird eine „Garantiehaftung“ des Bundes aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG hergeleitet, mittels welcher der Bund verpflichtet sei, jedenfalls in Krisensituationen die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung durch Zuschüsse nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG sicherzustellen1842.1843 1839

BVerfGE 113, S. 167 (201 f.). BVerfGE 113, S. 167 (213). 1841 Siehe allgemein hierzu oben 2. Zeil, Abschnitt 1, IV. (insb. 5.). 1842 Siehe auch Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 36, 39; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 28. 1843 Für eine solche Bundesgarantie etwa BVerfGE 76, S. 256 (306 f.), allerdings ohne Bezugnahme auf Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG; Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 120 Rn. 29; Karl-Jürgen Bieback, Die Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung, VSSR 1993, S. 1 (19 ff.); Manfred Glombik, Das Grundgesetz und die Finanzverantwortung für die Rentenversicherung, RiA 1993, S. 280 f.; Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rn. 53; ders., Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 (162): Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG weise dem Bund „die Pflicht zum Finanztransfer bei unzureichender Finanzausstattung der Sozialversicherungsträger zu“; ders., Die Verteilung der Finanzverantwortung für die Rentenversicherung zwischen Solidargemeinschaft und Staat, DRV 1993, S. 437 (439 f.). 1840

III. Sonstige Gehalte, insbesondere Einstandspflichten des Bundes?

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Es vermag indes nicht zu überzeugen, eine solche Bundesgarantie für die Sozialversicherung aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG herzuleiten. Wenn Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG keine allgemeine Zuschußpflicht des Bundes begründen kann1844, ist schwer ersichtlich, warum dies hinsichtlich einer „besonderen“, auf Krisensituationen beschränkten Zuschußpflicht anders sein soll. Letztlich sind die Grenzen zwischen einer allgemeinen Defizithaftung und einer besonderen Bundesgarantie für Krisensituationen fließend; auch eine allgemeine Defizithaftung setzt zumindest eine „kleine“ oder nur vorübergehende „Krise“ voraus. Wenn aber dem Normtext des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG ebenso wie seiner auf das Bund-LänderVerhältnis beschränkten Lastenverteilungsfunktion keine Anhaltspunkte für eine „allgemeine“ Zuschußverpflichtung des Bundes zu entnehmen ist, dann kann hieraus umso weniger eine Garantieverpflichtung für eine spezifische „Krisensituation“ extrahiert werden, welche sich zudem nur rein quantitativ von den eine allgemeine Zuschußpflicht begründenden Umständen unterscheiden würde. Da eine Garantiehaftung des Bundes in Krisensituationen, welche die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung bedrohen, letztlich auf eine aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG hergeleitete Garantie des Bestandes des Systems „Sozialversicherung“ hinausliefe, spricht auch die systematische Verortung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG im Regelungskomplex des Art. 120 Abs. 1 GG gegen einen solchen Garantiegehalt: Denn Art. 120 Abs. 1 GG regelt zwar die Verteilung bestimmter, bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundener Lasten (oder genauer: von Lasten, die aus bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefundenen Umständen resultieren). Dies heißt aber nicht, daß die für diese Lasten verantwortlichen Umstände zugleich verfassungsrechtlich vorausgesetzt und garantiert wären. Wenn also Art. 120 Abs. 1 GG dem Bund neben den „Lasten der Sozialversicherung“ auch die „Aufwendungen für Besatzungskosten und die sonstigen inneren und äußeren Kriegsfolgelasten“ auferlegt (Art. 120 Abs. 1 S. 1 bis 3 GG), wird man hieraus ersichtlich nicht den Schluß ziehen können, daß das Grundgesetz etwa die Existenz oder Aufrechterhaltung einer Besatzung vorschreiben würde. Nur, wenn und soweit es sie und daraus resultierende Lasten gibt, trägt diese der Bund (und nicht ein Land). Aufgrund des „entstehungsgeschichtlichen und systematischen Zusammenhangs“1845 der Sätze 1 bis 3 und des Satzes 4 des Art. 120 Abs. 1 GG kann insoweit der letzteren Regelung nichts anderes entnommen werden: Wenn Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG also regelt, daß der Bund (und nicht die Länder) die Lasten der Sozialversicherung trägt, heißt das nicht, daß die Vorschrift zugleich eine faktische Bestandsgarantie der Sozialversicherung anordnet, die der Bund in Krisenzeiten durch Zuschüsse zu gewährleisten hätte.1846 1844 1845 1846

Siehe im Vorhergehenden, 4. Teil, III. 1. BVerfGE 113, S. 167 (210). Vgl. hierzu auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) bb) (2).

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4. Teil: Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG

Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG trifft auch insoweit nur eine Verteilungsregelung: Wenn also – aus anderweitigen Regelungen, die hier nicht zu untersuchen sind1847 – eine Garantiepflicht für den Erhalt der Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung besteht, dann trägt auch die daraus resultierenden Lasten der Bund.1848 Über das Bestehen einer solchen Garantie sagt die „reine Zuständigkeitsvorschrift“1849 des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG hingegen nichts aus1850, ebensowenig wie das gesamte der Sozialversicherung gewidmete Kompetenzengefüge des Grundgesetzes1851.

1847 In Betracht kommen hier vor allem das Sozialstaatsprinzip (siehe etwa BSGE 47, S. 148 [153 ff., 157]; Peter Axer, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz [Loseblatt], Art. 120 Rn. 29; vgl. dazu auch schon oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c) bb) (3)), Versichertengrundrechte wie etwa die Eigentumsgarantie (siehe hierzu etwa Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 39, bei Fn. 143) oder gar eine staatliche Ingerenzpflicht „aus vorangegangenem Tun“ (Peter Axer, a. a. O.; vgl. auch BSG, USK 42/1981 Nr. 81 280, S. 1217 [1223] und Nr. 81 287, S. 1251 [1258]). 1848 Siehe BSGE 34, S. 177 (178 f.); BSGE 47, S. 148 (153 ff.) – die Garantiepflicht leitet das Gericht dabei aus dem Sozialstaatsprinzip her; vgl. ferner BVerfGE 113, S. 167 (211). 1849 BVerfGE 113, S. 167 (213). 1850 So auch Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 8; Stefan Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2005, Art. 120 Rn. 40; Helmut Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 120 Rn. 28; vgl. auch Thomas Michael Johannes Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 122 f. 1851 Siehe oben 2. Teil, Abschnitt 1, IV. 5. c).

5. Teil

Zusammenfassung in Leitsätzen 1. Die Vorsorge gegen bestimmte elementare Lebensrisiken wie Krankheit, Alter, Unfälle oder Pflegebedürftigkeit erfolgt in Deutschland über ein bipolares Versicherungssystem, nämlich über die Sozialversicherung sowie über die Privatversicherung. Als staatlich organisiertes System, das seinen Ursprung in der maßgeblich auf Otto v. Bismarck zurückgehenden Sozialversicherungsgesetzgebung gegen Ende des 19. Jahrhundert hat, bezweckt die Sozialversicherung vor allem einen „sozialen“ Versicherungsschutz. Das heißt, ihr vorrangiges Ziel ist – anders als in der primär auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Privatwirtschaft – die umfassende Bedarfsdeckung mit dem von ihr angebotenen Gut „Versicherungsschutz“. Insbesondere bezweckt sie insoweit einen für jedermann bezahlbaren adäquaten Versicherungsschutz. Die Privatversicherung arbeitet hingegen vornehmlich nach wirtschaftlich-rationalen Grundsätzen, welche sich unter dem Begriff eines sog. „Versicherungsprinzips“ zusammenfassen lassen. Jedoch kommt der gesetzlichen Etablierung von bestimmten sozialen und damit an sich die Sozialversicherung kennzeichnenden Strukturen auch in der Privatversicherung immer größere Bedeutung zu. Solche durch bestimmte gesetzliche Vorgaben bewirkten Angleichungen der Privatversicherung an die Sozialversicherung gibt es etwa im Bereich der privaten Pflege(pflicht)versicherung sowie für die private Krankenversicherung in Gestalt des ab 1.1.2009 geltenden Basistarifs. 2. Das Grundgesetz erwähnt die Sozialversicherung an drei Stellen: als Materie der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, in der Verwaltungskompetenz- und Organisationsnorm des Art. 87 Abs. 2 GG sowie in der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Die Privatversicherung unterfällt ebenfalls der konkurrierenden Gesetzgebung, und zwar vornehmlich als Teil des Rechts der Wirtschaft gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, welches schon ausweislich seines Klammerzusatzes auch das „privatrechtliche Versicherungswesen“ umfaßt. 3. Der Terminus „Sozialversicherung“ ist ein verfassungsrechtlicher Gattungsbegriff, der sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf alles erstreckt, was sich der Sache nach als „Sozialversicherung“ darstellt. Er ist demgemäß nicht statisch beschränkt auf die bei Schaffung des Grundgesetzes vom Verfassungsgeber vorgefundene, „klassische“ Sozialversicherung. Vielmehr ist er dynamisch zu interpretieren, d. h. auch neue Lebenssachverhalte

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5. Teil: Zusammenfassung in Leitsätzen

sind von ihm und der Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt, wenn sie in ihren wesentlichen Strukturelementen mit dem Leitbild der klassischen Sozialversicherung vergleichbar sind. Diese Strukturelemente werden vom Bundesverfassungsgericht allerdings nur sporadisch spezifiziert: Die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG diene der Absicherung gegen bestimmte Wechselfälle des Lebens. Insoweit sei sie jedenfalls charakterisiert durch die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit. Außer einem Bedürfnis nach sozialem Ausgleich besonderer Lasten sei dabei die Art und Weise kennzeichnend, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird. Träger der Sozialversicherung seien selbständige Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch Beiträge von Beteiligten aufbringen. Eine Beschränkung auf Notlagen oder auf Arbeitnehmer sei dabei nicht Wesensmerkmal der Sozialversicherung. 4. Hinsichtlich der notwendigen, über das vom Bundesverfassungsgericht Gelieferte hinausreichenden Spezifizierung der Strukturelemente des verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffes „Sozialversicherung“ wird überwiegend vertreten, „Sozialversicherung“ in diesem verfassungsrechtlichen Sinne lasse sich nicht abschließend begrifflich beschreiben. Vielmehr handele es sich bei dem vermeintlichen „Gattungsbegriff“ um einen Typus, der sich – anders als ein Begriff – nicht durch feststehende Begriffsmerkmale konstituiert, sondern welcher nur unter Zuhilfenahme von typischen Erscheinungsformen umschrieben werden könne. Diese „Typusmerkmale“ stünden dabei in keinem festen Verhältnis zueinander, sondern könnten mal „mehr“, mal „weniger“ vorliegen oder gegebenenfalls sogar komplett entbehrlich sein oder durch andere Typusmerkmale ersetzt werden. Diese Typuslehre ist allerdings abzulehnen, da sie keine plausiblen, verläßlichen Leitlinien liefert, in welchem Verhältnis die Typusmerkmale zueinander stehen müssen oder welche konkrete Kombination von Typusmerkmalen ausschlaggebend ist, um eine Materie als „Sozialversicherung“ erfassen zu können. Ihre als vermeintlicher Vorteil gegenüber einem „starren“, durch feststehende Merkmale konstituierten Begriff gepriesene Flexibilität birgt vielmehr die Gefahr der Beliebigkeit und vermittelt nur einen eingeschränkten Erkenntniswert. Daher sollte auch hinsichtlich des Terminus „Sozialversicherung“ eine Begriffsbildung gewagt werden, anstatt ihn nur im Sinne der Typuslehre typologisch zu umschreiben. „Gattungsbegriff“ bedeutet dabei, daß die Gattung „Sozialversicherung“ durch Hinzufügen einer weiteren begrifflichen Differenzierungs- und Abstrahierungsebene unterteilt werden kann in verschiedene Arten der „Sozialversicherung“ (z. B. Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung etc.) – wobei diese Untergliederung durch den verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff „Sozialversicherung“ aber nicht zwingend vorgegeben ist.

