Sozialprodukt des Alters: Über Produktivitätswahn, Alter und Lebensqualität 9783205790440, 9783205785118

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Sozialprodukt des Alters: Über Produktivitätswahn, Alter und Lebensqualität
 9783205790440, 9783205785118

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Anton Amann · Günther Ehgartner · David Felder

3OZIALPRODUKTÖDESÖ!LTERS Über Produktivitätswahn, Alter und Lebensqualität

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien

MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78511-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung : Judith Mullan Umschlagabbildung : Fotolia__M.jpg Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : General Druckerei, Szeged

)NHALTSVERZEICHNIS

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1 : Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen . . .

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1.1 Die Rolle von »Erzählungen« . . . . . . . . . . . . 1.2 Emanzipation, Fortschritt und bessere Gesellschaft 1.3 Ökonomie und Individualismus . . . . . . . . . . 1.4 Kommunitarismus gegen Individualismus ? . . . . 1.5 Risiken und Chancen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 2 : Die Sprachspiele über Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.1 »Ökonomen sind dumm« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schwierigkeiten mit dem Produktivitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . 2.3 Produktion um jeden Preis – auch im Alter ? . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3: Die Rückholung des Alters in die gesellschaftliche Verwertung . . . 3.1 Hegemoniale Tendenzen der Aktivierungslehre . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Entdeckung der Produktivität des Alters . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 4: Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen . . . . . . . .

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. . . 5.1 Dimensionen der Lebensqualität . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Politische Dimensionen des Begriffs . . . . . . . 5.1.2 Systematische Dimensionen der Lebensqualität 5.1.3 Lebensqualität und Ziele . . . . . . . . . . . . 5.2 Objektive Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Subjektive Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Begriffsklärungen und Vorschläge . . . 4.2 Autoproduktivität . . . . . . . . . . . . 4.3 Heteroproduktivität . . . . . . . . . . 4.4 Kompetenz und Selbstaufmerksamkeit 4.5 Erfahrungswissen nützen . . . . . . . .

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Kapitel 5: Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

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Inhaltsverzeichnis

5.4 Lebensqualität im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Ein Sozialprodukt des Alters ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Was heißt Krise ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6: Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer . . . . . . . . . . . . 6.1 Aktivitätsideologie in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 6.2 Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt« . . . . . . . . . . . 6.2.1 Ehrenamtliches Engagement . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Kinder-/Enkelbetreuung und Pflege . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Enkelbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Pflege und Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Informelle Unterstützung und Transfers . . . . . . . . . . 6.3 Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren .

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Kapitel 7: Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid . . . . . . . 115 . . . . . . . . . . . . . . . 115 . . . . . . . . . . . . . . . 119 . . . . . . . . . . . . . . . 121 . . . . . . . . . . . . . . . 127 . . . . . . . . . . . . . . . 130

7.1 Mittendrin beginnen – im Pflegeheim . . . 7.2 Erste Weiterung – Gesundheit und Glück . 7.3 Zweite Weiterung – über die Lebensspanne 7.4 Lebensqualität in Europa – einige Zahlen . 7.5 Facetten der Arbeitslosigkeit . . . . . . . .

Kapitel 8: Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen« . . . . . . 8.1 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Lachen hilft und Denken kann nicht schaden . . . . . . . . . . 8.3 Wer die Satire im Herzen hat, hat das Lächeln auf dem Gesicht 8.4 Komik als Ablenkung und Trost . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Das Komische schließt ein und es schließt aus . . . . . . . . . . 8.6 Eine Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Kompetenz,Vitalität und Lebenshaltung . . . . . . . . . . . . 8.8 Was bleibt ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 9: Altersstrukturwandel weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9.1 Die globale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9.2 Das Alterungsphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 9.2.1 Die Demografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9.2.2 Einige Details im allgemeinen Bild . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9.3 Die UN und das weltweite Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 9.4 Entwicklungsländer – Armut und Soziale Sicherheit . . . . . . . . . . 173 6

Inhaltsverzeichnis

9.5 Internationale Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 9.6 Das knappe Gut Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Kapitel 10: Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven . . . 183 10.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 10.2 Die Idee der Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s . . . . . 184 10.2.1 Fragliche Altersbilder und Widersprüche . . . . . . . . . . . . 185 10.2.2 Die Not mit der Last . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 10.3 Perspektivenkrise ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 10.4 Generationenvertrag und Verteilungskampf . . . . . . . . . . . . . . 193 Kapitel 11: Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie . . . . . . . . . 197 11.1 Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 11.2 Allgemeiner Bezugsrahmen – Modul 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 11.3 Gesamtnutzen und Lebensqualität – Modul 2 . . . . . . . . . . . . . 199 11.4 Potenziale und Ressourcen – Modul 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 11.5 Kompetenz und Erfahrung – Modul 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 11.6 Individuelle Strategien – Modul 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 11.7 Sozialprodukt des Alters – erste Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . 204 11.8 Gesundheit, Sozialkapital und Vitalität – Modul 6 . . . . . . . . . . . 205 11.9 Sozialprodukt des Alters – zweite Fassung . . . . . . . . . . . . . . . 209 Kapitel 12: Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch . . . . . . . . . . 211 Zitierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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6ORWORT Ich habe meine Meinung, verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen

Als wir das hier vorliegende Buch in Angriff nahmen, waren wir von der Vorstellung getragen, eine empirische Analyse der Produktivität älterer Menschen vorzulegen, die vor allem dazu dienen sollte, anhand von »harten« Daten einigen notorisch falschen Vorstellungen zu diesem Thema entgegenzutreten, die in der öffentlichen Diskussion grassieren. Doch schnell wurde deutlich, dass das nur bedeuten würde, dem Berg an empirischen Untersuchungen über ältere Menschen noch einen weiteren kleinen Ergebnishügel hinzuzufügen, der die mit dem Thema verbundenen grundsätzlichen Schwierigkeiten auch nicht beantworten könnte. Diese liegen vor allem in wenig geklärten Begriffen zu den Themen Produktivität und Leistung (außerhalb der Ökonomie und der Physik), Ressourcen und Potenzialen etc., in einander widersprechenden empirischen Ergebnissen und schließlich in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen und politischen Traditionen, durch deren Brille Fragen und Antworten immer gefiltert werden. So wurde das Schreiben Schritt für Schritt zugleich ein immer tiefer schürfendes Verfahren, in dem Denkvoraussetzungen, gewohnte Sichtweisen und die Frage des Konstruierens solcher Sichtweisen selbst kritisch zu beleuchten waren, und bald kristallisierte sich die Vorstellung einer neuen Konzeption heraus, eines Sozialprodukts des Alters. Zu diesem Zweck nutzten wir Überlegungen, die in den Sozialwissenschaften, in der Biologie und in der Philosophie bekannt sind und mit deren Hilfe wir unsere eigenen Entwürfe und Antworten noch einmal kritisch bewerten, einordnen konnten. Das erste Kapitel wurde fast am Schluss geschrieben, was sonst im Allgemeinen bei Vorworten der Fall ist, um einige der wichtigsten Grundthemen des Buches zu skizzieren und gleichzeitig auf die Widersprüche in Denktraditionen hinzuweisen, in denen wir alle bis zu einem gewissen Grad gefangen sind, auch jene, die »kritisch« vorgehen. Was für eine Art von Buch liegt hier nun vor ? Es ist in seiner Anlage ein Essay, allerdings insofern auch ein Sachbuch, als mehr Detailbefunde und Sachverhalte aus der Forschung zitiert wurden als in einem Essay üblich. Daher sind alle Aussagen, die zur Beschreibung von Sachverhalten dienen, so weit wie irgend mög9

Vorwort

lich durch empirische Forschungsbefunde gestützt. Unvermeidlich aber laufen unsere Vorstellungen dort, wo sie das empirische Feld verlassen, der Tatsachendiskussion voraus, sie wagen sich weiter vor als die Belege reichen können. Das geschah mit Absicht. In einer Zeit, in der Sprachspiele und Deutungsangebote inflationär geworden sind, geht es nicht mehr so sehr darum, »Ordnung« in die Dinge zu bringen, sondern zu prüfen, was an den vielen Konstruktionen den Verhältnissen angemessen sein könnte. In einem solchen Buch wird auch das Universum an Gedanken und Belegen, an Kritiken und Bewertungen nicht von Grund auf neu ausgebreitet. Projekte, an denen wir gemeinsam in den letzten Jahren gearbeitet haben, die Essenz aus einschlägigen Publikationen, an verschiedensten Stellen erschienen, oder auch schon vergriffen, gemeinsam geteilte Überzeugungen und Ansichten haben hier Eingang gefunden. Aus manchen unserer früheren Veröffentlichungen haben wir größere Ausschnitte übernommen, nicht alle wichtigen Einsichten müssen immer wieder neu formuliert werden. Manche Gedanken, vor wenigen Jahren noch mit Überzeugung formuliert, stellen sich heute anders dar. Auch wenn wir Einsichten aus ganz verschiedenen Wissenschaften herangezogen haben, so bleibt es letztlich ein soziologisches Buch. Mit welchen weit allgemeineren Fragen aber die Soziologie in einem Zusammenhang wie dem vorliegenden konfrontiert ist, wird im letzten Kapitel reflektiert. Die Verbindlichkeit unserer Überlegungen werden die am besten ermessen und beurteilen können, die das Buch kritisch und ganz lesen. Unser Dank für jede Art der Unterstützung gilt Karin Amann, Tanja Amann, Ernst Gehmacher, Elisabeth Hechl, Franz Kolland und Karl H. Müller sowie Eva Reinhold-Weisz – für sie in der nämlichen Art, wie dies schon bei dem Buch »Die großen Alterslügen« der Fall war. Schließlich danken wir dem österreichischen Bundesseniorenrat und dem Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz für ihre tatkräftige Hilfe.

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Kapitel 1

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In diesem Kapitel, das zugleich eine Einleitung darstellt, geht es um eine Skizze der wesentlichen gedanklichen Voraussetzungen, die zum Teil weit in die abendländische Tradition des Denkens über Gesellschaft und Individuum zurückreichen und auf denen das Buch aufbaut. Kaum eine Haltung führt schneller zu Fehlschlüssen als ein präsentistisches Verständnis, das sich um die Herkunft seiner eigenen Voraussetzungen nicht mehr kümmert. Es wird in der gesamten Analyse über Konzepte und Fakten berichtet und es werden Erzählungen (wenn auch nicht immer die »großen«) wiedergegeben und beurteilt, und zwar in einem ganz bestimmten Sinn : Erzählungen als gedankliche Konstruktionen oder kognitive Systeme, mit deren Hilfe die Realität erklärt und auch gestaltet werden soll und die häufig in Konkurrenz zueinander stehen. Die Vertracktheit besteht darin, dass alles, was als Fakten in die nähere Betrachtung kommt, unweigerlich von den Konstruktionen mitbestimmt wird, die wir vor jeder Einzelbeobachtung bereits in unseren Köpfen haben. Hier gilt sinngemäß das Wort von Michel Foucault, dass die Welt nicht die Komplizin unserer Erkenntnis ist. Wenn Menschen der Meinung sind, dass alle Verhältnisse kausal vollständig bestimmt sind, und das ist eine verbreitete Konstruktion, dann werden diese Menschen mit der Vorstellung, dass alle Verhältnisse nur mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten überhaupt miteinander verbunden sind und in jedem Fall eine Sache auch erheblich anders aussehen könnte, veritable Schwierigkeiten haben. Auf solche Probleme wird im ganzen Buch Bezug genommen.

1.1 Die Rolle von »Erzählungen« In den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts prägte der französische Philosoph Jean F. Lyotard das Wort von den »Großen Erzählungen«. Mit ihm verband er die Vorstellung, dass die philosophischen Systeme der Moderne gescheitert seien. Von diesem Angelpunkt aus startete er dann den Versuch, die Postmoderne zu bestimmen, und zwar in rigoroser Abgrenzung zur Moderne.¹ Jean F. Lyotard sprach nicht von philosophischen Systemen, sondern eben von »Erzählungen«. Die ein11

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

zelnen modernen Erzählungen legten, so meinte er, der Welterklärung jeweils ein zentrales Prinzip zugrunde (z. B. Gott oder das Subjekt), um auf dieser Grundlage zu allgemeinen Erkenntnissen zu gelangen. Damit, so lautete die Kritik, würden sie jedoch das Heterogene und Widersprüchliche ausscheiden oder das Einzelne unter eine allgemeine Betrachtungsweise zwingen, welche gewaltsam dessen Besonderheiten einebne. Der Schluss, der dann daraus gezogen wurde, lautete : An die Stelle eines allgemein gültigen und absoluten Erklärungsprinzips (Gott, Subjekt, Vernunft, System, marxistische Teleologie etc.) sei eine Vielzahl von »Sprachspielen« getreten, verschiedene »Erzählungen« also, die Erklärungsmodelle anbieten wollen. Dabei wendete Jean F. Lyotard sich nicht gegen Rationalität im Allgemeinen, sondern gegen eine bestimmte historische Form der Rationalität, die auf der Ausgrenzung des Heterogenen basiert. Wir werden dies einerseits an den Erzählungen des Marktfundamentalismus und des Primats ökonomistischen Denkens und andererseits am Kommunitarismus, Individualismus und einem spezifischen Fortschrittsdenken zu zeigen versuchen, den beiden großen Sprachspielen, allerdings nicht den einzigen, die seit den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts unsere Auslegungen gesellschaftlicher Wirklichkeit dominieren. Diese Überlegungen haben erhebliche Konsequenzen. Während in der Moderne die Metaerzählungen noch dazu dienten, gesellschaftliche Institutionen, politische Praktiken, Ethik und Denkweisen zu legitimieren, geht in der Postmoderne dieser Konsens verloren und löst sich auf in eine Vielzahl von nicht miteinander zu vereinbarenden Wahrheits- und Gerechtigkeitsbegriffen. Zugleich nähme, so heißt es, eine durch Toleranz gekennzeichnete Aufmerksamkeit für Unterschiede, Heterogenität und Pluralität zu und damit auch die Fähigkeit, die Unvereinbarkeit der Sprachspiele überhaupt zu ertragen. Wir werden uns selbst nicht immer auf die Begriffslogik Jean F. Lyotards verpflichten, sondern auch dort von Erzählungen sprechen, wo es nach seinen Vorstellungen nicht unbedingt angemessen wäre. Es geht uns ja auch darum, neue Entwicklungen zu skizzieren, bei denen anstatt von Erzählungen mitunter auch von Diskursen oder eben Sprachspielen gesprochen werden könnte. Obwohl diese Diskussion in ihrer Intensität seit ca.  nachgelassen hat, können wir uns einige Überlegungen zunutze machen. Allerdings wird dies nicht entlang der Markierungen der damaligen Diskussion erfolgen, es werden daher auch nicht Moderne und Postmoderne als Kennmarken nötiger Unterscheidungen eingesetzt werden. Das Neue besteht darin, dass wir in den Widerstreit zwischen den Erzählungen eine historisch bisher in dieser Form nicht systematisch integrierte Entwicklung hineinziehen : das irreversible globale Altern der Bevölkerungen. Dieser Prozess, den wir mit Altersstrukturwandel (Hans-Peter Tews) bezeichnen, lässt 12

Emanzipation, Fortschritt und bessere Gesellschaft

buchstäblich keinen gesellschaftlichen Bereich unberührt. Aus dieser Konstellation werden wir zu dem Schluss kommen, dass die damit verbundenen Aufgaben und Probleme weder durch Produktivitäts- und Effizienzpostulate, die ohnehin in weiten Bereichen schon den Charakter des Wahnhaften angenommen haben, noch durch eudämonistisch organisierte Wunschzettel an ein Christkind des angenehmen Lebens angemessen erkannt und bewältigt werden können.

1.2 Emanzipation, Fortschritt und bessere Gesellschaft Vor einem halben Jahrhundert begann in Europa eine Diskussion, die sich aus den erschreckenden Erfahrungen des letzten europäischen Eroberungskriegs und seiner Folgen, der politischen Tyrannei und dem Wiedererstarken eines ausbeutenden Kapitalismus, speiste. In vielfältigen Schattierungen und auf der Grundlage höchst unterschiedlicher Grundauffassungen über die Funktionsweisen von Gesellschaften strömten Argumente zusammen, die sich um die Knotenpunkte Demokratie, Freiheit und Fortschritt versammelten und zunehmend die Frage nach der Stellung des einzelnen Menschen in dieser Welt in ihre Wirbel zogen. Langsam kristallisierte sich die Idee des »emanzipierten Subjekts«, ja die Vorstellung einer »Gesellschaft emanzipierter Subjekte« überhaupt heraus, eine Idee, die allerdings weit zurückreicht. Schon Johann G. Fichte hatte dafür erste philosophische Grundlegungen versucht, dann z. B. heftig attackiert von Arthur Schopenhauer. Von Wirbeln sprechen wir absichtlich, denn aus den unterschiedlichen Grundauffassungen entstanden auch höchst divergente Antworten, die nie harmonisiert wurden. Sie reichten von der behaupteten Unmöglichkeit einer Befreiung der Menschen aus den Fängen einer durch und durch verwalteten Welt bis zu euphorischen Vorstellungen über individuelle Freiheit, gewonnen aus ökonomischen Unabhängigkeiten, die über den Markt vermittelt würden. Diese Überlegungen waren nicht neu, sie waren in der französischen Aufklärung mit Claude H. de Saint-Simon, in der Schottischen Moralphilosophie mit Francis Hutcheson, Adam Smith und Jeremy Bentham, und in der deutschen Philosophie mit Friedrich W. Hegel und Karl Marx gut vorbereitet worden. Doch nun wurden sie eingebettet in ein Wissen über eine Gegenwart, die sich in fast jeder Hinsicht von den Verhältnissen unterschied, die im . und . Jahrhundert geherrscht hatten. Wie diese geänderten Verhältnisse und ihr Wandel gesehen wurden, werden wir kurz skizzieren. Im Laufe der Zeit wurde in dieser Diskussion Misstrauen zu einer festen Größe : gegenüber der Politik, der wirtschaftlichen Produktion, dem bürokra13

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

tischen Apparat. Es war ein Misstrauen gegenüber dem Anspruch der Politik, das Wohl der Menschen herbeiführen zu können, gegenüber dem der Produktion, den Fortschritt zusammen mit der Technik allein bewirken zu wollen, und schließlich gegenüber dem der Bürokratie, das gesellschaftliche Leben umfassend zu steuern und zu erleichtern. Kaum ein Thema heutiger Außenpolitik lebt so stark von dieser Attitüde wie die Einschätzung der Leistungen der Europäischen Union. Nicht weniger misstrauisch wurde aber auch das Gegenstück betrachtet : der blanke Individualismus, die gesteigerte Subjektivität, die durchgängige Ichbezogenheit. Misstrauisch wurde die Rücksichtslosigkeit des monadischen Individualismus betrachtet, misstrauisch machte schließlich ein Prinzip der Ichbezogenheit, das sich als sozialfeindlich und gesellschaftlich desinteressiert auswirkt. Das Thema der »Gier« hat in diesem Kontext jüngst fröhliche Urständ gefeiert. Unter beiden Perspektiven waren die Ergebnisse des Nachdenkens der Menschen über die großen Probleme und Fragen der Gegenwart auch durch Resignation gekennzeichnet. Die politischen Kalküle vermögen, so hieß es, Bürgerkriege, organisierte Kriminalität und zunehmende Ungleichheit nicht zu verhindern, ja scheinen sie vielfach eher noch zu schüren, die Bürokratie zwingt die Menschen in ein »ehernes Gehäuse« aus Regelungen, die zugleich dem eigenen Wachstum dienen. Technisch-wirtschaftliche Rationalität beginnt die Grundlagen dessen zu zerstören, worauf die menschliche Existenz gebaut ist. Individualismus, Subjektivismus und Ichbezogenheit scheinen in ihrem rücksichtslosen Streben nach Haben und Erleben im Hier und Jetzt, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer, jene Prozesse zu beschleunigen, aus denen Wirkungen hervorgehen, denen die Menschen hilflos und resigniert gegenüberstehen. Es schien damals, als wären die am meisten beschrittenen Wege des Nachdenkens über mögliche Änderungen, die ethische Reflexion und die Analyse empirischer Ursachen, beide an ihr Ende gelangt und verhießen keine weiteren fruchtbaren Schritte mehr. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen hatte der kulturelle Diskurs sein Werteprogramm aus den Postulaten der französischen und der englischen Aufklärung und der Französischen Revolution bezogen. An die Stelle der klassischen Begriffe traten zunehmend jene der Emanzipation, des Ausgleichs von Ungleichheiten und der Solidarität. Kennzeichnend für diesen Wandel des Verständnisses ist nicht zuletzt, dass wir uns daran gewöhnt haben, Solidarität durch kollektive finanzielle Beiträge stärken zu können : der »Solidaritätsbeitrag«. Diese Konzepte haben dann zumindest ihrem begrifflichen Inhalt nach die alten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zunehmend überdeckt und erdrückt. Als zentraler Ausdruck dieser Tradition wurde die permanente 14

Emanzipation, Fortschritt und bessere Gesellschaft

Spannung zwischen den empirisch vorfindbaren Ungleichheiten und dem kulturell allgemein vorherrschenden Wert der sozialen Gleichheit erkannt, eine Zuspitzung, die vor allem die Siebziger- und Achtzigerjahre kennzeichnete. Diese Spannung wurde seit jeher mithilfe von Deutungs- und Klassifikationsmustern bearbeitet und beurteilt. Unter solchen Gesichtspunkten wurde schließlich auch die Diskussion über soziale Ungleichheit als ein Klassifikationskampf angesehen, soziale Ungleichheit wurde überhaupt zu einem Leitbegriff der gesamten Auseinandersetzung. Auf diese Idee des Kampfes zwischen Konzeptionen über die soziale Welt werden wir im letzten Kapitel eigens noch einmal eingehen. Die Grundidee war somit klar : Um von sozialer Ungleichheit zu reden, müssen zwei kognitive Operationen vorgenommen werden. Die erste besteht darin, die soziale Welt vertikal zu klassifizieren. Die zweite ist, diese vertikale Klassifikation der sozialen Welt als Abweichung von einem Ideal der Gleichheit zu beschreiben. Die wahrgenommenen Abweichungen wurden ihrerseits wieder Gegenstand ideologischer und politischer Diskussion. Noch ist gut in Erinnerung, dass in den Achtzigerjahren wissenschaftliche Versuche, Armut zu untersuchen, von der Politik mit dem Diktum beschieden wurden, es gäbe diese nicht. Konkurrenzdemokratie, soziale Marktwirtschaft, Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat waren in den Augen der Zeitdiagnostiker in eine »neue Unübersichtlichkeit« geraten bzw. mit Resignation und Misstrauen besetzt worden. Der Kern des Gedankens war eine Situation, wie es Jürgen Habermas formulierte, in der eine immer noch von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik die Kraft verliert, künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen. Eine Alternative für ein institutionalisiertes besseres Leben wurde allerdings auch nicht entwickelt, allenfalls in den Siebzigerjahren die Idee der Lebensqualität, die aber im Sog des Fakten- und Machbarkeitswahns der damaligen Zeit, zumindest in der Politik, schnell wieder verschwand und somit auch alle Ansätze eines »small is beautiful« mit sich riss. Sowohl für die einzelnen Menschen als auch für ganze Gruppen spiegelte sich dieser Prozess in der Freisetzung und Emanzipation von überlieferten Lebensordnungen, der Versorgung mit einem historisch unbekannten Ausmaß von Lebenschancen, Optionen und freiwillig eingegangenen Ligaturen sowie neuen sozialen Bewegungen, Basisinitiativen und kulturellen Deutungsinflationen. Als Konsequenz gewannen das Credo der Selbstorganisation sensibler sozialer Bereiche, das Modell einer neuen Gewaltenteilung zwischen den sogenannten Steuerungsmedien Geld, Macht und Solidarität und schließlich die Furcht vor Dauerbedrohung durch globale Risiken an Boden. Kaum ein Begriff bezog aus dieser Irritationslage seine fast anabolisch anmutende Nahrung so deutlich wie jener der 15

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

»Risikogesellschaft«. Damit wurde auch die herrschende Vorstellung eines Fortschritts, der allein durch technische Entwicklung und wirtschaftliche Produktion vorangetrieben werde, immer fraglicher. Tschernobyl wurde zum Signum eines falsch verstandenen Fortschrittsglaubens. Diese Entwicklungen, die ein neues Lagerungssystem und Mentalitätsbild einer Gesellschaft betrafen, waren nun im Rahmen herkömmlicher Ungleichheitsklassifikationen nicht mehr beschreibbar. Damit rückte neben der eher sozialphilosophischen eine zweite Perspektive ins Blickfeld, nämlich jene über die tatsächlichen empirischen Veränderungen. Der historisch-empirische Wandel wurde allgemein unter dem Stichwort Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile begriffen. Das bedeutete neue historische Differenzierungs- und Konfliktlinien nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch steigenden materiellen Lebensstandard, durch den Wandel des Lebenslaufs, durch die Bildungsexpansion etc. bezeichnet sind. Materieller Wohlstand und jahrzehntelanger Ausbau des Wohlfahrtsstaats standen letztlich im Hintergrund der Entwicklung von gestiegener Lebenserwartung, Wertewandel und neuen Optionen des Handelns. Die alte Unterteilung von Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Altersstatus wurde durchbrochen. Zwischen Jugend und Erwachsenenstatus schob sich die Postadoleszenz, zwischen Erwachsenenstatus und Altersstatus die Phase des »empty nest« oder der »nachelterlichen Gefährtenschaft«, und an den Altersstatus hängte sich unübersehbar die sich ausdehnende Phase der Hochaltrigkeit an, von der immer mehr Menschen erfasst werden. Parallel zu dieser differenzierten Phasierung der Biografie verkürzte sich die Lebensarbeitszeit, verlängerten sich die durchschnittlichen Ausbildungszeiten und die Lebenserwartung, und so nahmen folgerichtig auch die jeweils neu sich stellenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu und veränderten sich letztendlich in schnellerem und zugleich verunsichertem Wandel der Bedingungen persönlicher Identität. In den Neunzigerjahren wurde die Identitätsthematik ein eigenes Feld der Alternsforschung. Etwas abgehoben von der Individualperspektive der persönlichen Biografie wiederholte sich das Phänomen in der Pluralisierung der familiären Lebensformen, in der Vielfalt »der Pfade in den Ruhestand« und in der hohen Plastizität und Variabilität des Daseins im Alter. Eine dritte Perspektive ergab sich schließlich im Bedeutungswandel der sozialen Ungleichheit. Er manifestierte sich in der zunehmenden Optionenerweiterung für die Individuen in ihrer Lebensführung, die sich ihrerseits in einer Diversifizierung der Lebenslagen niederschlug. Die alte These der bürgerlichen Individualisierung, die sich von Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber bis zu George H. Mead zieht, erfuhr hier 16

Emanzipation, Fortschritt und bessere Gesellschaft

ihre zeitgenössische Ausfaltung. Der Wandel wurde folgendermaßen resümiert : Die genannten materiellen Verbesserungen im Lebensstandard seien Hand in Hand mit der Enttraditionalisierung ständisch eingefärbter Klassenlagen gegangen, sodass auch die Arbeiterschaft Anschluss an die bürgerliche Lebensführung finden konnte. Zweitens habe das materielle Wohlergehen im Bewusstsein der Betroffenen dazu geführt, dass diese Veränderung als individueller Aufstieg erlebt wurde, sichtbar an der Wahrnehmung, dass man sich heute mehr leisten könne als früher. Die Folge aber sei, dass der eigene Werdegang, der als individueller Aufstieg wahrgenommen wird, sich im Bewusstsein individualisiere und damit zu einer Nivellierung wahrgenommener klassenkultureller Identitäten führe. Parallel dazu habe sich drittens eine Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen eingestellt. Diese hingen zusammen mit Mobilitätssprüngen in den Sechziger- und Siebzigerjahren, ablesbar an Umschichtungen in der Berufsstruktur, am Ausbau des Dienstleistungssektors, an der Aufweichung stabiler, nicht unterbrochener Beschäftigungsverhältnisse etc. Und schließlich sei viertens, gewissermaßen als Konsequenz aus den ersten drei Prozessen, der Realitätsgehalt des Hierarchiemodells sozialer Klassen und Schichten immer mehr geschwunden. An die Stelle einer ständisch-klassenkulturell geprägten sei eine feinkörnig privatisierte Lebenswelt getreten. Wir werden im Laufe der Analyse sehen, in welcher Weise gesellschaftliche Institutionen sich diesen Wandel für ihre eigenen Absichten zunutze gemacht haben, indem sie strukturelle Risiken zunehmend individualisierten und sich damit erfolgreich aus Verantwortungen ziehen, die sie sich einmal selbst auferlegt hatten. Was sich an diesen Hinweisen abzeichnet, wie sie in der einschlägigen Literatur jener Zeit auf der Basis empirischer Befunde diskutiert wurde, ist Folgendes : Die traditionelle Deutung sozialer Ungleichheit am Gerüst vertikaler Differenzen hat mit Reaktion auf die tatsächlichen Veränderungen einen Erosionsprozess erfahren, und quer zu den vertikalen Unterschieden haben Deutungsmuster horizontaler und zirkulärer Art Einzug gehalten. Dies vermag die vierte Perspektive anzudeuten, in der es um die »neuen« Ungleichheiten ging. Bereits am Ende der Sechzigerjahre wurde die These von den »horizontalen Disparitäten« vorgelegt. Sie war ein bewusster Versuch, Ungleichheiten, die sich nicht mehr direkt aus dem Verhältnis von Kapital und Arbeit ableiten ließen, im Wege über die Rolle des Staates und seine einerseits ausgleichenden, andererseits neue Ungleichheiten schaffenden Mechanismen zu begreifen. In den nachfolgenden Jahren sind dann besonders askriptive Formen der Ungleichheit, z. B. geschlechtsspezifischer und ethnischer Herkunft, empirisch untersucht und nachgewiesen worden. Sie haben den Diskurs der sozialen Ungleichheiten in Hinsicht auf die Möglichkeit des 17

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

Erscheinens neuer Ungleichheiten ebenso beeinflusst wie die Diskussion über die Arbeitsmarktsegmentation und die Lage sogenannter Problem- oder Randgruppen in der Gesellschaft.

1.3 Ökonomie und Individualismus Um zu bestimmen, was heute unter Individualismus verstanden werden kann, sind einige Traditionen nachzuzeichnen. Zu ihnen gehört die Linie vom englischen Empirismus über den Utilitarismus bis zum heutigen Neoliberalismus. Die Auffassung des Begriffs vom Individuum, der dem englischen Empirismus eigen ist, und mit diesem ist hier zu beginnen, entspricht dem mechanistischen Weltbild der Neuzeit. Isaac Newtons Mechanik hatte, nachdem sie sich in der Konsequenz ihrer außerordentlichen Erfolge bei der Klärung von Naturphänomenen durchsetzte, erheblichen Einfluss auf das Weltbild der bürgerlichen Gesellschaft. So argumentierte z. B. John Locke, ein Zeitgenosse Isaac Newtons, dass alle Probleme der Menschen in der Gesellschaft gelöst werden könnten, wendete man nur die Gesetze der Mechanik an. Er dachte die Gesellschaft im Sinne einer atomistischen oder monadischen Struktur, alle Menschen in der Gesellschaft sind Individuen, gleichsam Massepunkte, deren Beziehungen nach den zwischen ihnen herrschenden Kräften und Gegenkräften gesteuert werden (. und . Axiom Newtons). Damit diese Kräfte und Gegenkräfte ausbalanciert werden, ist eine politische Macht nötig. In dieser Überlegung ist der Kern jenes Prinzips angelegt, das in manchen ökonomischen Theorien und in manchen politologischen, wie jenen über das Gleichgewicht der politischen Kräfteverhältnisse, wirksam werden sollte : durch Steuerungsmechanismen Gleichgewicht herstellen und es stabil halten, ein Prinzip, das z. T. noch heute die internationale Politik bestimmt. War vorher implizit das Weltbild nach den irdischen Herrschaftsverhältnissen eingerichtet, so interpretierte jetzt das gesellschaftlich erstarkte Bürgertum die irdischen Verhältnisse nach dem Modell einer universalisierten Mechanik, sonst blieb alles beim Alten, es herrschte die gott- bzw. naturgewollte Ordnung oder vielmehr die gesetzmäßige Unordnung. Sowohl Thomas Hobbes als auch John Locke sahen die Menschen als freie und gleiche Individuen und die Gesellschaft folgerichtig als ein aus solchen Individuen bestehendes System, das mechanischen Gesetzen gehorcht. Daran ändert nichts, dass sie zu unterschiedlichen Konsequenzen kamen : Während bei John Locke eine starke Macht Gefahr läuft, das »natürliche« Spiel gesellschaftlicher Kräfte in der Diktatur erstarren zu lassen, ist sie bei Thomas Hobbes gerade not18

Ökonomie und Individualismus

wendig, um den Krieg aller gegen alle zu verhindern. Bei Thomas Hobbes wurde der »Gesellschaftsvertrag« zu einem Begünstigungsvertrag für die Mächtigen. Dem Verhalten der Menschen und dem daraus abgeleiteten Gesellschaftszustand wurden physikalische, mechanische Gesetze zugrunde gelegt. Der Zweck der Anwendung der Gesetze der Mechanik auf die Gesellschaft war die Konstruktion einer Theorie, und Thomas Hobbes war der Erste, der es konsequent unter jener Absicht versuchte, mit der man in wissenschaftlicher Exaktheit politische Institutionen herstellen kann, die die Angelegenheiten der Menschen mit der gleichen Zuverlässigkeit regeln würden, wie die Uhr die Bewegungen der Zeit oder die als Uhr verstandene Schöpfung die Vorgänge in der Natur regelt. Diese Auffassung, die zugleich eine Konstruktion des rationalen Naturrechts ist, hat spezifische Konsequenzen für den Begriff vom Individuum im englischen Empirismus und im ökonomischen Liberalismus gezeitigt. Da die Gesetze der Mechanik nur für einzelne, »individuelle« Teilchen gelten, also nur das Verhalten solcher Körper eindeutig beschreiben können, die voneinander unabhängig sind, kann, im mechanischen Weltbild, der Mensch auch nur dann sich »naturgegeben« verhalten und sein Handeln und dessen Wirkungen vorausberechnen (Prognose), wenn er sich unabhängig von der Gesamtheit sieht und auch so handelt. Hierin liegt der Kern der Fiktion eines völlig freien und unabhängigen Individuums, einer Fiktion, die später im Theorem des »souveränen Konsumenten« wiederkehrte. Von hier ist nun die Verbindung zur Ökonomie zu suchen, und es wird sichtbar werden, dass einige der mechanistischen Vorstellungen Eingang in ökonomische Konzeptionen gefunden haben, herauf bis in die Neoklassik der Ökonomie. Was heute unter Individualismus allgemein verstanden werden kann, ist seinerseits ein Kernbestandteil des gegenwärtigen Neoliberalismus.² Der spezifische Zuschnitt des Neoliberalismus aber, wie er gegenwärtig mit der ökonomischen Umgestaltung der Weltverhältnisse verbunden wird, findet seine Entstehung im englischen Utilitarismus, der eine philosophische Antwort auf die »durch und durch grauenhafte Periode« (Bertrand Russell) der Frühindustrialisierung war und der deshalb an den »klassischen Liberalismus« gebunden bleibt. In dieser Zeit entstand die Vorstellung einer gewissen Utilität, eines Nützlichkeitswertes des Menschen, gebunden an seine Arbeit, die zumindest moralisch zu einer Daseinspflicht für alle wurde. Diese etwas trockene Philosophie wurde zu einem Hebel für die Veränderung der sozialen Missverhältnisse, wenn auch nicht im Sinne einer Revolution, sondern in jenem einer Schritt für Schritt zähen Durchsetzung bestimmter Prinzipien, eine Strategie, die im frühen . Jahrhundert dann die Sozialreformen durch das englische Bürgertum kennzeichnete. 19

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

Zu einem der kräftigsten Remedien für alle gesellschaftlichen Übel, vor allem jene, die am Individuum selbst sichtbar waren, wurde in der damaligen Zeit der Gedanke einer für alle gleichen Erziehung. Eines zumindest vermag Erziehung ja, seit der hohen Zeit des Bürgertums dann Bildung geheißen : Sie kann indirekt zur Lösung von Problemen beitragen, indem sie Menschen, die unter ihnen zu leiden haben, dazu veranlassen mag, überlegtere Wege aus der Not zu suchen, eine Tatsache, die sich in sozialwissenschaftlichen Befunden wiederfindet, denen zufolge gebildetere Menschen einen bedachteren Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit pflegen, eher therapeutische Hilfen in Anspruch nehmen, wenn die Notwendigkeit besteht, und selbst im hohen Alter mobiler sind als andere mit geringerer Bildung. Es ist aber ebenso klar, dass mehr Bildung, ja selbst mehr spezielle Ausbildung, nicht notwendigerweise zu solchen Effekten führen muss – und schon gar nicht zu garantierter Beschäftigung. Diese Vorstellungen von Erziehung verbanden sich sehr eng mit Ideen über das Wohlergehen der Menschen, unter denen eine ganz bestimmte Lehre einen starken Widerhall zeitigte, die auf Francis Hutcheson, Professor für Moralphilosophie in Glasgow, zurückgeht, der sie  öffentlich machte. Kurz gesagt besagt sie, dass das Gute Lust und das Schlechte Schmerz bedeutet, der bestmögliche Zustand also jener ist, bei dem Lust den Schmerz überwiegt. Diese Auffassung wurde unter dem Begriff Utilitarismus bekannt und von Jeremy Bentham aufgenommen. Aus den zu Jeremy Benthams Zeit schon fast ein Jahrhundert alten Grundüberzeugungen gelangte dieser unter anderem zu einem Prinzip, das für heutige Unterströmungen des Liberalismus bedeutsam wurde. Es ist die Maxime des größten Glücks, derzufolge Menschen das größtmögliche Glück für sich zu erringen streben, wobei Glück mit Lust gleichgesetzt wurde, ein Gedanke, der sich heute in rationalistischer Form in der Maximierung des individuellen Nutzens wiederfindet. Gesetze hätten die Aufgabe sicherzustellen, dass niemand in seinem Streben nach dem Maximum an Glück die Lust der anderen stört, wodurch das größte Glück zumindest der meisten erreicht werden sollte – hier kehrt die Idee der politischen Zentralmacht wieder, die bereits im Empirismus auftauchte. Jeremy Bentham war der Meinung gewesen, dass jene Handlungen, die maximales Glück erzeugen, sich in einem mathematischen Kalkül, also quantitativ und formal, bestimmen ließen, eine Vorstellung, die ihm, zusammen mit seiner hedonistischen Glücksauffassung, schwere Kritik einbrachte und dem Utilitarismus viele Feinde schuf. Trotzdem fanden diese Überlegungen sich später in einer Ökonomie der Bedürfnisse wieder. Gegen diese Kritik wendete sich John St. Mill, der Jeremy Bentham um mehr als vierzig Jahre überlebte, indem er in einiger Hinsicht von dessen Vorstellungen 20

Ökonomie und Individualismus

abwich, vor allem durch die Auffassung eines qualitativen Hedonismus : Besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr, war seine berühmte Losung. Dahinter stand vermutlich die Auffassung, dass die geistigen Freuden der Natur des Menschen angemessener seien als die körperlichen, genährt aus den idealistischen Ideen, die auch den Erziehungsgedanken gespeist hatten, was allerdings ein bestimmtes Menschenbild voraussetzen würde, das er nirgends näher ausführte. Die Vorstellungen über das Glück sind ohne den Bezug zu John St. Mills Freiheitslehre nicht zu denken. In ihr fasste er die menschliche Freiheit als Denk- und Redefreiheit (Publikationsfreiheit), als Individualität und Element des öffentlichen Wohls und als Begrenzung der Autorität der Gesellschaft über den Einzelnen. Das am meisten diskutierte Problem, ungelöst bis heute, liegt in seinem Nachweis des Nützlichkeitsprinzips. Seine »Beweisführung« lässt sich auf zwei Gedanken komprimieren : Der einzige Beweis dafür, dass etwas wünschenswert sei, sei der, dass die Menschen es wünschen, und jeder Mensch wünsche sein eigenes Glück, also sei das allgemeine Glück für alle wünschenswert. Diese Argumentation ist in beiden Fällen fehlerhaft. Aus dem ersten Gedanken folgt nicht logisch zwingend, dass das Gewünschte auch gut ist, aus dem zweiten folgt nur, dass für jeden aus der Summe allen Glücks nur ein Teil erstrebenswert ist, nämlich das eigene Glück. Mit den »Principia Ethica« von George E. Moore, die  erschienen, war diese Diskussion abgetan, es schien damals, als hätte er mit seinen »Gegenbeweisen« einen Schlussstrich unter die Debatte gezogen. Seit den Fünfzigerjahren des . Jahrhunderts hat sich die Diskussion wieder entfacht und einen neuen Höhepunkt erlebt, seitdem ist der Utilitarismus die wohl am stärksten diskutierte Moraltheorie überhaupt. Bei den »liberalen« Ökonomen wurde die Vorstellung des freien Markts, des freien Spiels der Kräfte, zur Rechtfertigung des »Laisser faire«-Stils herangezogen, und die Lösung (im durchaus schon marktwirtschaftlichen Sinn) war der »Freihandel«. Freihandel setzt aber ein spezifisches Verhältnis zwischen den Menschen voraus, das des Tausches. Diese Überlegung hatte Adam Smith formuliert, der im Jahre , also mehr als  Jahre vor Jeremy Bentham, starb. Der Mensch braucht fortwährend die Hilfe seiner Nächsten, wobei er diese nicht aus deren Wohlwollen erwarten kann, es bedarf eines unterliegenden »Mechanismus«, der das Geben und Nehmen, eben den Tausch, gewährleistet. Dieser aber lautet : Gib mir, was ich will, und du sollst haben, was du willst. Darin liegt der Sinn jedes Tauschanerbietens, hin bis zu der rechtlichen Konstruktion, dass eine Fuhre Mist, unentgeltlich vor einer Haustür abgelegt, kein Geschenk werden kann, wenn der damit Bedachte diese Fuhre nicht gültig annimmt. Was hier im Zentrum steht, ist der »Interessenausgleich«, ein Moment, das sehr viel später dann bei Max 21

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

Weber den Gedanken der »Marktvergesellschaftung« begründen sollte. Der Interessenausgleich bzw. Interessenkampf aber wird zur Grundlage für die Forderung nach »Marktfreiheit«. Damit war der launische Tyrann »Markt« zur Leitidee geworden, faszinierend genug, die Menschen in ihren Bann zu schlagen, viele unter ihnen bis heute. Aus der Sicht des Utilitarismus ist das Gesetz die Bürgschaft dafür, dass jeder sein eigenes Ziel ohne Schaden für den anderen erreichen kann. Das setzt bis zu einem bestimmten Maß stabile Verhältnisse voraus, und natürlich einen wohlwollenden Gesetzgeber, was die Utilitaristen als selbstverständlich ansahen, denn sie gingen davon aus, dass er immer mit äußerster Vorsicht und vollkommenem Wissen handle. Hier kehrt also die Idee des Staates als ein die Kräfte ausbalancierender Akteur aus dem Empirismus nochmals wieder. Nun gilt es, die Voraussetzungen zu überlegen, die den Gehalt der Behauptungen begründen sollen, auch jene, die John St. Mill einst nicht explizierte. Die Grundzüge des Individualismus, wie sie sich bei den Utilitaristen bereits darstellen, nicht unähnlich jenen der französischen Physiokraten, unter ihnen François Quesnay, Anne R. J. Turgot und Jacques Necker, lassen sich folgendermaßen interpretieren : Der für den Menschen »natürliche« Zustand ist der gesellschaftliche Zustand, denn das Leben in der Gesellschaft entspricht der Natur des Menschen. Dies entspricht bis heute der Prämisse der Gesellschaftstheorien, dass es zur menschlichen Grundverfassung gehört, in die Gesellschaft integriert zu werden, und zur Gesellschaftsverfassung, dies für die Individuen auch zu gewährleisten. In der gesellschaftlichen Existenz liegen für den Menschen eine physische Notwendigkeit, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können, zugleich aber auch die Bedingungen für seine Freiheit. Entsprechend den individualistischen Tendenzen der heraufkommenden Bourgeoisie ist das Grundelement aller Gesellschaftstheorie das Individuum, dessen volle Freiheit in der ökonomischen Tätigkeit erst das Glück der Menschheit und die soziale Harmonie garantieren kann. Individualität ist ein Kernelement in der Gesellschaft für die Herstellung von Glück, des eigenen wie des allgemeinen. Nur die volle Freiheit der ökonomischen Tätigkeit kann die soziale Harmonie gewährleisten, notwendige Voraussetzung für das Glück der Menschheit ist die ökonomische Prosperität, und nur diese wiederum lässt extreme Ungleichheit vermeiden. Mit diesem Menschenbild sind die Prinzipien des klassischen Liberalismus untrennbar verbunden (Amann b). Aus ökonomischer Sicht hält er für gesichert, dass ein freier Wettbewerb prinzipiell das am besten geeignete Mittel wirtschaftlicher Gestaltung und Steuerung ist, dass er aber von der Beseitigung staatlicher Wettbewerbsbarrieren abhängig ist. Zu ihnen zählen vor allem der Schutz von berufsständischen Interessen, Steuerbegünstigungen für bestimmte Personenkreise etc. Die funda22

Ökonomie und Individualismus

mentale Skepsis gegenüber staatlichen Strukturen und die Vorstellung, dass in jeder expandierenden Bürokratie erhebliche Bedrohungen für die Freiheit des Individuums lägen, ist geradezu eine zentrale Prämisse des Altliberalismus. Diese liberalistische Grundidee kennzeichnete dann alle Begründungen, die ab den Achtzigerjahren des . Jahrhunderts unternommen wurden, um die fundamentale Fraglichkeit des modernen Sozialstaats zu beweisen. Der ökonomische Liberalismus hält für sicher, dass der freie Markt prinzipiell Monopole verhindert und langfristig zu einer relativ gleichen Verteilung des Eigentums führt. Dass diese modellhaften Vorstellungen der Empirie nicht standhalten, ist allgemein bekannt. Am deutlichsten ist dies wohl zu sehen, wenn aus den gegenwärtigen Entwicklungen die Transformationen dieser utilitaristischen und liberalistischen Prinzipien herausgelesen werden. Wenn in der Geschichte des Liberalismus, seit dem englischen Liberalismus und Utilitarismus, die gegenwärtige Phase als die bislang dritte eingestuft wird, so ist das strategisch markanteste Merkmal dieser Lehre wahrscheinlich darin zu finden, dass sie sich als Neoliberalismus in der Form der Hauptorientierung der Wirtschafts- und der Sozialpolitik in Westeuropa, und nach dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus auch in Osteuropa, machtvoll durchgesetzt hat.³ Dieser Systemwechsel hat das traditionelle Verhältnis zwischen sozialen und politischen Regulierungen auf der einen Seite und Marktkonkurrenz auf der anderen Seite radikal umgekehrt. Im traditionellen Modell gaben Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz, Verbraucherschutz und die Steuergesetze sowie der nationale Vorrang der Wirtschaftspolitik den Rahmen ab, innerhalb dessen die Unternehmen konkurrierten. Die neue Konzeption ist spiegelverkehrt : Offener Markt und maximale Unternehmensgewinne sind der Bezugsrahmen, an den die sozialen und politischen Regeln national und im Rahmen der größeren Gemeinschaft angepasst werden müssen und innerhalb dessen die nationalen Regierungen gegeneinander ausgespielt werden und sich anpassen müssen. Hierdurch entsteht ein gewaltiger Deregulierungsdruck, z. B. auf Steuergesetze, Sozial- und Umweltstandards, Arbeitsrecht etc. Dieser Überblick macht bereits deutlich, dass einige wichtige Prinzipien des klassischen Liberalismus und des mit ihm verbundenen Utilitarismus entscheidend verändert wurden. Am auffälligsten scheint die völlig in den Hintergrund gedrängte Vorstellung, dass Gesetze von einem vorsichtigen und voll informierten Gesetzgeber dazu dienen müssen, die Realisierung des Glücks der Einzelnen durch die Blockierung der gesellschaftlichen Autorität zu gewährleisten. Tatsächlich sind an die Stelle nationaler Gesetzgeber, wie bedacht und informiert auch immer sie handeln mögen, in weiten Bereichen die Zentralbürokratien der Inter23

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

nationalen Organisationen getreten, die in ungebrochener Regulierungsdynamik die Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen standardisieren und beschneiden und damit ständig zunehmend Autorität, also Definitionsmacht bzw. doktrinäre Gewalt auf der Basis struktureller Gewalt ausüben. Nun wurde lange Zeit die Vorstellung genährt, dass mit steigendem Wohlstand – höherem Durchschnittseinkommen und entsprechend größeren Konsummöglichkeiten – Glück und Zufriedenheit zunähmen, ebenfalls ein Erbe des englischen ökonomischen Liberalismus. Sie tun es nachweislich nicht, wie die empirischen Forschungsergebnisse zur Lebensqualität immer wieder zeigen und wie es auch theoretisch begründet wurde. Das legt nahe, die Suche nach Glück durch gesteigerten Konsum durch eine nach befriedigender und erfüllender Tätigkeit zu ersetzen. An diesem Gedanken hängt weniger Utopisches, als es scheinen könnte, wenn die Individuen nicht als monadische Egoismuselemente in der Gesellschaft angesehen werden, sondern als untrennbar mit dieser verbunden. Dann wird sichtbar, dass das Handeln der Einzelnen sowohl wie das System der wirtschaftlichen Produktion moralischer Prinzipien bedarf, die über Nutzenmaximierung und Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste weit hinausgehen. John St. Mill sagte schon klar und nachdrücklich, dass eine Gesellschaft, die nur durch Erziehung und Gefühle, die sich aus Geldinteresse ergeben, zusammengehalten wird, durchaus abstoßend wirke, und Adam Smith vertraute ungefragt auf die damals geltenden religiösen Verhaltensnormen. Auf religiös fundierte Verhaltensnormen wird heute meist kein Verlass mehr sein, dass es zur sozialen sowie zur Systemintegration aber trotzdem eines normativen Systems bedarf, darin sind sich die meisten großen Theoretiker von den Anfängen der Bürgerlichen Gesellschaft bis heute einig geblieben. Eindrücklich wurde nachgewiesen, dass gerade auch ein durch Staatseingriffe regulierter Kapitalismus, ebenso wie der »reine« Kapitalismus, auf moralische Ressourcen angewiesen ist, um zu überleben. Wahrheit, Vertrauen, Toleranz und Selbstverpflichtung sind in einer kontraktuellen, individualistischen Wirtschaft unentbehrlich, was ja auch von vielen schon oder wieder erkannt wird. Kennzeichnend ist, dass schon lange nicht mehr so viel von fehlendem und notwendigem Vertrauen die Rede war, wie dies seit dem Herbst  der Fall ist. Für die Alpbacher Gespräche wurde für  das Hauptthema »Vertrauen« gewählt.

1.4 Kommunitarismus gegen Individualismus ? Ob nun die Vorstellungen der Souveränität des Konsumenten, des »homo oeconomicus«, oder schlicht des Menschen als (egoistischer) Monade, der seinen 24

Kommunitarismus gegen Individualismus ?

maximalen individuellen Nutzen verfolgt, als Kern der Erzählung des Marktfundamentalismus fungieren, sie alle stehen in krassem Widerspruch zum Kommunitarismus. Ein entscheidender Unterschied ist zunächst einmal darin zu finden, dass der ökonomische Liberalismus als ein Denkmodell rationaler Vernunft erscheint, in das moralische oder ideologische Momente stillschweigend einfließen, während der Kommunitarismus sich ausdrücklich auf ein moralisches Manifest beruft. In keinem anderen Buch, das in den letzten zwanzig Jahren zu dem Thema erschienen ist, wird das deutlicher als in Amitai Etzionis »Die Entdeckung des Gemeinwesens« (Etzioni ). Ein zweiter entscheidender Unterschied zum ökonomischen Individualismus liegt in der Rolle des Individuums in der Gesellschaft. Zwar wird in beiden Programmen dem einzelnen Menschen Verantwortung abgefordert. Doch im ökonomistischen Denken ist es eine Verantwortung, die in das Wirtschaftshandeln verlegt wird und dem Menschen Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Leistungseinsatz im Interesse funktionierender Produktion und damit Gewinnmaximierung abfordert, während im Kommunitarismus die Verantwortung ethischsozial gedacht ist, ins soziale Handeln verlegt wird und damit der Gemeinschaft als sozialem, ökonomischem und kulturellem Lebenszusammenhang zugute kommt. Ein dritter Unterschied findet sich in der Dimension der Moral. Das Modell des ökonomischen Liberalismus ist weder moralisch noch unmoralisch, es ist a-moralisch (Günter Dux), außer es wird, wie dies auch schon argumentiert wurde, das unbedingte Gewinnstreben selbst als moralisches bzw. sittliches Prinzip verstanden (vgl. die Bemerkung Milton Friedmans weiter unten). Im Kommunitarismus ist alles Handeln moralisch grundgelegt, ein Handeln unabhängig von Moral gibt es nicht. Deshalb ist die innere Dynamik dieser Systeme im ersten Fall auf eine rationale Kalkulation aller Aktionen im Dienste eines vorausgesetzten Zieles angelegt, im zweiten Fall auf die moralische Begründung von Zielen und die moralische Beurteilung der Mittel. Der Kommunitarismus versteht sich als eine Bewegung, deren Ziel die Verbesserung der moralischen, sozialen und politischen Umwelt ist, in diesem Gedanken nicht unähnlich der eher europäischen Konzeption einer Zivil- oder Bürgergesellschaft. Er behauptet und hält für wahr : Für Recht und Ordnung sorgen zu können, ohne ein Land in einen Polizeistaat zu verwandeln ; der Familie ihren zentralen gesellschaftlichen Stellenwert (wieder)geben zu können, ohne Frauen an den Herd zu zwingen oder sonst ihre Rechte zu verletzen ; dass Menschen wieder in Gemeinschaften (communities) leben können, ohne in alte Kontroll25

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

und Autoritätsverhältnisse zurückzufallen ; dass der Ruf nach mehr sozialer Verantwortung durch die Einzelnen nicht auf die Einschränkung individueller Rechte zielt ; dass individuelles Erfolgsstreben mit Gemeinschaft vereinbar ist ; dass mächtige Interessenverbände und Lobbys, die nicht zum Wohle der Allgemeinheit agieren, in ihre Schranken gewiesen werden können ; dass Kommunitarismus Unterdrückung und Puritanismus ausschließt. Dieses Konzept hat viel Kritik hervorgerufen, vor allem bei den Liberalisten und bei den Linken. Es ist in den USA entstanden, hat in Europa erhebliches Interesse geweckt und ist in manchen Argumentationszusammenhängen auch auf Europa übertragbar. Allzu sehr wird von der Kritik befürchtet, dass mit diesem Konzept ein Rückfall in alte und endlich überwundene Abhängigkeitsverhältnisse kleiner Gemeinschaften, wie sie bis ins . Jahrhundert existierten, geradezu vorprogrammiert sei. Manche Kritiker nehmen die Vorstellung kommuner Akte so wörtlich, dass sie die grundlegende Bedeutung von kommun, dass etwas von allen geteilt wird, auch so verstehen wollen, dass sie dem Kommunitarismus sogar vorwerfen, er falle in die vormonogamistischen Vorstellungen eines Platon zurück, wie er sie in der Politeia formuliert hatte. Das gesamte Buch von Amitai Etzioni lebt aber, neben den Begründungen einer moralischen Neukonstitution der Gemeinschaften, von einer Fülle ganz rationaler Argumente und Beweisführungen, welche gegen die konkreten Verhältnisse gerichtet sind, die z. B. von den Liberalisten wenn schon nicht gutgeheißen, so doch wenigstens akzeptiert werden. Dass manche dieser Gegenargumente nicht von der Hand zu weisen sind und manches Übel an der Wurzel treffen, ist eindeutig. Im Zusammenhang mit dem viel diskutierten Anspruchsdenken wird zu Recht geltend gemacht, dass alles, was dem Staat an Verantwortung aufgebürdet wird, früher oder später auf unseren eigenen Schultern oder jener unserer Kinder landet. Angesichts der Entwicklung des Neoliberalismus ist das Gegenargument ebenso zutreffend, dass das »moralische« Erbe der Achtzigerjahre die Ausbreitung des Kosten-NutzenDenkens in Gebiete hinein sei, wo es nichts zu suchen habe ; die Folge sei eine Abwertung wichtiger Güter wie Leben, Solidarität und Integrität, die oberflächlichen Quantifizierungen nicht unterworfen werden dürften. In welche Art der Beziehung kann nun die sogenannte Individualismusdebatte zu den kommunitären Gedanken gesetzt werden ? Der Kern dieser Debatte birgt die Vorstellung einer dreifachen Individualisierung : die »Freisetzung« aus tradierten Sozialformen, die »Entzauberung« in der Form eines Verlustes traditioneller Sicherheiten, erwachsen aus gemeinschaftlichen Bindungen, und »ReIntegration« in der Form neuer Arten der sozialen Einbindung. Mit diesen drei Gedanken ist eine Problemstellung neu formuliert worden, die Georg Simmel 26

Kommunitarismus gegen Individualismus ?

vor mehr als hundert Jahren in der Weise fasste, dass die Individualisierung das Band mit dem Nächsten lockere, um dafür ein neues – reales und ideales zu den entferntesten Menschen zu spinnen. Damit ist ausgesagt, dass die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung zwar die Totalität der ursprünglichen Gemeinschaften zerstört, dass aber gleichsam diese ganze Distanzierung auch Hand in Hand geht mit der Knüpfung und dem Neuaufbau von Beziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiertsein für weit Entlegenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindung alle räumliche Nähe ersetzen und die Bildung neuer Identitäten ermöglichen. Die oben genannte dreifache Individualisierung ist von Ulrich Beck in den Achtzigerjahren auf der Grundlage empirischer Forschungsergebnisse dargelegt worden. Die Freisetzung aus tradierten Sozialformen lässt sich plakativ als der Auszug aus kleinen dörflichen Gemeinschaften und Verwandtschaftssystemen, Gemeindeformen und traditionellen Familienarrangements denken. Eng damit verbunden ist die Entzauberung ebenfalls traditioneller, sozialkultureller und religiöser Sinnwelten, die aufs Engste mit den alten Sozialformen verbunden waren. Die Reintegration in der Form neuer sozialer Einbindungen erfolgte über Arbeitsmärkte, Institutionen des Sozialstaats und neue Sozialarrangements, wie sie die Arbeits- und Bildungswelt, die Institutionen politischer Interessenvertretung etc. hervorgebracht haben, verbunden mit neuen Sinnwelten, die ihre Wurzeln in den kognitiven Systemen einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation haben. Die Erzählungen des Marktfundamentalismus und jene des Kommunitarismus bzw. des Individualismus teilen sich zumindest die Vorstellung, dass das Individuum als rationales Vernunftwesen innerhalb bestimmter Systeme – Markt und Gemeinschaft – verantwortlich handelt und durch sein Handeln zugleich frei wird. In beiden Fällen müssen sich die Individuen auch gefallen lassen, dass Verluste, Risiken und Defizite ihnen persönlich zugerechnet werden. Im Marktmodell gilt die idealisierte Annahme, dass alle aufgrund der Nutzung von Effizienzvorteilen die gleichen Chancen hätten, erfolgreich zu sein, im Gemeinschaftsmodell gilt die Idealvorstellung der Nutzung gemeinschaftlicher Selbsthilfe- und Solidaritätspotenziale zugunsten der Gemeinschaft und deshalb auch zugunsten der Einzelnen. Die Verbindung zwischen Individualismus und Kommunitarismus kann über den Gedanken hergestellt werden, dass Letzterer versucht, die alten Sozialformen im Sinn von Gemeinschaften und im Sinn funktionierender kleiner Einheiten wieder aufzugreifen, Teile der für diese einmal bedeutsamen Moral wie gegenseitige Verantwortung und Hilfe etc. zu wichtigen Prinzipien zu erheben, aber gleichzeitig die Bedingungen, unter denen dies reali27

Die vertrackte Verwandtschaft von Erzählungen und Tatsachen

siert werden soll, nicht auf die alten Zeiten rückzuprojizieren, sondern diese unter gegenwärtigen Verhältnissen zu reflektieren. Wenn wir den Gedanken der Erzählung hier nochmals aufgreifen, stellt sich folgendes Ergebnis ein : Ökonomischer Individualismus und Neoliberalismus erzählen, unter welchen Bedingungen materielle Wohlfahrt durch das Wirtschaftshandeln der Einzelnen zu erreichen ist und wie Freiheit im Sinne materieller Unabhängigkeit erlangt werden kann. Es ist die Freiheit monadischer Subjekte, die sich aufgrund von Leistung aus Abhängigkeit emanzipieren, im Prinzip immer auf Kosten anderer. Kommunitarismus und Individualisierungsdiskurs erzählen zwei divergente Geschichten. Der Kommunitarismus sagt, unter welchen Bedingungen eine moralisch integrierte Gemeinschaft funktionieren kann und dass sowohl die Gemeinschaft wie die Einzelnen Nutzen daraus ziehen. Die Freiheit des Subjekts ist relativ insofern, als sie an der Freiheit des Nächsten ihre Grenzen findet. Die Individualisierungsdebatte berichtet von einem Wandel, in dem die Menschen unabhängiger von alten Bevormundungen wurden, emanzipierte Subjekte, deren Freiheit nun jene der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft ist, in der jeder von jedem unabhängiger, aber alle von allen abhängiger geworden sind. Im Sinne von Jean F. Lyotard haben wir in diesem Kontext widersprüchliche Sprachspiele vor uns, die es nicht nur zu ertragen gilt, sondern die auch zur ständigen Auseinandersetzung mit ihnen herausfordern.

1.5 Risiken und Chancen Mit Ulrich Becks »Risikogesellschaft« wurde dann in den Achtzigerjahren der Blick auf andere Tatbestände gelenkt, die zwar nicht neu waren, aber von der Zeit an prominent wurden. »Riskante« soziale, ökonomische, kulturelle, technologische, wissensbasierte oder anders gelagerte gesellschaftliche Eigenschaften oder Prozesse hielten als eine umfassende Form der »Bewertung« oder der »Evaluation« ihren Einzug in die Sozialwissenschaften, die für ähnlich fundamental gehalten wurden wie das zentrale Bewertungskonzept des »Nutzens«. Dieses Bemühen schien auch deswegen unproblematisch zu sein, weil sich mittlerweile der Terminus »Risikogesellschaft« zu einer selbstverständlichen »Epochenbeschreibung« verdichtet hatte, die kaum weiterer Rechtfertigungen und Zusatzbegründungen bedurfte. Gesellschaften einer kontinuierlich gleichen, »anderen«, »zweiten« oder andersartig etikettierten »Moderne« sind »riskant« ; als wär’s ein Stück von innen. Diese frisch verlegte »riskante« Evaluationsschiene müsste, so wurde überlegt, zudem ihre stärksten komparativen Vorteile im Bereich der Ge28

Risiken und Chancen

sellschaftsdynamik und von Entwicklungsprozessen besitzen. Es sollten »neue Übersichtlichkeiten« in den Analysen von gegenwärtigen Gesellschaften, ihren Entwicklungsrichtungen, ihren »großen Driften« und in den Vergleichen zwischen ihnen gewonnen werden. Es ging in der Forschung um eine umfassendere Verankerung der Begriffe von »Risiken« und »Risikogesellschaft« innerhalb der Sozialwissenschaften. Zu diesem Zweck wurde der Risiko-Begriff nicht nur in einer erweiterten Form entwickelt, es wurde dem Risiko-Konzept ein Komplementärbegriff gegenübergestellt, der auch aus Gründen seiner alltagssprachlichen Verwendungsweisen als »Chance« tituliert wurde. Mit dieser zweifachen Vergrößerung ließ sich zudem ein Kontinuum von »maximalen Risiken« bis hin zu »maximalen Chancen« gewinnen und zu einer homogenen Bewertungsform für ungewöhnlich viele gesellschaftliche Sachverhalte ausgestalten. Diese Risiko- und Chancenkonzeptionen wurden »evolutionär« genannt, weil sich in ihnen die evolutionstheoretisch zentralen Konzeptionen von »komparativen Vorteilen« wie von »komparativen Nachteilen« gut aufgehoben wiederfanden. Diese Evaluation nach Risiken und Chancen wurde zudem für gesellschaftliche Phänomene und Prozesse ähnlich fundamental gehalten wie die etablierten Bewertungsmaße von »Nutzengraden«, von »Präferenzordnungen«, von »gerecht und ungerecht«, von »rational und irrational«, von »effizient und ineffizient« oder von »arm und reich«. Vor allem sollte über diese neue Dimension von evolutionären Risiken und Chancen zweierlei erreicht werden : Auf der einen Seite wurde damit eine tragfähige und nachhaltige Plattform aufgebaut, auf der sich diffizilere und subtilere Konturen von Risikogesellschaften in Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft zeichnen lassen. Und auf der anderen Seite musste dieses Kontinuum von Risiken und Chancen einen substanziellen Beitrag leisten, die Dynamiken und die Entwicklungsmuster von gesellschaftlichen Akteuren wie Individuen, Haushalten, Organisationen oder auch ganzen Regionen besser darstellen zu können. Auch darin lag ein Teil der Begründung dafür, sie, die Risiken und die Chancen, als »evolutionär« einzustufen und zu klassifizieren. Ohne nun in diesem Buch diesen wissenschaftlichen Alternativdiskurs zu jenen Auffassungen aufzunehmen, die weiter oben für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt wurden, halten wir doch daran fest, dass auch aus dieser neueren Perspektive der von uns kritisierte Nutzenbegriff ein anderes Gesicht zeigen kann. Das »Andere« ist darin zu sehen, dass der evolutive Gedanke uns auf Konstruktionen führen kann, welche die gegenwärtigen Verhältnisse in weit umfassenderer Weise beschreiben lassen, als dies mit den älteren Konstruktionen der Fall ist. 29

Kapitel 2

$IEÖ3PRACHSPIELE֐BERÖ0RODUKTIVIT¦T

In den vergangenen dreißig bis vierzig Jahren gehörte die Rede von der wirtschaftlichen Produktivität, von Marktaneignung, Effizienzsteigerung und Flexibilisierung, von Standortvorteilen und Produktionsbeschleunigung fraglos zu einer der dominanten Erzählungen. Es waren Dekaden derselben Argumente, die ihre Kraft offenbar nicht nur aus einer gewissen Stringenz ihres Aufbaus, sondern auch aus der Tatsache bezogen, dass gegen sie ökologisch, zivilgesellschaftlich und aus einem recht verstandenen Nachhaltigkeitsdenken opponiert wurde. »Um stark zu sein, bedarf es auch der Feinde«, sagte Jorge L. Borges einmal. Verwunderlich aber ist es nun, dass ein erheblicher Teil dieser Argumente, deren praktische Umsetzung die gegenwärtige ökonomische Misslage teilweise mit zu verantworten hat, wieder und mit noch größerem Nachdruck als bisher vorgebracht werden. Es reicht ein Blick in die internationalen Wirtschaftsblätter, um diesen Sachverhalt zu erkennen. Das frappanteste Beispiel liefert gegenwärtig die Weltbank mit dem »Weltentwicklungsreport «. Die mit Paul Krugman bekannt gewordene »Neue ökonomische Geografie« (für die er den Nobelpreis erhielt) als Grundlage verwendend empfiehlt sie, die weltweite Landflucht nicht zu bremsen. Das Argument lautet, dass der Wohlstand eines Landes nicht gleichmäßig über seine ganze Fläche verteilt werden könne, Anreize und Chancen ohnehin in den Agglomerationen größer seien und damit ein künstliches Aufrechterhalten von Infrastrukturen in Gegenden, aus denen Menschen massenhaft abwandern, kontraproduktiv sei. Nur hohe Mobilität und offene Märkte könnten Wohlstandsunterschiede ausgleichen. Bei ca. einer Milliarde Menschen, die auf der Welt in Slums leben, stellt sich die Frage, was denn da ausgeglichen wurde. Hier wird (Paul Krugman sah das allerdings etwas differenzierter) eine überkomplexe Welt wieder einmal auf einige wenige Faktoren reduziert, um ein »gutes Modell« zu bekommen (so ungefähr mit drei Gleichungen wie in den gängigen Wachstumsmodellen). Falls der blinde Fleck nicht in dieser Art des Modelldenkens liegen sollte, müsste angenommen werden, dass ein zynisches Kalkül im Hintergrund steht, das Not und Elend nicht sehen kann. Wir werden daher der Herkunft einiger dieser »heiligen Kühe« auf den Grund zu gehen versuchen und dabei überlegen, was an ihnen als Verkürzung der Realitätssicht oder als hegemonialer Impetus einzustufen ist. 31

Die Sprachspiele über Produktivität

2.1 »Ökonomen sind dumm« Dieser Ausspruch des österreichischen Professors der Volkwirtschaftslehre, Ökonometrie und Wirtschaftsgeschichte, Erich Streissler, getätigt in einem Interview (»Die Presse« – Printausgabe vom . . )⁴, markiert in präziser Weise, auch wenn er sich dabei auf Ben Bernanke, den Nachfolger von Alan Greenspan, bezog, die Quellen jenes Stroms, in dem zu schwimmen heute die Menschen gezwungen sind. Es war in der Mitte der Achtzigerjahre des . Jahrhunderts, als zunehmend die Vorstellung sich breitmachte, dass das Zusammenspiel zwischen Wohlfahrtsstaat, Wirtschaft und den handelnden Menschen in eine Sackgasse geraten sei. Es war dieselbe Zeit, in der die Diskussionen über das Ende des alten Wohlfahrtsstaats, die Notwendigkeit seines Rück- und Umbaus und die Unmöglichkeit, die bisher entstandenen Ansprüche zu finanzieren, ihre ersten Höhepunkte erlebten. Eine aktivierende Erneuerung des gesamten Systems wurde als Rezeptur erfunden, das Programm einer »aktivierenden Sozialpolitik« schoss sich auf ein neues Adressatenbild ein : den aktivierungsfähigen und aktivierungswilligen Sozialbürger. Im Hintergrund stand das Leitbild einer »aktiven Gesellschaft«, das von der OECD (Organization for Economic Co-Operation and Development) verkündet worden war und in dessen Zentrum die Idee der aktivierenden Sozialpolitik gärte (Amann a : f.). Im Grunde war die strategische Vorstellung simpel : Aktivierung sollte in zwei Modellen forciert werden, einmal über sogenannte »Wohlfahrtsmärkte« und einmal über die »Bürgergesellschaft«. Insofern fügte sich diese Diskussion ganz gut in die hegemonialen Erzählungen ein. Was sollte eine aktivierende oder, wie sie auch genannt wurde, ermöglichende (enabling) Sozialpolitik sein ? Sie sollte eine Antwort auf das damals als marode eingestufte Verhältnis zwischen Staat, Markt und Gesellschaft darstellen. Aus der Sicht scharfer Kritik basierte die Aktivierungsforderung auf der Einschätzung, dass der entwickelte Wohlfahrtsstaat Selbsthilfe- und Solidaritätspotenziale untergrabe oder gar abtöte. In moderaterer Betrachtung, so wurde gesagt, lasse er diese ungenutzt. In einer dritten Variante wurde davon ausgegangen, dass sie noch gar nicht vorhanden seien, was natürlich die Volllegitimation für alle Versuche darstellte, Menschen mit Flexibilisierungs- und Weiterbildungsanforderungen zu überschwemmen. Die konstatierten Defizite im Zusammenspiel zwischen Produktion, gesellschaftlicher Organisation und staatlicher Intervention wurden mit der Idee mangelnder Initiative und Aktivität der Individuen zusammengekoppelt (hierher gehörte das Lamentieren über die Sozialschmarotzer und die wohlfahrtsstaatlichen Liegestuhlkonsumenten), sodass dann aus dieser Gebrechensdiagnose die ultimative Forderung nach Aktivierung abgeleitet werden konnte. Für das 32

»Ökonomen sind dumm«

sozialliberale bzw. neoliberale Aktivierungsmodell der Wohlfahrtsmärkte wurde aus diesen Prämissen abgeleitet : Ziele sind die Nutzung der Effizienzvorteile von (Quasi-)Märkten, die Herstellung von »Marktfähigkeit« der Menschen, und die Forcierung individueller Eigenverantwortung ; als Mittel sind Informations- und Bildungspolitik sowie materielle Anreize und Ressourcen anzusehen ; die Adressaten sind Individuen, insbesondere aktuelle und potenzielle Leistungsempfänger. Das kommunitär gedachte Modell der Sozialbürgergesellschaft setzte zwar auf andere, aber gleichwohl aktivierungsorientierte Bedingungen : Ziele sind die Nutzung gemeinschaftlicher Selbsthilfe- und Solidaritätspotenziale, die Stärkung kollektiver Selbsthilfe, die Unterstützung von »Fremdhilfe« und die Förderung von Gemeinsinn ; als Mittel dienen symbolische und materielle Anerkennung sowie die gezielte Unterstützung gemeinschaftlicher Initiativen ; die Adressaten schließlich sind potenzielle Leistungserbringer und kommunitäre Organisationen. Das Modell der Wohlfahrtsmärkte richtete sich nach europäischen neoliberalen Prinzipien aus, das der Bürgergesellschaft nach kommunitären Prinzipien USamerikanischer Tradition und Herkunft. Für beide Modelle galt, dass der klassische und schutzbedürftige Benefiziar wohlfahrtsstaatlicher Politik ausgedient habe und durch den Individualunternehmer zu ersetzen sei, der Optionserweiterung betreibt (Ullrich ), sich flexibel anpasst und Eigenverantwortung übernimmt, nicht auch, sondern gerade für sein ganzes Leben – bis zum Tod. Es tauchten Begriffe wie »employability« und »entrepreneurship« auf, die im Rahmen des Beschäftigungsprogramms der EU (Europäische Union) eingesetzt wurden. Heute sehen wir, dass damals eine ultraliberale Ideologie die Patenschaft für die gesellschaftliche Konstruktion neuer Vorstellungen über Arbeit und Produktion übernahm. Die »Dummheit« eines bestimmten ökonomischen Denkens bestand in diesen Diskussionen ganz einfach darin, dass, eben durch neoliberalistische Vorstellungen motiviert, sukzessive eine Schwerpunktverlagerung eintrat, in der das Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr umfassend, sondern nur noch unter Gesichtspunkten von freiem Markt, Profit und Effizienz gedacht wurde. Eine weite Perspektive, aus welcher man die Gesellschaft als das Zusammenspiel aller Kräfte, auch kultureller und sozialer, einmal zu sehen gewohnt war, scheint, mit wenigen Ausnahmen, getilgt worden zu sein. Damit haben erhebliche Teile der ökonomischen Wissenschaft mitgeholfen, ein sehr präsentistisches Weltverständnis durchzusetzen, das mit einer gewissen Dreistigkeit über angeblich ausgediente Realitätsauffassungen hinweggeht. Dieser präsentistische Dünkel, dem alles nur in Marktperformance und Renditen aufzugehen scheint, beraubt sich selbst durch die Abweisung der nicht als »vernünftig« angesehenen Auffassungen der Möglichkeit, durch einen Wechsel der Erkenntnis33

Die Sprachspiele über Produktivität

perspektiven eventuelle eigene Einseitigkeiten und Verzerrungen auszugleichen. Auf solche Defekte war Erich Streisslers Diktum wohl gemünzt. Nun ist sicher unter den drei großen Teilsystemen der Marktgesellschaft – Ökonomie, Politik, Kultur – das ökonomische System des Markts jenes, das Gesellschaft eigentlich begründet. Alle Menschen sind über Märkte miteinander verbunden. Die Problematik jedoch liegt darin, dass Teile der ökonomischen Theorie in den letzten Jahren zum Interpretationsrahmen der gesamten Gesellschaft erhoben wurden. Sie haben sich anheischig gemacht, mit einem eingeschränkten Gedankensystem eine Totalität erklären zu können, für die sie nicht zuständig sind. Die ausgeprägteste Form dieser hegemonialen Vulgata hat sie im extremen Neoliberalismus erreicht, der auf Glauben gründet, jenem an den Markt, sich aber als wissenschaftliche Theorie ausgibt (Amann b ; Dux ). Ausdrücklich bekennt er sich dazu, dass die beobachtbaren Probleme der Marktgesellschaft von den Märkten selbst geregelt würden. Er verkennt damit völlig, dass die Probleme dieser Marktgesellschaft vom ökonomischen System generiert werden, aber von der Politik aufgefangen werden müssen (Dux  : ). Aus einer soziologischen, also weiter ausgreifenden Perspektive lässt sich genau bestimmen, worin die behauptete sogenannte Unproduktivität der Älteren (und der Arbeitslosen und der Hausfrauen etc.) besteht. Dafür ist es nötig, das Konzept der Inklusion und Exklusion heranzuziehen und es mit der Funktionsweise der Marktgesellschaft in Verbindung zu setzen. Unter der genannten soziologischen Perspektive sind Menschen ohne ihre Vergesellschaftung und Gesellschaft ohne ihre Menschen nicht zu denken. Günter Dux hat dieses Verhältnis prägnant beschrieben : »Sich in die Gesellschaft integrieren zu können, gehört zur Grundverfassung der menschlichen Daseinsform, die Möglichkeit, sich in sie integrieren zu können, eben deshalb zur Grundverfassung der Gesellschaft« (Dux  : ). Um es hier schon anzudeuten : Es stehen sich das ökonomische System und die Subjekte mit ihren Bedürfnissen gegenüber, und diese beiden Seiten sind nie vollkommen kompatibel. Wie stellt sich nun die für die Marktgesellschaft typische Form der Inklusion dar ? Eine zureichende Integration aller Menschen ist in der Marktgesellschaft nicht möglich und sie war es nie, sonst hätte es nicht immer wieder Heere von Arbeitslosen gegeben. Das ist auch keine Frage des gesellschaftlichen Wohlstands, denn sonst dürften in Österreich, in der Schweiz und in Deutschland, die zu den reichsten Gesellschaften der Welt gehören, Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, Pensionen und Pflege überhaupt kein Problem sein. Dieses liegt woanders, nämlich in der Logik des ökonomischen Systems. Alle Menschen sind darauf angewiesen, den Bedarf des täglichen Lebens auf dem Markt zu erwerben, und dazu müssen 34

Schwierigkeiten mit dem Produktivitätsbegriff

(fast) alle ihre Arbeitskraft auf dem Markt anbieten. Für die Integration in die Gesellschaft ist daher die Inklusion in das ökonomische System unausweichlich. Über diese Inklusion werden die Bedürfnisse der Subjekte vermittelt und befriedigt. Das ökonomische System der Marktgesellschaft kennt aber keine Mechanismen, diese Inklusion für alle zu gewährleisten, also den Anforderungen der Subjekte angemessen zu entsprechen und den Sinnanforderungen ihrer Lebensführung nachzukommen (Dux  : ). Deshalb ist auch die Arbeitslosigkeit von Millionen das größte Problem der Marktgesellschaft – und es wird im Zuge der sogenannten Finanzkrise, die eine Krise der Systeme und ihrer internen Lösungskapazitäten, eine Krise des Wissens über die Systeme ist, unweigerlich weiter und beträchtlich anwachsen. Die Logik, unter der das ökonomische System operiert, hat als einzigen wahren Bezugspunkt Kapitalakkumulation und Steigerung des Profits. Eine systematische Berücksichtigung der Bedürfnisse der Subjekte hat in dieser Logik absolut keinen Platz. Milton Friedman, der Nobelpreisträger, hat es deutlich gesagt : »Es gibt wenig Entwicklungstendenzen, die so gründlich das Fundament unserer freien Gesellschaft untergraben können, wie die Annahme einer anderen sozialen Verantwortung durch Unternehmer als die, für die Aktionäre ihrer Gesellschaften so viel wie möglich Gewinn zu erwirtschaften« (Friedman  : f., zit. nach Dux  : ).

