Sozialmoral und Verfassungsrecht: Dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerikanische Rechtstheorie [1 ed.] 9783428500543, 9783428100545

Gegenstand der Untersuchung sind das Problem richterlicher Wertungen sowie der Einfluß gesellschaftlicher Wertanschauung

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Sozialmoral und Verfassungsrecht: Dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerikanische Rechtstheorie [1 ed.]
 9783428500543, 9783428100545

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H E I K O SCHIWEK

Sozialmoral und Verfassungsrecht

Schriften zur Rechtstheorie Heft 192

Sozialmoral und Verfassungsrecht Dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerikanische Rechtstheorie

Von Heiko Schiwek

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schiwek, Heiko: Sozialmoral und Verfassungsrecht : dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerikanische Rechtstheorie / von Heiko Schiwek. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 192) Zugl.: Dresden, Techn. Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10054-9

Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10054-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Für Miwako

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1999 von der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen. Sie entstand 1997 während eines Studienaufenthalts an der Georgetown University, Washington D.C. Mein größter Dank gilt Herrn Prof. Dr. Martin Schulte. Er hat diese Arbeit gefördert und mich vielfältig unterstützt. Den weiteren Gutachtern meines Promotionsverfahrens, Herrn Prof. Dr. Joachim Lege und Herrn Prof. Dr. Rolf Gröschner, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Für viele anregende Diskussionen während meines Aufenthalts an der Georgetown University habe ich Herrn Prof. Mark V. Tushnet zu danken. Für die kritische Lektüre des Manuskripts bedanke ich mich bei Dieter Hehl, Matthias Schaller und Dr. Carola Vulpius. Für großzügige finanzielle Unterstützung bin ich zu Dank verpflichtet. Die Arbeit wurde durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert, der vorhergehende Studienaufenthalt an der Dickinson School of Law durch die Fullbright-Kommission. Herrn Prof. Dr. jur. h.c. Norbert Simon danke ich herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Schriften zur Rechtstheorie". Heiko Schiwek

Inhaltsübersicht Einleitung Α. Einführung

21

Β. Vorgehens weise

24 1. Teil

Die Rechtsprechung des Supreme Court zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause Α. Die Rechtsprechung des Supreme Court bis 1870

29

B. Die Rechtsprechung des Supreme Court von 1870-1930

34

C. Rechtsprechung des Supreme Court vom Ende der Lochner-Ära bis zum Warren-Court 59 D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

74

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

99

F. Weitere suspekte Klassifizierungen unter der Equal Protection Clause

111

G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause

114

H. Die Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

124

J. Nicht als suspekt anerkannte Klassifizierungen beziehungsweise nicht anerkannte fundamentale Rechte 149 K. Die Rolle der Sozialmoral in der Rechtsprechung des Supreme Court systematisierende Betrachtung 171 2. Teil Die Behandlung der Sozialmoral in der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie A. Die amerikanische Rechtstheorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts

194

B. Oliver Wendell Holmes

196

C. Benjamin Nathan Cardozo

210

D. Roscoe Pound

219

10

Inhaltsübersicht

E. Der legal realism und seine Kritiker

220

F. Die Debatte um den Warren-Court - Paradigmenwechsel in der amerikanischen Verfassungstheorie 232 G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie in den Vereinigten Staaten 242 H. Die Methodik des Supreme Court in den Augen der amerikanischen Rechtstheorie 266 J. Fazit: Verfassungsinterpretation unter Berücksichtigung der Sozialmoral.... 273

3. Teil Ausblick und Methodenvergleich - Sozialmoral und die deutsche Verfassungstheorie A. Zur Vergleichbarkeit von deutschen und amerikanischen Interpretationstheorien

282

B. Grundfragen der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

284

C. Der deutsche Ansatz

286

D. Einzelne deutsche Stellungnahmen zur Verfassungsinterpretation

288

E. Zusammenfassung zu den deutschen Interpretationstheorien

316

F. Schluß

321 Literaturverzeichnis

322

Personen- und SachWortverzeichnis

335

Entscheidungsverzeichnis

338

Inhaltsverzeichnis Einleitung Α. Einführung

21

Β. Vorgehens weise

24

I.

Methodischer Ansatz

24

II.

Begriff der Sozialmoral

25

III. Gang der Darstellung

27

1. Teil Die Rechtsprechung des Supreme Court zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause Α. Die Rechtsprechung des Supreme Court bis 1870 I.