5. Teil: Zusammenfassung in Leitsätzen

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5. Der Begriff „Sozialversicherung“ setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: der Komponente „Versicherung“ und der Komponente „sozial“. Gemeinhin mündet dies in der Beschreibung, daß in der Sozialversicherung der Versicherungscharakter bzw. das in der Privatversicherung regelmäßig voll verwirklichte „Versicherungsprinzip“ sozial modifiziert werde, da die Sozialversicherung von jeher auch immer ein Stück sozialer Fürsorge enthalte. Damit einher geht die häufig geführte Diskussion um den Versicherungscharakter der Sozialversicherung. Dieser wird zwar überwiegend bejaht, aber regelmäßig nur unter Einschränkungen, wonach die Sozialversicherung nur „im Grundsatz“ oder „im Kern“ Versicherung sei, sie zumindest „versicherungsmäßige Züge“ oder das „Gepräge“ einer Versicherung aufweise, sie keine Versicherung „in reiner Form“ sei oder es sich bei ihr um eine „Mischform“ aus Versicherung sowie Elementen der Fürsorge und der Versorgung handele. Dies impliziert eine Abstufbarkeit des Versicherungsbegriffes, ein „Mehr“ oder „Weniger“ an „Versicherung“, welches einer Begriffsbestimmung nicht förderlich ist und die Materie „Sozialversicherung“ in die Nähe der abzulehnenden Typuslehre befördert. Überdies erschöpft sich diese Diskussion häufig in der Beschreibung der aktuellen, einfachgesetzlichen Ausprägung der Sozialversicherung und liefert keine Herausarbeitung der für den verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff maßgebenden, konstituierenden Strukturmerkmale. Um diese im Hinblick auf die Versicherungskomponente der Sozialversicherung ermitteln zu können, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem Versicherungsbegriff, welcher selbst – jedenfalls in den Einzelheiten – nicht abschließend geklärt ist. 6. Im Rechtssinne ist der Versicherungsbegriff durch folgende Merkmale gekennzeichnet: „Versicherung“ dient der Zukunftsvorsorge zur Erzielung von Mitteln, die der Kompensation eines ungewissen, wirtschaftlich nachteiligen Ereignisses dienen. Ihre Funktion besteht also in der wirtschaftlichen Absicherung durch wirtschaftliche Kompensation des aus dem eingetretenen Ereignis resultierenden wirtschaftlichen Nachteils bzw. Bedarfs. Die mit der Versicherung verbundene Risikoübernahme durch den Versicherer muß auf entgeltlicher (wechselseitiger) Basis erfolgen und einen Rechtsanspruch des Versicherten auf Erhalt der Versicherungsleistung bei Eintritt des Versicherungsfalles begründen. Das aus der Versicherung resultierende Rechtsverhältnis muß sich dergestalt als „selbständig“ erweisen, daß es im Rahmen einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung eine gewisse beherrschende Bedeutung hat und nicht in einem inneren wirtschaftlichen Zusammenhang mit einem anderen Rechtsgeschäft steht, neben welchem es nur als zusätzliche Erweiterung bzw. unselbständige Nebenabrede erscheint. Darüber hinaus kann der spezifische Charakter einer Versicherung darin erblickt werden, daß sie (planmäßig) auf die Übernahme einer Vielzahl von Risikogeschäften, mithin auf eine polypersonale wirtschaftliche Grundlage ausgerichtet ist, um angesichts des Umstandes, daß sich (aller Wahr-

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5. Teil: Zusammenfassung in Leitsätzen

scheinlichkeit nach) nur ein Teil der Risiken verwirklichen wird, eine Risikostreuung nach dem Gesetz der großen Zahl ermöglichen zu können. 7. Nicht maßgeblich für das Vorliegen einer „Versicherung“ im Rechtssinne sind hingegen – obwohl dies häufig gefordert wird – Merkmale, welche allein über die wirtschaftliche Güte einer Versicherung im Rechtssinne entscheiden. Daher kommt es für den Begriff „Versicherung“ insbesondere nicht an auf die Merkmale einer „Versicherbarkeit“ oder „Schätzbarkeit“ der abgedeckten Risiken (die etwa hinsichtlich des Risikos „Arbeitslosigkeit“ verneint wird), einer „Gleichartigkeit“ der versicherten Risiken oder einer „Äquivalenz“, sei es in Gestalt einer Individualäquivalenz zwischen dem individuellen Risiko und der individuellen („gerechten“) Prämie, sei es in Gestalt einer „Globaläquivalenz“, welche nichts anderes beinhaltet als den allgemeinen Grundsatz, daß die Einnahmen einer Wirtschaftseinheit deren Ausgaben decken sollten. Die Beachtung dieser letztlich rein kalkulationstechnisch-versicherungsmathematischen Merkmale mag für den wirtschaftlich-rationalen Betrieb einer Versicherung naheliegend oder gar essentiell sein, weswegen sie für einen rein wirtschaft(swissenschaft)lichen oder versicherungsmathematischen Versicherungsbegriff beachtlich sein können. Und ihre Erfüllung mag über den idealtypischen Betrieb einer eigenständig am Markt operierenden Versicherung entscheiden, weswegen sie und das durch sie verkörperte „Versicherungsprinzip“ in der Privatversicherung regelmäßig voll verwirklicht sein werden. Im rechtlichen Sinne sind sie für das Vorliegen einer „Versicherung“ allerdings unerheblich. Auch irrationale, nichtelitäre oder unwirtschaftliche Versicherungsformen sind im rechtlichen Sinne „Versicherung“. Insoweit sind auch versicherungsaufsichtsrechtliche Vorgaben für den (rationalen) Betrieb einer (Privat-)Versicherung, z. B. die Beachtung bestimmter versicherungsmathematischer Prinzipien, nicht Grund, sondern Folge einer „Versicherung“ im Rechtssinne. Umso mehr auf Verfassungsebene und im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen muß der Versicherungsbegriff ein weiter und dynamischer, nicht auf bestimmte Versicherungsmethoden beschränkter sein – zumal das Grundgesetz durch die Erwähnung zweier grundsätzlich unterschiedlich operierender Versicherungsysteme (Sozialversicherung, privatrechtliches Versicherungswesen) augenscheinlich von einem weiten Versicherungsbegriff ausgeht. 8. Unter Zugrundelegung dieser Ergebnisse zum Versicherungsbegriff stellt sich die „Sozialversicherung“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Versicherung im Rechtssinne dar, da sie die in Leitsatz 6 genannten Begriffsmerkmale einer „Versicherung“ erfüllt. Insbesondere ist sie auch „entgeltlich“, da die Sozialversicherungsbeiträge als Gegenleistung für den gewährten Versicherungsschutz fungieren. Daß die Sozialversicherungsbeiträge nicht individualäquivalent bemessen werden, beseitigt deren Gegenleistungs-/Entgeltlichkeitscharakter nicht, da die Individualäquivalenz kein Begriffsmerkmal einer Versicherung ist (siehe Leitsatz 7) und auch in der Privatversicherung die Gewähr

5. Teil: Zusammenfassung in Leitsätzen

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einer „gerechten Prämie“ keinen zwingend zu beachtenden Grundsatz einer „Versicherung“ darstellt. Auch bestimmte Besonderheiten der Sozialversicherung wie etwa die Mitversicherung Dritter im Bereich der Familienversicherung oder die Aufteilung von Sozialversicherungsbeiträgen in einen Arbeitnehmerund einen Arbeitgeberanteil stehen dem Entgeltlichkeitscharakter nicht entgegen. Die Gesetzgebungskompetenz zur Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge resultiert dabei unmittelbar aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil die Entgeltlichkeitskomponente bereits zwingendes Begriffsmerkmal einer Versicherung ist; insoweit ist der Kompetenztitel für die „Sozialversicherung“ einer der wenigen, der mit der Sachkompetenz zugleich die betreffende Finanzierungskompetenz beinhaltet. Die Sozialversicherungsbeiträge lassen sich nicht als Steuern qualifizieren, weil sie „ihren Gund und ihre Grenzen“ in der Finanzierung der Sozialversicherung finden, so daß sie einer engen Zweckbindung unterliegen, wie sie selbst bei sog. Zwecksteuern nicht gegeben ist. Ihre fehlende individuelle Äquivalenzbindung verhindert ihre Einstufung als Gebühren oder Beiträge im finanzrechtlichen Sinne. Ebensowenig sind sie Sonderabgaben, weil die Finanzierungskompetenz für die Sozialversicherung bereits inhärenter Teil der Sachkompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist. Sie stellen daher eine Abgabe eigener Art dar. 9. Da die Merkmale eines sog. „Versicherungsprinzips“ (siehe Leitsatz 7) nicht Teil des Versicherungsbegriffes sind, sind die durch die sozialen Komponenten der Sozialversicherung bewirkten „Modifizierungen“ oder „Durchbrechungen“ des Versicherungsprinzips für ihre Versicherungseigenschaft grundsätzlich unerheblich. Die vermeintlichen Schwierigkeiten bei der Einstufung der Sozialversicherung als „echter“ Versicherung resultieren aus einem zu eng verstandenen Versicherungsbegriff, bei dem nicht hinlänglich zwischen den begriffsnotwendigen Merkmalen einer Versicherung im Rechtssinne (siehe Leitsatz 6) und den Merkmalen eines letztlich nur die „idealtypische“ Versicherungstechnik beschreibenden Versicherungsprinzips (siehe Leitsatz 7) getrennt wird. Die Grenze für eine Inanspruchnahme des Gesetzgebungskompetenztitels für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wird daher nicht durch Maßnahmen erreicht, die sich (allein) auf die Merkmale des Versicherungsprinzips auswirken und dieses modifizieren, durchbrechen oder gar beseitigen, sondern ist erst dann überschritten, wenn die Strukturmerkmale des Versicherungsbegriffes nicht erfüllt bzw. beseitigt werden, d. h. wenn eine „Entversicherung“ der Sozialversicherung stattfindet (siehe dazu Leitsatz 10). Die fehlende kompetenzrechtliche Bedeutung des Versicherungsprinzips bedeutet indes nicht, daß es bzw. die unter ihm zusammengefaßten Merkmale (wie insbesondere die Äquivalenz) ohne Bedeutung für die (materielle) Verfassungsmäßigkeit der Sozialversicherung sind: Die Beachtung einzelner seiner Teilprinzipien, die über die wirtschaftliche Güte und die Wirksamkeit des Versicherungsschutzes oder über die individuelle „Gerechtigkeit“ der einzelnen Prämien/

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5. Teil: Zusammenfassung in Leitsätzen

Beiträge entscheiden, kann sich für einen staatlich vermittelten Versicherungsschutz – zumal wenn er auf Zwang beruht – vielmehr aus Grundrechten oder auch dem Sozialstaatsprinzip ergeben, was hier indes nicht näher zu untersuchen war. 10. Eine von der Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ nicht mehr gedeckte „Entversicherung“ liegt vor, wenn die begriffsnotwendigen Merkmale des Versicherungsbegriffes nicht (mehr) erfüllt sind: Mangels Entgeltlichkeit bzw. Gegenleistungsabhängigkeit könnte daher etwa ein rein steuerfinanziertes soziales Sicherungssystem nicht mehr auf die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden; hierfür käme allerdings die Kompetenz für die im Gegensatz zu einer „Versicherung“ gegenleistungsunabhängige „Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG in Betracht. Steuerzuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung, wie sie in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG vorgesehen sind, führen nicht zu einer „Entversicherung“ der Sozialversicherung, solange sie nur eine Teilfinanzierung der Sozialversicherung bewirken und die Beitragsfinanzierung ein eigenständiges Gewicht behält. Auch sog. „versicherungsfremde Leistungen“ führen erst dann zu einer „Entversicherung“, wenn sie tatsächlich zu einer Beseitigung der Versicherungsmerkmale führen. Dies ist etwa der Fall, wenn – wie im Falle der sog. Fremdrenten – Versicherungsleistungen an außerhalb der Versichertengemeinschaft stehende Dritte geleistet werden, die in keinerlei Beziehung zu den Beitragsleistenden stehen. Soweit hingegen als „versicherungsfremde Leistungen“ solche bezeichnet werden, die Durchbrechungen des Versicherungsprinzips, insbesondere der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung, beinhalten, haben diese keine „Entversicherung“ zur Folge, weil das Versicherungsprinzip resp. die Äquivalenz keine begriffsnotwendigen Merkmale einer „Versicherung“ sind. Bei solchen Leistungen handelt es sich also streng genommen nicht um „versicherungsfremde“, sondern allenfalls um – gemessen am idealtypischen „Versicherungsprinzip“ – versicherungsuntypische; folglich sind sie auch nicht sozialversicherungsfremd, sondern vielmehr sozialversicherungstypisch. Daß derartige Leistungen auf die Kompetenz für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden können, besagt indes nichts über ihre (materiell-)verfassungsrechtliche Zulässigkeit; hierfür gilt das bereits zum Versicherungsprinzip Festgestellte (siehe Leitsatz 9 a. E.) entsprechend. 11. Der „sozialen“ Komponente der Sozialversicherung liegt „das Soziale“ im Sinne der sozialstaatlichen Staatszielbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG zugrunde, wonach der Staat zur Schaffung des verfassungsrechtlich gewollten Zustandes des Gemeinwesens die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu gewährleisten hat, indem er insbesondere die annähernd gleiche Förderung des Wohles aller Bürger und die annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten grundsätzlich erstrebt sowie durch staatliche Vor- und Fürsorge Gruppen der Gesellschaft soweit unterstützt, wie sie auf-

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grund persönlicher Schwäche, Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind. Dem „Sozialen“ in diesem Sinne geht es also in spezifischer Weise darum, insoweit eine „gerechte“ Wirtschafts- und vor allem Gesellschaftsordnung zu schaffen, als bestimmten Menschen oder Menschengruppen mit besonders ungünstigen Lebensumständen – sei es persönlich, sei es gesellschaftlich bedingt – die Möglichkeit verschafft wird bzw. zu verschaffen ist, eine menschenwürdige Existenz zu führen, ohne mit existentiellen Nöten über Gebühr belastet zu sein; es ist also die Zielvorstellung gemeint, durch die Verhinderung, Beseitigung oder zumindest Linderung von gesellschaftlichen Mißständen, Nöten und Schwierigkeiten es vor allem gesellschaftlich Benachteiligten zu ermöglichen, sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft entfalten zu können. Nicht hingegen darf der Inhalt des „Sozialen“ dahingehend (miß-)verstanden werden, daß (auch) auf den Ausgleich von Wohlstandsdifferenzen abgezielt werde, denn dies kann leicht im Sinne einer „Einebnung“ solcher Differenzen mißverstanden werden, was den Begriff „sozial“ inhaltlich in die Nähe von „sozialistisch“ rücken würde. Nicht aber generell Unterschiede im „Wohlstand“ sind Anknüpfungspunkt für das „Soziale“. Vielmehr ist dessen Ziel die Schaffung eines „Grundniveaus“ für jeden, das ihm die oben genannten Möglichkeiten, also das Führen einer würdigen Existenz und das freie Entfalten seiner Persönlichkeit in der Gesellschaft, eröffnet. Oberhalb dieses Grundniveaus verbleibende Wohlstandsdifferenzen auszugleichen und damit eine absolute oder weitgehende Gleichheit aller anzustreben, hat nichts mehr mit „sozial“ zu tun. Zum „Sozialen“ kann somit „nur“ eine „relative Umverteilung“ gehören, die dieses gesellschaftliche Grundniveau an Entfaltungsmöglichkeit für jeden sichern soll. 12. Im Hinblick auf die „sozialen“ Strukturelemente der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergibt sich damit zunächst, daß nicht sämtliche Risiken, die im Wege einer Versicherung absicherbar sind, zugleich auch im Wege der „Sozialversicherung“ absicherbar sind. Sozialversicherungsfähige Risiken sind vielmehr nur solche, deren Eintritt im Sinne des in Leitsatz 11 beschriebenen Inhalts des „Sozialen“ die Gefahr mit sich bringen, daß der Betroffene nicht mehr über die Mindestvoraussetzungen für eine menschenwürdige, selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verfügt. Aus dem Vergleich mit den über die „klassische“ Sozialversicherung abgesicherten Risiken (Krankheit, Alter, Unfälle, Arbeitslosigkeit) sowie aus der systematischen Verortung der Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, welcher die „Sozialversicherung“ in eine Reihe stellt mit dem „Arbeitsrecht“, dem „Arbeitsschutz“ und der „Arbeitsvermittlung“, ergibt sich, daß als derartige Risiken nur solche anzusehen sind, die in einem irgendwie gearteten Zusammenhang mit dem Faktor Arbeit bzw. der daraus resultierenden Möglichkeit stehen, sich durch Einsatz der eigenen Arbeitskraft eine Grundlage für die menschenwürdige, selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verschaffen. Da-