Die »Dummheit«, von der oben die Rede war, liegt darin zu glauben, die Probleme, die das ökonomische System für die Marktgesellschaft hervorbringt, mit den Mitteln heilen zu können, die zu den Problemen geführt haben. Sie liegt darin zu glauben, dass sie gelöst würden, wenn der Staat abgeschafft wäre, sie liegt darin, den Staat dann doch in Anspruch zu nehmen, wenn das Schiff aus dem Kurs läuft, und dann wiederum nicht zu fragen, wer alles bezahlen wird. Sie liegt darin zu glauben, Konstitutionsprobleme der Marktgesellschaft lösen zu können, wenn alle aktiv werden. Eine durch und durch aktive und nach angemessen bezahlter Arbeit verlangende Bevölkerung widerspricht zutiefst den ureigenen Prinzipien des ökonomischen Systems.

2.2 Schwierigkeiten mit dem Produktivitätsbegriff Üblicherweise wird Produktivität als das Ergebnis von Tätigkeiten mit Bezug auf ein System oder einen Prozess definiert, wobei die Bezugsgrößen als Input und Output gefasst werden.⁵ Er lässt sich auf alle menschlichen Tätigkeiten beziehen 35

Die Sprachspiele über Produktivität

und hat jeweils spezifische Bezüge zu unterschiedlichen Systemen : Wirtschaft, Sozialintegration, Kultur – Arbeit, Normierung, Kommunikation. In dieser weiten Perspektive kann daher nahezu jede menschliche Tätigkeit zu Produktivität und Konstruktivität in Beziehung gesetzt und aus ihr eine Nutzenstiftung abgeleitet werden. Auf diese allgemeine Annahme werden wir später zurückkommen. Allerdings sind die Begriffe Input und Output zumindest vordergründig schon auf ökonomisches Modelldenken bezogen, insofern die beiden Größen ja messbar sein sollten, methodisch am klarsten, wenn sie in Geldwert ausgedrückt werden können. Dies ist in dem klassischen Lehrsatz eingefangen, dass alle Güter und Dienste sich in Geld ausdrücken und damit auf einen Nenner bringen lassen. Allerdings muss hinzugefügt werden : Wenn sie einen Marktpreis haben. Ebenso gemäß Lehrbuch lautet der ergänzende Gedanke, dass sich die subjektive Größe Nutzen freilich nur schwer, wenn überhaupt, messen lasse. Dieses Problem wird uns wiederholt beschäftigen. Im Sinn einer Input-Output-Relation liegt diese Vorstellung auch der ökonomischen »Produktionsfunktion« zugrunde. Modellhaft wird der Output als Menge in Relation zu Zeiteinheiten angegeben, was ihn als Stromgröße definiert. Dasselbe gilt für den Input, der dann z. B. in Arbeitsstunden gemessen werden kann. Er lässt sich aber auch als Bestandsgröße auffassen, wie dies im Falle des Einsatzes der Zahl der Erwerbstätigen innerhalb eines bestimmten Zeitraums in statistischen Berechnungen geschieht. Die in der Produktion erzeugten Güter sind sehr vielfältiger Natur, und sie ändern sich im Zeitablauf. Zu ihrer Vergleichbarkeit bedarf es daher einer universal äquivalenten Größe, nämlich des Geldes, weshalb diese verschiedenen Güter mithilfe von Marktpreisen bewertet werden. Es ist dies eine messtheoretische Entscheidung, deren Sinn darin liegt, den Output als eindimensionale Größe erfassen zu können. Damit ist die Vorstellung der Faktorproduktivität angesprochen, die sich auf Arbeit, Kapital, Grund und Boden, Wissen, in jüngerer Zeit auch auf Humankapital beziehen kann. Die bekannteste und am häufigsten benutzte Faktorproduktivität ist jene der Arbeit. Nicht zuletzt hängt dies damit zusammen, dass die Menge an eingesetzter Arbeit im Vergleich zu anderen Faktorproduktivitäten relativ leicht zu ermitteln ist.

Die volkswirtschaftliche Basisüberlegung erfasst die Arbeitsproduktivität als Pi = BIP real/Arbeitsvolumen = Et * h, wobei BIPreal das reale Bruttoinlandsprodukt, Et die Anzahl Erwerbstätiger und h die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigem ist (Amann 2007b : 269.)

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Schwierigkeiten mit dem Produktivitätsbegriff

Die Tatsache, dass der traditionelle Produktivitätsbegriff der Ökonomie eine spezifische Tätigkeit von Menschen zum Stückpreis von Objekten in Beziehung gesetzt hat, die aus dieser Tätigkeit entstehen, beraubte allerdings die »Arbeit« ihrer sozialen, psychischen und anthropologischen Dimensionen, sie wurde auf den »Produktivitätsfaktor« eingegrenzt. Schon in den Siebzigerjahren des . Jahrhunderts kam die Rede von Trauerarbeit, Liebesarbeit, Beziehungsarbeit etc. auf. Das waren Versuche, den Arbeitsbegriff über seine enge ökonomische Definition hinauszutreiben, sie scheiterten aber ebenso generell an der Schwierigkeit, eine andere Bezugsgröße als den in Geldwert messbaren Output zu definieren. Wir werden sehen, dass dies ein bis heute nicht gelöstes Problem darstellt. Die Schwierigkeit scheint darin zu liegen, dass mehr als einhundert Jahre des traditionellen Wirtschaftsdenkens die Vorstellungsmöglichkeiten, andere bzw. darüber hinausreichende Bezugspunkte zu etablieren, nahezu eliminiert haben. Dieses traditionelle Modelldenken zeigt für die hier zu diskutierende Problematik wenigstens zwei Limitationen auf : Einerseits enthält dieser Produktivitätsbegriff ein Bewertungsproblem insofern, als nur solche Tätigkeiten bewertet werden (können), für die Marktpreise existieren, andererseits besteht ein epistemologisches Problem darin, dass die volkswirtschaftlichen Berechnungsweisen der Arbeitsproduktivität auf Operationalisierungen beruhen, die nur Dimensionen oder Größen berücksichtigen, die einen wirtschaftlichen Output messbar machen (das genannte Messproblem). Sie sind auf materielle Wohlfahrt abgestellt. Damit ist die wesentliche Problemverkürzung aufgedeckt, die dann Platz greift, wenn von den unproduktiven Älteren gesprochen wird. Sie sind nicht unproduktiv, sie sind nur aus der üblichen Produktivitätsberechnung hinausgeworfen worden (wie natürlich die Hausarbeit etc. ebenfalls). Und tatsächlich stellt sich unter soziologischen Gesichtspunkten die ganze Frage als wesentlich komplexer dar (Amann b : ). Diese Art von Wirtschaftsdenken hat durch ihre historische Mächtigkeit Produktivität tendenziell unter den eindimensionalen Blickwinkel der technischen Produktionsfunktion der industriellen Arbeit gezwungen. Was an gesellschaftlichen Beiträgen sich wegen seiner zeitlichen, sozialen oder sachlichen Unregelmäßigkeit dieser Normierung nicht fügt, so sagt Claus Offe, fällt nach Wirtschaftlichkeitskriterien aus der Definition heraus und ist unproduktiv. Es gibt keine erwerbswirtschaftlichen Maßstäbe für die vergleichende Erfassung des durch Dienstleistung erzeugten qualitativen Nutzens, es gibt auch keine technischen Produktionsfunktionen für die Erzeugung dieses qualitativen Nutzens (Offe  : f.). Das sind die Kerngründe, weshalb z. B. Sozialberufe als gering produktiv und private Haus- und Pflegearbeit, Kindererziehung etc. als unproduktiv bezeichnet werden. Soziale Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein, Ein37

Die Sprachspiele über Produktivität

fühlungsvermögen, Liebe und Leidensfähigkeit entziehen sich der ökonomischen Rationalität. Liebe, Freude, Leid und Trauer brauchen Zeit – und die hat die Produktion nicht. Die rationalen Kriterien, die der kapitalistische Betrieb für die Nutzung und Kontrolle der Arbeitskraft in der Warenproduktion entwickelt hat, lassen sich auf Generationenarbeit nur schwer übertragen. Allerdings gibt es in jüngerer Zeit Versuche, die Wertschöpfung zu berechnen, welche aus der Dienstleistungsarbeit am Bett schwer pflegebedürftiger Menschen entsteht (Kern ). Trotzdem blieben bisher die Versuche, anhand von Arbeitsstunden und Stundensätzen berechnete Wertschöpfungen, z. B. der ehrenamtlichen Tätigkeit der Älteren, nur notwendiges Stückwerk. Sie vermögen den konkret erzielten vollen Nutzen nicht abzubilden. Was jemand in der Pflegetätigkeit für einen alten Menschen u. U. für seine eigene Persönlichkeit mitnimmt, ist noch von keinem Berechnungsmodell erfasst worden – und wird es hoffentlich auch nicht, wäre hinzuzufügen. Von der privaten Arbeit an der Aufrechterhaltung kultureller Traditionen durch die Alten – Weitergabe von Erfahrung im Leben – gar nicht zu reden. Hier zeigen sich die objektiven Grenzen des Versuchs, die Welt in Geldflüssen zu messen (Amann  : ). Gesellschaftliche Prozesse können nicht realisiert werden ohne die Teilhabe aller Individuen. Dazu ist es allerdings nötig, eine ganz andere Konzeption von Produktivität zu entwerfen, die prinzipiell jedem Individuum zugesteht, Beiträge zur gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung leisten zu können, direkt und indirekt, innerhalb des Erwerbslebens und außerhalb dessen, und die in einem generellen Sinn als Nutzenstiftung verstanden werden. Dass damit auch ein Aufbrechen eingefahrener Sichtweisen auf die Frage nötig wird, wer in welcher Weise wofür nützlich sei, ist selbstverständlich. Es muss daher eine Perspektive gefunden werden, die sich dem Rentabilitätsdenken als oberstem Wert des Handelns entziehen kann. Da in der herkömmlichen Auffassung die Älteren unproduktiv sind, weil sie nicht mehr im Erwerbsleben stehen, während den Kindern und Jugendlichen aufgrund des Versprechens, dass sie lebensdienliche, und das heißt vor allem : arbeitsdienliche, Kompetenzen erst erwerben werden, die dann verwertet werden können, dieses Stigma nicht umgehängt wird, ist hier der Ausgangspunkt zu suchen. Allein deshalb schon, weil eine auf Erwerbsarbeit und Kapitalakkumulation konzentrierte Gesellschaftsauffassung (die »Marktgesellschaft«) all jene, die nicht an jener aktiv teilhaben, aus den (traditionellen ökonomischen) Nutzenvorstellungen ausgrenzt. Er liegt in der Vorstellung, dass Menschen und Generationen aufeinander bezogen und angewiesen sind. Hier muss eine Tatsache in Erinnerung gerufen werden. Gesellschaft besteht, eine simple Tatsache, 38

Schwierigkeiten mit dem Produktivitätsbegriff

die kaum einer eigenen Erörterung bedürfte, wäre da nicht diese verkürzte Sicht von Produktivität, aus mehr als wirtschaftlicher Produktion. Sie besteht vor allem aus äußerst komplexen Zusammenhängen zwischen verschiedenen Realitätsbereichen (Wirtschaft, Politik, Kultur etc.), die gerade wegen des Wandels, dem sie ständig unterworfen sind, der Tradierung, der identischen Reproduktion und zugleich der Transformation bedürfen. Dieser Gedanke soll ausdrücken, dass einerseits zugleich der Strukturcharakter einer Gesellschaft und das kollektive sowie individuelle Handeln der Mitglieder im Kontext ihrer kulturellen Traditionen und ihrer wirtschaftlichen Produktion in dieser Gesellschaft erfasst werden müssen und andererseits zugleich die »Statik« der Strukturen (ihre identische Reproduktion) und ihre »Dynamik« (meist in Konflikten durchgesetzte Transformationen). Gelingende Generationenbeziehungen tragen ganz sicherlich zu einer Steigerung der Lebensqualität der Beteiligten bei, auch wenn für sie keine Marktpreise existieren. Das Aufeinander-Verwiesensein der Menschen (und hier sei nochmals betont : der Generationen) konstituiert sich aus dem unauflösbaren Verhältnis zwischen der Existenzform des Einzelnen, in seiner Lebensdauer begrenzten Individuums und aus jener einer Gesellschaft als überdauerndem, wenngleich sich wandelndem System, das den individuellen Zeithorizont permanent übersteigt. In diesem Zusammenhang haben alle Begriffe wie Generation, Tradition, Sozialisation und Erziehung sowie Arbeit unter Weitergabe von Wissen und Erfahrung etc. ihren systematischen Ort. Dass wir sterben müssen, ist mit dem Geborenwerden verbunden (Amann ). Dass wir unter denselben Zeithorizonten uns miteinander verständigen und erfolgreich handeln können, hat mit Sozialorganisation zu tun. Dass Gesellschaft weiter existieren und individuell gemachte Erfahrung kollektiv tradiert werden kann, hat mit Systemorganisation zu tun. Das setzt Jugend und Alter in eine Beziehung des Nachbildens und des Abgehens. Es sind die von uns in den letzten Jahrzehnten immer nachhaltiger in ihrer Bedeutung wahrgenommenen demografischen Veränderungen, die diesen Sachverhalt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit treiben. Deshalb sprechen wir hier von diesen Phänomenen. Aufgeschlossene Denker, die sich mit Gesellschaft in möglichst all ihren Zügen befassten (klüger agierend als Margaret Thatcher, die behauptete, das Phänomen Gesellschaft gäbe es nicht), haben auch der »Bevölkerungsweise« immer schon ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings bedeutet Bevölkerungsweise weit mehr als das aktuelle Demografie-Alter-Probleme-Gebimmel. Der Begriff bezeichnet die kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, innerhalb deren Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und Wanderungen, die Kernfaktoren demografischer Berechnungen, erst sinnvoll interpretiert werden können. 39

Die Sprachspiele über Produktivität

Die Veränderungen der letzten hundert Jahre veranlassen uns, den Sinn dieses Zusammenhangs im Raum der Entscheidungen zu überdenken. Gebürtigkeit (ein Ausdruck von Hannah Arendt) und Sterblichkeit sind mit dem Versprechen des Anfangs, der Unmittelbarkeit und dem Eifer der Jugend verbunden, zusammen mit einer ständigen Zufuhr an Andersheit, die nachbildet. Karl Mannheim hat dies in seinem Konzept der Generationen deutlich gemacht, und dafür gibt es in unserer Welt keinen Ersatz. So weit hat z. B. der Philosoph Hans Jonas schon vor Jahrzehnten gedacht. Doch das Gegenstück wurde bisher noch nicht gesehen : dass das Abgehen ebenfalls mit einem Versprechen verbunden ist. Das Alter gibt den Nachkommenden das Modell ab, wie sie entweder selbst werden können, oder nicht werden wollen oder sollen. Alle, die älter werden, haben ihren Spiegel, manchmal auch ihren Zerrspiegel, in denen, die schon alt geworden sind. Aus ihm stammen ihre Ängste und ihre Hoffnungen, ihre Praktiken und ihre Ideologien. Auch dafür gibt es in der Welt keinen Ersatz. Kinder gehen zu Eltern in Opposition, sie lösen sich von ihnen ab. Ohne diesen Prozess könnten sie nicht »erwachsen« werden. Im großen Maßstab sind die nachrückenden Generationen immer wieder neu. Sie sind in anderen Zeiten aufgewachsen, sie legen sich ihre Welt selbst zurecht. Doch niemals ohne den Blick auf das, was ihnen vorausgegangen ist. Dabei ändern sich die konkreten Formen. Früher einmal mögen die Alten Autorität und Weisheit gehabt haben und die Jungen mögen von ihnen gelernt haben. Heute haben sie Achtung und Autorität weitgehend verloren. Heute, heißt es, lernten die Alten von den Jungen. Doch dieses Lernen bezieht sich am ehesten auf die neuen Techniken der Alltagsbewältigung und auf Informationstechnologien. Ob die Jungen von den Alten lernen, beide voneinander, oder die Alten von den Jungen, sind Ausprägungen historischer Wandlungen. Am Generationenlernen wurden bisher die geistigen und seelischen Dimensionen zu wenig beachtet (Amann  : ). Wie denn überhaupt ein erheblicher Teil der Nichtbeachtung solcher Tätigkeiten unter dem Gesichtspunkt der Produktivität und der Konstruktivität wohl einfach auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass ihre geistig-psychische, emotionale und soziale Qualität keinen Eingang in wissenschaftliche Modelle der Nutzenanalyse gefunden hat (Amann ).

Der traditionelle Produktivitätsbegriff der Ökonomie, spezifisch jener der Arbeitsproduktivität, ist für die Analyse gesamtgesellschaftlicher Nutzenstiftung untauglich. Er kann den qualitativen Nutzen, den gesellschaftliche Tätigkeit im weitesten Sinn hervorbringt, auch nicht annähernd erfassen. Es ist daher ein neuer Bezugspunkt für diese Tätigkeiten zu suchen. Er liegt, in einer ersten Annäherung, in dem Gedanken, dass alle mit dem, was sie haben, tun und können,

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Produktion um jeden Preis – auch im Alter ?

aufeinander verwiesen sind und dass der Nutzen auf jeden Menschen selbst und zugleich in seinen Folgen auf die anderen gerichtet ist. Das bringt die Idee der Lebensqualität ins Spiel. Es ist also ein eklatanter Denkfehler zu meinen, dass der Gesamtnutzen, der zugunsten einer Gesellschaft geschaffen wird, allein nach der Logik des ökonomischen Systems zu betrachten sei. Darauf zu beharren, hat vermutlich mit einer Wahrnehmungsstörung zu tun.

2.3 Produktion um jeden Preis – auch im Alter ? Ältere sollen sich in ehrenamtlicher Arbeit engagieren, sie sollen Familienpflege leisten, sie sollen Kinder und Enkel betreuen, sie sollen länger arbeiten, sie sollen aktive Gesundheitsförderung betreiben, sie sollen die Remedien der Gesundheitsund Schönheits- sowie Freizeit- und Wellness-Industrie konsumieren, sie sollen der Bildung obliegen, sie sollen Vor- und Nachteile langer Auslandsaufenthalte oder gar Übersiedlungen dorthin im Gegensatz zu aktivem Altern zu Hause und zur Weitergabe von Vermögen anstelle dessen egoistischen Verbrauchs wohl abwägen. Alle diese Forderungen lassen sich ohne große Schwierigkeiten als Beiträge zur wirtschaftlichen Frage nach den Möglichkeiten umfassender Produktion begreifen. Nachdem die Forderungen sich an immer mehr Ältere und an sie immer dringlicher gerichtet werden, ist wohl auch der Gedanke zulässig, dass es hier um immer mehr Produktion geht. Woher kommt aber dieser Gedanke einer sich endlos ausweitenden Produktion, der sich der Tendenz nach alle zu unterwerfen haben ? Wir gehen davon aus, dass die Vorstellung der endlosen Produktion auf frühe Quellen der abendländischen Philosophie zurückgeht, am Beginn der Neuzeit eine Umformung erfuhr und seit der Industriellen Revolution zu einer Äußerungsform der Vernunft schlechthin, nämlich der zweckrationalen wurde. In seiner »Politik« führt Aristoteles im I. Buch die Besonderheiten der Kaufmannskunst und der Hausverwaltungskunst aus. Sie bergen bereits den Gegensatz zwischen dem, was heute im Widerstreit von Haben und Sein (Erich Fromm), von endloser Ausbeutung von Ressourcen und Nachhaltigkeit zugunsten kommender Generationen angelegt ist. Nur die Kaufmannskunst »scheint sich um das Geld zu drehen (…) Darum ist der Reichtum, der von dieser Erwerbskunst kommt, allerdings unbegrenzt.« Für diese Erwerbskunst »findet das Ziel keine Grenze (…) Da jenes Verlangen unbegrenzt ist, so verlangen sie auch nach unbegrenzten Mitteln dazu« (Aristoteles  : I, –, a). In schroffer Opposition dazu findet sich die Hausverwaltungskunst. Sie ist auf Bewahrung und gute Ordnung gerichtet. Sie ist nicht gleich der Kaufmannskunst und hat eine Grenze. 41

Die Sprachspiele über Produktivität

»Denn dieser Reichtum ist ja nicht ihre Aufgabe.« Während die Kaufmannskunst sich einfach um das Leben bemüht, ringt die Hausverwaltungskunst um das »vollkommene Leben« (Aristoteles  : I, , a). Die eine nennt er die »überflüssige Erwerbskunst«, die andere die »notwendige«, denn allein diese dient der Erfüllung der naturgemäßen Autarkie. Vollkommenheit hat ein Maß und eine Mitte, weshalb der Wunsch nach dem Schrankenlosen »gegen die Natur« ist. Aus soziologischer Sicht ist bedeutsam, dass die »Verfassung«, die hinter der Kaufmannskunst steht, nicht eine allgemeine Verfassung des Willens oder des Strebens ist, gar eine anthropologisch konstante, sondern eben jene historisch bedingte des Kaufmannsstandes, während hinter der Hausverwaltungskunst Bauern und Handwerker stehen. Somit ist diese scharfe Entgegensetzung bei Aristoteles einerseits eine Nachwirkung der Ressentiments der adeligen Grundbesitzer gegen die durch Handel reich gewordenen Bürger aus einer Zeit zweihundert Jahre davor, andererseits schon eine Vorbereitung der epikureischen Lehre vom »naturgemäßen Reichtum«, die für den Weisen gelten sollte. Mit Bezug auf Thomas von Aquino zeigt nun Karl-Heinz Brodbeck, dass diese Gedanken in der christlichen Lehre mit Thomas von Aquino eine Umdeutung erfuhren, mit der wir schon näher an das aktuelle Problem heranrücken. Der Startheologe des . Jahrhunderts knüpft an dem Gedanken der Begierde an und postuliert für sie zwei Formen : die »naturhafte« und die »nicht-naturhafte«. Die erste ist endlich und richtet sich auf konkrete Bedürfnisse, die im Sinne äußerer Güter eine Grenze hat. Die zweite ist unendlich, unbegrenzbar und kennzeichnet die Vernunft. »Wer darum Reichtümer begehrt, kann danach verlangen, und zwar nicht etwa nur bis zu einer bestimmten Grenze, sondern er will schlechthin so reich sein, als er nur immer kann« (Brodbeck  : ). Thomas von Aquino sieht in der Bestimmung der Vernunft eine »unendliche Kraft«, wie sie beim Zuzählen von Zahlen und Linien zutage tritt. Deshalb ist das Unendliche in gewisser Weise der Vernunft angemessen. Hier zieht Karl-Heinz Brodbeck den Schluss, dass bei Thomas von Aquino die Kaufmannsseele ganz selbstverständlich als eine Bestimmung der Vernunft schlechthin erscheint. Nun lässt sich der Bogen weiterführen : Bei Thomas von Aquino ist ganz klar bereits der Kern jener Rationalität formuliert, die für die gesamte Neuzeit bestimmend wird. Sie ist die Verkörperung eines bestimmten Sozialcharakters, dessen Maxime lautet : »Mehr ist besser« (Brodbeck  : ), wobei sich diese Rationalität des Mehr völlig im Quantitativen erschöpft. Doch, wie kann solches Streben gewollt werden ? René Descartes und Baruch de Spinoza legen dafür die Spur. Nicht mehr (nur) die Vernunft, der Wille selbst ist unendlich, weil das hinter dem Willen stehende Ego das Handeln bestimmt und das Denken darauf ge42

Produktion um jeden Preis – auch im Alter ?

richtet ist, diesem Willen Weg und Form zu geben. Noch einmal weiterführend, wie es Georg Simmel dann getan hat (vgl. Amann a : ff.), kann diese Form in der Wirtschaft und in der Natur (Geld und Mechanik) nur eine mathematische sein. Über Adam Smith und die Schottischen Moralphilosophen, die Englischen Aufklärer und die Begründer einer Mathematischen Ökonomie führt der Weg in die modernen Begriffe der Handlungsrationalität wie z. B. bei Max Weber und in die Theorie des Maximierungsverhaltens z. B. bei Ernst Mach (Mach  : ). Um noch einmal mit Karl-Heinz Brodbeck zu sprechen : »Die maximierende Kaufmannsseele wird in der Mechanik und in der Gewinnmaximierung wiedergeboren« (Brodbeck  : ). Für unsere Frage : Produktion um jeden Preis ? ergibt sich aus diesen Überlegungen ein klares Fazit. Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen haben in der abendländischen Geschichte immer wieder zu Verhältnissen geführt, die von Philosophen und Wissenschaftlern von Zeit zu Zeit in Denkmodelle umgemünzt wurden, die ihrerseits als »Ideen« politisch in großen Erzählungen durchzusetzen versucht wurden (wie z. B. der »freie Markt«, die »Menschenrechte«, die »parlamentarische Demokratie«, die »öffentliche Wohlfahrt«). Seit der anbrechenden Neuzeit begann allerdings ein Denkmodell immer stärker in den Vordergrund zu treten, das heute umfassende Gültigkeit beansprucht : die mit rationalen Mitteln, und das heißt Rechenhaftigkeit im Sinne von zählbar und berechenbar, betriebene Erreichung von selbst gesetzten Zielen ohne prinzipielle Begrenzung durch politische oder sittliche Regeln, wie sie Aristoteles noch vorschwebten. Da den Zielen keine Grenzen gesetzt sind, werden alle konkreten Ziele durch ein allgemeines überlagert : jenes der Nutzenmaximierung. Damit ist diese selbst zu einem obersten Wert, zu einer »sittlichen Idee« geworden. Da Nutzen im Sinne des genannten ökonomischen Denkmodells durch ständige und ständig sich erweiternde Produktion gestiftet wird, ist die logische Konsequenz, dass auch alle gesellschaftlichen Mittel immer umfassender dieser Produktionsabsicht unterworfen werden müssen. Dass die Politik Regeln und Programme schafft, die diese ständig expandierende Produktion ermöglichen und erleichtern, ist ein starker Hinweis darauf, dass eben auch die Politik selbst sich diesem Denkmodell unterworfen hat. Die Älteren, die nach den bisherigen Ausführungen über Aktivierungsprogramme in die Pflicht genommen werden sollen, sind daher nur ein konkreter gesellschaftlicher Stoff, auf den das Prinzip der grenzenlosen Produktion ausgeweitet werden soll.

Die Logik bzw. Vernunft, die seit der beginnenden Neuzeit und heute vor allem unser Produktivitätsdenken bestimmt, ist die der instrumentellen Vernunft. Was mit rationalen

43

Die Sprachspiele über Produktivität

Mitteln erreicht werden kann, und rational heißt zählbar und berechenbar, setzt sich die Ziele selbst. Und zwar ohne prinzipielle Begrenzung durch politische oder sittliche Regeln. Deshalb gilt : »Mehr ist besser.« Damit ist diese Vernunft selbst, im eben streng rationalen Sinn, zu einem obersten Wert, zu einer »sittlichen Idee« geworden. Ihre logische Folge ist die ständige und ständig sich erweiternde Produktion, der alle unterworfen werden sollen, auch die Älteren. Dieser Kurs, Generalforderungen politisch durchsetzen zu wollen (umfassende Aktivierung zum Zwecke der Produktionsausweitung und der Produktivitätssteigerung), führt deshalb immer wieder in Untiefen, weil sich jene, welche diese Forderungen entwerfen, der Einsicht in die widerstehenden Bedingungen verweigern, die in eben dieser Gesellschaft selbst produziert werden.

Für die Überlegungen zur Herkunft des Gedankens : Produktion um jeden Preis, ist es aber sinnvoll, sich noch das zugehörige Menschenbild der Antike zu vergegenwärtigen. Unter dem Blickwinkel des spezifischen Verhältnisses zwischen Mensch und Gesellschaft findet sich in der sophistischen Skepsis, in erster Linie bei Protagoras, eine erste bedeutsame Auffassung : »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.« Wir müssen annehmen, dass »der Mensch« hier nichts anderes als das »einzelne Individuum« bedeutet, mit seiner Vielfalt an Eindrücken, Vorstellungen und Empfindungen. Hier wird also die zentrale sozialisatorische Frage berührt, ob und wieweit der Mensch durch äußere Bedingungen geprägt sei oder ihnen gegenüber ein unveränderliches Wesen besitze. Die Antwort, die der sogenannte »Homo-Mensura-Satz« bietet, ist eindeutig : »Jede Vorstellung besitzt relative Wahrheit, nämlich für den Wahrnehmenden unter den Bedingungen seines jeweiligen Wahrnehmens.« Nur das existiert, was wir sinnlich wahrnehmen. Damit formuliert Protagoras eine gegenüber religiösen Traditionen kritische Position, aus der der Mensch nicht durch den göttlichen Willen bestimmt gesehen wird, sondern durch die Erfahrung aus seiner Umgebung, die (wie Heraklit von Ephesos es bereits fasste) selbst sich laufend verändert. Insofern sinnliche Wahrnehmung als einzige Erkenntnisquelle gilt, tritt hier der Sensualismus auf, weil das einzelne Individuum letzte Instanz von Erfahrung und Urteil ist. Hier findet sich ein Sinnelement, das aus der Perspektive der Persönlichkeitsgenese im englischen Empirismus im . Jahrhunderts, in der deutschen Philosophie und in der kognitiven und sprachlichen Sozialisationsforschung im . Jahrhundert wieder vorkommen wird. Zugleich beinhaltet diese Auffassung eine scharfe Entgegensetzung von Mensch und Gesellschaft in dem Sinne, dass Erkenntnis nur als subjektive möglich sei, nicht aber als objektive und allgemeingültige – die Frage nach 44

Produktion um jeden Preis – auch im Alter ?

allgemeingültigen Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft, der zugleich auch die Menschen angehören, erübrigt sich aus dieser Perspektive. Sowenig die Frage nach einer gesellschaftlichen Entwicklung eine Rolle spielt, in die das Individuum gestaltend und zugleich gestaltet eingebettet ist, so sehr steht aber der Gedanke im Vordergrund, dass dieses Individuum Aufgaben hat und lernfähig ist. Der Bezugsrahmen aller individuellen Erfahrung und aller normativen Verankerung des Handelns ist das jeweilige Gemeinwesen, die Polis. Auf ihre Erfordernisse ist das politisch-soziale Handeln ausgerichtet, und unter pragmatischen Gesichtspunkten galt den Sophisten der Mensch für diese Zwecke als erziehbar : in Rhetorik, Grammatik und Dialektik. So wird früh die Sprache zu einem wesentlichen Element des Begriffs der sozialen Persönlichkeit. Mit der aufklärerischen Absage der Sophisten an eine wissenschaftlich begründete Weltkenntnis und an die unbedingte Geltung menschlicher und göttlicher Gesetze war eine Denkweise entstanden, gegen die sich nach dem Peloponnesischen Krieg die Restauration breitmachte – wohl in erster Linie in Athen. In gezielt konstruiertem Gegensatz zum Relativismus der Sophisten entwickelte Platon seine Lehre, gegen sie betont er die Allgemeingültigkeit und die begriffliche Natur der wahren Erkenntnis. Ohne auf die erkenntnistheoretische Begründung seines Systems und seine Anthropologie näher einzugehen, sei hier festgehalten : Menschen sind auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen, doch kann sie in einer sich ständig ändernden Welt keine feste und eindeutige Erkenntnis liefern. Zugleich setzt aber die Wahrnehmung über die Sinnesorgane eine übergeordnete und überlegene Instanz voraus – die Seele. Sie ist fähig zum »schauenden Erfassen« des Allgemeingültigen. Dieses aber liegt nicht in den flüchtigen und vergänglichen Dingen, die sich der Wahrnehmung bieten, sondern in den unveränderlichen und ewigen Ursachen hinter ihnen – den »Ideen«. Die Ideen könnten, etwas vergröbert, als das den Einzeldingen gemeinsame, im Begriff erfasste Wesen bezeichnet werden. Weil es nun für jede Klasse von Dingen nur eine Idee gibt, bezeichnet sie Platon als »henades« oder »monades« ; sie stehen der Vielfalt der Dinge als das Einheitliche, ihrer Wandelbarkeit als das Unveränderliche gegenüber – Ideen sind also, in einem modernen Sprachgebrauch, nichts anderes als Allgemeinbegriffe, die sich gewissermaßen zu metaphysischen Realitäten verselbstständigt haben (objektiver Idealismus). Aus dieser Perspektive kommt auch dem Prinzip des unbedingten Individualismus, das den ökonomischen Liberalismus kennzeichnet, metaphysische Qualität zu – die Linie geht zurück bis zu den Physiokraten. Geht es um die Frage der Erkenntnis, so kann bei Platon das Wesen der Seele nur in ihrer geistigen Natur, also in der Vernunft (»logistikón«), liegen – sie ist der unsterbliche, unveränderliche Teil der Seele, und als solcher gehört sie auch im frü45

Die Sprachspiele über Produktivität

heren Dasein (vor dem Eintritt in den Leib) zum Reich der Ideen. An dieser Stelle verbindet sich nun bei Platon die Ideenlehre mit seiner Anthropologie – wenn auch einer kaum ausgearbeiteten. Er spricht von einer Dreiteilung der Seele, wobei der quasi unsterbliche Teil, die »Vernunft«, ihren Sitz im Kopfe habe, während der zweigeteilte sterbliche Anteil, als »Mut«, den Sitz in der Brust und als »Begierde« den Sitz im Unterleib habe. Im Sinne einer Kosmogonie entspricht dieser Dreiteilung die nicht weniger bekannte der Gesellschaft in die Stände der Bauern und Handwerker, Beamten, Krieger und Wächter und der Philosophen-Könige. Ihr entspricht aber auch eine Tradition der Handlungstheorie in den Sozialwissenschaften, in der die handelnden Menschen als monadische Individuen erscheinen, die in einem Rationalitätsmodell agieren, in dem für Gefühle, Ängste etc. kein Platz ist. An dieser Konzeption ist für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft zweierlei bedeutsam : Zum einen gibt es hier keinen Ansatzpunkt, die Persönlichkeitsgenese in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen zu denken. Die Entwicklung des Menschen ist die Verwirklichung einer Entelechie, nämlich der durch Erziehung geförderten Entfaltung dessen, was im Menschen gattungsmäßig immer schon angelegt ist – die Vorstellung einer individuellen oder milieuspezifischen Sozialisation, ja gar der Individuation ist denkunmöglich ; im Übrigen stellt die spätere Aristotelische Prämisse, dass der Mensch ein »zoon politikon« sei, ein ebensolches Hindernis für die Vorstellung dar, dass der Mensch Soziabilität über die Umwelt vermittelt erwerbe. Zum anderen ist auffallend, wie auch hier wieder Sinnmotive sich abzeichnen, die in heutigen Konzeptionen eine Rolle spielen. Das Motiv der Entelechie kehrt in reifungstheoretischen Positionen der Entwicklungspsychologie wieder ( Jean Piaget und Lawrence Kohlberg), auch in den Auffassungen, nach denen Sozialisation (teleologisch) zu definieren sei als die (erfolgreiche) Aneignung gegebener Normen und Werte, scheint dieses Element wiederzukehren ; Einsprengsel dieses Gedankens haben wir im »erfolgreichen« Altern vor uns, wie es in den USA erstmals konzipiert wurde. Noch auffälliger ist das »Instanzenmodell«, das bei Sigmund Freud in der Dreiteilung von Es, Ich und Über-Ich und dann bei Talcott Parsons nochmals in der Gliederung von Organismussystem (als der Triebinstanz) und Persönlichkeitssystem (mit den kognitiven, kathektischen und evaluativen Orientierungen) wiederkehrte. Diese kurze Skizze macht anschaulich, und darauf kam es uns an, dass vieles in der heutigen Diskussion aus Sinnmotiven lebt, die sehr weit zurückliegen, und dass der heutige Rationalismus, wie er uns im ökonomischen und politischen Denken entgegentritt, oft nicht so rational ist, wie er sich gibt. 46

Kapitel 3

$IEÖ2CKHOLUNGÖDESÖ!LTERSÖINÖDIEÖ ÖGESELLSCHAFTLICHEÖ6ERWERTUNG

Der »wohlverdiente Ruhestand« ist tot. Das Ideal des im Alter der Arbeit enthobenen Konsumenten, der einzig noch zum »einspringenden familiären Gelegenheitsarbeiter« (Schelsky ) herangezogen wird, wobei die Großelternschaft als normativ eingeplanter Erziehungsträger das Kernstück markiert, wird systematisch zertrümmert. Wir sollen von vielen den Menschen lieb gewordenen Vorstellungen Abschied nehmen, wie z. B. jener, dass ein Erwerbsleben lang gearbeitet zu haben Rechte einräume, gar ein Recht darauf, ausruhen zu dürfen. Ein neues Regime hat unsere Lebensverwendung in die Hand genommen. Das Alter wird, nach einer relativ kurzen Phase der »Freiheit«, zurückgeholt in eine umfassende Strategie der Verwertung des Menschen. Das über Jahrzehnte von vielen geteilte Bedürfnis nach Funktionsentlastung nach der Erwerbsarbeit, zum Leitmotiv geronnen in der Idylle des gesicherten und beschaulichen Alters, soll aufgegeben werden. Dasselbe trifft auf das parallel entwickelte Ideal einer von Arbeit befreiten Altersphase zu, die von einer kollektiv verantworteten materiellen Absicherung getragen ist. Das Gegenmodell beklagt die nicht mehr länger tragbare Kostenlast durch die nicht mehr tätigen Älteren und preist als Alternative umfassende Aktivierung und Übernahme individueller Verantwortung an. An dieser Vorstellung arbeiten Nationalregierungen und internationale Organisationen ebenso wie die Programmpamphletisten eines neoliberalen Weltkatheders und die Heere jener, die deren Parolen gedankenlos nachbeten.

3.1 Hegemoniale Tendenzen der Aktivierungslehre Doch das oben erwähnte Programm einer aktiven Sozialpolitik blieb nicht auf die Arbeitswelt und den Wohlfahrtsstaat beschränkt. Es hat inzwischen viele politische und gesellschaftliche Bereiche durchdrungen, und es hat in seiner Funktion als gut etabliertes Schibboleth eine bemerkenswerte Karriere absolviert. Die Lehre vom Segen bringenden Aktivsein wurde in die Alterns-, die Sicherungsund die Gesundheitspolitik integriert. OECD, EU und WHO (World Health 47

Die Rückholung des Alters in die gesellschaftliche Verwertung

Organization) sorgten, innerhalb ihrer je spezifischen Verantwortlichkeiten, für eine flächendeckende Verbreitung der Idee, dass es nur genügender Aktivität und Selbstverantwortung, natürlich der einzelnen Menschen, bedürfe, damit sich alles zum Besseren wende. Das gilt für die Idee des »active aging« ganz ebenso wie für jene des »flexiblen Arbeitskraftunternehmers«. In diesem Kontext ist die Tatsache zu sehen, dass z. B. auch die gegenwärtige Programmatik der Gesundheitsförderung, wie sie von der WHO initiiert worden ist, den Aktivitätsgedanken ins Zentrum rückt – selbstverständlich primär als Aktivitätsauftrag an die Individuen, eine Vorstellung, die von den verschiedensten Lobbygruppen sofort mit allen möglichen Parallelstrategien verbunden wurde wie Weiterbildung, vor allem im Gewand des lebensbegleitenden Lernens, individuelle Eigenvorsorge, kollektives Sozialengagement etc. Die politisch fragwürdige Idee ist noch in Erinnerung, nach der die öffentliche Hand durch ehrenamtliche Tätigkeit entlastet werden sollte, wobei der Staat, der dadurch seine einmal in Selbstverpflichtung übernommenen Aufgaben einschränken wollte, sich zugleich natürlich die Kontrolle über diese freiwillige Arbeit zu sichern trachtete. Dass gesunde Menschen, die aus dem Erwerbsleben bereits ausgeschieden sind, zu einem »Sozialjahr« verpflichtet werden sollten, ist als gedanklicher Hüftschuss – sie sollten unter anderem, zusammen mit Arbeitslosen, in Parks Unrat der Wegwerfgesellschaft sammeln – schon Anfang der Neunzigerjahre des . Jahrhunderts aufgetaucht. Zu der Vorstellung einer aktiven und aktivierten Gesellschaft, die zunehmend immer mehr Bereiche durchdringt, hat sich überdies eine zweite Tendenz gesellt : die rigorose Individualisierung struktureller Risiken und Widersprüche (Amann a : f.). Das mit der Ökonomisierung des Arbeitsbegriffs im . Jahrhundert parallel entstandene Leistungsprinzip hat sich völlig verwandelt und ist zum Exkulpationsinstrument für alles strukturell bedingte Versagen geworden, mit dem sich Arbeitgeber, Arbeitsmarktservice, Politik, Gesundheitseinrichtungen und Bildungssysteme inzwischen gefahrlos aus jeder Schlinge ziehen können. Ob jemand aufgrund produktivitätsfeindlicher Arbeitsbedingungen ein Arbeitssoll nicht erfüllen kann, trotz mühevollen Suchens keine Arbeitsstelle findet, zuwenig verdient, um Gesundheitsleistungen finanzieren zu können, oder eine pädagogisch misslungene Schulungsmaßnahme erfolglos über sich ergehen lassen muss – immer ist der Grund die mangelnde Leistung oder der fehlende Leistungswille des Individuums. Es ist dies jenes Phänomen, das wir im ersten Kapitel mit der Formulierung umschrieben haben, dass sich öffentliche Institutionen die mit dem Prozess der Individualisierung verbundene Ideologie zunutze gemacht haben, um Verantwortung abzuwälzen, die sie einmal selbst übernommen hatten. Fast im Selbstlauf hat sich dabei der Gedanke des Gesundheitsverhaltens mit jenem der 48

Die Entdeckung der Produktivität des Alters

Leistung verbunden. Schon gibt es politische Überlegungen, Verhaltensweisen, die als gesundheitsgefährdend eingestuft werden, irgendwie zu bestrafen, nicht selten mit dem Hintergedanken verbunden, dadurch im Gesundheitssystem Kosten kompensieren zu können. Es ist diese gezielte Individualisierung aller strukturellen Probleme und Unzulänglichkeiten wohl die moralisch erbärmlichste Form doktrinärer Gewalt (Amann a : ). Mit dieser rigorosen Individualisierung gesellschaftlicher Risiken geht eine eklatante Verantwortungsumkehr Hand in Hand. Stephan Lessenich hat jüngst in einer diskurskritischen Analyse politischer Stellungnahmen und wissenschaftlicher Interpretationen sehr anschaulich herausgearbeitet, dass diese Aktivierungsagenda zugleich einen neuen Verpflichtungsauftrag für jeden Einzelnen produziert, der in die Forderung nach »verantwortlicher Lebensführung« mündet – Verantwortlichkeit für das eigene Tun im Interesse des Kollektivnutzens – und damit die Lebenswelt kolonisiert. Denn : Aktivität kann inzwischen nicht nur beschworen und diskursiv eingefordert, sondern auch herbeigeführt und regulativ erzwungen werden (Lessenich  : ). Aus all diesen Gründen ist der »Bewegung« hegemonialer Charakter zu attestieren.

3.2 Die Entdeckung der Produktivität des Alters Dass das Alter als produktive Phase des Lebens entdeckt und genützt werden müsse, ist eine Nachricht, die von der Politik, aber nicht unabhängig von wissenschaftlicher Expertise, seit Anfang der Neunzigerjahre des . Jahrhunderts verbreitet wird. Sie ist eng an die Überlegungen geknüpft, die mit der aktivierenden Sozialpolitik verbunden sind. Es geht nämlich um die Frage des Profits, der aus dieser Agenda geschlagen werden kann. In ökonomischer Betrachtungsweise lautet die Rechtfertigung folgendermaßen : Es kommt zu Kostenreduktionen durch höhere Effizienz und zu einer Entlastung der nationalen Budgets ; weiters ist höhere Qualität sozialer Dienstleistungen durch Kundenorientierung, Marketing und Qualitätsmanagement garantiert ; schließlich kommt es zu einer Akkumulation des Sozialkapitals durch Aktivierung von »learning and training«, von der ein enormer »impact« für das einzelne Individuum zu erwarten ist, das seinerseits die Voraussetzung funktionierender Märkte ist, eine Strategie »to increase the interest rate of welfare profits«.⁶ Die Topoi Aktivität und Aktivierung haben in der Soziologie des Alters und in den politischen Programmen eines erfolgreichen und gesunden Alterns eine lange Geschichte. Sie wurden, beginnend mit den Sechzigerjahren des . Jahr49

Die Rückholung des Alters in die gesellschaftliche Verwertung

hunderts, erfolgreich etabliert. Ab den späten Achtzigerjahren wurde es offenbar, dass die Trends der Aktivierungsprogramme für die Arbeitswelt und jene für ein erfolgreiches und gesundes Alter zu fusionieren begannen. Es war dies jene Zeit, in der die Vorstellung einer nichtaktiven Altersphase, gestützt und garantiert durch Einkommenssicherheit über die Pensionen und Renten, in ihren Grundfesten begann, erschüttert zu werden. Was nun die Arbeitswelt anbelangt, so begannen damals Regierungen und internationale Organisationen, Programme zu starten, die zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit führen, und gleichzeitig langfristig zu einer Erhöhung der Versicherungsbeiträge und einem Absenken der Leistungsniveaus bei den Pensionen führen sollten. Beide Strategien sollten als Mittel dienen, einerseits die Spannungen im Verteilungskampf zu mildern und andererseits schrittweise die Erwerbsteilnahme der älter werdenden Menschen zu erhöhen. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die nämlichen Experten, die eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Hinaufschrauben sowohl des faktischen Pensionszugangsalters als auch des gesetzlichen Pensionsalters befürworteten, gleichzeitig versuchten nachzuweisen, dass die Arbeitsproduktivität älter werdender Arbeitskräfte unausweichlich abnehme. Dies führte hin bis zu einem »Nachweis« durch die EU-Kommission, dass der demografisch bedingte Zuwachs an älteren Arbeitskräften langfristig die gegenwärtige Gesamtproduktivität der Wirtschaft um die Hälfte absenken werde. Geradezu obszön war der Gedanke, dass die Ursache aller künftigen Probleme der Gesellschaften die wachsende Zahl an Älteren sei. An diesem Punkt wurden nun die neuen Ideen über Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten der Älteren laut. Ein regelrechter Boom setzte ein, um die Potenziale des Alters zu entdecken und zu definieren und um sie als unverzichtbare Notwendigkeit zum kollektiven Nutzen der Gesellschaft zu postulieren. Fast zwangsnotwendig, so scheint es im Rückblick, war dies auch jene Zeit, in der die Diskussion über die Fragwürdigkeit des traditionellen Generationenvertrags heftiger zu werden begann. Am . und . März  startete der damalige Senator für Gesundheit und Soziales in Berlin, Ulf Fink, die Diskussion mit einem Kongress zum Thema »Der Neue Generationenvertrag . Ich für Dich«, dessen Begründung lautete : »Neue sozialpolitische Herausforderungen und Fragen, für die es gängige Lösungen noch nicht gibt, müssen ohne Tabus kontrovers diskutiert werden können. Solche Debatten dürfen nicht ›stromlinienförmig‹ sein« (Fink  : ). Heute haben die Normalitätsvorstellungen über ununterbrochene und erfolgreiche Beschäftigung während des gesamten Arbeitslebens und das Alter als rei50

Die Entdeckung der Produktivität des Alters

nen Konsumstatus ihre damals noch gängige Verbindlichkeit verloren. Das Alter wird unter Gesichtspunkten von Aktivität, Produktivität und Generationengerechtigkeit neu verhandelt, manchmal nicht ohne närrische Argumente wie jenes, dass die Alten auf Kosten der Jungen lebten. Die Folge dieser ganzen Entwicklung kann daher mit Recht als ein Reengagement des Alters angesehen werden. Die Älteren werden heute, und das in geradezu globalem Maßstab, als Bürde betrachtet, am deutlichsten zu sehen in den Positionen der WB (Weltbank), des IMF (International Monetary Fund) und der OECD sowie der EU zum Zusammenhang zwischen Globalisierung und Alter (Amann, Kolland  : ff.; Amann b), und wir erleben eine fast pandemische Suche nach der Verwertbarkeit ihrer Ressourcen und Potenziale. Aus dieser Pandorabüchse quellen allumfassende Aktivierungsstrategien, durch die sowohl die Rolle der Arbeitenden als auch der nicht mehr Arbeitenden restrukturiert und reformuliert wird. Für die Älteren bedeutet dies sowohl eine Verlängerung als auch Transformation von Verpflichtungen in Richtung eines allgemeinen Auftrags zu nützlichen Beiträgen für die Gesellschaft, auch nach dem Erwerbsleben. Erwachsenenalter und höheres Alter sind gemeinsam unter die Prinzipien von Nützlichkeit und Verwertbarkeit geraten. Nach nur wenigen Jahrzehnten eines sozial konstruierten »Disengagement« ist Älterwerden zum Gegenstand einer Konstruktion des Reengagement geworden, basierend auf dem Universalprogramm einer aktivierenden und aktiven Gesellschaft, mit dem die Verpflichtung zu einem nützlichen, produktiven und gesunden Älterwerden in umfassender Weise dem Individuum aufgetragen wird. Nur jene, die einen nützlichen Beitrag leisten, können auch erwarten, als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft angesehen zu werden, die anderen sind eine Last. Die ideologischen Konstrukte, die am häufigsten zum Einsatz kommen, decken sich fast völlig mit jenen, die Verwendung finden, um die Arbeitswelt in ein System individualisierten Wettkampfs im Rahmen struktureller Krisen umzuwandeln, die als individuelles Versagen interpretiert werden.

Nur einen kurzen Augenblick ist in der Geschichte der Marktgesellschaft das Alter ein Status des sozial konstruierten »Disengagement« gewesen. Heute ist Älterwerden der Konstruktion eines Reengagement ausgesetzt, das auf dem Universalprogramm einer aktivierenden und aktiven Gesellschaft beruht, mit der Verpflichtung zu einem nützlichen, produktiven und gesunden Älterwerden. Dieses Ziel wurde in umfassender Weise dem Individuum aufgetragen. Nur jene, die einen nützlichen Beitrag leisten, können auch erwarten, als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft angesehen zu werden, die anderen

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Die Rückholung des Alters in die gesellschaftliche Verwertung

sind eine Last. Tatsächlich sind Marktgesellschaften aber gar nicht in der Lage, allen Aktivitätsfreudigen angemessene und entsprechend entlohnte Tätigkeiten zuzuweisen. In der letzten Zeit waren für die grundlegenden Krisen in den Marktgesellschaften offensichtlich die Älteren der geringere Grund als die prinzipielle Unfähigkeit der Verantwortlichen, komplexe Systeme weltweit zu steuern und die angeblich mangelnde Produktivität der Älteren ein geringeres Übel als die stellenweise sichtbar gewordene apokalyptische Gier nach Reichtum und Macht.

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Kapitel 4

$ASÖ2ESSOURCENPARADOXÖUNDÖ DIEÖ0RODUKTIVIT¦TSFORMEN

4.1 Begriffsklärungen und Vorschläge Von Paradox sprechen wir, weil sich hier zwei Positionen zu widersprechen scheinen. Wäre es ein absoluter Widerspruch, wäre von einer Aporie zu reden. Der scheinbare Widerspruch besteht darin, dass auf der einen Seite heute älteren Menschen aufgrund besserer Bildung und Gesundheit sowie höherer Mobilität im Vergleich zu einer Zeit vor  oder  Jahren mehr und bessere Ressourcen und Kompetenzen attestiert werden, vor allem durch die Wissenschaft, vor allem von den einschlägigen Wissenschaften, doch öffentlich wenig wahrgenommen und gewürdigt, in spezifischen Zusammenhängen sogar bestritten werden. Es wird an ihrer Nützlichkeit und ihrer Produktivität gezweifelt, besonders häufig bei jenen, die noch im Arbeitsleben stehen. Dabei spielen Begriffe wie Ressourcen, Fähigkeiten, Potenziale etc. eine wesentliche Rolle. Von dieser Wahrnehmungsperspektive, die sich ja in den meisten Fällen in den veröffentlichten Meinungen widerspiegelt, ist jene scharf zu unterscheiden, die den privaten, hauptsächlich verwandtschaftlichen Beziehungen zuzurechnen ist. Hier herrscht ein wesentlich differenzierteres und stabileres Bewusstsein über den »Nutzen« der Älteren vor. Die (veröffentlichte) Diskussion über diese Potenziale und Ressourcen des Alter(ns) wurde von der Politik und der Wissenschaft gemeinsam erfunden. Da sie häufig mit Generalisierungen arbeiten – die älteren Arbeitskräfte, die Älteren, die über -Jährigen, die nicht mehr Erwerbstätigen –, bleiben sie in ihren Aussagen höchst abstrakt und deshalb ungenau. Sie erfassen das wirkliche Leben in seiner komplexen Realität nicht. Trotzdem : In nahezu trauter Einigkeit beschwören Politik und Wissenschaft die Notwendigkeit und zugleich Nützlichkeit dessen, was in älter werdenden Menschen an Möglichkeiten steckt und schlummert. Das soll zugunsten der Gemeinschaft gehoben und eingesetzt werden. Ob und unter welchen Bedingungen diese älteren Menschen für wen nützlich sein können und wollen, werden diese selbst kaum gefragt. Damit hat dieser Diskurs auch etwas Doktrinäres an sich (Amann b). Allerdings herrscht eine höchst ungenaue Verwendungsweise der einschlägigen Begriffe vor. Die weiteste Vorstellung, unter die alle Aktivitäten von Men53

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

schen in dieser Diskussion gestellt werden können, ist jene des Beitrags zur Gestaltung und Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben und Entwicklungen. Auch individuelle Entwicklungen und Aufgaben werden hier hinzugerechnet (Amann b : ). Dass hier von »Aufgaben« gesprochen wird, findet auf der Seite der Wissenschaften eine anthropologische und eine entwicklungspsychologische Begründung, auf der politischen Seite will der Gedanke einer Gemeinschaftsverpflichtung dafür gerade stehen. Natürlich gehört in diese politische Denkfigur die Idee des »öffentlichen Nutzens« und der des »Gemeinwohls« sowie jener des »Vorrangs des Gemeinwohls vor dem Eigennutz«, also höchst diskussionsbedürftige und, wie die Geschichte gezeigt hat, auch gefährliche Vorstellungsinhalte. Dabei gilt im Hintergrund dieser Idee, dass Beitragen auch gleichzeitig Teilhabe mit einschließt. Dieser Zusammenhang zwischen Beitrag und Aufgabe wird hier als eine Nutzenstiftung verstanden, die den Adressaten der Tätigkeiten zugute kommt. Auf diese Tatsache wurde bereits hingewiesen. Was von Menschen hier eingebracht wird, ist Produktivität. Da mit diesem Gedanken ein erweiterter Produktivitätsbegriff angesprochen wird, gilt hier eine vorläufige Festlegung : Sie ist der Einsatz und die Verwendung individueller Fähigkeiten und Möglichkeiten, Aufgaben zu erledigen und Lösungen für Probleme zu finden, und zwar im Rahmen jeweils gegebener Bedingungen. Da die Nutzenstiftungen intern und extern sein können, wird zwischen Autoproduktivität und Heteroproduktivität unterschieden. Autoproduktivität wird im Regelfall nicht (direkt) monetär messbar sein, ist aber fast immer der subjektiv erwartbare Nutzen eines Handelns, Heteroproduktivität kann in vielen Fällen in Geldeinheiten ausgedrückt werden, in manchen aber auch nicht (Amann b : /). Es ist dies eine Differenzierung, die wir gegenüber Hans-Peter Tews’ Typologie der Produktivität im Alter vormehmen, die er  vorgelegt hat : 1. Individuelle Produktivität zur zielstrebigen Aufrechterhaltung der eigenen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. 2. Intragenerationelle Produktivität als Austauschbeziehungen innerhalb der Gruppe der Älteren oder innerhalb derselben Generation. 3. Intergenerationelle Produktivität als freiwillige Tätigkeiten für das weitere soziale Umfeld und andere Generationen, schließlich 4. gesellschaftliche Produktivität als die Selbstorganisation der Älteren in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Potenziale sind aktualisierte und latente Möglichkeiten. Sie finden sich aufseiten der Individuen und aufseiten der Gesellschaft. Es wird daher zwischen In54

Begriffsklärungen und Vorschläge

dividualpotenzialen und Strukturpotenzialen unterschieden. Potenziale sind Ressourcen ähnlich. Letztere sind Gegebenheiten und Voraussetzungen, die von den Individuen entweder genützt oder nicht genützt werden. In der Forschung über Lebensqualität ist dies eine geläufige Konzeption. Für ungenutzte Potenziale oder Ressourcen gilt, dass jemand über sie verfügt, aber aufgrund der Rahmenbedingungen nicht nutzen kann ; sie einsetzt (realisiert), diese aber gesellschaftlich nicht anerkannt werden ; viele vorhanden sind, aber gesellschaftlich nicht genutzt werden, und diese vorhanden sind, aber die Menschen zu ihrer Aktualisierung nicht motiviert werden können (wobei dies ein Sonderfall des ersten Umstands ist). Nun ist im Zusammenhang mit der Entwicklung gesellschaftlicher Einrichtungen sowohl wie jener des menschlichen Lebens der Begriff der Gestaltung geläufig. Unter der individuellen Perspektive handelnder Menschen ist in der Soziologie »Lebensführung« am einprägsamsten entwickelt worden (Amann ). Dieser Begriff lässt sich mit der hier analysierten Thematik in unmittelbaren Zusammenhang bringen. Die »methodisch-rationale Lebensführung« (eine ins individuell Lebensdienliche umgesetzte Form der oben besprochenen instrumentellen Vernunft) ist nach Max Weber jener Effekt der Prädestinationslehre (zumal des Calvinismus), die eine religiös motivierte Angst vor der determinierten Ungewissheit über Verdammnis oder Heil erzeugt. Da die Prädestinationslehre den Menschen über seine jenseitige Gnade oder Verdammnis prinzipiell im Unklaren lässt, sucht er nach diesseitigen Hinweisen auf sein künftiges Schicksal. Vor allem in einem fleißigen, Gott wohlgefälligen Leben, das zugleich auch zu Wohlstand führen soll, den äußeren Anzeichen für Auserwähltheit, vermeint er, diese zu finden. Die Angst aber bleibt. Diese wiederum führt zur Konstruktion eines Weltbilds, das die vollkommene Ungewissheit in eine erkennbare Gewissheit transformiert, die eben genannte Form der Lebensführung. Eine methodisch-rationale Lebensführung ist der Schlüssel zur eigenen Gewissheit und zur Überwindung der religiös motivierten Angst. Die Rationalität, die in dieser Lebensführung steckt, ist »Grundsatzrationalität«, die sich an den idées générales orientiert, also im Lichte des religiösen Glaubens die Welt durchsystematisiert und sie dadurch »beherrscht«. Von dieser Position lässt sich heute kaum mehr ausgehen, unbestreitbar scheint uns aber, dass Lebensplan und Lebensführung, wenn auch unter veränderten Voraussetzungen, weiterhin zentral das Handeln begleiten. Die Frage ist, worin diese Voraussetzungen bestehen. Die Antwort lautet : Wir haben es heute nicht mehr mit Grundsatzrationalität, sondern mit »Gelegenheitsrationalität« oder »Gelegenheitsvernunft« zu tun, die sich in selektiver Orientierung an partikularen 55

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

Bezugspunkten wie etwa den konkreten Umständen der jeweiligen Lage äußert – zwecks »Ausnützung der Besonderheit« des Ortes und der Zeit, der Person und sonstiger Umstände, je nach Gelegenheit (»Okkasion«) und Zweckmäßigkeit (»Opportunität«), Gegebenheit (»Situation«) und Möglichkeit (»Chance«), wie das Helmut Spinner im Anschluss an Max Weber genannt hat (Spinner ). Es ist dies eine Alternativauffassung, die absolut nicht als irrational einzustufen, sondern als gelegenheitsrational nach Situation und Dezision zu sehen ist. Für die freiwilligen Tätigkeiten Älterer sind, nach den Ergebnissen internationaler Forschung, die zugrunde liegenden Motive einhellig : zeitliche Befristetheit und Autonomie im Engagement, die Bedingung einer sinnhaften Tätigkeit und der Einsatz persönlicher Fähigkeiten. Im Sinne der genannten »Dezision« ist es die stärkere »Ichzentriertheit«, weshalb solche Aktivitäten unternommen werden (»wenn ich schon etwas mache, dann nach meinen Vorstellungen«). Dieser ganze komplexe Prozess lässt sich vor dem Hintergrund dieses Rationalitätskonzepts analysieren. Der Angelpunkt ist gewissermaßen die »biografische Passung«, das Sich-ineinander-Fügen von Optionen, Möglichkeiten und Zweckmäßigkeiten, das in verschiedenen Phasen des Lebens sich unterschiedlich ausgestaltet und das auf die sich verändernden individuellen und strukturellen Potenziale abgestimmt werden muss. Das Entlassensein aus beruflichen Zwängen, die gewonnene »Freiheit« des Pensionärs im Verfügen über seine Zeit, die gelernte und gewollte Form des Aktivseins schlagen sich in dem Element freiwillige Tätigkeit oder Ehrenamt, aber auch in einer gewissen Freizügigkeit der Lebensgestaltung besonders deutlich nieder. Wenn nun die Begründungslogik beibehalten wird, die der klassischen Konzeption der Lebensführung zugrunde liegt, so muss die weltbildbezogene und deshalb nicht einfache Frage beantwortet werden, was an die Stelle religiös motivierter Angst als veränderte Konstruktion getreten ist und ob es für die idées générales ein alternatives Programm gibt, an dem das eigene Handeln im Sinne einer Lebensführung heute systematisch kontrolliert wird. Wir setzen hier an der »Gelegenheitsrationalität« an und wählen den Begriff der unvollendbaren Moderne⁷ bewusst in Anlehnung an Richard Münch (Münch ). Dabei beziehen wir uns auf seine These, dass Veränderung (ohne Erreichung eines idealisierten Entwicklungszieles) das Grundprinzip der Moderne sei. Das ist eine etwas präzisere Formulierung des heute inflationär verbreiteten Gedankens, dass wir einem ungeheuer schnellen Wandel unterlägen. Diese These lässt sich als Ausgangspunkt für die Frage verwenden, was an die Stelle eines umfassenden religiösen Weltbildes getreten sein mag, in dessen Licht methodisch-rationale Lebensführung als eine angemessene Strategie erschien. Es 56

Begriffsklärungen und Vorschläge

ist die ständige Veränderung des Weltbildes selbst, in der die gesamte Dynamik durch existenzielle Paradoxien gekennzeichnet ist. Zwei der von Richard Münch herausgearbeiteten sind für die hier geführte Diskussion von besonderem Interesse. Die erste ist die Paradoxie des Rationalismus selbst. Die Steigerungsrate an verfügbarer Information, die das Handeln anleiten könnte, führt nicht zu zunehmend rationalen Entscheidungen, sondern zu gesteigerter Unberechenbarkeit. Gerhard Schulze hat dies mit der »Unüberschaubarkeit der Möglichkeiten« bzw. mit der »Erweiterung des Möglichkeitsraumes« durch Steigerung von Angebot, Nachfragekapazität, Zugänglichkeit und Partialisierung gestaltbarer Bereiche beschrieben (Schulze ). Essenziell ist die Tatsache, dass zunehmend jede Handlungsentscheidung, ob beim Güterkauf oder bei der Wahl sozialer Beziehungen, unter diese Paradoxie gerät – das einzige Mittel, das anscheinend zur Verfügung steht, ist Gelegenheitsrationalität, die sich an Situation und Dezision ausrichtet. Man tut, was sich nach Gelegenheit, eigenen Ressourcen, Diktat der Werbung oder Momentanbedürfnissen anbietet. Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass im gesellschaftlichen Zusammenhang ein Wandel in den Relationen zwischen Märkten, Käufern und Diskurs über Markt und Kaufen eingetreten ist, innerhalb dessen diese Paradoxie ihre Signifikanz für hoch entwickelte Gesellschaften (Marktgesellschaften) erst erhält. Am Gesundheitsdiskurs lässt sich dies gut beobachten. Gesundheit ist eine Ware, für deren Herstellung und Erhaltung Marktgesetze gelten, wie für alle Waren : Es muss dafür bezahlt werden. Im professionellen Bereich der Diagnose und Therapie ist dies ja längst anerkannt. Nichts ist an der Gesundheit auf dem Markt so teuer wie die sich ständig erneuernde und verändernde Medizintechnologie, die Monopolstrategien der Pharmaindustrie und die Kosten hoch qualifizierten Personals. Weniger deutlich wird derselbe Sachverhalt gesehen, wenn es um private gesundheitsfördernde Aktivitäten geht. Es gibt kaum einen Bereich zwischen einfachen Laufschuhen und Leibwäsche auf der einen Seite und hoch technisierten, computergesteuerten Fitnesshilfen auf der anderen Seite, der nicht längst vermarktet wäre. Dass auch die noch ihr Geschäft dabei machen, die jenen, welche sich körperlich fit halten wollen, Mittel verkaufen, damit diese wegen der körperlichen Anstrengung dabei nicht zu viel Schweiß absondern (den meisten Menschen sind Schweißflecken auf der Kleidung peinlich), gehört mit zur Logik (Amann a). Solche Phänomene sind leicht zu erklären. In allen modernen Industriestaaten bzw. westlichen Gesellschaften, auf die die Wirtschaftsform des organisierten Kapitalismus zutrifft, lässt sich in den letzten Jahren eine Auffälligkeit beobachten. 57

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

Es entwickelt sich ein Konsumentenverhalten, das nicht in erster Linie an Preisen, sondern an gesellschaftlichen Diskursen über Nützlichkeit, Aktualität, Unschädlichkeit bzw. Gesundheitsdienlichkeit von Waren und Services, also an dauernd sich ändernden Gelegenheiten, orientiert ist. Längst schon sind die Herstellung und der Konsum von Nahrungsmitteln und pharmazeutischen Produkten sowie überhaupt ein generelles »Gesundheitsverhalten« unter das Diktat öffentlicher Willens- und Meinungsbildungsprozesse geraten und aus der individuell-privaten Kalkulation als primärem Entscheidungshorizont hinausgedrängt worden. Keine Abteilung eines Supermarkts arbeitet mit der Gesundheitssymbolik erfolgreicher als jene, in denen Milchprodukte stehen. Diese Phänomene sind nicht anders zu erklären als durch die Tatsache, dass die hoch entwickelte Ökonomie des organisierten Kapitalismus in qualitativ neuer Weise auf die Akzeptanz der Konsumenten angewiesen ist, ein Angewiesensein, das sein politisches Gewicht durch die globale Ausdehnung der neuen Märkte und durch die akzelerierte Verbreitung von Information erhält. Was stimmt an der Rechnung nicht, dass ein gesundheitsbewusstes Volk weniger medizinische Dienste in Anspruch nehmen sollte, die Kosten der Gesundheitssysteme aber in allen Ländern wachsen, ganz egal, wie viel Nordic Walking, Jogging, Work-out etc. betrieben wird (Amann a) ? Die zweite ist die Paradoxie des Individualismus. Die in der Individualisierungsthese postulierte Befreiung vom Zwang geschlossener Gemeinschaften mündet in neue Abhängigkeiten immer größerer Zahlen von Menschen, die diese Abhängigkeiten nicht beeinflussen können. Die unter diesem Wandel allenthalben wahrgenommene Notwendigkeit, neue Beziehungsformen suchen und entwickeln zu müssen, wird von dem Effekt begleitet, dass Menschen immer mehr von den Handlungen Unbekannter abhängig werden – was die aktuelle »Finanzkrise« zur Genüge bewiesen hat. Dieses Phänomen hat Georg Simmel bereits gesehen ; was er noch nicht sehen konnte, sind die Regulierungsprozesse, die durch Staat und Recht in Gang gesetzt, der Abstraktheit dieser Abhängigkeiten erst die heutige Form verleihen konnten. Die Folge ist, dass aus der gesteigerten Wahrnehmung individueller Rechte eine Zunahme der Konkurrenz um Rechte und Zugänge erwächst, die ihrerseits Handlungsunsicherheiten erzeugt – eine Beobachtung, die Ralf Dahrendorf ja bekanntlich in seiner Diagnose des neuen sozialen Konflikts zu der These motiviert hat, dass es heute nicht mehr so sehr um die Erkämpfung von Rechten, sondern um die Sicherung von Zugängen zu Anrechten gehe (Dahrendorf ). Diese Paradoxien illustrieren, weshalb »Gelegenheitsrationalität« als Strategie des Handelns im Zusammenhang der individualisierten Lebensführung unaus58

Begriffsklärungen und Vorschläge

weichlich ist. Die beiden genannten Paradoxien lassen sich allgemein für alle gesellschaftlichen Bereiche, also z. B. auch für den Bereich Alterskonstruktionen, Altersbewertungen und Altersproduktion, bestimmen. Je mehr Platz die diskursiven Versuche der Bestimmung neuer Sozialformen des Alters in der Gesellschaft beanspruchen, desto eher werden Diskrepanzen zwischen traditionellen und neuen Formen offen gelegt. Ein gutes Beispiel sind dafür die äußerst ambivalenten Altersbilder, wie sie den öffentlichen Diskurs prägen. Der ständige Versuch der Orientierung und der Ausrichtung des Handelns an der Vielfalt sichtbar werdender Formen führt zum Handlungsdilemma – Menschen werden in Hinsicht auf die tradierten Formen verunsichert und können sich für andere oder neue nicht problemlos entscheiden (Paradoxie des Handlungsrationalismus). Eine gut sichtbare Form dieser Verunsicherung findet sich in Verhaltensweisen, in denen »das Alter« durch eine Symbolik der »Jugendlichkeit« verdeckt werden soll. Je stärker sich gesellschaftliche Regulierungen wie Rechtsentwicklung, Institutionenbildung, soziale Normierung und Bewertung das Altern erfassen und je mehr Menschen für sich in freier Wahl nach der Logik der Gelegenheitsrationalität diese Regelungen auch in Konkurrenz gegeneinander wahrnehmen, desto mehr entsteht neuer Regelungsbedarf, der die individuellen Handlungsfreiheiten wieder beschränkt, unter Umständen aber auch entlastet. Die sozialen Zwänge nehmen als Effekt der individuellen Handlungsfreiheiten zu (Paradoxie des Individualrationalismus). So sind in den letzten Jahren die individuellen Wahlmöglichkeiten des Konsums auch für die Älteren unwahrscheinlich angewachsen. Als ein Seiteneffekt mischen sich in diese Möglichkeitserweiterungen auch Angebotsstrategien, die der Übervorteilung der Kunden dienen : die berüchtigten »Kaffeefahrten« und »Senioren-Einkaufsreisen«. Als eine neue, eingreifende Regulierung wurde für den Österreichischen Seniorenrat die Möglichkeit einer Sammelklage im Rahmen des Konsumentenschutzes gefunden. Individualisierte Lebensführung im Alter stellt sich damit als Ausdruck von Handlungsstrategien dar, die sich in wechselnden Lebensformen etablieren, wobei die einst möglicherweise vorhanden gewesene Gesamtrationalität des Lebens durch eine an Situationen, Möglichkeiten und befristeten Zweckmäßigkeiten orientierte Gelegenheitsrationalität ersetzt wird. Dieser Art der Rationalität entsprechen zunehmend viele Aktivitäten älterer Menschen, denen sowohl der Charakter der Autoproduktivität als auch der der Heteroproduktivität zugehören. Arbeiten im Ehrenamt, in der Nachbarschaftshilfe, in Pfarren und losen Vereinigungen, die unter einer selbstbestimmten Tätigkeitswahl, autonomen Zeitstrukturierung und dem subjektiv erwarteten Nutzen der Sinnstiftung (subjektive 59

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

Sinnhaftigkeit der Tätigkeit) stehen, können hierunter gerechnet werden (Amann b). Ebenso gilt dies für die an Gelegenheiten orientierte Lebensführung, in der Ortswechsel (»im Winter auf Mallorca, im Sommer an der Ostsee«), Gesundheitskonsum (Wellnessurlaub mehrmals im Jahr), oder Kulturproduktion (Seniorentheater) wesentliche Elemente darstellen. Das ist der Stoff, aus dem die unentdeckten und ungenützten Ressourcen, die Auto- und Heteroproduktivität leben.

Seit eh und je waren Menschen gehalten, einer Lebensführung zu folgen. Früher wurde sie von traditionellen Elementen des gesellschaftlichen Lebens gestaltet. Heute stellt sich eine individualisierte Lebensführung im Alter als Ausdruck von Handlungsstrategien dar, die sich in wechselnden Lebensformen äußern und der Logik einer Gelegenheitsrationalität folgen. Ob der Nutzen von Tätigkeiten autoproduktiv oder heteroproduktiv oder beides ist, hängt aufs Engste mit egozentrierten Entwürfen zusammen. Es gilt dies im Spiegelbild einer an Gelegenheiten orientierten Lebensführung, in der z. B. häufigerer Ortswechsel und Reisen, außengeleiteter Gesundheitskonsum oder Kulturproduktion wesentliche Elemente darstellen. Wie immer nun Potenziale und Ressourcen beschaffen sein mögen, sie lassen sich nur unter Paradoxien realisieren. Je stärker eine individualisierte Lebensführung ausgestaltet wird, desto größer werden Probleme des Wählens und Entscheidens, je rationaler Entscheidungen und Handlungen angelegt werden, desto mehr müssen diese wieder individualisierten Kalkülen folgen, weil allgemein verbindliche, tradierte Richtlinien sich auflösen und die Wahlmöglichkeiten unüberschaubar sind. Wer sich im Kosmetiksalon für jeden Quadratzentimeter Haut einer Vielzahl von Salben, Cremen, Lotionen und Wässerchen von verschiedensten Anbietern gegenübersieht, mag sich in die »Lösung« des Bekenntnisses zu einer Marke retten ; wer Gesundheitssport betreiben will und sich einer Vielzahl von Angeboten gegenübersieht, mag sich der »Lösung« anvertrauen, sich auf empfohlene Trainer oder Trainerinnen zu verlassen – unrettbar wird er dem Diktat der einschlägigen Industrie unterworfen, die sich ihrerseits an dem orientiert, was nachgefragt wird, wodurch die Paletten sich erweitern.