Der Supreme Court - Zulässigkeit verfassungsgerichtlicher Kontrolle . . 29

II. Dred Scott v. Sandford - Bürgerrechte für Sklaven? 1. Die Urteilsbegründung von Chief Justice Taney 2. Kritische Analyse B. Die Rechtsprechung des Supreme Court von 1870-1930 I.

29

Die Verabschiedung der Bürgerkriegs-Amendments

31 31 33 34 34

II. Die Interpretation der Privileges and Immunities Clause 35 1. Bradwell v. Illinois - das Recht von Frauen auf Zulassung als Rechtsanwältin 35 a) Die Mehrheitsmeinung 35 b) Die zustimmende Meinung des Richters Bradley 36 c) Kritische Analyse 36 2. Die Slaughter-House Cases - das Ende der Privileges and Immunities Clause 37 a) Die Entscheidung 37 b) Kritische Analyse 38 III. Die Auslegung der Equal Protection Clause 39 1. Strauder v. West Virginia - die Beteiligung von Schwarzen an Geschworenengerichten 39 a) Die Entscheidung 39 b) Anmerkung 40

12

Inhaltsverzeichnis 2. Yick Wo v. Hopkins - die Equal Protection Clause als allgemeines Willkürverbot 40 3. Plessy v. Ferguson - die „separate but equal"-Doktrin 41 a) Die Mehrheitsmeinung 41 b) Harlans Dissent 43 c) Kritische Analyse 43 IV. Die Interpretation der Due Process Clause zu Anfang des 20. Jahrhunderts 1. Der Schutz ökonomischer Interessen - die Lochner-Rechtsprechung a) Allgeyer v. Louisiana b) Die Begründung der Abstimmungsmehrheit in Lochner v. New York c) Der Dissent Harlans d) Holmes' Dissent e) Kritische Analyse f) Die Lochner-Ära 2. Das Ende der Lochner-Rechtsprechung a) Die Kontroverse zwischen Supreme Court und Exekutive - der „court packing plan" b) Der schrittweise Abschied von der Lochner-Rechtsprechung.... c) West Coast Hotel v. Parrish - die Wende des Supreme Court... aa) Die Begründung der Abstimmungsmehrheit bb) Der Dissent des Richters Sutherland cc) Kritische Analyse d) Das Ende der Lochner-Doktrin 3. Der Schutz nichtökonomischer Interessen unter der Substantive Due Process Clause a) Meyer ν. Nebraska - das fundamentale Recht auf Erziehung . . . aa) Die Urteilsbegründung bb) Kritische Analyse b) Pierce ν. Society of Sisters - das Recht auf Privatschulunterricht

45 45 45 46 47 48 49 50 51 51 52 52 52 53 53 55 56 56 56 57 58

C. Rechtsprechung des Supreme Court vom Ende der Lochner-Ära bis zum Warren-Court 59 I.

Die Inkorporationsdebatte 1. Palko v. Connecticut - „the concept of ordered liberty" 2. Adamson v. California - die Β lack/Frankfurter-Debatte a) Frankfurters Position b) Der Dissent Blacks c) Kritische Analyse

II. Die Flag-Salute-Kontroverse 1. Minersville School District v. Gobitis

59 59 60 61 61 62 64 64

Inhaltsverzeichnis 2. West Virginia State Board of Education ν. Barnette - die Mehrheitsmeinung 65 3. Der Frankfurter-Dissent in West Virginia State Board of Education v. Barnette 66 4. Anmerkung zu den Flag-Salute-Fällen 67 III. Die Herausbildung des Strict-Scrutiny-Standards 68 1. Skinner ν. Oklahoma - das Recht auf Fortpflanzung 69 2. Fälle zur Behandlung von Personen japanischer Herkunft während des zweiten Weltkriegs 70 a) Hirabayashi v. U.S 70 b) Korematsu v. U.S 71 c) Kritische Analyse 73 D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court I.