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her konnte auch das Risiko „Pflegebedürftigkeit“ im Wege des 1995 neu hinzugetretenen Zweiges „soziale Pflegeversicherung“ in die Sozialversicherung einbezogen werden, weil auch die Pflegebedürftigkeit den Faktor Arbeitskraft beeinträchtigt. Nicht sozialversicherungsfähig sind demgegenüber „bloße“, reine Vermögens- oder Haftungsrisiken. 13. Wesentlich für die soziale Komponente einer Sozialversicherung ist ferner, daß der durch sie bewirkte Versicherungsschutz auf eine „soziale“ Art und Weise bewerkstelligt wird. Für die „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG muß insoweit eine besondere Methode kennzeichnend sein, durch die sie ihre soziale Zielsetzung (vgl. Leitsatz 11) verwirklicht und die sie von der in der Privatversicherung typischerweise vorherrschenden Versicherungsmethode – dem bereits erwähnten „Versicherungsprinzip“ (siehe Leitsätze 7, 9) – abhebt. Da nämlich die meisten der durch die Sozialversicherung abgedeckten Risiken auch von der Privatversicherung versichert werden (bspw. private Kranken-, Renten-, Unfallversicherung), gäbe es ansonsten überhaupt kein Bedürfnis für eine Sozialversicherung, wenn sich der durch sie vermittelte Versicherungsschutz ebensogut durch die in der Privatversicherung typischen Versicherungsmethoden bewerkstelligen ließe. Bereits bei Schaffung der Sozialversicherung Ende des 19. Jahrhunderts unter v. Bismarck war ein maßgeblicher Aspekt für ihre Errichtung als staatliche Versicherung, daß man privaten Versicherungseinrichtungen einerseits nicht das notwendige soziale Verantwortungsbewußtsein zutraute und man darüber hinaus auch vom sittlichen Gesichtspunkt her die Wechselfälle des Lebens wie Unfall oder Krankheit nicht zum Gegenstand von privatem Gewinnstreben machen wollte. Anders als die Privatversicherung, welche als Teil der Privatwirtschaft durch eine primär wirtschaftlich-rationale sowie auf Gewinnstreben ausgerichtete Arbeitsweise gekennzeichnet und bei der die umfassende Deckung eines allgemeinen Bedarfs nur Mittel zum Zweck der Gewinnerwirtschaftung ist und gegebenenfalls hinter wirtschaftlich-rationalen Aspekten zurücksteht, ist die Sozialversicherung durch eine ganz primär am Ziel der umfassenden Bedarfsdeckung (mit dem Gut „Versicherungsschutz“) ausgerichtete Zielsetzung (und Arbeitsmethode) determiniert, welche sich – genau umgekehrt zur Privatversicherung – im Konfliktfall gegenüber wirtschaftlich-rationalen und gewinnorientierten Erwägungen durchsetzt. Insoweit ist die Sozialversicherung dem Bereich der Gemeinwirtschaft zuzurechnen und durch eine gemeinwirtschaftliche Versicherungsmethode gekennzeichnet. Dabei deckt sie zum einen Bedarfe, die in der Privatwirtschaft wegen mangelnder „Versicherbarkeit“ überhaupt nicht versichert werden, wie etwa das Risiko „Arbeitslosigkeit“. Vor allem aber dient sie dazu – wie ein Blick auf ihre Entstehungsgeschichte zeigt –, gerade den sozial Schwächeren und als schutzbedürftig Erachteten einen adäquaten Versicherungsschutz zu vermitteln, dessen Bewerkstelligung durch die Privatversicherer aufgrund der bei diesen herrschenden Typizitäten (etwa „marktgerechte“, wirtschaftlich-rationale Prämienkalkulation;

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Risikozuschläge; Leistungsausschlüsse etc.) gerade als nicht ausreichend angesehen wird, weil er Lücken in der Bedarfsdeckung zu hinterlassen droht. Dieser gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung steht es nicht entgegen, wenn die Sozialversicherung im Rahmen dessen grundsätzlich auch einem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegt (siehe etwa § 12 SGB V), denn dies heißt nicht, daß sie nicht primär dem Ziel der Bedarfsdeckung verpflichtet bleibt. Im übrigen spiegelt sich die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung der Sozialversicherung auch in der Bezuschussungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG wider, angesichts welcher der Verfassungsgeber augenscheinlich davon ausging, daß die Sozialversicherung nicht zwingend wirtschaftlich-rational betrieben werden kann oder muß. 14. Das Strukturelement einer „sozialen“, die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung verwirklichenden Versicherungsmethode beinhaltet vor allem, daß der durch die Sozialversicherung bewirkte Versicherungsschutz für jedermann – und damit insbesondere für die sozial Schwächeren – wirtschaftlich erschwinglich, also bezahlbar ist. Dies kann etwa dadurch erreicht werden, daß die Beiträge (wie derzeit) nicht streng individualäquivalent bemessen werden, sondern nach der Leistungsfähigkeit der Versicherten. Möglich sind aber auch andere Bemessungskriterien, wie etwa einheitliche, wirtschaftlich nicht überfordernde Pauschalbeträge („Kopfpauschalen“) oder individuelle Bezuschussungen der zunächst individualäquivalent bemessenen Beitragsprämien. Ferner erfordert die soziale Zielsetzung der Sozialversicherung, daß in ihr grundsätzlich keine Risikoselektion stattfindet, daß also insbesondere den sog. „schlechten Risiken“ der Versicherungsschutz nicht verwehrt wird (Kontrahierungszwang). Auch Risikozuschläge oder Leistungsausschlüsse sind demgemäß in einer „Sozialversicherung“ jedenfalls prinzipiell unstatthaft, d. h. allenfalls im Rahmen des „sozial Verträglichen“ zulässig und soweit sie einen adäquaten Versicherungsschutz nicht verhindern. 15. Ein weiteres Struktur- bzw. Begriffselement der „Sozialversicherung“ ist – als Teil ihrer sozialen Versicherungsmethodik (siehe Leitsatz 14) bzw. als deren Folge – der „soziale Ausgleich“. Dieser über den „normalen“, im Rahmen einer Versichertengemeinschaft durch Risikostreuung erreichten Risikoausgleich hinausgehende „soziale“ Ausgleich wird insbesondere notwendig durch die „soziale“ Anpassung der Beiträge der wirtschaftlich Schwächeren (oder von Personen mit hoher Risikowahrscheinlichkeit) an deren Leistungsfähigkeit. Denn da hierdurch deren Beiträge unter dasjenige sinken, was nach individualäquivalenten Maßstäben marktgerecht und damit wirtschaftlich-rational bzw. kostendeckend wäre, entsteht eine Finanzierungslücke, die anderweitig geschlossen werden muß. Zur Bewerkstelligung dieses sozialen Ausgleichs stehen prinzipiell zwei Wege zur Verfügung: Entweder erfolgt der soziale Ausgleich durch „von außen“ in das System gegebene (Steuer-)Zuschüsse, wie sie in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG als Möglichkeit vorgesehen sind, oder er erfolgt „von innen“, indem die Beiträge anderer, wirtschaftlich leistungsfähigerer Versicherter im

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Rahmen von deren Leistungsfähigkeit höher bemessen werden, als es nach individualäquivalenten Maßstäben sein müßte. Beide Wege können auch kombiniert werden. Dabei ist die „Sozialversicherung“ nicht auf einen sozialen Ausgleich „von innen“ beschränkt, wie auch schon Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG belegt. Daher würde auch ein soziales Versicherungssystem mit einheitlichen „Kopfpauschalen“ eine Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darstellen, da selbst dann, wenn der soziale Ausgleich nicht mehr durch die pauschalen Beiträge selbst („von innen“) bewerkstelligt würde, er immer noch durch Zuschüsse „von außen“ vorgenommen werden könnte, und sei es auch allein durch solche. 16. Kein begriffsnotwendiges Strukturelement einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist hingegen der Versicherungszwang. Er mag zwar aus Zweckmäßigkeitsgründen typischerweise in der Sozialversicherung verwirklicht sein, vor allem um zu verhindern, daß bei einem „von innen“ bewerkstelligten sozialen Ausgleich (siehe Leitsatz 15) die „guten Risiken“, deren über dem für sie Individualäquivalenten liegende Beiträge hierzu herhalten müssen, sich der Sozialversicherung entziehen und damit den sozialen Ausgleich gefährden. Letztlich entscheidet Versicherungszwang damit aber nur über die Effektivität einer Sozialversicherung, nicht hingegen darüber, ob sie begrifflich „Sozialversicherung“ ist. Denn die sie ausmachende soziale Zielsetzung kann auch auf Basis eines freiwillig in Anspruch zu nehmenden Versicherungsschutzes verfolgt werden, etwa wenn der soziale Ausgleich ausschließlich durch Zuschüsse von außen erfolgt und die dann das Individualäquivalente nicht überschreitenden Beiträge überhaupt keine Veranlassung mehr bieten, der Versicherung fernzubleiben. Überdies ist auch in der derzeitigen einfachgesetzlichen Ausprägung der Sozialversicherung die Möglichkeit zu einer freiwilligen Versicherung von nicht Versicherungspflichtigen vorgesehen. Letztlich ist Versicherungszwang also nur eine Ausgestaltungsmodalität einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, nicht aber ein sie konstituierendes Struktur- bzw. Begriffsmerkmal. Das gleiche gilt für die teilweise Finanzierung durch Arbeitgeberbeiträge. 17. Ebenfalls nicht begriffsnotwendig für die Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ ist die Beschränkung des Versichertenkreises auf eine Personengruppe, die kleiner als die Gesamtheit der Bevölkerung ist. Schon der formale Ansatz, daß die zur Risikodeckung heranzuziehende „organisierte Vielheit“ bereits begrifflich nur einen Bevölkerungsausschnitt umfassen könne, vermag nicht zu überzeugen, da auch die „Gesamtheit“ eine „Vielheit“, nämlich die größtmögliche „Vielheit“, darstellt. Abgesehen davon, würde dieser Ansatz die Erstreckung der Sozialversicherung auf die gesamte Bevölkerung selbst dann nicht zulassen, wenn sich die gesamte Bevölkerung als konkret schutzbedürftig erweisen würde. Auch die Schutzbedürftigkeit der Versicherten ist indes kein begriffliches Merkmal einer „Sozialversicherung“. Denn zum einen ist schon

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nicht ersichtlich, warum die Sozialversicherung nicht auch Nicht-Schutzbedürftigen, etwa auf freiwilliger Basis, offenstehen soll, zum Beispiel wenn diese aus einer sozial-altruistischen Einstellung heraus an ihr und dem durch sie bewirkten sozialen Ausgleich „teilnehmen“ möchten oder weil es in Einzelfällen auch für Nicht-Schutzbedürftige wirtschaftlich „lohnend“ sein kann, sozialversichert zu sein, womit die soziale Zielsetzung der Sozialversicherung auch in diesen Fällen zum Tragen käme. Ferner hieße es, die Sozialversicherung von vornherein auf einen sozialen Ausgleich durch Zuschüsse „von außen“ zu beschränken, wenn in ihr nur tatsächlich Schutzbedürftige versichert wären, d. h. nur Personen, die der sozial motivierten Erschwinglichmachung des Versicherungsschutzes auch bedürften, weil sie sich den grundsätzlich individualäquivalent kalkulierten Privatversicherungsschutz nicht leisten können. Da deren Beiträge in der Sozialversicherung dann nämlich unterhalb einer individualäquivalenten, kostendeckenden Beitragshöhe liegen müssen, um für sie „bezahlbar“ zu sein, könnte bei einer ausschließlich derart Schutzbedürftige erfassenden Sozialversicherung die Finanzmasse für den „sozialen Ausgleich“ nur von außen durch Steuerzuschüsse dem System zugeführt werden. Der damit letztlich verbundene Ausschluß der Bewerkstelligung des sozialen Ausgleichs „von innen“, d. h. aus der Beitragsmasse heraus, entspricht aber weder dem grundsätzlichen Zweck der Sozialversicherung noch dem Leitbild der „klassischen“ Sozialversicherung. Eine sozialen, bezahlbaren Versicherungsschutz für Schutzbedürftige bezwekkende „Sozialversicherung“ liegt vielmehr auch dann vor, wenn sie den notwendigen sozialen Ausgleich durch eine erhöhte (gleichwohl individuell nicht überfordernde) Beitragsbelastung von nicht-schutzbedürftigen Versicherten zu erreichen sucht. Ob dies dann materiell verfassungsmäßig, d. h. insbesondere vereinbar mit den Grundrechten von zwangsweise hierzu herangezogenen, nicht-schutzbedürftigen Versicherten ist, ist eine andere Frage. Aus vergleichbaren Erwägungen steht rein begrifflich-kompetenzrechtlich auch die Einbeziehung von Selbständigen oder gar Beamten einer „Sozialversicherung“ nicht entgegen. Insoweit wäre also etwa auch eine sämtliche Bevölkerungsgruppen umfassende „Bürgerversicherung“ begrifflich „Sozialversicherung“ und könnte auf die diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden – ohne daß damit indes eine Aussage über deren materielle Verfassungsmäßigkeit getroffen wäre (vgl. auch Leitsätze 22, 23). 18. Daß für eine alle Bevölkerungsgruppen umfassende „Bürgerversicherung“ nicht die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die „Sozialversicherung“ in Anspruch genommen werden könnte, ergibt sich auch nicht aus finanzverfassungsrechtlichen Erwägungen. Denn auch ein von der Gesamtheit der Bevölkerung erhobener Sozialversicherungsbeitrag wandelt sich nicht zu einer nicht mehr von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckten Steuer (was zugleich eine „Entversicherung“ der Sozialversicherung zur Folge hätte, siehe Leitsatz 10), da er immer noch – anders als eine (Zweck-)Steuer – einer strengen, von vornher-