4.2 Autoproduktivität Wie kann das Grundprinzip formuliert werden ? Aus psychologischer Perspektive kann schon die (oft nicht einfache) Anpassung an spezifische Umstände (z. B. Verluste, Lebensereignisse etc.) als produktiv bezeichnet werden (Baltes, Montada ). Dies ist eine bedeutsame Dimension der Produktivität, weil sie den Bereich von Aktivitäten betrifft, der jene individuelle Nutzenstiftung unmittelbar 60

Autoproduktivität

berührt, deren gesellschaftliche Effekte schwer zu erkennen und zu messen sind. Darunter fällt z. B. alles, was zur Aufrechterhaltung der eigenen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit beiträgt. Hier sei noch einmal wiederholt, dass ökonomische Produktionsfunktionen diese Form geistig-psychischer Autonomie nicht erfassen können, diese aber ihrerseits eine Voraussetzung für produktive Tätigkeit ist. Es ist dies die von Hans-Peter Tews so genannte »individuelle Produktivität« (Tews  : ff.). Ihr gesellschaftlicher Effekt liegt u. a. in der Reduktion eigener, vor allem aber gesellschaftlicher Investitionen für die Korrektur oder Linderung von Schädigungen. Klare Hinweise auf die Bedeutung dieser Dimension zeigen Modellrechnungen von Wolfgang Lutz und Sergei Scherbov über die künftige Entwicklung alterskorrelierter Behinderungen. Die Gesamtzahl der Menschen mit Behinderungen (Summe aus mittleren und schweren Behinderungen) in den EU- wird von heute  Millionen auf  Millionen im Jahr  anwachsen. Gelänge es, den Eintritt der Behinderungen auch nur um ein Jahr im Altersmuster nach oben zu verschieben, würde der Zuwachs an Behinderungen halbiert. Eine Verschiebung um drei Jahre würde in Europa zu einem Absinken der Behinderungszahlen trotz rasanter Alterung der Bevölkerungen führen (Lutz, Scherbov  : f.). Die Nutzenstiftung aufseiten der Betroffenen und aufseiten der öffentlichen Kosten lässt sich kaum vorstellen. Dieses Beispiel ist geeignet, eine der wichtigsten Vorstellungen zu kennzeichnen, die mit der gegenwärtigen Produktivitätsdiskussion verbunden wird : Die Arbeit am Erhalt der eigenen Gesundheit (und damit Leistungsfähigkeit) wird als ein Beitrag zur Erhöhung der eigenen Lebensqualität, zur Reduktion von Kosten im Gesundheitssystem und eine Art Garant für die Einsetzbarkeit auch älterer Menschen für die Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben gesehen. Wir wollen uns diesen Gedanken einmal etwas genauer ansehen. Unzweifelhaft ist die Arbeit an sich selbst, die hier insinuiert wird, ein Mittel, um Wohlbefinden, Autonomie und möglicherweise auch Glück zu vermehren. Solche Zustände können auch als Ziele individuellen Strebens verstanden werden und stellen sich letztlich als Zustände dar, nach denen es Menschen wohl immer verlangt hat. Was diese Vorstellung aber unausweichlich an das Gesellschaftliche knüpft, ist die Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der solche Zustände unabhängig vom Leistungsdenken nicht mehr gesehen werden können. Leistung gehört zum Gesundheitsbegriff so unauflösbar wie Einsatz zu Produktivität. Gesundheit ist überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff. Gesundheit bewahren oder sie wiederherstellen heißt in Wahrheit, den Menschen in einen Zustand zu bringen, der in einer gegebenen Gesellschaft der jeweils anerkannte ist, ja in dieser Gesellschaft erst ausgebildet wurde. Die »Ziele« werden von der 61

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

Gesellschaft als »Norm« gesetzt. Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Voraussetzung für Erwerbsfähigkeit und Konsumfähigkeit, bei den alten Griechen war sie Genussfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit. Wer krank war, konnte der Norm nach ebenso wenig des reinen Genusses fähig sein wie von Sünde frei. Deshalb findet sich auch heute in der Gesundheitsdiskussion kaum die Vorstellung des Genusses und der Freude, wohl aber die der Gesundheit als Mittel für etwas. Gesundheit wird, auch im Altersdiskurs, ganz unabhängig von hedonistischen Motiven, für Leistung und Kostenersparnis instrumentalisiert. Nicht selten ist dann bei den Proponenten der Gesundheitsförderung die Argumentation von einem gewissen missionarischen Eifer getragen, wobei die Logik der Begründungen eine Form annimmt, die mit Verweis auf einen Satz von Alexander Lernet-Holenia (»Die vertauschten Briefe«) zu kennzeichnen ist : »Er gab seine Funken sozusagen auf Grund einer Reihe fortwährender intellektueller Kurzschlüsse von sich.« Autoproduktivität ist an Selbstständigkeit im Alter und an die Erhaltung der psychischen Stabilität auch in Grenzsituationen gebunden. Unter dieser Perspektive rücken zunehmend jene Menschen ins Blickfeld, die zu den Hilfeund Betreuungsbedürftigen gezählt werden. Ihre Zahl steigt kontinuierlich, bei ihnen ist die Optimierung autoproduktiver Ressourcen beeinträchtigt. Andreas Kruse und Ursula Lehr berichten, dass bei gesundheitlich stark belasteten Menschen ein Potenzial zur Verarbeitung dieser Belastungen zwar vorhanden sei, das allerdings nur dann aktiviert werden könne, wenn die soziale Umwelt unterstützend und fördernd handle. Weiters bestehe bei diesen Menschen ein Bedarf an psychologischer Betreuung, die frühzeitig einsetzen müsse. Eine derartige Intervention würde die Zahl jener Menschen, bei denen eine gefährdete Kompensation oder eine Überforderung sowie ein Zusammenbruch psychischer Ressourcen gegeben sei, vermutlich wesentlich verringern können (Kruse, Lehr  : ).

Autoproduktivität ist ein Begriff, der die Effekte von Tätigkeiten auf die tätige Person selbst lenkt. Diese Perspektive steht konträr zu der Sichtweise, dass Tätigkeiten etwas hervorbringen, das zu Marktpreisen mit anderen getauscht werden kann. Sie ist eine Nutzenstiftung, die geistig, psychisch und physisch ihren Niederschlag in der Person finden kann und soll. Und nur als indirekte sind die Wirkungen für andere zu bestimmen. Bessere Gesundheit, höhere Kompetenzen, erweiterte Ressourcen, das alles kann zugunsten der anderen wirken, der primäre Bezugspunkt aber bleibt das tätige Subjekt. Dass ein nicht ökonomistisch verkürztes Menschenbild hier auch hedonistische und Er-

62

Heteroproduktivität

füllungsmotive zentral ansetzt, ist selbstverständlich. Der Mensch darf sich auch selbst Zweck sein.

4.3 Heteroproduktivität Dieser Begriff wird in der Literatur üblicherweise mit »Produktivität« gleichgesetzt. Er stammt aus den USA, steht im Kontext der weit gefächerten Auseinandersetzungen über die Idee des »produktiven Alterns« und wird in normativen Diskussionen vor allem eingesetzt, um einer dominanten Typisierung der Älteren als Konsumenten des Sozialstaats entgegenzuwirken. Die Kontroversen über »intergenerationelle Gerechtigkeit« (Bass, Francis, Chen ) haben hier sehr unterschiedliche Positionen hervorgebracht, die allerdings nicht selten ideologische Begründungen an die Stelle empirischer Analysen rücken. In soziologisch orientierten empirischen Analysen dominieren als produktive Tätigkeiten jene, die Nutzen für andere Personen stiften (der im Prinzip auch ökonomisch fassbar ist, allerdings z. T. mit erheblichen Schwierigkeiten). Die komplexen indirekten Effekte auf die soziale Umwelt kognitiver, emotionaler und motivationaler Art werden meist vernachlässigt. Ursula Staudinger hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass auch Tätigkeiten wie ein Hobby zu betreiben, zu allgemeinem Wohlbefinden und der Entwicklung von »Expertenwissen« beitragen können und einen »psychologisch produktiven Kontext für andere Menschen« zu bilden vermögen (Staudinger  : ). Gegenstand subtilerer Operationalisierungen sind sie bisher noch nicht geworden, der Gedanke aber entspricht exakt jenem, den wir oben im Zusammenhang mit der Autoproduktivität formuliert haben. Die üblichen Dimensionen »produktiver« Tätigkeit sind meist folgende : Erwerbstätigkeit ; Freiwilligenarbeit bzw. ehrenamtliches Engagement (mit und ohne Anbindung an Vereine und Verbände) ; Kinder- und Enkelbetreuung ; Pflegetätigkeit und Unterstützungsleistungen finanzieller und instrumenteller Art, meist an Jüngere.⁸ Rezente Analysen, die ein relativ hohes Engagement, ein breites Unterstützungsspektrum und intensive Hilfeaufwendungen durch die Älteren nachweisen, stammen z. B. aus dem Deutschen Alters-Survey (Künemund ), aus dem Speyerer Werte-Survey oder österreichischen Stichprobenuntersuchungen von Gerhard Majce. In all diesen Untersuchungen zeichnet sich mehr oder weniger deutlich ab, dass diese produktiven Tätigkeiten zumindest unter den - bis -Jährigen im 63

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

Vergleich zu den Jüngeren geringer sind. Es liegt aber ebenso auf der Hand, dass die Opportunitätsstrukturen sich ebenfalls verändern. Um freiwilliges »Disengagement« scheint es sich häufig nicht zu handeln (Künemund  : ).

Heteroproduktivität ist der Nutzenstiftung nach auf andere gerichtet (gebiert in vielen Fällen aber auch positive Wirkungen für die Aktiven selbst). Sie wird von den Älteren, den Ergebnissen der internationalen Forschung zufolge, fast überwiegend in Bereichen erzielt, die nicht nach der Logik von Erwerbsarbeit definiert sind. Gerade darin liegt ihre ungeheure Bedeutung für die Gesellschaft, ohne die sie in der gegebenen Form nicht funktionsfähig wäre. Wer das nicht sehen will, hat ein ernstes Wahrnehmungsproblem.

4.4 Kompetenz und Selbstaufmerksamkeit Zur weiteren Erschließung solcher Zusammenhänge, aus denen Autoproduktivität entstehen mag, sind hilfreiche Orientierungen möglich. Sie sind ableitbar aus Erfahrungen, aus soziologischer und psychologischer Alternsforschung, aus der Philosophie und der Literatur. Zwei Stichworte sind zu nennen : Kompetenz und Selbst-Aufmerksamkeit (Amann ). Kompetenzen sind jene Fähigkeiten, die zu einer an wechselnde Bedingungen anpassbaren Lebensweise führen. In der gerontologischen Forschung gelten auch hier die sogenannten kritischen Lebensereignisse als die besonders markanten Situationen. Auch diese Anpassungen werden in der Psychologie als Aufgaben angesehen, die gelöst werden müssen. Dies wird vor allem für schwierige Lebensereignisse wie Partnerverlust, Krankheit etc. geltend gemacht. In einem tieferen Sinn gilt dies natürlich generell für die Entwicklung im Alter. Entgegen der veralteten, aus der psychoanalytischen Theorie stammenden Vorstellung, dass die wesentlichen Entwicklungen im Kindes- und Jugendalter vor sich gingen, während das Alter gewissermaßen ein starres Schema biete, wird heute von der Plastizität, also der vielfältigen Formbarkeit des Alters, mit Nachdruck gesprochen. Zudem gehört heute zu den weitgehend unbestrittenen Befunden, dass altersbedingten funktionellen Einbußen durch psychophysisches Training weitgehend entgegengewirkt werden kann. Überdies senkt die Verminderung von Gesundheitsrisiken (z. B. Nikotinverzicht und Vermeidung von Übergewicht) die Erkrankungswahrscheinlichkeit, und das selbst dann, wenn eine entsprechende Veränderung des Gesundheitsverhaltens erst im höheren Lebensalter beginnt. Sicherlich gehören zu den wichtigen Umständen folgende : soziale Beziehungen, in denen 64

Kompetenz und Selbstaufmerksamkeit

soziale Anerkennung erfahren wird, selbstgewählte Lebensführung, Vermeiden von Rückzug und unbalanciertem Austausch. Wer immer nur gibt und gibt und gibt, wird unvermeidlich unzufrieden. Sich mit neuen Aufgaben erfolgreich auseinandersetzen zu können, aus Konflikten lernen zu können, auf seinen Partner oder seine Partnerin eingehen zu können, auch in schwierigen Situationen, ist Ausdruck von Kompetenz. Frauen und Männer, denen es in ihrer Partnerschaft gelingt, nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben neue Ziele und ein harmonisches Miteinander in einer neuen Situation zu entwickeln, zeigen damit ein sehr hohes geistiges und seelisches Vermögen. Kompetent fühlen sich jene Alten, die anerkannt sind, weil sie wichtige und sinnvolle Rollen ausfüllen, die ihre Umgebung kontrollieren können, über eine geeignete Selbstdarstellung verfügen und aufgeschlossen sind. Inkompetent fühlt sich, wer in der Kommunikation laufend mit Fehlerwartungen konfrontiert ist, zu Selbstenthüllungen und der Wiederholung des Immer-Gleichen neigt und damit anderen auf die Nerven geht. Vielen von uns sind die Männer in Erinnerung, die unentwegt vom Krieg gesprochen haben, der doch schon weit zurücklag. Sie langweilten durch die sattsam bekannten Geschichten, man wollte sie nicht mehr hören. Dass sie häufig nicht anders konnten, dass es wenig probate Bewältigungsversuche für verheerende Erlebnisse waren, wurde schon seltener gesehen. In der häufig besprochenen »Vergangenheitsbewältigung«, die von so vielen nachdrücklich abgelehnt wird, ist diese Seite überhaupt zu kurz gekommen. Nachdenken über das eigene Älterwerden erfordert die Entwicklung klarer Vorstellungen über das eigene Selbst, und die werden über soziale Beziehungen und das eigene Verhalten gestaltet. Ohne das Herausfinden der tieferen Gründe unseres Verhaltens gelingt es nie (Amann ). Selbst-Aufmerksamkeit bedeutet, ein Augenmerk auf den eigenen Lebenslauf zu haben und beiläufige, nicht zielgerichtete Entwicklungen zu vermeiden – »Lebensführung« ist ein gutes Wort dafür. »Es ist einfach so gekommen«, kann häufig gehört werden, besonders in schlechten Lagen, und »ich hätte alles anders machen müssen« ist die verspätete Einsicht. Nicht umsonst wird in der Forschung von »lebenslauforientierten Entwürfen« gesprochen. Besonders angesichts eines langen Lebens wird ein »Dahinleben« unsinnig. Das hat nichts mit dauernder Selbstkontrolle zu tun oder mit unkreativer, langweiliger Regelbefolgung. Die richtige Einschätzung eigener Fähigkeiten und Eigenschaften hat dabei einen entscheidenden Einfluss. Nachdenken über die eigenen Ziele und Wünsche, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen ist hier wichtig. Erfolgreiches Altern steht in engem Zusammenhang mit gedanklich vorweggenommenen Plänen und Aktivitäten. Diese Antizipation ist eine wichtige Voraussetzung. Die verbreiteten Vorhersagen, wenn dann die Pension erreicht sei, würden Bücher gelesen, Spra65

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

chen erlernt oder ein Instrument gespielt, alles Tätigkeiten, zu denen vorher die Zeit zu knapp war, haben sich noch selten bewahrheitet. Das Alter, und vor allem das hohe Alter, ist auch eine Phase der Verluste und Gewinne, der Umbrüche und Neubeginne. Die Bereitschaft, diesen Veränderungen produktiv zu folgen, ist davon abhängig, wie sehr die jeweilige Person das Gefühl der Eigenkompetenz und der Selbstwirksamkeit hat, wie viel Aufmerksamkeit dem eigenen Selbst gewidmet wird, wie die Selbsteinschätzung im Vergleich zu Bezugsgruppen ausfällt. Für viele ist der Tod oder eine schwere Krankheit eines geliebten Menschen eine Katastrophe, die kaum zu bewältigen ist. Den meisten von uns ist die Fähigkeit, solche Schicksalsschläge aus tiefer, religiöser Gläubigkeit zu akzeptieren, verloren gegangen. Umso mehr sind wir gefordert, uns damit aus Einsichten in unser eigenes Leben und dessen Veränderbarkeit auseinanderzusetzen (Amann ). Weitere Präzisierungen sind hier vonnöten. Anzufangen ist bei dem schon erwähnten Begriff der Kompetenz. Er steht in enger Verbindung mit Potenzial. Die erste Voraussetzung lautet : Potenziale verändern sich und müssen in der Entwicklung der alternden Menschen in ihren sozialen Beziehungen gesehen werden. Was jemand im Beruf an Kompetenzen ausgebildet hat, reicht nicht notwendigerweise schon aus, um ein gedeihliches häusliches und auch außerhäusiges Leben einzurichten, wenn beide Partner aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Es tun sich Widersprüche auf. Der Grund dafür ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen persönlichem Altern und gesellschaftlichen Strukturen. Besonders deutlich wird dies am Arbeits- und Leistungsbezug. Die Arbeitsgesellschaft setzt ein Funktionieren voraus, gemessen an überhöhten Normalitätskriterien. Was die Älteren anbelangt, so werden Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Bürokratie in den meisten modernen Staaten jenen Menschen nicht gerecht, die ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter nutzen wollen. Jene, die in diesen Fähigkeiten beschnitten sind (Veränderungen), schicken sie in die Versorgung, grenzen sie aus oder stigmatisieren sie als weniger brauchbar. Auch unsere Gesundheits- und Sozialsysteme unterstützen hochbetagte Menschen zu wenig oder gar nicht, die trotz teilweiser Einschränkungen unabhängig bleiben wollen (Amann b : ). Dieses Paradox zwischen persönlichem Altern und gesellschaftlicher Struktur wird am deutlichsten, wenn man die folgende Überlegung einmal genauer betrachtet : Unter den gegebenen Bedingungen muss eine spezifische Art der Leistungsfähigkeit im früheren Leben gelernt werden, um aber dann dem gesellschaftlichen Altersbild zu entsprechen, muss sie im Alter gezielt verlernt werden. Potenziale sind häufig unausgenützte und unausgeschöpfte Bedingungen für ein erfülltes, zufriedenes und sinnvolles Leben, auch unter Einschränkungen durch das Altwerden und durch Krankheit. Zur Ausnützung solcher unausge66

Kompetenz und Selbstaufmerksamkeit

schöpfter Bedingungen gehören die Stärkung und Schaffung günstiger Personund Umweltfaktoren. Dazu zählt vor allem der Gedanke des »dosierten Stresses«. Zu geringe Anforderungen durch die Umwelt führen zu Lethargie und Rückzug, überhöhte Anforderungen führen zu Belastungs- und Druckerlebnissen. Die viel gepriesene freiwillige, oder ehrenamtliche Arbeit, welche die Alten in der Gesellschaft leisten, ist ein schöner Anwendungsfall. Menschen gehen solchen Tätigkeiten nur dann über längere Zeit und regelmäßig nach, wir haben bereits darauf hingewiesen, wenn sie für sie selbst sinnvoll sind, wenn sie sich die Zeit selbst einteilen können und wenn die Anforderungen ihren Vorstellungen entsprechen. Das Ehrenamt zu einer entlastenden Säule für professionelle Arbeit zu machen, was im Pflegebereich zunehmend versucht wird, ist ein Vorhaben, das immer wieder zum Scheitern verurteilt sein wird. Wie bedeutsam solche Überlegungen sind, lässt sich ja gerade am professionellen Pflegebereich ablesen. In Gesetzen (z. B. »Bundessozialhilfegesetz« in Deutschland oder »Sozialhilfegesetze« der Bundesländer in Österreich), in politischen Willenserklärungen oder in wissenschaftlichen Analysen werden Grundsätze zur Gestaltung des Angebots an Altenhilfe aufgestellt. Werden diese auf einen möglichen gemeinsamen Nenner hin betrachtet, so könnte er am ehesten in der Forderung nach der Erhaltung, Verbesserung oder Wiedergewinnung von Kompetenz im Alter gefunden werden. Zweifellos ist genau dies auch das Anliegen der meisten Menschen (Amann b : ). Nun besteht allerdings die größte Schwierigkeit darin, Kompetenzen begrifflich korrekt zu fassen. Am ehesten sind Auffassungen geläufig, die von einem Vermögen, einer Fähigkeit ausgehen, also von einem primär ans Individuum gebundenen Potenzial. Entweder kann jemand oder eben nicht. Wir sind schnell geneigt, jemanden als einen guten Koch oder eine gute Erzählerin anzusehen, ganz im Sinn individueller Fähigkeiten. Doch ohne jemand, der das Essen wertschätzt und es lobt, ohne jemand, der zuhören kann, wird aus solchen Fähigkeiten kein Erfolg entspringen. Ohne den Bezug zur Umwelt führt der Gedanke einer Fähigkeit, die ausschließlich an der einzelnen Person hängt, unweigerlich dazu, dass Kompetenz in Vorstellungen von Leistung und Effizienz mündet. Solche Überlegungen verfehlen bereits im Ansatz den Gedanken eines unauflöslichen Zusammenhangs zwischen äußeren Bedingungen und subjektiver Verarbeitung. Kompetenz lässt sich also als absolute überhaupt nicht bestimmen. Sie ist ein Begriff, der eine Beziehung bezeichnet, in der subjektives Können und äußere Bedingungen aufeinander verwiesen sind. Damit ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Die erste weist auf die Tatsache, dass Verhaltenspotenziale und ihre Veränderungen in der Biografie nicht aus der Wirkung einzelner Faktoren (z. B. sozialer), sondern nur aus dem Zusammenspiel sozialer, psychischer, ökologischer 67

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

etc. Einflussgrößen zu erklären sind. Die zweite unterstreicht, dass dieses Verhältnis zwischen Handeln einerseits und Umfeld andererseits immer als prozesshaft verstanden werden muss. Dahinter steht die Idee, dass zur Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung von Kompetenz stets persönliche wie auch situative Faktoren und deren gegenseitige Vermittlung zu beachten sind, wobei ausdrücklich die Besonderheiten der Anpassungsnotwendigkeiten im Alter im Vordergrund stehen (Amann b : ). Diese durch Forschung gestützten Überlegungen sind ein wichtiger Ansatz für die bei jedem Menschen nötigen Regulierungen zwischen eigenen und äußeren Bedingungen. Regulierung ist die Fähigkeit des Menschen, produktiv auf Veränderungen zu reagieren, und zwar in aktiven Prozessen. Unerheblich gewordene Rollen werden an die Peripherie der Bedeutsamkeit gerückt, altersrelevante soziale Anforderungen werden mit Aufmerksamkeit bedacht, Prioritäten werden neu festgelegt, Bindungen und Engagement wandeln sich. Wenn ein Mann jahrelang nach der Pensionierung immer noch von den Zeiten redet, in denen der Beruf alles abverlangte, welche Heldentaten da vollbracht wurden, dann ist etwas danebengegangen. Wenn eine Frau immer nur von ihren Kindern redet, als sie noch klein waren, vor einer Zeit vor dreißig Jahren, gilt dies ebenfalls. Das Leben überhaupt, und insbesondere das Leben im Alter, ist stets ein enges Geflecht von eigenen Bemühungen und Widerfahrnissen, von eigener Zielsetzung und äußerem Zwang. Wo Älterwerden Verzicht darstellt, ist es allein aus humanitären Gründen äußerst bedenklich, die alten Menschen unter den gleichen Erfolgszwang zu stellen wie etwa einen Stellenbewerber oder Leistungssportler, dessen Grenzen man glaubt testen zu müssen. Viele scheuen vor solchen Anforderungen zurück, viele glauben, dass die Alten gar nicht fähig seien, sich auf Neues einzustellen, Neues zu beginnen. Womit wir wieder bei den Vorurteilen wären. Dagegen gilt : Dinge entstehen dadurch, dass man sie zugibt, also formuliert, malt, tut ; wenn man sie nicht zugibt, entschwinden sie ins Wesenlose. Was wir nicht tun, ist nicht da. Das Wort Thomas Manns, dass die Vergangenheit verloren sei, wenn sie nicht im Werk aufgehoben ist, kann aufs Alltägliche übertragen werden. Das Leben ist das Werk und kann als solches angesehen werden. Nicht nur in einem Roman oder Gemälde sind das Erinnerte und sein Wert gegenwärtig. Dasselbe gilt für jedes Leben mit Mühen und Plagen, Erfolgen und Verlusten, Siegen und Niederlagen (Amann ).

Kompetenz und Selbstaufmerksamkeit sind Strategien, um einem »Dahinleben« entgegenzuwirken, das im Alter fast unweigerlich zu Ausfällen, Verflachungen, Rückzug, Ver-

68

Erfahrungswissen nützen

engung der Lebenskreise und Zielarmut führt. Sie sind Mittel, um dem den Weg zu bereiten, was für sinnvolle (und nicht von außen oktroyierte) Aktivitäten eine notwendige Voraussetzung darstellt. Die Vielfalt der Bedingungen und Einflüsse, die auf den Menschen zukommen, machen Regulierung nötig. Dafür ist allerdings ein Mindestmaß an Autonomie und Selbstbestimmung nötig. Dass Älterwerden mit Verlusten und Neuanfängen verbunden ist, ist unbestreitbar. Weshalb, so muss gefragt werden, wird in den Diskussionen über Aktivität und Produktivität dieser Tatsache so wenig Rechnung getragen ? Welche Vernunft, so muss gefragt werden, herrscht in jenen Köpfen, in denen alles, was geschieht, dem Urteil unterworfen wird, ob es dazu geeignet sei, wirtschaftliche Produktion zu erhöhen ?

4.5 Erfahrungswissen nützen Wenn die strukturellen und die individuellen Potenziale entfaltet werden sollen, die mit dem Erfahrungswissen Älterer zusammenhängen, bedarf es zuvorderst einmal des Umdenkens : Dass die Weitergabe solchen Wissens für die Gesellschaft wertvoll sei, eine von einigen Gerontologen vertretene These, hat bisher hauptsächlich Zweifel ausgelöst. Das Gegenargument lautet meist, dass in einer sich schnell wandelnden, dynamischen Gesellschaft, in der Wissen ohnehin anders dokumentiert werde und digital schnell abrufbar sei, die Aktualität und Bedeutung von Erfahrungswissen infrage stehe. Gerade die »persönliche Weitergabe« wird in ihrer Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit bezweifelt. In dieser Konstellation ist nach unserer Einschätzung ein geradezu prototypischer Fall für den Zusammenhang zwischen vorhandenen individuellen Potenzialen und gesellschaftlichem Nichterkennen und Nichtanerkennen gegeben. Diese gesellschaftliche Fehleinschätzung hängt stark mit einem Lernbegriff zusammen, der abstrakt gefasst ist und die Weitergabe von Wissen mechanistisch versteht. Er steht in Gegensatz zu einem interaktiv gedachten und sozial vermittelten Begriff von Lernen, in dem die persönliche Auseinandersetzung, die kognitive, emotionale und psychische Beteiligung am Prozess den Kern von Lernen darstellen (Amann b : ). Dass die erwähnten Zweifel, die ja sehr weit verbreitet sind, ausgeräumt werden müssen, zeigen Ergebnisse der Berufsforschung, der Organisationspsychologie, der Berufspädagogik und der Managementlehre. Hier stellt sich berufliches und praktisches, aber auch alltägliches Erfahrungswissen als ein zentraler Bestandteil beruflicher Kompetenzen dar (Mandl, Reinmann-Rothmeier  ; 69

Das Ressourcenparadox und die Produktivitätsformen

Staudinger  ; Wolff, Spieß, Mohr  ; Zeman ). Mit Bezug auf einschlägige Befunde lässt sich die These vertreten, dass unter Hightech-Bedingungen und fortschreitender Digitalisierung Erfahrungswissen steigende Bedeutung erhält, weil gerade dieses es möglich macht, aus der wachsenden Fülle an Daten und Informationen das Wichtige pragmatisch zu erkennen und auszuwählen, also zu einem Instrument der Komplexitätsreduktion zu werden (Amann b : ). Was ist nun unter Erfahrungswissen zu verstehen ? Da »Erfahrung« im Vordergrund steht, scheint uns nicht die Funktionalität dieses Wissens bedeutsam, sondern seine Quellen. Unter dieser Perspektive gibt es erstens einmal das biografische Wissen, das als die Gesamtheit persönlicher Erfahrung in reflektierter Form verallgemeinerbare Bedeutung hat. Zweitens gibt es das situationsgebundene Alltagswissen, das meist sehr milieuspezifisch und tätigkeitsrelevant sein wird. Drittens ließe sich im engeren Sinn das Fachwissen unterscheiden, das jenen Wissensbestand umfasst, der aus der Lösung beruflicher Aufgaben entsteht. Erfahrungswissen hat also einen starken Bezug zur Lebenspraxis (Pragmatik), es ist situationsorientiert (Topik) und es ist implizit (Präreflexivität). Letzteres Charakteristikum ist von besonderer Bedeutung, weil es ein eigenes Phänomen des Erfahrungswissens bezeichnet : Es führt zum Erfolg, ohne dass genau gesagt werden könnte wie, weil die impliziten Anteile (anders als die expliziten, real-logischen) sich nur unter bestimmten Bedingungen verbalisieren lassen. Die impliziten Wissensanteile sind ziemlich exakt jene, die in der Konzeption des »Habitus« bei Pierre Bourdieu die wesentliche Rolle spielen und die allgemeiner von Michael Polanyi analysiert worden sind (Polanyi ). Was eine Neubewertung des Erfahrungswissens rechtfertigt, sind seine spezifischen Formen der Handlungskompetenz und des Lebenswissens. Es steht nicht in Gegensatz zu Expertenwissen, sondern ist eine spezifische, hoch entwickelte Form von Expertenwissen.⁹ Wo könnte es vor allem nutzbar gemacht werden ? Am dringlichsten scheint uns, angesichts der Bewusstseinslage, die in Betrieben und auf den Arbeitsmärkten die Älteren betreffend vorherrscht, eine Realisierung dieses Potenzials in der Arbeitswelt. In den Betrieben wird dort, wo zukunftsorientiert gedacht wird, heute schon versucht, dieser Aufgabe durch ein neues Verständnis von »Wissensmanagement« gerecht zu werden. Hier ist die Drehscheibe für den produktiven Umgang mit dem Erfahrungswissen angesichts des Alterns der Erwerbsbevölkerung zu sehen. Hier geht es um systematische Generierung, Weitergabe an jüngere Betriebsangehörige und um die Integration des vorhandenen Erfahrungswissens in neue Wissensbestände (intergenerationelle Teamarbeit, intergenerationelles Lernen, Beauftragung älterer Arbeitskräfte mit Projekt- und Planungsarbeiten, mit Controlling etc.). Zu den vorrangigen Aufgaben von Betrieben, Verbänden etc. 70

Erfahrungswissen nützen

gehört in der Zukunft, unter der hier diskutierten Perspektive, die systematische und erfolgreiche Gestaltung eines internen Wissensmanagements, das einerseits geeignete Bedingungen für die Weitergabe des Erfahrungswissens auf der zwischenmenschlichen Ebene herstellt und das andererseits brauchbare Strategien einer gezielten Aufbereitung und langfristigen Nutzung von Erfahrungswissen entwickelt (Naegele  :  ; Amann b : ). Jenseits der Arbeitswelt wird das Erfahrungswissen der Älteren zunehmend in jenen politischen Gestaltungsfeldern nachgefragt und wirksam, in denen sozialstaatliche und zivilgesellschaftliche Aufgaben neuer Art anstehen. Einsatz und Weitergabe von Erfahrungswissen sollten keinesfalls durch professionelle oder sozialpolitische »Bevormundung« oder gar durch eine »Verpflichtungsethik« dirigiert werden. Alle Untersuchungen zeigen, dass die aktuelle Motivenlage der Älteren, die tätig werden, so beschaffen ist, dass sie mit solchen »Vorgaben« notwendig in Konflikt geraten muss. Es gilt, wie so oft, die Angebots- und die Nachfrageseite zu bedenken. Jedenfalls zeigt sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten : unterschiedliche Formen intergenerationellen Engagements wie Beratung, Anregung, zeitweilige Begleitung durch Mentoring, Coaching etc. Es existieren für viele Bereiche bereits Erfahrungen mit erfolgreichen Modellen, was fehlt, sind flächenwirksame Entwicklungen (Naegele  :  ; Amann  : ).

Erfahrungswissen setzt sich aus biografischem Wissen, Alltagswissen und Fachwissen zusammen, wobei diese Wissensformen prinzipiell in allen Lebensbereichen ihren Platz haben, in der Arbeitswelt allerdings unter einer spezifischen Nutzungsperspektive stehen, stets aber sollte an diesem Wissen Pragmatik, Topik und Präreflexivität unterschieden werden. Ein hochgradig falsch verstandener Begriff von Erfahrungsweitergabe und Lernen scheint gegenwärtig dazu zu führen, dass das Erfahrungswissen Älterer mit Misstrauen, im schlechteren Fall als unnütz betrachtet wird.

71

Kapitel 5

,EBENSQUALIT¦TÖUNDÖ3OZIALPRODUKTÖDESÖ!LTERS

Eine vordergründige Wachstums- und Produktivitätsideologie hat in den letzten Jahrzehnten die Köpfe völlig verdorben. Es hat eine Prioritätenverschiebung stattgefunden, bei der längst nicht mehr der Gedanke im Vordergrund steht, das zu produzieren, was die Menschen brauchen. Auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Subjekte nimmt die ökonomische Produktion in der Marktwirtschaft wenig Rücksicht, sie orientiert sich an den mit ihrer Hilfe und jener der Werbung künstlich geschaffenen. Es gibt Menschen, die auf einer Berghütte, um die weit und breit kein Milchvieh zu sehen ist, ihre geliebte Buttermilch fordern, diese auch aus Tetrapack akzeptieren, aber aus einer Käseküche flüchten, weil Käse »stinkt«. Das genaue Gegenteil vernünftiger Produktion gilt : Die Wirtschaft muss in jeder Weise unterstützt werden, damit sie bei ständig steigendem Output soviel produzieren kann, wie sie nur irgend imstande ist, auch wenn die Menschen die Dinge nicht mehr wirklich benötigen und diese deshalb »auf Halde liegen« oder nur brauchen, um künstlich erzeugte Bedürfnisse zu befriedigen. An diesem Prinzip ändern auch die gegenwärtig fast weltweiten Rückgänge der Güterproduktion nichts. Um aus dieser Falle herauszukommen, ist ein anderer Bezugspunkt notwendig, auf den hin die Entwicklungen beurteilt werden können. Wir werden zu zeigen versuchen, dass diese Kritik schon vor mehr als dreißig Jahren von einer fundamentalen Position aus geführt wurde und dass es sinnvoll ist, sich die Argumente in Erinnerung zu rufen. Der Bezugspunkt heißt »Lebensqualität«. Dass die damalige Kritik nicht genügend ernst genommen und vom Machbarkeitswahn übertönt wurde, hat mit Sicherheit zur Entstehung der Situation beigetragen, in der wir uns heute weltweit befinden. Qualität des Lebens. Vieles schwingt da mit. Wohlstand, erfüllte Wünsche, Gesundheit, geordnete Verhältnisse, Erlebnisqualität der Angebote, auch Glück. Lebensqualität ist im Wortsinn auch mehr als Lebensstandard. Nicht nur um das materielle Niveau geht es, das allein wäre zu wenig. Lebensqualität ist geradezu Antithese zu Lebensstandard. Weniger deutlich schon wird gefragt, wer sie herstellen soll, diese Qualität des Lebens. Schafft sie der Markt über das Universaläquivalent Geld ? Manche verkünden es. Schafft sie der Staat über Regulierung ? Manche fordern es. Kann sie aus eigener Kraft erreicht werden ? Die wenigsten glauben es. Eines ist dabei 73

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

nicht zu übersehen : Lebensqualität hat eine eminent politische Dimension. Zumindest im Zuschnitt sozialwissenschaftlicher Forschung schwingt die Frage der Gestaltung der Verhältnisse als eine der sozialpolitischen Aufgaben immer mehr oder weniger deutlich mit. Was nun die Frage danach, was Lebensqualität sei, zunächst erschwert, ist die Tatsache, dass sie von zwei Seiten gesehen werden kann : Man kann sie als objektive, günstigere oder ungünstigere Lage bestimmen, in der sich Menschen befinden, das hängt von Expertise und Urteil ab, oder man kann sie als abgestuften Zustand des psychisch-emotionalen Wohlbefindens, der Zufriedenheit und des Glücks verstehen, dann urteilen die Menschen selbst.

5.1 Dimensionen der Lebensqualität Lebensqualität hat in der Geschichte ihrer Verwendung immer eine politische und eine wissenschaftliche Bedeutung gehabt. Im ersten Fall diente sie meist dazu, als eine Richtlinie gesellschaftspolitischer Entscheidungen zu fungieren, mitunter diente sie als Kampfbegriff. Im zweiten Fall wurde sie zunehmend einer innerwissenschaftlichen Präzisierung und empirischen Bestimmung unterzogen. Methodologien der Lebensqualitätsforschung sind weit entwickelt. Die bisherige Erfahrung lehrt, dass es vor allem im politischen Bereich notwendig ist, klare Ziele zu formulieren, über die dann mit wissenschaftlichen Analysen entschieden werden kann, ob sie erreicht werden oder nicht. 5.1.1 Politische Dimensionen des Begriffs

Die Geschichte des Begriffs, sagt Claus Offe, zeigte am Beginn seiner Karriere einen kühnen politischen Anspruch, der später nie eingelöst wurde. Diese Einschätzung gilt vor allem für die in Deutschland auflebende Diskussion am Anfang der er-Jahre. Inzwischen hat der Begriff sich von einer programmatischen Vorstellung zu einem transdisziplinären Konzept der empirischen Forschung – vor allem in der Psychologie und Soziologie, aber auch in der medizinischen Wissenschaft und in der Pflegewissenschaft – gewandelt. Anfang der Siebzigerjahre begann der Begriff, in Regierungserklärungen (z. B. Regierungserklärung der zweiten sozialliberalen Koalitionsregierung vom .. in Deutschland) und in anderen Stellungnahmen eine Rolle zu spielen. Frisch aus den USA importiert, habe er begonnen, als neuer »Maßstab des Fortschritts der Gesellschaft« (der sozialdemokratische Deutsche Erhard Eppler) zu gelten. Der Maßstab des Fortschritts wurde damals auf eine globale Weise defi74

Dimensionen der Lebensqualität

niert und das neue Kriterium war das der Lebensqualität. In gewisser Weise war das eine Absage an die bisherige Logik des Umgangs mit Bildungs-, Verkehrs-, Wohnungs-, Umwelt-, schlicht : Lebensproblemen, die seit den späten erJahren vor allem auf die Hebung des materiellen Wohlstands gerichtet gewesen war und unter den Fetischworten »Sozialprodukt« und »Lebensstandard« die Köpfe verdarb ; die Herstellung befriedigender Lebensverhältnisse insgesamt war nun Programm und Thema (Claus Offe). Darin lag revolutionäres Potenzial verborgen, denn es ging um nichts weniger als die Antithese zwischen materiellem Lebensstandard und Lebensqualität oder, in anderen Worten : die Antithese zwischen industriellem Wachstum bzw. materiellem Fortschritt einerseits und der Hebung der Qualität des Lebens andererseits. Damals, so wurde behauptet, sagt Claus Offe weiter, war der Konsument schuld an der Verschlechterung der Lebensqualität, denn schließlich wurden Autos massenhaft benutzt (die Ein-Autoeine-Person-Unlogik), massenhaft Müll produziert und Wohlstand individuell maximiert, und zwar auf Kosten der gesamten Gesellschaft. Die politische Umsetzung der kritischen Alternative hieß : Verbesserung der Lebensqualität durch vermehrte Bereitstellung öffentlicher Güter. Das ist ja inzwischen durch massenhafte Privatisierungen unterlaufen worden, die sich dann auch häufig als Schuss ins eigene Knie herausstellten. Lebensqualität war also, zumindest auf der Ebene des politischen Systems, eine brisante Formel (Offe ). Ein Jahr nach dem Erscheinen des Artikels von Claus Offe gab Uwe Schultz () einen Band heraus, in dem sich Autoren wie Carl Amery, Otto Blume oder Klaus Antes und Günther Wallraff noch in der Vorstellung treffen konnten, dass im Konzept Lebensqualität soziale Lage, demokratische Entwicklung und die »Utopie« eines verbesserten Lebens vereinigt werden könnten – zumindest gedanklich, denn die gesellschaftlich-politische Realität sprach damals schon vehement dagegen. Dieser Anspruch ist verloren gegangen und vor allem in den Sozialwissenschaften nicht in die Frage seiner Einlösung umgemünzt worden. Carl Amery allerdings zeichnet in dem genannten Band eine Geschichte des Begriffs der Lebensqualität nach, die noch weitere Facetten eröffnet. Er meint, er dürfte von John K. Galbraith stammen, dem großen Kritiker des Industriesystems in der Nachkriegszeit. Tatsächlich kommt der Begriff Lebensqualität im Register von John K. Galbraiths Buch »Die moderne Industriegesellschaft« (), auf das sich Carl Amery bezieht, nicht vor, wohl aber finden sich in der umfassenden Analyse zahlreiche Argumente für die Auffassung, dass die damals schon klar sichtbare Malaise der »entwickelten« Gesellschaften auf das kontrolliert und auch unkontrolliert ausufernde Industriesystem zurückzuführen sei. An einer einzigen Stelle formuliert John K. Galbraith : »Was zählt, ist nicht die Quantität 75

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

unserer Waren, sondern die Qualität unseres Lebens« (Galbraith , ). Mit der Schlagrichtung seiner Kritik zielt John K. Galbraith auf dasselbe Problem, wie es die Kritiker der freien Marktwirtschaft in den Siebzigerjahren in Deutschland und Österreich versuchten. Das Überraschungsmoment findet sich bei Carl Amery aber darin, dass der Begriff der Lebensqualität von John K. Galbraith auf Jay W. Forrester, den Systemanalytiker, gekommen sei, dessen methodische Überlegungen in die Club of Rome-Studie »Die Grenzen des Wachstums« Eingang fanden (Meadows, Meadows et al. ). »Forrester war es, der nach ›wissenschaftlichen‹ – das heißt nach quantifizierbaren – Indikatoren der Lebensqualität strebte (…) ; von ihm stammt die Aussage, daß unsere quality of life, eben unsere Lebensqualität, im globalen Maßstab etwa seit  sinke« (Amery , ). Die Linie von John K. Galbraith zu Jay W. Forrester führt direkt in die Vorstellung der Sozialindikatoren, in die quantifizierende Messung von Qualität, die ab Ende der Sechzigerjahre als sozialpolitisches Steuerungsinstrument und zugleich als ein eigenes Forschungsprogramm ausgeweitet wurde. Die Konzeption der Lebensqualität, die ursprünglich im politischen Diskurs aus der Entgegensetzung von Ökonomie und Ökologie gelebt hatte, war in ein sozialpolitisches Gestaltungsprogramm mit wissenschaftlicher Berichterstattung umgemünzt worden. Wie das Wort Lebensqualität als Parole nun heute in Szene gesetzt wird, mit Lebensqualität wird alles verbunden, sogar breitere Autobahnen sollen die Lebensqualität heben, steht zu befürchten, dass die ernsten Anliegen, die mit diesem Generalbegriff zu verbinden wären, Schaden nehmen könnten. Werden dem Begriff aber klare Ziele unterlegt, wie das oben bereits argumentiert wurde, dann kann er auch seine Sinnhaftigkeit und seine politische Brisanz wiedergewinnen. Für das von uns konzipierte Vorhaben galt es deshalb, eine politische Perspektive zu entwickeln, die den Begriff der Lebensqualität zu rechtfertigen imstande ist. Der Anspruch, der mit dem Begriff der Lebensqualität verbunden wird, erstreckt sich nun allerdings nicht auf eine Änderung der gesamten Gesellschaft, sondern auf Änderungen und Verbesserungen in der Gesellschaft, und zwar in eingeschränkten bzw. institutionell und rechtlich selbstständigen Politikbereichen. In diesen Segmenten gesellschaftlicher Veränderungen hat die Konzeption von Lebensqualität als Leitlinie einen systematischen, deskriptiv-empirischen und einen normativen Gehalt. Der systematische, deskriptiv-empirische Gehalt wird später entwickelt, der normative soll an dieser Stelle kurz umrissen werden. Der Bezugspunkt aller Überlegungen, zentral für das Konzept der Lebensqualität, wie es hier eingesetzt wird, ist die Frage, wie, auch unter sehr spezifischen und besonderen Bedingungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter etc.) Menschen 76

Dimensionen der Lebensqualität

in einer Weise unterstützt werden können, um ein so weit wie möglich selbstständiges Leben zu führen und frei von außen induzierten Zwängen und Beschränkungen sowie frei von systematischen Benachteiligungen zu sein. Hier sei noch einmal der Satz von Günter Dux in Erinnerung gerufen, dass das zentrale Problem der Marktgesellschaft vom ökonomischen System generiert, vom politischen System aber aufgefangen werden müsse. Das hat nämlich, als Gedanke des sozialen Ausgleichs, mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Das zu leugnen, und manchen geht das heute leicht über die Lippen, hat mit Borniertheit zu tun. Die spezifische bzw. besondere Situation der älteren Bevölkerung ergibt sich aus den in den letzten Jahren entstandenen und veränderten Formen der Vergesellschaftung des Alters. Die politische Dimension liegt in der Tatsache, dass alle Strukturen und Handlungen, die in der politischen Gestaltung von Lebensbedingungen zum Einsatz kommen, letztlich in einer Programmatik verankert sind, die zum Zwecke eines Eingreifens auf rechtlicher Basis legitimiert, institutionell organisiert und durch ethische Handlungsmaximen geleitet sind, auch wenn die politischen Aushandlungsergebnisse diesen Rückbezug nicht immer erkennen lassen. Am Beispiel der Pflegevorsorge lässt sich dies folgendermaßen verdeutlichen. Die für Österreich gültigen Rechtsmaterien wie die Art. a-Vereinbarung nach BVG, die Sozialhilfegesetze, das Bundespflegegeld-Gesetz, die LandespflegegeldGesetze, das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, die Berufsbilder, Qualitätsstandards, Arbeitsplatzbeschreibungen etc. beinhalten die politisch gewollten Rahmenbedingungen. Die unterschiedlich organisierten Formen gezielten und systematischen Arbeitens, des Eingreifens in Situationen (stationäre, ambulante und teilstationäre Versorgung und alle weiteren Formen professioneller Intervention) stellen den institutionalisierten Rahmen dar. Pflegeheime z. B. sind daher eine ganz spezifische historisch gewachsene Ausprägung in dieser Programmatik. Formen, Inhalte und Handlungsweisen innerhalb der rechtlichen und institutionellen Bedingungen sind in Hinsicht auf den obersten Bezugspunkt im Sinne besserer oder schlechterer Lebensqualität beurteilbar.

Das Konzept Lebensqualität ist als Gegenstrategie zu einer Handlungslogik zu verstehen, die ausschließlich auf die Vermehrung von Waren und Geldkapital gerichtet ist, ohne nach den negativen Folgen dieser Akkumulation im ökologischen, sozialen und kulturellen Zusammenhang zu fragen. Politisches Handeln, das auf die Herstellung oder Wahrung von Lebensqualität gerichtet ist, hat mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Während Lebensstandard eine Größe ist, die vornehmlich materiell und damit in nur

77

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

objektiven und quantifizierenden Vorstellungen arbeitet, ist Lebensqualität sowohl ein objektives als auch subjektives Konzept, in dem die Menschen ihre Bedürfnisse und Zufriedenheiten wie Unzufriedenheiten zum Ausdruck bringen können.

5.1.2 Systematische Dimensionen der Lebensqualität

Die wissenschaftlich-systematische Seite der Lebensqualität ist von der politischen nicht zu trennen. Die systematischen Aspekte werden hier mit Bezug auf ein Teilprojekt formuliert, das im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales und Konsumentenschutz in Wien  durchgeführt wurde und dessen zweiter Teil  fertiggestellt werden wird.¹⁰ Es musste eine Basis entwickelt werden, von der aus die Anforderungen an ein sowohl politisches als auch wissenschaftliches Konzept gewahrt werden konnten. Dazu zählen ein Generalziel und die ihm unterzuordnenden Teilzeile sowie ein sozialwissenschaftliches Konzept, das in jenem der Lebensqualität gefunden werden kann. Der allgemeinste Bezugspunkt eines auf Lebensqualität gerichteten politischen Plans und damit der ihm folgenden sozialpolitischen Gestaltungsakte ist die Herstellung, Wahrung oder Hebung der Lebensqualität aller (hier der älteren) Menschen bzw. einzelner Gruppen unter ihnen. Lebensqualität kann anhand objektiver Faktoren ebenso beurteilt werden wie anhand subjektiver (subjektiv wahrgenommene Lebensqualität). Darauf wird später eingegangen. Die folgend genannten Teilziele wurden aus einem vom Österreichischen Seniorenrat erstellten Papier : »Vorschläge des Österreichischen Seniorenrates zu den Inhalten eines Bundesseniorenplans vom : Wien, am . September , einschließlich des -Säulen-Modells ›-Stunden Betreuung langfristig sicherstellen‹ vom . Oktober , einschließlich der Ergänzungen um die eingelangten Stellungnahmen« durch eine qualitative Inhaltsanalyse erschlossen. – Wahrung einer integrativen Perspektive gegenüber zersplitterten Einzelmaßnahmen und Aktivitäten – Stärkung und zeitgemäße Fassung des Solidaritätsgedankens – Stärkung der sozialen Integration (Inklusion) und Verbesserung der Lebensbedingungen jener, die im Schnitt schlechter gestellt sind – Vermeidung von Diskriminierung – Unterstützung selbstständigen und kompetenten Verhaltens der Menschen – Schaffung der Bedingungen für die freie Wahl von Diensten und Angeboten 78

Objektive Lebensqualität

– Maßnahmen zur Verbesserung der materiellen, räumlichen und sozialen Infrastruktur. 5.1.3 Lebensqualität und Ziele

Als Lebensqualität soll die Gesamtheit der Lebensbedingungen älterer Menschen gelten. Sofern es um die objektiven Bedingungen geht, soll von objektiver Lebensqualität gesprochen werden. Objektive Lebensqualität kann in Hinsicht auf ihre Vorteilhaftigkeit oder Nachteiligkeit für bestimmte Gruppen durch empirische Vergleiche anhand ausgewählter Indikatoren beurteilt werden. Wird aber die Bewertung dieser Lagen durch die Menschen selbst mit einbezogen, ist es sinnvoll, von subjektiver Lebensqualität zu sprechen. Da ein politischer Plan ein Instrument politischen Gestaltungswillens sein soll, muss klargelegt werden, in welche Richtungen Gestaltungsmaßnahmen gehen sollen. Diese Richtungen werden am besten durch allgemein formulierte Teilziele bestimmt, für die eine hohe Konsenswahrscheinlichkeit im politischen Feld besteht. Für die eben erwähnten Teilziele dürfte dies der Fall sein. Das maßgebliche Prinzip lautet : Je eindeutiger jedes einzelne Ziel für eine möglichst große Zahl von älteren Menschen erreicht wird, desto höher wird deren Lebensqualität sein. Nun gilt es, Möglichkeiten der Überprüfbarkeit erreichter Lebensqualität zu überlegen, die im Rahmen eines politischen Plans auch realisiert werden können. Diesem Unterfangen gelten die beiden folgenden Punkte. Dabei wird die Vorstellung objektiver Lebensqualitätsbedingungen und subjektiver Bewertung der Lebensqualität eingesetzt.

5.2 Objektive Lebensqualität Hier ist das Prinzip des empirischen Vergleichs anzuwenden, indem verschiedene Gruppen unter den älteren Menschen anhand verschiedener Indikatoren einander gegenübergestellt werden. Das entsprechende Urteil wäre dann ein Expertenurteil. Die wissenschaftliche Zielsetzung liegt nicht in fein gegliederten Detailanalysen, sondern in der Verwendung klug ausgewählter Eckdaten oder Indikatoren. Mit ihrer Hilfe können grobe Unterschiede nachgezeichnet werden, auf die dann politische Maßnahmen spezifisch ausgerichtet werden müssen. Wenn z. B. eine beträchtliche Gruppe mit ihrem Einkommen unter dem Median des Einkommens der Gesamtbevölkerung (oder auch nur der älteren Bevölkerung) liegen sollte, ist über geeignete Strategien nachzudenken (das entspräche dem dritten 79

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

Teilziel). Wenn z. B. eine Gruppe von Menschen in Hinsicht auf gesellschaftliche Angebote eindeutig zurückgesetzt wäre, z. B. der Fall des Zugangs zu bestimmten Gesundheitsleistungen, ist über geeignete Strategien nachzudenken (das beträfe das vierte Teilziel).

5.3 Subjektive Lebensqualität Als Informationen kommen alle Daten in Frage, die aus Umfragen stammen, seien es nun Primärerhebungen, Mikrozensen oder Surveys. Damit wird im Zusammenhang der empirischen Analysen die Seite der subjektiven Faktoren stärker in den Vordergrund rücken. Die Seite der subjektiven Beurteilungen ist prinzipiell nicht zu vernachlässigen, das unterscheidet dieses Konzept von aller materiellen Wohlfahrtsmessung. Aus Einstellungs- und Bewertungsuntersuchungen werden ergänzende und vertiefende Informationen zu objektiven Lebensqualitätsbedingungen gewonnen. Solche Ergebnisse entsprechen dann einem umfassenderen Wohlfahrtsbegriff. Wenn z. B. eine erhebliche Gruppe unter den Älteren mit spezifischen Leistungen des Wohlfahrtsstaates nicht zufrieden wäre, müsste einerseits gefragt werden, wie solche Ergebnisse zu interpretieren sind (»Zufriedenheitsparadox« und »Unzufriedenheitsdilemma«), und andererseits ebenso über Strategien nachgedacht werden.

5.4 Lebensqualität im Alter Schon vor vielen Jahren wurde begonnen, Lebensqualität im Alter durch die erfolgreiche Bewältigung altersspezifischer Aufgaben und Belastungen zu messen. Dahinter stand allerdings die nicht unumstrittene These des »erfolgreichen Alterns«, die aus den USA nach Europa gekommen war und die im Kern besagte, dass nur jene Menschen gut alterten, die ihre Lebensaufgaben erfolgreich bewältigten. In einem stark verallgemeinerten Modelldenken wurden Aufgaben formuliert, wie sie zu verschiedenen Phasen des Lebens aufträten, auf Unterschiede nach sozialen Klassen, historischen Lagen und auf die Geschlechterdifferenzen wurde wenig Rücksicht genommen. Immerhin aber verdichteten sich dann die Befunde zu der weiteren These, vor allem in der Alterspsychologie, dass hohes Wohlbefinden im Alter als Effekt der erfolgreichen Lösung von Entwicklungsaufgaben im höheren Erwachsenenalter angesehen werden könne (Baltes ). Für eine detaillierte Erfassung der Lebensqualität im Alter war diese These aller80

Lebensqualität im Alter

dings zu unspezifisch, außerdem wurden stillschweigend überindividuell gleiche Voraussetzungen angenommen, was aus der Sicht soziologischer Ungleichheitsforschung und der Forschung über objektive Lebenslagenbedingungen als erheblich verkürzte Perspektive angesehen werden muss. Ein weiterer Forschungsstrang betonte die Diversifikation des individuellen Alterns anhand individueller Alternsvariablen. Die Unterschiede zwischen den alternden Individuen, so hieß es, wären größer als jene zwischen den Altersgruppen. Dahinter standen Erkenntnisse, die sich aus der Konzeptualisierung für die Ausweitung der Altersphase, aus der empirisch nachgewiesenen Pluralisierung der Lebensstile und aus den Belegen für vielfältige soziale und ökonomische Differenzierungen im Alter ergaben (Thomae ). Eine direkte Folge war die Anerkennung der Ungleichheit in den objektiven und subjektiven Lebenslagen, was seinerseits wieder zur Konzeption der Lebensqualität als multikriteriales Konstrukt führte. Damit war eine bis heute gültige Forderung für die Erforschung der Lebensqualität im »Altern im Alter« geboren : Empirische Untersuchungen müssen die Besonderheiten Älterer im Vergleich zu anderen Altersgruppen und auch die innere Differenzierung verschiedener Alterskohorten beachten. Damit war hinter die Forderung nach der konzeptuellen Integration von objektiver und subjektiver Lebensqualität, eine Trennung, die einerseits durch die sogenannte Sozialindikatorenforschung und andererseits durch eingeengte psychologische Perspektiven provoziert worden war, nicht mehr zurückzugehen. Dazu kam, dass über zwei Jahrzehnte lang ein Defizit-Konzept vorgeherrscht hatte. In der Sozialindikatorenforschung waren »Mindeststandards« definiert worden, in der Gerontopsychologie galt lange Zeit gute Lebensqualität als die Abwesenheit negativer Erfahrungen. Die Antwort auf diese negativen Perspektiven war dann das Ressourcenmodell, in dem materielle und personelle Qualitäten und das Ausmaß von deren Nutzung eine zentrale Rolle spielen. Aus all diesen Überlegungen und den Forschungsbefunden bildete sich eine Vielzahl von Hypothesen, die empirisch gestützt und in umfassendere Konzepte integriert wurden. Damit ist Lebensqualität im Alter ein weiter Bereich mit einer großen Vielfalt empirisch nachgewiesener Zusammenhänge. So gelten vor allem der Gesundheitszustand, der sozioökonomische Status, gemessen an Einkommen, Vermögen und Bildungsstand, als zentrale Bestimmungsfaktoren für die Lebensqualität im Alter. Hier wiederholt sich, was allgemein bekannt ist : Wer über den Lebenslauf hinweg in vorteilhaften sozialen Verhältnissen lebt, profitiert auch im Alter davon. Selbst der Gesundheitszustand hängt mit diesem Faktum positiv zusammen. Das ist einer der vielen Gründe, weshalb es sinnvoll ist, Lebensqualität zum Messfühler politischer Maßnahmen zu machen. Bessere materielle Ressour81

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

cen gelten als wichtige Voraussetzung für eine Erweiterung des Aktivitätsradius und das individuelle Interessenspektrum, haben also einen deutlich, aber meist indirekten Bezug zur Lebensqualität. Im Alltagsbewusstsein ist diese Einsicht bewahrt : Wer sich etwas leisten kann, dem geht es auch besser. Damit kann verallgemeinert werden : Wohlfahrt (Einkommen und realisierter Lebensstandard) ist ein Gradmesser für die Möglichkeiten einer Person, über den Markt vermittelte Güter und Dienstleistungen zu erwerben und das Optionenspektrum weit zu halten (dies gilt auch für Fragen des Konsums von Gesundheits- und Betreuungsangeboten). Eine bessere materielle Lage hat insgesamt einen positiven Einfluss auf die Intensität gesellschaftlicher Partizipation und das Ausmaß sozialer Integration, auf die objektive und subjektive Gesundheit, auf subjektives Wohlbefinden und das Erleben des Alterns. Aus diesem Blickwinkel mag ergänzend angemerkt werden, dass, gerade in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krisensituation, eine Kürzung der Pensionen abzuwenden mit dazu beitragen könnte, den Konsum zu stärken. Im hohen Alter allerdings ändern sich die Verhältnisse dann etwas. Es tritt der Einfluss der materiellen Lage zugunsten der Gesundheit zurück, der Bildungsstand aber wirkt in den genannten Fällen immer mit und erhält seinen Einfluss bis ins höchste Alter. Doch auch hier gilt : Gute Lebensbedingungen führen tendenziell zu höherem subjektivem Wohlbefinden ; allerdings gibt es das bekannte Zufriedenheitsparadox, demzufolge Menschen mit schlechteren materiellen Bedingungen zufriedener sein können als jene mit guten Bedingungen. Für das höhere Alter legt sich ein weiterer Befund als bedeutsam nahe : Epidemiologische Daten weisen auf einen eindeutig positiven Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Gesundheit hin ; höhere Sterblichkeit ist mit einer (negativen) Zunahme an Ungleichheit assoziiert. Somit lässt sich wiederum verallgemeinern : Nach dem Einkommen inklusive sozioökonomischem Status und sozialer Integration gehört Gesundheit zu den Lebenslagenbereichen, die Lebensqualität im Alter maßgeblich bestimmen ; hier differenzieren sich die Ausprägungen signifikant nach Wohnregion, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit. Ebenfalls gilt als überwiegend sicher, dass auch die Wohnqualität positive Lebensqualität unterstützt, vor allem als Ressource für eine selbstständige Lebensführung ; ähnlich gilt diese These für ein entsprechendes Wohnumfeld. Schon das bloße Vorhandensein bestimmter sozialer Beziehungen im Rahmen eines günstigen Wohnumfelds verbessert die subjektive Lebensqualität entscheidend. Einsamkeit wird als Indikator für erlebte Unzufriedenheit mit den eigenen sozialen Kontakten angesehen.¹¹ 82

Lebensqualität im Alter

In der gegenwärtigen Diskussion über Altern und Alter zählt zu den wichtigsten theoretischen Fundamenten die mit der Lebenslaufforschung und mit Entwicklungstheorien in Zusammenhang stehende Vorstellung, dass der Mensch über alle Lebensphasen hinweg entwicklungsfähig bleibt und dass Veränderungen im Erleben und Verhalten auch bis ins hohe Alter möglich sind. Jedwede Entwicklung enthält diesem Theorem zufolge sowohl Wachstum und Gewinn als auch Abbau und Verlust (Sterns, Camp  : ). Für die Frage nach den Bedingungen, unter denen solche Entwicklungen möglich sind, ist auf deren Ausgangsbedingungen einzugehen. Sie finden sich in entwicklungstheoretischer Sicht vor allem in den Konzepten der Plastizität, der Heterogenität und der Resilienz bzw. Widerstandsfähigkeit. Diese Konzepte sind in der Literatur ausführlich besprochen worden, bedürfen also an dieser Stelle keiner gesonderten Erläuterung (Baltes, Carstensen ). Wichtiger ist eine etwas detaillierte Erörterung der Handlungsstrategien, die Menschen einsetzen können, um in bestimmten Situationen »erfolgreich« zu handeln. Hier sind im Wesentlichen drei Strategien zu nennen : Selektion, Optimierung und Kompensation. Diese Strategien wurden z. B. im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Verhalten älterer Menschen im Straßenverkehr empirisch näher untersucht (Schlag, Engeln ). Selektion ist eine Strategie, die vor allem Handlungsziele und Absichten sowie deren Auswahl und Veränderung betrifft. Sie reicht vom völligen Verzicht auf bisher angestrebte Ziele über den schrittweisen Abbau bis hin zur Konzentration auf bestimmte, ausgewählte oder die Entwicklung neuer Ziele, gebunden an die jeweils vorhandenen und wahrgenommenen Potenziale und Ressourcen der Personen wie der Umwelt (Amann b). Selektion kann proaktiv oder reaktiv erfolgen, also vorausschauend auf wichtige Situationen oder im Nachhinein bei unvorhergesehenen und plötzlichen Veränderungen (Baltes, Carstensen  :  ; Schlag, Engeln  : ). Optimierung betrifft die Konzentration auf die Mittel, die jemandem zur Verfügung stehen, um Situationen zu bewältigen. Der (bewusste) Erwerb, wie Verbesserung sowie die Koordination der für die Zielerreichung nötigen Mittel, wird als Optimierung bezeichnet. Diese Handlungsmittel variieren in Abhängigkeit von den jeweiligen Zielen, Besonderheiten der Person und den vorhandenen Ressourcen der Umwelt (Amann ). Kompensation bezieht sich auf die Vorstellung, dass auch bei eingeschränkten Handlungsmitteln ein vorhandenes Niveau beibehalten und Ziele nicht aufgegeben werden sollen. Das kann auch bedeuten, auf andere, vielleicht neue Ressourcen zurückzugreifen, wenn etwas mit den gewohnten Mitteln nicht mehr 83

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

erreichbar zu sein scheint. Gerade in der Kompensation sind Menschen auf eine förderliche Umwelt angewiesen. In der weiteren Ausarbeitung dieser Überlegungen müssen nun Auto- und Heteroproduktivität, Individual- und Strukturpotenziale sowie Plastizität, Heterogenität und Resilienz mit Selektion, Optimierung und Kompensation in Verbindung gebracht werden, was, in anderen Worten, eine Verknüpfung von Strukturbedingungen, Ressourcen und Potenzialen sowie Handlungsstrategien unter konzeptiven Bedingungen bedeutet.

5.5 Ein Sozialprodukt des Alters ? Hier muss nach neuen Dimensionen gesucht werden. Der traditionelle Begriff Sozialprodukt bezeichnet die Summe aller wirtschaftlichen Leistungen einer Volkswirtschaft (im Allgemeinen auf ein Jahr bezogen), das heißt aller Güter und Dienstleistungen, die investiert, gegen ausländische Güter und Dienstleistungen getauscht oder verbraucht wurden. Das Sozialprodukt ist daher Ausdruck der quantitativen Leistungskraft einer Volkswirtschaft, es dient als Maß für die Wohlstandsentwicklung eines Landes, als Vergleichsgröße (z. B. gegenüber anderen Ländern) und liefert Informationen über die Zusammensetzung der Wirtschaftsstruktur und die Konjunkturentwicklung. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gibt Auskunft über die Entstehung, die Verwendung und die Verteilung des Sozialprodukts. Innerhalb dieser Konzeption wird nun allerdings zwischen quantitativem und qualitativem Wirtschaftswachstum unterschieden, wobei fast überall in der einschlägigen Literatur das Problem der Messbarkeit des qualitativen Wachstums hervorgehoben wird. Davon war schon die Rede. Parameter des quantitativen Wachstums sind : Verfügbarkeit der Produktionsfaktoren, technisches und ökonomisches Wissen, günstige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen (Verfassung, Gesetz, Arbeitsverhalten etc.) ; zu den Parametern des qualitativen Wachstums zählen : Gesundheit, Bildung, Erwerbstätigkeit, Einkommen, Verbrauch und materieller Lebensstandard, physische Umwelt, politische Mitbestimmung und Rechtspflege. Es wird weiter unten zu zeigen sein, dass einige Dimensionen qualitativen Wachstums auch in sozialwissenschaftlichen Konzepten der Lebensqualitätsforschung auftauchen, ein Hinweis, der für die »Messung« qualitativer Nutzenstiftung sprechen sollte (Amann b). Ein Konzept eines Sozialprodukts, das nicht unter ökonomischen Gesichtspunkten verengt ist, sondern auf alle Beiträge der Menschen für gesellschaftli84

Ein Sozialprodukt des Alters ?

che Belange ausgerichtet wird, daher also eine allgemeine Nutzenstiftung anvisiert, muss von vornherein darauf verzichten, alle diese Beiträge monetär bewerten zu können. Es bedarf eines Bezugspunkts, auf den hin sie zu betrachten sind. Dieser kann in einem Konzept fortschrittlicher und demokratischer Gestaltung der Lebensqualität gesehen werden, eine Gestaltung, die allerdings nicht primär am politischen und ökonomischen Gestaltungspotenzial festgemacht wird. Wenn es überdies auf die Beiträge der Älteren zugeschnitten werden soll, rückt zudem einer der Kerne des traditionellen Produktivitätsbegriffs, nämlich »Arbeit« im erwerbswirtschaftlichen und produzierenden Sinn und die Bewertung aller Beiträge zu Marktpreisen, an die Peripherie der Betrachtung. Der erwähnte Bezugspunkt wurde verschiedentlich als der »Zusammenhalt« der gesamten Gesellschaft bezeichnet, beinhaltet daher die Vorstellung, dass durch die Tätigkeiten der Älteren alle gesellschaftlichen Teilbereiche direkt oder indirekt beeinflusst werden. Sie leisten Beiträge zu Wirtschaft, Politik und Staat, Sozialstruktur und Kultur, indem sie an der Tradierung von Wissen, Erfahrung, Normen und Werten, an der identischen Reproduktion und an der Transformation der Strukturen mitarbeiten. Empirische Einzelnachweise sind hier nicht notwendig, da die Forschungsliteratur in der Sozialgerontologie voll von Belegen für den unverzichtbaren Anteil der Älteren an der Gestaltung der Gesellschaft ist. Wie dieser Zusammenhalt konzeptuell gefasst werden kann, ist hier im Einzelnen nicht zu diskutieren, jedenfalls aber sollte der Fluchtpunkt der Überlegungen die oben genannte fortschrittliche und demokratische Gestaltung der Lebensqualität sein. Der Grundgedanke zielt auf die Vorstellung, dass gesellschaftliche Entwicklung einen Prozess mit zugleich statischen und dynamischen Elementen darstellt, der seine Charakteristik durch individuelles und kollektives Handeln erhält, das nicht einfach in einen öffentlichen und einen privaten Teil geschieden werden kann. Es ist genau dieser alte Gedanke einer Trennung zwischen öffentlich und privat, der unterschwellig seit jeher dem öffentlichen Handeln das Veränderungspotenzial für gesellschaftlichen Wandel zugeschrieben hat, während jenes in der privaten Lebenswelt kaum eine Gestaltungswirkung für sich beanspruchen konnte. Es sei auch dahingestellt, ob die Kolonisierungsthese, der zufolge das gesellschaftliche System die Lebenswelt zunehmend durchdringt, ein Gedanke, der sich von Max Weber bis Jürgen Habermas verfolgen lässt, für das hier aufgeworfene Problem zielführend eingesetzt werden kann. Um die Verknüpfung zwischen der Produktivität der Älteren und dem Konzept der Lebensqualität anschaulicher zu machen, mag ein vorläufiger Definitionsversuch dienlich sein.

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Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

Das Sozialprodukt des Alters ist die Gesamtheit aller Tätigkeiten von Menschen jenseits des Erwerbslebens, die sich in Auto- und Heteroproduktivität umsetzen und einen Nutzen stiften, der in die Herstellung, Bewahrung und Erhöhung von Lebensqualität eingeht. Das Sozialprodukt des Alters ist daher Ausdruck der Leistungskraft der Älteren, die aus Individual- und Strukturpotenzialen stammt und, auf den Ausgangsbedingungen von Plastizität, Heterogenität und Resilienz beruhend, über Handlungsstrategien wie Selektion, Optimierung und Kompensation realisiert wird. In Verbindung mit der Rolle des Wissens sind Pragmatik, Topik und Präreflexivität dieses Wissens von Bedeutung. Auf höherer Aggregatebene können Typen von Lebensqualität zwischen einzelnen Gruppen und Gesellschaften verglichen werden.

Natürlich wirft dieser Definitionsversuch eine ganze Reihe weiterführender Fragen auf, vor allem jene nach der qualitativen und quantitativen Messbarkeit der Nutzenstiftung im Kontext von Auto- und Heteroproduktivität und nach der Messbarkeit von Lebensqualität. Hier ist es nur notwendig, auf einige wenige Überlegungen zur Lebensqualitätsforschung zurückzukommen. Lebensqualität ist ein Konzept, das in Gesundheitsprogrammen, politischen Zielformulierungen etc. als Bezugspunkt für gesellschaftliche Nutzenstiftung anerkannt wird. In der Forschung wird, wie bereits ausführlich dargelegt wurde, zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen der Lebensqualität unterschieden, wobei für die objektiven Bedingungen, in enger Koppelung mit dem Gedanken der Strukturpotenziale, der Ressourcenansatz auszuwählen wäre. Lebensqualität wird hier als das Ausmaß verstanden, in dem einer Person mobilisierbare Ressourcen zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre Lebensbedingungen in bewusster Weise und zielgerichtet beeinflussen kann (Erikson ). Im Sinne der bisherigen Überlegungen werden Menschen hier als aktive und kreative Individuen gesehen, die nach Autonomie und Erfüllung bei der Erreichung selbst gesetzter Ziele streben, wobei die Effekte des Handelns selbstverständlich auto- und heteroproduktiv sind. Ziele sind positiv bewertete Zustände. Natürlich sind hier zusätzliche externe Determinanten zu berücksichtigen, die von der Person nicht direkt beeinflusst werden können (Umweltbedingungen, Wohnumgebung etc.), eine Dimension, die oben bereits als Strukturpotenzial bezeichnet wurde. Die Lebensqualität eines Menschen lässt sich so als das Ausmaß der zur Verfügung stehenden Ressourcen verstehen, und zwar sowohl der personbezogenen als auch der externen wie Umwelt und Infrastruktur. Längst wird aber davon ausgegangen, dass es nicht ausreicht, die Lebensqualität nur an objektiven Situationsmerkmalen festzumachen. Zudem ist ausführlich nachgewiesen, dass sich 86

Ein Sozialprodukt des Alters ?

die Lebensqualität aus der individuellen Perspektive anders darstellt als aus der Fremdperspektive, selbst bei identischen objektiven Lagen (Filipp ). Es ist daher empirisch begründbar, die Lebensqualität auch im Urteil des Individuums selbst zu verankern. Auch das haben wir bereits argumentiert. Dieses Urteil ruht in der psychologischen Forschung vor allem auf den verschiedenen Facetten des »subjektiven Wohlbefindens«. Dabei stehen drei Bereiche im Vordergrund : allgemeine Bewertungen und deren Subdimensionen ; Wohlbefinden als erfahrungsabhängig bzw. erfahrungsstrukturierend ; kognitive und emotionale Aspekte des subjektiven Wohlbefindens. Allgemeine Zufriedenheitsdimensionen (z. B. Zufriedenheit mit dem Leben im Allgemeinen) erhalten in empirischen Erhebungen meist hohe positive Werte (»summarische« Einschätzungen). Es ist deshalb notwendig, »multikriterial« vorzugehen und herauszufinden, welche Subdimensionen welchen Anteil der Varianz an der allgemeinen Zufriedenheit erklären. In der wissenschaftlichen Diskussion gilt überdies, dass subjektives Wohlbefinden breiter ist als Zufriedenheit ; auch Autonomie, Selbstentfaltung, Lebenssinn, Selbstakzeptanz und tragfähige persönliche Beziehungen beeinflussen das subjektive Wohlbefinden. In Lebensqualitätsuntersuchungen ist dies selbstverständlich auch für die Population der Älteren bestätigt worden. In der Forschungsliteratur ist die Unterscheidung zwischen »Bottom-up«(Wohlbefinden ist erfahrungsabhängig) und »Top-down«-Theorien (Wohlbefinden ist erfahrungsstrukturierend) für die Erklärung subjektiven Wohlbefindens gängig geworden (Diener ). So wird postuliert (und empirisch teilweise nachgewiesen), dass subjektives Wohlbefinden als direktes Ergebnis emotionaler Erfahrungen im Alltagsleben (z. B. angenehme oder unangenehme soziale Interaktionen) zu- oder abnimmt. Eine alternative Position postuliert, dass Personen mit stabilen Grundhaltungen und Eigenschaften ausgestattet sind, die sie dazu prädisponieren, Erfahrungen in positiver oder negativer Weise zu machen. Am Thema »Humor« werden wir darauf zurückkommen. Diese Entwicklung wird hier angemerkt, weil sie für eine weitere psychologische Differenzierung des multidimensionalen Konzepts subjektiver Lebensqualität von Bedeutung ist. Allerdings ist wichtig zu sehen, dass empirische Untersuchungen auch gezeigt haben, dass Persönlichkeitseigenschaften nicht geeignet sind, die Schwankungen individuellen Wohlbefindens über die Zeit hinweg oder den nachweisbaren Effekt von Umwelteinflüssen auf das subjektive Wohlbefinden zu erklären (Diener ). In diesem Punkt steht die konzeptuelle und begriffliche Differenzierung von kognitiv und emotional zur Diskussion. Die kognitiven Aspekte werden als Urteile 87

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

hinsichtlich des eigenen Lebens definiert (z. B. Lebenszufriedenheit), emotionale Aspekte verweisen auf positive oder negative Gefühle (z. B. Gefühle des Glücks oder der Trauer) – beide Aspekte sind jeweils im Kontext subjektiver Lebensqualität konzipiert. Empirisch ist von Bedeutung, dass positive oder negative Emotionen nicht zwei Positionen auf einer Dimension sind, sondern zwei unabhängige Dimensionen. Für Operationalisierungsfragen ist bedeutsam, dass positive und negative Affektzustände besonders dann als voneinander unabhängig wirken, wenn nicht ihre Intensität, sondern ihre Häufigkeit erfasst wird. Dass die Verbindung subjektiver und objektiver Lebensqualität nötig ist, zeigt am besten das In-put-/Out-put-Modell, in dem subjektive Lebensqualität als ein Resultat objektiver Bedingungen erscheint (Veenhoven ). Objektive und subjektive Lebensqualität sind keine alternativen Konzepte. Gerade aus dieser Position leitet sich die Forderung nach einem multidimensionalen Konzept ab, in dem über die Vorstellung einer Klassifikation dichotomer Ausprägungen subjektiver und objektiver Lebensqualität hinausgegangen und nach den vielfachen und nicht direkten Zusammenhängen gefragt wird. Im Mittelpunkt des theoretisch-methodischen Zuschnitts steht die Frage nach intervenierenden Einflüssen. Dass diese eine Rolle spielen und über »Hintergrunddimensionen« abgebildet werden müssen, wurde an der Funktion der Variable »Alter« bzw. dem rekursiven Zusammenhang zwischen objektivem Gesundheitszustand, subjektiver Interpretation und Lebenszufriedenheit wiederholt expliziert. So wurde u. a. der Zusammenhang zwischen objektiven Lebensbedingungen, subjektiven Bewertungen verschiedener Lebensbereiche sowie generellem subjektivem Wohlbefinden untersucht. In den einschlägigen Ergebnissen war Alter nur geringfügig mit einem (zunehmend geringeren) globalen subjektiven Wohlbefinden korreliert, bis ins hohe Alter waren große interindividuelle Unterschiede zu verzeichnen (eine Wiederbestätigung einer schon alten These, die in den Siebzigerjahren des . Jahrhunderts von Hans Thomae vertreten worden war). In prädiktiven Analysen ergab sich, dass objektive Lebensbedingungen globales subjektives Wohlbefinden nicht vorhersagen, wenn zugleich bereichsspezifische Wertungen berücksichtigt werden ; nur Geschlecht und Wohnbedingungen zeigten darauf einen direkten Einfluss. Die stärksten Prädikatoren des subjektiven Wohlbefindens waren die subjektiven Bewertungen der verschiedenen Lebensbereiche : Einkommen und Vermögen, Gesundheit, soziales Netzwerk sowie Freizeitaktivitäten spielten bei der Vorhersage der globalen Lebenszufriedenheit die größte Rolle.