Brown v. Board of Education 1. Die Entwicklung der „separate but equal"-Doktrin seit Plessy v. Ferguson 2. Die Urteilsbegründung in Brown v. Board of Education 3. Anmerkung zur Urteilsbegründung 4. Boiling v. Sharpe a) Die Urteilsbegründung b) Anmerkung zu Bölling v. Sharpe 5. Brown v. Board of Education II 6. Der Hintergrund der Urteilsfindung in den Fällen zur Rassentrennung a) Der Vinson-Court b) Brown v. Board of Education unter Chief Justice Warren c) Boiling v. Sharpe und Brown v. Board of Education II d) Zusammenfassung

II. Die Aufhebung der Rassentrennung nach Brown v. Board of Education 1. Die Ausdehnung von Brown v. Board of Education auf andere Bereiche 2. Neuere Entscheidungen zur Aufhebung der Rassentrennung im Schulwesen III. Weitere Entscheidungen zu rassischen Klassifizierungen 1. Loving ν. Virginia - die Heirat von Schwarzen und Weißen 2. Palmore v. Sidoti - Der Supreme Court und gesellschaftliche Vorurteile 3. Kritische Analyse IV. Affirmative action - Gleichstellungsprogramme 1. Regents of the Univ. of California v. Bakke - Studienplätze für benachteiligte Bewerber a) Die Pluralitätsmeinung des Richters Powell b) Kritische Analyse

74 74 74 76 77 79 79 80 81 81 82 83 86 87 88 88 89 91 91 92 93 94 94 94 96

14

Inhaltsverzeichnis 2. Adarand Constructors Inc. ν. Pena - „Strict Scrutiny Test" für affirmative action a) Die Entscheidung b) Anmerkung

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter I.

Die Entwicklung und Ausgestaltung des „Intermediate Scrutiny Test". . 1. Reed v. Reed - Vorbote eines strikteren Kontrollmaßstabs 2. Frontiera v. Richardson - „Strict Scrutiny Test" für Geschlechtsklassifizierungen? 3. Craig v. Boren - der „Intermediate Scrutiny Test" wird erstmals artikuliert 4. Califano v. Webster und Orr v. Orr - die Anwendung des „Intermediate Scrutiny Test"

96 96 98 99 99 99 100 102 103

II. Die Rechtsprechung zum „Intermediate Scrutiny Test" seit 1980 105 1. Biologische Unterschiede 105 a) Michael M. v. Superior Court 105 b) Rostker v. Goldberg 106 2. Geschlechtsklassifizierungen im Universitätswesen 107 a) Mississippi University for Woman v. Hogan 107 b) United States v. Virginia 108 aa) Die Mehrheitsmeinung der Richterin Ginsburg ..*... 108 bb) Der Dissent des Richters Scalia 110 3. Zusammenfassung 110 F. Weitere suspekte Klassifizierungen unter der Equal Protection Clause I.

111

Der Schutz von Ausländern unter der Equal Protection Clause - Sugarman v. Dougal 111 1. Die Urteilsbegründung des Richters Blackmun 111 2. Die Kritik des Richters Rehnquist 112 3. Anmerkung 112

II. Der verfassungsrechtliche Schutz unehelicher Kinder - Lalli v. Lalli.. . 113 G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause I.

Entscheidungen des Supreme Court zum Wahlrecht 1. Reynolds v. Sims - Wahlkreiseinteilung a) Die Mehrheitsmeinung b) Harlans Dissent c) Analyse 2. Harper ν. Virginia State Board of Elections - Wahlsteuer a) Die Mehrheitsmeinung b) Der Dissent des Richters Black c) Die Kritik des Richters Harlan d) Kritische Analyse

114 114 114 114 115 116 116 116 118 119 119

Inhaltsverzeichnis 3. Kramer v. Union Free School District - Beschränkung der Wahlberechtigung 120 II. Weitere fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause 1. Das Recht auf Zugang zu den Gerichten - Griffin v. Illinois 2. Das Recht auf Freizügigkeit - Shapiro ν. Thompson Η. Die Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960 I.

Das Recht auf den Gebrauch von Mitteln zur Schwangerschaftsverhütung 1. Der Poe v. Ullman-Dissent a) Der Dissent des Richters Harlan b) Kritische Analyse 2. Griswold v. Connecticut a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit b) Die zustimmenden Meinungen der Richter Harlan und Goldberg c) Die Dissente der Richter Black und Stewart d) Anmerkung

II. Die Rechtsprechung des Supreme Court zum Schwangerschaftsabbruch 1. Roe v.Wade a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit b) Der Dissent des Richters Rehnquist c) Kritische Analyse 2. Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch nach Roe v. Wade 3. Planned Parenthood v. Casey a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit aa) Sachverhalt bb) Präjudizien cc) Stare decisis dd) Die Rolle des Supreme Court ee) Die Ausgestaltung des fundamentalen Rechts auf Schwangerschaftsabbruch b) Der Dissent von Chief Justice Rehnquist c) Kritische Analyse

121 121 123 124 124 124 124 126 127 127 128 129 130 131 131 132 134 134 135 137 137 137 137 139 139 140 142 143

III. Beschränkungen des Zusammenlebens 145 1. Village of Belle Terre ν. Boraas 145 2. Moore v. City of East Cleveland 146 a) Die Pluralitätsmeinung 146 b) Der Dissent des Richters White 147 3. Zusammenfassung zu Village of Belle Terre v. Boraas und Moore v. City of East Cleveland 148 J. Nicht als suspekt anerkannte Klassifizierungen beziehungsweise nicht anerkannte fundamentale Rechte 149 I.