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ein auf die Finanzierung der Sozialversicherung beschränkten Zweckbindung unterliegen würde. Ferner würde in diesem Fall der Sozialversicherungsbeitrag auch nicht in unzulässige Konkurrenz zum Finanzierungsinstrument Steuer treten: Zwar mag das normative Steuerstaatsprinzip den Grundsatz aufstellen, daß „allgemeine Staatsaufgaben“ prinzipiell durch Steuern zu finanzieren sind. Für den Bereich der Sozialversicherung ist dieses Prinzip aber durch die der Sachkompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG inhärente Kompetenz zur Finanzierung der Sozialversicherung durch Beiträge durchbrochen, die Staatsaufgabe „Sozialversicherung“ also der Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge überantwortet. Im übrigen ist auch die Annahme nicht überzeugend, daß die „Sozialversicherung“ resp. die soziale Vorsorge gegen bestimmte, für die Lebensgestaltung elementare Risiken erst dann zu einer „allgemeinen Staatsaufgabe“ werde, wenn die Quote der Abgesicherten bei 100% liegt. Abgesehen von den damit verbundenen Schwierigkeiten einer stichhaltigen Abgrenzung (reichen auch 99%, oder 95% oder gar die derzeit versicherten knapp 90%?), sind auch andere (steuerfinanzierte) „allgemeine Staatsaufgaben“ nicht rein formal dadurch determiniert, daß sie jeder Person der Gesamtbevölkerung zugute kommen oder daß jedermann zu ihrer Finanzierung herangezogen wird. 19. In organisatorischer Hinsicht ist bestimmendes Strukturmerkmal einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG jedenfalls, daß es sich bei ihr um eine staatliche Organisation handelt, sie also eine vom Staat durchgeführte Versicherung ist. Hierfür kommen sämtliche öffentlich-rechtlichen Organisationsformen sowie Formen der Organisationsprivatisierung (also „staatlich beherrschte“ Privatrechtsorganisationen) und ferner Beliehene in Betracht, nicht jedoch Aufgabenprivatisierungen durch Übertragung der Aufgabe „Sozialversicherung“ auf „echte“ Private. Ob diese Organisationsformen auch den Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG entsprechen, ist eine andere Frage (siehe im folgenden sowie Leitsatz 28). Ferner ist organisatorisch eine Trennung des Sozialversicherungsvermögens vom allgemeinen Staatshaushalt erforderlich. Hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist der Begriff „Sozialversicherung“ hingegen organisationsstrukturell nicht dadurch determiniert, daß die Träger der Sozialversicherung gemäß der Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG in mittelbarer Staatsverwaltung als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ organisiert sind. Diese organisationsrechtliche Vorgabe resultiert allein aus Art. 87 Abs. 2 GG (siehe dazu Leitsatz 28) und entscheidet nicht darüber, ob die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die „Sozialversicherung“ in Anspruch genommen werden kann oder nicht. Vielmehr stellt sie eine inhaltliche Verfassungsvorgabe für die gesetzgeberische Ausgestaltung eines auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützten Sozialversicherungssystem dar, so daß dem Bund bei Nichtbeachtung dieser Vorgabe nicht die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fehlt, sondern das betreffende Sozialversicherungssystems (allein) wegen Verstoßes gegen Art. 87

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Abs. 2 GG verfassungswidrig wäre. Eine demgegenüber vertretene Konkretisierung des Begriffes „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG durch eine „Zusammenschau“ mit Art. 87 Abs. 2 GG verbietet sich nicht nur im Hinblick auf das grundlegende Verhältnis der Gesetzgebungskompetenzen der Art. 70 ff. GG zu den Verwaltungskompetenz- und Organisationsnormen der Art. 83 ff. GG, sondern würde auch im Verhältnis zur Landesgesetzgebung zu beachtlichen Ungereimtheiten führen. Denn da die Landesgesetzgebung nicht an Art. 87 Abs. 2 GG gebunden ist, könnten die Landesgesetzgeber die für den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bestehende „Sperrwirkung“ vorhandener Bundesgesetze auf dem Gebiet der Sozialversicherung (siehe auch Leitsatz 21) dadurch umgehen, daß sie eine „Quasi-Sozialversicherung“ schaffen, die sich allein in ihrer (staatlichen) Organisationsform von den vom Bundesgesetzgeber zu beachtenden, besonderen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG unterscheidet: Eine solche „Quasi-Sozialversicherung“ wäre dann nämlich mangels Erfüllung der in Art. 87 Abs. 2 GG geregelten Organisationsform überhaupt keine „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und könnte dementsprechend von vornherein nicht von einer im Bereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entstehenden bzw. bestehenden Sperrwirkung betroffen sein – was aber ersichtlich sinnwidrig wäre. 20. Die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung“ deckt sämtliche im Zusammenhang mit der Sozialversicherung stehenden Regelungsinhalte ab. Neben der Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse und der Versicherungsorganisation und -methodik gehören hierzu auch die Finanzierung der Sozialversicherung durch Beiträge und gegebenenfalls Zuschüsse im Sinne des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG oder auch die Regelungen eines Risikostrukturausgleichs. Auch der gesamte Bereich der Leistungserbringung ist von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG umfaßt. Obwohl das ärztliche Berufsrecht grundsätzlich in die ausschließliche Landesgesetzgebung fällt (Umkehrschluß aus dem nur die ärztliche Berufszulassung umfassenden Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG), kann der Bund – gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – auch das Berufsrecht der Kassenärzte (Vertragsärzte) regeln, soweit dies für die Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung unerläßlich ist. Hierdurch wird aber keine generelle Bundeskompetenz für das gesamte Berufsrecht dieser Ärzte begründet: Bloß allgemeine, von der Leistungserbringung in der Sozialversicherung losgelöste Regelungen des (kassen)ärztlichen Berufswesens müssen nach wie vor der ausschließlichen Landesgesetzgebung unterliegen, soll die grundgesetzliche Kompetenzverteilung in diesem Bereich nicht unterlaufen werden. 21. Die „Sozialversicherung“ ist gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 72 GG, so daß auch die Länder auf diesem Bereich die Zuständigkeit zum Erlaß von Gesetzen haben,

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solange und soweit der Bund von seiner Zuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat. Da der Bund bisher keine abschließende Regelung auf dem Gebiet der „Sozialversicherung“ getroffen hat, können die Länder in den verbliebenen „Lücken“ eigene Sozialversicherungsgesetze, gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, erlassen. Hierzu zählt etwa das Recht der Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe, die insoweit eine landesrechtlich begründete „Sonderform“ der Sozialversicherung darstellen. Würden die dort Versicherten indes in die gesetzliche Rentenversicherung auf Bundesebene einbezogen werden (etwa im Falle einer „Bürgerversicherung“), könnte der Bund dies seinerseits auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen (vgl. auch Leitsätze 17, 18), so daß das diesbezügliche Landesrecht der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG zum Opfer fiele. 22. Die Erwähnung der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (sowie in Art. 87 Abs. 2 GG und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) hat keine sog. materielle Legitimationswirkung für die Regelungsmaterie „Sozialversicherung“ zur Folge, durch welche eine prinzipielle verfassungsrechtliche „Billigung“ der Materie „Sozialversicherung“ begründet würde und welche somit etwa im Bereich der Grundrechte der von der Sozialversicherung Betroffenen (Versicherte, Leistungserbringer, private „Konkurrenten“) die begriffsnotwendigen Strukturelemente der „Sozialversicherung“ zumindest dem Grunde nach von vornherein verfassungsrechtlich rechtfertigen könnte. Eine solche, aus Kompetenzbestimmungen hergeleitete „kompetentielle“ Legitimationswirkung ist nicht stichhaltig begründbar und daher – entgegen einer weit verbreiteten Sichtweise – generell abzulehnen. Nur in speziellen Ausnahmefällen kommt sie in Betracht, nämlich bei ausdrücklicher Benennung bestimmter Eingriffswirkungen in den Kompetenztiteln, bei einem Verfassungsauftrag für die betreffende Materie oder wenn der Verfassungsgeber ausdrücklich einen vorhergesehenen materiellen Konflikt durch die Aufnahme der Kompetenzmaterie in das Grundgesetz lösen wollte. All diese Fallgruppen sind für die Materie „Sozialversicherung“ nicht einschlägig. Insbesondere besteht hinsichtlich ihrer kein Verfassungsauftrag: Ein solcher läßt sich weder aus Art. 87 Abs. 2 GG noch aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG herleiten, ebensowenig aus dem Sozialstaatsprinzip, welches lediglich das Staatsziel „sozialer Sicherheit“, nicht aber einen bestimmten Weg vorgibt, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Auch aus der Aufnahme des vom Verfassungsgeber „vorgefundenen“, vorkonstitutionellen Instituts „Sozialversicherung“ in die Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes kann auf keine materielle Billigung dieses Instituts oder einen diesbezüglichen Verfassungsauftrag geschlossen werden. 23. Selbst wenn man aber für die Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ eine solche kompetentielle Legitimationswirkung (Leitsatz 22) anerkennen würde, könnte sie sich ausschließlich auf die begriffsnotwendigen, determinierenden Strukturmerkmale der „Sozialversicherung“ beziehen, und auch dies nur

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dem Grunde nach, also im Hinblick auf das absolute Regelungsminimum dieser Merkmale, welches erfüllt sein müßte, um sinnvollerweise von einer „Sozialversicherung“ sprechen zu können. Keinesfalls von einer solchen Legitimationswirkung umfaßt wären demgegenüber bloß typische, nicht aber begriffsnotwendige Merkmale wie etwa der „Versicherungszwang“ (siehe Leitsatz 16). Das gleiche würde insoweit gelten für ungleiche Belastungen der Versicherten, die aus einer unterschiedlich hohen, nicht individualäquivalenten Beitragsbelastung im Rahmen eines „von innen“, d. h. durch die Beitragshöhen bewerkstelligten sozialen Ausgleichs (siehe Leitsatz 15) resultieren. Denn zwar ist der „soziale Ausgleich“ begriffsnotwendiges Strukturelement der Sozialversicherung, aber zur Etablierung einer „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG muß er nicht zwingend „von innen“ bewerkstelligt werden, sondern kann auch durch Steuerzuschüsse „von außen“ (siehe Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) erfolgen. Schon gar nicht kann eine kompetentielle Legitimationswirkung für die „Sozialversicherung“ im Hinblick auf eine zumindest indizielle Verfassungstoleriertheit eines „Prozesses der permanenten Ausweitung der Sozialversicherung“ (und der damit verbunden der Versicherungspflicht) anerkannt werden, denn die „Ausweitung“ der Sozialversicherung ist keines ihrer begriffsnotwendigen Merkmale, sondern lediglich eine bestimmte Ausgestaltungsoption. Überdies handelte es sich hierbei um rein virtuelle, in der Zukunft liegende und insoweit von der Verfassung noch gar nicht erfaßbare Ausprägungen einer Sozialversicherung. 24. Von den übrigen Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes, welche den Bereich der klassischen Trias sozialer Sicherheit betreffen („Versicherung – Versorgung – Fürsorge“), d. h. also von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG („öffentliche Fürsorge“) und Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG („Versorgung“) grenzt sich die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG enthaltene Materie „Sozialversicherung“ vor allem durch ihren Entgeltlichkeits- bzw. Gegenleistungscharakter ab. „Versorgung“ und „Fürsorge“ sind demgegenüber gegenleistungsunabhängig. Für den Übergang zu einem rein steuerfinanzierten „Sozialversicherungs“-System stünde demgemäß nicht die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG offen (siehe auch Leitsatz 10), es käme aber die Kompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG in Betracht, denn diese umfaßt auch vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Hilfsbedürtigkeit. Hinsichtlich der sozialversicherungsfähigen Risiken wie Krankheit, Alter etc. bzw. bei deren Eintritt wird man überdies auch eine zumindest typisierte Bedarfslage bzw. zu verhindernde, potentielle Notlage annehmen können, wie sie für die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG gefordert wird. Für eine Übertragung sozialversicherungsähnlicher Strukturen auf die Privatversicherung kommt die Kompetenz indes nicht in Betracht, weil zum einen die durch die Privatversicherer erbrachten Versicherungsleistungen nicht gegenleistungsunabhängig wären, und weil zum anderen die den Kompetenztitel übermäßig ausdehnende Rechtsprechung