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Was heißt Krise ?

5.6 Was heißt Krise ? Nun wird der Vorstellung, Lebensqualität zu einer allgemeinen Richtschnur sozialpolitischer Entscheidungen zu machen, sehr schnell mit dem Argument begegnet werden, dass die gegenwärtige Wirtschaftslage es gar nicht erlaube, ein solches Modell einzuführen. Wenn das stimmen sollte, wäre die Frage zu stellen, weshalb es dann in Jahrzehnten der wachsenden Prosperität auch nicht gelang. Wir wollen daher diesen Gedanken etwas näher betrachten. Von Krise ist dann zu sprechen, wenn ein Problem mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu lösen ist. Ein Blick auf die letzten beiden Jahrzehnte wirtschafts- und sozialpolitischer Diskussionen, die mit dem zu tun hatten, was jeweils als Krise bezeichnet wurde, lässt die Ahnung hervortreten, dass vor allem die Argumentation in die Krise geraten ist. Es fehlte zwar nicht an Fantasie, wohl aber an Stringenz. In den er-Jahren wurden die Ursachen für Stagnationen, Arbeitslosigkeit etc. vor allem bei den Arbeitenden gesucht. Damals wurde behauptet, die Menschen seien zu faul, es wurde behauptet, die Arbeitslosen müssten, anstelle der importierten Polen, Spargel stechen, sie erhielten zu viel Geld vom Staat, und der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder dekretierte : »Es gibt kein Recht auf Faulheit.« Und das war keine politisch-philosophisch begründete Feststellung, sondern ein Vorwurf. Die Parallelaktion der Wirtschaft bestand in der Flexibilisierung der arbeitenden Menschen. Sie sollten anpassungsfähig und aktiv, selbstunternehmerisch, verantwortungsvoll, innovativ und leistungsgierig werden – sofern sie das nicht schon waren. Was die Verantwortlichen in der Öffentlichkeit von sich gaben, fand seinen Niederschlag im Volk. Kein Gasthaus, keine Beiz und keine Kneipe dürfte es gegeben haben, wo nicht über die arbeitsscheuen Arbeitslosen geschimpft und die Schwierigkeiten der staatlichen Budgets jenen angelastet wurden, die keine Arbeit hatten. Es war die hohe Zeit der Sündenbocksuche, in der die Opfer der Marktwirtschaft zu Tätern gestempelt wurden. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren samt und sonders die Folge des alten Menschheitslasters Trägheit, das Papst Gregor der Große schon, firmierend unter dem lateinischen Namen »Acedia«, zu den Sieben Hauptsünden gezählt hatte. Heute gibt außer den ewig Bornierten niemand mehr die Schuld den Arbeitslosen an der gegenwärtigen Krise. Die gegenwärtige deutsche Bundeskanzlerin Angelika Merkel sagt : »Die Finanzkrise bestätigt manches, was mit Gier verbunden wird.« Die Gier also, lateinisch »Avaritia«, die zweite Hauptsünde im Katalog Gregors des Großen. Die Marktwirtschaft, oder auch : der Kapitalismus, erlebt eine Krise, und für schuldig befunden wird nicht dieser selbst, sondern der Mensch, mittelalterlich gesprochen, in seiner Sündhaftigkeit (Uchatius ). 89

Lebensqualität und Sozialprodukt des Alters

In hochkomplexen Systemen, wie es die Marktwirtschaft eines ist, stellt sich, wenn es zu Krisen kommt, die Suche nach menschlichen Verfehlungen zu starten, als ziemlich verfehlte Strategie heraus. Nun kann natürlich nicht behauptet werden, dass alle Diskutanten in diesen Fehler verfallen. Ernsthafte Analysten und Ökonomen kommen auch zu anderen Schlüssen. Man lese nur die neuen Bücher von Paul Krugman, George Akerlof und Robert Shiller sowie von Niall Ferguson (Krugman  ; Akerlof, Shiller  ; Ferguson ). Im Grunde genommen schielt, werden die Befunde einander gegenübergestellt, aber auch hier eine relative Hilflosigkeit heraus. Den Mangel an Tugendhaftigkeit zur Ursache zu stempeln, wird zwar vermieden, doch auch hier spielen ziemlich schwer zu fassende Größen eine gewisse Rolle. »Animal Spirit« (Emotionen und Instinkte) bei George Akerlof und Robert Shiller oder ein unterschwelliger Machbarkeitsglaube bei Paul Krugman, der sich in Vorstellungen äußert, die den Kapitalismus als eine komplizierte Maschine verstehen lassen, bei der nur an den richtigen Rädern gedreht werden muss. Auch die Idee der schnellen und ständigen Wandelbarkeit des Geldes bei Niall Ferguson führt nicht auf lichtere Höhen.

Wir konstatieren daher, dass die Argumentation in die Krise geraten ist und die herkömmlichen Argumente kaum zu neuen Problemlösungen führen werden, und wir gehen tatsächlich davon aus, dass Lebensqualität eine Leitlinie abgeben könnte, die einen weiteren Blickwinkel ermöglicht. Natürlich sind Versuche, die Wirtschaft »anzukurbeln« (vor achtzig Jahren ein Ausdruck bei Traktoren mit Schwungradantrieb), indem der Staat die Banken finanziert oder indem neue Formen der Wohnbauförderung die Bau- und Saniertätigkeit »anheizen« sollen (wohl ein Ausdruck, der aus der Zeit dampfbetriebener Kraftmaschinen stammt), zumindest teilweise sinnvolle Überlegungen. Doch der oberste Bezugspunkt sollte nicht »die Wirtschaft« als abstrakte Vorstellung, sondern der Mensch mit seinen Bedürfnissen sein.

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Kapitel 6

%INÖ+ALEIDOSKOPÖDERÖ!KTIVIT¦TENÖÃLTERER

6.1 Aktivitätsideologie in der Wissenschaft Natürlich sind auch die Wissenschaften nicht frei von Wunschdenken, das dann mitunter als empirisches Faktum ausgegeben wird. Ein kurzer Blick zurück auf die »Aktivitätsdiskussion« in der Gerontologie zeigt nachdrücklich ideologische Tendenzen. In den Sechzigerjahren des . Jahrhunderts standen die »Aktivitätstheorie« und die »Disengagementtheorie« im Streit miteinander. Während die eine postulierte, dass, grob gesprochen, ein (wünschenswerter) Grad von Zufriedenheit im Alter vom Ausmaß der Aktivität abhinge, das jemand realisierte, postulierte die andere, dass die Ablösung der Älteren von ihren gesellschaftlichen Rollen individuell wie gesellschaftlich gewünscht werde, sodass dieses von zwei Seiten gewollte Herauslösen der Älteren zu erhöhter Zufriedenheit führe. Heute klingt die erste Theorie wie ein Vorbote der heute sich mit Macht verbreitenden Ideologie der unbedingten Aktivität als oberstes Ziel menschlicher Existenz und die zweite als Rechtfertigung frühzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben, aus Politik und Kultur, im Interesse des Platzmachens für die Jüngeren, deren Chancen auch nicht zum Besten stehen. Letzten Endes hat sich die Wissenschaft über die ideologischen Vorentscheidungen oder vortheoretischen Annahmen zu diesen Theorien kaum Rechenschaft gegeben, und was ebenso schwer wiegt : Sie konnte auf methodischer Ebene keine Klarheit in der Frage herstellen, ob Lebenszufriedenheit eine Folge von Aktivität ist oder, umgekehrt, Aktivität aus allgemeiner Lebenszufriedenheit heraus motiviert wird, oder beides zusammen vor allem durch den Gesundheitszustand bedingt ist, der seinerseits ja wieder Ergebnis kontinuierlicher Aktivität sein könnte. Auch hier kann Alexander Lernet-Holenia (»Ein Traum in Rot«) noch einmal zu Wort kommen : »Ja, es scheint überhaupt alles nur dasjenige als Ursache zu haben, was man dafür hält. Andere Ursachen gibt es vielleicht gar nicht.« Seit den Achtzigerjahren wird das »differenzielle« Altern betont, ein Theorem, das die alte Diskussion zum größten Teil hat obsolet werden lassen. Differenzielles Altern kann bedeuten, dass Disengagement in einigen Lebensdimensionen auftritt, in anderen aber gleichzeitig Aktivität statthat (compensatory disengagement). In der stärker psychologisch ausgerichteten Gerontologie läuft diese 91

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

Vorstellung heute unter dem Begriff der selektiven Optimierung mit dem Effekt der Kompensation. Die Fortführung dieses Gedankens bedeutet, dass mit zunehmendem Alter eine Konzentration auf »wichtige« Tätigkeiten und in der Dimension sozialer Beziehungen auf »wichtige« Personen erfolgt, wobei alterskorrelierte Defizite und Verluste kompensiert werden können. Unvermeidlich ist in diesem Zusammenhang das Thema der »Kompetenzen im Alter« aufgetaucht, zuerst wohl als Gegengewicht zum »Defizitmodell« des Alterns. Allerdings scheinen in dem Konzept die gesellschaftlichen im Vergleich zu den psychischen, geistigen und emotionalen Dimensionen aber zunehmend an Bedeutung verloren zu haben. Die von uns hier aufgeworfene Frage nach den strukturellen Potenzialen hat theoretisch keinen tragenden Stellenwert in diesen Konzeptionen. Aber gerade die Konzentration auf die genannte Perspektive hat natürlich wesentlich dazu beigetragen, den Gedanken der Erschließung der Leistungspotenziale der Älteren für die Gesellschaft voranzutreiben. Die bekannten Seniorenbüros, Expertenpools etc. sind bereits institutionalisierter Ausdruck eines Wandels, an dessen Spitze nicht mehr »Angebote für Senioren«, sondern »Angebote der Senioren« steht (Amann b : /).

6.2 Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt« Eine Analyse dieses Themas muss sich von einer unbedachten Wertung frei halten, die hinter allen Überlegungen wirksam werden kann, welche sich auf Aktivität im Alter beziehen. Es geht um die Frage einer ideologisch motivierten Vorentscheidung für die generelle und unbedingte Wünschbarkeit von Aktivität. Aktivität ist gut, sie fördert die Gesundheit, macht zufrieden und zukunftsoffen, und deshalb muss jeder Mensch, der älter wird, auch aktiv sein. So ungefähr ließe sich der Tenor formulieren, der vielen Forderungen nach Aktivität der Älteren unterlegt wird. Je nach Interessenhintergrund lautet die Konsequenz, dass Menschen körperlich aktiv sein und konsumieren¹² oder in den Erwerbsprozess integriert bleiben sollen. Welche Interessen werden dadurch wahrgenommen ? Im ersten Fall die Interessen jener, die im weitesten Sinn Geschäfte mit allem machen, was dem Ziel von Fit- und Wellness unterzuordnen ist ; der autoproduktive Anteil daran ist nicht zu leugnen. Im zweiten Fall die Interessen jener, denen an der Verwertung menschlicher Arbeitskraft liegt. Solche einseitigen Festlegungen bieten eine zu schmale Basis für die Begründung der Sinnhaftigkeit von Aktivität. Als brauchbarere Vorstellung bietet sich dagegen an, vom Gesamtprozess des Lebens auszugehen und eine Mehrzahl von Zielen miteinander in Verbindung zu 92

Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt«

setzen. Wo immer das Älterwerden angesetzt werden oder in der individuellen Erfahrung tatsächlich beginnen mag, der Prozess sollte auf ein optimales Zusammenspiel individueller und struktureller Potenziale angelegt sein, um • • • • • •

mit zunehmendem Alter die Gesundheit zu wahren, im Falle der Hilfebedürftigkeit ausreichend Schutz, Hilfe und Pflege zu bekommen, am soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, die persönliche Sicherheit zu gewährleisten, das Wohlbefinden zu ermöglichen, also insgesamt, soziale Integration und Lebensqualität zu sichern.¹³

Ohne Zweifel ist »Lebensqualität« ein Konstrukt, das im hier gegebenen Diskussionszusammenhang der WHO eine zentrale Stelle einnimmt. Es wird aber nicht zum Leitkonzept der Interpretation von empirischen Ergebnissen gemacht, sondern ausdrücklich als ein im Lebensprozess anzustrebendes Ziel verstanden, für dessen Erreichung die ständig sich verändernden individuellen und strukturellen Potenziale beachtet werden müssen. 6.2.1 Ehrenamtliches Engagement

Drei Perspektiven sind hier zu beachten. Erstens hat sich in den letzten Jahren die Auffassung darüber, was unter »Ehrenamt« zu verstehen sei, stark gewandelt, zweitens haben sich die Felder ehrenamtlicher Tätigkeiten erheblich ausdifferenziert, und drittens haben sich die Motive aufseiten der ehrenamtlich Tätigen verändert. Die Bereitschaft, ehrenamtliche Tätigkeiten zu übernehmen, ist also voraussetzungsvoll geworden. Ergänzend dazu wird immer wieder gesagt, dass das »bürgerschaftliche Engagementpotenzial«, insbesondere der jüngeren Alten, keineswegs ausgeschöpft sei. Dies gelte vor allem für Einsatzbereiche jenseits des traditionellen Ehrenamts. Schließlich hätten sich die materiellen und immateriellen Ressourcen und Potenziale der Älteren in den letzten Jahren deutlich verbessert, sodass – bei insgesamt größer werdenden Differenzierungen zwischen den einzelnen Gruppen unter den Älteren – sich die Handlungschancen im Ganzen sehr erhöht hätten (Naegele  : ). Hier sind nun wiederum einige Begriffsklärungen sinnvoll. Üblicherweise wurde lange unter dem Ehrenamt eine freiwillige, nicht auf Entgelt ausgerichtete Tätigkeit im Rahmen von Institutionen (Vereinen und Verbänden) verstanden. Es ist also vorwiegend an die Mitgliedschaft in Organisa93

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

tionen gebunden. Zuordnungsprobleme entstehen, wenn für solche Tätigkeiten der Ersatz von Kostenaufwendungen oder symbolische Honorare oder Unfallversicherungen institutionalisiert werden. Als Beispiel hierfür mag ASEP (Austrian Senior Experts Pool), eine relativ junge Einrichtung, dienen (Amann b : ). Beinhaltet das Ehrenamt Führungs- und Verwaltungstätigkeiten, wird eher vom politischen Ehrenamt gesprochen, sind es persönliche Hilfe- und Betreuungstätigkeiten, so gelten sie als soziales Ehrenamt. Das politische Ehrenamt bedeutet »Beteiligung an Planung, Organisation und Entscheidungsaufgaben in Institutionen« und es vermittelt »faktische Ehre« im Verständnis von sozialem Ansehen (Backes  : ). Das soziale Ehrenamt ist üblicherweise mit weniger Ansehen verbunden. Genau dieses Verständnis wurde aber in den letzten Jahren verändert. Zum Leitbegriff der geänderten Sichtweisen wurde die »neue Ehrenamtlichkeit«. Sie bezieht sich auf jene Tätigkeiten außerhalb oder an der Peripherie der großen Institutionen, die auf der Basis von selbst organisierten Gruppen, Initiativen und Projekten geschehen (Olk ). Auch hier bestehen natürlich Zuordnungsprobleme, und noch Ende der Neunzigerjahre kannte die Diskussion Formulierungen zur Charakterisierung dieses neuen Ehrenamtes wie »Tätigkeit für andere« oder »Tätigkeit für sich und andere« (Amann b : ). Eindeutig sind demgegenüber die Ausdifferenzierung der Tätigkeitsfelder und der Wandel der Motive. Tatsächlich wird ein erheblicher Teil der Tätigkeiten durch die Älteren, »die traditionell eher im privaten Bereich vorfindbar waren, nunmehr in selbst- und fremdorganisierten Gruppen praktiziert, in denen eine aktive Beteiligung dann auch schnell mit dem Signum der Ehrenamtlichkeit versehen werden kann« (Künemund , ). Dies gilt deutlich für die Bereiche Bildung, Kultur, Hilfen im Alltag und handwerkliche Dienstleistungen. Unter den Motiven für ehrenamtliche Arbeit dominierten früher eher Altruismus, Nächstenliebe und Selbstaufopferung sowie Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft. Heute stehen eher das Verfolgen eigener Interessen, Einsatz und Erlernen von Fähigkeiten, sinnvolles Zeitnutzen und Autonomie in der Aufgabenwahl im Vordergrund (Bundesministerium  ; Amann b : ). Die großen Tendenzen sind daher folgendermaßen zu umreißen :

Im Ehrenamt hat ein Übergang von der traditionellen, institutionsgebundenen Organisation der Arbeit hin zu einer selbst organisierten, lebensweltlichen Form begonnen, Platz zu greifen, die dem Modus sozialautonomer Initiativen und Bewegungen ähnelt. Dieser Prozess fügt sich in die durch die letzten Jahre zunehmend forcierte Logik der staat-

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Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt«

lichen und parastaatlichen Unterstützung und Förderung jener Organisationsformen, die ihrerseits ideologisch und substanziell von den Programmen der großen Organisationen wie WHO, ILO (International Labour Office) oder UNO (United Nations Organization) profitieren. Als eine bedeutsame Folge entsteht daraus die Verstärkung von Ansätzen, die zunehmend auf Aktivierung ausgerichtet sind und von der Vorstellung getragen werden, dass die Nutzenstiftung aufseiten der Leistenden und der Empfangenden in gleicher Weise anzustreben ist.

Ergebnisse aus Deutschland

Werden ehrenamtliches Engagement (in Vereinen und Verbänden), Pflegetätigkeit und Enkelbetreuung zusammen betrachtet, so sind es  Prozent der - bis -Jährigen, die mindestens einer dieser Tätigkeiten obliegen (Künemund  : ). Unter Gesichtspunkten wirtschaftlicher Produktivität sind solche Aktivitäten ein geradezu eminenter Beitrag zur Ergänzung und damit Stabilisierung der praktischen Sozialpolitik. Die über -jährigen Befragten im deutschen Alterssurvey haben in den eben genannten drei Tätigkeitsbereichen pro Monat . Arbeitsstunden geleistet. Werden Urlaube und andere Ausfälle im Ausmaß von zwei Monaten abgezogen, ergeben sich . Stunden produktiver Tätigkeit im Jahr. Wird diese Zahl auf die Gesamtbevölkerung zwischen  und  Jahren hochgerechnet (ca. , Millionen Menschen), so ergibt das , Milliarden Stunden. Legt man diesen Stunden den Bruttopreis einer Arbeitsstunde regulär Beschäftigter in den Wohlfahrtsverbänden ( : DM ) zugrunde, läge der Wert der geleisteten Arbeit pro Jahr bei DM  Milliarden, also ca. €  Milliarden – eine von den Älteren weitestgehend unentgeltlich und freiwillig erbrachte Leistung (Künemund  : ). Für Nordrhein-Westfalen dokumentiert Gerhard Naegele ein wachsendes Interesse älterer Menschen an freiwilligem Engagement. So stieg die Engagementquote in der Gruppe der - bis -Jährigen von  Prozent im Jahr  auf  Prozent im Jahr . Bei den über -Jährigen ist ein Zuwachs von mehr als  Prozent auf  Prozent zu verzeichnen. Für solche Erhöhungen liegt der Grund wohl in den strukturellen Wandlungen des bürgerschaftlichen Engagements selbst. Die rasche Ausbreitung politischer Vertretungs- und Mitwirkungsformen älterer Menschen auf verschiedenen Ebenen politischer Entscheidungsfindung (z. B. Seniorenvertretungen, Seniorenbeiräte, Seniorenparlamente, Alteninitiativen etc.) sind das deutlichste Merkmal dieses Prozesses. Trotzdem scheint das Potenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft zu sein. In Nordrhein-Westfalen wäre ein 95

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

Drittel der bereits engagierten - bis -Jährigen u. U. bereit und in der Lage, ihr Engagement noch auszuweiten (Naegele  : ). Diese einerseits groben Tendenzen, andererseits nicht ganz klaren Details der Entwicklung bedürfen einer Interpretation, die auf gesellschaftliche Prozesse insgesamt gerichtet ist. Dafür legen sich James Coleman’s Überlegungen zur »asymmetrischen Gesellschaft« nahe (Coleman ). Gesellschaftliche Strukturen müssen sich daran messen lassen, was sie dem einzelnen Menschen nützen und ermöglichen. Diese Prämisse zielt bei James Coleman gegen die gegenwärtige Organisationsgesellschaft, voll bis an ihre Ränder mit Organisationen : voll von Staatsverwaltung, Betrieben, Schulen, Krankenhäusern, Gerichten, Militär, Kirchen, Museen, Parteien, Verbänden, Vereinen, Genossenschaften etc. (Amann b : ). Mit Bezug auf die Missstände dieser von ihm kritisierten Organisationsgesellschaft fragt er, ob soziale Erfindungen denkbar seien, aus denen sich eine Sozialstruktur zu ergeben vermag, die für Menschen befriedigender ist als die, in der wir gegenwärtig leben (Coleman  : ). Ohne James Coleman’s komplexes Konzept vollständig darzustellen, greifen wir vier Theoreme heraus und interpretieren sie für die vorliegende Fragestellung leicht um : •



• •

Menschen handeln in individueller Nutzenverfolgung, wobei Kooperation, die nicht von vornherein auf der Hand liegt, das generierende Medium der Nutzenstiftung darstellt. Durch Ressourcenzusammenlegung (Wissen, Fähigkeiten, Macht, Einfluss, Geld) werden die Menschen im Wege über Kooperation zu »korporativen Akteuren«, am deutlichsten, wenn sie sich »von unten« organisieren. Korporative Akteure tendieren aber dazu, Großorganisationen zu werden, sie wenden sich gegen ihre »Schöpfer«. Korporative Akteure (Großorganisationen) schaffen notwendig asymmetrische Sozialbeziehungen (z. B. Konsumenten vs. Unternehmen), indem ungleiche Verfügung über Einflusspotenziale und Abhängigkeiten impliziert werden.

Das zuletzt genannte Theorem gilt nahezu uneingeschränkt für die Arbeitswelt, für Expertensysteme, für die Arbeit in Vereinen und Verbänden mit formeller Mitgliedschaft etc. Im Lichte der Coleman’schen Theoreme stellt sich die Frage, ob die oben genannten Grobtendenzen in der freiwilligen Tätigkeit Älterer Entwicklungen darstellen, die gesellschaftstheoretisch als Möglichkeiten der Resymmetrierung verstanden werden können. Entgegen den beiden Strategien zur Resymmetrierung, die James Coleman noch gesehen hat (Siebzigerjahre !), nämlich 96

Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt«

»prozedurale Steuerung« durch den Staat und Einbau von Marktsegmenten in korporative Akteure, sehen wir andere Effekte, die in eben die Richtung der Resymmetrierung weisen : •

• •

Ältere (aber nicht nur sie) gliedern sich in korporative Akteure ein, die »von unten« entstehen und keine Arbeits-, sondern Interessenorganisationen darstellen ; dies ist ein Prozesselement, das allgemeiner seit einigen Jahrzehnten für soziale Bewegungen und dauerhafte Sozialinitiativen überhaupt gilt. Auto- und heteroproduktive Nutzenstiftung kommt durch das Unterlaufen oder Ignorieren etablierter Großakteure zustande. Ressourcenzusammenlegung erfolgt in autonom organisierten Initiativen ohne Reglementierung »von oben« (was für Arbeitsorganisationen nach Coleman gerade typisch ist).

Im Rahmen der freiwilligen Tätigkeiten der Älteren und der voraussetzungsvollen Bedingungen, die sich dafür in den letzten Jahren entwickelt haben, zeichnet sich die Herausbildung von Strukturen ab, die neu sind und sowohl individuelle als auch strukturelle Potenziale realisieren. Allerdings werden sie den Charakter des Neuen und Andersartigen wohl nur so lange aufrechterhalten können, als es ihnen gelingt, der notorischen Tendenz zur Verbürokratisierung zu entgehen, die schon dort beginnt, wo Nachbarschaftshilfe zwischen Menschen der Unfallversicherung unterworfen werden soll. 6.2.2 Kinder-/Enkelbetreuung und Pflege

Im Bewusstsein der Menschen im Alltag hat Großelternschaft und Enkelaufsicht offenbar ein weit größeres Gewicht als in der Forschungsliteratur. Während kaum ein Gespräch mit Älteren ohne dieses Thema auskommt, wurde Enkelbetreuung in der Literatur zu Tätigkeitsformen des Alters eher selten zum Thema gemacht (Künemund  : ). Im Sinne von Vergesellschaftungsprozessen als Mechanismen sozialer Integration hat diese Tätigkeit aber gleich mehrere Funktionen, in denen Potenziale wenig erkannter Art stecken : • •

Die Älteren erfahren Dimensionen gesellschaftlicher Veränderungen direkt über ihre Enkel. Die mittlere, meist erwerbstätige Generation erfährt Entlastungen, aber auch spezifische Konflikte und Kooperationen, deren Bewältigung die Beziehungen sowohl zu den eigenen Eltern wie auch zu den Kindern modifiziert. 97

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

• •

Die Enkel wiederum erfahren spezifische Arten der familiären Integration der Älteren. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive haben die strukturellen Potenziale (Opportunitätsstrukturen) für solche Tätigkeiten zugenommen.

Auf diese Veränderungen struktureller Möglichkeiten wurde eindeutig hingewiesen (Lange, Lauterbach ). (Enkel-)Kinderbetreuung kommt in Deutschland bei den - bis -Jährigen am häufigsten vor. Noch eindeutiger als in der Pflege sind es hier die Frauen, die Betreuungsarbeit leisten. Betreut werden von den - bis -Jährigen bzw. den - bis -Jährigen zu  Prozent Enkelkinder. Der Zeitaufwand liegt bei  Stunden pro Monat, allerdings mit erheblicher Streuung von einer Stunde bis »rund um die Uhr«. Höher Gebildete betreuen weniger als niedriger Gebildete, vermutlich wegen höherer Mobilität, im Erwerbsleben Stehende betreuen ebenfalls weniger als jene, die nicht mehr erwerbstätig oder in der Pension sind, jedenfalls nimmt das Betreuungsausmaß nach dem Übergang in den »Ruhestand« zu und scheint von soziodemografischen Merkmalen weit weniger abzuhängen als von den jeweiligen Strukturpotenzialen und den Merkmalen der Kinder (Künemund  : ). Im Bereich der Pflege bzw. der Forschung über diese liegt das größte ungenutzte Potenzial nicht bei den involvierten Personen, sondern in der Relativierung eingefahrener Sichtweisen über diesen Bereich durch genaues Prüfen der empirischen Befunde. Dies betrifft einerseits vor allem die häufig dramatischen Zukunftsvisionen für die private Pflege und andererseits die fragliche Einschätzung der Rolle der Männer in der Pflegearbeit. Natürlich steht außer Zweifel, dass die Pflegeleistungen auf privater Basis enorm sind.  Prozent der - bis -Jährigen betreuen hilfe- oder pflegebedürftige Personen, wobei überwiegend eine Person gepflegt wird, die vornehmlich (Schwieger-) Elternteil ist. Die Pflege hat eine stark verwandtschaftlich-familiäre Ausrichtung :  Prozent der Pflegenden betreuen einen Angehörigen der Elterngeneration,  Prozent einen (Ehe-)Partner,  Prozent einen anderen Verwandten,  Prozent eine nicht verwandte Person (Künemund  : ). Frauen pflegen mit  Prozent häufiger als Männer mit  Prozent. Dies ist einer der Punkte des oben angesprochenen Potenzials für empirisch gestützte Aufklärung. Nun ist der Unterschied in der Häufigkeit der Pflegetätigkeit zwischen den Geschlechtern bei Weitem nicht so groß, wie es in der Pflegediskussion dauernd anklingt. Zwei Argumente stehen zur Stützung der These von der minoren Beteiligung der Männer an der häuslichen Pflege im Vordergrund. Das erste lautet, 98

Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt«

dass Männer sehr viel seltener pflegen als Frauen, und auch das nur, wenn sonst niemand vorhanden ist, der pflegen könnte ; das zweite hat die Form einer Zuständigkeitsskala nach Häufigkeit der Tätigkeit : zuerst pflegen die (Ehe-)Partner, dann die Töchter, danach die Schwiegertöchter, und erst danach die Söhne, dann die Schwiegersöhne und zuletzt schließlich andere Verwandte und nicht verwandte Personen.¹⁴ Die von Harald Künemund vorgelegte Auswertung der pflegespezifischen Daten aus dem Alterssurvey bringt dieses Bild nun erheblich ins Schwanken und wäre Anlass genug für eine intensive, methodenkritische Diskussion zum Stellenwert dieser weitverbreiteten, möglicherweise Artefakt-Auffassung über die Pflegeabstinenz von Männern. Immerhin stehen folgende empirische Befunde aus dem Alterssurvey fest : • •

• •



Sieben Prozent der - bis -jährigen Männer und acht Prozent der - bis -jährigen Frauen betreuen ein (Schwieger-)Elternteil. Frauen betreuen zwar insgesamt häufiger eine hilfe- oder pflegebedürftige Person, aber deshalb, weil sie häufiger als Männer andere Verwandte, Freunde, Nachbarn und Bekannte betreuen. Die ihre (Schwieger-)Elternteile pflegenden Männer haben nicht seltener Schwestern als die anderen Männer (jeweils ca.  Prozent). Die ihre (Schwieger-)Elternteile pflegenden Männer haben häufiger eine Lebenspartnerin als jene Männer, die keine solche Betreuung angeben ( Prozent gegenüber  Prozent). Werden nur jene Männer und Frauen betrachtet, die einen (Schwieger-)Elternteil pflegen, so leisten Frauen im Schnitt pro Monat  Stunden und Männer  Stunden.

Das Argument, dass Männer pflegen (Einspringer), wenn niemand sonst dafür infrage kommt, lässt sich mit diesen Befunden ziemlich erschüttern (Künemund  : ). Da das Thema der Pflege durch Männer bzw. Frauen doch häufig auch ideologisch und moralisch diskutiert wird, wogegen unter sozial- und rechtsphilosophischen Prämissen gar nichts einzuwenden ist, wäre es aber auf der Ebene einer Faktorenbetrachtung des gesamten Kontextes angebracht, empirisch-theoretisch peniblere Analysen durchzuführen und die Bedingungen sine ira et studio zu bedenken, welche ein Pflegeengagement fördern oder hindern. Entsprechende Vorschläge, wie diese Thematik angegangen werden könnte, finden sich bei Künemund ( : f.).

99

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

Ergebnisse aus Österreich

Die quantitativen Forschungsresultate, welche hier präsentiert werden, stammen aus einer erstmals für diesen Fragenkreis in Österreich durchgeführten Studie aus dem Jahr .¹⁵ 6.2.3 Enkelbetreuung

Natürlich betreuen hauptsächlich jene Enkelkinder, die auch selbst welche haben. Beinahe jede/r zweite Befragte ( ) übernimmt Kinderbetreuungsaufgaben. Am stärksten sind in der Kinderbetreuung die - bis -Jährigen engagiert. Diesen stehen die - bis -Jährigen gegenüber, bei denen nur ein Viertel der Befragten ( ) dieser Tätigkeit nachgeht. Das geringere Engagement der jüngeren Älteren in der Enkelbetreuung ist, neben der Erwerbstätigkeit, auch darauf zurückzuführen, dass zwei Drittel ( ) der Befragten dieser Altersgruppe (noch) keine Enkelkinder haben. Sie sind es allerdings, die sich am häufigsten um die Kinder von Geschwistern, Nachbarn, Freunden und Bekannten kümmern ( ). Diese Tätigkeit ist in den höheren Altersgruppen signifikant geringer ausgeprägt. Der Zeitaufwand für die Enkel-/Kinderbetreuungstätigkeiten liegt im Durchschnitt bei  Stunden pro Monat. Die Varianz ist aber beträchtlich ; das Engagement reicht von einigen wenigen Stunden im Monat bis zum Äquivalent einer Vollzeitbeschäftigung. Die Hälfte der Befragten wendet weniger als  Stunden pro Monat für dieses Engagement auf. Die genannten Ergebnisse decken sich mit jenen des deutschen Alterssurveys. Für Deutschland wurde eine durchschnittliche Enkel-/Kinderbetreuungsleistung von ca.  Stunden pro Monat ermittelt.¹⁶ Enkelbetreuungsleistung der Älteren in Stunden Ausmaß

Prozent

Bis zu 10 Stunden

32,5

11 bis 20 Stunden

24,5

21 bis 30 Stunden

11,7

31 bis 40 Stunden

12,3

Über 40 Stunden

19,0

Summe

100,0

100

Freiwillige Tätigkeiten und das »Ehrenamt«

Insgesamt steht die Enkelbetreuungstätigkeit mit nur wenigen anderen soziodemografischen Merkmalen in Zusammenhang. Es können etwa keine statistischen Zusammenhänge zwischen der Kinderbetreuungstätigkeit der Älteren und ihrer Ausbildung, der Größe ihrer Wohngemeinde, ihrem Gesundheitszustand und ihrem Einkommen ausgemacht werden. In einem gesamtgesellschaftlichen Kontext gesehen, beurteilen über   der Befragten in dieser Studie die Enkelbetreuungstätigkeiten der Älteren als »sehr wichtig« oder »eher wichtig«. In diesem Zusammenhang kann angemerkt werden, dass die »Betreuung der Enkelkinder« ein Thema ist, das von den Älteren mitunter auch durchaus kontrovers erzählt wird. Einerseits wird von den »Omis« berichtet, die für die Betreuung der Enkelkinder »herhalten« müssen und damit die Lücken der öffentlichen Kinderbetreuung kompensieren. Andererseits wird von der Enkelkinderbetreuung als »erfüllende Aufgabe« berichtet. 6.2.4 Pflege und Betreuung

In der hier zitierten Untersuchung wurde ein sehr weit gefasster Begriff von »Pflege« verwendet. Die genaue Frage lautete : »Gibt es Personen, die auf Grund ihres schlechten Gesundheitszustandes von Ihnen privat oder ehrenamtlich betreut bzw. gepflegt werden oder denen Sie regelmäßig Hilfe leisten ?« Diese Fragestellung brachte mit sich, dass von den Befragten eine sehr weit gefasste Form von Unterstützung assoziiert werden konnte. Insgesamt gab rund ein Viertel ( ) der Befragten an, regelmäßig Personen mit schlechtem gesundheitlichem Zustand zu betreuen. Frauen leisten in höherem Maße Pflegetätigkeiten ( ) als Männer ( ). Dieser Befund bestätigt Ergebnisse in anderen Ländern. Hinzu kommt ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Pflegeaktivitäten der Befragten und der Anzahl der Personen im gemeinsamen Haushalt. Es sind besonders die Drei- und Vierpersonenhaushalte (  bzw.  ), in denen Pflege geleistet wird. Pflegeleistung der Älteren in Stunden Ausmaß

Prozent

Bis zu 10 Stunden

21

11 bis 20 Stunden

26

21 bis 30 Stunden

11

31 bis 40 Stunden

10

Über 40 Stunden

32

Summe

100

101

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

Erwartungsgemäß besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen Nichterwerbstätigen (, Stunden pro Monat) und Erwerbstätigen (, Stunden pro Monat). Auch den Pflegetätigkeiten in ihrer Generation wird von den Älteren eine große gesamtgesellschaftliche Bedeutung beigemessen. Beinahe   stufen das Engagement der Älteren in diesem Bereich als »sehr wichtig« oder »eher wichtig« ein. Geht es um die konkreten Motive und Interessen hinter den Pflegeleistungen, so treten als wichtigste Dimensionen die persönliche Zuneigung und Verpflichtetheit auf – mit all den Konflikten und Ambivalenzen, die hier enthalten sind. 6.2.5 Informelle Unterstützung und Transfers17

Die Älteren leisten in beträchtlichem Ausmaß Hilfe für andere Menschen in ihrem Umfeld. Fast   der Befragten haben im letzten Jahr Personen außerhalb des eigenen Haushalts mit Hilfeleistungen wie Saubermachen oder kleinen Reparaturarbeiten unterstützt. Mit zunehmendem Alter der Befragten sinkt zwar der Anteil jener, die sich in diesem Bereich aktiv einbringen können. Es ist klar, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit steigt, selbst Hilfe und Unterstützung zu benötigen. Trotzdem können auch die ältesten Befragten nicht ausschließlich als Leistungsempfänger angesehen werden, denn immerhin leistet in der Altersgruppe der - bis -Jährigen noch beinahe jeder Dritte Hilfsdienste für Menschen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben. Insgesamt geht in diesen Austauschbeziehungen ein größerer Fluss von den Älteren zu den Jüngeren als umgekehrt, ein Faktum, das in der öffentlichen Diskussion unterbewertet wird. Informelle Unterstützung durch Ältere in Stunden Ausmaß

Prozent

Bis zu 5 Stunden

48,1

6 bis 10 Stunden

23,1

11 bis 15 Stunden

8,8

16 bis 20 Stunden

11,9

Über 20 Stunden

8,1

Summe

100,0

Mit gelegentlichen informellen Hilfestellungen sind Geld- und Sachgeschenke thematisch eng verbunden. Etwa zwei Drittel ( ) der Befragten geben an, in 102

Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren

den letzten zwölf Monaten Geld- oder größere Sachgeschenke bzw. regelmäßige finanzielle Unterstützung geleistet zu haben. Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen Transferleistungen der Älteren und ihrem Erwerbsstatus. Primär sind es Erwerbstätige und Hausfrauen/-männer, die solche Unterstützungen an Kinder, Enkel, andere Verwandte oder Freunde geben. Am geringsten ist der Anteil in der Gruppe der ledigen Befragten ( ). Von jenen Älteren, die vier Kinder haben, leisten beinahe   Transferleistungen. In der Gruppe der Kinderlosen sind es etwas über  . Dies macht deutlich, dass es bei den genannten Transferleistungen vorwiegend um Zahlungen bzw. Leistungen an die eigenen Kinder geht. Diese Ergebnisse entsprechen jenen aus anderen europäischen Ländern und den USA. Ausmaß an finanziellen Transfers vonseiten der Älteren Ausmaß

Prozent

Bis 250

19,9

251 bis 500

16,7

501 bis 1.000

21,5

1.001 bis 2.500

17,9

2.501 bis 5.000

11,9

Über 5.001

12,2

Summe

100,0

6.3 Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren Die Beiträge der Älteren in den traditionell erforschten Bereichen haben wir besprochen und mit Zahlen belegt, wie aber verhält es sich mit den Leistungen, die nicht unbedingt in diese Felder eingeordnet werden können ? In den letzten Jahren wurden in Österreich zum Thema Aktivitäten, Ressourcen und Potenziale älterer Menschen verschiedene qualitative Untersuchungen mit älteren Menschen sowie Expertinnen und Experten durchgeführt, um deren spontan kommuniziertes Wissen zu diesem Thema einzuholen (Amann b ; Amann, Felder  ; Amann, Ehgartner ). Die Befragten thematisierten eine bunte Palette von Tätigkeiten und Fähigkeiten der Älteren ; ein Interviewpartner brachte das Bild des Eisbergs ein, denn wenn es um die Beiträge der Älteren gehe, sehe man nur die Spitze. Mit den Ideen aus der Alltagswelt der Befragten erlangt das ganze Bild eine ungemeine Ausdifferenzierung, wir geben hier wörtliche Zitate wieder, 103

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

die nicht mehr nach den interviewten Personen ausgewiesen werden, sondern blockweise thematisch zusammengestellt sind. Das Alltagsbewusstsein der Menschen eilt der Entwicklung der realen Verhältnisse nicht entscheidend voraus. Seine Leistung besteht in der wertenden Einordnung des Wahrgenommenen und der kritischen Sicht seiner Bedeutung. Hier scheint etwas hervor, was der Wissenschaft noch nicht in breiter Weise zugänglich ist. Es ist nicht nur die »Reflexion« über das Alter, die Potenziale zu Bewusstsein bringt, es sind auch die Krisen, die helfen, das Wichtige zu lernen. Dass älter werdende Menschen über Potenziale und Ressourcen verfügen, und zwar in den allerverschiedensten Bereichen, steht außer Zweifel. So weichen denn auch wichtige Wahrnehmungen und Einschätzungen aus dem Alltag nicht erheblich von dem ab, was mit Bezug auf empirische Untersuchungen im Laufe dieser Arbeit referiert worden ist. Während in der medialen Diskussion aber manchmal der Eindruck entsteht, dass dieses Vorhandensein zweifelhaft wäre, ist es im Alltagsbewusstsein fraglos gegeben. Natürlich ist Alltagsdenken auch von Spekulationen, Vermutungen, konkreten Erfahrungen, Hypothesen und Fantasien voll, doch der Unterschied zur medialen Öffentlichkeit scheint wohl darin zu liegen, dass in Letzterer gesellschaftliche Gruppierungen ihre Interessen massiver einbringen, was auch die Frage virulenter macht, wer von den Bewertungen bzw. Abwertungen des Alters wie profitiert. Doch nicht nur das Vorhandensein von Potenzialen steht außer Frage, auch Innovationskraft der Älteren wird gesehen, sie verfügen über Beständigkeit, Erfahrung und soziale Kompetenz. Die Einsichten in die Zusammenhänge sind nicht ohne Überraschung : Dass ältere Menschen Freiwilligenarbeit leisten, ist bekannt, dass sie dadurch sozialen Organisationen eine Legitimierung für ihren geschichtlich verankerten Charakter der Gemeinnützigkeit liefern, ist eine nicht sehr verbreitete Einsicht.

Ehrenamtliches Engagement Wir haben da eine sehr rührige Kirche, wo die Caritas immer wieder etwas veranstaltet und immer Leute sucht, die etwas machen, Brötchen verkaufen oder sich irgendwo hinstellen. Ich will keine Verpflichtung eingehen, jeden Montag irgendwas zu machen, aber wenn sie jemand brauchen, und ich habe nichts für meine Familie zu tun, dann mache ich da gerne mit. Im Vereinswesen gibt es die klassisch-traditionelle Rollenteilung : Frauen arbeiten zu und Männer sind sichtbare Funktionäre. Ehrenamtliche liefern sozialen Organisationen eine Legitimierung für ihren geschichtlich verankerten Charakter der Gemeinnützigkeit, welcher längst einer reinen Kosten-Nutzen-Rechnung gewichen ist. Es fehlt

104

Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren

ein gesellschaftlicher Grundkonsens über die Definition, was ehrenamtlich beigetragen werden kann und was von anderen Bereichen geleistet wird. Dieses Fehlen von klaren Verhältnissen führt zu einer Verunsicherung der freiwillig Engagierten und beschneidet deren Motivation. Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit. Es gibt auch ein Recht, nach Ende der Berufstätigkeit keine sozialen Tätigkeiten mehr auszuüben. Soziales Engagement muss freiwillig bleiben.

Die Kumulation von Alltagsreflexion mag in folgendem Satz zu finden sein : Die Alten »zeigen der jüngeren Generation die Kunst des gelassenen Scheiterns und widersprechen der Norm des ewig Jungen und Schönen«. Diese Einsicht trägt weiter als die übliche Auffassung, dass das ökonomisch gefestigte Alter, als Konsumstatus plus »happiness«, eine Ressource darstelle, aus der auch die Jüngeren, quasi im Wege über Partizipation am Konsum der Älteren, Nutzen zögen. Dass die Vorstellung eines gelassenen Scheiterns möglich wird, zeigt erst das Verquere an der marktkonformen Schönfärberei des Alters. Wenn auch auf die Spezialgruppe der Manager zugeschnitten – doch hier, es könnte Pars pro Toto gelten, wird der Blick plötzlich frei : »Ältere Manager verfügen über ›reife Expertise‹ : Pro-Aktivität, Nachhaltigkeit, Wertschätzung, Netzwerke, erlernte Praxis, Pragmatik, Komplexität, Machbarkeit, Nutzen, Verbesserung, Vielseitigkeit.«

Körperliche Aktivitäten und Umgang mit Defiziten Ich möchte meinen eigenen Weg gehen und versuchen, trotzdem selbstständig zu bleiben und alles anzunehmen, was für geistige und körperliche Fitness gut ist. Man muss ja versuchen, so lange wie möglich geistig und körperlich rege zu bleiben, und dafür muss man natürlich sehr viel tun. Gesünder leben als früher, das hängt mit dem Essen zusammen, mit der Bewegung, manche versuchen, das Rauchen aufzuhören (…) – eigentlich eine Form der Weiterbildung – immer wieder. Mir fällt stark auf, dass sich sehr viele ältere Menschen in meinem Umfeld mit Gesundheit beschäftigen, Sport machen. Ich glaube, man unterschätzt die Kräfte des heute 60-Jährigen und 65-Jährigen zu sehr – der hat sogar sicher noch was am Kasten. Ich könnte mir vorstellen, dass man mit Sport, Bewegung noch viel mehr herausholen könnte.

Sie zeigen der jüngeren Generation die Kunst des gelassenen Scheiterns und widersprechen der Norm des ewig Jungen und Schönen. Ältere Menschen zeigen, 105

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

dass man trotz Defiziten zufrieden sein kann. Dass sie langsam zusammenräumen. Ein jüngerer Mensch tut das vielleicht sehr schnell. Wenn man dann hinkommt, sieht man aber nur, dass aufgeräumt ist. Man sieht nur den Endeffekt, nicht die Einteilung, die dahinter steckt. Den Tagesplan exakt erstellen. Man sieht nicht, dass sie dadurch vielleicht weniger fremde Hilfe brauchen. Ältere Menschen sollten motiviert werden, sich nicht zu sehr vom Jugendlichkeitsideal leiten zu lassen. Es sollten Fähigkeiten entwickelt werden, zu körperlichen Mankos zu stehen, gesellschaftlich sichtbar zu machen, was es heißt, gebrechlich zu sein. Hinderungsgründe gibt es viele für das Nichtanerkennen der Beiträge oder der Beitragsversuche der Älteren. Der wichtigste und erste ist wohl, dass die Älteren und Alten noch keinen eindeutigen Platz in unserer Kultur haben. Wenn Schriftsteller und Philosophen (z. B. Norberto Bobbio) der Meinung sind, dass in der sich rasend wandelnden Moderne die Ausgrenzung der Alten unabänderlich sei, so hält die Alltagserfahrung dagegen, sie ist differenzierter. Frauen werden als eine totgestellte Reserve angesehen, sie könnten immer noch enorm produktiv sein, haben aber verzweifelte Jobs, sie suchen nach einer Erwerbstätigkeit, nicht nach einem Ehrenamt, und sie werden auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt. Neben geschlechtsspezifischen Vorurteilen wirkt im Hintergrund ein weiterer Faktor : »In der hierarchisch strukturierten Arbeitswelt (›neoliberale Modelle‹) werden Beiträge und Fähigkeiten älterer Menschen (›Erfahrungswissen‹, ›hohe analytische Fähigkeiten‹, ›soziale Netze‹) nicht anerkannt, da der Blick auf Defizite konzentriert ist.« Im Vordergrund stehen im Erwerbsleben Beschleunigung, Verkürzung von Innovationszeiten, kurzfristiger ökonomischer Erfolg ; dagegen steht : »Erfahrung speist sich aus Kontinuität.« Außerhalb der Arbeitswelt wirken falsche Bewertungen : »Alles, was den Geruch von Sozialdienst hat, wird als Abstieg gewertet« oder »Die Reife wird in der Schnelllebigkeit disqualifiziert«. Im Reigen der Hinderungsgründe fügen sich Vorurteile dazu, die aufseiten der Älteren das Zaudern, Zögern, Bremsen aus dem Rahmen fallen sehen wollen. Zu Recht ? Nein.

Erwerbstätigkeit, Kompetenz, Biografie In meinem Bekanntenkreis sind auch sehr viele, die noch arbeiten und gar nicht so sehr viel daneben tun. Erwerbstätigkeit ist kein Thema. Wir sind alle froh, dass wir nicht mehr in die Arbeit gehen müssen. Der Stress am Schluss war sagenhaft. Ich denke mir, viele ältere Menschen würden gerne eine weitere Arbeitsmöglichkeit haben – Erwerbsarbeit.

106

Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren

Allerdings ist unser Pensionssystem dafür nicht geeignet. Meist ist für ein Unternehmen erst retrospektiv festzustellen, welche Fähigkeiten mit Pensionierungen verloren gegangen sind. Ältere Menschen werden im beruflichen Bereich abgebaut, weil sie teuer sind. Es ist jedoch eine Kurzsichtigkeit, die Stärken älterer Menschen nicht zu nutzen und auch keine Strategien zu entwickeln, wie es älteren Menschen bis zum Schluss im Berufsleben Freude machen kann. Es müsste in der Zukunft ein Modell geben, in dem man weiterhin sinnvoll erwerbstätig sein kann, ohne unentwegt mit dem Pensionssystem in Konflikt zu geraten und ohne das Gefühl zu haben, als Freiwilliger ausgebeutet zu werden, gar keinen Stellenwert zu haben. Wenn genug Arbeitsplätze wären, würde man sicher auf die Älteren zurückgreifen, aber selbst wenn heute Spitzen bei den Aufträgen sind, dann kommen eher Leihfirmen zum Zug (…). Ältere Manager verfügen über reife Expertise : Pro-Aktivität, Nachhaltigkeit, Wertschätzung, Netzwerke, Pragmatik, Komplexität, Machbarkeit, Nutzen, Verbesserung, Vielseitigkeit. Ältere Menschen zeichnen sich durch ein enormes Beziehungspotenzial (etwa Kommunikationsstärke) aus, das sie in sozialer Isolation nicht ausspielen können. Ältere Menschen haben Kompetenzen, etwa die des Zuhörens. Aufgrund von anderen Zeitstrukturen könnten sie wertvolle Gesprächspartner sein. Dies wird im Alltag jedoch kaum erkannt. Ältere Menschen haben eine Gelassenheit, welche jüngere Menschen nicht haben. Ältere Menschen könnten damit sehr gut beraten. Ein Freund, der macht gerade Alben. Mit den alten Fotos drinnen und was er sonst halt noch so hineingibt. Erinnerungssachen. Für die Älteren wäre es schon interessant, sich mit dem auseinanderzusetzen : Was ist in meinem Leben passiert ? Aber da braucht es ja Initiativen. Von einem selbst aus ist das schwierig. Man hat mich nach meinem Beruf gefragt, aber nach dem ersten Halbsatz war man schon gelangweilt. Ich habe nicht unbedingt das Bedürfnis, meine Erlebnisse aufzuschreiben. Aber ich würde mich freuen, eine Gruppe zu haben, mit denen ich die alten Lieder singen kann, die alten Märchen erzählen kann, für mich – um das aufzufrischen.

Doch es liegt nicht alles in externen Verantwortlichkeiten. Der eigene Beitrag muss von einer Art sein, dass andere aufmerksam werden. »Wenn nur zum Doktor gerannt wird oder Tauben gefüttert werden, dann werden eben ältere Menschen nicht geschätzt.« Im Alltagsbewusstsein gibt es einen entschieden hohen Anteil an Überzeugung, dass die Anstrengung im Kampf um Anerkennung auch bei jedem einzelnen Menschen selbst liegen muss. Solche Überzeugungen fallen nicht vom Himmel, sie werden aus der Erfahrung gespeist. Die Menschen wissen um ihre eigene Änderungsfähigkeit, »Wandlungspotenziale« heißt das in der wissenschaftlichen Sprache, und vielleicht haben sie noch nicht gelesen, dass 107

Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

Sigmund Freud davon sprach, wie die Seele immer jung bleibe – doch sie praktizieren die Konsequenz, in dem sie an sich »herummodeln« (Richard Rorty), und versuchen, mit sich verändernden Bedingungen zu Rande zu kommen. Dass die Gesellschaft solchen Versuchen, wenn sie auch klein erscheinen mögen, keine entsprechende Aufmerksamkeit zollt, ist ebenfalls ein Hinderungsgrund, um Potenziale zu entdecken, zu fördern und zu nützen.

Selbstfindung und Partizipation Ich finde, dass es für den Menschen selbst wichtig ist, das zu tun, was ihm Spaß macht oder, besser gesagt, was seinem Leben einen Sinn gibt. Ich habe mir halt gedacht, ich mache in der Pension nur noch das, was ich will, was ich wirklich will – weil man im Beruf ja so viele Zwänge hat. Es ist so : Man muss sich schon im Berufsleben auf die Zeit ohne Beruf vorbereiten. Wichtig wäre : ein Coaching genau vor und nach der Pensionierung, weil ich glaube, dass der Abfall genau nach dem Ausstieg aus dem Berufsleben passiert. Ältere Menschen müssen motiviert werden, Erfahrungswissen und soziale Fähigkeiten zur eigenen Sinnfindung auszunützen. Die herrschende Meinung, Sinnstiftung erfolgt ausschließlich über den Broterwerb, ist dabei ein Hindernis. Man nennt das Selbstverwirklichung. Ältere Menschen müssten verstehen, dass in dieser Lebensphase eine andere Form der Selbstverwirklichung Thema ist. Man ist noch nicht fertig, wenn man älter ist, sondern man beginnt etwas Neues. Selbstfindung, neue Themen suchen, Unterstützung suchen, gemeinsam etwas tun. (…) aber in meinem Fall ist das so, ich genieße die kulturellen Aktivitäten – Familie hinter mir, die Kinder erwachsen, die haben selbst schon wieder Kinder. Ich will diese Freiheit. Meine Frau und ich sind oft unterwegs zu kulturellen Veranstaltungen, Theater, Oper, Operette. Das war mir aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit verschlossen und hat mich früher auch nicht interessiert. Ältere Menschen können lebendige Geschichte sein. Durch ihre Erinnerung können sie Erlebnisse vermitteln, anders als Schulbücher. Im Lichte ihrer Lebenserfahrung können ältere Menschen relativieren. Da war einmal ein alter Herr, der ist gegen ein Auto gelaufen und war dann im Spital. Wir haben ihn dann immer besucht, und ich hab’ immer einen Buben mitgenommen, weil der sich nicht getraut hat, allein in ein Spital zu gehen. Das ist ja auch wichtig, jemand beizubringen, dass man ruhig in ein Spital gehen kann. Der Wissenstransfer funktioniert nur in der Familie ; darüber hinaus ist er nicht organisiert und findet nicht statt. Nicht gesehen werden ältere Menschen unter dem Gesichtspunkt ihrer Herkunft. Migranten mit höherem Alter sind aufgrund ihrer Erfahrungen eine Ressource für Migranten, die erst kürzere Zeit hier leben. Das Erfahrungswissen älterer

108

Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren

Menschen (handwerkliches Können, etwa Renovierung eines alten Bauernhauses, häusliches Wissen, volkstümliche Dinge, das Wissen, sich selbst zu versorgen) wird nicht gesehen. Zur Weitergabe des Wissens werden neue soziale Rollen für ältere Menschen notwendig. Das Wissen und die Erfahrung älterer Menschen dürfen auch nicht verherrlicht werden ( weise Greise ). Es bedarf eines gesellschaftlichen Mittelwegs im Umgang mit dem Erfahrungswissen älterer Menschen : zwischen Verherrlichung und Runtermachen. Wenn es um öffentliche Mitsprache geht : Die Älteren nehmen die staatsbürgerlichen Pflichten wahr, wenn es um öffentliche Wahlen geht. Wenn es um andere Dinge geht, vielleicht weniger. Ich kenne einige, die in der Politik tätig sind, einige, die in der Wirtschaft tätig sind. Ich habe halt jetzt im Alter meine politischen Tätigkeiten, muss aber auch sagen, dass ich immer schon ein politischer Mensch war. Man müsste den Leuten beibringen : Auch ihr seid daran beteiligt, dass die Zukunft etwas bringt !

In den Köpfen teilt sich das Vorstellen in Erwerbsarbeit in heutigem Verständnis und das Leben außerhalb dieser. Hier folgt das Bewusstsein meist den traditionellen Aufteilungen. Über das, was in dieser Aufteilung zu kurz kommt, gibt es allerdings klare Ideen. Die Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Potenziale der Älteren im Erwerbsleben ist falsch, grundfalsch, im Sozial- und Bildungsbereich liegen Möglichkeiten brach. Die Gegenwart ist nicht darauf eingestellt, dass ältere Menschen die Fähigkeit haben, »perspektivische Einschätzungen über lange Zeiträume abzugeben«, Geduld zu üben und Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Erfahrungswissen, Fachwissen, historisches Wissen sind vorhanden und werden nicht genutzt. Dabei kann den Älteren zu Recht Engagement, Zeitautonomie und Sinnarbeit, Lernfähigkeit und Lernwilligkeit zugeschrieben werden. Allerdings bedarf es der stützenden Strukturen. Die deuten gegenwärtig aber eher in andere Richtungen : Ältere Menschen werden (im beruflichen Bereich) »abgebaut«, im ehrenamtlichen Bereich könnten mehr ältere Menschen eingebaut werden, es fehlt an Angeboten im Sinn finanzieller und politischer Stützung (»Geld für professionelles Gestalten«).

Hobbys und Lernen Es gibt dann auch sehr viele, die ein Hobby ausüben, für das man das ganze Leben nicht oder wenig Zeit hatte (…). Da geht es um Singen, Malen, noch irgendwelche Handwerke erlernen. Eine Freundin renoviert zum Beispiel alte Möbel – und solche Dinge.

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Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

Sachen, für die man keine Zeit hatte, aber auch Sachen, von denen man vielleicht auch nicht hätte leben können. Interessen nachgehen, wofür neben dem Arbeitsprozess und der Familie die Zeit gefehlt hat. Ich würde sagen, bei mir ist da auch ein Stück des Nachholens dabei. Es gibt Leute, die Schachklubs privat organisieren, Karten spielen, alle möglichen Dinge, Malen, Zeichnen, Hobbys. Da würde ohne Ältere viel nicht passieren ! Wenn ich an die Männer denke, diese handwerklichen Fähigkeiten, die sie gerne weitergeben würden : dafür gibt es keinen Raum. Und sie können ja schwer sagen : Jetzt komm zu mir und ich zeige dir das ! Ich mache einen Italienischkurs – nicht, dass ich nach Italien fahren werde oder es noch brauche, sondern um den Geist frisch zu halten. Geistig ist das natürlich auch von Vorteil, das Aktivbleiben. Auf die Uni, die Volkshochschule gehen – nie aufhören, wach bleiben. Ich sage einmal, in welcher Form auch immer teilnehmen. Meine Partnerin macht auch Englisch-Konversationsunterricht, um ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen. Sie hat auch einige Zeit in Kanada gelebt, daher ist ihr das wichtig. Ich selbst habe jetzt zum Beispiel mit einer Ausbildung zur Gesundheitsberatung und Fastenbegleitung angefangen, das möchte ich dann auch gerne umsetzen – sobald ich die Prüfung habe. Das geht in Richtung Fortbildung, Tun für die eigene Gesundheit, das So-langewie-möglich-gesund-Bleiben – aber auch, damit ein bisschen was dazuverdienen. Die Selbstfindung ist ein wichtiger Bereich, zu welchem ältere Menschen motiviert werden müssen. Dies funktioniert über Bildungsangebote. Beim Thema Bildung sind wir noch nicht einmal am Anfang. Die Lernbereitschaft ist vorhanden. Allerdings müssen ältere Menschen mehr aktiviert und begleitet werden. Durch Bildungsangebote kann ein großer Teil der älteren Menschen vor dem totalen Sumpf bewahrt werden. Menschen, die eine Pension von siebenhundert Euro haben, können es sich nicht leisten, für einen Computerkurs einhundert Euro hinzulegen. In meinem Alter arbeite ich noch am Computer, da bin ich ganz glücklich, dass ich das noch erlernt habe. Ich habe mich nie interessiert für Computer, aber jetzt, wo ich es brauche – ich schreib’ auf Disketten ! Der Computer oder das Surfen, das interessiert mich nicht – da setze ich mich lieber aufs Rad und fahre zur Donau. Die frühzeitig pensionierten Menschen der letzten Jahre haben weitgehend den PC und das Internet beruflich nicht mehr erleben können. Ohne entsprechende Bildungsmaßnahmen leben diese Menschen die nächsten 20 bis 25 Jahre außerhalb der Informationsgesellschaft. Man muss aufgeschlossen sein für alles Neue und sich interessieren für alles Neue und auch versuchen zu verstehen, was jetzt so ist, was vor sich geht in der Welt. Sich für alles interessieren, im Kleinen wie im Großen. Nicht sagen, ach, wozu brauche ich das noch, das interessiert mich nicht, das lerne ich eh nicht mehr.

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Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren

Von ganz eigener Bedeutung, auch angesichts der gegenwärtig wieder intensivierten Diskussion über Parallelgesellschaften, Leitkultur etc., ist die Vorstellung, dass aus dem Miteinander von Einheimischen und Migranten Nutzen zu ziehen wäre (vgl. Zitate oben). Diese Vorstellung liegt auf derselben Ebene wie jene, dass ältere Menschen in Gruppen sehr viel länger ohne gesellschaftlich organisierte Hilfe selbstständig handeln können. In beiden Fällen geht es darum, persönlichen Kontakt, wechselseitige Lernprozesse und soziale Erfahrung zu realisieren. Das Arbeitsleben gibt zu diesem Thema noch am meisten her. Der Gruppe der älteren Manager wird einiges zugetraut und angesonnen. Merkwürdig dünn fallen die Vorstellungen darüber aus, wo und wie bei den Älteren selbst motiviert werden könnte. Doch auch hier werden wieder Hindernisse gesehen. »Das Phantasievolle, das Lustvolle, das Spielende, das Kreative« in älteren Menschen sind keine Themen, weil sie »gesellschaftlich nicht so gerne gesehen werden.« Nicht von der Hand zu weisen sind aber Gedanken, die auf Kontakt, Interaktion und Anerkennung setzen. »Eine Motivation, biographische Erfahrungen und erworbene Fähigkeiten einzubringen, könnte durch das Gefühl erreicht werden, als Gruppe für den gesellschaftlichen Diskurs wichtig zu sein.« Fast dialektisch gedacht ist die Sentenz, dass ältere Menschen Anerkennung finden, indem sie beruflich nichts mehr erreichen wollen. »Soziale Beziehungen sind die Grundlage für alles, was ältere Menschen lernen wollen – dann sind sie hoch motiviert.«

Werte und öffentliche Präsenz Shopping gehen, das hat für mich keine Wichtigkeit mehr. Ich kann selbst nähen – und mir meine Sachen so herrichten, dass ich sie noch verwenden kann. Mode interessiert mich heute nicht mehr so. Das vorhandene Wertesystem in die Zukunft zu tradieren. In der schnelllebigen Zeit sind schnelle Antworten gefragt. Da können ältere Menschen nicht mit, sie brauchen Zeit und Raum zur Entfaltung. Ein anderes Ehepaar organisiert in einer alteingesessenen Runde Bildungsreisen für Senioren. Ältere Menschen sollen auch motiviert werden, sich zusammenzuschließen, sich innerhalb der eigenen Generation auszutauschen : sich untereinander organisieren, politisch sein, sich gegenseitig unterstützen. Es gibt das Gefühl, dass Ältere manche Verrücktheit nicht mehr machen können, weil die anderen vielleicht blöd schauen oder weil man als verrückter Alter angesehen wird. Vom Staat und der Gemeinde wird nicht richtig gesehen, was alles getan wird. Wenn das alles auf einmal fallen gelassen werden würde ! Als Gruppe werden die Alten öffentlich nicht wahrgenommen. Ich glaube, dass sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und älter geworden

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Ein Kaleidoskop der Aktivitäten Älterer

ist. Das Bewusstsein ist aber 50 Jahre hinten nach. Also noch in einer Zeit, wo der 60Jährige oder 65-Jährige – auch durch die Weltkriege – körperlich völlig fertig war.

Dass ältere Menschen permanent und in vielgestaltiger Weise höchst produktive Beiträge zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit zur Lebensqualität liefern, wurde mehrmals betont. Berufen wir uns auf die älteren Menschen selbst, auf ihre alltagsweltlichen Meinungen, Erfahrungen und Vorstellungen, so wird deutlich, dass ihre Aktivitäten immens abwechslungsreich und vielgestaltig sind. Dies zu begreifen gelingt allerdings nur dann, wenn wir einen Produktivitätsbegriff verwenden, der nicht ausschließlich auf Konsum und Erwerb fokussiert wird. Unsere Konzeption von Produktivität ermöglicht es, produktive Beiträge älterer Menschen als solche wahrzunehmen und zu begreifen, auch wenn sie außerhalb oder am Rande der ökonomischen Messbarkeit liegen.

Soziale Kontakte Es ist für einen selbst wichtig, dass man Kontakte hat, dass man spricht, dass man des anderen Sorgen kennt. Ich bemühe mich um die Mutter einer verstorbenen Schulkollegin. Sie ist jetzt im 99. Lebensjahr. Wir telefonieren jeden Tag. Man kann zwar mit ihr nicht mehr viel anfangen, weil sie alles vergisst, aber das ist nicht so wichtig. Sie sagt immer, es ist so gut, dass ich mich um sie kümmere – das ist für mich einfach auch schön. Und wenn es oft nur ein Telefonat ist. Und wenn man zu ihr geht, hört man halt einfach nur zu, sie sagt zwar alle paar Minuten dasselbe, aber das ist nicht wichtig – wichtig ist, dass man da ist, dass man ihr gegenübersitzt, dass sie sich aussprechen kann. Ich liebe den Kontakt mit anderen Menschen. Ich bin nicht sehr gerne zu viel alleine, obwohl ich die Wohnung nach meinen Wünschen eingerichtet habe. Aber ich möchte nicht nur zu Hause sitzen und lesen und Musik hören, ich brauche irgendeine Aktivität, und ich kann es besser machen in einer Gruppe. Und vor allem diejenigen, die alleine sind : die brauchen ja Ansprache. Man braucht Freunde im Alter – so einfach gesagt. Nicht nur Familie, denn die gibt es nicht immer. Manche haben Glück, die haben eine Familie oder eine gut gehende Familie, aber viele Leute haben das nicht. Es kann nicht sein, dass wir den Kindern etwas erzählen und die Kinder uns etwas vorsingen. Also ich will von den Kindern nichts vorgesungen bekommen. Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten, mit ihnen gemeinsam ein Projekt machen. Gemeinsam etwas durchziehen. Gefördert werden muss der soziale Kontakt unter älteren Menschen. Ohne soziale Kontakte besteht die Gefahr der sozialen Isolation. Viele ältere Menschen würden gerne mehr in

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Eine erweiterte Perspektive – das Breitbandwissen der Älteren

Schulen gehen, mehr Kontakte zu jüngeren Generationen halten, um über ihr Leben und ihre Erfahrungen zu sprechen. Vorhandene Projekte sind meist Einzelleistungen bemühter Lehrer.

Im Jahre  hielt die International Labour Organization (ILO) »The Copenhagen  World Summit for Social Development« ab. Das damalige Bekenntnis zu folgenden Prinzipien (Auszug) mag als Epilog dienen, sie sind auch heute, mehr als zehn Jahre danach, noch von aktueller Bedeutung und harren in vielerlei Hinsicht ihrer Einlösung. •









Anerkennung und Unterstützung der Beiträge von Menschen aus allen Altersgruppen als gleichwertig und zentral bedeutsam für den Aufbau einer stimmigen Gesellschaft sowie Pflege des Dialogs zwischen den Generationen in allen Teilen der Gesellschaft Fördern und Erreichen der Ziele und des gleichberechtigten Zugangs zu qualitätsvoller Ausbildung und der höchsten erreichbaren physischen und psychisch-geistigen Gesundheit sowie des Zugangs aller zur primären Gesundheitsversorgung sowie spezieller Anstrengungen, die Ungleichheit der sozialen Lage ohne Unterscheidung nach Alter und Beeinträchtigung zu verbessern Fördern des Zieles der Vollbeschäftigung als einer ersten Priorität unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik und Ermöglichen eines sicheren und nachhaltigen Lebensunterhalts für alle Männer und Frauen durch frei gewählte produktive Beschäftigung und Arbeit Förderung der sozialen Integration durch die Unterstützung von Gesellschaften, die stabil, sicher und gerecht sind und die auf der Förderung und Sicherung aller Menschenrechte ebenso beruhen wie auf Nichtdiskriminierung, Toleranz, Respekt für Verschiedenheit, Gleichheit der Chancen, Solidarität, Sicherheit und Teilhabe aller Menschen, auch der Benachteiligten und Gefährdeten Formulierung und Stärkung jener Politiken und Strategien, welche auf die Aufhebung von Diskriminierung in all ihren Formen und auf das Ergebnis sozialer Integration ausgerichtet sind, die auf Gleichheit und Respekt vor menschlicher Würde basiert (eigene Übersetzung).

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Kapitel 7

,EBENSQUALIT¦TÖINÖ%UROPAÖkÖ'ESUNDHEIT Ö 'LCKÖUNDÖ,EIDÖ

Was Glück sei, treibt die Gedanken der Menschen schon lange um, manche Philosophen wie Max Horkheimer hielten es für eine Tatsache, die keiner eigenen Begründung oder gar Rechtfertigung bedarf. Dem Alltagsverständnis ergeht es ebenso. Lucius A. Seneca (genannt Seneca der Jüngere) war der Meinung, dass Glück die Fähigkeit zur Freundschaft mit sich und anderen spende, allerdings war er auch dafür, seine Freunde auf Distanz zu halten. Darauf kommen wir weiter unten beim Konzept des Sozialkapitals in einer anderen Begrifflichkeit zu sprechen. Aus einer Sicht, die mehr mit der Frage zu tun hat, wie Glück überhaupt erforscht werden könnte, ist es eine »unmögliche Frage«, weil sie an Kompliziertheit kaum zu übertreffen ist. Ist Glück eigentlich eine rein persönliche Angelegenheit und dadurch »nicht fassbar«, oder gibt es allgemeine Möglichkeiten der Bestimmung ? Ein wenig erinnert die Frage an jene des Augustinus, was die Zeit sei, auf die er antwortete, solange man ihn nicht danach frage, wisse er es. Nachdem die Beschäftigung mit dem Glück seit jeher eine Angelegenheit der Philosophie und der Theologie war, mutet es fast ein wenig »abwegig« an, wie Robert Hettlage es nennt, aus soziologischer Denkweise die Argumentationslage noch zu erweitern (Hettlage  : ). Doch versuchen wir es.

7.1 Mittendrin beginnen – im Pflegeheim Ernst Bloch, der Philosoph, der »Das Prinzip Hoffnung« geschrieben hat, meinte einmal sinngemäß : Bei jedem schwierigen Problem, das es zu lösen gelte, sei es am besten, mitten drin zu beginnen und sich ihm nicht künstlich von außen zu nähern. Wir versuchen es hier mit einer sehr speziellen Frage. Wie lassen sich Glück und Zufriedenheit, wie lassen sich die tiefen Gefühle und Erfahrungen von Geborgenheit, Selbstwert, Vertrauen und Sinn bei Menschen bestimmen, die in einem Geriatriezentrum leben, die geistig verändert, mehr oder weniger dement sind ? Woran kann Glück festgemacht werden, wenn die Gesundheit beschädigt ist, der Kreis der Familie und der Verwandtschaft außerhalb des Heimes lebt, wenn der persönliche Bewegungsraum eingeschränkt ist und die Vergangen115

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

heit im Leben wichtiger wird als die Zukunft, das Essen vielleicht wichtiger als das Gespräch ? Macht es Sinn, von Glück zu sprechen angesichts der Erfahrung, dass in den Medien immer wieder sogenannte Pflegeskandale auftauchen, dass Heime oft ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit haben, Menschen, wenn sie älter werden, nur mit Widerstreben daran denken »in ein Heim zu müssen« ? In den Sozialwissenschaften hat sich in den letzten Jahren, unterstützt durch eine Initiative der Weltbank und der OECD, die das »Messen« von Sozialkapital im Auge hat, ein Instrumentarium entwickelt, das hier einschlägig ist.¹⁸ Es lassen sich die Wirkungen von sozialen Kontakten und von Emotionen, von Maßnahmen, welche die Gemeinschaft stärken, von menschlicher Zuwendung und sinnvollem Tun ganz gut bestimmen, wenn zwischen den Ebenen der einzelnen Person, jener der sozialen Netzwerke und zuletzt jener der größeren (Glaubens- aber auch Gesinnungs-)Gemeinschaft klug unterschieden wird. Alle drei zusammen bilden in ihren Wechselwirkungen die Vorstellung von »Sozialkapital«, wobei der Begriff mit der älteren Idee des Humankapitals aus der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, die sich auf die in der Arbeit verwertbare Kraft und Fähigkeit richtete, nichts mehr zu tun hat. Die zentrale These lautet, dass das Ergebnis aus menschlichen Nahebeziehungen, freundlichen Kontakten und Gemeinschaftserleben, und zwar abhängig von der Intensität oder »Wärme«, der Häufigkeit und der Dauer, den Wert des Sozialkapitals stiftet und Glück und Lebenstüchtigkeit steigert – selbst unter eingeschränkten Lebensbedingungen. Seit Langem ist bekannt, dass für die Älteren ganz allgemein funktionierende soziale Netzwerke zur wichtigsten Daseinsausstattung gehören. Doch ist das in Pflegeheimen auch der Fall ? Wird solche Forschung nun in einem Geriatriezentrum oder in einem Pflegeheim betrieben, so hat sie nur noch wenig mit den Lebensumständen in der privaten Wohnung zu tun, es ist auf viele Besonderheiten Bedacht zu nehmen, eben die »Lebenswelt Heim«. Nicht alle Menschen können dort die Fragen eines Interviews beantworten, manche sind desorientiert und nicht ansprechbar, andere ermüden sehr schnell und brechen Interviews ab. Wieder andere laufen anscheinend ziellos umher, schlafen während des Gesprächs ein oder finden den Weg zur Toilette nicht. Es müssen also auch spezifische Situationen beobachtet werden, und es muss das Personal befragt werden, manchmal auch die Angehörigen. Nur das ganze Bild gibt einen guten Überblick. Dann aber stellt sich klare Übersicht ein. Auch im Geriatriezentrum sind soziale Beziehungen das Um und Auf. Die persönliche soziale Befindlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner wird durch die Kontakte zu anderen aus dieser Gruppe dominiert ; die Beziehungen zum Personal spielen in diesem Fall die zweite Geige. Das Wohlbefinden im ganzen 116

Mittendrin beginnen – im Pflegeheim

Haus, sozusagen das Milieu des gesamten Zentrums, wird eindeutig durch die Beziehungen zum Personal bestimmt, nun rücken die Kontakte zu den anderen betreuten Personen an die zweite Stelle. Freundliches Begegnen, Grüßen, Geduld haben und sich Zeit nehmen spielen hier eine wichtige Rolle. Besuche von außen haben insgesamt eine geringere Wirkung, wenn es nicht um regelmäßige »Betreuung« durch Nahestehende geht – auch muss daran gedacht werden, dass nur ein Teil der Menschen im Heim »fleißig« besucht wird (Gehmacher ). Solche Forschung hat einen eminent praktischen Bezug, mit den Ergebnissen sollen ja Begründungen für Veränderungen gefunden werden. Also wenden wir uns den »Problemen« zu. Nahebeziehungen der gewohnten Art mit Menschen aus der Familie, mit Freunden oder Nachbarn durch häufige und lange Besuche aufrechtzuerhalten, stößt schnell an Grenzen. In dieser Hinsicht ist das Sozialkapital in den meisten Fällen mangelhaft und kann fast nie durch enge Beziehungen im Haus vertreten werden. Deshalb ist die Klage über den mangelnden Besuch der Kinder oder der Enkel Dauerthema und zeugt von erlebter Benachteiligung und Verstörung. Da helfen auch Besuchsdienste wenig. Gutes und entsprechend geschultes Personal vermag viel, vor allem, wenn es persönliche Zuwendung und Aufmerksamkeit, Sympathie und emotional warmen Kontakt zu vermitteln imstande ist. In manchen Untersuchungen wird dafür das Konzept der »Empathie« eingesetzt. Dass diese Zuwendung eine Selbstverständlichkeit sein sollte, gilt gerade bei Einschränkungen durch Behinderung und Demenz besonders, wird aber nicht immer erfüllt. Arbeitsbedingungen hinderlicher Art, veraltete Pflegemodelle, aber auch mangelnde Qualifikation und Arbeit nach Routine sind hier oft die Gründe. Aus der Sicht des Konzepts Sozialkapital ist diese Frage geradezu eine Drehscheibe von Einsichten. Solche Zuwendungen, von beiden Seiten, sind über den Beziehungsaspekt als Identifikationsmöglichkeit eingebettet in die größere soziale Gemeinschaft, also die dritte Ebene des Sozialkapitals. Auch schwer beeinträchtigte Menschen können in diesem Zusammenhang ein erstaunliches Maß an emotionalem Sinngefühl und Selbstwert-Freude bewahren (Gehmacher  : ). Diese Ergebnisse haben mit Lebensqualität zu tun, Lebensqualität im Pflegeheim. Hier gibt es auch andere Überlegungen, die nicht allein in Begriffen des Sozialkapitals ausgedrückt, sondern anders konzipiert werden. Da geht es z. B. um Fragen, wie es um die Autonomie und Selbstständigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner bestellt ist, ob sie erleben, dass ihnen Empathie entgegengebracht wird, ob ihre Privatheit gewährleistet wird und wie sicher sie sich fühlen, und schließlich, ob sie Akzeptanz erleben (Lang, Löger, Amann  : ). Empirischen Ergebnissen zufolge ist Autonomie der zentrale Faktor für die erlebte 117

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

Lebensqualität. Akzeptanz durch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner stellt einen zweiten Faktor dar, der sich interessanterweise in jenen Situationen im Heim besonders bemerkbar macht, in denen es um Essen und die nähere soziale Umgebung geht. Der dritte in der Reihenfolge ist die erlebte Empathie der pflegenden Personen, und diese kommt wieder besonders in Situationen zum Tragen, in denen Pflege- und Hilfearbeit geleistet wird. Werden die einzelnen Faktoren zueinander in Beziehung gebracht, so stellen Autonomie und Empathie die beiden Leitlichter dar. Das deckt sich z. T. wieder mit den Resultaten aus der Perspektive des Sozialkapitals. Die erlebte Lebensqualität ist also äußerst vielschichtig bedingt, einen oder auch zwei kausale Gründe gibt es nicht, es ist immer ein ganzes Geflecht an Bedingungen, die eine Rolle spielen. Das Wohlbefinden, sowohl ganz allgemein als auch in den Bereichen der Empathie und der Akzeptanz, nimmt mit steigenden Schwierigkeiten, sich zu bewegen und mobil zu sein, rapide ab. In anderen Worten : Die Lebensqualität, gemessen am subjektiven Erleben der Zuneigung und Wärme durch andere und am subjektiv erlebten Akzeptiertwerden, wird geringer, wenn gesundheitliche Veränderungen es schwerer machen, sich im sozialen Raum zu bewegen. Hier könnte eine Vorstellung, die sowohl in der Alltagserfahrung wie in der Forschung gilt, herangezogen werden : Wenn die Gesundheit sich verändert, dann verändert sich fast alles andere auch. Nie kommt es aber vor, wenn in solchen Untersuchungen Pflegeheime verglichen werden, dass die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner in einem Heim zur Gänze schlechter wäre als in anderen Heimen. Einmal sind die Werte für Autonomie, Empathie und Akzeptanz hoch, jene für Privatheit und Sicherheit niedrig, im anderen Fall kann sich das Bild wieder völlig umkehren. Dies trifft sogar auf einzelne Stationen oder Abteilungen innerhalb eines Pflegeheimes zu, wenn sie einem Vergleich unterzogen werden (Lang, Löger, Amann  : ).