Das fundamentale Recht auf Ausbildung

149

16

Inhaltsverzeichnis 1. San Antonio Independent School District v. Rodriguez 2. Kritische Analyse II.

149 151

Massachusetts Board of Retirement v. Murgia - Alter als suspekte Klassifizierung 152

III. City of Cleburne v. Cleburne Living Center - der Schutz geistig Behinderter 153 1. Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit 153 2. Die zustimmende Meinung des Richters Stevens 154 3. Der Dissent Thurgood Marshalls 155 4. Kritische Analyse 156 IV. Die verfassungsrechtliche Behandlung von Homosexuellen 1. Bowers v. Hardwick a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit b) Die zustimmende Meinung von Chief Justice Burger c) Der Dissent des Richters Blackmun d) Anmerkung 2. Romer v. Evans a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit b) Der Dissent des Richters Scalia c) Analyse

158 158 158 159 159 160 161 161 162 163

V. Die Rechte des biologischen Vaters - Michael H. v. Gerald D. 1. Die Mehrheitsmeinung 2. Der Dissent des Richters Brennan 3. Anmerkung

164 164 164 165

VI. Das Recht auf menschenwürdiges Sterben 1. Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit b) Die Dissente der Richter Brennan und Stevens 2. Washington v. Glucksberg a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit b) Die zustimmenden Meinungen c) Kritische Analyse

166 166 166 167 167 168 169 170

K. Die Rolle der Sozialmoral in der Rechtsprechung des Supreme Court systematisierende Betrachtung 171 I.

Die Aufgabenstellung

II. Offene moralische Argumente

171 172

III. Gemeinwohlorientierte Argumente

174

IV. Die Rolle der öffentlichen Meinung.

175

V. Traditionen und Abwägungsentscheidungen

176

VI. Vorurteile

178

VII. Willkür

179

Inhaltsverzeichnis VIII. Die Interpretation des Sachverhalts

180

IX.

Argumente, die sich auf das common law beziehungsweise Gesetze der Bundesstaaten beziehen 181

X.

Die Rolle der Entstehungsgeschichte der Verfassung

183

XI.

Institutionelle Argumente

184

XII. Natur der Sache : 185 XIII. Rechtstheoretische Argumente in den Urteilsbegründungen des Supreme Court 186 1. Der Originalismus 186 2. Holmes' und Cardozos Rechtstheorie, der legal realism 188 3. Die Bedeutung der „Carolene Products Fußnote" 189 XIV. Das dreistufige Scrutiny-Schema des Supreme Court

190

XV. Ergebnis

192

2. Teil Die Behandlung der Sozialmoral in der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie A. Die amerikanische Rechtstheorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts B. Oliver Wendell Holmes

194 196

I.

Bedeutung

196

II.

Holmes' erkenntnistheoretische Position

197

III.

„The Common Law"

198

IV.

Recht und Sozialmoral

200

V.

Holmes' Verständnis von der Aufgabe der Richter

202

VI.

Holmes' Sozialdarwinismus

204

VII. Holmes als wichtigster Vertreter des amerikanischen Pragmatismus.. . 205 VIII. Die Holmes-Kritik

206

IX.

208

Zusammenfassung

C. Benjamin Nathan Cardozo I.

Der Ausgangspunkt - Holmes und die Freirechtsbewegung

210 210

II.

Die Methoden des Richters

211

III.

Recht und Sozialmoral oder die „Methode der Soziologie"

213

IV.

Sozialmoral und Verfassungsrecht

214

V.

Die Rolle der Judikative

215

VI.

Rechtssicherheit

216

VII. Cardozo und Holmes

216

VIII. Zusammenfassung zu Cardozo

218

2 Schiwek

Inhaltsverzeichnis

18 D. Roscoe Pound I.

Pounds Kritik am Formalismus

II. Die Interessentheorie Pounds E. Der legal realism und seine Kritiker

219 219 220 220

I.

Das Grundanliegen des legal realism

221

II.