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des Bundesverfassungsgerichts abzulehnen ist, nach welcher zur „öffentlichen Fürsorge“ sogar Leistungen zu zählen seien, die nicht vom Staat erbracht werden, sondern welche der Staat Privaten durch deren Inpflichtnahme für fürsorgerische Zwecke aufbürdet – dann nämlich wäre jede staatlich veranlaßte „private“ Fürsorge zugleich „öffentliche“ Fürsorge, womit die Beschränkung des Kompetenztitels auf die öffentliche Fürsorge zur Makulatur würde. 25. Für die Reglementierung der Privatversicherung resultiert die Gesetzgebungszuständigkeit als konkurrierende grundsätzlich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG („Recht der Wirtschaft“). Das „privatrechtliche Versicherungswesen“ in dieem Sinne umfaßt neben durch Private geführten Versicherungsunternehmen auch öffentlich-rechtliche Wettbewerbsversicherer, so daß die Organisationsform nicht entscheidend für ein „privatrechtliches“ Versicherungswesen ist. Den Gegensatz zum „privatrechtlichen“ Versicherungswesen bildet vielmehr das sog. „öffentlich-rechtliche Versicherungswesen“, welches neben der Sozialversicherung – für die eine spezielle Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG besteht – die in die ausschließliche Landesgesetzgebung fallenden Zwangs- und Monopolversicherer (etwa im Bereich der Gebäudeversicherung) umfaßt(e). Da sowohl diese als auch die Sozialversicherung gemeinwirtschaftliche Strukturen aufweisen, also dem Bereich der primär auf eine umfassende Deckung eines allgemeinen Bedarfs abzielenden Gemeinwirtschaft zuzuordnen sind (siehe Leitsatz 13), verläuft die Grenzlinie zwischen „privatrechtlichem Versicherungswesen“ und „öffentlich-rechtlichem Versicherungswesen“ zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftsformen der „Privat- bzw. Erwerbswirtschaft“ und der „Gemeinwirtschaft“. Privat-/Erwerbswirtschaft ist gekennzeichnet durch eine primär gewinnorientierte und an wirtschaftlich-rationalen Kriterien ausgerichtete Arbeitsmethode, zu der ein Mindestmaß an unternehmerischer Freiheit gehört. Die Gewinnerwirtschaftung ist die natürliche Triebfeder einer erwerbswirtschaftlichen Wirtschaftseinheit. Die Ermöglichung einer umfassenden Bedarfsdeckung ist für sie nur „Mittel zum Zweck“ der Gewinnerwirtschaftung und steht gegebenenfalls hinter wirtschaftlich-rationalen Erwägungen zurück. Die genau umgekehrte Arbeitsweise kennzeichnet die Gemeinwirtschaft: ihr primäres Ziel ist die umfassende Deckung eines vorhandenen Bedarfs, und wirtschaftlich-rationale Erwägungen oder Gewinnorientierung stehen gegebenenfalls hinter der Erreichung dieses Zieles zurück. Daß das „Recht der Wirtschaft“ und das „privatrechtliche Versicherungswesen“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur privat-/erwerbswirtschaftliche Wirtschaftseinheiten umfassen, zeigt sich auch an der Existenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG, welcher die Gesetzgebungszuständigkeit für die Errichtung gemeinwirtschaftlicher Strukturen in der Privatwirtschaft enthält, so daß dies nicht zugleich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG umfaßt sein kann. Nicht bereits jede wirtschaftslenkende Maßnahme beseitigt allerdings die Erwerbswirtschaftlichkeit, so daß solche Maßnahmen grundsätzlich auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden kön-

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nen. Wenn allerdings durch „exzessive“ Wirtschaftslenkung eine erwerbswirtschaftliche Einheit mit gemeinwirtschaftlichen Strukturen versehen und in eine gemeinwirtschaftliche Einheit „umgewandelt“ wird, ist der Bereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG verlassen. 26. Etabliert der Gesetzgeber in der Privatversicherung soziale Elemente, die die Privatversicherung in ihrer Versicherungsmethodik an die Sozialversicherung angleichen oder zumindest annähern (etwa durch Schaffung der privaten Pflegeversicherung nach § 110 f. SGB XI oder den Basistarif in der privaten Krankenversicherung nach §§ 12 ff. VAG [2009]), so können diese Maßnahmen nicht auf die Gesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden, weil diese eine „staatliche“ Organisation voraussetzt, so daß auch eine Aufgabenprivatisierung insoweit ausscheidet. Auch die Kompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG scheidet aus (siehe Leitsatz 24). Auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das „privatrechtliche Versicherungswesen“ als Teil des „Rechts der Wirtschaft“ können derartige Maßnahmen solange gestützt werden, wie sie den Bereich des Privat-/Erwerbswirtschaftlichen nicht verlassen (vgl. Leitsatz 25), also insbesondere ein hinreichendes Maß an unternehmerischer Freiheit und Möglichkeit zu wirtschaftlich-rationaler Ausrichtung und Gewinnorientierung belassen. Diese Grenze ist beispielsweise überschritten, wenn die sozialen Strukturen und die durch sie vor allem bezweckte „Bezahlbarmachung“ des Versicherungsschutzes eine vollständige Nivellierung der Prämien zur Folge haben. Auch die der Bezahlbarmachung in sozialen Härtefällen dienenden Prämienkappungen im Bereich des Basistaifs in der privaten Krankenversicherung (siehe § 12 Abs. 1c S. 4–6 VAG [2009]) dürften diese Grenze bereits überschritten haben. Derartige Fälle können nicht mehr auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden, weil sie keine privat-/erwerbswirtschaftlichen Strukturen mehr beinhalten, sondern gemeinwirtschaftliche, die ganz primär der Erreichung einer umfassenden Bedarfsdekkung gerade auch für sozial Schwächere dienen und wirtschaftlich-rationale Erwägungen diesem Ziel vollständig unterordnen. 27. Allerdings können diese zuletzt genannten Fälle, soweit sie gemeinwirtschaftliche Strukturen in der Privatversicherung etablieren, auf die Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG gestützt werden. Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG verleiht die Gesetzgebungszuständigkeit für die Überführung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft („Sozialisierung“) und bezieht sich damit auf den Regelungsgehalt des Art. 15 GG. Art 15 GG ist weder obsolet noch entgegen einem überkommenen Verständnis eine praktisch bedeutungslose „Sozialisierungsermächtigung“. Vielmehr ist er eine „Sozialisierungsvermeidungsnorm“, die für Sozialisierungen der in ihm genannten Art besondere materielle Hürden aufstellt. Ohne die Existenz des Art. 15 GG könnten Soziali-

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sierungen zwanglos auf die Eingriffsvorbehalte insbesondere der Art. 12 und 14 GG gestützt werden und müßten sich materiell-verfassungsrechtlich nur an diesen messen lassen. Art. 15 GG etabliert für derartige Eingriffe zusätzliche, hohe materielle Hürden (Junktimklausel, Verbot der Administrativsozialisierung, Entschädigungsregel, Sozialisierungsreife und -eignung), die einer der Gründe dafür sein dürften, daß die Norm bisher praktisch nicht zur Anwendung gelangte. „Sozialisierungen“ im Sinne von Art. 15/Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG sind nicht nur Überführungen in Gemeineigentum, sondern auch Überführungen in „andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Letztere kennzeichnen sich durch das – zumindest „formale“ – Fortbestehen des Privateigentums unter allerdings gleichzeitiger Beschränkung der privaten Nutzungsbefugnisse, um eine gemeinwirtschaftliche Produktionsweise zu gewährleisten. Sie umfassen also kurz gesagt die „Sozialisierung“ der beherrschenden Nutzungsbefugnisse, nicht zuletzt infolge entsprechend intensiver („exzessiver“) Wirtschaftslenkung. Hierunter fällt auch die Etablierung sozialversicherungsähnlicher Strukturen in der Privatversicherung, die deren gemeinwirtschaftliche Produktionsweise sicherstellen sollen (vgl. dazu Leitsatz 26). Auch Dienstleistungsunternehmen wie Versicherungsunternehmen sind nach der ratio legis des Art. 15 GG „Produktionsmittel“ in dessen Sinne und damit auch im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG. 28. Art. 87 Abs. 2 GG beinhaltet Verwaltungskompetenzen für den Vollzug von Bundesgesetzen auf dem Gebiet „Sozialversicherung“ sowie organisatorische Vorgaben für diese „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Die organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG, wonach die Sozialversicherungsträger als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ zu führen sind, konkretisieren nicht bereits die Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern stellen eigenständige inhaltliche Vorgaben für die gesetzgeberische Ausgestaltung der Materie „Sozialversicherung“ dar (siehe schon Leitsatz 19). Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt, daß die länderübergreifend zuständigen Träger der Sozialversicherung als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen sind. Abweichend hiervon sind diese Träger gemäß Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen, wenn sie zwar länderübergreifend, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus zuständig sind, und wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist; letzteres ist durch einen diesbezüglichen Staatsvertrag erfolgt. Nicht länderübergreifende Sozialversicherungsträger sind als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen; obwohl Art. 87 Abs. 2 GG hierzu keine unmittelbare Regelung enthält, läßt sich dies aus der „Rückholklausel“ des Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG herleiten. Der Bund hat in allen Fällen die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angelegte Einrichtungskompetenz hinsichtlich der Zuständigkeiten, d. h. er bestimmt über die – gegebenenfalls länderübergreifenden – Zuständigkeitsbereiche der Sozialversicherungsträger und damit über den Eintritt der

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hierzu bestehenden bzw. zu beachtenden organisationsrechtlichen Rechtsfolgen des Art. 87 Abs. 2 GG; insoweit kann der Bundesgesetzgeber aus eigenem Recht auch landesunmittelbare Sozialversicherungsträger errichten. Der Körperschaftsbegriff in Art. 87 Abs. 2 GG ist ein weiter, untechnischer „Sammelbegriff“, der neben Körperschaften im engeren Sinne auch sämtliche anderen verselbständigten Verwaltungseinheiten der mittelbaren Staatsverwaltung umfaßt, also etwa auch Anstalten und Stiftungen. Wegen der ausdrücklichen Beschränkung auf derartige Verwaltungseinheiten „des öffentlichen Rechts“ scheiden hingegen privatrechtliche Organisationsformen aus, wie etwa die durch eine Organisationsprivatisierung oder gar durch eine Aufgabenprivatisierung entstehenden. Gleiches gilt für Beliehene, da diese vom Organisationsstatus her Private bleiben. Über seine föderalen und organisationsrechtlichen Gehalte hinaus ist Art. 87 Abs. 2 GG eine Garantie der Sozialversicherung nicht zu entnehmen. 29. „Selbstverwaltung“ ist für die Sozialversicherungsträger einfachgesetzlich in § 29 ff. SGB IV eingeräumt. Sie umfaßt sowohl „politische“ Selbstverwaltung durch Betroffenenpartizipation als auch „rechtliche“/„juristische“ Selbstverwaltung in Gestalt grundsätzlich selbständiger, fachweisungsfreier Wahrnehmung eigener öffentlicher Angelegenheiten im eigenen Namen und in eigener Verantwortung. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist jedenfalls die „politische“ Selbstverwaltung nicht abgesichert, denn eine solche läßt sich weder aus dem Demokratieprinzip noch aus dem Sozialstaatsprinzip und auch nicht aus Art. 87 Abs. 2 GG herleiten. Demgegenüber besteht das Spezifikum der mittelbaren Staatsverwaltung, wie sie für den Bereich der durch Bundesgesetz errichteten Sozialversicherung in Art. 87 Abs. 2 GG angeordnet ist, in einem bestimmten Grad an Entkoppelung vom Staat, also einer relativen Staatsdistanz durch Einräumung von Eigenverantwortlichkeit. Infolgedessen muß den von Art. 87 Abs. 2 GG erfaßten Sozialversicherungsträgern zumindest ein Grundbestand an rechtlicher/juristischer Selbstverwaltung eingeräumt und eine volle fachliche Weisungsbefugnis der zuständigen Exekutivspitzen ausgeschlossen sein. Diese „juristische/rechtliche“ Selbstverwaltung ist kein speziell sozialversicherungsrechtliches Phänomen, sondern eine generelle Folge der obligatorischen Anordnung mittelbarer Staatsverwaltung, wie sie Art. 87 Abs. 2 GG für die Sozialversicherungsträger ausspricht 30. Mangels unmittelbarem Bezug zu den Versicherungsverhältnissen und damit zur Durchführung der Sozialversicherung sind keine Sozialversicherungsträger insbesondere die sog. Dachverbände von Versicherungsträgern (etwa der AOK-Bundesverband oder sonstige Bundesverbände von Krankenkassen) oder die Zusammenschlüsse von Leistungserbringern (wie etwa die Kassenärztliche Bundesvereinigung, KBV, oder die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, KZBV), da sie bloße Koordinationsaufgaben wahrnehmen; für ihre Errichtung gilt daher nicht Art. 87 Abs. 2 GG, sondern Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG. Hiernach kann der Bund für alle Angelegenheiten, für die ihm die Gesetzgebung zusteht,