Es gibt wohl kaum einen anderen sozialen Ort als das Pflegeheim, bei dem es den meisten unter uns schwerfällt, sich Vorstellungen über Wohlbefinden, Zufriedenheit und Glück zu machen. Mit diesen Wörtern verbinden sich ja auch tiefe Gefühle von Geborgenheit, Selbstwert, Vertrauen und Sinn. Mit dem Pflegeheim aber assoziieren wir Menschen, die geistig verändert, mehr oder weniger dement und inkontinent sind. Ihre Gesundheit ist beschädigt, Familie und Verwandtschaft sind fern, sie wohnen möglicherweise eine Autowegstrecke von einer Stunde entfernt, der persönliche Bewegungsraum ist eingeschränkt und die Vergangenheit ist im Leben wichtiger geworden, als es die Zukunft ist. Das Denken konzentriert sich auf das Essen, nicht auf Gespräche. Auch wenn

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Erste Weiterung – Gesundheit und Glück

es vielfach so sein mag, wir liegen in unseren Einschätzungen trotzdem weit daneben. Auch schwer beeinträchtigte Menschen können ein erstaunliches Maß an emotionalem Sinngefühl und Selbstwert-Freude bewahren. Es sind die sozialen Beziehungen und das Erleben von Nähe und Akzeptanz, es ist das positive Sozialkapital, es sind diese Bedingungen, an denen gearbeitet werden muss. Hier kann viel geschehen.

7.2 Erste Weiterung – Gesundheit und Glück19 Ein anderes Programm, diesmal initiiert und gefördert durch die WHO, das sogenannte »WHO Healthy Cities Programme«²⁰, verpflichtet jene, die daran teilnehmen, zu Aktivitäten für Gesundheit und Nachhaltigkeit ; dazu gehört auch einschlägige Forschung. In Österreich wurden im Zuge dieses Programms eine Reihe kommunaler Gesundheitssurveys durchgeführt, Studien, die zumindest in den vergangenen vier bis fünf Jahren mit dem erstgenannten Programm der Messung von Sozialkapital methodisch verknüpft wurden. Die Ergebnisse dieser Studien lassen eine Weiterung der obigen Diskussion zu, indem die Sonderwelt Heim verlassen wird, das Augenmerk aber trotzdem auf Einschränkungen und Veränderungen im Alter verharrt. Es bestätigen sich teilweise ältere Einsichten, es tauchen aber auch neue auf. Die Gesundheit wird mit fortschreitendem Alter schlechter, allerdings : Es sind völliges Gesundsein und befriedigende Fitness auch bis ins achtzigste Lebensjahr und darüber hinaus möglich. Jenseits der Grenze zur Hochaltrigkeit sind es noch zwölf Prozent in dieser Gruppe (+), die sich völliger Gesundheit erfreuen. Während nun die Zahl an Menschen in völliger Gesundheit schon von jüngeren Jahren an geringer wird, sinken Wohlbefinden und Glücklichfühlen weniger schnell ab. Eine merkliche Verringerung ist erst in einem Alter von fünfundsiebzig aufwärts bemerkbar. Die Verluste in der Gesundheit und im Glücklichsein folgen keinem ehernen oder biologischen Gesetz, sie variieren nach den verschiedensten Faktoren. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den europäischen Städten (im WHO-Programm), es gibt nicht ausschließlich nur Gewinner, in manchen der Städte finden sich bessere Gesundheit und Glückserleben unter den Jüngeren oder unter den Frauen, in anderen sind die Älteren oder die Männer besser dran (Gehmacher ). Als wichtigste Bedingungen für abnehmende Gesundheit im Alter aber gelten überall : soziale Defizite wie Beziehungsverlust, sozialer Stress und Konflikt, Aktivitätsdefizite wie die völlige Beschäftigungsaufgabe, passives Freizeitverhalten und ein Verfall der Bedeutung religiöser, politischer oder ideologischer Glaubens119

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

systeme und schließlich die Gesundheitsvorsorgedefizite wie ungesunde Ernährung, Abhängigkeit von Drogen oder schädlichen Genussmitteln und mangelnde Prävention. In diesem Zusammenhang kommen wir auf ein bekanntes Thema. Die in vielen Forschungen dokumentierten Ungleichheiten im Gesundheitszustand zwischen Männern und Frauen, oder zwischen sozialen Klassen, basieren im Wesentlichen auf diesen drei Defizitarten und den mit ihnen verbundenen Lebensstilen und Stressbelastungen. Zentral aber ist : Es gibt einen sehr starken Zusammenhang zwischen Wohlbefinden (happiness) und Gesundheit (fitness), der in beide Richtungen arbeitet. Die Gesunden fühlen sich gut – und Wohlbefinden stärkt die Gesundheit. Alle diese Daten erzählen uns eine überraschende Geschichte. Der Effekt der Gesundheit auf das Wohlbefinden ist im Alter stärker als bei den Jüngeren, was in gewisser Weise plausibel ist, aber auch die Alten, die »fit« sind, und ebenso jene Alten, auf die dies weniger zutrifft, sind glücklicher als die Jüngeren. Da stellt sich die Frage, ob das Alter für sich, bei sonst gleichem Gesundheitszustand, eine Quelle des Wohlbefindens (well-being) sein könnte bzw. ob die jüngere Generation allgemein unter einem größeren Mangel an Wohlbefinden leidet. Für eine Antwort brauchen wir hier wieder die oben dargestellte Idee des Sozialkapitals. Ein Blick auf die kombinierten Effekte von Sozialkapital (kein starker sozialer Stress und keine Einsamkeitsgefühle) und guter Gesundheit lässt keinen Zweifel : Jene über sechzig sind glücklicher als jene darunter, aber die Gesundheit wiegt schwerer bei den Älteren. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass bei den Jüngeren ein erhebliches Ausmaß an sozialen Defiziten bestünde ; im Gegenteil : Die über Sechzigjährigen verfügen über weniger formale Bildung und haben weniger Möglichkeiten, Befriedigung aus Berufsarbeit zu ziehen. Trotzdem ist es so, dass Glücklichsein (happiness), ganz unabhängig davon, ob jemand mehr oder weniger »fit« ist, bei den über Sechzigjährigen ansteigt. Nun lassen sich diese Muster in Details zerlegen. Die stärkste positive Wirkung auf Gesundheit und Glücklichsein im Alter haben Sozialkapital (alle Bedingungen sozialer Inklusion, hier sei an das Seneca-Argument erinnert), physische Aktivitäten und Arbeit. Höhere Bildung (Matura und mehr) und Maskulinität spielen jenseits der sechzig keine große Rolle mehr. Die schlechte Nachricht ist, dass Prävention, zumindest nach diesen Healthy-Cities-Daten, keine sichtbare Wirkung zeigt. Sozialkapital und körperliche Aktivität dagegen wirken wahre Wunder für die Gesundheit im Alter. So kann der Schluss lauten : Altern macht glücklich, wenn Einsamkeit, schlechte Gesundheit und Sinnverlust vermieden werden können. Mit »Friends, Fitness, Fun«²¹ ist das Leben jenseits der sechzig besser als davor (Gehmacher ).

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Zweite Weiterung – über die Lebensspanne

7.3 Zweite Weiterung – über die Lebensspanne Am Anfang dieses Jahrtausends wurde berichtet, dass die Europäer, zumindest einige unter ihnen, überraschend glücklich seien. An erster Stelle stand Dänemark, dann folgten die Schweiz, Italien, Deutschland, Frankreich und Österreich (Hettlage ). Obwohl, nach diesen Ergebnissen, die Menschen in Frankreich und Österreich nicht zu den Glücklichsten zählten, über dem Durchschnitt lagen sie auf jeden Fall. Nun stellt sich die Frage, was hier denn wohl »gemessen« wird, wie es im Jargon der Wissenschaft heißt. Ist es das Glück einer »günstigen Fügung« der Umstände, ist es das Glück eines »erhebenden Erlebnisses«, ist es das Glück des »maximalen Besitzes« oder ist es das Glück, »zufrieden zu sein« ? Und da sind wir mitten in den Problemen, denen sich die Forschung gegenübersieht. Glück ist schwierig zu erfassen, weshalb denn auch oft mit Vorstellungen von Zufriedenheit oder Wohlbefinden gearbeitet wird. Mit Umständen oder Entwicklungen im Leben zufrieden zu sein, sie nach seinen eigenen Vorstellungen gestaltet zu sehen, mag eine Glückserfahrung sein, und das ist es auch, was häufig in der Forschung ausgesagt ist. Die Zufriedenheit mit einem Abschluss eines langen Geschehens, die Zufriedenheit beim Bilanzziehen über einen Lebensabschnitt, die Zufriedenheit, wichtige Probleme im Beruf oder in der Familie, die lange anstanden, gut gelöst zu haben, kann in Glückserfahrung münden. Ganz allgemein ist »mein Glück« wohl die Zufriedenheit mit meinem Leben, und so werden oft auch in Fragebögen die entsprechenden Fragen formuliert, aber dieses »mein« Leben hat viele Bestandteile mit dem Leben anderer gemeinsam (Hettlage  : ). Der Begriff ist also, auch wenn er auf verschiedene Art gedreht und gewendet wird, am Ende etwas unscharf ; was nicht wegzudiskutieren ist, findet sich in der Tatsache, dass mein Glück immer auch von anderen abhängt, solchen, die mit mir leben, und solchen, die vorher lebten. Wer vor dem Balkankrieg in Serbien oder vor  jenseits des »Eisernen Vorhangs« lebte, lebte jeweils entschieden anders, als es heute der Fall ist. Dazu kommt ein Weiteres : Wie wir schon in einem der vorigen Kapitel ausgeführt haben, machen verschiedene Generationen verschiedene Erfahrungen, sie haben verschiedenes Wissen, verschiedene Potenziale. Ob es nun um die »soziale« oder die »historische« Zeit geht, das Glück, das Menschen in ihr finden können, stellt sich in Kindheit und Jugend, im Erwachsenenalter und im höheren Alter verschieden dar. Deshalb ist es in soziologischer Sicht, anders als in philosophischer, auch nicht sinnvoll, nach dem Glück »an sich« zu fragen, sondern nach den Bedingungen oder Umständen, unter denen Glück erfahren wird, und nach den Interpretationen, in denen ausgelegt wird, was Glück sei. 121

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

Was wir uns im Alltag als Zufriedenheit, Wohlbefinden und Glück vorstellen, sind soziale Konstruktionen, also Ideen und Thesen, die wir gelernt haben, die wir mit anderen teilen und die für uns wichtig, ja unverzichtbar sind, weil wir mit ihrer Hilfe unsere Welt ordnen und interpretieren. So kennen wir denn auch die Topoi der »unbeschwerten Kindheit«, der »rebellischen Pubertät«, des »verantwortlichen Erwachsenenalters« und des »beschwerlichen Alters«, mit dem »Tod am dünnen Ende« wie es Ernst Bloch einmal ausdrückte. Unsere Vorstellungen von der Kindheit sind voll von Begriffen wie Wärme, Geborgenheit, Vertrauen, Freisein vom »Kampf ums Dasein« und Glück : »Kinderglück«. Die Psychoanalyse geht so weit, uns zu sagen, dass wir alle unbewusst nach den ersten Befriedigungserlebnissen der frühen Kindheit suchen. Doch sicher sind dies Bilder von der Kindheit, die zentraleuropäisch, bürgerlich und teilweise selbst hier realitätsfern daherkommen. Nicht für alle gilt in dieser Lebensphase, dass ihnen Zeit bis in die Adoleszenz gelassen wird, um »lebenstüchtig« zu werden, ganz zu schweigen von Straßenkindern in Lateinamerika und Südostasien und von Soldatenkindern in Afrika. Dann wollen sie »wie die Erwachsenen« sein, begegnen in diesem Anspruch der Zurückweisung, sie seien noch nicht so weit und könnten nicht alles, was Erwachsene können. In der späten Kindheit und Jugend werden sowohl unsere Konstruktionen als auch die Wirklichkeit, die ihnen zugrunde liegt, für viele äußerst zwiespältig, nach und nach wird dann die Idealvorstellung des Erwachsenseins entzaubert, nicht ganz abgekoppelt von dem sehr viel später dann auftauchenden Reflex des Zurücksehnens in die unbeschwerte Kindheit. In der Sozialpsychologie des vergangenen Jahrhunderts wurden, mit Blick auf die Jugend, die Notwendigkeit und die Inszenierungsstrategien, unter Fremden soziale Geltung zu erwerben und zu sichern, zum Daseins- und damit wohl auch zum Glücksproblem schlechthin erklärt. Wenn noch hinzugedacht wird, in welcher Weise Politik und Wirtschaft inzwischen die Grundlegung der Lebenstüchtigkeit ins immer frühere Kindesalter betreiben, mit heftiger Unterstützung einer Pädagogik, die der instrumentellen Vernunft völlig erlegen ist, könnten die Konstruktionen des Erwachsenwerdens auch als unglücklich bezeichnet werden. Marianne Gronemeyer hat das in ihrer eindringlichen Skizze über Kindheit in der Gegenwart gut beschrieben (Gronemeyer ). Kontrapunktisch nimmt sich dagegen die andere Konstruktion aus, die mit Postadoleszenz, also mit verzögertem oder hinausgeschobenem Erwachsenwerden, bezeichnet wird. Sie umreißt eine Situation, in der durch weiterführende Bildung, oft bis zum Ende des zweiten Lebensjahrzehnts, der Eintritt in den »Ernst des Lebens« aufgeschoben und toleriert wird, allerdings meistens nur für jene, die sich diese Verzögerung auch materiell 122

Zweite Weiterung – über die Lebensspanne

leisten können. Dabei hat die Vorstellung vom Ernst des Lebens sich seit dem . Jahrhundert kaum geändert. »Ernst« heißt Arbeit und Beruf, Verantwortung und Selbstständigkeit. Für die Erwachsenen verändern sich die Glücksgelegenheiten und deren Deutung. Soziologische Forschung legt nahe, dass sich die Handlungsbezüge, die mit Lebensqualität zusammenhängen, im Lebensverlauf verändern, das wurde für Deutschland wie für Österreich bestätigt. Wolfgang Schulz, Herbert Gluske und Andrea Lentsch () haben gezeigt, dass die Lebensqualität im Sinn allgemeiner Lebenszufriedenheit, je nach Lebensabschnitt, stark von verschiedenen Bereichen abhängt. Für die - bis -Jährigen sind die Partner und die finanzielle Situation für die Lebensqualität am stärksten bestimmend ; für die - bis -Jährigen werden es die Familie und der Beruf, für die Gruppe der - bis -Jährigen tritt eindeutig der Beruf als wichtigste Quelle der Lebensqualität in Erscheinung ; für Menschen über  werden zuletzt die Familie und der Partner zentral – und in allen Fällen sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht. An diesen Verteilungen werden typisch die einzelnen Orientierungen verschiedener Lebensabschnitte sichtbar. Der deutsche Psychologe Hans Thomae hat das einmal mit »Lebensthematiken« bezeichnet, kein unebener Ausdruck. Über die lange Zeit des Erwachsenenalters hinweg sollen sich Leistungserfolge, Liebeserfahrung und »Selbst-Bewusstsein« zu einem stabilen Persönlichkeitsbild integrieren (Hettlage  : ), es könnte auch gesagt werden, dass die Erfahrungen in diesen Bereichen das eigene »Selbst« bestätigen sollen. Doch wie stellen sich diese Aufgaben unter unvorteilhaften Bedingungen dar ? Zerbrochene Partnerschaften, häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes, Arbeitslosigkeit, mangelnde Anerkennung, Krankheit, Tod von Angehörigen sind Konstellationen, in denen sich viele wiederfinden und mit denen sie »fertig werden« müssen, es aber oft nicht können. Disharmonien überwiegen, da werden Zufriedenheit und Glück erschüttert, ja auch völlig abgewiesen. Dabei werden Frauen im Vergleich zu Männern von diesen Ambivalenzen auf sehr verschiedene Weise getroffen. Forschungsresultate belegen, dass nur wenige verheiratete Frauen von Selbstvorwürfen frei sind, wenn sie berufstätig werden und damit ihrer Familie Zeit und Energien entziehen. Auch wenn Entwicklungen keine pathologischen Züge annehmen, mindert sich die Lebensfreude. Und dann kommt das Alter, das glücken und den Jahren Leben hinzufügen soll. Wie im letzten Unterabschnitt schon diskutiert wurde, ist Glück auch im Alter vielschichtig bestimmt und nach Kohorten verschieden. Die äußeren Bedingungen der gegenwärtigen Zeit sind ja für ein »Erfüllungsglück«, von dem im Zusammenhang mit dem Alter manchmal die Rede ist, nicht gerade ungünstig. 123

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

Zumindest die jüngeren Gruppen unter den Älteren sind heute vergleichsweise gesünder, aktiver, mobiler und wohlhabender im Vergleich zu jenen, die vor einer Zeit vor zwanzig oder dreißig Jahren in ähnlichem Alter waren. Doch, wie immer die Verhältnisse für Einzelne sein mögen, die Phase des jungen Alters (ca.  bis ) scheint jedenfalls von einem Gefühl der Freiheit und der Selbstständigkeit gekennzeichnet zu sein. Neue Lebensqualitäten können gefunden werden, jenseits von Arbeitsdruck und Zeitstress (Hettlage  : ). Die Lebensstilforschung über die Älteren bestätigt eine hohe Freizeitorientierung und eine Abschwächung dessen, was man einmal den Pflichtenkatalog des Alters nennen konnte. Zum Schluss kommt das »hohe Alter«, in dem sich vieles anders darstellt. Immer mehr Menschen haben, demografisch gesprochen, eine immer größere Chance, immer älter zu werden, doch welche tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen, welche ganz neuen Erfahrungen dies eröffnet und unter welchen Bedingungen Zufriedenheit und Wohlbefinden (oder andere Verarbeitungs- und Zustandsweisen) bzw. deren Gegenteil sich äußern, gehört noch kaum zum gesicherten Wissensbestand. Adalbert Stifter hat gesagt : »Darum ist das Leben ein unabsehbares Feld, wenn man’s von vorne ansieht, und es ist kaum zwei Spannen lang, wenn man am Ende zurückschaut.« Dieses Wort stammt aus einer Zeit, in der früh gestorben wurde und das Alter, vor allem das hohe, vielleicht weniger eines individuellen Plans und keinesfalls politischer Gestaltung bedurfte. Heute wird niemand mehr mit sechzig Jahren als ein Greis angesehen, es sind aber auch die Vorstellungen, wann jemand alt sei, eher variabel geworden. Der Deutsche Alterssurvey zeigt einen relativ konsensuellen Beginn bei  bis  Jahren, andererseits gibt es Umfragen, denen zufolge Menschen für sich selbst die Grenze bereits um das . Lebensjahr ansetzen (Amann , ). Nichts zeigt unsere Unsicherheiten über dieses hohe Alter deutlicher als die widersprüchlichen Bilder, die mit diesem Lebensabschnitt verbunden werden und zwischen Extremen variieren : Das hohe Alter biete, so heißt es, einerseits Zeit für die schönen Dinge des Lebens und es sei andererseits eine Belastung für die Familie, die Gesellschaft und die Betroffenen selbst. In solchen Bildern stehen konkrete Situationen und Menschen vor Augen, die entweder geistig und körperlich rüstig und beweglich ihren Wünschen folgen oder beeinträchtigt durch Krankheit und Gebrechen an Bett und helfende Menschen gefesselt sind. Hochaltrigkeit lässt sich aber nicht in einem Ambivalenzschema unterbringen. Es ist nicht nur die Lebenserwartung gestiegen, auch die Lebensqualität der Hochaltrigen hat sich verbessert ; zugleich muss aber gesehen werden, dass es spezielle Risikogruppen und Risikosituationen gibt, die mit diesem generellen Urteil 124

Zweite Weiterung – über die Lebensspanne

einer verbesserten Lage nicht übereinstimmen. Der zahlenmäßige Zuwachs an sehr alten Menschen und die notorisch rekapitulierte Nachricht von einem Gesundheitszustand unter ihnen, der noch nie so gut gewesen sei wie heute, hat eine Vorstellungswelt des hohen und schönen Alters geschaffen, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Pharma- und Kosmetikindustrie zu einem Kreuzzug gegen das Älterwerden angetreten sind. Die häufig überzogenen Interpretationen, die im Zusammenhang mit »anti-aging« und »active aging« auftreten, verweisen genau auf dieses Problem. Die Tatsache, dass immer mehr Menschen neunzig und hundert Jahre alt werden, beginnt aber auch die Grenzen dieser Entwicklung sichtbar zu machen. Jüngere Erkenntnisse zeigen unmissverständlich, dass die Ältesten der Alten auch in Zukunft ein Mehr an Bürden auf sich nehmen werden müssen (Paul Baltes). Ein einfacher Vergleich lässt dies bereits offenbar werden, jener zwischen dem »Dritten« und dem »Vierten« Alter, wobei ersteres bei ca. sechzig Jahren beginnt, während das letztere dort angesetzt wird, wo die Hälfte oder zwei Drittel einer Geburtskohorte nicht mehr leben – in den Industrieländern also bei rund achtzig oder fünfundachtzig Jahren.²² Die erwähnten gesundheitlichen Fortschritte gelten vor allem für das Dritte Alter. Das Vierte aber eröffnet unbarmherzig den Blick auf die biologische Terminierung des Lebens. Nur scheinbar widerspricht diese Überlegung der nackten Statistik. Ein Mensch, der heute achtzig Jahre alt ist, hat nahezu weitere acht Jahre zu erwarten, eine lineare Fortschreibung solcher Relationen lässt ja immerhin vermuten, dass von den heute Geborenen fast die Hälfte einhundert Jahre alt werden wird. Doch dem gegenwartsverhafteten Blick solcher Schätzungen entschwindet die Unsicherheit, die damit verbunden ist. Sicher : Demografische Prognosen haben einen relativ hohen Wahrscheinlichkeitsgrad ihrer Richtigkeit, doch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen kennen wir nur in höchst unpräzisen Richtungen und Qualitäten. Das sollte vor allem zu denken geben, denn die Straße einer immer weiter steigenden Lebenserwartung, vor allem einer in Gesundheit, ist keineswegs schnurgerade ausgelegt. In jüngerer Zeit wird gerne vom Einfluss der genetischen Ausstattung auf die Lebensspanne des Menschen gesprochen. Das Ausmaß der in den letzten siebzig Jahren gestiegenen Lebenserwartung lässt sich jedoch nicht auf eine in dieser kurzen Zeit denkbare Veränderung des Genoms zurückführen, sie ist vornehmlich den verbesserten Lebensbedingungen, der objektiven Lebensqualität, und den verbesserten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der Medizin zu verdanken. Die Entwicklung der objektiven Lebensbedingungen für die nächsten Jahrzehnte lässt sich aber nicht prognostizieren. Damit stellt sich das hohe Alter als »Massenerscheinung« in historischer Perspektive als einmalig dar : Bisher ist 125

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

es in dieser Weise nicht aufgetreten, und über seine soziale, kulturelle und ökonomische Zukunft lässt sich nicht allzu viel mit Sicherheit sagen. Zu denken muss jedenfalls geben, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Abhängigkeit von soziodemografischen und soziokulturellen Merkmalen stark variiert. So haben z. B. Frauen mit akademischem Abschluss die tendenziell höchste Lebenswartung, Männer mit Pflichtschulabschluss und ohne abgeschlossene Lehre die niedrigste. Mit gewissen Einschränkungen lässt sich heute sagen, dass die »Variable«, also der Einflussfaktor »Bildung«, als wichtigste Determinante erscheint.

Unsere Vorstellungen von der Kindheit sind voll von Begriffen wie Wärme, Geborgenheit, Vertrauen, Freisein vom »Kampf ums Dasein« und Glück : »Kinderglück«. Doch sicher sind dies Bilder von der Kindheit, die zentraleuropäisch, bürgerlich und teilweise selbst hier realitätsfern daher kommen. Nicht für alle gilt in dieser Lebensphase, dass ihnen Zeit bis in die Adoleszenz gelassen wird, um »lebenstüchtig« zu werden, ganz zu schweigen von Straßenkindern in Lateinamerika und Südostasien und von Soldatenkindern in Afrika. In der späten Kindheit und Jugend werden sowohl unsere Konstruktionen als auch die Wirklichkeit, die ihnen zugrunde liegt, für viele äußerst zwiespältig, nach und nach wird dann die Idealvorstellung des Erwachsenseins entzaubert. Wenn noch hinzugedacht wird, in welcher Weise Politik und Wirtschaft inzwischen die Grundlegung der Lebenstüchtigkeit ins immer frühere Kindesalter betreiben, mit heftiger Unterstützung einer Pädagogik, die der instrumentellen Vernunft völlig erlegen ist, könnten die Konstruktionen des Erwachsenwerdens auch als unglücklich bezeichnet werden. Für die Erwachsenen verändern sich die Glücksgelegenheiten und deren Deutung. Über die lange Zeit des Erwachsenenalters hinweg sollen sich Leistungserfolge, Liebeserfahrung und »Selbst-Bewusstsein« zu einem stabilen Persönlichkeitsbild integrieren. Doch : Zerbrochene Partnerschaften, häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes, Arbeitslosigkeit, mangelnde Anerkennung, Krankheit, Tod von Angehörigen sind Konstellationen, in denen sich viele wiederfinden und mit denen sie »fertig werden« müssen und oft nicht können. Dann kommt das Alter, das glücken und den Jahren Leben hinzufügen soll. Die äußeren Bedingungen der gegenwärtigen Zeit sind ja für ein »Erfüllungsglück«, von dem im Zusammenhang mit dem Alter manchmal die Rede ist, nicht gerade ungünstig. Zumindest die jüngeren Gruppen unter den Älteren sind heute vergleichsweise gesünder, aktiver, mobiler und wohlhabender im Vergleich zu jenen, die vor einer Zeit vor zwanzig oder dreißig Jahren in ähnlichem Alter waren. Doch, wie immer die Verhältnisse für Einzelne sein mögen, die Phase des jungen Alters scheint jedenfalls von einem Gefühl der Freiheit und der Selbstständigkeit gekennzeichnet zu sein. Neue Lebensqualitäten können gefunden werden, jenseits von Arbeitsdruck und Zeitstress. Im »hohen Alter«

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Lebensqualität in Europa – einige Zahlen

stellt sich vieles anders dar. Immer mehr Menschen haben, demografisch gesprochen, eine immer größere Chance, immer älter zu werden, doch welche tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen, welche ganz neuen Erfahrungen dies eröffnet und unter welchen Bedingungen Zufriedenheit und Wohlbefinden (oder andere Verarbeitungs- und Zustandsweisen) bzw. deren Gegenteil sich äußern, gehört noch kaum zum gesicherten Wissensbestand. Nichts zeigt unsere Unsicherheiten über dieses hohe Alter deutlicher als die widersprüchlichen Bilder, die mit diesem Lebensabschnitt verbunden werden und zwischen Extremen variieren : Das hohe Alter biete, so heißt es, einerseits Zeit für die schönen Dinge des Lebens und es sei andererseits eine Belastung für die Familie, die Gesellschaft und die Betroffenen selbst. In solchen Bildern stehen konkrete Situationen und Menschen vor Augen, die entweder geistig und körperlich rüstig und beweglich ihren Wünschen folgen oder beeinträchtigt durch Krankheit und Gebrechen an Bett und helfende Menschen gefesselt sind. Hochaltrigkeit lässt sich aber nicht in einem Ambivalenzschema unterbringen. Wird Glück in der Gesamtheit der Lebensbedingungen und der Konstruktionen über sie betrachtet, wird klar, worin die Krux liegt. Die Welt entzieht sich einem bündigen und endgültigen Urteil, die Wirklichkeit ist nicht die Komplizin unserer Interpretationen.

7.4 Lebensqualität in Europa – einige Zahlen Im Jahre  wurde von der »European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions« eine Untersuchung vorgestellt, in der zum ersten Mal die Lebensqualität in den Ländern der EU-, der EU- sowie Bulgariens, Rumäniens und der Türkei, basierend auf Erhebungen aus dem Jahr , im Vergleich analysiert wurde (Böhnke )²³. Wie Lebensqualität in der Forschung konzipiert wird und welche Lebensbereiche dabei eine wichtige Rolle spielen, wurde bereits früher in diesem Buch diskutiert. In der hier genannten Arbeit wurden die materielle Situation, soziale Beziehungen, Zeitverwendung und die Wahrnehmung der Gesellschaft in ihrem Einfluss auf Lebenszufriedenheit, Glück (happiness) und das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit oder Entfremdung analysiert. Über Jahre hinweg war das politisch gestaltende Augenmerk der EU von ökonomischen Gesichtspunkten gesteuert, erst in den letzten Jahren zeigen sich einige Versuche, die meisten von ihnen äußerst zaghaft, die soziale Dimension einzubeziehen. Dies trifft in diesem Projekt auf die Frage zu, welche Bedeutung die Lebensqualität der Menschen auf die Politik hat. Wenn nun Forschung zur Lebensqualität betrieben wird, so kann sie primär rein wissenschaftlich gedacht 127

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

sein, doch darüber hinaus muss sie in den Kontext der politischen Agenda gestellt werden. Deshalb haben wir behauptet, dass die Lebensqualität immer eine politische Dimension hat. In der EU hat sich die Vorstellung eingebürgert, dass eine die Menschen sozial einschließende (inklusive) Gesellschaft so gestaltet werden müsse, dass kein einzelner Mensch und kein Haushalt unter die Schwelle eines Existenzminimums fallen und dadurch extrem benachteiligt werden dürfe. Dass die Definition eines Existenzminimums zu den politisch schwierigen und wissenschaftlich zu den methodisch komplizierten Aufgaben gehört, ist ebenso klar wie die Tatsache, dass es gegenwärtig in keinem Land gelingt, Menschen vor diesem Absturz zu bewahren, wie immer das Minimum definiert ist. Eine erste Ahnung über die Unterschiedlichkeit (diversity) der Erfahrungen mit der Lebensqualität vermag die Verteilung der allgemeinen Lebenszufriedenheit in Europa zu vermitteln. Auf einer zehnstufigen Skala erreicht Dänemark ,, Bulgarien aber nur , Punkte. Dieselbe Distanz kommt auch bei Glück zutage (DK = , ; BG = ,). Auf einer Skala von – für Entfremdung²⁴ liegt Dänemark bei ,, Bulgarien rangiert auf ,. Im Interesse des Erfolgs Dinge tun zu müssen, die nicht korrekt sind, geben über die Hälfte der befragten Menschen in vierzehn Ländern an, Griechenland ( ), Litauen ( ) und Bulgarien ( ) liegen weit an der Spitze. In der Entfremdungsskala nehmen Österreich die zweite und Deutschland die neunte Stelle ein, z. B. immer noch erheblich vor dem Vereinigten Königreich oder Italien. Lebenszufriedenheit und Glück rangieren am höchsten in den EU-, am niedrigsten in den CCR (Kandidatenländer : Bulgarien, Rumänien, Türkei). Die Entfremdung ist am höchsten in den CCR, am niedrigsten in den EU. Wird subjektives Wohlbefinden zu objektiven Gegebenheiten in Beziehung gesetzt, ergibt sich folgendes Bild. Die höchsten Zufriedenheitswerte erreichen jene Länder, in denen der materielle Wohlstand konzentriert ist, also grob die EU-. Dies ist ein weit und lange bekanntes Ergebnis und muss hier nicht weiter erörtert werden. Doch wie steht es um den Einfluss anderer Lebensbereiche auf die Lebenszufriedenheit ? Wiederum auf einer zehnteiligen Skala ist die Zufriedenheit mit der Familie am höchsten : EU- = , ; CC = , ; neue Mitgliedstaaten (NMS) = ,. Am niedrigsten rangiert die Zufriedenheit mit dem (materiellen) Lebensstandard : EU- = , ; NMS = , ; CC = ,. Nur in den EU- nimmt die Zufriedenheit mit der Bildung den niedrigsten Wert an : ,. Unter dem Wert von , liegen in den NMS die Zufriedenheit mit den Wohnverhältnissen, der Bildung, dem sozialen Leben und dem Lebensstandard, ebenfalls unter , liet in den CC die Zufriedenheit mit dem sozialen Leben, der Bildung und dem Lebensstandard. Die Zufriedenheit mit dem »Job« ist in 128

Lebensqualität in Europa – einige Zahlen

Österreich, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Schweden und Litauen am niedrigsten, die Zufriedenheit mit der Familie rangiert in allen Ländern, mit Ausnahme von Litauen, an erster Stelle. Auch hier wiederholt sich, was schon verschiedentlich angemerkt wurde. Es gibt allgemeine hohe Zufriedenheiten, aber die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen kann trotzdem stark nach unten abweichen. Angesichts der enormen Unterschiedlichkeit der Antworten zwischen den Ländern stellt sich natürlich nochmals die Frage nach der politischen Bedeutung solcher Ergebnisse. Dabei unterscheiden wir wieder zwischen der wissenschaftlichen und der politischen Perspektive. Die Bedeutung subjektiver Faktoren wird wissenschaftlich durch die Annahme begründet, dass in sie Aspirationen, Werthaltungen, Wahrnehmungen und Einstellungen Eingang finden, die ihrerseits essenziell sind, um Lebensqualität zu verstehen. Diese Annahme zu akzeptieren heißt aber noch lange nicht, dass eine solche Ansicht auch aus einer politischen Perspektive überzeugend sein muss. Tatsächlich werden immer wieder Argumente gegen die Verwendung subjektiver Faktoren vorgebracht, weil subjektive Urteile irrational und nicht transparent seien und deshalb auch nicht allgemein akzeptiert werden könnten und dass ihre Messung im Vergleich zu objektiven Faktoren weniger Gültigkeit beanspruchen könne. Solche Argumente unterschätzen aber systematisch den Informationsgehalt und den analytischen Wert subjektiven Wohlbefindens. Es sind ja gerade diese Wahrnehmungen und Bewertungen, die Menschen zur Strukturierung ihrer Lebenschancen einsetzen und mit deren Hilfe sie Probleme zu bewältigen trachten (Böhnke  : ). Diese Argumente übersehen, dass die Konstruktionen, welche die Menschen über die Welt in ihren Köpfen haben, eine soziale Wirklichkeit darstellen, nach der sie sich richten, und die so »hart« sind wie andere Daten, weil sie das Handeln lenken. Wenn jemand mit seinem Job unzufrieden ist, aus welchen Gründen auch immer, dann ist das für seine Selbsterfahrung und seine Strategien wichtiger als die Aussagen von Ökonomen, dass im selben Land die Beschäftigungsquote höher sei als in anderen Ländern – auch wenn diese ein sogenanntes hartes Faktum ist. Wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung eines Landes mit seinem Leben nicht zufrieden ist, sich nicht glücklich fühlt, Entfremdungserfahrungen macht und sich disparat fühlt, müsste das Anlass genug sein, dass Politiker und Politikerinnen schlecht schlafen, auch wenn ihnen ihre Weisen der Wirtschaft anhand von Parametern erzählen, dass alles nicht so schlimm sei. Denn schließlich sind diese Einschätzungen und Bewertungen eine konkrete Lebenserfahrung der Betroffenen, sie widerspricht den von der Politik hochgelobten Werten in ihrer Gesellschaft und – sie sind öffentlich. Der Titel der hier genannten Studie »First 129

Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

European Life Quality Survey« zeigte allein in der Suchmaschine »Google« am . Juli  weit über zwei Millionen Zugriffe an.

7.5 Facetten der Arbeitslosigkeit Wir kennen die alarmierenden Nachrichten seit Jahren. Die Massen der Arbeitslosen steigen in Europa und in anderen Ländern, die Zahl der sogenannten Langzeitarbeitslosen wächst, lange führten ältere Arbeitskräfte in der Statistik der Beschäftigungslosen, seit der »Krise« scheinen sie von den Jugendlichen überrundet zu werden. Die Zukunftshoffnungen sinken, Familien und Partnerschaften leiden, Lebenspläne zerbrechen, Menschen werden delogiert und landen auf der Straße, werden erst wohnungslos, dann obdachlos (vermehrt in den letzten Jahren auch Frauen), manche begehen Selbstmord. Gemeinden mit  Prozent Arbeitslosen kommen fast zum Stillstand, Desillusionierung und Resignation greifen um sich, Jugendlichen werden die Lebenschancen verbaut, und Erwachsene müssen sehenden Auges in Kauf nehmen, dass ihre Pensionen so niedrig ausfallen werden, dass Zweifel bestehen, ob sie davon leben werden können. Dabei wird stillschweigend fast immer davon ausgegangen, dass es denen, die Beschäftigung haben, in allen Lebensbereichen besser gehe als jenen, die arbeitslos sind. In Österreich wurde jüngst eine völlig andere Studie vorgestellt, in der ca.  Faktoren zu fast allen Lebensbereichen zwischen rund  Beschäftigten und rund  Arbeitslosen verglichen und zudem die Effekte der Arbeitslosigkeit auf diese Lebensbereiche untersucht wurden (Bischof, Müller ). Diese Untersuchung hält Überraschungen bereit, die unser Bild von der Arbeitslosenforschung ins Wanken bringen können, nicht deshalb, weil sie Bekanntes widerlegt, sondern weil sie völlig neue Sichtweisen eröffnet. Ein erstes Ergebnis ist offensichtlich und erwartbar : Es gibt zwei Lebensbereiche, Konsum und wirtschaftliche Lage, die unmittelbar mit dem vorhandenen Einkommen gekoppelt sind und in denen sich die stärksten Unterschiede zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen finden. Da werden viele sagen : »Das ist doch klar !« Sie haben recht. Doch das nächste Ergebnis hätten viele vermutlich schon weniger erwartet. Die wichtigsten Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten finden sich, außerhalb der drei eng gekoppelten Bereiche (Einkommen, Konsum und Arbeitslosigkeit), im Gebiet der Gesundheit ; und zwar nicht im allgemeinen Gesundheitszustand, sondern bei ganz spezifischen Beschwerden wie z. B. Schmerzen in Armen und Händen, Herzklopfen oder Inkontinenz, aber nicht bei Melancholie und Depression. Die dritte Kernaussage wäre vermutlich von den meisten noch selte130

Facetten der Arbeitslosigkeit

ner erwartet worden. Auf allen Lebensbereichen, inklusive der Dimensionen der Arbeitswelt, lassen sich nur schwache oder gar keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen finden. Das gilt z. B. für Zukunftserwartungen, für den Bereich des Sozialkapitals (soziale Netzwerke) oder für den Bereich psychischer Befindlichkeiten (Bischof, Müller  : Kap. .). Diese Ergebnisse waren interessant genug, eine neue Analysemethode zu entwickeln, um eher hintergründige Effekte zu untersuchen. Für jede Person in jeder der beiden Gruppen wurde – mit Hilfe von  Dimensionen zu den Lebensbereichen – eine Maßzahl gebildet, in der alle Konstellationen zusammengefasst wurden. Dann wurde jede der beiden Gruppen, Beschäftigte und Arbeitslose, intern in drei annähernd gleich große Untergruppen, also in Schichten, unterteilt : obere, mittlere und untere Schicht, die jeweils miteinander horizontal verglichen werden können. Die Ergebnisse sind frappierend. Vergleicht man also horizontal jeweils zwei korrespondierende Gruppen (z. B. obere Schicht bei Arbeitslosen und obere Schicht bei Beschäftigten usw.), so wird klar, dass es, als Effekte der Arbeitslosigkeit, große Unterschiede nur bei der wirtschaftlichen Lage, dem Konsum und bei ausgewählten Gesundheitsbeschwerden gibt. Das generelle Bild von der prinzipiellen Schlechterstellung der Arbeitslosen stimmt nicht mehr. Was die gesundheitlichen Probleme und Beschwerden anlangt, so finden sie sich nicht in den mittleren und oberen Gruppen, sondern hauptsächlich in den unteren – und das nicht nur bei den Arbeitslosen. Im Bereich der psychischen Befindlichkeiten treten deutliche Effekte nur in den Fremdzuschreibungen auf, nicht in den Selbstzuschreibungen. Und schließlich treten bei zwei Bereichen keine deutlichen Unterschiede zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen auf : beim Wohnbereich und beim Sozialkapital. Die neue Einsicht heißt daher : Die Annahme, dass Arbeitslosigkeit in allen Lebensbereichen zu einem vertikalen Gefälle gegenüber den Beschäftigten führt, ist falsch. Wenn es aber zu Häufungen negativer Erscheinungen oder zu erheblichen Diskrepanzen zwischen den Schichten in mehreren Lebensbereichen kommt, dann ist das einerseits in den vertikalen Unterschieden zwischen den Sichten der Beschäftigten und andererseits in der unteren Schicht der Arbeitslosen der Fall (Bischof, Müller ).

Lebensqualität und Glück sind ungleiche Geschwister, aber sie sind Geschwister. Sie stammen beide aus Verhältnissen, die es den Menschen möglich machen können, Sinn zu finden in dem, was getan werden muss, sich wohlzufühlen und mit den vielfältigen Aspekten des Lebens zufrieden zu sein. Oft stehen dem Umstände entgegen, die in den

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Lebensqualität in Europa – Gesundheit, Glück und Leid

Menschen selber oder in den äußeren Bedingungen liegen. Deshalb ist auch der Gedanke richtig, dass des Lebens ungemischte Freude noch keinem Irdischen zuteil wurde. Schlechte materielle Lebensbedingungen und beschädigte Gesundheit gehören zu den widrigen Umständen, nicht aber das chronologische Alter. Was uns auch am Glücklichsein hindern kann, sind falsche Bilder, falsche Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen, deren Falschheiten eingesehen, die aber trotzdem schwer korrigiert werden können. Grundsätzlich und immer ist das, was wir unter Glück verstehen, von unseren Interpretationen abhängig, davon, wie wir die Welt sehen.

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Kapitel 8

+OMPETENZ Ö6ITALIT¦TÖUNDÖDASÖ tERL•SENDEÖ,ACHENh

8.1 Ausgangslage In der Psychologie und der Philosophischen Anthropologie hat die Beschäftigung mit Humor, Witz, Lachen und Heiterkeit eine lange Geschichte, in der Medizin fehlt sie weithin, und in den therapeutischen Disziplinen gibt es eine Auseinandersetzung mit diesen Themen seit Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor Frankl oder Helmuth Plessner, ebenso wie eine Reihe amerikanischer Therapeuten stehen für die Idee gut, dass Lachen und Heiterkeit, übrigens ebenso wie das Weinen, in enger Verbindung mit starken Affekten stehen, dass die Physis, die Gefühle und das Gehirn dauernd daran beteiligt sind. Auf der Seite des Lachens findet sich der Gedanke des gefühlsmäßigen Ausbruchs, damit verbunden jener der »Befreiung«. Deshalb wählen wir hier die Vorstellung des »erlösenden Lachens« in Anlehnung an den Titel eines Buches des Soziologen Peter Berger () und verbinden das Lachen mit dem Gedanken der Vitalität.  wurde unseres Wissens der erste wissenschaftliche Kongress über Humor und Lachen in Cardiff (England) veranstaltet, und heute wendet sich die Diskussion stark der praktischen Seite zu, also dem Einsatz von Humor in der Therapie, Pflegearbeit und der Stressbearbeitung. Die einschlägigen Handbücher der Gerontologie geben Auskunft über Vitalität im Alter in ganz eigener Weise : Sie koppeln sie an Mobilität und stellen beide Konzepte vor allem in den Zusammenhang von körperlicher Aktivität und physischer Kompetenz. Wie so oft, ist auch das eine Vereinfachung der Dinge, die zu Missverständnissen führen kann. Kompetenz gehört heute in der Gerontologie zu den am häufigsten gebrauchten Konzepten. So finden sich denn z. B. auch in dem  erschienenen Sammelband »Soziale Gerontologie«  Seiten, auf denen das Stichwort vorkommt – aber kein einziges Mal Humor ( Jansen, Karl, Radebold, Schmitz-Scherzer ). Auch die Zusammenhänge von Vitalität mit geistiger Beweglichkeit im Sinne der Gedächtnisfunktionen werden häufig hervorgehoben, und es fehlt auch nicht an Bestätigungen der antiken Einsicht, dass sich körperliche und geistige Gesundheit gegenseitig beeinflussen. In der sogenannten »Berliner Altersstudie« sind dazu mehr als 133

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

 empirische Einzelbefunde nachgewiesen worden (Mayer, Baltes ).Vom Homo ridens aber wird nirgends gesprochen. Diese Tatsache verwundert nicht allzu sehr, denn die psychischen und physischen Dimensionen des Lachens, des Witzes – und teilweise auch des Humors – sind mit einigem Ertrag erkundet worden, ihre sozialen Bezüge aber, mit wenigen Ausnahmen, noch überhaupt nicht. So ist schon zu merken, worauf wir hinauswollen : Es ist der zweite Teil der Kapitelüberschrift, der uns wichtig erscheint. Da die Forschungslage so ist, wie wir sie angedeutet haben, wird dieses Kapitel kein Referat über empirisch-analytische Ergebnisse zur Vitalität im Alter sein, sondern ein Sinnieren über Lachen, Lächeln, Humor und Witz, und was dies alles vielleicht mit Vitalität zu tun haben könnte.

8.2 Lachen hilft und Denken kann nicht schaden »Ein alter Mann geht spazieren und steht plötzlich vor einem Frosch, der ihn anredet : ›Heute ist dein Glückstag ! Ich bin ein sprechender Frosch, und ich habe hier eigens auf dich gewartet. Sobald du willst, verwandle ich mich in ein wunderschönes Mädchen und tue, was du möchtest.‹ Der Mann hebt den Frosch auf, steckt ihn in die Tasche und geht weiter. Nach einer Weile wird der Frosch unruhig. ›He du ! Hast du denn nicht gehört, was ich zu dir gesagt habe ?‹ Der alte Mann sagt : ›Hab ich schon. Aber ich glaube, in meinem Alter möchte ich statt eines schönen Mädchens doch lieber einen sprechenden Frosch‹« (Berger  : ).

Die mit dem Alter nachlassende Liebeskraft und die Zwiespältigkeit der erotischen Beziehung zwischen weit auseinanderliegenden Lebensaltern sind Elemente institutionalisierter und im gesellschaftlichen Bewusstsein fest verankerter Sinnwelten. Sie sind abgestützt durch Sittennormen, Wertvorstellungen und ästhetische Urteile, die oft – aber nicht immer – Sexualität und Erotik zum Gegenstand haben. In diesem Kontext lässt sich der eben erzählte Witz als eine bestimmte Form der Auflehnung gegen Autorität lesen, als ein Schnippchen, das der alte Mann diesen institutionalisierten Sinnwelten schlägt. Ließe er sich aufs Angebot ein – auch für einen Alten klingt das »ich tue, was du möchtest« verlockend –, so stünde unausweichlich dahinter die Drohung des möglichen Misslingens, das auf der Rückseite der Verlockung eingebrannt ist. Der alte Mann wählt eine skurrile Alternative, er wählt den sprechenden Frosch. Wir lachen bei diesem Witz im Grunde zweimal : einmal in erwartungsvoller Häme, die uns den Alten bereits in die Falle tappen sehen lässt, zum zweiten 134

Wer die Satire im Herzen hat, hat das Lächeln auf dem Gesicht

Mal befreit, über die Pfiffigkeit des Alten, der der Autorität des Vorurteils die lange Nase zeigt und sich in eine unerwartete »Lösung« rettet. Im spannungsgeladenen Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist ein sprechender Frosch keine wirkliche Alternative zu einem wunderschönen Mädchen, im Vergleich zu einem Danaergeschenk ist er es allemal. Das Leben konfrontiert uns immer wieder, im Alter aber auf eigene Weise, mit Brüchen und Verlusten, mit schwierigen Fragen und Dilemmata. Pfiffigkeit und Humor helfen da, auch im ganz fundamentalen Sinn, uns einsehen zu lassen, dass niemand dem Unvermeidlichen hilflos ausgeliefert ist, wenn er die Möglichkeit der Distanz kennt. Humor, Lachen und Witz aber sind Instrumente des Distanzierens. »Der Witz erschafft eine eigene Wirklichkeit, die von magischer Kraft leuchtet und ihre eigenen Regeln hat« (Berger  : /). Auch wenn man Sigmund Freud nicht in jedem Fall folgen will, dass alle Witze Versuche der Wunscherfüllung sind, ähnlich wie Träume, so »sublimieren« doch viele ein Begehren, das von der Gesellschaft frustriert würde, gäbe man ihm nach.

8.3 Wer die Satire im Herzen hat, hat das Lächeln auf dem Gesicht »Eine zweite Heirat ist der Triumph der Hoffnung über die Erfahrung«, hat Samuel Johnson behauptet, und die vielleicht bissigste Kritik an der sozialistischen Egalitätsdoktrin stammt aus George Orwells »Animal Farm« : »Manche Tiere sind gleicher als andere.« Satire hat mit der Fähigkeit zu tun, über die Welt lachen zu können, sie ist der Gebrauch von Komik als Angriffswaffe gegen allzu Selbstverständliches, gegen Ignoranz, gegen Bosheit und gegen Engstirnigkeit. Witz kann gütig sein, manchmal sogar unschuldig, gütige Satire ist ein Oxymoron, eine Vereinigung des Unvereinbaren, sie ist »militante Ironie« (Northrop Frye). In der Literatur gibt es viele Zeugnisse dieses Angriffs gegen Institutionen, Repräsentanten und politische Mächte ; sie reicht von Marcus T. Cicero über Lope de Vega, William Thackerey und Bernard Shaw bis zu Karl Kraus. Sein nicht aufführbares Theaterstück »Die letzten Tage der Menschheit« ist die furchtbarste Satire in deutscher Sprache. Doch gibt es auch eine Satire des Schweigens, einen Angriff der Mimik und der verbalen Knappheit auf Unzumutbares. Eine alte Frau, die viel erlebt und viel mitgemacht hat. Ihr sind zwei Ehemänner und drei Kinder gestorben, seit  Jahren lebt sie allein im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses, über ihr, im ersten Stock, lebt ihr Sohn mit Frau und zwei Kindern. Die Schwiegertochter kocht für sie mit, schließt sie aber aus der Familie aus, sie muss allein essen. Dafür kommen beide, Sohn und Tochter, abwech135

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

selnd regelmäßig zu ihr und halten ihr Vorträge und Mahnpredigten darüber, was sie zu tun und zu unterlassen hätte : dass sie zuviel Holz verbrenne, zuviel außer Haus sei, dass die Kinder nachmittags immer still sein müssten, weil »die Oma schlafen« wolle, dass sie die Gartentür abzusperren vergesse und zuviel Geld für die Caritas, das Missionswerk und die Flüchtlinge spende. Die alte Frau hört diesen weitschweifigen und besonders törichten Auslassungen bis zum Ende still zu, schweigt selbst einen langen Augenblick und sagt dann nur mit einem leichten Grinsen : »Ah ja ?« Im Grunde zieht sie damit allen bösartigen oder zumindest gedankenlosen Angriffen und Ansprüchen mit einer quasi sprachlosen Aktion einfach den Boden unter den Füßen weg. Die Satire im Herzen und das Lächeln, das Grinsen auf dem Gesicht, das feine, das breite, das maliziöse, das grimmige, das süffisante, sind von ungemeiner Vitalität, weil sie das Selbstverständliche unselbstverständlich, die Ignoranz betroffen, die Bosheit adresselos und die Engstirnigkeit unsicher machen.

8.4 Komik als Ablenkung und Trost In der weltbekannten Zeitschrift »Reader’s Digest« gibt es eine stehende Rubrik : »Lachen ist die beste Medizin«. Das soll andeuten, dass es hier um gutmütigen Humor geht, um eine sanfte und ganz und gar gesunde Ablenkung. Auch dazu ein Beispiel. Ein junger Wissenschaftler ist zu einem Gespräch von einem berühmten Mediziner eingeladen worden, zu dem auch ein Biologe kommen sollte, der Termin hatte schon zweimal verschoben werden müssen. Als der junge Mann am bestimmten Morgen zum Mediziner ins Büro kommt, erzählt dieser, dass die Putzfrau das handschriftliche Manuskript, das er in der Nacht davor für das zu besprechende Projekt fertiggestellt hatte, beim Aufräumen des Schreibtisches weggeworfen hätte. Um neun Uhr, als die Besprechung beginnen soll, kommt eine Mitarbeiterin herein und meldet, dass der Biologe nicht kommen werde. Anstatt nun zu schimpfen oder in Zorn zu geraten, bricht der berühmte Professor in ein lautes Gelächter aus und meint dann, nun könnten sie sich, da der junge Wissenschaftler ja nun schon einmal da sei, über etwas Angenehmes unterhalten, und zündet sich die unvermeidliche Marlboro an. Humor ist eine Haltung, keine intellektuelle Anstrengung ; er stellt keine hohen Ansprüche wie z. B. der prononcierte Witz oder der Esprit, er »vergoldet das eher dahin fließende Alltagsleben« (Peter Berger) ; er relativiert Missgeschicke und er macht das Leben denen leichter, die ihn besitzen, während jene, denen es an dieser Haltung mangelt, frustriert vor sich hin brodeln. Gutmütiger Humor 136

Das Komische schließt ein und es schließt aus

ist die häufigste Ausdruckform des Komischen im Alltag, er ruft eine flüchtige Stimmung hervor. »Seine Wirkung ist die eines kurzen, erfrischenden Urlaubs von der Ernsthaftigkeit der Existenz« (Berger  : ). Einer besucht seinen ehemaligen Lateinlehrer, der schon über achtzig Jahre alt ist. Sie sitzen in einem kleinen Gasthausgarten an einem See und werden von Gelsen (Stechmücken) hart geplagt. Unentwegt erzählt der Alte von seiner alten Schule und fragt nach dem und jenem Schüler und was aus ihnen geworden sei – was der Jüngere auch nicht weiß. Langsam fühlt dieser Ärger darüber in sich hochsteigen, dass sie nicht an einem gemütlicheren Ort ohne Mückenplagen sitzen. Da sagt der ehemalige Lateinlehrer plötzlich, ohne Zusammenhang mit ihrem Gespräch : »Eine solche Stechmücke bringt es im Jahr auf mehrere Millionen Nachkommen, und nur die Weibchen stechen ; es ist doch ganz erstaunlich, wo sie die Zeit hernehmen, um all die Eier zu legen, die ganzen Kinder aufzuziehen, die Stecherei zu besorgen und das, ohne zu schlafen – in der Nacht summen sie ja auch noch.«²⁵

Was für einen Zweck hat solch eine Bemerkung ? Mit Sicherheit ist sie wissenschaftlich irrelevant und praktisch unwirksam – die Gelsen werden dadurch in ihrem Eifer nicht gebremst –, und sie ist gesellschaftlich belanglos. Aber sie ist auf feine Weise moralisch bedeutsam : Sie zeigt mit einem Schlag, dass Ärger sinnlos ist.

8.5 Das Komische schließt ein und es schließt aus Komische Situationen werden sozial definiert und dadurch begrenzt und abgesichert. In ihnen ist es erlaubt zu lachen, es wird geradezu erwartet. Ist der komische Augenblick vorbei, kann man, vielleicht sogar erleichtert, wieder zu »ernsthaften« Dingen übergehen. In einer Diskussion über Kriminalität referiert ein Forscher lange und ermüdend über Korrelationen zwischen äußeren Bedingungen und kriminellem Handeln. Die meisten fühlen sich ganz offensichtlich gelangweilt, leiser Unwille wird bei den Zuhörenden spürbar. Als dann einer der statistisch signifikantesten Zusammenhänge ausgeführt wird, nämlich dass die meisten Einbruchdiebstähle des Nachts stattfänden, bemerkt jemand zum Vortragenden hin : »Ja, wann sollen denn die Leute einbrechen, wenn nicht in der Nacht ?« Ein erlösendes Gelächter entspannt die Situation, und es kann wieder leichter zugehört werden. Bedeutsam ist an dieser Geschichte, dass der komische 137

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

Moment, der den unglücklich Vortragenden vorübergehend ausschloss, doch zur Entspannung beitrug. Wir kennen alle die Situationen, wenn in einer Familie Geschichten oder Aussprüche von Kindern erzählt werden, die sie taten, als sie noch klein waren, und bei denen die ganze Familie unweigerlich in Gelächter ausbricht, wenn davon erzählt wird. Jemand Außenstehender hat meist große Schwierigkeiten mit der Pointe einer solchen Geschichte, und genau darum geht es : Der Außenseiter wird dadurch definiert, dass er nicht in der Lage ist, die Komik-Kultur der In-Group zu verstehen. Die Komik hat dieselbe Funktion wie alle Symbolsysteme : Sie zieht die Grenze zwischen Eingeweihten und Außenseitern. Erlernt der Außenseiter aber diesen gruppenspezifischen Code, indem er lernt, wann und worüber gelacht wird, ist er bereits im Einbürgerungsprogramm. Das Komische stellt einen »geschlossenen Sinnbereich« dar (Peter Berger). In modernen Gesellschaften kommen Ehepartner meist aus sehr verschiedenen Milieus. Sie konstruieren ihre gemeinsame Lebenswelt, indem sie sich gegenseitig nach und nach ihr Leben vor der Ehe re-konstruieren. Deshalb braucht ja Liebe gerade Zeit, weil die Geschichte des anderen internalisiert werden muss. Oft kann nach einigen Jahren der eine Partner die komischen Vorfälle aus dem Leben des anderen besser und amüsanter erzählen als jener selbst. Und alte Ehepaare können wie die Gefangenen im Hof gemeinsam kichern, wenn sie sich mit ihren codierten Kürzeln unterhalten. »Die Gefangenen im Hof« stellt die Verbindung zu einem bekannten Witz her. Ein erst seit Kurzem eingesperrter Häftling hört beim ersten Spaziergang, wie ein Gefangener ruft : »Vierunddreißig !« Alle lachen. Ein anderer schreit : »Zwanzig !« Wieder brüllen alle. Fragt der Neuling einen Alten : »Was bedeutet das ?« – »Verstehst du«, sagt der Alte, »wir sind schon lange hier und wir kennen alle Witze, also haben wir sie durchnummeriert, wir sagen nur noch die Nummern.« Der Neue will es auch versuchen und schreit : »Einundvierzig !« Schweigen ringsumher. »Siebzehn !« Niemand lacht. Fragt der Neuling den Alten : »Was mache ich falsch ? Das sind doch Nummern von richtigen Witzen !« »Schon«, meint da der Alte, »aber erzählen muss man sie halt können.«

Der Witz lebt von dem Widerspruch, dass mit einer Zahl keine Inhalte erzählt werden können, der Misserfolg des Neulings aber genau daran festgemacht wird. Das Absurde, das uns zum Lachen verleitet, spielt an der Oberfläche, das Ernste daran ist unsere Einsicht, dass der Neuling zur Integration in die Gruppe einen falschen Weg gewählt hat. Man kann die Codes einer Gruppe nicht umstandslos 138

Eine Zwischenbetrachtung

einsetzen, wenn man nicht dazugehört und sie nicht versteht. In dem Film »Lohn der Angst« gehen ziemlich am Anfang zwei alte Bekannte miteinander »auf die kleine Seite« ; ein Dritter, ein Neuling in der Gruppe, will sich ihnen anschließen, er will »mittun«. Was passiert ? Die beiden, die sich schon lange kennen, drehen sich einfach gleichzeitig um und pinkeln in eine andere Richtung. Die Unkenntnis symbolischen Handelns schließt von der Lebenswelt der anderen aus. Es kann auch anders gesagt werden : Es braucht Zeit, bis »man dazugehört«.

8.6 Eine Zwischenbetrachtung Die Begrifflichkeit, die bisher verwendet wurde, ist höchst unscharf, doch soll uns das nicht allzu sehr irritieren, in der strengen Wissenschaft ist es nicht viel anders. Ursprünglich war Humor ein Verwandter der noblen Gesellschaft Schönheit, Harmonie und Tragik, später löste er sich heraus und kam in die Nähe des Komischen, das zum Lachen bringt. Heute gehört er, und selbst das wird nicht von allen geteilt, zur Gruppe von Ironie, Satire und Sarkasmus, meistens wird er aber einfach als lächelnde Einstellung gegenüber dem manchmal allzu ernsten Leben verstanden. Manche meinen, der Humor habe das Komische überhaupt ersetzt, doch das greift wohl ein wenig zu kurz. Das haben die Behavioristen mit dem Konzept »Humor-Response« zu fassen versucht (McGhee ), das sich auf einer »Humorskala« abbilden lassen können sollte, doch damit konnten sie das Problem ebenso wenig erklären wie mit all ihren anderen Versuchen andere Fragen auch. Die psychologische Forschung geht heute davon aus, dass sowohl humorvolles Verhalten als auch das Erleben von Humor, hier wird dann von »Erheiterbarkeit« gesprochen, als variabler Zustand einer Person, zugleich aber auch als Persönlichkeitseigenschaft aufzufassen sei (Ruch, Zweyer  : ). Ob so etwas erlernbar sei, hat noch niemand nachgewiesen. »Humor hat man«, heißt es. Eine heitere Grundstimmung macht Erheiterbarkeit wahrscheinlicher als schlechte Laune oder eine ernste Geisteshaltung. Doch vergessen wir nicht : Menschen tragen auch einen hohen Ernst »zur Schau«, weil sie als ernste und ständig in tiefe Gedanken versunkene Individuen erscheinen wollen, nicht weil sie nicht erheiterbar wären. Als Ergebnis von psychologischen Laboruntersuchungen halten wir fest, dass heitere Stimmungen bei Menschen von einer gewissen Robustheit sind, und diese Tatsache sollte sich in der Praxis umsetzen lassen. In Hinsicht auf Stress und einschneidende Lebensereignisse sind Menschen mit einer solchen robusten Disposition zur Heiterkeit tatsächlich weniger zu beeinträchtigen, Humor kann 139

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

daher einen Puffer gegen Stress darstellen. Das scheint so weit zu gehen, dass Menschen mit Heiterkeit als Persönlichkeitseigenschaft kein Zusammenwirken zwischen Stress und Wohlbefinden zeigen (Ruch, Zweyer  : ). Führt man sich allerdings alle die vielen Hundert Detailergebnisse und die Seiten füllenden Definitionsversuche der Wissenschaften, hier der Psychologie, zum Humor allzu sehr zu Gemüte, so könnte einem der Humor auch vergehen. So fassen wir denn eher allgemein ausschauend und nur ein wenig sortierend die wichtigsten Einsichten zusammen. Jemand mit Humor zeichnet sich aus durch Verständnis für die Widersprüche und auch Blödheiten in dieser Welt, und dieses Verständnis gilt für das Große und für das Kleine, für Menschen und für Dinge. Es ließe sich dieses Verständnis auch als eine Haltung verstehen, die Distanz pflegt und sich trotzdem bejahend, tolerant und auch mit Liebe zur Welt (Schöpfung) ausdrückt. Ein solcher Mensch lebt Gelassenheit, steht den Geschehnissen realistisch gegenüber, lebt nach den Verhältnissen und nicht nach seinen Parolen (Gottfried Benn). All das könnte auch als soziale und philosophische Weisheit gedeutet werden. Lachen, wir haben es »erlösend« genannt, ist ein Entspannungsmittel, es hat physiologische und emotionale Grundlagen und ist zugleich deren Äußerungsform. Hier möchten wir aber eine Trennungslinie zwischen dem Lachen und dem Lächeln ziehen. Lachen ist fundamentaler, gewissermaßen den Körper erschütternd (»unwillkürliche Körperreaktion«, sagt Rolf Hirsch). Dem Lachen wird auch »heilende« Wirkung zugeschrieben. Vor zehn Jahren wurden in England im Auftrag des Gesundheitsministeriums in Spitälern »Lachtherapeuten« eingestellt, um Wohlbefinden zu erhöhen und Stress abzubauen (Hirsch  : ). Heute ist Humortherapie ein Qualitätsmerkmal stationärer Behandlung in geriatrischen Einrichtungen. Und was sollen wir nun unter Vitalität verstehen ? Wenn wir unser Urteil etwas überprägnant formulieren, dann lautet es : Ein allgemein akzeptiertes und auch in Analysen eingesetztes Konzept der Vitalität gibt es nicht ; trotzdem ist der Begriff offensichtlich von erheblicher Bedeutung. Er bewegt sich in Konnotationen von Lebenskraft und Lebenselan, als kaum begründbare letzte Größe angesehen wie der Trieb in Sigmund Freuds Trieblehre, über seelisch-geistige Disposition bis zu Energie. Zumindest im konzeptuellen Zuschnitt ist der Energieansatz der klarste, er stammt aus der Biologie und der philosophischen Tradition der Energisten und hat einen eindeutigen Bezug auf das Altern.  begannen der Anatom Gerald Leutert, der Internist Werner Ries und der klinische Chemiker Wolfgang Rotzsch, allesamt Schüler Max Bürgers, zusammen mit dem Biophysiker Walter Beier, Gründer des Instituts für Biophysik an der Medizinischen Fakultät 140

Eine Zwischenbetrachtung

der Universität Leipzig, gemeinsam die Alternsforschung unter der Bezeichnung Gerontologie fortzuführen. Sie widmeten sich vornehmlich der Problematik der Bestimmung des biologischen Alters und der Vitalität.  entwickelte Walter Beier ein mathematische Modell des biologischen Alterns. In den Folgejahren wurden zahlreiche gemeinsame internationale Forschungsprojekte durchgeführt. Hervorzuheben sind die Arbeiten mit dem spanischen Gerontologen Antonio Ruiz-Torres sowie mit Gerhard Hofecker und Hans Niedermüller in Wien. Alfred Kment führte den Begriff der »Privation« in die Gerontologie ein, der von Walter Beier mathematisch präzisiert wurde. Alfred Kments Idee war folgende : Es gibt ein fundamentales biodynamisches Gesetz, das die Entwicklung jedes lebenden Organismus über drei Stadien im Lebenszyklus steuert – a) Konzeption und Geburt, b) Optimum der Vitalität und c) Verfall und Tod. Innerhalb des allgemeinen biodynamischen Gesetzes existieren das Gesetz der Erhaltung, das die erste Phase bestimmt, und das Gesetz des Verlustes, das die dritte Phase bestimmt. Die Höchstform der Entwicklung findet sich am Kulminationspunkt der Lebensfähigkeit, im Optimum der Vitalität. Den Übergang von der zweiten zur dritten Phase nennt er die Neigung zum biologischen Altern, weshalb auch der Beginn des Alterns nicht vor dieser letzten Phase angesetzt werden sollte. Was ist nun Vitalität und weshalb verändert sie sich negativ ? Sie besteht, aus biologischer Perspektive, in einem Optimum von Information, bionomischer Ordnung und Anpassungsvermögen der organischen Strukturen und Funktionen. Die Phase des Verlustes bedeutet einen Wandel in all diesen Dimensionen zum Negativen, hin zur Polypathologie (medizinisch gesprochen). In welcher Beziehung steht nun diese Vorstellung von Vitalität zu Energie ? Eine der wichtigsten Beschränkungen für die Präzision der Informationsprozesse im lebenden Organismus sind die Kosten des Energiekonsums. Selbst am Optimum der Vitalität kann der Organismus nicht all seine Energieproduktion einsetzen, um die molekularen Prozesse zu kontrollieren, so wichtig das auch für das Überleben der Zellen wäre. Der Verlust, »Privation«, ist dann das Resultat der Defektbehaftetheit oder begrenzten Funktionsfähigkeit, die allen Organismen inhärent ist, selbst der DNA (Desoxyrobonukleinsäure, dem Biomolekül, das die Erbinformation trägt ; Kment ). Es gibt eine Fülle an molekularbiologischen Befunden, die diese Überlegungen Alfred Kments stützen, sodass hier von einer erfolgreichen Theorie des biologischen Alterns gesprochen werden kann. Trotzdem bleibt sie für unser Thema etwas unbefriedigend, weil der Übergang von diesem Konzept zu psychologischen und soziologischen Tatsachen mehr als nur schwierig ist. Außerdem weist das Konzept von Alfred Kment in seiner ontologischen Dimension einen direkten Bezug zu Aristoteles von Stagyra insofern 141

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

auf, als dessen Vorstellung des »Standardfalls« in der Biologie ins Zentrum der Kment’schen Überlegungen rückt, also die Erkenntnisabsicht, sich an der durchschnittlichen bzw. häufigsten Form einer Entwicklung zu orientieren. Damit wird z. B. eines der interessantesten Themen, nämlich jenes der Langlebigkeit, die bisher ohnehin noch nicht ausreichend erklärt werden konnte, an den Rand geschoben.²⁶

Bei Humor, dem Erleben von Humor wird von »Erheiterbarkeit« gesprochen, als variabler Zustand einer Person, zugleich aber auch als Persönlichkeitseigenschaft. Heitere Stimmungen sind bei Menschen von einer gewissen Robustheit, in Hinsicht auf Stress und einschneidende Lebensereignisse sind Menschen mit einer solchen robusten Disposition zur Heiterkeit tatsächlich weniger zu beeinträchtigen, Humor kann daher einen Puffer gegen Stress darstellen. Jemand mit Humor zeichnet sich aus durch Verständnis für die Widersprüche und auch Blödheiten in dieser Welt, und dieses Verständnis gilt für das Große und für das Kleine, für Menschen und für Dinge. Es ließe sich dieses Verständnis auch als eine Haltung verstehen, die Distanz pflegt und sich trotzdem bejahend, tolerant und auch mit Liebe zur Welt (Schöpfung) ausdrückt. Es gibt ein fundamentales biodynamisches Gesetz, das die Entwicklung jedes lebenden Organismus über drei Stadien im Lebenszyklus steuert – a) Konzeption und Geburt, b) Optimum der Vitalität und c) Verfall und Tod. Innerhalb des allgemeinen biodynamischen Gesetzes existieren das Gesetz der Erhaltung, das die erste Phase bestimmt, und das Gesetz des Verlustes, das die dritte Phase bestimmt. Die Höchstform der Entwicklung findet sich am Kulminationspunkt der Lebensfähigkeit, im Optimum der Vitalität. Was ist nun Vitalität und weshalb verändert sie sich negativ ? Sie besteht, aus biologischer Perspektive, in einem Optimum von Information, bionomischer Ordnung und Anpassungsvermögen der organischen Strukturen und Funktionen. Die Phase des Verlustes bedeutet einen Wandel in all diesen Dimensionen zum Negativen, hin zur Polypathologie (medizinisch gesprochen). In welcher Beziehung steht nun diese Vorstellung von Vitalität zu Energie ? Eine der wichtigsten Beschränkungen für die Präzision der Informationsprozesse im lebenden Organismus sind die Kosten des Energiekonsums. Selbst am Optimum der Vitalität kann der Organismus nicht all seine Energieproduktion einsetzen, um die molekularen Prozesse zu kontrollieren, so wichtig das auch für das Überleben der Zellen wäre. Der Verlust, »Privation«, ist dann das Resultat der Defektbehaftetheit oder begrenzten Funktionsfähigkeit, die allen Organismen inhärent ist.