Karl N. Llewellyn

222

III. Jerome Frank 1. Nichteuklidisches Denken 2. Das „menschliche Element im Recht" 3. Die Theorie des „hunch" 4. „The Law and the Modern Mind" 5. Anmerkung zu Jerome Frank

223 223 224 225 225 228

IV. Cardozos und Pounds Kritik am legal realism

228

V. Der Niedergang des legal realism

229

VI. Zusammenfassung zum legal realism

230

F. Die Debatte um den Warren-Court - Paradigmenwechsel in der amerikanischen Verfassungstheorie 232 I.

Learned Hand und Herbert Wechsler 1. Learned Hand 2. Herbert Wechslers „Neutrale Prinzipien" 3. Kritische Betrachtung

232 232 233 234

II. Die Strömung der „Reasoned Elaboration"

236

III. Weitere Theorien über die Rolle des Supreme Court 1. Louis Pollak 2. Charles Black

237 237 238

IV. Zusammenfassung zur Debatte der fünfziger Jahre

239

V. Die „Countermajoritarian Difficulty" - Alexander Bickel

240

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie in den Vereinigten Staaten 242 I.

Anforderungen an Verfassungstheorien

II. Der Originalismus 1. Die Forderungen des Originalismus 2. Das Legitimationsproblem 3. Vereinbarkeit des originalistischen Demokratiemodells mit der amerikanischen Verfassung a) Demokratietheoretische Schwächen des Originalismus b) Alternativen zum originalistischen Demokratiekonzept c) Der Amendment-Prozeß und das Generationenproblem 4. Das Machbarkeitsproblem 5. Verdienste des Originalismus

242 243 244 245 246 246 247 249 251 253

Inhaltsverzeichnis

19

III. Nichtoriginalistische Theorien 254 1. Die prozeßorientierte Theorie 254 a) John Hart Ely - „Democracy and Distrust" 254 b) Anmerkung zu Ely 256 2. Critical Legal Studies 258 3. Ronald Dworkin 259 4. Der Pragmatismus 261 a) Richard Α. Posner 262 b) Anmerkung zum Pragmatismus 264 c) Der heutige Pragmatismus und die von Holmes und Cardozo begründete Tradition 266 H. Die Methodik des Supreme Court in den Augen der amerikanischen Rechtstheorie 266 I. Stare decisis II. Verfassungsrecht als common law - Recht und Wandel 1. Die Methode des common law 2. Der Supreme Court als common-law-Gericht

267 270 270 271

J. Fazit: Verfassungsinterpretation unter Berücksichtigung der Sozialmoral.... 273 I.

Die Kritik an der Einbeziehung der Sozialmoral

273

II. Die wertende Natur der Verfassungsinterpretation

274

III. Die besondere Position der Judikative

275

IV. Das Legitimationsproblem

278

V. Grenzen pragmatischer Verfassungsinterpretation

280

3. Teil Ausblick und Methodenvergleich - Sozialmoral und die deutsche Verfassungstheorie A. Zur Vergleichbarkeit von deutschen und amerikanischen Interpretationstheorien 282 B. Grundfragen der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie I.

Fragestellungen

284 284

II. Der Zusammenhang zwischen Rechtsprechung und Interpretationstheorie 285 C. Der deutsche Ansatz

286

D. Einzelne deutsche Stellungnahmen zur Verfassungsinterpretation

288

I.

2*

Das traditionelle Modell - die canones und die Lehre von der teleologischen Auslegung 288 1. Inhalt 288 2. Verfassungsinterpretation als Gesetzesinterpretation 288

20

Inhaltsverzeichnis 3. 4. 5. 6.

Die teleologische Auslegung Rechtsfortbildung Teleologische Auslegung und amerikanisches Verfassungsrecht . . . . Das Problem der „objektiven Wertordnung'4

290 292 293 295

II. Verfassungstheorie 1. Die Verfassungstheorie als Quelle des Norminhalts 2. Grundrechte als Prinzipiennormen 3. Die Theorie der juristischen Argumentation

296 296 298 300

III. Verfassungsinterpretation als Konkretisierung 1. Konrad Hesse 2. Friedrich Müller

303 303 306

IV. Verfassungsinterpretation als Akt richterlicher Verantwortung 1. Interpretation als Entscheidung der Rechtsvernunft 2. Die Lehre vom Vorverständnis V. Weitere Theorien zur Verfassungsinterpretation

308 308 310 312

E. Zusammenfassung zu den deutschen Interpretationstheorien I.

316

Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Interpretationstheorien 316

II. Deutsche Kritik an pragmatischen Interpretationstheorien

318

III. Das Verhältnis von Theorie und Praxis

320

F. Schluß

321 Literaturverzeichnis

322

Personen- und Sachwortverzeichnis

335

Entscheidungsverzeichnis

338

Zu den hier verwendeten Abkürzungen: Kirchner, Hildebert (Hrsg.), Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl., Berlin 1993. Die Abkürzungen und Zitierweise der amerikanischen Quellen richten sich nach: The Bluebook, A Uniform System of Citation, 15. Aufl., Cambridge/Mass. 1991.