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selbständige Bundesoberbehörden und neue bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts durch Bundesgesetz errichten. 31. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG bestimmt, daß der Bund die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung trägt. Die Vorschrift ist eine finanzverfassungsrechtliche Lastenverteilungsregel und wird daher als Zuständigkeitsvorschrift angesehen. Sie durchbricht den allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz des Art. 104a Abs. 1 GG, nach dem die Ausgaben den Aufgaben folgen. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG ist trotz seiner Verortung im XI. Abschnitt des Grundgesetzes keine Übergangsvorschrift, sondern eine auf Dauer angelegte Regelung. Auch ist er nicht auf kriegsfolgenbedingte Lasten der Sozialversicherung beschränkt. Zusammen mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG bildet er ein in sich geschlossenes Regelungssystem für die Sozialversicherung und deren Finanzierung, die den allgemeinen, steuerzentrierten Vorschriften des X. Abschnitts des Grundgesetzes vorgehen. Der kompetenzrechtliche Gehalt des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG besteht in der Verteilung der Ausgabenverantwortung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, indem er die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung allein dem Bund auferlegt. Zuschüsse in diesem Sinne sind staatliche Zuweisungen an die Sozialversicherungsträger bzw. in das vom Staatshaushalt getrennte Sozialversicherungsvermögen, welche in pauschalisierter Form und ohne konkreten Bezug zu bestimmten Versicherungsverhältnissen aus Steuermitteln gezahlt werden. Sie sind begrifflich auf eine Teilfinanzierung beschränkt, da die Sozialversicherung „entversichert“ würde, wenn die Beitragsfinanzierung gegenüber der Bezuschussung kein eigenständiges Gewicht mehr aufweist (vgl. auch Leitsatz 10). Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG verleiht keine eigenständige Gesetzgebungskompetenz für die Zuschüsse zur Sozialversicherung; diese resultiert aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, darf vom Bund allerdings nur in einer Weise ausgeübt werden, die im Einklang mit den übrigen Bestimmungen der Verfassung einschließlich Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG steht. Der Bund darf seine Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG also nicht dergestalt ausüben, daß er Zuschüsse zur Sozialversicherung den Ländern aufbürdet. Da Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG eine gleichmäßige Belastung der gesamten Bevölkerung des Bundesgebietes mit den Sozialversicherungslasten bezweckt, enthält er umgekehrt auch ein Verbot für die Länder, ihrerseits Zuschüsse zur Sozialversicherung zu leisten. Darüber hinaus gehende Gehalte weist die reine Zuständigkeitsvorschrift des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG nicht auf: Er ist keine Anspruchsnorm, und er beinhaltet keine allgemeine Zuschußverpflichtung des Bundes, also keine Pflicht, bei unzureichender Finanzausstattung der Sozialversicherung(sträger) einen Finanztransfer durch Zuschüsse zur Defizitausgleichung vorzunehmen. Auch steht er nicht einem Binnentransfer zwischen einzelnen Sozialversicherungsträgern, etwa in Gestalt eines Risikostrukturausgleichs, entgegen. Selbst eine Zuschußpflicht in besonderen, existenzgefährdenden Krisensituationen der Sozialversicherung, also eine Garantiehaftung

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hinsichtlich der Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung, ist der bloßen Lastenverteilungsnorm des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG nicht zu entnehmen. Eine solche kann allenfalls aus anderen Verfassungsbestimmungen resultieren (Sozialstaatsprinzip, Grundrechte). Soweit sie aus solchen herleitbar ist, verteilt Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG aber auch die daraus folgenden Lasten auf den Bund.

Literaturverzeichnis Nicht in dieses Literaturverzeichnis aufgenommen wurden Veröffentlichungen, die lediglich als Quelle für statistische Angaben dienen, wie etwa statistische Jahrbücher oder statistische Erhebungen der Bundesministerien für ihre Zuständigkeitsbereiche. Nicht aufgenommen wurden ferner Parteitagsbeschlüsse, Koalitionsvereinbarungen, Kommissionsberichte o. ä. André, Helmut: Chancengleichheit im Rechtsschutz durch obligatorische Rechtsschutzversicherung?, in: ZRP 1976, S. 177 ff. Apelt, Willibalt: Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, in: NJW 1949, S. 481 ff. Arnold, Hans: Der neue Pfändungsschutz für Arbeitseinkommen und für Gehaltskonten, in: BB 1978, S. 1314 ff. Axer, Peter: Beihilfe unter dem Regime der Sozialversicherung, in: DVBl. 1997, S. 698 ff. – Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung – Ein Beitrag zu den Voraussetzungen und Grenzen untergesetzlicher Normsetzung im Staat des Grundgesetzes, Tübingen 2000 – Soziale Sicherheit vor neuen Grenzziehungen zwischen öffentlichem und privatem Recht, in: Soziale Sicherheit durch öffentliches und Privatrecht, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes e.V. (SDSRV), Bd. 51, Wiesbaden 2004, S. 111 ff. – Verfassungsrechtliche Fragen einer Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, hrsg. v. Alfred Söllner, Wolfgang Gitter, Raimund Waltermann, Richard Giesen und Oliver Ricken, München 2005, S. 1 ff. – Gesundheitswesen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., Heidelberg 2006, § 95 (S. 1005 ff.) – Soziale Versicherungsträger als Thema der grundgesetzlichen Kompetenzordnung – Verfassungsrechtliche Fragen der Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger, in: Fiat iustitia – Recht als Aufgabe der Vernunft, Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 79 ff. Bachof, Otto: Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: VVDStRL 12 (1954), S. 37 ff. Baßeler, Ulrich/Heinrich, Jürgen/Utecht, Burkhart: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, 18. Aufl., Stuttgart 2006 Bauer, Günter: Die Kraftfahrtversicherung, 5. Aufl., München 2002 Bäumler, Helmut: Art. 15 GG als Instrument der Wirtschaftslenkung, in: GewArch 1980, S. 287 ff.

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Sachverzeichnis Abgrenzung zwischen privatrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Versicherungswesen (einschl. Sozialversicherung) 80 ff., 203 ff., 348 ff., 500 f. – Abgrenzung nach Art der Prämienkalkulation (Versicherungsprinzip)? 353 – Abgrenzung nach Art des Finanzierungssystems? 353 – Abgrenzung nach Handlungsform? 354 f. – Abgrenzung nach Institutionen 348 ff. – Abgrenzung nach Organisationsform? 351 ff. – Abgrenzung nach Versicherungs- oder Kontrahierungszwang? 356 – Abgrenzung nach Wettbewerbsstellung? 353 f. – Abgrenzung nach Zielsetzung und Arbeits-/Wirtschaftsmethoden 356 ff. Anstalten des öffentlichen Rechts 462 f. Äquivalenz – ~ als Strukturmerkmal einer Versicherung? 133 ff., 147 f., 150 f., 488 – Äquivalenzprinzip 133 ff., 165 f. – „Gerechte“ Versicherungsprämie 133, 136, 212, 488 f. – Globaläquivalenz 133 ff., 147, 209, 212, 215, 223 f., 488 – Individualäquivalenz 133 ff., 150 f., 164 ff., 170 f., 173 f., 207 ff., 333 f., 353, 360 f., 488 f., 493 f. Äquivalenzprinzip siehe Äquivalenz Arbeitgeberanteil an den Sozialversicherungsbeiträgen (Arbeitgeberbeitrag) 151 ff., 214, 219 f., 489 ärztliches Berufsrecht 270 ff., 497 Aufgabenprivatisierung 248 ff., 465, 496, 503

Ausgleich, sozialer siehe sozialer Ausgleich Ausweitbarkeit der Sozialversicherung auf neue Risiken 187 ff., 201 f., 491 f. Basistarif (in der PKV) 65 ff., 72 f., 76 f., 81, 82 f., 350, 366, 377 ff., 501 Beamte und deren Einbeziehbarkeit in die Sozialversicherung 233 ff., 495 Bedarfsdeckung als Ziel einer Wirtschaft siehe Gemeinwirtschaft Befreiung von der Versicherungspflicht 59 f. Begriff(slehre) 92 ff., 486 Beiträge und Gebühren 158 ff., 489 Beiträge zur Sozialversicherung siehe Sozialversicherungsbeiträge Beitragsberechnung – ~ in der Privatversicherung 64, 372 f., 373 f., 492 f., 500 – ~ in der Sozialversicherung 207 ff., 492 f. beitragsfreie Zeiten (Anrechnung) 214 Beleihung Privater (Beliehene) 248 f., 466 f., 496, 503 Berufsrecht, ärztliches 270 ff., 497 berufsständische Versorgungswerke siehe Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe Berufsunfähigkeit siehe Erwerbsunfähigkeit Beschränkung des sozialversicherten Personenkreises 220 ff., 494 f. – ~ auf Bevölkerungsausschnitt? 229 ff., 494 f. – ~ auf Schutzbedürftige? 220 ff., 494 f. – ~ aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen? 236 ff., 495 f.

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Sachverzeichnis

– Einbeziehbarkeit von Beamten? 233 ff., 495 – Einbeziehbarkeit von Selbständigen? 231 ff., 495 „Beteiligte“ der Sozialversicherung 151 ff. Bezahlbarkeit der Versichertenbeiträge 206 ff., 268, 485, 493, 495, 501 „Bismarck’sche“ Sozialversicherung siehe „Klassische“ (Bismarck’sche) Sozialversicherung Bundesverwaltung – ~ fakultative nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG 472, 503 f. – ~ mittelbare 456 f., 502 f. Bürgerversicherung 69 ff., 88, 220 ff., 227, 230 f., 236 ff., 278, 494 f., 495 f. – Beschränkung der Sozialversicherung auf bestimmte Personen bzw. auf Bevölkerungsausschnitt? 220 ff., 494 f. – Gesetzgebungskompetenz für eine ~ 80, 88, 161 ff., 236 ff., 494 f., 495 f. – ~ in „Reinform“ 70 – Konflikt mit Finanzverfassung 161 ff., 236 ff., 495 f. – ~ unter Beteiligung der privaten Versicherer 71 ff. Dritte – ~ als Beitragsbelastete 180 ff., 489 – Mitversicherung Dritter 61 f., 151, 489 – Sozialversicherungsleistungen an ~ 177 ff., 490 effet-utile-Prinzip 287 Einheit der Verfassung 283, 286, 305 ff. einvernehmliche Übertragung sozialer Strukturen auf die Privatversicherung 451 f. Empfängnisverhütung 175 Entgeltlichkeit – ~ der Sozialversicherung 150 ff., 488 f. – ~ der Versicherung 131 f. „Entversicherung“ der Sozialversicherung 155, 171 ff., 211, 489 f.

Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung (Art. 72 Abs. 2 GG) 274 Erschwinglichkeit der Versichertenbeiträge siehe Bezahlbarkeit der Versichertenbeiträge Erwerbs-/Gewinnwirtschaft siehe Privatwirtschaft Erwerbsunfähigkeit 202 Familienversicherung 55 f., 61 f., 151, 214 Feuer- und Gebäudeversicherung, öffentliche 198 f., 349 ff., 500 Finanzierung der GKV 62 ff. Finanzierung der Sozialversicherung siehe auch Sozialversicherungsbeiträge – Beiträge 148 ff., 488 f. – Bezahlbarkeit der Versichertenbeiträge siehe dort – Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 62 ff. – Kompetenzgrundlage für Sozialversicherungsbeiträge 156, 489 – Nicht-Beiträge 153 ff. – sozialer Ausgleich siehe dort – Sozialversicherungsbeiträge als entgeltliche Gegenleistung 150 ff., 488 f. – Steuern 153 ff., 489, 495 f. – Zuschüsse 153 ff., 172 f., 205, 210 f., 475 ff., 490, 493 f., 497, 504 f. Finanzverfassung 161 ff., 236 ff., 495 f. Föderalismusreform (2006) 82, 274, 342 f. freiwillige (Sozial-)Versicherung 138, 216 ff., 235, 355 f., 494 f. Fremdlasten siehe Versicherungsfremde Leistungen Fremdrenten 177, 490 Friedensgrenze siehe Versicherungspflichtgrenze funktionale Privatisierung 248, 465 f. Fürsorge, öffentliche 156, 335 ff., 385 ff., 499 f.

Sachverzeichnis – Abgrenzung zu öffentlicher Versorgung 342 f. – Abgrenzung zu „Sozialversicherung“ 339 – Verhältnis zu privater Fürsorge 336 ff. Fürsorge, private 336 ff. Garantie der Sozialversicherung, verfassungsrechtliche 293, 317 ff., 319 ff., 322 ff., 471 f., 483, 503 Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung 482 ff., 504 f. Gattungsbegriff 85 f., 93 f., 202 f., 272 ff., 336, 485 f. – Abgrenzung zum Artbegriff 93 f. – „öffentliche Fürsorge“ als ~ 336 – „Sozialversicherung“ als ~ 85 f., 94, 272 ff., 485 f. Gebäude-/Feuerversicherung (Zwangsund Monopolanstalten) 198 f., 349 ff., 500 Gegenseitigkeit der Versicherung 132 ff. Gemeinwirtschaft 203 ff., 361 ff., 391, 403 ff., 492 f., 501 f. – Abgrenzung zu Privatwirtschaft 361 ff., 363 ff. – Begriff 203 ff., 361 ff. – Gemeinwirtschaftliche Ausrichtung der Sozialversicherung 203 ff., 501 f. – Überführung in ~ siehe Sozialisierung „gerechte“ Versicherungsprämie 133, 136, 212, 488 f. Gesetz der großen Zahl 138 ff., 146, 163, 223 Gesetzgebungskompetenz(en) 78 ff. – Erfordernis bundeseinheitlicher Regelung (Art. 72 Abs. 2 GG) 274 – für „Bürgerversicherung“ 80, 88, 161 ff., 236 ff., 494 f., 495 f. – für Kassenarztrecht 270 ff., 497 – für „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) 78 ff., 335 ff., 499 f. – für private Pflegeversicherung 368 ff.