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Kompetenz, Vitalität und Lebenshaltung

8.7 Kompetenz, Vitalität und Lebenshaltung27 Wir sind auf die Frage, was Kompetenz sei, bereits mehrmals eingegangen. Hier geht die Diskussion in eine etwas andere Richtung, angedeutet durch die Frage : Lässt sich Kompetenz auch als eine Lebensstrategie verstehen ? Der Ausgangspunkt lässt sich in einer richtig verstandenen »Lebenshaltung« finden, ein etwas abgestandenes Wort, von dem wir allerdings meinen, dass es bei richtigem Verständnis nach wie vor einen tieferen Sinn beanspruchen kann. Lebenshaltung bezeichnet nach unserem Verständnis eine offene Gesinnung gegenüber Lebenszielen und Contenance in schwierigen Situationen. Diese Haltung hat mit Intelligenz zu tun, die ein Leben lang entwickelt wird (bzw. entwickelt werden kann), mit praktischer Lebenserfahrung, mit sozialer Kompetenz und mit einer philosophischen Sicht des Lebens. Aus diesen Vorstellungen lassen sich drei Domänen einer Lebenshaltung herausheben : eine philosophische, eine praktische und eine soziale. Eine philosophische Haltung zielt auf die Bewertung und Lösung allgemeiner Fragen des menschlichen Lebens. Das ist eine Einstellung, wie wir eben ausgeführt haben, die Distanz pflegt und sich trotzdem bejahend, tolerant und auch in der Liebe zur Welt (Schöpfung) ausdrückt. Humor ist mit ihr eng verbunden. Das setzt voraus, auch Distanz zu sich selber zu gewinnen, sich selbst als Teil zu verstehen, der im Ganzen zu Hause ist. Als ein einprägsames Bild gehört hier »Der Denker« von Auguste Rodin herein, der angespannt, aber doch verinnerlicht, über Tun und Schicksal der Menschen nachsinnt (wobei er nach Rodins Absicht zu Dante Alighieri in Verbindung steht, das »Modell« aber ein französischer Boxer war). Wir kennen alle mindestens einen Menschen, der fähig ist, ein schwieriges Problem ruhig und gelassen zu sehen und aus dem gelassenen Sehen eine Regel abzuleiten, die für viele gelten könnte. Der deutsche Physiker und Aufklärer Georg Ch. Lichtenberg, ein in seinen Ansichten gewiss nicht unentschiedener Mensch, hat einmal gesagt : »Die Menschen können nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, sondern nur, wie sie meinen, dass sie sich zugetragen hätte.« Wer zu solchen Schlüssen kommt, hat das dominante Eigeninteresse, die Welt nur auf seine eigene Weise zu sehen, überwunden und kann sich trotzdem ernst nehmen. Ein Verständnis der Grundfragen des menschlichen Lebens nährt sich aus einem Wissen, in das Mensch, Gesellschaft und Natur zusammengeflossen sind. Es weiß um die Unterschiedlichkeit der Lebensziele der Menschen und ihrer Bedürfnisse, es zieht die Grenzen und Fehler der Menschen mit ins Kalkül, ebenso wie die eigenen. Eine philosophische Lebenshaltung schließt das Bewusstsein von Tragik und Leid gleichermaßen ein wie das von Freude und 143

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

Lust. Zu seinen wichtigsten Inhalten zählt das Erkennen und Anerkennen der Existenz anderer Weltbilder, Wissensformen und Lebensweisen außerhalb des begrenzten eigenen Raumes und des eigenen Standpunktes. Das bedeutet die Relativierung der eigenen Sichtweisen. Philosophische Lebenshaltung hielte sich von Rassismus und Fremdenhass, Diskriminierung und Verächtlichmachen fern. Schon deshalb, weil es über die Verzerrungen und Täuschungen Bescheid weiß, die in ihm selber vorhanden sind. Uns allen sind Einsichten der Art geläufig : »Diesen Menschen habe ich ja all die Jahre ganz falsch eingeschätzt.« Die Folge müsste eine Veränderung des Verhaltens und der bisherigen Urteile sein. Die Philosophie nennt ein solches Sich-selbst-Korrigieren Reflexivität, also die Rückspiegelung des Wissens auf sich selbst, und für die Psychologie ist dies geradezu ein Kennzeichen für Intelligenz (Amann  : ). Diese Domäne einer Lebenshaltung ist jedoch nur ein Teil des Modells. Ohne die weiteren ist sie relativ fruchtlos. Die praktische Haltung ist der Inbegriff von persönlicher Weitsicht, guter Lebenspraxis und kluger Lebensplanung. Diese Frage haben wir bereits unter den Stichworten von Lebensplan und Lebensführung behandelt. Sie hängt von der gescheiten Wahl der Lebensziele ab, die sich nach ihrer Realisierbarkeit richtet. Persönliche Fähigkeiten und Motive sowie äußere Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten bestimmen die Realisierbarkeit. Vielen gelingt es, näherliegende und übergreifende Lebensziele aufeinander abzustimmen. Hier geht es um Nutzen-Kosten-Abschätzungen und um Durchhalten. So manche nahmen sich vor, in der Pension endlich das zu tun, wozu vorher nie Gelegenheit war. Bücher zu lesen, lange Wanderungen zu machen, eine Sprache zu erlernen. Dann kam es doch nicht dazu. War zu den Zeiten, als sie noch arbeiteten, das Fernziel zu unklar, wurde der Nutzen für größer angesehen, als er sich dann herausstellte, oder fehlte der Erfolg, der motivierte, energisch weiterzumachen ? War es eine Krankheit, mit der nicht gerechnet worden war und die einen Angriff auf den Lebensplan bedeutete ? Das führt zu einer wichtigen Überlegung. In den meisten Fällen wollen wir einen individuellen Nutzen erzielen, der in einem sinnvollen Verhältnis zum Aufwand steht. Woran bemisst sich dieser Nutzen ? Er kann im Erringen äußerer Leistungen und Erfolge, sozialen Ansehens und Einflusses liegen. Er kann sich aber auch in inneren Erlebnissen äußern, die weniger von äußeren Umständen abhängen, wie z. B. im Buddhismus die Überwindung von Leiden oder in der christlichen Religion die »Festigkeit des Glaubens«. Seniorenstudenten geben als Motive für ihr spätes Studium oft an : nachzuholen, wozu früher nie Gelegenheit war, in der Familie und Bekanntschaft durch einen »Titel« Ansehen zu erhalten, einem lange gehegten Interesse nun gezielt nachzugehen. Hier haben wir einen 144

Kompetenz, Vitalität und Lebenshaltung

inneren, einen äußeren und nochmals einen inneren Nutzen vor uns, und hinter allen dreien lag und liegt offensichtlich ein klares Ziel. Wir wollen hier einmal die Begriffe Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung verwenden. Im Falle der äußeren Selbstverwirklichung hängt praktische Weisheit eng mit guten Kenntnissen zusammen. Über die Situationen, die geändert werden sollen, über die eigene Lebenssituation und das soziale Milieu, in dem man sich befindet, über die persönlichen Fähigkeiten und äußeren Bedingungen, die bei der Erreichung der Ziele eine wichtige Rolle spielen. Studien zeigen z. B., dass ältere Arbeitskräfte sowohl die Chancen, ihren Job durch gezielte Weiterbildung zu behalten, als auch ihre eigenen Fähigkeiten, sich erfolgreich weiterzubilden, immer wieder systematisch unterschätzen. Gerade dieses wirkungsorientierte Handeln, das auch als soziale Kompetenz bezeichnet werden könnte, ist aber für die meisten Männer und zunehmend immer mehr Frauen in hoch industrialisierten Ländern während des Erwerbslebens der wichtigste Weg, um gesetzte Ziele im beruflichen Feld zu erreichen. Interessant ist nun, dass dieses komplizierte Zusammenspiel zwischen den Anforderungen der sozialen Umwelt und den Möglichkeiten, aus eigener Kraft ihnen zu begegnen, erst relativ spät durchschaut wird. Erst im späteren Erwachsenenalter scheint sich überhaupt die Erkenntnis der prinzipiellen und spezifischen Abhängigkeit sachlicher und persönlicher Gegebenheiten im Handeln mit anderen Menschen nachdrücklich einzustellen.²⁸ Wir können dies ruhig als einen erhärtenden Hinweis auf das nehmen, was landläufig Lebenserfahrung genannt wird, wir können uns aber auch die Frage stellen, ob unser Ausbildungssystem solche Wissenszusammenhänge entschieden vermittelt. Im Falle der inneren Selbstaktualisierung kommt es eher auf selbstbezogenes Wissen und auf Urteilsvermögen an, welche die eigenen Bedürfnisse und die eigene Persönlichkeit betreffen. Wir können sicher sein, dass wir unsere eigene Persönlichkeit so gut wie nie in ihren tieferen Schichten kennen. Es bedarf schon eines dauernden Nachdenkens, Wiedererinnerns und kritischen Bewertens, um auf diesem Weg etwas voranzukommen. Damit werden wir in unser Unbewusstes trotzdem kaum vorstoßen. Wir werden aber näher an eine »Theorie« über uns selbst herankommen, die beide, innere und äußere Lebensziele, realistischer zu beurteilen erlaubt. Das ist durchaus ein Weg, zu »weisen« Entscheidungen zu kommen, vorausgesetzt, dass wir uns immer einer lebenszeitlichen Perspektive befleißigen. Auch hier stoßen wir wieder auf das Phänomen, das bereits angeklungen ist. Die Fähigkeit, lebenszeitlich spätere Phasen und die Begrenztheit des Lebens in ihrer Bedeutung für die Selbstaktualisierung realistisch einzuschätzen, wird sich ebenfalls erst im mittleren Erwachsenenalter entwickeln. Wenn 145

Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

man eher in der Lage ist, den weiteren Lebensverlauf und die eventuelle subjektive Situation bis zum Tode zu überblicken, werden manche Lebensziele relativiert. Wenn sich unsere Persönlichkeit erst im mittleren Lebensalter in ihrer ganzen Individualität entwickelt, wie dies Erich Fromm und Carl G. Jung erhärtet haben (wenn auch unter gänzlich verschiedenen Vorstellungen über Individuum und Gesellschaft), wird es auch schwerlich möglich sein, schon in jungen Jahren eine die gesamte Lebensspanne umfassende Lebensplanung zu entwickeln. Da könnten gesellschaftliche organisierte Optionen wie private Vorsorge durchaus hilfreich sein, nähmen sie auf die langfristigen Konsequenzen ihrer ungleichheitsschwangeren Entwürfe mehr Bedacht. So gesehen bekommt die Entgegensetzung von Jugend als Aufbruch und Alter als Abgang, wie sie immer wieder geschieht, auch noch einen anderen Sinn. Es ist kein abwegiger Gedanke, sich vorzustellen, dass durch das zahlenmäßige Anwachsen der Alten die Menge derer, denen mehr Selbstaktualisierung gelingt, ebenso größer werden wird wie jene, die an geistigen und psychischen Veränderungen erkranken wird. Nach all dem Gesagten ist das mittlere Lebensalter in besonderer Weise geeignet, die bisherigen Weisen der Lebensbewältigung mit einem Nachdenken und einer Vorausschau auf die verbleibende Zeit zu verbinden, also das zu tun, was Bilanz ziehen heißt. Hier nähern sich die alterssoziologischen und alterspsychologischen Forschungsergebnisse einerseits einer Vorstellung an, die schon bei Aristoteles von Stagyra im Zentrum stand, lassen sie andererseits aber auch hinter sich. Aristoteles vertrat die Position der guten Mitte, in der sich Überschwang der Jugend und Bedachtheit des Alters überlagern. Die gegenwärtige Erkenntnis sieht aber keinen Bogenverlauf des menschlichen Lebens, der nach dem Durchwandern der Mitte abfällt, sondern eine Weiterentwicklung durch Verändern und Lernen. Insofern hat das Programm des lebenslangen Lernens nicht die Europäische Kommission im Interesse der Arbeitsmarktstärkung erstmals »erfunden«, sondern der antike Philosoph Solon bereits im Interesse einer Lebensphilosophie konzipiert : »Werde auch älter ich stets, Neues lerne ich doch.« Möglicherweise ist damit das »mittlere« Lebensalter die beste Zeit, in der »weise« Einsichten in Entscheidungen umgesetzt werden können, die für das Leben noch weitreichende Folgen haben, der alleinige »Höhepunkt« ist sie nicht (Amann  : ). Die soziale Haltung ist in der Sprache der Psychologie kognitive Kompetenz. Die kann einseitig verstanden werden. Immer wieder werden Menschen bewundert, die »alles im Griff haben«, andere erbarmungslos austricksen und degradieren, »to belittle« heißt das sprechende Wort im Englischen, in jeder Situation ihren Vorteil wahren und dadurch den anderen als haushoch überlegen erscheinen. Die unausgesprochene Annahme im Hintergrund lautet, dass die Quali146

Kompetenz, Vitalität und Lebenshaltung

tät all unserer Beziehungen Konkurrenz von jener Art ist, die auf den Märkten herrscht, und der wichtigste Lösungsweg darin besteht, andere zu übertölpeln, und sei es durch immer kleinere Mengen in Lebensmittelpackungen bei gleichbleibenden Preisen. Soziale Haltung ist anders. Sie ist mehr als die Kompetenz des geschickten Umgangs mit begrenzten Situationen. Soziale Intelligenz hat wesentlich mit der Fähigkeit zu tun, in konkreten Situationen die übergreifenden, langfristigen und über die Situation hinaus wichtigen Belange und Ziele zu sehen, die Mithandelnden als Personen wahrzunehmen und sie geistig und emotional zu unterstützen. Das ist ganz etwas anderes als die Ballung von Eigeninteresse und Verhaltensgeschicklichkeit. Es ist die Verbindung von Erkenntnisfähigkeit und Anteilnahme. Wenn Einfühlungsvermögen, ein gewisses Maß an Güte und Lebensübersicht sich paaren, könnte auch von persönlicher Reife gesprochen werden. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass solche Fähigkeiten in sozialen und politischen Führungspositionen nötig sind (wären). Zuwenig deutlich ist, dass deren Entwicklung bei jedem Menschen wichtig ist. Nicht nur das Lösen von Führungsaufgaben ist komplex, sondern auch der Umgang zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken. Hier wiederholt sich der schon erwähnte Hinweis zum dritten Mal. Aus der Lebenslaufforschung gibt es inzwischen deutliche Hinweise, dass sich die sozioemotionalen und die soziokognitiven Fähigkeiten bei Männern erst im reiferen Alter stärker der familiären und zwischenmenschlichen Sphäre zuwenden, während sich Frauen mit der zweiten Lebenshälfte, vor allem, wenn die Kinder erwachsen sind, sich stärker der Außenwelt zuwenden (Amann  : ).

Die philosophische Haltung zielt auf die Bewertung und Lösung allgemeiner Fragen des menschlichen Lebens. Das ist eine Einstellung, die Distanz pflegt und sich trotzdem bejahend, tolerant und auch in der Liebe zur Welt (Schöpfung) ausdrückt. Humor ist mit ihr eng verbunden. Das setzt voraus, auch Distanz zu sich selber zu gewinnen, sich selbst als Teil zu verstehen, der im Ganzen zu Hause ist. Eine philosophische Lebenshaltung schließt das Bewusstsein von Tragik und Leid gleichermaßen ein wie das von Freude und Lust. Zu seinen wichtigsten Inhalten zählt das Erkennen und Anerkennen der Existenz anderer Weltbilder, Wissensformen und Lebensweisen außerhalb des begrenzten eigenen Raumes und des eigenen Standpunktes. Die praktische Haltung ist der Inbegriff von persönlicher Weitsicht, guter Lebenspraxis und kluger Lebensplanung. Dazu gehören Lebensplan und Lebensführung. Sie hängt von der gescheiten Wahl der Lebensziele ab, die sich nach ihrer Realisierbarkeit richtet. Persönliche Fähigkeiten und Motive sowie äußere Bedingungen und Handlungs-

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Kompetenz, Vitalität und das »erlösende Lachen«

möglichkeiten bestimmen die Realisierbarkeit. Vielen gelingt es, näherliegende und übergreifende Lebensziele aufeinander abzustimmen. Hier geht es um Nutzen-KostenAbschätzungen und um Durchhalten. Die soziale Haltung ist in der Sprache der Psychologie kognitive Kompetenz. Soziale Intelligenz hat wesentlich mit der Fähigkeit zu tun, in konkreten Situationen die übergreifenden, langfristigen und über die Situation hinaus wichtigen Belange und Ziele zu sehen, die Mithandelnden als Personen wahrzunehmen und sie geistig und emotional zu unterstützen. Das ist ganz etwas anderes, als die Ballung von Eigeninteresse und Verhaltensgeschicklichkeit. Es ist die Verbindung von Erkenntnisfähigkeit und Anteilnahme. Wenn Einfühlungsvermögen, ein gewisses Maß an Güte und Lebensübersicht sich paaren, könnte auch von persönlicher Reife gesprochen werden.

8.8 Was bleibt ? Lachen, Witz, Lächeln und Humor sind Mechanismen sozialer Interaktion, Hilfsmittel und schlagkräftige Werkzeuge für die Abweisung von Sinnvorgaben, für den Kampf gegen Ansprüche, die andere erheben. Sie dienen dazu, Ernsthaftigkeit zu durchbrechen, Autorität zu distanzieren, sie schließen ein und sie schließen aus. Sie bringen andere zum Nachdenken und sie erlösen, zumindest vorübergehend, aus Zwängen – auf der Seite der Selbstwahrnehmung und des Selbsterlebens und auf der Seite der äußeren Kontrolle. Gerade deshalb konnte William Shakespeare sagen : »Ich möchte lieber einen Narren halten, der mich lustig machte, als Erfahrung, die mich traurig macht.« Lachen, Lächeln, Witz und Humor sind vital, indem sie uns dazu dienen können, unserer Mitwelt überraschende Interpretationsangebote zu machen, sie zum Nachdenken zu bringen, ihr einen Standpunkt zu verdeutlichen, aber auch, ihr einen Standpunkt abzuringen. Vitalität im Alter hat sehr viel mit biophysischen Fähigkeiten und Potenzialen zu tun, wie es uns die Medizin und die Biologie lehren. Sie hat aber auch damit zu tun, wie und ob man im Leben gelernt hat, Humor und Freude als eine ernste Angelegenheit zu betrachten. Und schließlich sollten wir lernen, dass Vitalität auch geistige und psychische Unternehmungslust bedeutet. Nochmals sei auf das eingangs erwähnte antike »mens sana in corpore sano« zurückgegriffen. Es spiegelt das alte Wechselverhältnis zwischen physis und logos der ionischen Naturphilosophie – weshalb ein gesunder Körper allein ja auch noch lange keinen Garant für einen gesunden Geist darstellt. Sie müssen beide wachsen und in ein Verhält148

Was bleibt ?

nis zueinander treten. Physis unterliegt dem Werden und dem Vergehen, weshalb früh schon (bei Heraklit von Ephesos) das Leben in einer Bogenform erscheint. Das Ideal des Weisen, und damit des Alten, setzte dem Vergehen die Distanz, die Gelassenheit entgegen. Aus heutiger soziologischer Sicht hieße diese Distanz ein selbstgewähltes Gleichgewicht zwischen Rückzug und Teilhabe im Älterwerden anzustreben. Weder das einsame, regredierende Älterwerden noch das bewusstlos Hyperaktive aus falsch verstandener Jugendlichkeit entsprechen diesem Ideal. Vitalität im Alter, dies ist das Fazit, ist relativ, nie absolut ; sie ist bewusstes und gewähltes Gleichgewicht zwischen äußerer Zuschreibung und innerer Selbstbestimmtheit. Das soziale und psychische Medium, das dabei hilfreich sein kann, ist das »erlösende Lachen«.

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Kapitel 9

!LTERSSTRUKTURWANDELÖWELTWEIT

Über das Altern der Bevölkerungen kann heute, wenn es um ökonomische, politische und kulturelle Konsequenzen geht, nicht mehr gesprochen werden, ohne auch den Blick auf die Welt außerhalb Europas oder der USA zu richten. Nicht nur in einem übertragenen Sinn beobachten wir alles von einer Insel aus, an deren Küsten sich immer wieder Flüchtlinge, Asylwerbende, Migranten und Migrantinnen, Not und Elend stauen, von einer Insel, die, einer Wohlstandsblase vergleichbar, ihre Bewohner zu verführen scheint, unbeirrt daran zu glauben, dass sich die Dinge in der Zukunft nicht sehr ändern würden. Wir wollen deshalb in diesem Kapitel einige Überlegungen anstellen, die ein solches Denken fraglich machen, zumindest aber verunsichern sollen. Dabei wird sich zeigen, dass das Augenmerk allein auf die Demografie zu konzentrieren eine ziemlich eingeengte Perspektive erzeugt, denn es geht auch um ökonomische und politische Fragen, um Krieg und Gewalt, um Armut und kulturelle Krisensituationen.

9.1 Die globale Perspektive Hier haben wir nun, wenn auch nur kurz, über Globalisierung zu sprechen. Wir sehen Globalisierung, mit dem englischen Soziologen Anthony Giddens, als einen sich beinahe weltweit ausbreitenden Vorgang an, der durch die Ausdehnung und Intensivierung sowie wachsende gegenseitige Abhängigkeit vieler sozialer und der meisten wirtschaftlichen Beziehungen auf der Welt gekennzeichnet ist. Zumindest ist dies der programmatische Gedanke, denn es gibt wissenschaftlich, philosophisch und sozialräumlich noch sehr entlegene Welten. Weder ist dieser Vorgang nur durch geradlinige Entwicklung noch nur durch Konflikte zu charakterisieren.²⁹ Seine Merkmale sind zufolge theoretischer Überlegungen die »Entgrenzung« von traditionellen Raum- und Zeitordnungen und die Reflexivität der Prozesse. Diese Entwicklung ist eng an die Idee der Individualisierung gekoppelt, wie sie im ersten Kapitel ausgeführt wurde. Etwas alltäglicher ausgedrückt könnte auch gesagt werden, dass es sich, zumindest seit Anfang der Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, um eine rasant sich beschleunigende vor allem wirtschaftliche Modernisierung im Weltmaßstab handle. Dass dieser Pro151

Altersstrukturwandel weltweit

zess nicht nur aus ökonomischer Perspektive betrachtet werden kann, weil dann allzu viele wichtige Aspekte außer Acht gelassen werden, wurde schon mehrfach ausführlich dargestellt (vgl. Amann b). Trotzdem wird weithin im öffentlichen Diskurs das Gewicht vor allem auf die ökonomische Perspektive gelegt. Auch diese Tatsache ist aus der großen Erzählung des Marktfundamentalismus zu verstehen. Unter ihr geht es um die weltweite Durchsetzung eines standardisierten Wirtschaftssystems, in dem der freie und von keinen wesentlichen Einschränkungen mehr behinderte Verkehr von Information, Kapital, Arbeitskraft und Dienstleistungen gilt. Innerhalb der EU wurde diese Vorstellung zu einer Richtlinie erhoben. Selbstverständlich hat »weltweit« hier im Sinne einer Intention zu gelten, denn praktisch gesehen konzentriert sich dieser Verkehr nach wie vor auf bestimmte Zentren in der Welt und er wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft tun, zumal internationale Organisationen und Weltkonzerne sowie Finanzmärkte diesem Trend ungebrochen folgen. Die kollektiven Akteure in diesem Prozess sind die Finanzmärkte, die multinationalen Unternehmen, die Internationalen Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Welthandelsorganisation, aber auch nationale Regierungen. Es sind genau jene Akteure, die schon lange ganz zentral auch an der Diskussion über eine aktivierende Politik, über die Individualisierung struktureller oder kollektiver Risiken und über die Älteren als eine wachsende Bürde für die Volkswirtschaften beteiligt sind. Als  im Abschlussabkommen der Uruguay-Runde das alte Zoll- und Handelsabkommen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) durch die Welthandelsorganisation abgelöst wurde, prägten Politiker und Medien die Metapher von der »steigenden Flut, die alle Boote emporheben wird« (Mander  : ) – ersichtlich damals schon ein einbeiniger Enthusiasmus. Was in der Zeit seither an vorher existierenden nationalen und regionalen Besonderheiten eingeebnet wurde, macht zugleich das aus, was die »neue« globale Wirtschaft kennzeichnet. Es sind gleiche Regeln für alle, die der WTO als Mitglied beitreten, aber auch für jene, die ohne Mitgliedschaft teilhaben wollen. Es sind zentralbürokratische Bündelungen politischer Macht in den großen internationalen Organisationen um den Preis der teilweisen Aufgabe nationaler, demokratisch verabschiedeter Gesetze, Abschaffung von Kontrollmechanismen für den globalen Handel von Konzernen und jenen mit Devisen, was zu der weltweiten Wirtschaftskrise  sowie, zumindest teilweise, zur gegenwärtigen, wiederum weltweiten Finanzkrise führte. Und es ist schließlich die Durchsetzung ideologischer und politischer Prinzipien zur Steuerung sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Prozesse (Amann b). Zu diesen zählen vor allem : die machtvolle Durchsetzung eines 152

Die globale Perspektive

einheitlichen wirtschaftlichen Entwicklungsmodells für die ganze Welt, schnelles und immer steigendes Wachstum sowie Freihandel zur Stimulierung dieses Wachstums im Sinne des »freien Marktes«, Verzicht auf staatliche Regulierungen, Privatisierung staatlicher Dienstleistungen und die Dominanz unbegrenzten Konsums, um die Produktion auch des Nutzlosen ständig voranzutreiben (Mander  : ). Staatliche Interventionen stoßen heute zunehmend und deutlich auf den Widerstand privater Investoren, wo diese eine Schmälerung der Kapitalrendite befürchten – also vor allem im Bereich hoher Arbeitskosten. Sie reagieren mit sinkender Investitionsbereitschaft und Rationalisierungen, die zur Entlassung von Arbeitskräften führen. Noch nie war dies eine so weithin in Politik und Wirtschaft einträchtig akzeptierte und praktizierte Strategie wie seit dem Herbst . Selbstverständlich konnten wir seit rund achtzig Jahren das Phänomen von Massenentlassungen immer wieder beobachten. Doch selbst zu Zeiten der sogenannten Ölkrise oder der großen Wirtschaftsflauten vor der Jahrhundertwende gab es öffentlichen politischen Protest dagegen. Wenn heute derartige Meldungen über die Medien zu uns kommen, wird das hingenommen wie ein Regenguss, über den auch nicht diskutiert wird – vielleicht mit Ausnahme jener, die dabei nass werden. Dass diese Logik ohne gesellschaftlichen Widerstand funktionieren kann, basiert wohl auch auf der Abnahme der Steuerungsmöglichkeiten der Politik gegenüber der Wirtschaft und den internationalen Organisationen. Vorrangig wird der Grundsachverhalt verkannt, dass die moderne Gesellschaft kein Steuerungszentrum mehr hat. Trotzdem fällt der Politik gemäß ihrem Selbstverständnis und gemäß dem demokratischen Grundverständnis der Bevölkerung die Aufgabe zu, jede gesellschaftsverändernde Entscheidung im Nachhinein zu legitimieren. Gerade weil die Politik nach diesem Selbstverständnis für die Gestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen zuständig ist, aber de facto schwindenden Einfluss auf wissenschaftlich-ökonomische Entscheidungen hat, bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als dem Volk Entwicklungsrichtung und Ergebnis des technischen Wandels als Ausdruck unausweichlicher technisch-ökonomischer oder wissenschaftlich-technischer »Sachzwänge« zu verkaufen (Amann b : ). Die schon Jahre andauernde Diskussion über internationale Konkurrenzfähigkeit, Wirtschaftsstandorte und Marktnotwendigkeiten legt beredtes Zeugnis davon ab. Das Ergebnis aus diesen Überlegungen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen : Naturwissenschaftlich-technisch-ökonomische Investitionsentscheidungen, und nicht politische Entscheidungen, treiben den Modernisierungsprozess immer weiter in Richtung Risikogesellschaft. Die künftige Entwicklung ist da153

Altersstrukturwandel weltweit

her von einem Dezisionismus abhängig, der von Akteuren in gänzlich unpolitischen Handlungszusammenhängen betrieben wird. Weil es damit letztlich keine fixierte, fixierbare Entscheidung gibt, lassen sich auch für die Nebenwirkungen dieser »Nicht«-Entscheidung keine Verantwortlichen heranziehen. Der Nichtzuständigkeit der Wissenschaft entspricht eine Implizitzuständigkeit der Betriebe und die bloße Legitimationszuständigkeit der Politik. Fortschritt ist die in die Unzuständigkeit hineininstitutionalisierte Gesellschaftsveränderung (Beck  : ). Nun ist zu ergänzen, dass diese Überlegungen, die Ulrich Beck Mitte der er-Jahre vorgestellt hat, vor allem im Detail modifiziert gehören, weil sich inzwischen in vielen Politikbereichen das, was als relative Autonomie der Nationalstaaten gegenüber internationalen Organisationen bezeichnet werden kann, auch neue Formen angenommen hat. Diese relative Autonomie des National- bzw. Sozialstaats wird in manchen Politikbereichen durch Anstrengungen weiterhin gewahrt, in anderen ist sie eingeschränkt worden, und wiederum in anderen völlig unberührt geblieben. Der Grundgedanke einer indirekten Steuerung des Wandels durch die Wirtschaft (und die Wissenschaft), in dem Defizite entstehen (z. B. Massenentlassungen von Arbeitskräften), die dann durch staatliche Verantwortung aufgefangen werden müssen, wobei dem staatlichen Handeln kaum Spielräume für ein »bargaining« mit den Unternehmen bleiben, sodass staatlicherseits quasi hinterher auch noch die Legitimationsaufgabe übernommen werden muss, ist unbestreitbar geblieben. Das Thema, um das es hier geht, nämlich Altern im globalen Kontext, wurde aus den Modellvorstellungen der Globalisierung, gleich welcher Provenienz, bisher weitgehend ausgeblendet, d. h. in keinem der grundlagentheoretischen Versuche, Globalisierung wissenschaftlich zu konzeptualisieren, spielt der Altersstrukturwandel eine konstitutive Rolle. Das verwundert umso mehr, weil die Dauerdiskussion über den demografischen Wandel selbst beste Chancen hat, eine große Erzählung zu werden. Die Beispiele sind Legion, in denen dieser demografische Wandel zur Ursache aller Veränderungen und Probleme stilisiert wird. Davon bleibt die Tatsache unberührt, dass es daneben aus finanztechnischen und budgetpolitischen Gründen eine global inszenierte Diskussion über die Belastung nationaler Volkswirtschaften durch den Zuwachs an älteren Menschen gibt. Es ist dies ein Belastungsdiskurs, in dem als technokratischer Ausweg seit Jahren angepriesen wird, dass den immer größeren Kosten, die für die Pensionssysteme entstehen, durch die herkömmliche Beitragspolitik in den Umlagesystemen nicht mehr zu begegnen sei und die Systeme deshalb, wegen der höheren Renditen, auf fondsbasierte Finanzierungen umzusteigen hätten. Dass damit buchstäblich 154

Das Alterungsphänomen

»heillose« Risiken verbunden sind, hat die gegenwärtige Krise gezeigt, in der Millionen in aller Welt um ihre Pensions»investitionen« gebracht wurden (Kolland, Amann  : ff.).

9.2 Das Alterungsphänomen Wir haben auf den Begriff der Bevölkerungsweise und seine besondere Bedeutung bereits hingewiesen. Zwar geht es im demografischen Wandel hauptsächlich um Geburtenziffern (Fruchtbarkeit), Sterblichkeit (Lebenserwartung) und Wanderungen, doch im Hintergrund steht ein ganzes System an wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen, die für die Höhe der Geburtenziffern, für die Lebenserwartung und für das Ausmaß der Wanderungen verantwortlich sind. Dass z. B. ein Absinken der Geburtenziffer aufs Engste mit der materiellen Wohlfahrt und dem Wandel kultureller Vorstellungen über Familienformen und Reproduktionsverhalten verbunden ist und dass steigende Lebenserwartung mit der Abnahme der Säuglingssterblichkeit und den verbesserten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der Medizin zu tun hat, gilt in allen Ländern dieser Welt. Allerdings muss hier eine kleine Differenzierung eingeführt werden, die aus neuester Forschung stammt. Im »Population Studies Center« in Pennsylvania (USA) haben Forscher und Forscherinnen Daten aus  Ländern über die Zeit von  bis  analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass die These einer immer sinkenden Geburtenziffer (genauer : Fruchtbarkeit), die mit steigendem Lebensstandard gekoppelt ist, auch revidiert werden könnte. Der Human Development Index (HDI), der sich aus Lebenserwartung, Bruttoinlandsprodukt und Bildungsgrad zusammensetzt, also ein Maß für den Entwicklungsgrad ist und zwischen Null und Eins liegen kann, wurde mit Fruchtbarkeitsziffern verbunden. Und siehe da : Die Funktion zeigt einen leichten Knick, allerdings nur auf einem sehr hohen Grad der Entwicklung. Ab HDI-Werten zwischen , und , nehme die Fruchtbarkeit wieder zu, also in Ländern wie z. B. den USA, Norwegen oder Italien. Zwei Auslegungen werden angeboten, die allerdings statistisch nicht analysiert wurden, sondern nur mehr oder weniger plausibel angenommen werden. Einerseits, so heißt es, könnten es sich Frauen bei enorm hohem Lebensstandard (doch) leisten, Kinder zu bekommen, andererseits seien Länder mit so hohem Lebensstandard genau jene, in denen die Zuwanderungsrate an jungen Immigranten und Immigrantinnen bekannterweise besonders hoch sei. Am nächsten kommt dem Realitätsgehalt dieser Thesenmodifizierung aber immer noch ein statistisches Teilergebnis selbst, das aus derselben Analyse 155

Altersstrukturwandel weltweit

stammt. Die Trendwende ist nicht durchgehend zu beobachten. Auch in Ländern, in denen die HDI-Werte bei , liegen oder noch steigen (bzw. bis  noch stiegen), gibt es sinkende Geburtenraten wie z. B. in Japan, Südkorea, Australien, in der Schweiz oder in Österreich. Für den weltweiten Alterungsprozess können wir daher mit gutem Gründen bei der oben genannten alten These bleiben. 9.2.1 Die Demografie

Das erste Aufmerksamkeitsgebot, das hier zu beachten ist, gilt der ungemeinen Unterschiedlichkeit, in der dieser sogenannte weltweite Alterungsprozess vor sich geht. Als Vergleich mag eine große Grundlawine gelten, die mit mittlerer Geschwindigkeit zu Tal fährt. Sie besteht aus altem und neuem, aus leichtem und schwererem, auch verdichtetem und lockerem Schnee, in ihr finden sich Bäume, Felsen und Erde, auch Tiere (und manchmal auch Menschen), an großen Hindernissen teilt sie sich, kleine nimmt sie mit, über lange als »sicher« geltende Flächen fegt sie hinweg, andere lässt sie unberührt, und wenn sie irgendwann zum Stehen kommt, aus der Perspektive des Beobachters, ist sie immer noch eine Lawine, die alles verändert hat. Auf ihrer ganzen Länge zeigen sie dann charakteristische Muster, aus denen sich ersehen lässt, wo sie begann, weshalb sie so ein enormes Volumen erreichte, was sie beschädigte und was nicht. Nun können die Gedanken darüber beginnen, wo mit einigem Erfolg eingegriffen werden könnte : Lawinenverbauung, Aufforstung, Bauverbot in gefährdeten Regionen etc. Die Demografie nennt die regional³⁰ unterschiedlichen Kurven, in denen der Bevölkerungszuwachs generell oder die Veränderung der Größen von Altersgruppen speziell dargestellt werden, »Wachstumspfade«. Obwohl nun diese Wachstumspfade der Bevölkerungen in einzelnen Weltregionen ungeheuer divergieren, ist doch die ganze Welt einem unaufhaltsamen Alterungsprozess unterworfen. Die jüngsten Weltbevölkerungsprognosen des International Institute of Applied Systems Analysis (IIASA) belehren uns unmissverständlich darüber, dass die Weltbevölkerung mit einer Wahrscheinlichkeit von   im Laufe dieses Jahrhunderts einen Gipfel von , Milliarden Menschen erreichen (um das Jahr ) und dann langsam etwas absinken wird. Über das ganze Bild verteilt sehen wir Länder mit Bevölkerungszuwachs und Länder mit Bevölkerungsrückgang. Diese Prognosen zeigen zusätzlich, dass sich der Prozess der Bevölkerungsalterung weltweit beschleunigen wird. Die Hauptursache für das beschleunigte Altern liegt in den Geburtenraten der vergangenen Jahrzehnte. Sie haben in vielen Ländern der Erde in dieser Zeit rasch abgenommen. Den niedrigsten Stand haben gegenwärtig Europa und Ostasien erreicht, und selbst im bevölkerungsreichsten 156

Das Alterungsphänomen

Land, China mit , Milliarden Menschen, hat die Geburtenziffer den Wert von , erreicht (im Vergleich zur Europäischen Union mit ,)³¹. Deshalb und wegen der sich ändernden Sterblichkeit/Lebenserwartung variiert auch die Altersstruktur der Bevölkerungen im internationalen Vergleich stärker als jemals zuvor. Nach wie vor gilt aber eine Einsicht, die sich schon weithin durchgesetzt hat : Praktisch das gesamte Bevölkerungswachstum auf der Erde wird sich in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas abspielen (Haub ). Es ist daher aus mehreren Gründen eine höchst fragwürdige politische Strategie, das Denken über die Zukunft darauf zu konzentrieren, die Zuwanderungsquoten in den entwickelteren Ländern auf ein Minimum zu reduzieren. Verständlich ist diese Strategie allerdings aus einer anderen Perspektive. Bei massiv steigender Zuwanderung werden auch zunehmende ethnische Konflikte befürchtet. Es ist dies eine Angst, die nicht grundsätzlich als gegenstandslos abgetan werden kann, sie ist aber andererseits einer der wichtigsten Gründe, weshalb immer wieder nach Lösungen gesucht wird, die sich im Nachhinein als nicht sehr klug herausstellen. So kann durchaus in der österreichischen Zuwanderungspolitik diese Angst ausgemacht werden, die politisch auch immer wieder geschürt wird. Angst gibt keine guten Handlungsanleitungen. Was heißt nun beschleunigtes Altern ? Mit der Annahme, dass in der Zukunft in einer bestimmten Region und zu einem bestimmten Zeitpunkt die Älteren (+) mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachen werden, und dass der Zeitraum bis dahin kürzer sein wird als in der bisherigen Entwicklung, wird eine Marke für den Grad der zu erwartenden Alterung gesetzt. Nach den schon erwähnten Prognosen des IIASA wird diese Marke  noch keine der Weltregionen,  aber werden schon fünf von ihnen (West- und Osteuropa, Nordamerika, China und Japan/Ozeanien) sie erreicht haben, wobei Japan/Ozeanien mit hoher Wahrscheinlichkeit die Spitzenreiter mit ,  sein werden. Nun liegt dieser Zeitpunkt in der Zukunft aus politischer Perspektive noch weit voraus. Je näher aber der anvisierte Zeitpunkt in der Zukunft liegt, desto genauer werden die Prognosen. Mit sehr geringer Unsicherheit lässt sich daher sagen, dass Japan/Ozeanien die --Marke schon  erreicht haben werden, während West- und Osteuropa dann bei   halten werden (Lutz, Sanderson, Scherbov ). Ein zweiter Indikator, der in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielt, ist die Entwicklung der sogenannten Hochaltrigen (+). Derzeit liegt ihr Anteil in Westeuropa bei  , ein Wert, der sich bis  wahrscheinlich auf   verdoppeln wird. Nach  ist eine dramatische Entwicklung aufgrund der BabyBoom-Generation in den er-Jahren zu erwarten, andere Entwicklungen in der Altersstruktur in einzelnen Ländern sind jenseits dieses Zeitpunktes relativ 157

Altersstrukturwandel weltweit

unsicher. Nicht zuletzt deshalb, weil so weit voraus die Wanderungen bzw. Zuwanderungen nicht verlässlich genug geschätzt werden können (Lutz, Sanderson, Scherbov ). Kaum sonst wo tun sich solche Differenzen in den Folgen dieses Prozesses auf wie in der Unterscheidung zwischen den Ländern der sogenannten Dritten und der industrialisierten Welt. Während in Europa die Sicherung der Pensionen und der Pflege im Alter Dauergespräch sind und darüber häufig die soziokulturellen Veränderungen eines massenhaft auftretenden langen Lebens übersehen werden, stellen sich in den weniger entwickelten Ländern die Fragen völlig anders. Dort geht es um existenzielle Probleme für die ganze Gesellschaft in fundamentaler Weise. Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme, wie sie bei uns »selbstverständlich« sind, ist nicht leistbar, weil die Mittel fehlen ; Afrika bzw. ein erheblicher Teil Afrikas ist in den letzten  Jahren ärmer geworden, nicht reicher. Dies bedeutet angesichts der Tatsache von Massenarmut, Hunger und Krankheit, Bürgerkriegen, Landflucht und Zerbrechen der traditionellen Versorgungseinrichtungen wie Familien und Clans durch Abwanderung und technische Zivilisation eine katastrophale Situation. Für die Frage der Alterssicherung ist in vielen Ländern die Zukunft völlig ungewiss. In  Jahren werden in der sogenannten Dritten Welt in absoluten Zahlen mehr alte Menschen leben als in allen industrialisierten Ländern zusammen. Davon zu reden, dass dort die Prozentanteile der Älteren an der Gesamtbevölkerung niedriger seien als in den Industrieländern, führt am Kern der Probleme vorbei :   Ältere in China mit fast , Milliarden Menschen hat andere Dimensionen als   Ältere in Österreich mit knapp  Millionen Menschen (Amann ). Doch auch in den entwickelteren Ländern ist das Bewusstsein über die vielfältigen Folgen des individuellen und demografischen Alterns längst nicht in einem Maße entwickelt, das der Situation angemessen wäre. Auch hier gibt es Probleme der Desolidarisierung, der Ungleichheit und der mangelnden Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Gütern und Chancen ; es gibt Altersdiskriminierung, systematische Schlechterstellung der Frauen und weithin eine völlige Verkennung der Möglichkeiten, welchen Beitrag die älteren Menschen in einer sich wandelnden Gesellschaft zu leisten imstande wären.

Obwohl die Wachstumspfade der Bevölkerungen in einzelnen Weltregionen ungeheuer auseinanderlaufen, ist doch die ganze Welt einem unaufhaltsamen Alterungsprozess unterworfen, der nicht umkehrbar ist. Es gibt Länder mit enormem Bevölkerungszuwachs und Länder mit Bevölkerungsrückgang. Die Prognosen zeigen zusätzlich, dass

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Das Alterungsphänomen

sich der Prozess der Bevölkerungsalterung weltweit beschleunigen wird. Kaum sonst wo tun sich solche Differenzen in den Folgen dieses Prozesses auf wie in der Unterscheidung zwischen den Ländern der sogenannten Dritten und der industrialisierten Welt. Für die weniger entwickelten Länder geht es um existenzielle Probleme für die ganze Gesellschaft in fundamentaler Weise. Die Frage der Alterssicherung ist in vielen dieser Länder völlig ungewiss. In 20 Jahren werden in der sogenannten Dritten Welt in absoluten Zahlen mehr alte Menschen leben als in allen industrialisierten Ländern zusammen. Davon zu reden, dass dort die Prozentanteile der Älteren an der Gesamtbevölkerung niedriger seien als in den Industrieländern, führt am Kern der Probleme vorbei : 12 % Ältere in China mit fast 1,3 Milliarden Menschen hat andere Dimensionen als 25 % Ältere in Österreich mit knapp 8 Millionen Menschen. Doch auch in den entwickelteren Ländern ist das Bewusstsein über die vielfältigen Folgen des individuellen und demografischen Alterns längst nicht in einem Maße entwickelt, das der Situation angemessen wäre. Auch hier werden die Folgen des Altersstrukturwandels entweder unterschätzt oder einseitig von der Kostenseite gesehen, es gibt Probleme der Desolidarisierung, der Ungleichheit und der mangelnden Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Gütern und Chancen ; es gibt Altersdiskriminierung, systematische Schlechterstellung der Frauen und weithin eine völlige Verkennung der Möglichkeiten, welchen Beitrag die älteren Menschen in einer sich wandelnden Gesellschaft zu leisten imstande wären.

9.2.2 Einige Details im allgemeinen Bild

Dass der Altersstrukturwandel buchstäblich keinen gesellschaftlichen Bereich unberührt lässt, wurde schon öfters gesagt. Darüber wird hier nicht nochmals berichtet. Was aber weit weniger deutlich sichtbar ist, vermutlich, weil einfach weniger darüber diskutiert wird, sind ganz andere Phänomene. Keine andere Region auf der Erde hat ein so großes Potenzial für weiteres Bevölkerungswachstum wie Afrika und damit hat auch keine andere Region in der Zukunft eine so junge Altersstruktur. Das müsste für die Apologeten eines Produktivitätsgedankens, der sich ausschließlich auf junge Menschen konzentriert, das beste Wasser auf ihre Mühlen sein, gäbe es da nicht die bedauernswerte Situation, in der Afrika steckt. Bis ca.  wird, eben aus Gründen der jungen Altersstruktur, die Bevölkerung in Afrika um , Milliarden Menschen wachsen – so viele, wie heute in den Industrieländern insgesamt leben (Haub  : ). Über das Zusammenspiel zwischen den Folgen von HIV/AIDS für die Bevölkerungsentwicklung, den immer noch dominierenden traditionellen Reproduktionsvorstellungen, die zu 159

Altersstrukturwandel weltweit

hoher Kinderzahl führen, und den Gründen für die relativ geringe Wirkung von Programmen zur Familienplanung und Kontrazeption liegen keine umfassenderen soziokulturellen Studien vor, Analysen sind auf Einzelberichte angewiesen. Natürlich ist bekannt, dass eine der schwierigsten Aufgaben der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur für Familienberatung und Familienplanung ist, dass selbst dort, wo solche Strukturen bestehen, immer wieder der Rückfall in die traditionellen Muster durchschlägt, und dass die Wirkungen sich nur in sehr langfristiger Perspektive zeigen. Hier könnte ein zweites Aufmerksamkeitsgebot formuliert werden, das sich nun auf die lange Dauer der Prozesse bezieht. Demografische Veränderungen haben schon für sich genommen einen langen Atem, es muss in Jahrzehnten gerechnet werden. Wenn nun die Maßnahmen und Entscheidungen ins Auge gefasst werden, die parallel oder verzögert zum demografischen Verlauf in dessen Konsequenzen eingreifen sollen, gilt der Gedanke der langen Entwicklung noch einmal. Die Versuche europäischer Länder, Pensions- und Rentensysteme zu verändern, um den demografischen Folgen zu begegnen, dauern schon seit Jahrzehnten an. Kenia, eines der sehr wenigen Länder in Afrika mit deutlich sinkender Fertilität, hat schon Anfang der er-Jahre eine nationale Kampagne zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums begonnen. Dennoch dauerte es, entgegen den Erwartungen der Demografen, fast dreißig Jahre, bis die Geburtenraten zu sinken anfingen (Haub  : ). Gunnar Myrdal hat auf viele Probleme ebenfalls schon vor Jahrzehnten nachdrücklich aufmerksam gemacht, doch manchmal hat es den Anschein, als sei alles, was er sagte, auch seine manchmal genialen Einsichten, einfach vergessen worden. In diesen Kontext gehört nun ein weiteres Argument. Die Zukunft des demografischen Alterns sind die heute zahlreichen Jungen. Eine den Umständen angemessene Lebensplanung ist eine Frage der soziokulturellen Einstellungen. Einstellungen sind von der Bildung abhängig, und diese wieder von adäquaten Lebensverhältnissen. Deshalb gilt auch in der Entwicklungssoziologie der Anteil der Jungen und Mädchen an einer Kohorte, die zur Schule gehen, als einer der aussagekräftigsten Entwicklungsindikatoren. Wenn nun ein immer wieder bestätigtes Ergebnis mit hinzugenommen wird, dass nämlich ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer besseren Bildung und dem Empowerment von Frauen einerseits und ihren Reproduktionsentscheidungen andererseits besteht, wird klar, wo der Angelpunkt aller Überlegungen liegt. Verbesserung benachteiligter Lebensverhältnisse und Erhöhung der Bildungsteilnahme sind das Um und Auf für die künftig erwachsene und ältere Bevölkerung in dieser Region. Was künftig als Potenziale der erwachsenen und älteren Bevölkerung im weitesten Sinn wirk160

Das Alterungsphänomen

sam werden soll (das sogenannte Humankapital), muss heute unterstützt werden, denn es geht um langfristige Prozesse. Zwar kann diese Behauptung nahezu immer Geltung beanspruchen, doch wohl nirgends auf der Erde so dringend wie gegenwärtig in Afrika. Und gerade dort stellen die Kosten insbesondere weiterführender Bildungseinrichtungen eine kaum überwindbare Hürde dar, und wenn überhaupt, steht die Bildung der Söhne im Vordergrund (Haub  : ). Die von uns in diesem Buch begonnene Diskussion über Produktivität ist auf Fragen gerichtet, die einen typischen Zuschnitt auf Marktgesellschaften haben. Für Afrika und auch für einige andere weniger entwickelte Gegenden werden sich in den nächsten Jahrzehnten die Fragen ganz anders stellen. Wir sehen uns hier mit jener Auffassung in der Entwicklungssoziologie einig, die in den Regionen mit dem stärksten Bevölkerungswachstum und dem niedrigsten Lebensstandard eine Verbesserung der Situation nur erwartet, wenn parallel mindestens folgende Prozesse eingeleitet werden : •

• • • •

Massive Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus (allerdings nach erheblich anderen Regeln, als sie bisher von der WB und dem IMF vorgegeben worden sind) Nachhaltiger Aufbau der Bildungssysteme und Minderung der Geschlechterdifferenzen Verringerung ethnischer, wirtschaftlicher und religiöser Konflikte Stärkere Kontrolle des internationalen Waffenhandels Aufgabe alter Kolonialismusideen, die heute unter dem Deckmantel der Ökonomie und der Militärhilfe figurieren.

Doch zurück zur Bildungsfrage. Dass Bildung der Schlüssel für viele soziale Probleme ist, wird nicht mehr bestritten. Das Leistungspotenzial von Menschen ist die Drehscheibe der Zukunftsbewältigungen in den Industrie- und in den Entwicklungsländern. Das IIASA und das Wiener Institut für Demografie (VID) haben zusammen ein Berechnungsmodell bzw. einen Datensatz entwickelt – »Multistate Demography« –, mit dessen Hilfe die Dynamik der sich ändernden Bildungsstruktur nach Alter und Geschlecht abgebildet sowie die Unterschiede im Geburtenverhalten, in den Überlebenswahrscheinlichkeiten und in den Migrationstrends verschiedener Bildungsgruppen berücksichtigt werden können. An zwei ausgewählten Beispielen lassen sich interessante Effekte darstellen. Für Pakistan wurde gezeigt, wie die Bildungsentwicklungen nicht nur das Bildungsprofil der Bevölkerung, sondern auch deren Größe und Altersstruktur beeinflussen, da höher gebildete Frauen allgemein weniger Kinder haben. Würde das 161

Altersstrukturwandel weltweit

Bildungssystem in diesem Land bis  nicht ausgeweitet, befände es sich dann in einer Lage, eine Bevölkerung versorgen zu müssen, die fast dreimal so groß ist wie heute und die weiter wächst, in der aber die Mehrheit ohne Schulbildung wäre. Wird die Annahme zugrunde gelegt, dass das Bildungssystem mit ähnlicher Geschwindigkeit wachsen wird wie im Durchschnitt anderer Länder, wäre die Bevölkerung bis  zwar älter, der überwiegende Teil aber hätte zumindest eine Sekundarschule besucht. Im zweiten Beispiel zeigt eine statistische Zeitreihenanalyse über  Länder im Vergleich den signifikant positiven Beitrag von Humankapital zum Wirtschaftswachstum (Lutz, Cuaresma, Sanderson ). Allgemeine Volksschulbildung, wie sie als Jahrtausendziel von den Vereinten Nationen formuliert worden ist, genügt nicht, um arme Länder auf einen Weg nachhaltigen Wachstums zu führen, dafür bedarf es auch großer Teile der Bevölkerung mit Sekundarausbildung. Für Industrieländer ist dagegen Hochschulausbildung entscheidend. Damit wird auch der Zusammenhang zwischen alternder Bevölkerung und internationaler Wettbewerbsfähigkeit berührt. Die Älteren werden in Zukunft in vielen Ländern besser ausgebildet und damit auch gesünder und mit einiger Wahrscheinlichkeit weniger pflegebedürftig sein. Es wird aber auch eine im Durchschnitt ältere Erwerbsbevölkerung die volkswirtschaftlichen Leistungen schaffen müssen. Gerade aus diesem Grund erstaunt auch, wie wenig sich die Verantwortlichen in der Politik und der Wirtschaft, z. T. auch in der Wissenschaft, mit dieser Frage beschäftigen. Die Konsequenzen verbesserter Bildung können sehr weitreichend sein, hin bis zu den Effekten der Bildung auf die Achtung von Menschenrechten oder auf Klima- und Umweltbewusstheit. Allerdings : Es braucht Zeit, bis sich bessere Bildung bei Kindern in höhere Potenziale bzw. in Humankapital oder gar Sozialkapital in den Erwachsenen transformiert. – Hier geht es um Langzeitinvestitionen³², die gegenwärtig Kosten und Engagement verursachen (Lutz, Goujon, Samir, Sanderson ). Diese Vorstellungen können nun nochmals an einem anderen Phänomen gespiegelt werden. Einen weiteren wichtigen Indikator stellt der Grad der wachsenden Urbanisierung dar. Unter ihr wird die Zunahme des Anteils der Bevölkerung verstanden, der in Mittel- und Großstädten lebt. Wiederum unterscheidet sich die Urbanisierung Afrikas von allen anderen Regionen insofern, als dort sowohl die städtische als auch die ländliche Bevölkerung wächst. Tatsächlich ist Afrika jene Weltregion, in der bis  ein signifikantes Wachstum der ländlichen Bevölkerung prognostiziert wird. Wie in vielen Definitionen liegt auch hier das Problem in den nicht explizierten Details. Zwar liegt es nahe, mit dem Begriff »Megastädte« Agglomerationen wie Lagos oder Mexiko-City oder Kairo zu verbinden, tatsächlich lebt aber der Großteil der urbanen Bevölkerung der 162

Das Alterungsphänomen

Welt in weitaus kleineren Städten und regionalen Zentren, die auch als »urban« bezeichnet werden. Zutreffender wäre es, anstatt von urbaner Bevölkerung von Menschen zu sprechen, die »nicht in der Landwirtschaft tätig sind«. In Äthiopien z. B. gelten alle Siedlungen mit mehr als . Einwohnern als »urban«, in Afrika leben zwar   der urbanen Bevölkerung in Städten mit weniger als einer halben Million Einwohnern, doch die durchschnittliche Ortschaft ist wesentlich kleiner (Haub  : f.). Abhängig von den unterschiedlichen Siedlungsgrößen und ihrer »Nähe« zueinander aber stellen sich Fragen der infrastrukturellen Entwicklung, der wirtschaftlichen Leistungskraft, der Mobilität der Menschen etc. völlig unterschiedlich und oft nicht einmal als vergleichbar heraus. Dass Arbeit die Grundlage des Lebens ist, gilt für die meisten Menschen. Sicher aber gilt das in einem sehr spezifischen Sinn für die Menschen in ärmeren Ländern mit großen Anteilen an bäuerlicher Bevölkerung und wenig entwickelten sozialen Sicherheitssystemen. Dort beenden alte Männer ihre Arbeit meist (manchmal gelingt es ihnen auch, Beschäftigung über die bei uns üblichen Altersgrenzen hinaus zu erhalten), Frauen können es nicht. Sie unterstützen ihre Familien, indem sie Handel mit kleinen Dingen treiben, immer noch einfachen Verrichtungen auf dem Feld nachgehen und sich um die Enkel kümmern und deren einfachste Bedürfnisse zu stillen versuchen. Sie kümmern sich um die alten Verwandten, und wenn sie dann selbst am Ende eines langen, harten Lebens Hilfe brauchen, ist fast niemand mehr da, der sie ihnen gibt. Ein Bewusstsein über Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt und Verletzung der Rechte bei alten Menschen entsteht erst sehr langsam in unserer Welt, in manchen, besonders weniger entwickelten Ländern, ist kaum eine Ahnung davon vorhanden. Die Rechte alter Menschen werden sozial, psychisch, politisch und ökonomisch verletzt. Oft wird geglaubt, dass in Afrika oder in anderen Ländern mit traditionalen Kulturen die herkömmlichen Familienstrukturen, verbunden mit Normen des Respekts, für die Alten Unterstützung und Ansehen bedeuten. Das Gegenteil ist meist der Fall. Alte Menschen sind der Anklage der Zauberei ausgesetzt. Dies gilt vor allem für alte Frauen. Wenn es zu viel oder zu wenig regnet, wenn die Ernte schlecht oder die Preise niedrig sind, wenn Kinder krank werden, sind sie die Schuldigen. In Ghana werden als Zauberinnen angeklagte alte Frauen vom Dorfhäuptling an einen einsamen Ort verbannt, wo sie den Rest ihres Lebens vegetieren. Im ländlichen Tansania haben wirtschaftliche Krisen und Landknappheit vermehrt dazu geführt, dass alte Frauen der Zauberei angeklagt wurden, Grund genug, sie aus ihren Heimen zu vertreiben und sie sogar wegen ihres Besitzes umzubringen. Raub und Gewalt durch Familienmitglieder an den alten Verwandten sind in manchen Regionen alarmierend angewachsen. 163

Altersstrukturwandel weltweit

In manchen Gegenden hat sexueller Missbrauch augenscheinlich zugenommen, genährt durch den Mythos, dass Geschlechtsverkehr mit Alten HIV/AIDS-Infektion heilen könne. Welcher Art der Missbrauch auch immer sein mag, die politischen Systeme versäumen den Schutz der Rechte der Alten. Wo die allgemeine Gesetzgebung tatsächlich Zuflucht böte, ist es für die Alten ungeheuer schwer, Zugang zum Recht zu finden. Die Verletzung dieser Rechte hat ganz allgemein zu einer Zerstörung von Lebensqualität geführt, sichtbar an wachsenden Niveaus der Mittellosigkeit, an Unterernährung und an schlechter physischer und psychischer Gesundheit. Sie münden in Gebrechlichkeit, niedriges Selbstwertgefühl, Stress, Frustration und oft in Selbstmord (Amann ). Viele afrikanische Staaten leiden unter den Folgen von Bürgerkriegen, lokalen Konflikten und Naturkatastrophen. Die geringen Möglichkeiten der alten Menschen, mit solchen Notsituationen umzugehen, werden zusätzlich durch völlige Verständnislosigkeit der Hilfseinrichtungen für die Alten negiert. Sie werden von den meisten von ihnen als Menschen geringer Bedeutung angesehen, und nur ganz wenige bemühen sich, ihre spezifischen Bedürfnisse zu verstehen. Die Alten sind üblicherweise an letzter Stelle, wenn es darum geht, Hilfsgüter zu verteilen. Eine Untersuchung in Benin hat zutage gefördert, dass es ausschließlich jungen Frauen erlaubt wurde, die Lebensmittelration für die Familien einzusammeln, ja, es gab nicht einmal Anstrengungen, die alten Menschen zu informieren, dass sie ein Recht auf Zuteilung hätten. Alte Witwen werden im Rahmen von Wiederaufbauprogrammen bei der Zuteilung von Land diskriminiert. Meist bekommen sie qualitativ schlechtes Land, dazu noch weit entfernt von ihren Wohnstätten. Unfähig, das schlechte Land ergebnisvoll zu bewirtschaften, überstrapazieren sie es mit dem Resultat schlechter Ernten. Alte Witwen in Sambesi, einer Provinz in Mosambik, klagten kollektiv, dass sie schlechter behandelt würden als die Männer (Amann ). Wenn wir über Afrika reden, teilweise gilt dies auch für Regionen Asiens, die heutige Situation und ihre Wurzeln bedenken, stellt sich heftige Ernüchterung ein. Afrikas Rolle war und ist im Rahmen einer globalen politischen Ökonomie die Geschichte einer fortgesetzten Anstrengung, sich von externer Manipulation und Unterdrückung zu befreien, die ihrerseits aus der eigenen Fragmentierung und Zerrissenheit, aus ethnischen Kämpfen und aus der fortwährenden Ausbeutung durch ausländische Mächte stammt, begünstigt durch eigene strukturelle Schwächen im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Diese Geschichte begann, als arabische Menschenräuber im Verein mit portugiesischen Abenteurern in der Nähe westlicher Küstenteile Afrikas begannen, Eingeborene zusammenzufangen, damit sie als Sklaven auf französischen Schiffen nach Amerika gebracht 164

Das Alterungsphänomen

werden konnten, und sie findet ihre gegenwärtige Ausprägung in perennierenden Bürgerkriegen, die mit Waffen westlicher Staaten geführt und mit der Ausbeutung der Rohstoffe besiegelt wird, welche ihrerseits den Reichtum multinationaler Konzerne mitbegründen. Schon nach der sogenannten Unabhängigkeit gab es viele Fälle unverhüllter Verletzung afrikanischer Souveränität, sichtbar im Kongo von  bis , an den wiederholten Interventionen Frankreichs unter Jacques Foccart, die den Zweck hatten, Präsidenten im früheren kolonialen Einflussbereich einzusetzen oder zu stürzen, oder an der direkten militärischen Intervention der USA an Orten wie Stanleyville im Jahr . Afrika wurde und wird als »Spielzeug« fremder politischer und wirtschaftlicher Mächte behandelt, die Folge ist, dass es die ärmsten Bevölkerungen der Welt beheimatet und im internationalen Wirtschaftswachstum kaum eine Rolle spielt. In Zeiten des fortwährenden Kalten Kriegs dauerten die direkten und indirekten Interventionen durch die Großmächte an, wie es anhand des Bürgerkriegs in Angola von  bis  offenbar wurde. Nicht nur Südafrika, und damit indirekt die USA, sondern auch Kuba, und damit indirekt die Sowjetunion, mischten sich ein ( befanden sich . kubanische Soldaten in Angola, ähnlich war es im Falle Äthiopiens). Waffen, Kriegsmaterial und sogenannte Instruktoren wurden von beiden Großmächten geliefert. Was im Zusammenhang mit der Befreiungsbewegung in Südafrika als Interesse der Sowjetunion an einer Dekolonisierung in Afrika und als Interesse der USA an einer Eindämmung kommunistischer Expansion in Afrika zum Ausdruck gebracht wurde, war hinter den Kulissen ein strategisches, also militärisches, und ein politökonomisches Interesse und zugleich ein Spiel, wenn auch ein tödliches, zwischen den beiden Machtblöcken und ihren Satrapen, in dem Afrika, seine Politik, seine Menschen und seine Reichtümer eingesetzt und ausgenützt wurden. Weshalb sonst wäre es zur offenen Unterstützung des Ian-Smith-Regimes zwischen  und  oder der Renamo³³ gekommen, als diese einen brutalen Krieg gegen das sozialistische Frelimo-Regime in Mosambik führte ? Die Situation in Zentralasien ist heute übrigens von Entwicklungen gekennzeichnet, die, beginnend mit den russischen und britischen Invasionsversuchen schon im . Jahrhundert und kulminierend in den fatalen Befriedungsabenteuern der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika in Afghanistan am Ende des . Jahrhunderts, einige Verwandtschaft zeigt. Auf das »Schicksal« Afghanistans hat Amitai Etzioni hingewiesen, indem er zu verdeutlichen suchte, dass die tragische Politik des Westens gegenüber Ländern wie Afghanistan in hohem Maß von Illusionen und falschen Erwartungen ausging. Die sogenannten »inneren Gründe« für das Desaster finden sich in den permanenten Kämpfen zwischen verschiedenen Stämmen und Clans, die »äußeren« in der seit weit mehr 165

Altersstrukturwandel weltweit

als einhundert Jahren sich fortsetzenden Invasions- und Eroberungspolitik westlicher Länder und die Folgen schließlich in dem tödlich gefährlichen Erbe all dieser Kriege. Mehr als zwei Jahrzehnte Krieg in der jüngsten Geschichte haben Afghanistan zu einem der am dichtesten verminten Länder der Welt gemacht. Die meisten der geschätzten zehn Millionen Sprengkörper wurden während der sowjetischen Okkupation gelegt, aber auch die Mudschaheddin verwendeten in ihren Machtkämpfen untereinander diese für die Zivilbevölkerung und insbesondere für Kinder tödlichen Kampfmittel. Nach Schätzungen des MinenAktions-Programms der UNO für Afghanistan (MAPA) kamen in den Jahren  und  im Monatsdurchschnitt bis zu  Afghanen, die Hälfte davon Kinder, durch solche Sprengkörper ums Leben. Die Sache, um die es hier geht, erfordert keine Auflistung der nahezu unabsehbaren Zahl an Bürgerkriegen, Aufständen, Umstürzen, Militärinterventionen und kollektiven Gewalttaten, sie erfordert ebenso wenig die Aufzählung der noch weit zahlreicheren wirtschaftlich motivierten und politisch durchgesetzten Souveränitätseinschränkungen durch Großmächte und internationale Organisationen, die regelmäßig zur Derogation nationaler Gesetze und zur systematischen Benachteiligung ganzer Bevölkerungsgruppen führten. Gerade in den plakativen, von den Medien verbreiteten Fällen international organisierter Übergriffe auf nationale Interessen wird sichtbar, dass es meist nicht einfach Rechtsbestimmungen sind, die eingesetzt werden, sondern die durch Macht gestützte Interpretation und Auslegung des Rechts. Hier geraten dann internationales Recht, Völkerrecht und nationales Recht regelmäßig in Konflikt. Es bedarf keiner taxativen Darstellung all dessen, um sehen zu können, dass diese Kämpfe globale Ausmaße angenommen haben, in denen Gewalt die wesentliche Rolle spielt, in all ihren Erscheinungsformen, und dass dieses »Weltsystem« nur noch wenig mit jenem gemein hat, das bis vor einem halben Jahrhundert noch als das gültige angesehen wurde. Wladimir I. Uljanov (Lenin) hatte zwar schon vor ca.  Jahren das . Jahrhundert als eines der Kriege und Revolutionen diagnostiziert, doch mit den heutigen Formen global eingesetzter Gewaltstrategien hatte jene Diagnose wenig zu tun (Amann b : –). Witwenschaft unter über -jährigen Frauen ist am häufigsten in Nordafrika und Zentralasien, am niedrigsten in Lateinamerika und den Karibischen Inseln. Sich in den Zustand des Verwitwetseins einzugewöhnen ist überall schwer. Besonders schwer aber ist es in Afrika und Asien. In vielen Ländern ist das Erbschaftsrecht dürftig und zum Nachteil der Witwen angelegt. Familienvermögen, Häuser, Land und Geld werden an männliche Verwandte vererbt, häufig zusammen mit den Witwen. Sie haben einen verheerend niedrigen sozialen Status, was 166

Das Alterungsphänomen

sie zu bevorzugten Opfern der Isolation und Diskriminierung, sogar der physischen Gewalt macht. In Südasien verhindern Beschränkungen des sozialen Verkehrs und der Wiederverheiratung für Witwen, dass sie aus der Isolation wieder herauskommen. In Indien sind   der über -jährigen Frauen verwitwet,   sind es unter den - bis -Jährigen. Wiederverheiratung ist die Ausnahme, nur   schaffen es. Witwer leiden in Indien nicht unter dem sozialen Stigma und unter Einschränkungen und Tabus. Sie behalten ihren Besitz und heiraten auch viel häufiger wieder. Im Kontrast dazu wird von den ca.  Millionen Witwen ein keusches, zurückgezogenes und asketisches Leben gefordert. Nur verwitwete Frauen aus einer wohlhabenden Familie können dem entsprechen, wenn diese es sich leisten kann, eine abhängige Witwe zu versorgen. Berichte machen klar, dass Schwäger sich den Erbteil der Witwe widerrechtlich aneignen und ihr keinen Anteil an der Ernte oder einen täglichen Unterhalt gewähren. Söhne, die entfernt leben, unterstützen die verwitwete Mutter nicht, und Brüder helfen ihrer verwitweten Schwester nicht, obwohl sie den Erbteil der Witwe vom gemeinsamen Vater an sich nahmen. Wenn sie gar keine Mittel haben, bleibt ihnen der Weg eines religiösen Lebens, das Betteln, die Prostitution oder ein Konkubinat (Amann ). Ost- und Zentraleuropa sind eine Region mit ca.  Millionen Menschen. Die über -Jährigen machen   aus. Krankheits- und Sterblichkeitsraten sind im Steigen begriffen, besonders unter den Männern. Trotz der riesigen Unterschiede in der Geschichte der ehemaligen Sowjetunion, der Balkanländer und Zentraleuropas haben sie alle den Schock eines schnellen und unerwarteten Kollapses politischer und sozialer Systeme erlebt. Die Desintegration und nur teilweise gelungene Reform der Sozial- und Gesundheitssysteme hat zu erheblicher Unsicherheit geführt. Desillusion ist die vorherrschende Erfahrung. Die alten und früher berechtigten Hoffnungen auf eine, wenn auch kleine, Pension und freien Zugang zur Gesundheitsversorgung sind zusammengestürzt. Es gibt kein einziges Land in dieser riesigen Region Osteuropa, in der das Einkommen der alten Menschen nicht kleiner geworden ist. In manchen Ländern ist es gewaltig abgesunken. Bei vielen herrscht unsägliche Armut. Es fehlt an allem, auch an Lebenswillen (Amann ). Desillusion verbindet sich mit einem allgemeinen Gefühl der Machtlosigkeit und der Bestürzung über die Verluste und die Benachteiligung. In manchen dieser Länder haben die Alten den Eindruck, dass es ihnen schlechter geht als während des Zweiten Weltkriegs, weil ihre gesamte Position in der Gesellschaft infrage gestellt ist und ihre ehemals berechtigten Erwartungen an Pensionssicherheit im Alter ruiniert wurden. Nicht wenige, die Opfer der Massendeportationen waren, 167

Altersstrukturwandel weltweit

fühlen sich verraten, weil sie in den Regierungen dieselben Gesichter sehen wie in den damaligen Regimes (alle Angaben nach : Amann ).

Die Zukunft des demografischen Alterns sind die heute zahlreichen Jungen, vor allem in den weniger entwickelten Ländern. Eine den Umständen angemessene Lebensplanung ist eine Frage der soziokulturellen Einstellungen. Einstellungen sind von der Bildung abhängig, und diese wieder von adäquaten Lebensverhältnissen. Deshalb gilt auch in der Entwicklungssoziologie der Anteil der Jungen und Mädchen an einer Kohorte, die zur Schule gehen, als einer der aussagekräftigsten Entwicklungsindikatoren. Wenn nun ein immer wieder bestätigtes Ergebnis mit hinzugenommen wird, dass nämlich ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer besseren Bildung und dem Empowerment von Frauen einerseits und ihren Reproduktionsentscheidungen andererseits besteht, wird klar, wo der Angelpunkt aller Überlegungen liegt. Verbesserung benachteiligter Lebensverhältnisse und Erhöhung der Bildungsteilnahme sind das Um und Auf für die künftig erwachsene und ältere Bevölkerung in dieser Region. Was künftig als Potenziale der erwachsenen und älteren Bevölkerung im weitesten Sinn wirksam werden soll (das sogenannte Humankapital), muss heute unterstützt werden, denn es geht um langfristige Prozesse. Zwar kann diese Behauptung nahezu immer Geltung beanspruchen, doch wohl nirgends auf der Erde so dringend wie gegenwärtig in Afrika. Und gerade dort stellen die Kosten insbesondere weiterführender Bildungseinrichtungen eine kaum überwindbare Hürde dar.

9.3 Die UN und das weltweite Altern Vom . bis . April  fand in Madrid die . Weltversammlung der Vereinten Nationen zum Thema Altern statt. »Eine Gesellschaft für alle Lebensalter bauen« stand als anspruchsvolles Motto über den Anstrengungen. Die erste Weltversammlung zum nämlichen Thema war  in Wien abgehalten worden. Einige der Madrider Ergebnisse sind hier von Belang. Der . Dezember  war ein bedeutsames Datum ; an diesem Tag begann eine Periode internationalen Nachdenkens über das Phänomen des Alterns und der damit weltweit verbundenen Probleme. Den Auftakt gab die Generalversammlung der Vereinten Nationen, indem sie eine Resolution annahm, im Jahr  die erste Weltversammlung über das Altern zu organisieren. Diese »World Assembly on Ageing« wurde vom . Juli bis zum . August  in Wien aus168

Die UN und das weltweite Altern

gerichtet. Am Schluss der Verhandlungen nahmen die vertretenen Staaten einen Internationalen Aktionsplan (»International Plan of Action«) an : den ersten wichtigen, weltweiten Rahmenplan zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen pensionierter und alter Menschen. Dieser Plan enthielt bereits eine Perspektive, die heute nicht selten als neue Idee vermarktet wird : dass die Älteren selbst einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung einer alternden Gesellschaft leisten können. Rückblickend ist heute festzuhalten, dass diese erste Weltversammlung einen entscheidenden Anstoß zur dauernden und sich ausweitenden Beschäftigung mit Themen des Alterns gab, der sich auf der Ebene nationalstaatlicher und internationaler politischer Organisationen, aber auch im Bereich der Non-Governmental-Organizations (NGOs) und schließlich in der Wissenschaft fortsetzte. Während heute die Einschätzungen über den praktisch-politischen Erfolg des International Plan of Action von  sehr unterschiedlich sind, hin bis zum Urteil relativer Folgenlosigkeit, steht die informationspolitische Wirkung außer Diskussion. Dies lässt sich beispielhaft an wenigen bedeutsamen, die Kräfte für jeweils eine bestimmte Zeit bündelnden Aktivitäten ablesen, die sich vor allem gegen Ende der Neunzigerjahre häuften.  wurde die bereits . globale Alterskonferenz der International Federation on Ageing (IFA) in Montréal abgehalten, an der mehr als  Länder teilnahmen und in deren Deklaration (»Montréal Declaration«) die Delegierten die Vereinten Nationen aufforderten, ein Jahrzehnt der älteren Menschen auszurufen (Amann ). Auch das am . Oktober  von den Vereinten Nationen ausgerufene »Internationale Jahr der älteren Menschen« hatte seine Wurzeln in der  abgehaltenen Weltkonferenz.  musste festgestellt werden, dass dieser Aktionsplan in den Ländern, die damals teilnahmen, sehr unterschiedlich weit, in Österreich aber noch kaum realisiert worden war. Es wurde daher beschlossen, ein Internationales Jahr der älteren Menschen zu veranstalten, das im Grunde die Umsetzung dieses nach wie vor als gültig betrachteten Aktionsplanes vorantreiben sollte. Dabei legte die UNO großen Wert darauf, dass die vorgesehenen Aktionen nicht »von oben aufgesetzt« sind, sondern von möglichst vielen Personen und Einrichtungen getragen werden. Ziel dieses Jahres war nicht nur, sich mit dem Thema »ältere Menschen« zu befassen, sondern auch neue Dimensionen des Zusammenlebens aller Menschen aller Generationen zu eröffnen, in denen die Älteren einen ihnen gemäßen Anteil erfüllen können : »Towards a society for all ages !« Die zweite Weltversammlung wurde aufwendig vorbereitet und in einen Rahmen begleitender Veranstaltungen gesetzt, der vor allem dazu diente, weltweiten 169

Altersstrukturwandel weltweit

Organisationen wie z. B. den NGOs, der WHO oder der International Association of Gerontology (IAG) ein Parallelforum zu bieten. Mit  vertretenen Ländern und geschätzten . Teilnehmern/innen war es tatsächlich eine Großveranstaltung, von der einiges an Ergebnissen erhofft werden konnte (Amann ).  war das Jahr, in dem die demografischen Berechnungen für die entwickelteren Länder das erste Mal eine größere Zahl an älteren Menschen (+) im Vergleich zu jüngeren (>) nachgewiesen hatten. Um  wird dies für die ganze Welt zutreffen und einen Fall darstellen, der in der Menschheitsgeschichte noch nicht da war. Das Altern der Weltbevölkerung ist ein globales Phänomen, jeder Mann, jede Frau, jedes Kind werden auf verschiedene Weise davon betroffen. Dieser Prozess ist irreversibel, und die Effekte der demografischen Veränderungen treffen alle Bereiche des täglichen Lebens. Im wirtschaftlichen Bereich werden Wachstum, Sparen, Investition und Konsum, im sozialpolitischen Bereich Arbeit und Pensionen, im allgemeinen Wohlfahrtsbereich Steuern, Transfers, Vermögen etc. berührt. Ebenso werden Gesundheitswesen, Familienzusammensetzung und Lebensverhältnisse, Wohnen und Wanderungen verändert. Ähnliches gilt für politische Wahlen und Repräsentation. Trotzdem hat das globale Altern der Bevölkerungen außerhalb der Sozialpolitik, der akademischen Arenen und der zwischenstaatlichen Organisationen noch nicht viel mehr als moderate Aufmerksamkeit hervorgerufen. Die ältere Bevölkerung altert in sich ; die am schnellsten wachsende Gruppe in der Welt sind jene, die  Jahre und älter sind. Sie nehmen gegenwärtig um ,  pro Jahr zu und umfassen   der gesamten älteren Bevölkerung. In der Mitte des Jahrhunderts wird ein Fünftel der Älteren über  Jahre alt sein. Der größte Teil der älteren Menschen sind Frauen. Gegenwärtig stehen in der Weltbevölkerung  älteren Frauen  ältere Männer gegenüber. Unter den sehr Alten ( +) ist das Verhältnis  zu . Die Differenzen in den hohen Altersgruppen sind in den entwickelteren Ländern geringer als in den weniger entwickelten, wegen der größeren Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen in den entwickelteren Ländern. Eine, wenn auch nicht immer aussagekräftige Maßzahl, die sogenannte Belastungsquote (Potential Support Ratio = PSR), zeigt in diesem demografischen Prozess erhebliche Veränderungen. Diese Quote fällt seit längerer Zeit und wird weiterhin fallen. Zwischen  und  fiel sie von  auf  Personen im Erwerbsalter pro einer Person im Alter von  und mehr, in der Mitte des . Jahrhunderts wird sie auf  Personen im Erwerbsalter gegenüber einer Person im Alter von  und mehr abgesunken sein. Diese Veränderungen sind von eminenter 170

Die UN und das weltweite Altern

Bedeutung besonders für jene Alterssicherungssysteme, in denen traditionellerweise die jeweils aktiv Beschäftigten für die nicht (mehr) Beschäftigten zahlen. In den entwickelteren Ländern ist das Regelpensionsalter in mehr als der Hälfte dieser Länder  oder älter für Männer und ebenfalls in über der Hälfte der Länder zwischen  und  Jahren für Frauen. Das Regelpensionsalter in den weniger entwickelten Ländern liegt bei den Männern meist niedriger, zwischen  und  Jahren, bei den Frauen um die  Jahre. Diese Differenzen spiegeln nach Auffassung von Experten/innen aus diesen Ländern vor allem die dort niedrigere Lebenserwartung (Amann ). Zu den wichtigsten Punkten zählten auf der Madrider Versammlung die folgenden, im »International Plan of Action on Ageing« angenommenen. Er basiert auf drei Prioritätsperspektiven : a) Ältere Menschen und Entwicklung unter Gesichtspunkten der Notwendigkeit für die Gesellschaften zu betrachten, ihre Politiken und Institutionen auf eine Unterstützung der älter werdenden Bevölkerung in ihrer Rolle als produktive Kraft für die Gesellschaft auszurichten ; b) Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens bis ins hohe Alter mit der Aufforderung an die Politik zu verbinden, die Gesundheitsförderung ab der frühesten Kindheit und durch den ganzen Lebensverlauf gezielt zu unterstützen, um ein gesundes hohes Alter zu erreichen ; c) die Gewährleistung einer fördernden und unterstützenden Umwelt einzuhalten, die eine familien- und gemeinschaftsorientierte Politik fördert und so die Basis für ein sicheres Altern zur Verfügung stellt. Der Plan betont die Notwendigkeit einer Einpassung des Alterns in die globale Entwicklungs-Agenda und umfasst ausdrücklich neue Entwicklungen im sozialen und ökonomischen Bereich, die seit der Annahme des Wiener International Plan of Action die Welt verändert haben. Der Madrid Plan of Action ist ein umfassendes Dokument, das unter den drei genannten Prioritätsperspektiven folgende Handlungsempfehlungen enthält, die wir hier auszugsweise, aber doch etwas genauer darstellen, weil daraus ersichtlich wird, dass bei engerer Orientierung nationaler Altenpolitiken an diesem Plan so manches Thema zum Zuge käme, das üblicherweise ein Schattendasein führt. Jede Aktionsrichtung (Priorität) ist mit »Themen« unterlegt, die ihrerseits Ziele und Maßnahmen enthalten. Aktionsrichtung I : Ältere Menschen und Entwicklung

Thema  : Aktive Teilhabe an der Gesellschaft und an der Entwicklung Thema  : Arbeit und Altern der Erwerbsbevölkerung Thema  : Ländliche Entwicklung, Migration und Verstädterung 171

Altersstrukturwandel weltweit

Thema  : Zugang zu Wissen, Bildung und Weiterbildung Thema  : Solidarität zwischen den Generationen Thema  : Beseitigung der Armut Thema  : Einkommenssicherung, sozialer Schutz/soziale Sicherheit und Armutsprävention Thema  : Notstandssituationen Aktionsrichtung II : Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden bis ins Alter

Thema  : Gesundheitsförderung und Wohlbefinden während des gesamten Lebens Thema  : Universeller und gleicher Zugang zu Gesundheitsdiensten Thema  : Ältere Menschen und HIV/Aids Thema  : Schulung von Betreuungspersonen und Gesundheitsfachkräften Thema  : Bedürfnisse älterer Menschen auf dem Gebiet der Psychischen Gesundheit Thema  : Ältere Menschen und Behinderungen Aktionsrichtung III : Schaffung eines förderlichen und unterstützenden Umfelds

Thema  : Wohnen und Lebensumwelt Thema  : Betreuung und Unterstützung der Betreuungspersonen Thema  : Vernachlässigung, Misshandlung und Gewalt Thema  : Altersbilder Die Themen, Ziele und Maßnahmenvorschläge sind aus einer Perspektive normativer Festlegung formuliert, sodass der Aufforderungscharakter durchgängig die Bedeutung der behandelten Themen bestimmt. Dabei werden die Forderungen nur teilweise auf Forschungsergebnisse gestützt, teilweise sind sie einfach das Resultat von »Einigungen«, die die Vertreter/innen verschiedenster Länder und Organisationen in den Vorverhandlungen zur Weltkonferenz gefunden haben. Ob des generellen Aussageniveaus der Themen ist es offensichtlich, dass es zwischen der allgemeinen Normativität, die die Sachziele und Handlungsempfehlungen auszeichnet, und der Notwendigkeit, Differenzen und Details in den Sachverhalten zu berücksichtigen, um die Erreichbarkeit der Ziele abschätzen zu können, erhebliche Spannungen gibt. Das in seiner Reichweite am deutlichsten als global bedeutsam ausformulierte Prioritätenthema ist das letztgenannte. An ihm und am ersten Prioritätenthema zeigt sich, wird es an den bekannten Fakten 172

Entwicklungsländer – Armut und Soziale Sicherheit

gespiegelt, dass für die weniger entwickelten Länder die allergrößten Probleme bestehen, die Ziele auch nur teilweise zu realisieren.