„The life of the law has not been logic: it has been experience. The felt necessities of the time, the prevalent moral and political theories, intuitions of public policy, avowed or unconscious, even the prejudices which judges share with their fellow-men, have a good more to do than the syllogism in determining the rules by which men should be governed."1

Einleitung Α. Einführung Die Anwendung von Rechtsnormen wird mit dem Bild der logischen Subsumtion nicht hinreichend beschrieben. Die Lösung rechtlicher Probleme ist nicht ohne Wertungen des Interpreten möglich. Die Frage, welche Wertungen bei der Entscheidung von Fällen eine Rolle spielen dürfen, steht im Zentrum heftiger Kontroversen, die nicht nur in Deutschland geführt werden. Gegenstand dieser Untersuchung ist der Einfluß von Wertungen, die ihren Ursprung in der Sozialmoral haben, auf die Interpretation der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Recht und Moral beschäftigt die amerikanische Verfassungsdiskussion bereits seit 1787, dem Jahr der Verabschiedung der Verfassung. 2 Besonders anfällig für den Wertewandel sind die unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Normen der Verfassung. Zwei dieser Normen, die Equal Protection Clause und die Substantive Due Process Clause des 14. Amendments, stehen im Zentrum des dogmatischen Teils der Arbeit. Die Rechtsprechung des Supreme Court zu diesen Vorschriften traf immer wieder auf moralische, politische und methodische Einwände. In den über 200 Jahren seit der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung fand ein tiefgreifender Wertewandel statt. Die in den Vereinigten Staaten herrschenden Wertanschauungen waren einem stetigen Veränderungsprozeß unterworfen. Das Dilemma sich ständig ändernder Wertvorstel1

O. W. Holmes, The Common Law, 1881, S. 5. Es geht in dieser Untersuchung nicht um die Frage, ob Normen, die bestimmten moralischen Ansprüchen nicht genügen, als „Recht" bezeichnet werden sollen. Vgl. zu diesem Problemkreis die Hart-Fuller Debatte: H. L. A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, 71 Harv. L. Rev. 593 (1958) und L L. Fuller , Positivism and Fidelity to Law - A Reply to Professor Hart, 71 Harv. L. Rev. 630 (1958) sowie die Analyse der Debatte durch R. Α. Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 229 ff. m.w.N. 2

22

Einleitung

lungen ging auch an den Gerichten nicht spurlos vorüber. Die Fragen, die diese Untersuchung zu beantworten sucht, hängen mit dieser Entwicklung zusammen: Wie gehen Gerichte mit einer sich ändernden Sozialmoral um? Welche Auswirkungen hat der Wandel gesellschaftlich dominanter Wertungen auf die Interpretation der Verfassung? Zwei Grundmodelle bieten sich für die Lösung dieses Wertedilemmas an. Nach der ersten Variante beschränken sich die Gerichte auf ein restriktives Interpretationskonzept. Sie lehnen jegliche Änderung ihrer Rechtsprechung aufgrund einer veränderten Sozialmoral ab. In diesem Fall sind die Gerichte gezwungen, die Verfassung so zu interpretieren, wie sie von ihren Verfassern intendiert war. Alle wertungsintensiven Entscheidungen, die nicht unmittelbar aus der Verfassung heraus beantwortet werden können, werden ausschließlich den Autoren der Verfassung beziehungsweise der verfassungsändernden Gewalt überlassen. Diese Vorgehensweise entspricht bei flüchtiger Betrachtung dem Demokratieprinzip am ehesten. Jedoch ist der die Sozialmoral als Rechtserkenntnisquelle ausschließende Weg nicht ohne Risiken. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts orientieren sich nach dieser Konzeption an Wertungen, die einer anderen Epoche zugehörig sind. Sie laufen Gefahr, antiquiert zu erscheinen. Dies kann sich auf das Ansehen der Judikative und die Akzeptanz sowie den Befolgungsgrad ihrer Entscheidungen auswirken. Das Pendant zu dem eben beschriebenen Modell bejaht das Konzept der aktivistischen Verfassungsinterpretation. Verfassungsnormen werden unter Berücksichtigung der vorherrschenden Wertungen ausgelegt. Auch diese Alternative ist nicht ohne Widrigkeiten. Zum einen ist die Sozialmoral ein nur schwer definierbares, amorphes Gebilde, dessen Inhalt zu bestimmen im Einzelfall schwierig sein kann. Außerdem kämen in einer demokratischen Prinzipien verpflichteten Verfassungsordnung Bedenken hinsichtlich der Legitimation eines Gerichts auf, das Entscheidungen wertender Art ohne Anleitung durch die Legislative trifft. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß einzelne Richter der Gesellschaft ihre Wertvorstellungen aufzwingen, ohne daß diese über ein wirksames Kontrollinstrument verfügt. Diese beiden Modelle sind die konsequentesten Möglichkeiten der Lösung der Probleme, die sich bei einer veränderten Sozialmoral ergeben. Darüber hinaus sind weitere Modelle denkbar, die den Einfluß der Sozialmoral nur in einigen Fällen oder unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen zulassen. Das Ziel dieser Untersuchung ist es festzustellen, welches Modell der Rechtsprechung des Supreme Court und der amerikanischen Verfassung am ehesten entspricht. Dabei wird sowohl auf die Praktikabilität als auch auf die normative Vertretbarkeit der einzelnen Interpretationsmodelle einzugehen sein.