531

– für „privatrechtliches Versicherungswesen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) 78 ff., 344 ff., 500 f. – für „Recht der Wirtschaft“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) 344 ff., 500 f. – für Sozialisierungen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) 390 ff., 501 f. – für „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) 78 ff., 84 ff. – für Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturen auf Privatsicherung 384 ff., 501 f. – für „Versorgung“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG) 78 ff., 340 ff., 499 f. – für Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe 275 ff., 498 – Hybridkompetenzen 388 ff. – Länderkompetenzen für „Sozialversicherung“ 256 f., 263 f., 275 ff., 497 f. – Legitimationswirkung, materielle 280 ff., 498 f. – Verhältnis zu Verwaltungskompetenzen 255 ff., 257 ff., 496 f. Gesundheitsfonds 62 f., 75 f., 266 f. Gesundheitsprämien siehe Kopfpauschalen Gleichartigkeit der versicherten Risiken 129, 202 f. Globaläquivalenz 133 ff., 147, 209, 212, 215, 223 f., 488 Grundrechtsverzicht 451 f. Historische Entwicklung des bipolaren Krankenversicherungssystems in Deutschland 31 ff. Individualäquivalenz 133 ff., 150 f., 164 ff., 170 f., 173 f., 207 ff., 333 f., 353, 360 f., 488 f., 493 f. Individualversicherung siehe auch Privatversicherung – „Individualversicherung“ (Begriffserklärung) 368 f. (Fn. 1382)

532

Sachverzeichnis

Inpflichtnahme der Privatversicherung, soziale 29, 337 f., 365 ff., 375 ff., 501 f. Jahresarbeitsentgeltgrenze siehe Versicherungspflichtgrenze juristische Personen des öffentlichen Rechts (als Träger der Sozialversicherung) 250 ff., 459 ff., 502 f. Kapitaldeckungsverfahren 353 Kassenarztrecht 270 ff., 497 „klassische“ (Bismarck’sche) Sozialversicherung 31 f., 39 ff., 67, 85, 89, 105, 106, 148 ff., 155, 156, 162, 181, 187 ff., 195 ff., 203 f., 207 f., 246 f., 253, 492 kompetentielle Legitimationswirkung siehe Legitimationswirkung von Kompetenztiteln, materielle konkurrierende Landesgesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung 256 f., 263 f., 275 ff., 497 f. Kontrahierungszwang 71, 76, 208 f., 349, 356, 493 Kopfpauschalen 73 ff., 207, 494 – ~ und sozialer Ausgleich 212 ff., 494 Körperschaften des öffentlichen Rechts (als Träger der Sozialversicherung) 250 ff., 459 ff., 462 ff., 496, 502 f. Krankenkassen siehe Träger der Sozialversicherung Künstlersozialabgabe 180 ff. Landesgesetzgebungskompetenzen für die Sozialversicherung 256 f., 263 f., 275 ff., 497 f. Landesverwaltung, mittelbare 457 ff., 502 f. Lastentragungsregel des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG 473 ff., 504 f. – Anspruchsnorm? 480 f. – Garantiehaftung des Bundes? 482 ff. – Verfassungsauftrag hinsichtlich „Sozialversicherung“? 319 ff., 482 ff.

– Verhältnis zu Gesetzgebungskompetenzen 475 ff. – Zuschußpflicht des Bundes? 479 f. Legitimationswirkung von Kompetenztiteln, materielle 83 f., 280 ff., 498 f. – aus Gesetzgebungskompetenztiteln 282 ff. – aus Verwaltungs(organisations)kompetenz des Art. 87 Abs. 2 GG – Bedeutung 281 ff. – Entwicklung des Meinungsstandes 284 ff. – für „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) 90 f., 291 ff., 332 ff., 498 f. – (keine) generelle materielle Legitimationskraft von Kompetenztiteln 301 ff., 498 – Reichweite 314 ff., 332 ff., 498 f. Leistungsvermögen, Orientierung der Sozialversicherungsbeiträge am 159, 207, 210, 268 f., 413, 492 f. Mitgliedschaft (in der GKV) 55 f. mittelbare Bundesverwaltung 456 f., 502 f. mittelbare Landesverwaltung 457 ff., 502 f. Mitversicherung Dritter 151, 489 Monopol(versicherungs)anstalten 145, 198 f., 349 ff., 500 Nichtversicherte, Leistungen an 177 ff., 490 Nivellierung der Prämien 375 ff., 501 f. – ~ durch Basistarif 377 ff., 501 öffentliche Feuer- und Gebäudeversicherung 198 f., 349 ff., 500 öffentlich-rechtliche Versicherer 144 ff., 198 f., 348 ff., 500 öffentlich-rechtliches Versicherungswesen 244, 347, 348 ff., 500 – Abgrenzung zu privatrechtlichem Versicherungswesen 348 ff., 500

Sachverzeichnis – Feuer- und Gebäudeversicherung, öffentliche 198 f., 349 ff., 500 – Monopol(versicherungs)anstalten 145, 198 f., 349 ff., 500 Organisationsform der Sozialversicherung 244 ff., 453 ff., 496 f., 502 ff. – Aufgabenprivatisierung (materielle Privatisierung) 248, 465 – Beleihung Privater 248, 466 f. – funktionale Privatisierung 248 – Inhaltsmerkmal der Gesetzgebungsmaterie „Sozialversicherung“? 244 ff., 250 ff. – juristische Personen/Körperschaften des öffentlichen Rechts 250 ff. – Organisationsprivatisierung (formelle Privatisierung) 248, 385, 465 f. – organisationsrechtliche Vorgaben für die Sozialversicherung 453 ff. – privatrechtliche Organisationsformen 248, 464 ff. – staatlich beherrschte Privatrechtsorganisationen 248 – staatliche Organisationsform 245 ff. Organisationsprivatisierung (formelle Privatisierung) 248, 385, 465 f., 496, 503 Pfändungsschutzregelungen 199 f. Pflegeversicherung 79, 185, 187, 189, 193 f., 202, 368 ff. – absicherbares/abgesichertes Risiko 189, 193 f. – Einführung als neuer Zweig der Sozialversicherung 185, 187, 202 – Gesetzgebungskompetenz für private ~ 368 ff. – gesetzliche ~ (Begriff) 79 – private ~ (Begriff) 79 – soziale ~ (Begriff) 79 Pflichtversicherungsgrenze siehe Versicherungspflichtgrenze planmäßige Risikostreuung (in einer Versicherung) 138 ff. Polypersonalität 138 ff., 163

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Prämiengestaltung siehe Beitragsberechnung Prämiennivellierung siehe Nivellierung der Prämien Präventionsleistungen 176 private Krankenversicherung 63 ff.; siehe auch Privatrechtliches Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG); Privatversicherung – Basistarif 65 ff., 72 f., 76 f., 81, 82 f., 350, 366, 377 ff., 501 f. – Gesetzgebungskompetenz für Übertragung „sozialversicherungsrechtlicher“ Strukturen 365 ff., 501 f. – Historie 32 ff., 203 f. – Übertragung sozialer Elemente auf die ~ 365 ff., 501 f. – Überführung in Gemeinwirtschaft („Sozialisierung“) 390 ff., 501 f. private Pflegeversicherung siehe Pflegeversicherung (private) private „Quasi-Sozialversicherung“ 375 ff., 449 Privatisierung (der Sozialversicherung bzw. von deren Trägern) 76 f., 248 ff., 464 ff., 496 f., 503 privatrechtliches Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) 79, 344 ff., 347 f., 500 f.; siehe auch Private Krankenversicherung; Privatversicherung – Abgrenzung zu öffentlich-rechtlichem Versicherungswesen 80 ff., 348 ff., 500 f. – Abgrenzung zu „Sozialversicherung“ 80 ff., 203 ff., 348 ff., 500 f. – ~ als Teil des „Rechts der Wirtschaft“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) 347 ff. – Gesetzgebungskompetenz siehe Recht der Wirtschaft (Gesetzgebungskompetenz) – Private Pflegeversicherung 365 ff. Privatversicherung 29, 87, 106 ff., 127; siehe auch Private Krankenversicherung; Privatrechtliches Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG)

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Sachverzeichnis

– Abgrenzung zu Sozialversicherung 80 ff., 203 ff., 348 ff., 500 f. – ~ als Leitbild für den Versicherungsbegriff 106 ff., 167 – Einvernehmliche Übertragung sozialer Strukturen auf die ~ 451 f. – „Individualversicherung“ (Begriffserklärung) 368 f. (Fn. 1382) – Inpflichtnahme, soziale 29, 337 f., 365 ff., 375 ff., 501 f. – Übertragung sozialer Elemente auf die ~ 365 ff., 501 f. – Versicherungsmethode der Privatversicherung 203 ff., 356 ff., 492 f., 500 – Versicherungsprinzip in der ~ 147 f., 165 ff., 203, 218 Privatwirtschaft 166, 204 f., 247, 358 ff., 371 ff., 500 f. – Beseitigung der „privatwirtschaftstypischen“ Elemente („privatwirtschaftseliminierende Regelungen“) 375 ff., 501 f. „Quasi-Sozialversicherung“ – nach Landesrecht ~ 263, 497 – private ~ 375 ff., 449 – steuerfinanzierte ~ 153 ff., 172 f., 339 f. Recht der Wirtschaft (Gesetzgebungskompetenz) 344 ff., 500 f. – Abgrenzung zu öffentlich-rechtlichem Versicherungswesen einschl. Sozialversicherung 348 ff., 500 f. – Allgemeines zu Inhalt und Umfang 344 ff. – privatrechtliches Versicherungswesen 347 ff., 500 f. – Privatwirtschaft (Erwerbs-/Gewinnwirtschaft) 357 ff., 500 f. – Wirtschaft (Begriff) 344 ff. – wirtschaftsbezogene und wirtschaftsrelevante Normen 345

Rechtfertigungswirkung von Kompetenztiteln, materielle siehe Legitimationswirkung von Kompetenztiteln, materielle Rechtsschutzversicherung, gesetzliche (soziale) 190 f., 194 Reformmodelle zur Umgestaltung der GKV 68 ff. Regelungsbereiche im Zusammenhang mit „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) 270 ff., 497 Risiken, sozialversicherungsfähige 187 ff., 491 f. – Arbeitsfähigkeit, Zusammenhang mit 188 ff. – Berufs-/Erwerbsunfähigkeit 202 – Eintrittswahrscheinlichkeit 191 f. – enges Risikoverständnis 191 ff., 194 ff. – Erfassung „neuer“ Risiken 201 f. – Haftungsverpflichtungen 199 f. – Personenrisiken (körperliche Risiken) 192 f. – Rechtsschutzversicherung, gesetzliche (soziale) 190 f., 194 – Sachrisiken 188 ff., 198 f. – Vermögensrisiken 188 ff., 196 f. – weites Risikoverständnis 188 ff. Risikoselektion, Ausschluß der 208 f., 493 Risikostrukturausgleich 481 f. Schätzbarkeit des versicherten Risikos 127 ff. „Schlechte“ (Versicherungs-)Risiken 155, 208 f., 211, 212 f., 214 ff., 220 ff., 378, 449 f., 493 Schutzbedürftigkeit der Sozialversicherten 220 ff., 229 f., 494 f. Schwangerschaftsabbruch 175 Selbständige und deren Einbeziehbarkeit in die Sozialversicherung 231 ff., 495 Selbständigkeit des Versicherungsverhältnisses 130, 150 Selbstverwaltung(sgarantie) 467 ff., 503

Sachverzeichnis – juristische/rechtliche Selbstverwaltung 467 f., 469 ff. – politische Selbstverwaltung 467 f., 471 – verfassungsrechtliche Absicherung 468 ff. Solidaritätsprinzip/Solidarprinzip siehe sozialer Ausgleich Sonderabgaben 160 sozial; das Soziale (Begriff) 183 ff., 490 f. soziale Durchbrechungen des Versicherungsprinzips 163 ff., 173 f., 203 ff., 489 f. „soziale“ Komponenten der Sozialversicherung 185 ff., 490 ff. – Arbeitgeberbeiträge, Finanzierung durch? 219 ff. – Beschränkung des versicherten Personenkreises (insb. auf Schutzbedürftige)? 220 ff. – Erschwinglicher Versicherungsschutz 206 ff. – Kontrahierungszwang 208 ff., 493 – primäre Ausrichtung am Ziel der Bedarfsdeckung (Gemeinwirtschaft) 203 ff. – Risiken, sozialversicherungsfähige siehe dort – Risikoselektion, Ausschluß der 208 ff., 493 – Schutz vor besonderen Belastungen 186 ff. – sozialer Ausgleich (Solidaritätsprinzip) siehe sozialer Ausgleich – Versicherungsmethode der Sozialversicherung 203 ff. – Versicherungspflicht (Versicherungszwang)? 214 ff. sozialer Ausgleich 168 f., 209 ff., 215, 217, 223 f., 269, 333, 493 f. – ~ als Strukturmerkmal der Sozialversicherung 209 ff. – ~ und Kopfpauschalen 212 f. – ~ „von außen“ 210 f., 215, 217, 223 f. – ~ „von innen“ 210 f., 215, 217, 223 f. Sozialisierung (Art. 15 GG) 390 ff., 501 f.