9.4 Entwicklungsländer – Armut und Soziale Sicherheit Im April  gab der UNPF (United Nations Population Fund) eine Studie heraus, die in gewisser Weise eine Bestandsaufnahme zur Situation der in Armut geratenen und ausgeschlossenen Älteren in Südafrika und Indien bot (UNFPA ). In »gewisser« Weise heißt vor allem, dass an diesem Bericht die missliche Datenlage für eine umfassende Analyse sichtbar wird. Es lohnt sich aber trotzdem, einige der wichtigen Grundaussagen hervorzuheben, in deren Licht sich dann die folgenden Darstellungen interpretieren lassen, wir wählen hier den Fall Südafrika aus. Nur ein adäquates Einkommen, heißt es im Bericht, könne auch in weniger entwickelten Ländern die Älteren davor bewahren, in Abhängigkeiten sehr verschiedener Art zu geraten, auch in bedrohliche. Jene, die am meisten gefährdet sind, haben keine Ersparnisse, keine Pensionen und keine familiäre Unterstützung, da die Familien selbst kein angemessenes Einkommen haben, aus welcher Quelle auch immer. Im Hintergrund dieser Lage steht die Auflösung traditioneller Zusammenlebens- und Unterstützungsformen, ihrerseits beschleunigt durch Modernisierungs- und Transformationsprozesse, die vor allem in eine ungebremste Migration vom Land in die Städte münden, ohne das Grundmuster einer Beschäftigung der Arbeitsfähigen in schlecht strukturierten Kleinsektoren informeller Art in den Städten oder in der ebenfalls informellen agrarischen Kleinproduktion auf dem Land durchbrechen zu können. Südafrika hatte im Jahr  eine durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt von  Jahren für Männer und  Jahren für Frauen. Vom . Lebensjahr aufwärts wird der Überhang an Frauen gegenüber Männern immer größer, sodass Südafrika in schlagender Weise das Muster bestätigt, dass die Probleme älterer Menschen vor allem Probleme der Frauen sind. Die Region ist mit einer Vielzahl komplizierter und ernstlicher Schwierigkeiten konfrontiert, die aus seiner kulturellen Diversität und aus seiner widersprüchlichen Geschichte herrühren. In der Republik Südafrika machen es die viel zu wenigen mit einer formalen Ausbildung, mit handwerklichem Können und mangelnde finanzielle Ressourcen ungeheuer schwierig, die seit der Apartheid entstandenen Umbrüche erfolgreich zu bewältigen. Außerdem bestehen in diesen Situationen die allergrößten Unterschiede zwischen den Weißen und den Schwarzen. Das heißt auch, 173

Altersstrukturwandel weltweit

dass die Schlüsselprobleme für ein Mindestmaß an Wohlbefinden und ein Leben unter einigermaßen angemessenen und würdigen Bedingungen in der extremen Armut liegen, von der vor allem die schwarze Bevölkerung betroffen ist. Ähnlich der Situation in anderen Ländern sind auch die Probleme im Zusammenhang mit HIV/AIDS beherrschend. Weit verbreitete Ignoranz über die Natur und die Implikationen der Krankheit machen Interventionen schwer bis unmöglich. Ältere Menschen werden mit der Betreuung erwachsener Kinder und mit der von Enkeln und Waisen befrachtet. Im Zusammenhang mit extremer Armut heißt das Stress, Traumata und Not in einem Ausmaß und von einer Art, die kaum vorstellbar ist. Vor diesem Hintergrund mögen nun die weiteren Darlegungen ihre eigene Bedeutung zeigen. Zu den inzwischen weithin bekannten Zusammenhängen zählt, dass das Altern mit sinkendem Lebensstandard für ältere Menschen und ihre Haushalte Hand in Hand geht (Barrientos, Gorman, Heslop ). In Entwicklungsländern ist dieses Phänomen stärker ausgeprägt, es trifft wesentlich größere Gruppen als in den entwickelteren Ländern, wobei die Ursachen vielfältig sind. Eine der wichtigsten liegt darin, dass die formalen Schutzsysteme nicht ausreichen, große Teile der Bevölkerung zu erreichen, während gleichzeitig die bestehenden informellen (verwandtschaftlichen) Versorgungssysteme vom raschen wirtschaftlichen und demografischen Wandel, allem voran durch Binnenwanderung vom Land in die Städte, ausgehöhlt werden. Hohe Raten an Altersarmut und Bedürftigkeit treten häufig auf. Umfrageergebnisse zur Altersarmut in Lateinamerika und Afrika belegen einen sehr hohen Einkommens- und Konsumverzicht älterer Menschen und ihrer Haushalte, und da diese Älteren immer noch oft in mehrere Generationen umfassenden Haushalten leben, spiegeln die Armutsquoten älterer Menschen mitunter auch jene der ganzen Bevölkerung wider. Überwiegend sind aber ältere Menschen in vielen Ländern unter den Armen überrepräsentiert, die Armutsquoten liegen hoch über jenen der Gesamtbevölkerung. In einer Studie, die  Länder Lateinamerikas erfasste, waren die Armutsraten in zehn Ländern von diesen achtzehn höher als in der Gesamtbevölkerung (Barrientos ), in einer über  afrikanische Länder zeigten zehn von diesen ebenfalls einen höheren Anteil an Armen unter den Älteren (Kakwani, Subbarao ). Wie hängen nun diese Befunde mit der Sozialen Sicherheit zusammen ? Am deutlichsten reduzieren die Armutsquoten unter den Älteren die Systeme der Sozialen Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung. Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien, die ja einmal die Pioniere bei den Sozialversicherungssystemen in der Region Lateinamerika waren, haben auch niedrigere Armutsquoten unter der älteren Bevölkerung. In Ecuador dagegen ist die Armutsquote unter ihnen 174

Entwicklungsländer – Armut und Soziale Sicherheit

eineinhalb mal so hoch wie im Gesamtdurchschnitt. Doch, um die Systeme finanzieren zu können, bedarf es günstiger ökonomischer Entwicklung. Die hohen Anteile an informeller Beschäftigung z. B. in Südasien und Ländern Afrikas, wo die beitraggestützten Rentensysteme allenfalls die staatlich Bediensteten erfassen, vor allem aber auch die Umformung der Arbeitsmärkte in verschiedenen Weltgegenden unter neoliberalen Direktiven und der Rückgang des Wirtschaftswachstums in vielen Entwicklungsländern führten in den letzten Jahren dazu, dass sowohl die Mitteldeckung als auch die Reichweite entweder stagnieren oder zurückgehen. In Ländern mit niedrigen Einkommen verhindert die informelle Beschäftigung geradezu eine Ausdehnung der beitragfinanzierten Sozialen Sicherheit über einen kleinen Teil der Arbeitnehmerschaft hinaus. Der ökonomische und teilweise auch der demografische Wandel bewirken in den Entwicklungsländern eine Veränderung der Formen der Bedürftigkeit im Alter. Sinkende Geburtenziffern, steigende Lebenserwartung und Veränderung der Beschäftigungsstruktur, weg von der Landwirtschaft und hin zu Industrie und Dienstleistungen, wie sie inzwischen zahlreiche Länder der Dritten Welt kennzeichnen, stülpen Beschäftigungsniveau und Lebensformen um. In China führte der wirtschaftliche Transformationsprozess z. B. zu einem raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit bei den älteren Arbeitskräften, während gleichzeitig der aus der Ein-Kind-Politik erwachsende beschleunigte Wandel der Altersstruktur die traditionellen Formen der Altersvorsorge untergräbt. Nationale und internationale Migration ist ein anderer Faktor, der die Bedürftigkeit im Alter verändert. Während die Überweisungen der Migranten/innen die Haushalte im Heimatland unterstützen, vermögen sie die Zersplitterung und den Verlust von Familien und sozialen Netzwerken nicht zu kompensieren, ja beschleunigen diese manchmal noch, weil die Barmittel die gemeinschaftliche Haushaltsökonomie teilweise verzichtbar machen, an der die Älteren herkömmlicherweise einen hohen Anteil hatten. In Afrika und in Teilen Asiens haben andererseits wieder HIV/AIDS bewirkt, dass viele ältere Menschen erhebliche und unerwartete Aufgaben bei der Versorgung der Betroffenen und ihrer Kinder übernehmen müssen (Barrientos ). Armut wird in den weniger entwickelten Ländern in zwei Weisen sichtbar. Die erste und eindringlichste besteht in der Unmöglichkeit eines großen Teils der Bevölkerung, auch nur die grundlegenden Lebensbedürfnisse stillen zu können, wobei die Alten meist den extremen Fall darstellen. Diese Lage wird durch die zweite Weise verstärkt, in der Armut sichtbar wird : die Unfähigkeit der nationalen Regierungen, in deren Ländern die Armen leben, die notwendigen Ressourcen zu mobilisieren, um die Armut zu bekämpfen oder zumindest die Leiden zu 175

Altersstrukturwandel weltweit

lindern. Obwohl städtische und ländliche Bevölkerung unter Armut leiden, ist das Problem am akutesten in den großen Teilen ländlicher Bevölkerung, die in den meisten dieser Länder dominiert. Da die größten Teile der ländlichen Bevölkerung Bauern und Handwerker sind, die außerhalb des formalen Sektors arbeiten, ist das Konzept der Sozialen Sicherheit, insbesondere das der Sicherung von Pensionen, gegenstandslos und die Auszahlung von Pensionen ohne Bedeutung (Amann ). In Südasien stieg die Rate der Lebensmittelproduktion im Agrarsektor aufgrund des technologischen Wandels über die Rate des Bevölkerungswachstums. Da aber das Wachstum der Beschäftigung in anderen Sektoren weit zurückblieb, stieg die Armut unter denen, die kein Land besitzen oder nur sehr wenig, dramatisch an. In Subsahara-Afrika haben die Bodenzerstörung und der allgemeine ökonomische Rückschritt die Zahl der Armen unter den Subsistenzbauern rapid ansteigen lassen (Amann ). Dort, wo Armut am schärfsten auftritt, führt die Konkurrenz um Ressourcen unter den Generationen zum Zerbrechen alter traditioneller Allianzen. Junge Menschen verlassen die ländlichen Gegenden, ziehen in die Städte, wodurch die Struktur der traditionalen Familie unterminiert wird. Die Alten, vor allem die Witwen, bleiben in den armen ländlichen Gebieten zurück. Die von Steven M. Albert und Maria Cattell vor  Jahren konstatierten hoch integrierten Zusammenlebensformen der Familien in den weniger entwickelten Ländern, in denen die allein wohnenden und allein lebenden Älteren eine Minorität ausmachten, gelten längst nicht mehr so allgemein (Albert, Cattell ). Die Bedingungen, unter denen alte Menschen im urbanen Gebiet in Baracken und Wellblech- oder Papphütten leben, treffen die Ärmsten und Gefährdetsten besonders hart, wie z. B. die Schwarzen in Südafrika. Die Armut ist so groß, dass sogar Menschen im selben Haushalt physische Gewalt gegenüber den kranken Alten üben oder sie töten, um ihnen Lebensmittel oder Pensionsgeld wegzunehmen, falls sie solches haben. Die Armut verteilt sich ungleich über die Rassen (weiß und schwarz) und über die Geschlechter. In Südafrika hat die Jahrzehnte dauernde unsägliche Apartheidpolitik die Schwarzen in eine katastrophale Lebenssituation getrieben. Die Schwarzen stellen   der Bevölkerung, die Weißen  . Die Schwarzen tragen   der Arbeitslosigkeit, die Weißen  . Die Haushalte, denen Frauen vorstehen, zählen zu den ärmsten im ganzen Land. Unter den Alten leben   in Unterkünften ohne Toiletten,   von ihnen haben keinen direkten Zugang zu Wasser. Für die große Mehrheit, ob der urbanen oder der ländlichen Bevölkerung, ist »Alter« keine Vorstellung des kalendarischen Alters, sondern ein Zustand wachsender Unfähigkeit zu arbeiten und deshalb der Zustand unvermeidlicher und zu176

Internationale Migration

nehmender Armut. Da die jährlich, ja monatlich neu hinzukommenden Armenzahlen so hoch sind und mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft weiter wachsen werden, wird Armut eine der größten Barrieren für die Entwicklung und Durchsetzung von politischen Programmen zugunsten der Älteren darstellen (United Nations Population Fund ). Als notwendige Konsequenz ergibt sich daraus, dass die Implementation des »International Plan of Action«, der, wie bereits erwähnt,  anlässlich der Weltversammlung der Vereinten Nationen über das Alter in Madrid verabschiedet wurde, in diesen Ländern keine Chance hat, wenn nicht die reichen Länder massiv einspringen. Dabei ist es offensichtlich, dass »Entwicklungshilfe« der konventionellen Art hilflos bleiben und die Rolle großer Institutionen, wie z. B. jene der Weltbank, zu überdenken sein wird (alle Angaben nach : Amann ).

9.5 Internationale Migration Globalisierung als ein umfassender Prozess ökonomischer, politischer und sozialer Veränderung hat selbstverständlich auch die Zahlen und Muster der Migration weltweit beeinflusst. Erstens hat sich das Migrationsvolumen erheblich vergrößert, weil die ölreichen und neu industrialisierten Länder Arbeitsmigranten/innen buchstäblich eingesogen haben. Zweitens hat sich eine weltweite Nachfrage nach weiblicher Arbeitskraft auf Kosten der Männer schon sehr früh entwickelt (Campani ), was einen rasanten Anstieg der weiblichen Migration bewirkte, sowohl primärer Migranten/innen als auch nachfolgender Verwandter. Drittens haben internationale Desaster und das Anwachsen separatistischer Bewegungen (inkl. Bürgerkriege etc.) die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden drastisch erhöht. Alle diese Entwicklungen haben einen direkten Einfluss auf die Unterstützungsmöglichkeiten im späteren Leben und auf die Fragmentierung von Familien und ganzen Gemeinden, die ihrer Mitglieder im mittleren Lebensalter verlustig gehen (Wilson  : ). Es ist mittlerweile eine alte Einsicht, dass Arbeitsmigranten/innen in den aufnehmenden Ländern ursprünglich als vorübergehende Gäste angesehen wurden, während sie nun meist als »Fremde« bleiben. Diese Länder sehen sich mit Fragen konfrontiert, die früher nicht so brennend waren und die sich heute meist um das Problem drehen, was »mit den Migranten/innen zu tun« sei. Manche werden als »problemfreie Minderheiten« wahrgenommen wie asiatische Einwanderer/innen in den USA oder höher gestellte und gut bezahlte Ausländer/innen in Österreich – die anderen werden fast automatisch stereotypisiert. Wirtschaftliche Abschwünge oder Krisen scheinen 177

Altersstrukturwandel weltweit

fast unvermeidlich alle Schwierigkeiten zu vergrößern, die von Migranten/innen erfahren werden können, angefangen bei Rassismus in der Arbeit und Benachteiligung von Gesetzes wegen bis zu Problemen beim Wohnen, in der Gesundheitsversorgung oder in Bildung und Erziehung. Vor diesem Hintergrund werden Ältere veranlasst, sich um Kinder und Enkel zu kümmern, während die mittlere Generation Arbeit sucht, im Inland wie im Ausland. Überlastete Familien können die Älteren nicht mehr unterstützen, die Pensionen für die Älteren sind unzureichend oder gar nicht vorhanden, und die Veränderung der Arbeitsmärkte (z. B. Verschwinden von Jobs für ungelernte oder angelernte Arbeitskräfte) vermehrt die Zahl arbeitsloser Haushalte (Wilson  : ). Es ist nur eine kleine Minorität unter den Älteren in den Entwicklungsländern, denen es gelingt, ausreichende Ersparnisse zusammenzutragen oder andere Möglichkeiten des Lebensunterhalts in früheren Jahren zu schaffen, und sogar diese sind meist abhängig von bezahlter Arbeit der Jüngeren. In globaler Sichtweise können ältere Frauen und Männer in Abhängigkeit von kollektiver Unterstützung gesehen werden, die in drei sich überlappenden Systemen dargestellt werden kann. Erstens gibt es das System der Arbeitsredistribution. In den meisten Gesellschaften sind die Beschäftigungsaussichten mit dem Status im Lebenslauf verbunden. Ältere Männer und Frauen verrichten die Arbeit, die von dieser Altersgruppe jeweils erwartet wird. Dieses Muster gilt für Familienarbeit zu Hause und für bezahlte Arbeit außerhalb (im schlechteren Fall werden sie in entwickelteren Ländern nicht mehr beschäftigt, sondern gekündigt oder in Sozialprogramme verschoben). Wenn die Pensionen niedrig, nicht vorhanden oder nur auf Staatsbedienstete und Militärangehörige beschränkt sind, wie dies in vielen Ländern der Fall ist, wird erwartet (und dieser Erwartung ist nicht zu entkommen), dass ältere Menschen weiter arbeiten, solange sie können (Tracy ). Die zweite Form der kollektiven Unterstützung ist die gegenseitige Hilfe im Rahmen der Familie bzw. Verwandtschaft. In entwickelteren Ländern trifft dies hauptsächlich auf die Kernfamilie und die unmittelbar blutsverwandten Großeltern und Kinder zu, in weniger entwickelten Ländern allerdings sind Familien größer und komplexer. In ihnen umfasst das Unterstützungssystem Familienarbeit, Wohnen und Ernährung, materielle und emotionale Unterstützung und im besonderen Fall Pflege (hauptsächlich wieder durch Frauen). All jene, für die familiäre Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, sind auf das dritte Unterstützungssystem angewiesen, das einerseits auf Wohltätigkeit gründet und andererseits auf der kollektiven Vorsorge über Versicherungen, Pensionen und Gesundheitsförderung innerhalb der verschiedenen Typen von Sozialstaatsleistungen. Wohltätigkeitsverbände und Glaubensgemeinschaften sowie andere Nicht-Regierungsorganisationen sind die 178

Das knappe Gut Gesundheit

wesentlichen kollektiven Einrichtungen, die einige der sozialstaatlichen Lücken füllen (Wilson  : ). Im Rahmen der Globalisierung hat die »new economy« höchst marginale Effekte zugunsten der Älteren gezeigt, für sie wird größtenteils gar nicht erwartet, dass sie an den »Errungenschaften« teilhaben – trotz der Verbesserung der Altersvorsorge in manchen Staaten Lateinamerikas und in den Wirtschaftszentren am westlichen Pazifikrand. Der immer wieder erzählten Leitgeschichte, dass die Globalisierung den Lebensstandard auch der Älteren gehoben habe, ist einfach das Faktum gegenüberzustellen, dass als globaler Effekt ein Transfer von Ressourcen von den armen zu den reichen Nationen und ein Transfer der Risiken von den reichen zu den armen stattgefunden hat, und damit auch zu den Individuen (Ghai  ; Amann b). Der ganze Prozess hat die am wenigsten entwickelten Länder marginalisiert, die Situation der Älteren ist dabei z. T. katastrophal geworden. Diese Länder umfassen mehr als   der Weltbevölkerung und generieren ,  des Welthandelsvolumens (Kwa ).

9.6 Das knappe Gut Gesundheit In den Politiken der Dritten Welt, aber auch in der internationalen Literatur, gibt es eine verbreitete Tendenz, Fragen des Lebensunterhalts und der Gesundheit getrennt zu behandeln, obwohl die Verbindungen zwischen den beiden Komplexen vielfältig und augenfällig sind. Die bedeutsamste Wirkung des Alterungsprozesses auf die Gesundheitssysteme, so muss angenommen werden, erfolgt über den Wandel epidemiologischer Veränderungen. In den entwickelteren Ländern spiegelt sich dieser Sachverhalt in der nicht endenden Debatte darüber, ob die steigende Lebenserwartung eine Ausdehnung des aktiven und gesunden Lebens bedeute oder eine Restlebensspanne mit erweiterter Morbidität. Dieses Diskussionsmuster ist auf andere Weltregionen nicht anwendbar, schlicht wegen des Mangels an geeigneten Daten, und Analogieschlüsse sind fruchtlos, weil nicht angenommen werden kann, dass die epidemiologischen Muster älterer Menschen sich in diesen verschiedenen Regionen jemals so annähern werden, dass eine informierte Diskussion möglich ist. Ältere in weniger entwickelten Ländern sind Risiken ausgesetzt, die sowohl vor als auch nach der demografischen Transition auftauchen. Vor der Transition, so wird wiederum angenommen, sind es z. B. akute Erkrankungen mit tödlichem Ausgang, nach der Transition sind es z. B. chronische und kostenintensive Krankheiten, die mit dem höheren Alter assoziiert sind. In Mexiko, wie in vielen an179

Altersstrukturwandel weltweit

deren sich entwickelnden Ländern, gibt es eine wachsende Besorgnis, dass das Altern der Bevölkerung zu einer wahren Explosion der Gesundheitskosten wegen chronischer Erkrankungen führen wird (Durán-Arenas, Sánchez, Vallejo, Carreón, Franco ), jedenfalls zu einem unverhältnismäßig höheren Anstieg, als er in den entwickelten Ländern beobachtbar ist. Der Gesundheitszustand und der Zugang zu Gesundheitsleistungen älterer Menschen in Armut werden beide in hohem Maße durch zwei Faktoren beeinflusst, die einander häufig verstärken : das Alter und die spezifische Erscheinungsform der Armut. Wird nach dem erklärenden Faktor für diesen Zusammenhang gesucht, so dürfte er mit hoher Wahrscheinlichkeit, in entwickelten wie in weniger entwickelten Ländern, im vorausliegenden ungleichen Zugang zur Bildung zu finden sein (Abel-Smith ). In einem weiten Blick über die einschlägige Literatur kann der Eindruck gewonnen werden, dass, auch in weniger entwickelten Ländern, Gesundheitsfragen in Hinsicht auf empirische Daten am fruchtbarsten unter dem Konzept der »diversity« diskutiert werden können. Dies hat konzeptuell damit zu tun, dass dahinter eine entwickelte und vielfach ausdifferenzierte Begrifflichkeit der sozialen Ungleichheitsdebatte steht, wobei selbstverständlich Gruppen und nicht Individuen miteinander verglichen werden. Dieser Gedanke ist wichtig, weil damit ausgesagt wird, dass gesundheitliche Diversität nicht einfach das Ergebnis der Tatsache sein kann, dass jedes Individuum vom anderen verschieden ist. Aus einer methodologischen Perspektive bedeutet es weiter, dass durch Aggregierung geeigneter Daten individuelle Unterschiede neutralisiert werden können und dass man signifikante Unterschiede zwischen ganzen Populationen, aber auch zwischen Untergruppen in einer Population finden kann. Eine der Basisdifferenzen, die in der Forschung verwendet wird und die auch sozialpolitische Implikationen hat, ist gesundheitliche Diversität, die auf dem sozioökonomischen Status gründet (Andersson, Öberg ). Gleichzeitig muss allerdings bewusst sein, dass die Art und Reichweite empirischer Daten, um die es hier geht, das Ergebnis einer in den Industrieländern lange wirksamen Tradition der Sozialberichterstattung sind, ein Umstand, der für die weniger entwickelten Länder nur in geringem Maße geltend gemacht werden kann. Wir greifen ein Beispiel aus dieser Diskussion heraus, das auf empirischer Datenbasis sehr klare Unterscheidungsmerkmale abbildet. Öffentliche Sozialdaten aus Schweden (auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene) lassen es zu, sehr verschiedene Typen von gesundheitlicher Ungleichheit auf der Grundlage des sozioökonomischen Status zu analysieren (Folkshälsorapport , zit. Andersson, Öberg ). Ein solcher Typus zeigt die sozioökonomischen Differenzen der Mortalität, die über den gesamten Lebensverlauf 180

Das knappe Gut Gesundheit

hinweg bestehen bleiben, allerdings unter den Pensionierten weniger deutlich hervortreten als unter den Beschäftigten. Sowohl die durchschnittliche Lebensdauer als auch die Todesursachen differieren zwischen den Siedlungsgrößen nach sozioökonomischen Kriterien. Für die Morbidität zeigen dieselben Daten für Verheiratete, die in Schweden geboren wurden, dass bei den Männern unter ihnen, die gleichzeitig ins niedrigste Einkommensfünftel fallen, das Risiko, ernstlich zu erkranken, viermal so hoch ist wie unter den verheirateten Männern im höchsten Fünftel. Für Frauen aus derselben Gruppe gilt das dreifach höhere Risiko. Das Risiko einer ernsthaften Erkrankung ist nach denselben Daten am höchsten bei den - bis -Jährigen, die allein leben, im Ausland geboren wurden und ins unterste Einkommensfünftel fallen. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Erkrankung liegt in dieser Gruppe bei den Männern bei   und bei den Frauen bei   (alle Angaben nach : Andersson, Öberg ). Als eine noch zu testende Hypothese sehen wir folgende an : Diversivität in gesundheitlicher Hinsicht hat einen kritischen Punkt im Zeitverlauf ; es ist anzunehmen, dass die Zusammenhänge zwischen sozialer Klasse und Gesundheit/ Krankheit sich im Laufe der Zeit entfalten, doch gegenwärtig ist dieses Zeitfenster, in der sich die Zusammenhänge aktualisieren, nicht eindeutig festlegbar. Dafür müsste auch die »Geschichte« der sozialen Klassen und die Genese der Krankheit(en) zum Zeitpunkt der Messung bekannt sein, da Menschen auf diesem langen Weg die Klassenlagen auch gewechselt haben können.

Das globale Altern ist ein irreversibler Prozess, der in den einzelnen Weltregionen sehr verschiedenartige Effekte zeitigt. Von diesen Effekten zu sprechen setzt jedoch voraus, dass der Blick nicht nur auf die sich verändernde Altersstruktur gerichtet wird, sondern auch auf die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen. Mit Urteilen über konkrete Lagen ist insbesondere für die weniger entwickelten Länder vorsichtig umzugehen, weil häufig für methodisch gute Analysen die angemessenen Daten fehlen. Aus einer weltpolitischen Perspektive, der aus ethischen Gründen der Kampf gegen systematische Ungleichheit und Benachteiligung zugrunde liegt, stellt sich gegenwärtig wohl als wichtigste Aufgabe heraus, die am wenigsten entwickelten Länder der Erde in diesem Prozess zu unterstützen, weil sie die geringsten Mittel haben, um ihre Menschen und unter ihnen vor allem auch die Älteren aus der allgemeinen Notsituation herauszuführen.

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Kapitel 10

&RAGLICHEÖ!LTERSBILDERÖkÖGEF¦HRLICHEÖ 'ESELLSCHAFTSPERSPEKTIVEN

10.1 Vorbemerkung Die folgenden Überlegungen dienen dazu, eine Reihe von Gedanken noch einmal zuzuspitzen, die schon mehr oder weniger deutlich angeklungen sind und zum letzten Kapitel überleiten sollen. Zu den mittlerweile gängigen und in der Alterssoziologie bzw. Sozialgerontologie fest etablierten Vorstellungen gehört die Auffassung, dass Altern und Alter zentrale Elemente des modernen Strukturwandels der Gesellschaft darstellen. Zu dieser konzeptuellen Selbstverständlichkeit gehört auch die Forderung, dass Alter als zentrale theoretische Kategorie eingesetzt werden müsse. In welcher Weise nun das Alter aber als eine zentrale theoretische Kategorie, ebenso wie Arbeit, Geschlecht, Staat und Recht, in eine Sozialtheorie einzuführen wäre, deren erkenntnisleitende Perspektive auf die Produktion sozialer Differenzierung und Ungleichheit bzw. Risiken und Chancen, wie wir im ersten Kapitel gesagt haben – ihrerseits zentrale Dimensionen des Strukturwandels –, gerichtet ist, darüber gibt es weniger klare Vorstellungen. Dies ist auch weiter nicht verwunderlich, weil zu einer Lösung des Problems vier bedeutsame und schwierige Fragen beantwortet werden müssten. Es ginge darum, die Grundprinzipien zu formulieren, die . die Struktur der Gesellschaft prägen, . ihre Integration bzw. ihre Konflikte programmieren, . ihre objektive Entwicklung steuern, und . ihr Bild von sich selbst und der eigenen Zukunft bestimmen. Wir werden uns auf den vierten Aspekt konzentrieren und am Thema Altersbilder einige der anstehenden Bedingungen diskutieren. Dabei werden wir uns das Konzept der »Konstruktion sozialer Ordnungen« zunutze machen, das eine Verwandtschaft mit den Erzählungen aufweist, und zeigen, dass eine Reihe gegenwärtiger, sehr verbreiteter Konstruktionen langfristig keine probaten Lösungen versprechen, möglicherweise sogar gefährlich sind.

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Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

10.2 Die Idee der Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s Ob Konstruktionen nun subjektphilosophisch (Georg Simmel), wissenssoziologisch (Peter Berger, Thomas Luckmann), symbolisch-interaktionistisch (George H. Mead) oder auf nochmals andere Weise gefasst werden, immer ist ihnen ein Grundsätzliches gemeinsam : Diese Konstruktionen sind Ideen, die in bestimmte Semantiken gefasst als Ordnungsvorstellungen sich verbreiten, und durch Anerkennung sich zu sozialen Tatsachen sui generis verdichten, die dann von den Menschen als faktisch vorhanden angesehen werden. Konstruiert sind die Ideen der Menschen insofern, als sie einen kreativen Akt darstellen, in dem sie die Objekte, Einrichtungen und äußeren Erscheinungen (»Formen« bei Georg Simmel) schaffen. Familie, Geschlecht, Alter, Staat etc. sind gedanklich konstruiert. Diese Konstruktion geschieht aber nicht in isolierter Aktivität der Einzelnen, sondern in Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen. Die Handelnden definieren ihre Situation gemeinsam, wodurch die Definition Verbindlichkeit erhält. Bei den Kommunitaristen mündet das in die Vorstellung, dass die Familie der Kern der Gesellschaft sei. Die semantischen Felder sind ihrerseits an die institutionalisierten Konstruktionen gebunden. So kennen wir im Zusammenhang mit dem Alter Semantiken des Sozialstaats (»Ruhestand« oder »Rentnerdasein«), der Arbeitswelt (»unproduktives« Alter gegenüber »produktivem« Erwachsenenalter) oder der Konsumwelt (»Kaufkraft« der wohlhabenden Alten). Typisch für solche Konstruktionen ist ihre (meist nur grobe) Orientierungsfunktion, die der theoretischen und empirischen Ausdifferenzierung des Alters nicht gerecht werden kann. Aus einer solchen Lage wird die Suche nach ständig neuen Konstruktionen geboren. Dies gilt auch für die Wissenschaft. Die schon lange verbreitete normative Idee einer »neuen Kultur des Alter(n)s«, die es im Interesse der Älteren zu schaffen gelte, ist ein solcher Versuch. Ob sie als Strategie der Schaffung sozialer Ordnungen zielführend sind, ist hier nicht zu beurteilen. Auf zwei häufig vernachlässigte Aspekte muss aber eingegangen werden. Zum einen gefährden einseitige oder überpointierte Konstruktionen gerade jene Ordnungen, die sie schaffen wollen, zum anderen sind sie immer auch Ausdruck einer Krise. Diese zwei Aspekte werden den Bezugspunkt der weiteren Diskussion abgeben.

Konstruktionen sind, ob sie nun subjektphilosophisch, wissenssoziologisch, symbolischinteraktionistisch oder auf nochmals andere Weise gefasst werden, immer ein Grundsätzliches gemeinsam : Sie sind Ideen, die in bestimmte Semantiken gefasst als Ord-

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Die Idee der Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s

nungsvorstellungen sich verbreiten und durch Anerkennung sich zu sozialen Tatsachen sui generis verdichten, die dann von den Menschen als faktisch vorhanden angesehen werden. Konstruiert sind die Ideen der Menschen insofern, als sie einen kreativen Akt darstellen, in dem sie die Objekte, Einrichtungen und äußeren Erscheinungen (»Formen« bei Georg Simmel) schaffen. Familie, Geschlecht, Alter, Staat etc. sind gedanklich konstruiert.

10.2.1 Fragliche Altersbilder und Widersprüche34

Bilder vom Alter begleiten uns in unserem Alltag, auf der Straße, wenn wir Romane lesen und wenn wir die Medien nützen. Sie sind Ausdruck jener Haltungen und Vorstellungen, die gegenüber dem Alter zu einer bestimmten Zeit im Schwange sind, also Konstruktionen, wie sie eben genannt wurden, oder Teile der Erzählungen, die eine alternde Welt zum Gegenstand haben. In der Romantik, so um , lagen der Ohrensessel und der Schlafrock in der Luft. Solche Altersdistinktionen erhielten auch literarischen Ausdruck, so in dem bekannten, erzählenden Gedicht »Der . Geburtstag« von Johann H. Voß, der  starb. Um , da sich der Altersdiskurs in Deutschland bereits sehr verdichtet hatte, sagte der Bonner Pathologe Hugo Ribbert, der Greis »in seinem minderwertigen Zustande« sei Gegenstand der Pflege und der Behandlung von Krankheiten. In der Weimarer Republik wurde das Alter immer mehr als erwerbsferne Lebensphase gedeutet, die neu organisiert, gesichert und mit Sinn erfüllt werden musste. Untersuchungen zur Sozialgeschichte des Alters und zu den Diskursen, die in Zeitschriften, Büchern etc. niedergelegt wurden, bestätigen all diese Muster. In unserer Zeit herrschen negative und auch positive Konstruktionen vor, die Altersbilder sind höchst ambivalent. Sie sind voll von verqueren Ideen, waghalsigen Mutmaßungen und Neidhaltungen. Da wird die ewige Jugendlichkeit beschworen, an der Isolierung (und Eliminierung ?) des Altersgens gearbeitet und eine an der oberen Mittelschicht orientierte Lebensführung propagiert, die unterschwellig den Gedanken einer Alterselite speist. Dabei gilt es zu beachten : Altersbilder sind nicht nur Bilder von der Wirklichkeit, sie sind selbst Wirklichkeit. Sie beeinflussen unsere Wahrnehmungen, prägen mit Nachdruck unser Handeln und senken ihre vielfältigen Keime ins Altwerden jedes einzelnen Menschen selbst. Wer mit fünfzig Jahren glaubt, dass es zu spät sei, etwas Neues zu lernen, ist bereits einem typischen Altersbild aufgesessen, nämlich dem Vorurteil eines allgemeinen geistigen Verfalls. Wer die Alten nur für wohlhabende Nutznießer einer kurzen Phase in der Geschichte hält, wird ebenso von falschen Bildern ge185

Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

gängelt wie jemand, der die Alten als Pflegefälle und ausgebrannte Unnütze einschätzt. Altersbilder unterscheiden sich nach gesellschaftlichen Milieus und den sozialen Gruppen, in denen sie herrschen. Die Altersbilder in den Wissenschaften weichen ab von jenen in der Werbung, im Roman, in den Schulbüchern. Viele stehen in Konkurrenz zueinander, das Alter treffen sie nie zur Gänze und nie in all seinen vielfältigen Erscheinungen. Es ist ja auch eine Eigenart der Erzählungen, dass sie reduktionistisch arbeiten und Wichtiges aussparen. Wo sie an der Realität vorbeischießen oder diese bewusst einseitig ausdeuten, kippen sie in die Lüge ab, in die Ideologie, mit der andere Absichten verschleiert werden. Altersbilder setzen sich zusammen aus Stereotypen und Vorurteilen, aus Meinungen und Annahmen. Stereotype sind sowohl bei einzelnen Personen wie bei ganzen sozialen Gruppen ziemlich fest gefügt, sie bleiben über die Zeit hinweg stabil, wenn nicht gar starr. Das entspricht den Einsichten der Vorurteilsforschung und stellt auch bei den Altersbildern keinen Sonderfall dar. Altersstereotype haben oft weit hergeholte, häufig vom unmittelbaren Bezug zum Alter losgelöste Hintergründe. Sie speisen sich aus dem Unbedachten, das immer in der Mühelosigkeit des Gewohnten verharrt. Um ein Beispiel herauszugreifen, schauen wir dreißig Jahre zurück. Ende der Achtzigerjahre des . Jahrhunderts war die Berichterstattung in der bundesdeutschen Presse zum Thema Alter eine über Altenhilfe. Die Alten, denen Aufmerksamkeit gewidmet wurde, gehörten vornehmlich zur Klientel der Sozialhilfe : es waren die Betreuungs- und Pflegebedürftigen, die Armen, Kranken, Einsamen und von der Gesellschaft Verlassenen. Diese Berichte wurden jahrelang, auch in Österreich, von Werbeanzeigen ergänzt, vor allem in illustrierten Zeitschriften. Soweit sich diese an alte Menschen wandten, waren sie nahezu identisch mit Pharmawerbung. Symptome der Lustlosigkeit, der Abgespanntheit und Niedergeschlagenheit kennzeichneten die bildlichen und sprachlichen Darstellungen. Mit unpräzisen Verallgemeinerungen wurde der alte Mensch beschrieben. Er wurde dargestellt als ein von vielfältigem Verschleiß gekennzeichneter, durch mannigfache Defizite geprägter und unter vorzeitigen, oder in diesem Sinne rechtzeitigen, Altersbeschwerden leidender Greis. An diesem Altersbild hatten die Pharmaindustrie und die zahlreichen Verbände und Organisationen, die sich für das Wohl und die Betreuung vor allem hilfebedürftiger Menschen einsetzen, ihren erklecklichen Anteil. Nun zeigen sich, in kräftigem Gegenzug, seit einigen Jahren wieder scheinbar positive Bilder. Genussfähigkeit, ewige Jugendlichkeit und materieller Wohlstand werden hervorgehoben. Ganz gezielt werden in diesen Bildern die jungen, aktiven, geistig mobilen, kontaktreichen, kommunikativen, gesunden, körperlich fitten und sportlichen, mitunter sogar politisch aufmüpfigen, jedenfalls 186

Die Idee der Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s

aber sexy Alten beschrieben. Dieses »neue Alter«, eine Entdeckung der Wissenschaft, ist demnach durch Kreativität, Verhaltensreichtum, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, Freisein vom Bedarf an fremder Hilfe, soziales Eingebundensein, Interessenvielfalt und Freizeit- und Konsumorientierung gekennzeichnet. Zusammenfassend lässt sich hervorheben : Im . und . Jahrhundert dominierte eine melancholische Sicht, wobei dem höheren Alter aber keine besondere Beachtung geschenkt wurde. In einer Betrachtung des Lebens als Drama, die dominierende Sicht seit dem Beginn des . Jahrhunderts, in der alle Lebensphasen ihre eigene Inszenierung haben, hat sich zunehmend alle Tragik auf das hohe Alter verschoben. Ihren kräftigsten Ausdruck finden diese Vorstellungen seit fast einem halben Jahrhundert in den Konstruktionen der »Überalterung«, der »Altenlast« und der »Unproduktivität« des Alters. Mit ihnen ist Abwertung des Alters und Verdinglichung verbunden. Nicht weniger trifft dies aber auch für die Strahlebilder des Alters zu, in denen dieses nur noch vermarktet wird.

In unserer Zeit herrschen negative und auch positive Konstruktionen vor, die Altersbilder sind höchst ambivalent. Sie sind voll von verqueren Ideen, waghalsigen Mutmaßungen und Neidhaltungen. Altersbilder sind nicht nur Bilder von der Wirklichkeit, sie sind selbst Wirklichkeit. Sie beeinflussen unsere Wahrnehmungen, prägen mit Nachdruck unser Handeln und senken ihre vielfältigen Keime ins Altwerden jedes einzelnen Menschen selbst. Sie setzen sich zusammen aus Stereotypen und Vorurteilen, aus Meinungen und Annahmen. Stereotype sind sowohl bei einzelnen Personen wie bei ganzen sozialen Gruppen ziemlich fest gefügt, sie bleiben über die Zeit hinweg stabil, wenn nicht gar starr. Sie speisen sich aus dem Unbedachten, das immer in der Mühelosigkeit des Gewohnten verharrt.

10.2.2 Die Not mit der Last

Es ist das Gefangensein unseres Nachdenkens im stählernen Käfig der eindimensionalen Sichtweisen, das zu so verheerenden Vorstellungen führt wie der von der Last der Alten. So sehr hat sich diese Einäugigkeit bereits durchgesetzt, dass die Alten gar nicht mehr als Teil der Gesellschaft begriffen werden. Sie sind zu einer Sondergruppe stilisiert worden, für die geradezu krampfhaft versucht wird, einen Rest von Daseinsbegründung zu finden. Das schwierige Verhältnis zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit hat die Menschen in Europa seit der frühen Antike in Atem gehalten. Kern der Ge187

Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

rechtigkeitsvorstellungen war über Jahrhunderte eine religiös gestützte, kollektive Moral, die absichtsvolle Benachteiligung einzelner Gruppen zugunsten anderer ausschloss. Der Prozess der Säkularisierung und das Heraufkommen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation haben an diesem altehrwürdigen Konsens zu mindestens zwei fundamentalen Veränderungen geführt. Zum einen begann eine individualistische und damit höchst variable Moral, Oberhand über die kollektive zu gewinnen, zum anderen wurde das ökonomische Postulat des Nutzens selbst zu einer moralischen Prämisse. Wer aber ökonomisch nicht mehr nützlich ist, ist im Out – und schon gar nicht ehrwürdig. Wir leben in einem Zeitalter gefährlicher Täuschungen. »Der Terror der Ökonomie« (Viviane Forrester) durchzieht die gesamte Zivilisation mit der unbedingten Forderung nach messbarem Nutzen jedweder Lebenstätigkeit. Einer gigantischen Invasion gleich hat die Forderung nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit aller Entäußerungen der Menschen unser ganzes Weltbild kolonialisiert. Im Zentrum steht die Verwertung der Arbeitskraft um jeden Preis und also zu immer schlechteren Preisen. Wer nicht produziert, ist draußen. Der Trug beginnt dort, wo behauptet wird, die Durchsetzung dieser Forderung bewähre sich an jedem einzelnen Menschen und sie geschehe zum Wohle aller. Das totalitäre Nutzenprinzip hat eine auffällige Begleiterscheinung : Die gescheiterten Schmiede ihres eigenen Glücks sind so zahlreich, dass unsere modernsten Mittel versagen, sie zu zählen. Dass auch das Alter in modernen Gesellschaften unter dieses Diktat geraten ist, wird den Menschen täglich vor Augen geführt. Klagen über die Last des Alters gehören seit jeher zum geläufigen Inventar der Vorstellungen vom Leben. »Wenn der Leib von den mächtigen Schlägen des Alters gebrochen ist und die schwindende Kraft der Gelenke verrostet, erlahmt der Verstand und gehen Zunge und Geist aus den Fugen«, sagte schon der römische Dichter Lukrez (Titus Lucretius Carus). Seit der europäischen Frühzeit treibt diese Angst vor dem Verfall die Dichter und Philosophen um. Was sie aussprechen, ist eine Erfahrung, die allen bekannt ist, aus eigenem Erleben und Ansehen der anderen. Nicht von ungefähr lehrt die Psychologie, dass die Ängste vor dem Alter aus dem Anblick der Hinfälligkeit des Alters gespeist werden. Sie lehrt uns auch, dass der Mensch das hasst, wovor er sich fürchtet. Bei vielen steht hinter der Angst, älter zu werden, im unaufgedeckten Nebel des Unbewussten, die Erfahrung hinfällig gewordener Eltern. Immer aber waren die Klagen auf die Verrottung von Körper und Geist gerichtet, auf die Gebrechen. Es ist aber eine »Errungenschaft« der modernen Welt, die Altenlast als ein Kostenproblem für die Gemeinschaft erfunden zu haben – ein Kostenproblem, das alle betrifft, weil uns eingeredet wird, dass es alle zu tragen hätten. 188

Die Idee der Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s

In der großen Regierungserklärung Konrad Adenauers von , damals machten die über -Jährigen neun Prozent der deutschen Bevölkerung aus, sprach der Bundeskanzler von der »wachsenden Überalterung des deutschen Volkes« und drohte : »Wenn nicht durch konstante Zunahme der Geburten der Prozentsatz der im produktiven Leben stehenden Personen wächst, werden zunächst die Alten von der geringeren Sozialproduktion, die dann notwendigerweise eintreten wird, betroffen werden.« Den Alten wurden die negativen Konsequenzen verheißen, niemand anderem. ,  und  ging Helmut Kohl auf den Geburtenrückgang ein und hob seine »katastrophalen Folgen« und die »schwerwiegenden Belastungen« hervor. Mindestens ein halbes Jahrhundert sind diese Belastungsideen bereits im Schwange. Ob die Älteren nun ausdrücklich als Last bezeichnet werden oder ob das Gütesiegel der Pensionssicherung wider besseres Wissen beschworen wird, wie das z. B. in Österreich durch zwei Jahrzehnte bis ca.  der Fall war, läuft auf dasselbe hinaus. Sie werden als Bürde angesehen. Die Folge ist das hurtige und unentwegte Drehen an Rädern und Rädchen, um Kosten zu verringern und Ansprüche einzugrenzen. Diese Strategie wird von rhetorischen Floskeln begleitet, denen eine gewisse Überzeugungsmacht zugeschrieben wird : dass wir alle im gleichen Boot säßen, dass alle füreinander einstehen müssten und dass alle ihr Opfer zu bringen hätten. Nur, es sitzen nicht alle im gleichen Boot, es stehen nicht alle füreinander ein, und es bringen nicht alle Opfer – und schon gar nicht ein verhältnismäßiges. Jede prozentuelle Pensionsanpassung hat bisher jenen Vorteile gebracht, die ohnehin schon mehr hatten, jede Beitragserhöhung zur Krankenversicherung trifft jene härter, die wenig haben. Dabei ist den Verantwortlichen böse Absicht gar nicht zu unterstellen, wohl aber Kurzsichtigkeit. Die Logik, die all die Verrücktheiten gebiert, die angeblich im System stecken, sind schließlich einmal von den im Parlament vertretenen Parteien beschlossen worden. Von lebenden, aktiven Menschen, die politische Verantwortung tragen und die sich auch über die Folgen ihrer Entscheidungen Rechenschaft zu geben haben. In Fragen des Pensionssystems, zumal in den öffentlichen Vorfelddiskussionen, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass so manche Überlegung bei arbeitendem Verstande und schlafender Vernunft zustande kommt. Während in der öffentlichen Diskussion in Österreich die Pensionsversicherung als ein im Krankenbett vom Fieber gebeutelter Patient dargestellt wurde, der einzig durch rigorose Angleichung der verschiedenen Pensionssysteme (»Harmonisierung«) und Sparen zu retten sei, gingen im Spätherbst  in Österreich Tausende von beamteten Menschen freiwillig frühzeitig in Pension. Das »Bundessozialplangesetz« lief am . Dezember  aus, die letzte 189

Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

Möglichkeit für Beamte, mit  Jahren in Pension zu gehen. In der Lehrerschaft waren es ca. , in der Exekutive ca. , die ausschieden. Die Frage, wie die Arbeitsbedingungen ausgesehen haben, dass Menschen bereit waren, mit Abschlägen bis zu   ihrer erwartbaren Normalpension früher zu gehen, wurde allerdings nirgends gestellt. Dass diese Entwicklung zu einer Absenkung der Qualität im Schulwesen führen werde, wurde einzig von der Lehrerschaft bemerkt. Die Verlogenheit der Lastendiskussion zeigte sich am deutlichsten darin, dass diesem Massenexodus in die vorzeitige Pensionierung von politischer Seite auf der Stelle ein positives Lichtlein abgewonnen werden konnte : Es könnten nun wenigstens junge Lehrpersonen eingestellt werden, hieß es, für die bisher kein Platz frei war. Doch selbst diese Meldung war schon nach fünf Tagen nicht mehr wahr. Die Planstellen jener Frühflüchter, die zwischen  und  Jahre alt waren, wurden nicht mehr nachbesetzt. Dass auch die »harten« Zusagen in diesem Bereich nichts wert sind, zeigte im Dezember  in Deutschland der fiskalische Zugriff auf die Betriebspensionen. Das Vorherrschen ökonomischen Denkens im politischen Feld und die Dauerdiskussion über Beschäftigung weisen auf die zentrale Macht des wirtschaftlichen Faktors. Seine Bedeutung ist nicht zu bestreiten. Deshalb kommt auch die Diskussion über das Alter nicht um ihn herum. Die Unterwerfung der gesamten Vorstellungswelt für eine sinnvolle Gestaltung der Gesellschaft unter dieses Diktat bedeutet aber weit mehr, als diesem Faktor Rechnung zu tragen. Sie läuft darauf hinaus, die Möglichkeiten vielfältiger und fantasievoller Kreationen in eine Einbahnstraße zu zwängen. Was verloren geht, ist die Gewissheit, dass zum Leben mehr gehört. Das ist eine wahrscheinlich gefährliche Gesellschaftsperspektive.

10.3 Perspektivenkrise ? Von einer Krise schlagen wir dann zu sprechen vor, wenn die für ein Problem und dessen Lösung traditionell eingesetzten Mittel nicht mehr ausreichen oder versagen. Dieser Gedanke betrifft das, was in der Soziologie Sozial- und Systemintegration genannt wird. Es ist klar, dass die beiden Begriffe aus verschiedenen Theorietraditionen stammen. Im ersten Fall steht im Hintergrund das Gesellschaftssystem als »Lebenswelt«, die symbolisch strukturiert ist und ihre Subjekte über Handeln und Sprechen vergesellschaftet ; im zweiten Fall steht im Hintergrund das Gesellschaftssystem als Inbegriff aller spezifischen Steuerungsleistungen, die ein selbst geregeltes System erbringt. 190

Perspektivenkrise ?

Uns scheint es nun, abgesehen von aller Materialität der gegebenen Verhältnisse, äußerst interessant, dass in den gängigen Perspektiven, die in Zusammenhang mit den Alterskonstruktionen stehen, in diesen Perspektiven selbst die Vorstellung einer Krise zum Ausdruck kommt. Auch diese Krisenvorstellungen sind wiederum soziale Konstruktionen, von Tausenden in Politik, Medien und Wissenschaft am Leben gehalten und ausdifferenziert. Zu den gängigsten zählen das »Ende des Sozialstaats«, der »Generationenkonflikt« u. Ä. In den weiteren Überlegungen zur Perspektivenkrise gehen wir auf den sogenannten Generationenkonflikt ein. Wir beginnen mit einem wörtlichen Zitat aus einer wissenschaftlichen Expertise aus der Bertelsmannstiftung in Deutschland : »Die Sozialversicherungen basieren auf dem Solidaritätsbegriff, der sich als das Verhältnis zwischen aktiven Beitragszahlern auf der einen und den Rentner (sic !), Kranken, Pflegebedürftigen und Arbeitslosen auf der anderen Seite manifestiert. Diese Art der Solidarität setzt allerdings implizit einen Generationenvertrag voraus. Dieser Generationenvertrag droht von einem Teil der Bevölkerung gekündigt zu werden. Damit ist implizit eine Gefährdung der finanziellen Basis der bisherigen sozialen Versicherungssysteme verbunden. Die Verantwortung für die Folgen des Bevölkerungsrückgangs muss damit in ihrer Kostenwirkung auf die Sicherungssysteme tendenziell auch den Verursachern zugeschrieben werden.«

Auch das ist ein Ausfluss der marktfundamentalistischen Erzählung. Der zugrunde gelegte Begriff von Solidarität ist technokratisch, der Generationenvertrag ist kein »Vertrag«, welcher Teil der Bevölkerung ihn kündigen will, ist unbekannt, und jene, die keine Kinder in die Welt setzen, sollen zur Kasse gebeten werden. Als Unruheherd wird das Verhältnis zwischen Eltern und Kinderlosen stilisiert, zwischen Ernährern und Egoisten, ohne Überlegung, welche vielleicht bedeutsameren Kräfte im Verteilungskampf im Hintergrund eine Rolle spielen werden. Platter geht es nicht mehr angesichts dessen, was gewusst werden könnte. Zu den selbstverständlichen Forderungen gehört die parallele Betrachtung von innerfamiliärer oder privater und allgemeiner oder fremder Solidarität. Das ganze Geraune um einen Generationenkrieg bei gleichzeitigem Beschwören des familiären Zusammenhalts zwischen den Generationen zeigt es deutlich : Die heute emotional mobilisierbare Solidarität reicht nicht aus, den Solidaritätsbedarf komplexer Gesellschaften zu decken. Von anerkannten Modellen einer gesamtgesellschaftlichen Solidarität, in anderen Worten : Sozial- und Systemintegration, sind wir in dieser Diskussion aber auch weit entfernt. Selbst in sich nüchtern gebenden Programmpapieren mit hoher Ambition, wie dem oben erwähnten, lassen 191

Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

sich offensichtlich Faktenurteile, theoretische Durchdringung und moralisches Räsonieren nicht auseinanderhalten. Gesellschaften sind auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, zur Sicherung ihres eigenen Fortbestands auch die Frage des Älterwerdens in ihnen zu lösen. Die Lösungen haben nie nur eine materielle Seite gehabt, sondern immer auch eine soziale, politische und kulturelle, zu der auch die praktisch-ethische zählt. »Generationenvertrag« ist ein Reizwort ohne Tiefgang. Zur Meisterschaft des Täuschens zählt, anderen brennenden Problemen aus dem Weg zu gehen. Was Rita Süssmuth, Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit,  noch mit Überzeugung vortragen konnte : »Wenn von einem neuen Generationenvertrag die Rede ist, dann stellt sich mir zunächst die Frage, worin das Neue eigentlich besteht«, haben die letzten Jahre Generationenvertragsdebatte endgültig verschüttet. Aus der Lawine an einseitigem Informationsschutt und gedanklichen Verkürzungen ragen die Fragen, die aufs Ganze der Solidarität gehen, allenfalls als verkümmerte Stümpfe hervor. Betrachten wir einmal die Idee der Verhältnisse zwischen den Generationen etwas genauer. Vielen Beiträgen, die zu diesem Thema bekannt geworden sind, lässt sich die Intention sicher nicht absprechen, auf ein Problem hinweisen zu wollen, das in unseren alternden Gesellschaften immer brennender wird : die erhebliche Veränderung in der Verteilung materieller Ressourcen und die Veränderung in der Wahrnehmung und Bewertung der Interessenlagen gesellschaftlicher Großgruppen. Damit ist dann allerdings die intellektuelle Redlichkeit oft auch schon erschöpft. Insbesondere gilt dies für Berichte in den Prestigemedien, die seit den Achtzigerjahren in immer neuen Anläufen den Krieg der Generationen beschworen haben, wobei sinnigerweise meist nicht Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse das Kernthema waren, sondern Fragen nach dem angeblichen Ende des Sozialstaats. Das Ärgernis, das damit meist verbunden ist, liegt tiefer. Die Rede von den »lüsternen Greisen«, vom staatlich verwalteten »Versorgungsterror«, von der »Eskalation des Generationenkonflikts mit aggressiven Entladungen« birgt keinen Erkenntniswert. Dafür aber weckt sie Neid und falsche Orientierungen. Das eigentliche Problem liegt darin, dass viele Vermutungen über einen schon schwelenden oder doch in naher Zukunft dräuenden Generationenkonflikt nicht selten auf falschen Generalisierungen, unsauberen empirischen Analysen oder sogar auf nicht durchschauten gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen aufbauen. Ein wichtiges Element für einen solchen Konflikt wären z. B. über die Zeit stabile, fundamental unterschiedliche Werthaltungen und Realitätsauffassungen zwischen den jeweils Jungen und den Alten. Selbst die lassen sich empi192

Generationenvertrag und Verteilungskampf

risch nicht eindeutig nachweisen. Will man ergründen, was Konflikt heißt und wo seine möglichen Quellen liegen, so müssen die Dinge auf den Begriff gebracht werden. Wir versuchen das in der Verknüpfung von Generationenvertrag und Verteilungskampf.

10.4 Generationenvertrag und Verteilungskampf Zunächst einmal haben wir im staatlichen Generationenvertrag eine Art von fiktivem Vertrag vor uns, den der Staat zwischen der Generation knüpft, die im Erwerbsleben steht, und jener, die aus diesem bereits entlassen wurde. So einleuchtend diese Metapher vom Vertrag auch sein mag, sie zeigt zugleich, was brüchig ist an diesem Gedanken eines Vertrags zwischen den Generationen. Keiner der beiden Partner hat (als Rechtssubjekt), wie es das Bürgerliche Recht fordert, dem anderen etwas versprochen und jener es gültig angenommen – wodurch ein Vertrag ja erst zustande käme. Die beiden Vertragspartner wurden sozusagen anonym aneinandergekettet, und was sie zu leisten haben, wird im Wege der legitimen Zwangsgewalt des Staates nach Inhalt und Ausmaß festgelegt und vollzogen. Vertragsinhalt ist die Zuweisung eines bestimmten Anteils vom Arbeitseinkommen der Erwerbstätigen an die »ältere Generation«, der dort die Funktion des »Einkommensersatzes« hat. Eine Aufkündigung dieses Generationenvertrags kann also von keiner Gruppe der Bevölkerung willkürlich vorgenommen werden, sondern nur durch den Staat/das Parlament selbst. Es ist nun sicher von Bedeutung, dass bisher noch von keinem Parlament in Europa bekannt wurde, dass es auch nur andeutungsweise die Möglichkeit der Aufhebung dieses Generationenvertrags ernsthaft erwogen hat. Es ist auch nicht weiter verwunderlich, weil dies dem zumindest partiellen Aufgeben einer Reihe wichtiger Funktionen des Staates, möglicherweise seiner Selbstaufgabe als Sozialstaat, gleichkäme. Genau jene Logik, nach welcher der Staat hier umverteilt, ist aber der Punkt, den es zu betrachten gilt, denn exakt hier setzt die Idee des Konflikts an. Primär ist es ein Verteilungskonflikt. Eines der größten Probleme besteht nun tatsächlich in den Industriestaaten darin, dass um die Stücke des gesamten Kuchens mehr und mehr Streit entsteht. Aber das ist nicht ausschließlich und primär ein Generationenkonflikt, sondern ein dauernder Konflikt zwischen sehr unterschiedlich starken Interessengruppen. Es ist ein sozialer Verteilungskampf, bei dem die Verlierer und die Gewinner immer deutlicher sichtbar werden. Die beteiligten Gruppen, benachteiligte und privilegierte, sind relativ gut bekannt. Es sind alte und junge Frauen, alte und junge Behinderte, alte und junge Ausländer, 193

Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

alte und junge Arbeitslose, alte Mindestrentner und alte »Pensionskaiser«, junge Sozialhilfeempfänger und junge Höchstverdiener und schließlich junge und alte Kapital- und Einkommensmillionäre. In all diesen Bruchlinien steht der Verteilungskampf zwischen konkreten Interessengruppen im Vordergrund, der Generationenkonflikt ist am abstraktesten Punkt festgemacht : an der Frage, wer den ganzen Kuchen bäckt und wer wie viel davon erhält. Bei diesem Gedanken ist eine Teilung in Jung und Alt einfach nur stupid. Gerade in dieser unscharfen Generalperspektive liegt ja alles begraben, was an Missverständnissen nur denkbar ist. Im »Spiegel Jahrbuch« von  war zu lesen, dass die Verteilungskämpfe der Zukunft um Altenheimplätze und Renten ausgetragen würden. Das ist eine mutwillige Verkürzung komplizierterer Sachverhalte. Mit Zahlen belegbar und aus politischer Anschauung genährt kann ebenso vorausgesagt werden, dass diese Verteilungskämpfe zwischen Rüstung, Wirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Eliten mit sehr unterschiedlichen Interessen ausgetragen werden. Hier ist von den durch geplante oder faktische Privatisierung knapper und teurer werdenden Gütern wie Wasser, Energie, Bildung und Gesundheit noch gar nicht die Rede. Es wird zwar immer schwieriger, in den Pensionsversicherungssystemen aus den laufenden Einnahmen die laufenden Ausgaben zu finanzieren. Die Gründe dafür sind aber vielfältig. Was jedoch als unverrückbar gilt, ist die Tatsache, dass die Kostensteigerung unter keinen Umständen allein auf die zahlenmäßige Zunahme der älteren Bevölkerung zurückgeht bzw. auf immer weniger Aktive und immer mehr Inaktive, was oft kurzschlüssig behauptet wird. Es ist das Zusammenspiel zwischen demografischen Veränderungen, Funktionsproblemen des Arbeitsmarktes, diskontinuierlicher Wirtschaftsentwicklung, Eigendynamik des Gesundheitssystems und steigendem Lebensstandard etc., das die bekannten Probleme hervorbringt. Wer um die methodischen und theoretischen Probleme weiß, solche Zusammenhänge zu »messen« und zu interpretieren, spricht mit Vorsicht von einer Krise des Pensionssystems allein ; die anderen plaudern. Zentrale Probleme einer alternden Gesellschaft vorrangig über die Geldströme der Pensionssicherung abzuhandeln ist nichts anderes als der Versuch, den Sinn und Zweck eines Hauses mithilfe seiner Zentralheizung beschreiben zu wollen. Nach Meinung vieler, die sich eingehend mit diesen Fragen beschäftigt haben, ist also nicht das schiere Verhältnis zwischen »Aktiven« und »Inaktiven« das strukturelle Problem. Es ist, im Falle des Umlageverfahrens, das Festhalten an der alleinigen Beitragsaufbringung durch Besteuerung der Arbeit, während gleichzeitig die Gesellschaft immer weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stellen kann. Nicht an der »Altenrepublik« ist eine mögliche Konfliktlinie festzumachen, 194

Generationenvertrag und Verteilungskampf

sondern an der immer weniger funktionierenden Koppelung zwischen Beschäftigungssystem, Sicherungssystem und Besteuerungssystem. Dabei gibt es politische Sensibilitäten, die dem Denken im Wege stehen. Jede Wette wäre zu halten, dass Heulen, Zähneknirschen und Abwehrschlachten begännen, ehe überhaupt das Nachdenken einsetzte, trüge jemand öffentlich und mit Nachdruck folgende Forderungen vor : Zur ergänzenden Finanzierung von Pensions- und Pflegekosten sind Spekulationsgewinne und Großvermögen zweckgebunden zu besteuern ; aus den Lottoeinnahmen ist ein prozentueller Anteil in die Pflegefinanzierung abzuführen ; im Parlament vertretene Parteien, die Gesetze beschließen, die sich als impraktikabel herausstellen oder deren Exekution mehr kostet als sie einbringen, haben eine Konventionalstrafe in die Sozialhilfekassen zu zahlen ; Versicherungen und Banken, die fondsbasierte Vorsorgeversicherungen anbieten, haben bei Wertverfall durch Aktienabstürze die volle Ausfallhaftung zu übernehmen ; bei jeder aus parteipolitischen Überlegungen vorgezogenen Wahl haben die betreibenden Parteien einen Solidaritätsbeitrag für Senioreneinrichtungen abzuführen. Die Liste könnte leicht fortgesetzt werden, aber die »Moral« sollte hier schon klar sein. Für die Finanzierung des Pensionssystems am Prinzip der ausschließlichen Besteuerung des Verkaufs der Arbeitskraft in Gesellschaften festzuhalten, die den Millionen, die arbeiten wollen, Arbeit nicht anbieten können, ist überholt. Es gibt einen circulus vitiosus in diesem Sprachspiel, dem offenbar nicht zu entkommen ist, und der zur Stabilität gesellschaftspolitischer Halbbildung ungemein beiträgt. Vor ca. dreißig Jahren ging in manchen europäischen Ländern die Tendenz, Menschen durch frühe Pfade aus dem Erwerbsleben zu führen, um die angespannten Arbeitsmärkte zu entlasten, ihrem Höhepunkt entgegen. Nur wenige Jahre später wurde erkannt, dass dies für die Pensionsversicherungen ein Fass ohne Boden werden könnte. Sofort stürzten sich die Medien auf das Thema, die Frühausscheider wurden zu Sündenböcken gestempelt, für schuldig befunden, die Ursache für die außergewöhnlichen Belastungen der Pensionssysteme zu sein, von Gier getrieben zu werden und damit die Zukunft der nachfolgenden Generationen zu beschneiden. Heute, dreißig Jahre später, sind es dieselben Argumente,³⁵ der einzige Unterschied besteht darin, dass nun aktuellere Daten eingesetzt werden, die Argumente sind immer noch willkürlich zusammengetragen, die Greisenschelte ist ein Kernstück, praktizierbare Alternativen werden nicht angeboten, und die Interessenvertretungen der Älteren werden für dieselben Lobbying-Versuche moralisch verurteilt, die von allen anderen Lobbyisten in diesem Land auch unternommen werden. Es scheint, als wäre es unmöglich gewesen, in den dreißig Jahren, die vergangen sind, etwas dazuzulernen, und aus diesem Teufelskreis 195

Fragliche Altersbilder – gefährliche Gesellschaftsperspektiven

auszubrechen, der aus selektiver Beweisführung, salopper Vermischung von Sachund Werturteilen und dem Verschweigen von Fakten besteht, welche die eigene Argumentation widerlegen könnten. Solche Beiträge können natürlich mit viel positiver Resonanz rechnen, weil Neidhaltungen, Vorurteile und Ängste geschürt werden, die bei den Menschen ja vorhanden sind, die so etwas lesen. Und wir alle können sicher sein, dass dieselben Popanze auch in der Bevölkerung sich in den Köpfen festgesetzt haben. Einer der ärgerlichsten besteht in dieser ganzen NichtDiskussion einfach darin, dauernd die Weiterarbeit der Älteren zu fordern, gegen jene, die früher in Pension oder Rente gehen, massive Vorwürfe zu erheben, ohne auch nur den leisesten Hinweis zu geben, wie eine umfassende und einigermaßen gut bezahlte Beschäftigung für diese Weiterarbeit möglich wäre. Da aber bisher in keinem der Industrieländer für dieses Problem eine befriedigende Lösung gefunden werden konnte, kann sich die Kritik dieser Aufgabe entschlagen und so tun, als wäre allein mit der Forderung die Sache schon abgetan.

Wir haben von einer Perspektivenkrise gesprochen, an der wir einige Facetten beleuchtet haben. Der Kerngedanke, dass die traditionellen Mittel der Problembewältigung nicht mehr ausreichen, spiegelt sich im Diskurs deutlicher als in den faktischen Verhältnissen. So ist auch zu verstehen, dass diese Konstruktionen kein probates Mittel für Lösungen bieten, weil sie zentral negativ entworfen werden. Sie zerstören letztlich selbst die Ordnung mit, an der sie zu arbeiten trachten.

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Kapitel 11

3OZIALPRODUKTÖDESÖ!LTERSÖkÖ -ODULEÖFRÖEINEÖ4HEORIE

11.1 Vorklärungen Unter Theorie wollen wir hier eine Gruppe von sechs Modulen verstehen, die in ihren wechselseitigen Zusammenhängen systematisch dargestellt werden. Die Module bestehen aus knapp vierzig Leitbegriffen³⁶ und ihren inhaltlichen Bestimmungen, die zur Gänze in den vorangegangenen Kapiteln bereits erläutert wurden. Zusammenhänge werden als komplexe Hypothesen verstanden. Dabei wird auf empirisch unterstützendes Material weitgehend verzichtet, da dieses ebenfalls in den einzelnen Kapiteln zum Teil zusammengetragen wurde. Es ist selbstverständlich, dass die Gesamtheit dieser Belege nicht ausgewiesen werden kann, da dafür ein einziges Buch nie ausreichen könnte. Mit Ausnahme jener Überlegungen, die aus einem philosophisch-ethischen Hintergrund stammen, sind die Hypothesen empirischer Prüfung zugänglich oder schon auf diese Weise geprüft worden. Operationalisierungen und empirische Ergebnisse sind in der einschlägigen Literatur dokumentiert. Die Leitvorstellungen sind ideologiekritischer und methodischer Art. In kürzester Fassung lauten sie : Die Ideologiekritik richtet sich gegen das weitverbreitete und allzu gern wiederholte Argument von der mangelnden Produktivität der Älteren und den damit verbundenen Schluss, dass sie vor allem eine Kostenlast oder Bürde darstellen. Das methodische Argument wendet sich gegen eine ökonomistisch verkürzte Weltsicht, die sich offenbar vorgenommen hat, gesellschaftliche Phänomene des Alterns zu erklären, für die sie nicht zuständig ist. Selbstverständlich verneinen wir nicht die zentrale Bedeutung der Wirtschaft für die Gesellschaft, doch wir erkennen nicht an, dass Menschen, deren Leistungen mit herkömmlichen und verengten Produktivitätsbegriffen nicht erfasst werden (können), das Schandmal mangelnder Produktivität aufgebrannt wird.

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Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

11.2 Allgemeiner Bezugsrahmen – Modul 1 Reproduktion – Transformation – Integration

Menschen in die Gesellschaft integrieren zu können gehört zur Grundverfassung menschlicher Daseinsform. Gesellschaftliche Prozesse können nicht realisiert werden ohne die Teilhabe aller Individuen in jenen Handlungsbezügen, in denen sie sich jeweils befinden. Gesellschaft besteht aus äußerst komplexen Zusammenhängen zwischen verschiedenen Realitätsbereichen (Wirtschaft, Politik, Kultur etc.), die wegen ihrer höchst unterschiedlichen Sinngehalte nicht einfach ineinander überführbar sind, die aber trotzdem, gerade wegen des Wandels, dem sie ständig unterworfen sind, der Tradierung, der identischen Reproduktion und zugleich der Transformation bedürfen. Dieser Gedanke soll ausdrücken, dass einerseits zugleich der Strukturcharakter einer Gesellschaft und das kollektive sowie individuelle Handeln der Mitglieder im Kontext ihrer kulturellen Traditionen und ihrer wirtschaftlichen Produktion in dieser Gesellschaft erfasst werden müssen, und andererseits zugleich die »Statik« der Strukturen (ihre identische Reproduktion) und ihre »Dynamik« (meist in Konflikten durchgesetzte Transformationen). Dass Menschen sich verständigen können und in sozialen Beziehungen miteinander handeln, ist eine Frage der Sozialorganisation, dass die Gesellschaft weiter existieren kann und individuell gemachte Erfahrungen tradiert werden können, hat mit Systemorganisation zu tun. Eine zureichende Integration aller Menschen ist in der Marktgesellschaft nicht möglich und sie war es nie. Also ist umfassende Integration über den Markt auch nicht denkbar. Daher ist ein anderer Gedanke in einer ersten Annäherung von Bedeutung : Alle sind mit dem, was sie haben, tun und können, aufeinander verwiesen, und der Nutzen jedweder Tätigkeit ist auf jeden Menschen selbst und zugleich in seinen Folgen auf die anderen gerichtet. Damit wird die Vorstellung verbunden, dass es eine gesellschaftlich relevante Nutzenstiftung gibt, die jenseits dessen liegt, was Modelle der Ökonomie fassen können. Damit ist ein Gedanke der Totalität verbunden, der nicht spekulativ ist, sondern als Faktum anerkannt werden muss. Wir wenden uns damit von der alten Vorstellung ab, dass »irgendwie alles mit allem zusammenhängt« und in einer einzigen Gesellschaftstheorie eingefangen werden könne, sondern setzen dem die Auffassung entgegen, dass auch die komplexesten Zusammenhänge in Einzeltheorien erklärt werden können, und zwar auf der Grundlage methodisch geleiteter empirischer Erfahrung.

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Gesamtnutzen und Lebensqualität – Modul 2

11.3 Gesamtnutzen und Lebensqualität – Modul 2 Nutzenstiftung – Lebensqualität als Messgröße

Der Gesamtnutzen, der von Menschen zugunsten ihrer selbst und der Gesellschaft durch jedwede Art der Tätigkeit gestiftet wird, kann also allein nach der Logik des ökonomischen Systems (traditionelle Produktivitätsvorstellungen) nicht erfasst werden. Er hat materielle, soziale, kulturelle, psychisch-geistige und emotionale Qualitäten. Er kommt in formellen, institutionalisierten und in informellen Bereichen zustande. Für die formellen Bereiche bestehen etablierte Medien, über die fast alle Prozesse gesteuert werden wie : Geld (Wirtschaft), Macht (Politik) und Solidarität/Integration (Kultur). Ein universales Medium zur Steuerung informeller Bereiche existiert in ähnlicher Form nicht. Eine übergeordnete Messgröße, unter der alle Beiträge aus allen Bereichen, formellen wie informellen, zusammengefasst werden können, ist die Lebensqualität. Sie ist die Gesamtheit aller Lebensbedingungen in ihren objektiven und subjektiven Bezügen. (Welche Beiträge Ökonomie, Politik, Kultur und der informelle Bereich zur allgemeinen Lebensqualität leisten, wird damit zur allgemeinen und zentralen Forschungsfrage.) Lebensqualität hat eine politische und eine systematische Seite insofern, als die erste eine Frage des politischen Gestaltungswillens, die zweite eine Frage der methodisch-wissenschaftlichen Erfassung ist. Die politische Seite ist auf die Beachtung konsensuell formulierter Ziele, die wissenschaftliche auf die Entwicklung eines Konzepts und geeigneter Methoden zur empirischen Erfassung angewiesen. Der allgemeine Bezugspunkt aller Überlegungen, zentral für das Konzept der Lebensqualität, wie es hier eingesetzt wird, ist die Frage, wie, auch unter sehr spezifischen und besonderen Bedingungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter etc.), Menschen in einer Weise unterstützt werden können, um ein so weit wie möglich selbstständiges Leben zu führen und frei von außen induzierten Zwängen und Beschränkungen sowie frei von systematischen Benachteiligungen und Gewalt zu sein. Weder können solche Bedingungen vom ökonomischen System allein generiert werden, noch können dessen Defizite ohne das politische System aufgefangen werden. Das ist, aus den Perspektiven der Politik und der Kultur, ein Problem des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit. Das Konzept Lebensqualität ist als Gegenstrategie zu einer Handlungslogik zu verstehen, die ausschließlich auf die Vermehrung von Waren und Geldkapital gerichtet ist, ohne nach den negativen Folgen dieser Akkumulation im ökologischen, sozialen und kulturellen Zusammenhang zu fragen. Während Lebensstandard eine Größe ist, die vornehmlich materiell und damit in nur objektiven und 199

Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

quantifizierenden Vorstellungen arbeitet, ist Lebensqualität sowohl ein objektives als auch subjektives Konzept, in dem die Menschen ihre Bedürfnisse und Zufriedenheiten wie Unzufriedenheiten zum Ausdruck bringen können.