Α. Einführung

23

Schließlich ist die hier behandelte Problematik nicht ohne Bezug zur deutschen Verfassungsdiskussion. Nach über 45 Jahren Geltung des Grundgesetzes treten auch im deutschen Verfassungsleben die Konflikte zutage, die die amerikanische Methodendiskussion seit langem beherrschen. Wie in den Vereinigten Staaten wird die Frage gestellt, wo die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen, inwiefern Entscheidungen zulässig sind, für die es kaum Anhaltspunkte in Text, Struktur und Entstehungsgeschichte der Verfassung gibt. 3 Natürlich sind auch Einwände gegen die Übernahme von Erkenntnissen zur amerikanischen Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es sich doch um zwei Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick grundsätzlich unterscheiden. Auf der einen Seite steht die amerikanische Methode, die die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall betont. Ihr steht die kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Es wird zu ermitteln sein, ob tatsächlich so große Unterschiede bestehen. Dabei ist zu bedenken, daß es sich um zwei grundsätzlich ähnliche Tatbestände handelt. In beiden Fällen soll eine im einzelnen sehr allgemein gehaltene Verfassung für einen langen Zeitraum als Fundament der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen. Die amerikanische Verfassung bietet sich besonders für einen Methodenvergleich an, ist sie doch eine der ältesten Verfassungen überhaupt. Sie hatte den Wertewandel von über 200 Jahren zu bewältigen. Sie wurde von Farmern und Siedlern geschaffen, die, aus Europa kommend und damit auch dessen Werte transportierend, ein Mehr an Freiheit und Gleichheit erstrebten. Später erlebten die Vereinigten Staaten einen grundlegenden Wandel. Zunächst veränderte sich die Agrargesellschaft durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Es folgten die Abschaffung der Sklaverei nach dem blutigen Bürgerkrieg, der Übergang zum 20. Jahrhundert mit der Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriegen, nach deren Ausgang die USA als eines der führenden Länder der Welt in Erscheinung traten. Innenpolitisch 3

Vgl. etwa die neuere Diskussion zu umstrittenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: J. Isensee, Bundesverfassungsgericht - quo vadis?, JZ 1996, 1085 ff., der von einer „Legitimationskrise des Bundesverfassungsgerichts" spricht; V. Krey, Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe - ein Gericht läuft aus dem Ruder, JR 1995, 221 ff.; M. Schulte, Zur Lage und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1996, 1009 ff. Zum Einfluß des amerikanischen Verfassungsrechts auf das deutsche Verfassungsrecht siehe B. Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, NJW 1989, 1333 ff.; H. Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, 1987; ders. y Bemerkungen zu einer Synthese des Einflusses ausländischer Verfassungsideen auf die Entstehung des Grundgesetzes mit deutschen verfassungsrechtlichen Traditionen, in: 40 Jahre Grundgesetz, K. Stern (Hrsg.), 1990, S. 41 ff.