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– „Andere Formen“ der Gemeinwirtschaft 405 ff. – Anforderungen an Organisationsform („enges“ und „weites“ Verständnis von Gemeinwirtschaft) 405 ff. – Entschädigungspflicht 432 ff. – „Gemeineigentum“ 405 – Gemeinwirtschaft 403 ff. – Legal- und Administrativsozialisierung 440 ff. – Sozialisierungseignung und -reife 442 f. – Sozialisierungsfähige Gegenstände, insb. „Produktionsmittel“ (Begriff) 415 ff. – „Überführung“ in Gemeinwirtschaft 404 – Verhältnis zur Wirtschaftslenkung 407 ff. – Verhältnismäßigkeitsprinzip 443 ff. – zum Zwecke der „Vergesellschaftung“ 431 f., 445 f. Sozialstaatsprinzip 321 ff. Sozialversicherung – Abgrenzung zu öffentlicher Fürsorge 339 f., 499 f. – Abgrenzung zu Privatversicherung/privatrechtlichem Versicherungswesen 80 ff., 203 ff., 348 ff., 500 f. – Abgrenzung zu Versorgung 343, 499 f. – absicherbare Risiken siehe Risiken, sozialversicherungsfähige – ~ als Gattungsbegriff 85 f., 91, 94, 202 f., 272 ff., 485 f. – ~ als „Versicherung“ 148 ff., 488 f. – ~ als Typus? 91, 95 f., 272 ff., 486 f. – Arbeitgeberbeiträge, Finanzierung durch? 219 ff. – Begriffsbestimmung 84 ff., 267 ff., 272 ff. – Beschränkung des versicherten Personenkreises (insb. auf Schutzbedürftige)? 220 ff., 494 ff. – Entgeltlichkeit 150 ff., 211, 488 f. – erschwinglicher Versicherungsschutz 206 ff., 493

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Sachverzeichnis

– essentialia negotii 111 ff., 148 ff., 183 ff., 244 ff., 267 ff. – Garantie der ~? 293, 318, 319 ff., 321 ff., 471 f. – Gemeinwirtschaftliche Zielsetzung 203 ff., 492 f. – Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) 78 ff., 84 ff. – historische Entwicklung 32 ff. – Inhalts-/Strukturmerkmale (Zusammenfassung) 267 ff. – Kontrahierungszwang 208 ff., 493 – Lastentragungsregel des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG 473 ff., 504 f. – materiellrechtliche Vorgaben für die ~ 169 ff. – Organisationsform/organisationsrechtliche Vorgaben 244 ff., 453 ff., 496 f., 502 f. – Polypersonalität 163 – primäre Ausrichtung am Ziel der Bedarfsdeckung (Gemeinwirtschaft) 203 ff., 492 f. – Rechtsanspruch, verbindlicher 162 – Risiken, sozialversicherungsfähige siehe dort – Risikoselektion, Ausschluß der 208 ff., 493 – Risikostreuung 163 – Schutz vor besonderen Belastungen 186 ff. – Selbständigkeit des Versicherungsverhältnisses 150 f. – Selbstverwaltung(sgarantie) 467 ff., 503 – sozialer Ausgleich (Solidarprinzip) siehe sozialer Ausgleich – Sozial-Komponente der ~ 185 ff., 487, 490 ff. – Sozialversicherungsbeiträge siehe dort – staatliche/staatlich beherrschte Organisationsform 245 ff., 496 f. – steuerfinanzierte „Quasi“-Sozialversicherung 153 ff., 172, 339 f.

– Steuerfinanzierung der Sozialversicherung (Zuschüsse) 153 ff., 172 f., 179, 205, 210 f., 473 ff., 490, 493 f., 497, 504 f. – Strukturmerkmale der ~ 104 ff., 267 ff. – Träger der ~ 245 ff., 453 ff., 455 f., 496 f., 502 f. – Ungewißheit des nachteiligen Ereignisses 149 f. – Verfassungsauftrag? 316 ff., 498 – Vermögen der ~ 265 ff., 496 – Versicherungscharakter der ~ 105 ff., 148 ff., 267 f., 487, 488 f.; siehe auch dort – Versicherungsfunktion 149 – Versicherungsmethode der ~ 203 ff., 492 ff. – Versicherungspflicht (Versicherungszwang)? 214 ff., 494 – Versicherungsprinzip und ~ 163 ff., 489 f. – Verwaltungskompetenzen (Art. 87 Abs. 2 GG) 453 ff., 502 f. – Zuschüsse zur ~ 153 ff., 172 f., 179, 205, 210 f., 473 ff., 490, 493 f., 497, 504 f. Sozialversicherungsbeiträge 150 ff., 488 f.; siehe auch Finanzierung der Sozialversicherung – Abgabe eigener Art 161 – Abgrenzung zu anderen Abgaben (insb. Steuern) 157 ff., 238 f. – ~ als entgeltliche Gegenleistung 150 ff. – Arbeitgeberanteil 151 ff., 214, 219 f. – Kompetenzgrundlage 156 – Konflikt mit Steuern 179 f., 236 ff. – Rechtsnatur 156 ff. – Verwendung für außerhalb der Sozialversicherung stehenden Personen 177 ff. – Verwendung für nicht vom Versicherungszweck gedeckte Leistungen 175 f.

Sachverzeichnis sozialversicherungsfähige Risiken siehe Risiken, sozialversicherungsfähige sozialversicherungsrechtliche Strukturen in der privaten (Kranken-)Versicherung 365 ff., 501 f. Sozialversicherungsträger siehe Träger der Sozialversicherung Sozialversicherungszweige, Trennung der 202 ff. Sperrwirkung für Landesgesetzgeber 257, 263 f., 279, 306 f., 497 f. Staatsaufgabe, allgemeine 239 ff., 496 Sterilisation 175 steuerfinanzierte „Quasi“-Sozialversicherung 153 ff., 172 f., 339 f. Steuerfinanzierung der Sozialversicherung (Zuschüsse) 153 ff., 172 f., 179, 205, 210 f., 473 ff., 490, 493 f., 497, 504 f. Steuerkompetenzen 179 f., 236 ff. Steuern (Begriff) 157 Stiftungen des öffentlichen Rechts 462 f. Träger der Sozialversicherung 244 ff., 250 ff., 453 ff., 455 f., 496 f., 502 f. – Anstalten und Stiftungen 462 f. – Beliehene 248 f., 466 f. – „Körperschaften“ des öffentlichen Rechts (i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG) 250 ff., 459 ff., 462 ff. – länderübergreifende ~ 456 ff., 460 – nicht-länderübergreifende ~ 459, 460 f. – organisationsrechtliche Vorgaben 244 ff., 453 ff. – privatrechtliche Organisationsformen 248, 464 ff. – Selbstverwaltung(sgarantie) 467 ff. Trias des Rechts der sozialen Sicherheit 78 f., 334, 336 Typus(lehre) 94 ff., 108, 148, 272 ff. – Kritik 96 ff. – „Sozialversicherung“ als Typus? 91, 95 f., 272 ff.

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Umfang des sozialversicherten Personenkreises – Beschränkung des sozialversicherten Personenkreises? siehe dort – Versicherter Personenkreis der gesetzlichen Krankenversicherung 55 ff. Umlageverfahren 353 Umverteilung in der Sozialversicherung siehe sozialer Ausgleich Ungewißheit des versicherten Risikos 126 f. Unternehmensform einer Versicherung 143 ff. Unternehmenstheorie 144 Verbindlichkeit des Versicherungsanspruchs 130 Verfassungsauftrag hinsichtlich „Sozialversicherung“? 316 ff., 498 – ~ aus Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG? 319 ff., 482 ff. – ~ aus Sozialstaatsprinzip? 321 ff. – ~ aus Verwaltungskompetenzregelung des Art. 87 Abs. 2 GG? 317 ff., 471 f. – ~ nach Willen des Verfassungsgebers? 326 ff. – ~ wegen Pflicht zu positiver Kompetenzwahrnehmung? 312 ff. – ~ wegen Quantität der Nennung im Grundgesetz? 330 f. Vermögen der Sozialversicherung 265 ff. – Trennung vom allgemeinen Staatsvermögen 157 f., 265 ff. Versicherbarkeit eines Risikos 127 ff. Versichertenverhältnis 55 f. Versicherung – ~ als Geschäftsbesorgung 131 f. – ~ als Typus 108, 148 – ~ als Zukunftsvorsorge 123 ff. – Begriff (Versicherungsbegriff) 87, 116 ff., 145 ff., 267 f., 487 f.; siehe auch Versicherungsbegriff

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Sachverzeichnis

– Entgeltlichkeit 131 f. – „Entversicherung“ der Sozialversicherung 171 ff., 490 – Freiwilligkeit 138 – Gegenseitigkeit 132 ff. – Gesetz der großen Zahl 138 ff. – Gleichartigkeit der versicherten Risiken 129, 202 f. – maßgebliche Begriffsmerkmale 145 ff., 487 – Monopol(versicherungs)anstalten 145, 198 f. – öffentlich-rechtliche Organisationsform 144 f. – planmäßige Risikostreuung 135, 138 ff. – Polypersonalität 138 ff. – Schätzbarkeit des versicherten Risikos 127 ff. – Selbständigkeit des Versicherungsverhältnisses 130 – Sozialversicherung als „Versicherung“ 148 ff., 488 f. – Strukturmerkmale einer ~ 123 ff., 145 ff. 487 f. – Ungewißheit des versicherten Risikos 126 f. – unmaßgebliche Merkmale für „Versicherung“ im Rechtssinne 147 f., 488 – Unternehmensform 143 ff. – verbindlicher Rechtsanspruch 130 – Versicherbarkeit eines Risikos 127 ff. – Versicherungsaufsicht 137 f. – Versicherungsprinzip 147 ff., 163 ff., 169 ff., 353, 361, 488, 489 f. – Versicherungsverhältnis/-vertrag 118 f. – Wechselseitigkeit 131 f. – Zwangs(versicherungs)anstalten 145 Versicherungsaufsicht 137 f. Versicherungsbegriff 87, 116 ff., 145 ff., 267 f., 487 f. – Definitionsversuche 118 ff. – Sozialversicherung als „Versicherung“ 148 ff., 488 f.

– Strukturmerkmale einer „Versicherung“ im Rechtssinne 123 ff., 145 ff., 487 f. – unmaßgebliche Merkmale für eine Versicherung im Rechtssinne 147 f., 488 f. – wirtschaftlicher ~ 117, 147 f. Versicherungsberechtigung 60 f. Versicherungscharakter der Sozialversicherung 105 ff., 148 ff., 267 f., 487, 488 f. – Diskussion um den ~ 106 ff., 109 ff., 487 – rechtliche Bedeutung 113 ff. – Sozialversicherung als Versicherung im Rechtssinne 148 ff., 488 f. – Versicherungskomponente der Sozialversicherung 105 ff., 148 ff., 488 f. Versicherungsfreiheit 57 ff. Versicherungsfremde Leistungen 114, 173 ff., 490 – Beitragsbelastung von Dritten 180 ff. – Empfängnisverhütung 175 – Fehlen der Individualäquivalenz 173 f. – Fremdrenten 177 – Leistungen an Nichtversicherte (Dritte) 177 ff. – Präventionsleistungen 176 – Schwangerschaftsabbruch 175 – soziale Durchbrechungen des Versicherungsprinzips 173 f., 489 f. – Sterilisation 175 – Steuern, Konflikt mit 179 f. – vom Versicherungszweck nicht gedeckte Leistungen 175 – Zuschußpflicht des Bundes? 479 f. Versicherungsmethode – ~ der Privatversicherung 203 ff., 356 ff., 492 f., 500 – ~ der Sozialversicherung 203 ff., 492 ff. – Versicherungsprinzip siehe dort Versicherungspflicht 214 ff. – Befreiung von der ~ 59 f.

Sachverzeichnis – ~ in der Privatversicherung 64 f. – Pflichtversicherter Personenkreis 56 ff. Versicherungspflichtgrenze 57 f., 63 f., 227 f. Versicherungsprinzip 147 ff., 163 ff., 169 ff., 173 f., 353, 361, 488, 489 f. – soziale Durchbrechungen des Versicherungsprinzips 163 ff., 173 f., 489 f. – Sozialversicherung und ~ 163 ff., 489 f. – Unmaßgeblichkeit für Versicherungseigenschaft im Rechtssinne 147 ff., 488 Versicherungsverhältnis/-vertrag 118 f. Versicherungswesen, öffentlich-rechtliches siehe öffentlich-rechtliches Versicherungswesen Versicherungswesen, privatrechtliches siehe privatrechtliches Versicherungswesen Versicherungszwang siehe Versicherungspflicht Versicherungszweck, nicht vom ~ gedeckte Leistungen der Sozialversicherung 175 f. Versorgung (öffentliche) 336, 340 ff., 387 f., 499 – Abgrenzung zu öffentlicher Fürsorge 342 f. – Abgrenzung zu „Sozialversicherung“ 343, 499 – Sonderversorgung 341 – Staatsbürgerversorgung 341 f. – Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe siehe dort Versorgungseinrichtungen der Freien Berufe 275 ff., 498 Verwaltungs(organisations)kompetenzen 255 ff., 453 ff., – Legitimationswirkung, materielle 317 ff., 498 – Verhältnis zu Gesetzgebungskompetenzen 255 ff., 257 ff.

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– Verwaltungs(organisations)kompetenzen für die „Sozialversicherung“ 317 ff., 453 ff., 502 f. Wechselseitigkeit des Versicherungsverhältnisses 131 f. Wettbewerbsversicherer (Wettbewerbsanstalten) der öffentlichen Hand 144 f., 348 Wirtschaft (Begriff) 344 ff., 357, 358 ff. – Gemeinwirtschaft 361 ff. – Privatwirtschaft (Erwerbs-/Gewinnwirtschaft) 358 ff. Wirtschaft, Recht der siehe Recht der Wirtschaft (Gesetzgebungskompetenz) Wirtschaftlichkeitsgebot in der Sozialversicherung 205 Zuschüsse (Begriff) 475 Zuschüsse der Länder zu den Lasten der Sozialversicherung 477 f. Zuschüsse des Bundes zu den Lasten der Sozialversicherung (Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) 153 ff., 172 f., 179, 205, 210 f., 473 ff., 493 f., 497, 504 f. – Binnentransfers zwischen Krankversicherungsträgern (Risikostrukturausgleich) 481 f. – Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung 482 ff., 504 f. – Pflicht zu Zuschüssen für versicherungsfremde Leistungen? 479 f. – Zuschußpflicht, allgemeine 478 ff., 504 f. Zwangs- und Monopolanstalten 145, 198 f., 349 ff., 500 – Gebäude-/Feuerversicherung 198 f., 349 ff., 500 Zwecksteuer 157 f. Zweige der Sozialversicherung, Aufteilung in unterschiedliche 202 ff.