11.4 Potenziale und Ressourcen – Modul 3 Potenziale, Ressourcen und Produktivitätsformen

Hier ist der Bezugspunkt der Beitrag aller Menschen zur Gestaltung und Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben und Entwicklungen. Aufgabenerfüllung ist mit Teilhabe gekoppelt, anders ist der Begriff des Beitrags unvollständig. Potenziale sind aktualisierte und latente Möglichkeiten. Sie finden sich aufseiten der Individuen und aufseiten der Gesellschaft. Es wird daher zwischen Individualpotenzialen und Strukturpotenzialen unterschieden. Potenziale sind Ressourcen ähnlich. Letztere sind Gegebenheiten und Voraussetzungen, die von den Individuen entweder genützt oder nicht genützt werden. Für ungenutzte Potenziale oder Ressourcen gilt, dass jemand über sie verfügt, aber aufgrund der Rahmenbedingungen nicht nutzen kann ; sie einsetzt (realisiert), diese aber gesellschaftlich nicht anerkannt werden ; viele vorhanden sind, aber gesellschaftlich nicht genutzt werden, und diese vorhanden sind, aber die Menschen zu ihrer Aktualisierung nicht motiviert werden können (wobei dies ein Sonderfall des ersten Umstands ist). Da der Nutzen einer Tätigkeit auf den Menschen selbst oder auf andere oder nach beiden Seiten gleichzeitig gerichtet sein kann, wird zwischen Autoproduktivität und Heteroproduktivität unterschieden. Autoproduktivität ist ein Begriff, der die Effekte von Tätigkeiten auf die tätige Person selbst lenkt. Diese Perspektive steht vorerst einmal konträr zu der Sichtweise, dass Tätigkeiten etwas hervorbringen müssen, das zu Marktpreisen mit anderen getauscht werden kann. Sie ist eine Nutzenstiftung, die geistig, psychisch und physisch ihren Niederschlag in der Person finden kann und soll. Und nur als indirekte sind die Wirkungen für andere zu bestimmen. Bessere Gesundheit, höhere Kompetenzen, erweiterte Ressourcen, das alles kann zugunsten der anderen wirken, der primäre Bezugspunkt aber bleibt das tätige Subjekt. Hierher gehören selbstverständlich auch hedonistische und Erfüllungsmotive. Heteroproduktivität ist der Nutzenstiftung nach auf andere gerichtet (gebiert in vielen Fällen aber auch positive Wirkungen für die Aktiven selbst). Sie wird von den Älteren fast überwiegend in Bereichen erzielt, die nicht nach der Logik von Erwerbsarbeit definiert sind. Gerade darin liegt ihre ungeheure Bedeutung für die Gesellschaft, ohne die sie in der gegebenen Form nicht funktionsfähig wäre. 200

Kompetenz und Erfahrung – Modul 4

11.5 Kompetenz und Erfahrung – Modul 4 Kompetenz, Selbstaufmerksamkeit, Regulierung und Wissen

Kompetenzen sind jene Fähigkeiten, die zu einer an wechselnde Bedingungen anpassbaren Lebensweise führen, sie werden besonders bei sogenannten kritischen Lebensereignissen gefordert. Auch diese Anpassungen werden in der Psychologie als Aufgaben angesehen, die gelöst werden müssen. Dies gilt vor allem für schwierige Lebensereignisse wie Partnerverlust, Krankheit etc. In einem tieferen Sinn gilt dies generell für die Entwicklung im Alter. Entgegen der veralteten, aus der psychoanalytischen Theorie stammenden Vorstellung, dass die wesentlichen Entwicklungen im Kindes- und Jugendalter vor sich gingen, während das Alter gewissermaßen ein starres Schema biete, wird heute von der Plastizität, also der vielfältigen Formbarkeit des Alters, mit Nachdruck gesprochen. Sicherlich gehören zu den wichtigen Umständen folgende : Soziale Beziehungen, in denen soziale Anerkennung erfahren wird, selbstgewählte Lebensführung, Vermeiden von Rückzug und unbalanciertem Austausch. Selbst-Aufmerksamkeit bedeutet, ein Augenmerk auf den eigenen Lebenslauf zu haben und beiläufige, nicht zielgerichtete Entwicklungen zu vermeiden – hier ist die Verbindung zum Konzept der Lebensführung herzustellen. Besonders angesichts eines langen Lebens wird ein »Dahinleben« unsinnig. Die richtige Einschätzung eigener Fähigkeiten und Eigenschaften hat dabei einen entscheidenden Einfluss. Nachdenken über die eigenen Ziele und Wünsche, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen ist hier wichtig. »Erfolgreiches« Altern steht in engem Zusammenhang mit gedanklich vorweggenommenen Plänen und Aktivitäten. Diese Antizipation ist eine wichtige Voraussetzung. Das Alter, und vor allem das hohe Alter, ist auch eine Phase der Verluste und Gewinne, der Umbrüche und Neubeginne. Die Bereitschaft, diesen Veränderungen produktiv zu folgen, ist davon abhängig, wie sehr die jeweilige Person das Gefühl der Eigenkompetenz und der Selbstwirksamkeit hat, wie viel Aufmerksamkeit dem eigenen Selbst gewidmet wird, wie die Selbsteinschätzung im Vergleich zu Bezugsgruppen ausfällt. Nun muss auf einige Besonderheiten dieser Zusammenhänge eingegangen werden. Kompetenz steht in enger Verbindung mit Potenzial. Die erste Voraussetzung lautet : Potenziale verändern sich und müssen in der Entwicklung der alternden Menschen in ihren sozialen Beziehungen gesehen werden. Der Grund dafür ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen persönlichem Altern und gesellschaftlichen Strukturen. Besonders deutlich wird dies am Arbeits- und Leistungsbezug. 201

Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

Potenziale, um noch einmal auf diese zu kommen, sind häufig unausgenützte und unausgeschöpfte Bedingungen für ein erfülltes, zufriedenes und sinnvolles Leben, auch unter Einschränkungen durch das Altwerden und durch Krankheit. Zur Ausnützung solcher unausgeschöpfter Bedingungen gehören die Stärkung und Schaffung günstiger Person- und Umweltfaktoren (Individual- und Strukturpotenziale). Dazu zählt vor allem der Gedanke des »dosierten Stresses«. Zu geringe Anforderungen durch die Umwelt führen zu Lethargie und Rückzug, überhöhte Anforderungen führen zu Belastungs- und Druckerlebnissen. Die Verbindung zwischen den beiden Arten von Potenzialen weist dem Begriff der Kompetenz eine eigene Bedeutung zu. Am ehesten sind Auffassungen geläufig, die von einem Vermögen, einer Fähigkeit-zu ausgehen, also von einem primär ans Individuum gebundenen Potenzial. Ohne den Bezug zur Umwelt führt der Gedanke einer Fähigkeit, die ausschließlich an der einzelnen Person hängt, unweigerlich dazu, dass Kompetenz in Vorstellungen von Leistung und Effizienz mündet. Solche Überlegungen verfehlen bereits im Ansatz den Gedanken eines unauflöslichen Zusammenhangs zwischen äußeren Bedingungen und subjektiver Verarbeitung. Kompetenz lässt sich also als absolute überhaupt nicht bestimmen. Sie ist ein Begriff, der eine Beziehung bezeichnet, in der subjektives Können und äußere Bedingungen aufeinander verwiesen sind. Damit ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Die erste weist auf die Tatsache, dass Verhaltenspotenziale und ihre Veränderungen in der Biografie nicht aus der Wirkung einzelner Faktoren (z. B. sozialer), sondern nur aus dem Zusammenspiel sozialer, psychischer, ökologischer etc. Einflussgrößen zu erklären sind. Die zweite unterstreicht, dass dieses Verhältnis zwischen Handeln einerseits und Umfeld andererseits immer prozesshaft verstanden werden muss. Dahinter steht die Idee, dass zur Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung von Kompetenz stets persönliche wie auch situative Faktoren und deren gegenseitige Vermittlung zu beachten sind, wobei ausdrücklich die Besonderheiten der Anpassungsnotwendigkeiten im Alter im Vordergrund stehen. Diese Überlegungen sind ein wichtiger Ansatz für die bei jedem Menschen nötigen Regulierungen zwischen eigenen und äußeren Bedingungen. Regulierung ist die Fähigkeit des Menschen, produktiv auf Veränderungen zu reagieren, und zwar in aktiven Prozessen. Unerheblich gewordene Rollen werden an die Peripherie der Bedeutsamkeit gerückt, altersrelevante soziale Anforderungen werden mit Aufmerksamkeit bedacht, Prioritäten werden neu festgelegt, Bindungen und Engagement wandeln sich. Das Leben überhaupt, und insbesondere das Leben im Alter, ist stets ein enges Geflecht von eigenen Bemühungen und Widerfahrnissen, von eigener Zielsetzung und äußerem Zwang. 202

Individuelle Strategien – Modul 5

Kompetenz und Selbstaufmerksamkeit sind Strategien, um einem »Dahinleben« entgegenzuwirken, das im Alter fast unweigerlich zu Ausfällen, Verflachungen, Rückzug, Verengung der Lebenskreise und Zielarmut führt. Sie sind Mittel, um dem entgegenzuarbeiten, was für sinnvolle (und nicht von außen oktroyierte) Aktivitäten eine notwendige Voraussetzung darstellt. Das Konzept der Lebensführung ist hier wiederum von Bedeutung. Die Vielfalt der Bedingungen und Einflüsse, die auf den Menschen zukommen, machen Regulierung nötig. Dafür ist allerdings ein Mindestmaß an Autonomie und Selbstbestimmung nötig. Dass Älterwerden mit Verlusten und Neuanfängen verbunden ist, ist unbestreitbar.

11.6 Individuelle Strategien – Modul 5 Plastizität – Heterogenität – Resilienz Selektion – Optimierung – Kompensation

In der gegenwärtigen Diskussion über Altern und Alter zählt zu den wichtigsten theoretischen Fundamenten die mit der Lebenslaufforschung und mit Entwicklungstheorien in Zusammenhang stehende Vorstellung, dass der Mensch über alle Lebensphasen hinweg entwicklungsfähig bleibt und dass Veränderungen im Erleben und Verhalten auch bis ins hohe Alter möglich sind. Jedwede Entwicklung enthält diesem Theorem zufolge sowohl Wachstum und Gewinn als auch Abbau und Verlust. Für die Frage nach den Bedingungen, unter denen solche Entwicklungen möglich sind, ist auf deren Ausgangsbedingungen einzugehen. Sie finden sich in entwicklungstheoretischer Sicht vor allem in den Konzepten der Plastizität, der Heterogenität und der Resilienz bzw. Widerstandsfähigkeit. Plastizität im Alter bezieht sich auf Veränderbarkeit des Gehirns im Alter, auch bei Schädigungen, und bedeutet allgemein, dass durch günstige Gegebenheiten der Umwelt die weiter verfügbaren Reservekapazitäten des alternden Menschen gefördert und genützt werden können. Heterogenität und Differenzierung im Alter sind hoch, intraindividuelle Differenzierungen überwiegen häufig die interindividuellen. Voraussetzung ist eine das Leben umspannende Entwicklungsperspektive. Gute und lebensfreundliche Umwelten sind als Ressourcen zu verstehen. Resilienz bezieht sich auf das Phänomen, dass manche Menschen an seelischen Belastungen nicht zerbrechen, sondern an ihnen sogar wachsen (Widerstandskraft). Der Ausgangspunkt sind Risikofaktoren, die aber nicht zwingend zu Störungen führen müssen. Ihnen stehen Schutzfaktoren gegenüber wie angeborene Eigenschaften, die aus Interaktion und Beziehungen gewonnen werden, sowie Umweltfaktoren. 203

Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

Wichtig sind die Handlungsstrategien, die Menschen einsetzen können, um in bestimmten Situationen »erfolgreich« zu handeln. Es wird vorausgesetzt, dass diese Handlungsstrategien mit den Kalkülen der Gelegenheitsrationalität verbunden sind. Im Wesentlichen sind drei Strategien zu nennen : Selektion, Optimierung und Kompensation. Selektion ist eine Strategie, die vor allem Handlungsziele und Absichten sowie deren Auswahl und Veränderung betrifft. Sie reicht vom völligen Verzicht auf bisher angestrebte Ziele über den schrittweisen Abbau bis hin zur Konzentration auf bestimmte, ausgewählte oder die Entwicklung neuer Ziele, gebunden an die jeweils vorhandenen und wahrgenommenen Potenziale und Ressourcen der Personen wie der Umwelt. Selektion kann proaktiv oder reaktiv erfolgen, also vorausschauend auf wichtige Situationen, oder im Nachhinein bei unvorhergesehenen und plötzlichen Veränderungen. Optimierung betrifft die Konzentration auf die Mittel, die jemandem zur Verfügung stehen, um Situationen zu bewältigen. Der (bewusste) Erwerb, die Verbesserung sowie die Koordination der für die Zielerreichung nötigen Mittel, wird als Optimierung bezeichnet. Diese Handlungsmittel variieren in Abhängigkeit von den jeweiligen Zielen, Besonderheiten der Person und den vorhandenen Ressourcen der Umwelt. Kompensation bezieht sich auf die Vorstellung, dass auch bei eingeschränkten Handlungsmitteln ein vorhandenes Niveau beibehalten und Ziele nicht aufgegeben werden sollen. Das kann auch bedeuten, auf andere, vielleicht neue Ressourcen zurückzugreifen, wenn etwas mit den gewohnten Mitteln nicht mehr erreichbar zu sein scheint. Gerade in der Kompensation sind Menschen auf eine förderliche Umwelt angewiesen. In weiterer Ausarbeitung dieser Überlegungen müssten nun Auto- und Heteroproduktivität, Individual- und Strukturpotenziale sowie Plastizität, Heterogenität und Resilienz mit Selektion, Optimierung und Kompensation systematisch in Verbindung gebracht werden, was in anderen Worten eine Verknüpfung von Strukturbedingungen, Ressourcen und Potenzialen sowie Handlungsstrategien unter konkreten situativen Bedingungen bedeutet.

11.7 Sozialprodukt des Alters – erste Fassung

Das Sozialprodukt des Alters ist die Gesamtheit aller Tätigkeiten von Menschen jenseits des Erwerbslebens, die sich in Auto- und Heteroproduktivität umsetzen und einen Nutzen stiften, der in die Herstellung, Bewahrung und Erhöhung von Lebensqualität eingeht.

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Gesundheit, Sozialkapital und Vitalität – Modul 6

Somit dienen diese Beiträge auch der Sozial- und Systemintegration und beziehen sich darauf, dass alle aufeinander verwiesen sind. Das Sozialprodukt des Alters ist daher Ausdruck der Leistungskraft der Älteren, die aus Individual- und Strukturpotenzialen stammt und, auf den Ausgangsbedingungen von Plastizität, Heterogenität und Resilienz beruhend, über Handlungsstrategien wie Selektion, Optimierung und Kompensation realisiert wird. Meist folgt dieses Handeln insgesamt den vorhandenen Bedingungen der Gelegenheitsrationalität. Zugehöriges Wissen, insbesondere Erfahrungswissen, muss nach Pragmatik, Topik und Präreflexivität bestimmt werden. Der Angelpunkt sind die bei jedem Menschen nötigen Regulierungen zwischen eigenen und äußeren Bedingungen. Regulierung ist die Fähigkeit des Menschen, produktiv auf Veränderungen zu reagieren, und zwar in aktiven Prozessen.

11.8 Gesundheit, Sozialkapital und Vitalität – Modul 6 Gesundheit und Zufriedenheit – Glück, Humor, Vitalität und Lebenshaltung

Für die Zusammenhänge, die hier eine Rolle spielen, sind die Konzeptionen des Sozialkapitals und der Lebensqualität bedeutsam. Die Messung von Sozialkapital bezieht sich auf Gruppen und Netzwerke, kollektive Aktionen, Inklusion, Information und Kommunikation sowie Vertrauen. Methodisch zwingend ist die Unterscheidung zwischen den Ebenen der einzelnen Person, der sozialen Netzwerke und den größeren Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaften. Die Ausformungen des Sozialkapitals stehen in unmittelbarer Beziehung zur Gesundheit. Als wichtigste Bedingungen für abnehmende Gesundheit, vor allem im Alter, gelten überall : soziale Defizite wie Beziehungsverlust, sozialer Stress und Konflikt, Aktivitätsdefizite wie die völlige Beschäftigungsaufgabe, passives Freizeitverhalten und ein Verfall der Bedeutung religiöser, politischer oder ideologischer Glaubenssysteme und schließlich die Gesundheitsvorsorgedefizite wie ungesunde Ernährung, Abhängigkeit von Drogen oder schädlichen Genussmitteln und mangelnde Prävention. Der Effekt der Gesundheit auf das Wohlbefinden ist im Alter stärker als bei den Jüngeren, aber auch die Alten, die »fit« sind, und ebenso jene Alten, auf die dies weniger zutrifft, sind glücklicher als die Jüngeren. Hier ist die Verbindung zum Sozialkapital wichtig. Die kombinierten Effekte von Sozialkapital (kein starker sozialer Stress und keine Einsamkeitsgefühle) und guter Gesundheit sind eindeutig : Jene über sechzig sind glücklicher als jene darunter, aber die Gesundheit wiegt schwerer bei den Älteren. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass bei den Jüngeren ein erhebliches Ausmaß an sozialen Defiziten bestünde ; im Gegenteil : 205

Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

Die über Sechzigjährigen verfügen über weniger formale Bildung und haben weniger Möglichkeiten, Befriedigung aus Berufsarbeit zu ziehen. Trotzdem ist es so, dass Glücklichsein (happiness), ganz unabhängig davon, ob jemand mehr oder weniger »fit« ist, bei den über Sechzigjährigen ansteigt. Die stärkste positive Wirkung auf Gesundheit und Glücklichsein im Alter haben Sozialkapital, also alle Bedingungen sozialer Inklusion, physische Aktivitäten und Arbeit. So kann der Schluss lauten : Altern macht glücklich, wenn Einsamkeit, schlechte Gesundheit und Sinnverlust vermieden werden können. Kindheit ist assoziiert mit Begriffen wie Wärme, Geborgenheit, Vertrauen, Freisein vom »Kampf ums Dasein« und Glück : »Kinderglück«. In der späten Kindheit und Jugend werden sowohl unsere Konstruktionen als auch die Wirklichkeit, die ihnen zugrunde liegt, für viele äußerst zwiespältig, nach und nach wird dann die Idealvorstellung des Erwachsenseins entzaubert. Für die Erwachsenen verändern sich die Glücksgelegenheiten und deren Deutung. Über die lange Zeit des Erwachsenenalters hinweg sollen sich Leistungserfolge, Liebeserfahrung und »Selbst-Bewusstsein« zu einem stabilen Persönlichkeitsbild integrieren. Das Alter ist die Phase, die glücken und den Jahren Leben hinzufügen soll. Die äußeren Bedingungen der gegenwärtigen Zeit sind für »Erfüllungsglück« nicht ungünstig. Die jüngeren Gruppen unter den Älteren sind heute vergleichsweise gesünder, aktiver, mobiler und wohlhabender im Vergleich zu jenen, die vor einer Zeit vor zwanzig oder dreißig Jahren in ähnlichem Alter waren. Die Phase des jungen Alters scheint jedenfalls von einem Gefühl der Freiheit und der Selbstständigkeit gekennzeichnet zu sein. Neue Lebensqualitäten können gefunden werden, jenseits von Arbeitsdruck und Zeitstress. Im »hohen Alter« stellt sich vieles anders dar. Immer mehr Menschen haben, demografisch gesprochen, eine immer größere Chance, immer älter zu werden. Das hohe Alter biete, so wird angenommen, einerseits Zeit für die schönen Dinge des Lebens und es sei andererseits eine Belastung für die Familie, die Gesellschaft und die Betroffenen selbst. In solchen Bildern stehen konkrete Situationen und Menschen vor Augen, die entweder geistig und körperlich rüstig und beweglich ihren Wünschen folgen oder, beeinträchtigt durch Krankheit und Gebrechen, an Bett und helfende Menschen gefesselt sind. Hochaltrigkeit lässt sich aber nicht in einem Ambivalenzschema unterbringen. Wird Glück in der Gesamtheit der Lebensbedingungen und der Konstruktionen über sie betrachtet, wird klar, wo das Problem liegt. Die Welt entzieht sich einem bündigen und endgültigen Urteil, die Wirklichkeit ist nicht die Komplizin unserer Interpretationen. 206

Gesundheit, Sozialkapital und Vitalität – Modul 6

Diese Konzepte stehen ihrerseits zu einer Perspektive in Verbindung, die in der Forschung noch nicht breitenwirksam wurde. Es ist davon auszugehen, dass sowohl humorvolles Verhalten als auch das Erleben von Humor, hier wird von »Erheiterbarkeit« gesprochen, als variabler Zustand einer Person, zugleich aber auch als Persönlichkeitseigenschaft aufzufassen ist. Eine heitere Grundstimmung macht Erheiterbarkeit wahrscheinlicher als schlechte Laune oder eine ernste Geisteshaltung. Es steht fest, dass heitere Stimmungen bei Menschen von einer gewissen Robustheit sind. In Hinsicht auf Stress und einschneidende Lebensereignisse sind Menschen mit einer solchen robusten Disposition zur Heiterkeit tatsächlich weniger zu beeinträchtigen, Humor kann daher einen Puffer gegen Stress darstellen. Das scheint so weit zu gehen, dass Menschen mit Heiterkeit als Persönlichkeitseigenschaft kein Zusammenwirken zwischen Stress und Wohlbefinden zeigen. Humortherapie gehört heute zu den Standardmethoden in der institutionellen Pflege. Jemand mit Humor zeichnet sich aus durch Verständnis für die Widersprüche in der Welt, und dieses Verständnis gilt für das Große und für das Kleine, für Menschen und für Dinge. Es ließe sich dieses Verständnis auch als eine Haltung verstehen, die Distanz pflegt und sich trotzdem bejahend, tolerant und auch mit Liebe zur Welt (Schöpfung) ausdrückt. Ein solcher Mensch lebt Gelassenheit und steht den Geschehnissen realistisch gegenüber. All das könnte auch als soziale und philosophische Lebenshaltung gedeutet werden, die auch durch Vitalität mitbestimmt wird. Ein allgemein akzeptiertes und auch in Analysen eingesetztes Konzept der Vitalität gibt es noch nicht ; trotzdem ist der Begriff offensichtlich von erheblicher Bedeutung. Im konzeptuellen Zuschnitt ist der Energieansatz der klarste. Es gibt ein fundamentales biodynamisches Gesetz, das die Entwicklung jedes lebenden Organismus über drei Stadien im Lebenszyklus steuert – a) Konzeption und Geburt, b) Optimum der Vitalität und c) Verfall und Tod. Innerhalb des allgemeinen biodynamischen Gesetzes existieren das Gesetz der Erhaltung, das die erste Phase bestimmt, und das Gesetz des Verlustes, das die dritte Phase bestimmt. Die Höchstform der Entwicklung findet sich am Kulminationspunkt der Lebensfähigkeit, im Optimum der Vitalität. Den Übergang von der zweiten zur dritten Phase bildet die Neigung zum biologischen Altern, weshalb auch der Beginn des Alterns nicht vor dieser letzten Phase angesetzt werden sollte. Was ist nun Vitalität und weshalb verändert sie sich negativ ? Sie besteht, aus biologischer Perspektive, in einem Optimum von Information, bionomischer Ordnung und Anpassungsvermögen der organischen Strukturen und Funktionen. Die Phase des Verlustes bedeutet einen Wandel in all diesen Dimensionen zum Negativen, hin zur Polypatholo207

Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

gie (medizinisch gesprochen). In welcher Beziehung steht nun diese Vorstellung von Vitalität zu Energie ? Eine der wichtigsten Beschränkungen für die Präzision der Informationsprozesse im lebenden Organismus sind die Kosten des Energiekonsums. Selbst am Optimum der Vitalität kann der Organismus nicht all seine Energieproduktion einsetzen, um die molekularen Prozesse zu kontrollieren, so wichtig das auch für das Überleben der Zellen wäre. Der Verlust, Privation, ist dann das Resultat der Defektbehaftetheit oder begrenzten Funktionsfähigkeit, die allen Organismen inhärent ist, selbst der DNA. Es gibt eine Fülle an molekularbiologischen Befunden, die diese Überlegungen stützen, sodass hier von einer erfolgreichen Theorie des biologischen Alterns gesprochen werden kann. Lässt sich die oben dargestellte Kompetenz auch als eine Lebensstrategie verstehen ? Der Ausgangspunkt lässt sich in einer richtig verstandenen Lebenshaltung finden. Lebenshaltung bezeichnet eine offene Gesinnung gegenüber Lebenszielen und Contenance in schwierigen Situationen. Diese Haltung hat mit Intelligenz zu tun, die ein Leben lang entwickelt wird (bzw. entwickelt werden kann), mit praktischer Lebenserfahrung, mit sozialer Kompetenz und mit einer philosophischen Sicht des Lebens. Aus diesen Vorstellungen lassen sich drei Domänen einer Lebenshaltung herausheben : eine philosophische, eine praktische und eine soziale. Eine philosophische Haltung zielt auf die Bewertung und Lösung allgemeiner Fragen des menschlichen Lebens. Das ist eine Einstellung, die Distanz pflegt und sich trotzdem bejahend, tolerant und auch in der Liebe zur Welt (Schöpfung) ausdrückt. Humor ist mit ihr eng verbunden. Das setzt voraus, auch Distanz zu sich selber zu gewinnen, sich selbst als Teil zu verstehen, der im Ganzen zu Hause ist. Zu seinen wichtigsten Inhalten zählen das Erkennen und Anerkennen der Existenz anderer Weltbilder, Wissensformen und Lebensweisen außerhalb des begrenzten eigenen Raumes und des eigenen Standpunktes. Die Philosophie nennt ein solches Sich-selbst-Korrigieren Reflexivität, also die Rückspiegelung des Wissens auf sich selbst, und für die Psychologie ist dies geradezu ein Kennzeichen für Intelligenz. Diese Domäne einer Lebenshaltung ist jedoch nur ein Teil des Modells. Ohne die weiteren ist sie relativ fruchtlos. Die praktische Haltung ist der Inbegriff von persönlicher Weitsicht, guter Lebenspraxis und kluger Lebensplanung. Das hängt wiederum mit Lebensplan und Lebensführung zusammen. Sie hängt von der gescheiten Wahl der Lebensziele ab, die sich nach ihrer Realisierbarkeit richtet. Persönliche Fähigkeiten und Motive sowie äußere Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten bestimmen die Realisierbarkeit. Vielen gelingt es, näherliegende und übergreifende Lebensziele aufeinander abzustimmen. Hier geht es um Nutzen-Kosten-Abschätzungen und um Durchhalten. 208

Gesamtnutzen und Lebensqualität – Modul 2

Die soziale Haltung ist in der Sprache der Psychologie kognitive Kompetenz. Soziale Intelligenz hat wesentlich mit der Fähigkeit zu tun, in konkreten Situationen die übergreifenden, langfristigen und über die Situation hinaus wichtigen Belange und Ziele zu sehen, die Mithandelnden als Personen wahrzunehmen und sie geistig und emotional zu unterstützen. Es ist die Verbindung von Erkenntnisfähigkeit und Anteilnahme. Wenn Einfühlungsvermögen, ein gewisses Maß an Güte und Lebensübersicht sich paaren, könnte auch von persönlicher Reife gesprochen werden.

11.9 Sozialprodukt des Alters – zweite Fassung

Das Sozialprodukt des Alters ist die Gesamtheit aller Tätigkeiten von Menschen jenseits des Erwerbslebens. Durch die Umsetzung dieser Tätigkeiten in Auto- und Heteroproduktivität stiften sie einen Nutzen, der in die Herstellung, Bewahrung und Erhöhung von Lebensqualität eingeht. Somit dienen diese Beiträge auch der Sozial- und Systemintegration und beziehen sich darauf, dass alle aufeinander verwiesen sind. Über diese Tätigkeiten integrieren sich die Älteren meist außerhalb der Ökonomie und der Politik, aber innerhalb der Kultur in die Gesellschaft, die ihrerseits die entsprechenden Umweltbedingungen schafft und schaffen muss. Das Sozialprodukt des Alters ist daher Ausdruck des Sozialkapitals der Älteren, eine Gesamtleistung, die aus Individual- und Strukturpotenzialen stammt. Die Ausgangsbedingungen sind Plastizität, Heterogenität und Resilienz, verbunden mit Vitalität, wobei die Realisierung der Leistungsgesamtheit über Handlungsstrategien wie Selektion, Optimierung und Kompensation im Rahmen einer geeigneten Lebensführung und Lebenshaltung läuft. Meist folgt dieses Handeln insgesamt den vorhandenen Bedingungen der Gelegenheitsrationalität. Der Angelpunkt sind die bei jedem Menschen nötigen Regulierungen zwischen eigenen und äußeren Bedingungen. Regulierung ist die Fähigkeit des Menschen, produktiv auf Veränderungen zu reagieren, und zwar in aktiven Prozessen. Zugehöriges Wissen, insbesondere Erfahrungswissen, muss nach Pragmatik, Topik und Präreflexivität bestimmt werden. Lebensqualität ist die Gesamtheit aller Lebensbedingungen, subjektiver und objektiver, in ihrem je spezifischen Zusammenspiel, wobei mit zunehmendem Alter die Gesundheit als bedeutsamer Faktor für Zufriedenheit und Glück in den Vordergrund tritt. Gesundheit und Zufriedenheit sind ihrerseits wieder an Aktivität gebunden, die sich notwendig in Produktivität äußert. Da Produktivität in diesem Verständnis materielle, psychisch-geistige, emotionale und soziale Qualitäten hat und mit traditionellen

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Sozialprodukt des Alters – Module für eine Theorie

ökonomischen Konzepten nicht voll erfasst werden kann, bleibt die Lebensqualität die übergeordnete Messgröße für positive und negative Erträge der Produktivität des Alters.

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Kapitel 12

4HEORETISCHEÖ.ACHBERLEGUNGENÖkÖ SELBSTKRITISCH

Wir haben im Vorwort angemerkt, dass über die Fragen und Konzepte hinaus, die in diesem Buch diskutiert werden, es auch sinnvoll sei, auf allgemeinere Fragen soziologischer Erkenntnisgewinnung einzugehen. Unser Motiv ist schlicht in der Überzeugung zu finden, dass natürlich auch das eigene Denken jenen Fallstricken ausgesetzt ist, die in der Kritik am Denken anderer gefunden werden können. Dazu sind einige Voraussetzungen näher zu beleuchten. In der »Phänomenologie« legte Georg W. F. Hegel der Philosophie nahe, dass sie sich hüten möge, erbaulich sein zu wollen ; ebenso könnte den Sozialwissenschaften gegenüber bemerkt werden, dass sie vorsichtig sein sollten, wenn sie versuchen, nur tagesaktuell sein zu wollen. Die eine Haltung bringt die Gefahr mit sich, bei dem stehen zu bleiben, was ist, die andere verleitet, das Flüchtige, die Konjunktur der Konjunkturen, für wichtiger zu halten, als es ihnen zukommt. Kaum eine Frage lässt sich denken, an der dies deutlicher würde, als jene nach der Stellung des Menschen in seiner Welt – nämlich, in der von ihm selbst gemachten. Diese Frage bleibt brisant genug, selbst wenn sie auf soziologische Perspektivität eingeschränkt wird und damit die direkte Verbindung zu den philosophisch-anthropologischen Aufgaben unterbricht, die sich aus der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos (Teilhard de Chardin oder Max Scheler) oder in den Stufen des Organischen (Helmuth Plessner) ergeben. Selbstverständlich sind die Fragen, die wir in den verschiedenen Analysen diskutiert haben, auch und immer wieder tagesaktuell, wie wir über den Circulus vitiosus gesellschaftspolitischer Halbbildung dargelegt haben. Die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt erlaubte nie mehr als vorläufige Antworten und vorläufig sind unsere auch. Vorläufig waren sie in den ältesten Mythen und Dichtungen, vorläufig bleiben sie in den neuesten Ideen exakter Wissenschaft und sozialer Philosophie. Ihr wohnt die Absage an endgültiges Wissen von vornherein inne, da die Welten, um die die Frage sich dreht, immer nur jene sein können, die die Menschen praktisch machen und deutend entwerfen. Ins Bewusstsein hat sich tief eingegraben, dass von Menschen Gemachtes nicht Bestand hat, auch nicht, was sie aus ihrer eigenen Unvollkommen211

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

heit heraus als das Vollkommenere entwerfen und in ihre allmächtigen Götter projizieren. Zu diesen zählen auch die Erzählungen, an sie wird geglaubt, von ihnen werden Lösung und Befreiung aus schwierigen Lagen erhofft. Ist der Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Unvollkommenen und Endlichen an der menschlichen Existenz und dem Entwurf des Besseren und Vollkommeneren, aus dem seit jeher die Fortschrittshoffnungen gespeist wurden, die eine Seite der nie endgültig beantwortbaren Frage, so ist die andere Seite jene der anscheinend nicht überspringbaren Kluft zwischen dem Einzelnen und der Welt, dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt, das durch jenes im Denken und Handeln erst konstituiert wird. Als der Mensch erstmals sich die Frage stellte, ob und wie er Teil der Welt oder des Kosmos sei, hatte er die Einheit bereits aufgelöst und jenen Weg eingeschlagen, der in der Soziologie sich als das Problem von »Individuum und Gesellschaft« herauskristallisieren sollte. Vereinfachend lässt sich die Kontinuität dieses problematischen Verhältnisses als die Erfahrung der Übermacht und Unkontrollierbarkeit des vom Menschen Geschaffenen für den Menschen begreifen ; dass mit des Schicksals dunklen Mächten kein ewiger Bund zu flechten sei, ist Ausdruck ähnlicher Erfahrung wie die Sentenz, dass die vom Menschen geschaffenen Produkte ihm als fremde Macht gegenüberträten und Zwangsgewalt über ihn gewännen. So einsichtig wie die Tatsache, dass erst mit den auf Erfahrung basierenden Sozialwissenschaften diese Frage der gebrochenen Einheit von Mensch und Gesellschaft und ihre Diskussion auf die Ebene empirisch beobachtbaren individuellen und kollektiven Handelns verschoben wurde, so einsichtig ist auch die Tatsache, dass sie an ihrer Beantwortung immer wieder gescheitert sind. Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt als Akt reflexiver Distanz setzt sich fort in der Trennung zwischen praktischem Handeln und theoretischer Reflexion (auch aus dieser Trennung ist Immanuel Kants Diktum zu verstehen, dass nichts so praktisch sei wie eine gute Theorie), sie setzt sich fort in Modellen vollständig rational handelnder Individuen, die in ihrer Praxis von vielen irrationalen Motiven getrieben werden, und sie findet nochmals ihre Verlängerung in der Trennung von Philosophie und Wissenschaft und schließlich in der Unterscheidung zwischen einzelnen Spezialgebieten in den Wissenschaften. In der Soziologie : »Allgemeine« Soziologie als der Bereich der großen Theorien, »spezielle« oder »angewandte« Soziologie als Bereiche ihrer problembezogenen empirischen Forschung und schließlich »Methoden« der Soziologie als das Feld wissenschaftlichen Handwerkzeugs. Diese Einteilung hat vor allem einen praktischen Sinn, der sich mit der historischen Entstehung dieser Wissenschaft deckt. Auf der einen Seite stehen die theoretischen Fragen, die Grundsatzfragen der Gesellschaftsana212

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

lyse, auf der anderen Seite die inhaltlichen Einzelmomente (Bindestrich-Soziologien), verbunden mit praktischen Fertigkeiten, wie sie angeeignet werden müssen im Sinne gesellschaftlicher Verwertbarkeit. In dieser wie auch immer fragwürdigen Unterscheidung drückt sich zugleich auch der Doppelcharakter der Soziologie aus. Als theoretische Soziologie stand sie immer auf des Messers Schneide, auch Philosophie der Gesellschaft zu sein, philosophische Ethik, »weil Ethik als die Lehre vom Verhalten der Menschen, dem richtigen Verhalten der Menschen, immer und notwendig auch soziales Verhalten, das Verhalten von Menschen zueinander eingeschlossen hat« (Theodor W. Adorno). Als empirisch-praktische Soziologie ist sie jener Komplex, der aus den Kameralwissenschaften, insbesondere aus dem Merkantilismus des . Jahrhunderts, sich entwickelte, aus den Bedürfnissen der heraufkommenden Zentralstaaten, als zum ersten Mal so etwas wie Gesichtspunkte einer geplanten Ökonomie und Verwaltung hervortraten, für die dann auch Übersichten über alle möglichen Bedürfnisse, Strukturverhältnisse und Wünsche nötig wurden. Soziologie ist also – ganz im Gegensatz zu den relativ geschlossenen Lehrgebäuden der Medizin oder Jurisprudenz – eine in sich widersprüchliche Wissenschaft, die einerseits in Detailmomenten und handwerklichen Künsten auf das unmittelbar gesellschaftlich Nützliche verpflichtet ist, während sie in ihrem theoretisch-reflexiven Anspruch zugleich auf die hinter dieser unmittelbaren Sichtbarkeit des Gesellschaftlichen liegenden Bedingungen gerichtet ist – darauf, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Gerade dieser letzte Anspruch aber führt leicht zu einem Begriff von Theorie, der die Theorie als etwas Abstraktes gegenüber den gesellschaftlichen Einzelmomenten fasst, selber also problematisch wird. Als grobe These sei einmal festgehalten, dass die Widersprüche in der Gesellschaft, die deren Dynamik bestimmen, sich in der Soziologie als einem sozialen und zugleich kognitiven System widerspiegeln und somit soziologische Theorie selbst als Ausdruck gesellschaftlichen Kampfes verstanden werden muss. Diese besondere Situation hat eine spezifische Konsequenz für die Art und Weise, in der soziologische Erkenntnis vermittelt werden kann. Es gilt ja immerhin, das Unternehmen im Auge zu behalten, das, was vermittelt werden soll, sowie den Vorgang der Vermittlung selbst noch als Moment eines gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen, dem die Theorie angehört. In allem Anfang, sagt Ernst Bloch, steckt ein Charakter von Willkür ; davon dispensiert gerade nicht das Prinzip der dauernd forschenden Neugier allein, wie es im Bild des »faustischen« Menschen enthalten ist. Theoretisches Denken ist in jedem Zeitpunkt der Versuch, sich Aufschluss über Fragen zu geben, deren Beantwortung aus dem bestehenden Wissen heraus 213

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

unbefriedigend erscheint ; am Anfang aller Theorie steht das Fragen. Theorie nährt sich aus dem Unerledigten, ihr wohnt das Unfertige, das erst noch zu Findende immer inne. Damit aber liegt es auch im Eigentümlichen der Theorie, dass sie über jene Empirie, die als systematisch erfasste der Wissenschaft als einzig zulässige gilt, immer hinausgeht. Mit Theorie ist hier also etwas durchaus noch Offenes gemeint, nicht völlig eingezwängt in ein Korsett der Denkvorschriften, denen nur das als Theorie gilt, was logischen Prinzipien sich gefügt hat und nur auf jene Realität sieht, die vorher schon nach methodischen Regeln abgebildet wurde. Mitten hinein versetzt zu werden, meinte Ernst Bloch, sei am besten : Das hilft genau dort zu folgen, wo eine Rede nicht nachspricht, sondern vorspricht. Sodass Auffassen nicht stockt, wenn es das Seine bewegt sieht. Theorie ist nicht etwas, über das sich sprechen ließe, als bliebe der Sprechende von ihm unberührt, oder gar jenes vom Sprechen. Zwar ist es sicher so, dass das Gegebene, hier das schon Vorgedachte, Geordnete, einen Vorlauf hat, das prägt, was im Denken/Sprechen des Subjekts erst wird ; doch ebenso sicher ist, dass das Sprechen, hier über Theorie, jene auch formt. Scharf betrachtet kann das Sprechen über Theorie nur gestaltender Eingriff in einen Prozess sein, in dem, ganz im goetheschen und hegelschen Sinn, der Mensch als Frage, die Welt als Antwort und umgekehrt auftreten. Den Menschen als den Fragenden und den Antwortenden zugleich zu denken, als jenen, der das hervorbringt, worauf sein Fragen gerichtet ist, hilft als einziges Mittel, den Zirkel blanker Selbstgefälligkeit zu durchbrechen, indem sich die Idee des immer nur Schaffenden wie das Maultier mit verbundenen Augen im Kreise dreht. Die allgemeine Intention, die wir mit dieser Studie verfolgten, lässt sich in der Frage zusammenfassen : Wie können die von uns gewählten Leitthemen der Produktivität, des Alters und der Lebensqualität in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden ? Dieser Frage wohnt zugleich die Summe aller Antworten inne, die sich unter ihr im Laufe der Geschichte schon angesammelt haben, aber auch die Menge aller Fragen, die unbeantwortet geblieben sind. Wir haben nur auf einige wenige Aspekte hingewiesen. So allgemein, als ein Verzeichnis von Fragen und Antworten, kann das Thema aber auch nicht diskutiert werden. Je mehr das wissenschaftliche Denken Gefahr läuft, lexikalische Form anzunehmen, desto strikter wird die Verpflichtung, die Ergebnisse dieses Denkens auf ihre Entstehung und ihren Nutzen hin zu untersuchen und im Lichte der Resultate alte Fragen neu und neue Fragen erstmals zu stellen. Eine für diese Aufgabe sinnvolle Vorgangsweise ist die Theoriekritik : Explikation der systematischen Grundlagen und Inhalte einer Theorie, Reflexion 214

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

ihrer Geltungsbedingungen und Vergleich mit anderen konkurrierenden Theorien. Hier haben wir unseren Anspruch eingeschränkt und vornehmlich über empirisch gestützte Konzepte und Modelle gesprochen und nicht über große Theorien. Diese Bemerkungen deuten eine Art systematischer Vorgangsweise, gewissermaßen einen Weg an und lassen nun eine Umformulierung der oben genannten Frage in allgemeinster Weise zu : Welche Akzentsetzungen vollziehen Theorien, die auf die Gesellschaft und ihre Individuen gerichtet sind, und wie wird das Verhältnis zwischen Gesellschaft und den sie hervorbringenden Individuen gedacht ? Was heißt nun im vorliegenden Diskussionszusammenhang »Theorie« ? Die Diskussion soziologischer Erkenntnis muss von Selbstreflexion begleitet sein, deren Aufgabe die Explizierung des eigenen Standpunktes ist, des gesellschaftlichen Kontexts, in dem Theorien (ent-)stehen. Wieviel sich auch seit den Tagen der »Gründerväter« der Soziologie verändert haben mag, bestimmte Situationen sind geblieben : Soziologen (Sozialwissenschaftler) befinden sich nach wie vor in einem, allerdings bewältigbaren, Dilemma. Sie sollen objektive Erkenntnis über eine Welt gewinnen, in der sie zugleich leben und deren Bestandteil sie selbst sind. Sie leben in einer Welt, in der Klassen und Gruppen von Menschen (einschließlich der Wissenschaftler selbst) in Positions- und Konkurrenzkämpfe, ja Überlebenskämpfe (z. B. Sozialwissenschaftler mit oppositioneller Haltung in manchen lateinamerikanischen Staaten) verwickelt sind. Im ständigen Auf und Ab dieser Kämpfe ist es unvermeidlich, dass die Weisen, wie Menschen in solchen Gruppen und Klassen die sozialen Geschehnisse erleben, über die sie denken und sie in Begriffe und Theorien fassen, von diesen Geschehnissen selbst aufs Tiefste affiziert sind. Das heißt, dass Wissenschaftler mit anderen zusammen die Einbezogenheit in diese Konflikte teilen und ebenso das entsprechende Engagement im Denken, zugleich aber aufgrund von spezifischen Wissenschaftsidealen sich in die Lage versetzt sehen, ihr Denken so organisieren zu müssen, als wären sie nicht Teil dieser Welt und fähig, sich außer sie zu stellen. Im Wesentlichen gibt es zwei Wege, die eine »Befreiung« aus diesem Dilemma ermöglichen : einerseits die Anerkennung eines Wissenschaftsideals, das die Trennung von wissenschaftlicher Arbeit und sozialer Existenz gar nicht zulässt, andererseits die Anwendung von Verfahren, die die Objektivierung des Subjektiven in der wissenschaftlichen Arbeit erlauben. Das entscheidende Moment der genannten Selbstreflexion ist demnach in der Frage zu finden, ob und auf welche Weise Sozialwissenschaftler weniger durch vorgefasste Ideen und Ideale, durch Leidenschaft und Parteinahme beeinflusst sind als »der Mann auf der Straße« und ob sie in der Lage sind, zu »objektiver 215

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

Erkenntnis« zu gelangen. Die »Maschine« der Soziologie : ihre Forschungswerkzeuge, Anwendungsbeflissenheit, instrumentelle Orientierung des theoretischen Wissens und Markt- und Projektförmigkeit der Untersuchungen ermöglichen ihre rasante Ausbreitung, und deren Geschwindigkeit entspricht jener, mit der die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen, die allgemeinen und grundsätzlichen Fragen, von denen aus diese Wissenschaft einst ihren Ausgang nahm, in den Hintergrund treten und »unmodern« werden. Unser Versuch, die Entstehung einiger der wichtigen Erzählungen auf ihre Wurzeln zurückzuführen, sollte dieses Problem zumindest in Erinnerung rufen. Seit Beginn der Neuzeit war die Grundlegung der Philosophie und der Wissenschaften in einer Erkenntnistheorie versucht worden, die vor aller Bestimmung inhaltlichen Wissens zunächst einmal die methodischen Prinzipien gesicherter Erkenntnis bergen sollte. Mit dem zu Ende gehenden . Jahrhundert wurde aber immer klarer, dass eine solche Erkenntnis nicht aus sich selbst, beginnend an einem letzten, ein für alle Mal gesicherten Ausgangspunkt und dann schrittweise aufsteigend bis zu einer ausformulierten Theorie der Erkenntnis, entstehen kann. Immer deutlicher wurde, dass alle Erkenntnis in einen umfassenden Lebenszusammenhang einbezogen ist und im Kontext praktischer menschlicher Tätigkeit entsteht und sich verändert ; später hat Jean Piaget dann sagen können, dass Erfahrung durch Handeln vermittelt sei. Diese Einsicht erforderte eine Tieferlegung der erkenntnistheoretischen Fundamente, die nun in einer philosophischen Anthropologie gesucht wurden. Deren Aufgabe war es ja gewissermaßen von Anbeginn, die Erkenntnisleistungen aus dem Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens angemessen zu begreifen. Dieser Entwicklung korrespondierte eine zweite, die, ebenfalls im . Jahrhundert beginnend, für die Soziologie noch folgenreicher wurde. Das Verständnis der menschlichen Lebenswelt wurde in Begriffe und Kategorien gefasst, die bis heute ihre Verbindlichkeit behielten : Sie muss einmal als das Ergebnis des Handelns vergesellschafteter Subjekte begriffen werden, und sie muss, zum Zweiten, als die spezifische Gesellschaftsformation verstanden werden, der diese Subjekte immer schon angehören. Damit wird geradezu unübersehbar Sozialtheorie handlungstheoretisch verankert, Handlungstheorie (und damit natürlich auch eine Theorie des Subjekts) in den (Zwangs-)Zusammenhang von Gesellschaft gestellt. Genau aus diesem Grund ist es zu verstehen, dass Denker wie Karl Marx, Emile Durkheim und Max Weber eine Theorie der Gesellschaft gewissermaßen als Gattungsgeschichte des Menschen zu konzipieren versuchten. Auf Versuche, für wichtig erachtete Fragen Antworten zu finden, treffen wir täglich in allen Bereichen unseres Lebens. In einem gewissen Sinn stellt dieses 216

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

ständige Fragen und Antworten geradezu den spezifischen Weg dar, auf dem wir im Alltag zu unseren Orientierungen und Überzeugungen gelangen : weshalb Menschen kriminell werden ; weshalb die Preise steigen oder Unternehmen sinkende Rohstoffpreise »nicht an die Konsumenten weitergeben« ; weshalb Korruption herrscht und Menschen das Vertrauen in demokratische Einrichtungen verlieren ; wie es dazu kommt, dass Konflikte auftreten, von denen angenommen wurde, sie seien verhinderbar ; weshalb die einen »arbeitsbesessen« und die anderen »arbeitsscheu« sind ; weshalb wir in eine Spirale weltumfassender wirtschaftlicher Krisen geraten sind, obwohl unsere Vernunft und unsere Hoffnungen sich dagegen sträuben ; ob Intelligenz vererbt oder erlernt ist ; ob der Militärdienst aus Jungen »Männer« macht ; ob Frauen gefühlsmäßig und Männer logisch handeln ; ob Unternehmer reich werden, weil sie viel leisten und Risiken eingehen – so werden diese Fragen doch gestellt und diese und Tausende andere durchziehen unsere täglichen Gespräche und unser Denken. Sie sind der Stoff, aus dem unsere Alltagskommunikation gemacht ist. Zugleich ahnen wir in unserem alltäglichen Denken aber, und manchmal glauben wir auch, es zu wissen, dass die Antworten auf all diese Fragen nicht nur in den Menschen allein zu suchen sind, in ihren Köpfen und ihren Gefühlen. Begründungen werden eben auch in den sogenannten Verhältnissen gesucht, in Bedingungen, die außerhalb unserer individuellen Wünsche und Einflussmöglichkeiten liegen : die Großmächte konkurrieren um Vorherrschaften in der Welt, weshalb sie Kriege führen ; die Kirche passt sich zu wenig an die modernen Erfordernisse an und verliert deshalb immer mehr Mitglieder ; die Ausbeutung der Dritten Welt ist das Werk multinationaler Konzerne ; die Reichen haben überall dort ihre Hände im Spiel, wo es um Macht und Einfluss geht ; die Presse lenkt mit ihren Kampagnen die Wahlen ; die schlechten Zeiten haben viele zu Mitläufern der Nationalsozialisten gemacht ; die Entwicklung der Menschheit ist ein Fortschritt zu ihrer Vernichtung – all diese Antworten und Tausende andere unseres täglichen Denkens zeigen, dass in unserem Wissen die Vorstellung eine Rolle spielt, es seien auch überindividuelle, anonyme Kräfte, die unser Leben lenken, oft entgegen unseren Wünschen. Ja, oft komme in Summe geradezu heraus, was die Einzelnen so gar nicht wollten. Drei Grundfiguren sind es vor allem, die unser Denken in solchen Frage-undAntwort-Spielen durchwirken : die Figur des Voranschreitens, des Entwicklungsund Prozesshaften, die Figur des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung, die Figur des konkreten Wollens und Tuns der Einzelnen gegenüber der anonymen Macht der Verhältnisse. Diese Grundfiguren sind unserem Denken so geläufig, dass sie im alltäglichen Gespräch kaum auffallen und spezifischer Aufmerksamkeit bedürfen, um erkannt zu werden. Sie erzeugen eine hohe Plau217

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

sibilität der Argumente und Bereitschaft zur schnellen Zustimmung. Wenn eine Firma in Schwierigkeiten gerät, wird als Grund schnell akzeptiert, dass »das Management schlecht« sei ; wird behauptet, die Schwierigkeiten kämen daher, weil sie mit Produkten aus Billig-Lohn-Ländern konkurrieren müsse, klingt dies genauso einleuchtend ; fällt schließlich die Bemerkung, es seien die hohen betrieblichen Sozialleistungen und die Steuerlast gewesen, die zum Zusammenbruch führten, wird auch das akzeptiert. Unser Alltagsdenken zeichnet sich dadurch aus, dass es in der Anerkennung von Antworten einer Logik der Beliebigkeit folgt, die jeweils das gelten lässt, was gerade plausibel klingt, gegebenenfalls auch das Gegenteil. Deshalb fügen sich auch veröffentlichte Meinung und die Ansichten der Bevölkerung so leicht ineinander. Wissenschaftliches Denken wurde immer schon versucht, in der Weise vom alltäglichen Denken abzusetzen, dass das Stellen von Fragen, der Weg der Antwortsuche und die Fassung der »Ergebnisse« dieses Prozesses in Regeln eingebunden wurden, die ihrerseits als notwendig und sinnvoll begründet und im Wissenschaftsbetrieb anerkannt wurden. In diesem Sinne boten eine aristotelische Philosophie, eine scholastische Theologie und schließlich die neuzeitliche rationale Wissenschaft immer Regelsysteme des »richtigen« Fragens und Antwortens, das sich vom Denken im Alltag unterscheiden sollte. Nun ist es tatsächlich das Problem der Sozialwissenschaften, dass ihnen diese Sozialwelt (wie Alfred Schütz sie genannt hat) mit dem Denken und dem Handeln der Menschen vorgegeben ist, dass die Wissenschaftler selbst Teil dieser Sozialwelt sind und trotzdem die Sozialwissenschaften auf andere Weise von dieser nämlichen vorgegebenen Welt Erfahrung zu gewinnen trachten, als die in der Sozialwelt lebenden Menschen es zu tun pflegen. Das besondere Problem der Sozialwissenschaften, näherhin der Soziologie, lässt sich, nach dem bisher Gesagten, durch eine Reihe von Postulaten verdeutlichen. Die Gesellschaft ist jene Realität, auf die die Wissenschaft ihre Erkenntnisabsicht richtet, doch zugleich ist die Wissenschaft auch ein Teil dieser Gesellschaft. Auch in ihr handeln und denken die Menschen nach den Mustern der Alltagswelt, auch in ihr gelten Normen, wird Kapital für Produktion gebraucht, werden Karrieren gemacht und vereitelt, herrschen moralische und politische Auffassungen, ist die Arbeit am Erkenntnisfortschritt zugleich auch ein Kampf um Anerkennung und Durchsetzung von Klassifikationen, Erklärungen, Interpretationen – um »Wahrheit«. Die Vorstellung, dass der Sozialforscher die Sozialwelt untersuchen, sie gewissermaßen von außen betrachten könne, ohne sie durch seine Tätigkeit zu beeinflussen oder in seinem Denken von ihr beeinflusst zu werden, ist unhaltbar. Damit wird der Sachverhalt aber zugleich auch komplexer. Ein Begriff vom Menschen, der 218

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

lernt, denkt, fühlt und handelt, ist ohne ein Vorverständnis von Gesellschaft nicht denkbar, ebenso wenig ein Begriff von Gesellschaft ohne ein Vorverständnis vom Menschen ; und überdies ist ein Begriff von Wissenschaft nicht ohne ein bereits geklärtes Vorverständnis von Mensch und Gesellschaft denkbar. Die Unauflösbarkeit dieses triadischen Verhältnisses begegnet uns dauernd – und auch Hinweise auf den Preis, den wir zahlen, wenn wir es willkürlich auflösen oder eines der drei Momente außer Acht lassen. Gegenüber dem alltäglichen Denken wird in der Wissenschaft geltend gemacht, dass das Finden von Antworten auf gestellte Fragen methodisch zu erfolgen habe, d. h. systematisch und Schritt für Schritt bestimmten Regeln folgend, sodass der Weg, auf dem Erkenntnisse erlangt werden, nachvollzogen und kritisiert werden kann. Von den frühesten Anfängen an wurde diese Forderung auch in der Soziologie erhoben ; ein Verlassen der Alltagsbegriffe, die Entwicklung von Regeln für die wissenschaftliche Arbeit (Methoden), die Ausarbeitung von Theorien, die angeben können sollten, unter welchen Bedingungen welche Regeln am sinnvollsten anzuwenden seien (Methodologie), dienten geradezu einer Abgrenzung auch in der Soziologie gegenüber anderen Wissenschaften wie der Psychologie oder der Philosophie und Geschichte. Heute haben wir im Rahmen der Soziologie eines der am weitesten entwickelten und institutionalisierten Systeme solcher Regeln der wissenschaftlichen Arbeit im Bereich der empirischen Sozialforschung vor uns – mit all ihren Möglichkeiten und Errungenschaften, aber auch Schwächen und künstlichen Spezialproblemen. Die Grundfiguren des alltäglichen Denkens, wie wir sie kurz als typisch für das Alltagsdenken angedeutet haben, finden sich, wenn auch in ungeheuer verfeinerter und gegen Beliebigkeit abgesicherter Form, in der Methodologie und Forschungslogik der Soziologie wieder. Auch in ihr wird nach kausalen Zusammenhängen, Entwicklung und Wandel, nach dem systematischen Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft gesucht. Wenngleich auch in der Wissenschaft das Ideal reiner regelgeleiteter Erkenntnis selten erreicht wird, so besteht doch ein entscheidender Unterschied zum Alltagsdenken darin, dass verbindliche Traditionen entstanden sind, in denen jeweils bestimmte Regelsysteme zur Erkenntnisgewinnung entwickelt und ausdifferenziert wurden (Wissenschaft als »erkenntnistheoretisches System«) ; sie stehen zueinander in Konkurrenz, sind manchmal miteinander nur vermeintlich, manchmal tatsächlich nicht vereinbar, und häufig genug kämpfen Wissenschaftler von diesen Positionen aus gegeneinander im Stil von Glaubenskämpfen. Wir sehen ja recht deutlich, wie die sogenannte Finanzkrise diese Glaubenskämpfe forciert hat, in denen immer zwischen Guten und Bösen unterschieden wird. 219

Theoretische Nachüberlegungen – selbstkritisch

Grundfragen nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft sind, nach diesen Vorüberlegungen, nicht einfach als Fragen im materiellen Sinn zu begreifen, als auf konkrete Gegebenheiten zielende Fragen über den sozialen Wandel, über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im Sinn einer akzeptierten Dualität, über Klassen, Stände, Parteien, Institutionen, über Produktion und Konsum, über Rollen, Lernen, Sozialisation und Persönlichkeit. Solche Grundfragen zu stellen heißt, sie so zu formulieren, dass das Zentrum der Antwort(en) zwar Erkenntnis über empirische Gegebenheiten enthält, zugleich aber immer auch die Reflexion darüber erzwungen wird, auf welche Empirie die Frage zielt, welches Interesse daran besteht, dass die Frage gestellt wird, und schließlich, welche Konsequenzen es hat, dass ihre Beantwortung auf eine bestimmte Weise (Methode) versucht wird. Diese Diskussion zu führen heißt also nicht, reine Theorien zu konstruieren, sondern nach Problemen zu fragen, die immer wieder auftauchten, die jeweils historisch spezifischen Antworten nachzuvollziehen und kritisch zu vergleichen, das Interesse zu explizieren, das dabei mit einem jeweils bestimmten Begriff von Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft verbunden war, und schließlich die Folgen zu reflektieren, die sich mit den je gewählten methodischen Wegen verbanden. Auf manche dieser Fragen sind wir eingegangen, andere blieben am Rande liegen, zumindest aber verstehen wir dieses Buch als ein Eingreifen in das Sprechen über Theorien, die unsere gegenwärtige Welt oder einige ihrer Ausschnitte erklären wollen. Im Übrigen waren wir uns während der gesamten Arbeit nie ganz sicher, ob eine ernsthafte Beschäftigung mit den gegenwärtigen Sprachspielen nicht anders könne, als in Satire zu münden.

220

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!NMERKUNGEN

 Vgl. zu diesen Begriffen Amann (b).  Die weiteren Ausführungen in diesem Unterkapitel sind in etwas veränderter Form entnommen aus : Amann (b).  Für eine ausführliche Diskussion des Neoliberalismus siehe Amann (b).  Natürlich zeigt diese Aussage einige Verwandtschaft mit dem Paradoxon des Epimenides »Alle Kreter lügen«, das die Logiker bis vor Bertrand Russell beschäftigte, ohne es auflösen zu können. Erich Streissler ist klug genug, um das mitbedacht zu haben.  Einige der folgenden Überlegungen sind dem Wikipedia-Artikel »Produktivität« entnommen (abgefragt über Google am ..).  Wir verwenden hier bewusst die Fachausdrücke dieses Diskurses (die ja allgemein verbreitet sind), denn nichts verrät mehr über die Eigenart eines Denkens als die Sprache, die es zum Ausdruck bringen soll.  Zu Konzeptionen der Moderne und ihrem Bezug zur Globalisierung vgl. Amann (b).  Auf dieses Thema wird hier nicht näher eingegangen ; einige Ergebnisse zum Thema Ressourcen und Wertung des Beitrags der älteren Generation für die jüngere finden sich bei Amann .  Die bekannten Defizite in der gerontologischen Diskussion über Geschlechterdifferenzen spielen hier zentral herein. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Erfahrungswissen sich nach männlichen und weiblichen Lebensvollzügen höchst unterschiedlich darstellt und deshalb auch in der gesellschaftlichen Praxis unterschiedliche Quellen und Funktionalitäten hat. Dies würde z. B. auf den von uns mit »Topik« bezeichneten Bereich vor allem zutreffen. Ausgeführte theoretische Konzeptionen und empirische Forschung zu geschlechtstypischem Erfahrungswissen sind uns in der Gerontologie aber nicht bekannt.  »Bundesplan für Seniorinnen und Senioren, Teil I«. Durchgeführt im Zentrum für Alternswissenschaften, Gesundheits- und Sozialpolitikforschung (ZENTAS) an der Landesakademie Niederösterreich. Wissenschaftliche Leitung : Anton Amann.  Hier wird auf ein Projekt verwiesen, das von der Universität Wien gefördert und über das Institut für Soziologie, Institut für Erziehungswissenschaft und Institut für Pflegewissenschaft durchgeführt wird : »An empirical investigation into the life world and life quality of nursing home residents« (Leitung : Anton Amann, Wilfried Datler, Elisabeth Seidl).  Natürlich verdeckt die Sprache der Ökonomie und der Betriebswirtschaft mit ihren Begriffen von Kaufkraft und Marktsegmenten, von Zielgruppen und Produktpräferenzen, dass es ständig auch darum geht, die Älteren umfangreicher als bisher dem Konsumzwang zu unterwerfen.  Dieses Konzept ist erkenntlich eine Differenzierung des Konzepts «Aktives Altern«, das durch die Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) lanciert wurde (http ://www.who.int/hpr/ageing).  Hier ist es nicht nötig, auf die ganze Literatur einzugehen, welche die genannten Argumente unterstützt, es reicht durchaus, auf den zweiten Altenbericht der Bundesregierung (Deutschland) und auf den Seniorenbericht der Bundesregierung (Österreich) hinzuweisen.

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Anmerkungen

 Amann, Felder, Gutschik (). Das Projekt basierte auf einer Zufallsstichprobe von  - bis -jährigen Österreichern und Österreicherinnen (gefördert vom Bundesministerium für Soziales, Generationen und Konsumentenschutz).  Beim deutschen Alterssurvey wurden allerdings auch deutlich jüngere Bürger in die Befragung miteinbezogen.  Als ergänzendes empirisches Material kann gelten : Amann, Ehgartner () und Amann, Felder ().  Die Messung von Sozialkapital (measuring the dimensions of social capital) geht von folgenden Dimensionen aus : Gruppen und Netzwerke, Vertrauen, kollektive Aktionen, soziale Inklusion und Information und Kommunikation.  Die in diesem Abschnitt referierten Daten und Konklusionen stammen aus Gehmacher ().  Das WHO Healthy Cities Programme ist auf Europa konzentriert, im Juni  waren es  Städte, die sich an diesem Programm beteiligt haben.  Das Signum der drei FFF wurde von Ernst Gehmacher geschaffen.  Die Grenzziehungen innerhalb der Gruppe der über - oder über -Jährigen schwankt in der Literatur allerdings erheblich. Auch das Dritte und Vierte Alter sind keine eindeutig und allgemein verwendeten Klassifikationen. »Hochaltrigkeit« wird in diesem Text um das . bzw. . Lebensjahr angesetzt, und zwar abhängig von den in der Sozialstatistik jeweils gewählten »Grenzen« – und selbst hier ist die Lage nicht eindeutig, da in der Literatur sich Differenzierungen innerhalb der Gruppe der Hochaltrigen abzuzeichnen beginnen.  Alle folgend referierten Ergebnisse werden aus Böhnke () zitiert.  Entfremdung wird über folgende Fragen definiert : Ich bin optimistisch für die Zukunft ; um Erfolg zu haben, muss man heute Dinge tun, die nicht korrekt sind ; ich fühle mich von der Gesellschaft verlassen ; Glück zu haben ist wichtiger als harte Arbeit für Erfolg ; das Leben ist heute so kompliziert geworden, dass ich fast keinen Weg finde.  Inzwischen sind wir unsicher, ob er nicht ein aufmerksamer Leser von Will Rogers (–) war.  Für weitere Lektüre ist zu empfehlen Viidik, Hofecker ().  Die Überlegungen dieses Unterkapitels haben wir grob schon einmal ausgeführt (Amann ). Inzwischen sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass der dort verwendete Begriff der »Weisheit« nicht die nötige Präzision erreichen konnte.  Edelstein, Noam (). Die einschlägigen Überlegungen sind  Für eine detaillierte Diskussion siehe Amann (b).  In der weiteren Diskussion wird »regional« im Sinne von Weltregionen verwendet, wie sie in den demografischen Veröffentlichungen der UN definiert sind.  Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat ein Geburtenniveau unterhalb der sogenannten Nettoreproduktionsrate mit , überlebenden Kindern pro Frau. Hier ist auch gleich dem verbreiteten Vorurteil über die geburtenfreudige islamische Bevölkerung entgegenzutreten : Der Iran hat in den letzten  Jahren das schnellste Absinken der Geburtenrate in der Menschheitsgeschichte erlebt (soweit wir dies überprüfen können). Alle genannten Werte nach : Lutz, Sanderson, Scherbov ()  Der Begriff ist ausdrücklich nicht nur ökonomisch zu verstehen.  »Resistência Nacional Moçambicana« : Diese Widerstandsbewegung wurde  mithilfe der weißen Minderheitsregierung Rhodesiens als antikommunistische Widerstandsbewegung gegründet,

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Anmerkungen

unter deren Deckmantel sie das kommunistisch ausgerichtete, von der Sowjetunion unterstützte Einparteiensystem der Frelimo in Mosambik bekämpfen wollte. Sie ist die ehemalige einzige Regierungspartei Mosambiks und steht für »Frente da Libertação de Moçambique« (Mosambikische Befreiungsfront). Sie gründete sich in den ern als antikoloniale Befreiungsbewegung und hat am . Juni  die Unabhängigkeit von Portugal erreicht.  Die folgenden Überlegungen wurden bereits in Amann () ausgeführt, auf detaillierte Quellenangaben wird verzichtet. Das Buch ist vergriffen.  Dazu der einschlägige Artikel über die gierigen Greise aus dem Wochenjournal »Profil« vom ...  Diese Leitbegriffe verweisen in beinahe allen Fällen auf dahinterstehende Konzepte, die in der Forschung ausgearbeitet wurden. Da sie zu den bekannten und etablierten Konzepten in der gerontologischen und soziologischen sowie psychologischen, in der biologischen und philosophischen Forschung zählen, wird auf nähere Quellenangaben verzichtet. Bei der jeweils ersten Nennung werden die Leitbegriffe kursiv gesetzt.

231

0ERSONENREGISTER

Abel-Smith, B. ,  Adenauer, K.  Adler, A.  Adorno, T. W.  Akerlof, G. ,  Albert, St. M. ,  Alighieri, D.  Allmendinger, J.  Amann, A. , , ff., , f., , ff., f., , ff , f., , f., , , f., , , f., f., , , ff., f., , , , , f. Amery, C., f.,  Andersson, L. f.,  Antes, K.  Aquino, Th. von  Arendt, H.  Aristoteles f., , ,  Augustinus 

Böhmer, F.  Böhnke, P. , , ,  Borges J. L.  Bourdieu, P.  Brodbeck, K. H. f.,  Bruder, J. ,  Bürger, M. 

Backes, G.M. , ,  Baltes, M. M. , , , , ,  Baltes, P. B. , , ,  Barrientos, A. f.,  Bass, S. A. ,  Beck, U. f., ,  Bellebaum, A.  Beier, W. ,  Benn, G.  Bentham, J. , f., f. Berger, P. L. ff., ,  Bernanke, B.  Biggs, S.  Bischof, Ch. f.,  Bloch, E , , f Blume, O.  Bobbio, N. 

Daatland, S. O.  Dahrendorf, R. ,  Dante, A.  Datler, W.  Descartes, R.  Diener, E. ,  Döhnke, P.  Durán-Arenas, L. ,  Durkheim, E. ,  Dux, G. , f., , 

Camp, C.G. ,  Campani, G. ,  Carreón, J., ,  Carstensen, L. ,  Cattell, M. G. ,  Chardin, T. de  Chen, Y. P. ,  Cicero, M. T.  Cohen, R.  Coleman, J f.,  Cuaresma, J. C. , 

Edelstein, W. ,  Ehgartner, G. , ,  Engeln, A. ,  Epimenides  Eppler, E.  Erikson, R. , 

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Personenregister

Etzioni, A. , , ,  Felder, D. , , ,  Ferguson, N. ,  Fichte, J. G.  Filipp, S. H. ,  Fink, U. ,  Flade, A.,  Foccart, J.  Forrester, J. W.  Forrester, V.  Foucault, M.  Frahm, E.  Francis, G. C. ,  Franco, F. ,  Frankl, V.  Freud, S. , , , ,  Frye, N.  Friedman, M. , ,  Fromm, E. ,  Füllsack, M.  Galbraith, J. K. f.,  Gehmacher, E. , , , ,  Gerling, V.  Ghai, D. ,  Giddens, A.  Gigon, O.  Gluske ,  Goldsmith, E.  Gorman, M. ,  Goujon, A. ,  Greenspan, A.  Gregor der Große  Gronemeyer, M. ,  Gutschik, R. ,  Habermas, J. ,  Haller, M.  Haub, C. , ff., ,  Hegel,G. W. F. ,  Heraklit, E. v. ,  Heslop, A. ,  Hettlage, R. , , f

Hilbert, J.  Hirsch, R. D. , ,  Hobbes, Th. f Hofecker, G. , , ,  Holm,  Horkheimer, M.  Hut, S.  Hutcheson, F. ,  Jansen, B. ,  Johnson, S.  Jonas, H.  Jung, C. G.  Kakwani, N. ,  Kant, I.  Karl, F. ,  Kern, A. O., S. ,  Kment, A. f.,  Kohl, H.  Kohlberg, L.  Kolland, F. , ,  Kraus, K.  Krugman, P. , , ,  Kruse, A. , ,  Künemund, H. f, ff.,  Kwa, A. ,  Lang, G. f., ,  Lange, A.  Lauterbach, W.  Lehr, U. ,  Lentsch, A. ,  Lernet-Holenia, A. ,  Lessenich, St. ,  Leutert, G.  Lichtenberg, G. Ch.  Limbourg, M.  Locke, J.  Löger, B. , ,  Luckmann, Th.  Lukrez (Titus Lucretius Carus)  Lutz, W. , , , , ,  Lyotard, J. F. f., 

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Personenregister

Mach, E. ,  Majce, G.  Mander, J. , ,  Mandl, H. ,  Mann, Th.  Mannheim, K.  Marx, K. , ,  Mayer, K. U. ,  McGhee, P. E. ,  Mead, G. H. ,  Meadows, D. ,  Merkel, A.  Mill, J. St. ff Milling, P.  Mittelstraß, J.  Mohr, H. ,  Mollenkopf, H.  Montada, L. , ,  Moore, G. E.  Müller, K. H. f.,  Müller, K. M.  Münch,R. f.,  Myrdal, G.  Naegele, G. , , f., ,  Necker, J.  Newton, I.  Niederfranke, A.  Niedermüller, H.  Noam, G. ,  Noll, H. H:  Öberg, P. f.,  Offe, C. , f., ,  Olk, Th. ,  Orwell, G.  Parsons, T.  Pasero, U.  Piaget, J. ,  Platon,  Plessner, H. ,  Polanyi, M. ,  Protagoras 

Quesnay, F.  Radebold, H. , ,  Reinmann-Rothmeier, G. ,  Ribbert, H.  Ries, W.  Rodin, A.  Rogers, W.  Rorty, R.  Rosenmayr, L.  Rotzsch, W.  Ruch f.,  Ruiz-Torres, A.  Russell, B. ,  Saint-Simon, C. H. de  Samir, K. C. ,  Sánchez, R. ,  Sanderson, W. , , , ,  Scheler, M.  Schelsky, H. ,  Scherbov, S. , f. Schlag, B. ,  Schmitz-Scherzer, R. ,  Schopenhauer, A.  Schröder, G.  Schroeter, K. R.  Schütz, A.  Schultz, U. , ,  Schulz, W. ,  Schulze, G. ,  Seidl, E.  Seneca, L. A. ,  Scherbov, S. , , , ,  Shakespeare, W.  Shaw, B.  Shiller, R. ,  Simmel, G. , , , , ,  Smith, A. , , ,  Smith, I.  Solon  Spicker, I.  Spieß, K. ,  Spinoza, B. de 

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Personenregister

Spinner, H. ,  Sprengseis, G.  Staudinger, U. , ,  Sterns, H. L. ,  Stifter, A.  Streissler, E.  Subbarao, K. ,  Süssmuth, R.  Tews , , ,  Thackerey, W.  Thatcher, M.  Thomae, H. , , ,  Tocqueville, A. de  Tracy, M. B. ,  Turgot, A. R. J. , Uchatius, W. ,  Uljanov, W. I. (Lenin) 

Ullrich, C. G. ,  Vallejo, M. ,  Veenhoven, R. ,  Vega, L. de  Viidik, A. ,  Voß, J. H.  Wahl, H.-W.  Wallraff, G.  Weber, M. , , , f., , ,  Weidekamp-Maicher, M.  Weiß, J.  Wilson, G. ff.,  Wolff, H. ,  Zeman, P. ,  Zweyer K., f., 

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Strenge Interdisziplinarität in der Forschung, wie sie in den Natur- und Computerwissenschaften sich etabliert hat, konnte in der Soziologie nie durchgesetzt werden. Mit der Vorstellung von mehr Interdisziplinarität wird aber doch die Hoffnung auf eine weniger beengte und damit zugleich weltoffenere Perspektive einer Wissenschaft verbunden. In diesem Buch wird nun nicht den üblichen Kritiken nachgegangen, sondern im materiellen Sinn einem anderen Konzept gefolgt. Es gründet auf drei Perspektiven: Interdisziplinarität als wissenschaftliche Haltung dafür, dass in konsequenzenreicher Weise in verschiedenen Disziplinen in verschiedenen Sprachen über Probleme derselben Welt gesprochen wird; Interdisziplinarität als theoretisch-methodische Öffnung von Einzeldisziplinen, verbunden mit der Notwendigkeit inter- oder transkultureller Öffnung; Interdisziplinarität als besondere Form der Expertise im Verhältnis zwischen Forschung und Gesellschaft. In insgesamt 16 Beiträgen werden diese Perspektiven empirisch und theoretisch in nationalen und transnationalen Analysen eröffnet.

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FERDINAND CAP

WIE MAN 130 JAHRE ALT WIRD DER MENSCH ALS WESEN DER NATUR

Das menschliche Leben ist wohl der höchste Wert, den die Natur hervorgebracht hat. Was aber ist das Leben, wie kam es dazu und warum und wann geht es zu Ende? Warum lebt der Mensch nicht unendlich lang? Weshalb kommt es zum natürlichen Alterstod und was könnte man tun, um möglichst lange zu leben? Gesundheit, Leben und Tod können heute naturwissenschaftlich voll verstanden werden. Der österreichische Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, mit dem der Verfasser einige Zeit zusammenarbeiten konnte, hat als Erster die naturwissenschaftlichen Grundlagen für Leben, Altern und Sterben beschrieben. Das vorliegende Buch ist eine Weiterführung und Vertiefung seiner Gedanken und schlägt Verhaltensweisen vor, wie man älter werden kann. 2008. 194 S. GB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78202-5

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Die Aufgaben und Probleme der Pflege und Betreuung von alten Menschen, Kranken und Hilfsbedürftigen sind Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Die Sorge für andere wird als alarmierender Notstand und immenser Kostenfaktor ebenso diskutiert wie als unterbezahlte Berufsarbeit und unbezahlbare Familienarbeit. „Care“ ist auch im Deutschen zum Schlüsselbegriff für diesen Sachverhalt geworden. „Sich Sorgen“ verschiebt den Akzent zur Empathie, zu den nicht kalkulierbaren persönlichen Beziehungen zwischen denen, die pflegen und sich kümmern, und denen, die der Pflege bedürfen. Die Autorinnen dieses Heftes erörtern die Chancen eines Ethos fürsorglicher Praxis in der Dienstleistungsgesellschaft, durchmustern das skandinavische Modell des „Caring State“, führen zurück zu den katholischen Frauenkongregationen des 19. Jahrhunderts und berichten über die Arbeit von Gemeindeschwestern der Diakonie nach 1945. Schließlich erhellt ein Gespräch mit einer Altenpflegerin, wie sich die vorgebliche Modernisierung der Pflege vor Ort gestaltet. ÖÖ3ÖÖ37 !""Ö"2ÖÖ8ÖÖ--Ö )3".Ö    

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Standen alte Menschen, vor allem alte Frauen, in der Antike tatsächlich am Rande der Gesellschaft oder sind Altersdiskurse eher als Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen zu lesen? Wie war die Altersfürsorge in der Neuzeit organisiert – etwa im päpstlichen Rom, wo Frauen wie Männer auf ein komplementäres System von institutioneller Versorgung und familiärer Hilfe hoffen konnten? Und inwieweit veränderten sich Bedingungen, Absicherungen und Erfahrungen im Alter im Laufe des 20. Jahrhunderts, an dessen Ende ein rascher Abbau der westlichen Wohlfahrtsstaaten steht und damit die Abnahme von Schutzmaßnahmen insbesondere für Frauen im hohen Alter? Im aktuellen Heft der »L’Homme« werden solche Fragen in den Themenbeiträgen ebenso wie in Rezensionen und Forschungsberichten beantwortet. Persönliche Dimensionen des Altwerdens und Altseins werden zudem durch ein Interview mit der feministischen Historikerin Gerda Lerner veranschaulicht.

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ISBN 978-3-412-06406-8

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2006. 166 S. 3 s/w-Abb. Br.

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L’Homme, Band 17,1

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Die Zeitschrift »L’HOMME« erscheint zweimal jährlich. Das Jahresabonnement kostet 34,90 [D] (ermäßigt 24,70 [D]).