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Einleitung

von schweren Auseinandersetzungen geprägt waren insbesondere die Überwindung der Segregation und die stürmischen sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Das heutige Amerika muß sich schließlich den Herausforderungen der Informationsgesellschaft stellen, immer noch mit der Verfassung versehen, die vor über zwei Jahrhunderten die Grundwerte der Nation festschrieb. Dieser beeindruckende, bewegte Zeitraum prädestiniert die amerikanische Verfassung geradezu als Vergleichsobjekt. Das Grundgesetz hatte einen viel kürzeren Zeitraum zu bestehen. Seine Geltung nimmt sich im Vergleich zu über zwei Jahrhunderten amerikanischer Verfassung geradezu als kleine Episode aus. Gerade deshalb bietet sich eine Betrachtung der amerikanischen Interpretationsgeschichte an, hat doch die amerikanische Verfassung bereits einen Prozeß durchlaufen, an dessen Beginn wir in Deutschland erst stehen. Die Entwicklung in den USA kann daher mögliche Perspektiven für die Verfassungsinterpretation in Deutschland aufzeigen.

B. Vorgehensweise I. Methodischer Ansatz Diese Arbeit beschränkt sich darauf, die Urteilsbegründungen des Supreme Court auf den Einfluß moralischer Wertungen zu untersuchen. Es geht mithin um die vom Supreme Court verwendeten Argumente. Bei der Darstellung der Entscheidungen sollen insbesondere die Wertungsmomente aufgezeigt werden. Doktrinäre Fragen werden nur insofern erörtert, als dies für die Beschreibung der verwendeten Methoden nützlich erscheint. Es geht darum zu zeigen, mit welcher Begründung das Verfassungsgericht von einem Präjudiz abweicht beziehungsweise eine neue Doktrin begründet. Die Darstellung der Entscheidungen des Supreme Court kann nicht in jedem Fall ein umfassendes Bild der Rechtsprechung auf diesem Gebiet liefern. Vielmehr wurden schwerpunktartig solche Entscheidungen ausgewählt, bei denen die vom Supreme Court verwendeten Methoden besonders deutlich zum Vorschein kommen. Diese Schwerpunktentscheidungen oder „leading cases" sind in der Regel Zeugnis des innovativen Wirkens der Verfassungsrichter. Ihre Begründungen werden daher ausführlich wiedergegeben. Die sich daran anschließende Analyse der Urteilsbegründungen soll die Argumente klassifizieren, die in den Urteilsbegründungen verwendet wurden. Es sollen die Argumente aufgezeigt und methodisch eingeordnet werden, die Richter des Supreme Court benutzten, um die amerikanische Verfassung während ihrer über zweihundertjährigen Geschichte an die Bedürfnisse der Gegenwart anzupassen. Dabei wird mit einer Ausnahme 4 nicht untersucht, ob die in

Β. Vorgehens weise

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den Urteilsbegründungen verwendeten Argumente tatsächlich während der Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt haben oder lediglich der Überzeugung der Parteien, anderer Richter beziehungsweise der Öffentlichkeit dienen sollten. Grundsätzlich wird zwischen verfassungsexternen und verfassungsinternen Methoden der Verfassungsinterpretation unterschieden. Eine Schule will die Verfassung nur mit verfassungsinternen Methoden interpretieren, d.h. alle verfassungsrechtlichen Fragen ausschließlich mit Hilfe des Wortlauts, der Systematik und der Entstehungsgeschichte der Verfassung beantworten. 5 Diese Methodik wurde bereits im 19. Jahrhundert verwendet und wird im folgenden als traditionelle Interpretationsvariante bezeichnet. Die Alternative zu diesem Ansatz läßt den Einfluß von außerhalb der Verfassung beziehungsweise der Entstehungsgeschichte anzutreffenden Faktoren zu. Sie postuliert nicht, daß der Verfassungsinhalt ohne den Rückgriff auf weitere Faktoren bestimmt werden kann. 6 Der Einfluß der Sozialmoral muß nicht notwendig auf verfassungsexterne Interpretationsmethoden begrenzt sein. Auch die Interpretation des Textes, der Systematik und der Entstehungsgeschichte der Verfassung kann unter Umständen nicht von den Wertvorstellungen des Interpreten getrennt werden. Es erscheint daher nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die Sozialmoral auch auf die traditionellen Interpretationstechniken Einfluß nimmt. Daher wird das Wirken der gesellschaftlich dominanten Wertungen sowohl hinsichtlich der Interpretation der Verfassung mit Hilfe von Text, Systematik und Entstehungsgeschichte als auch der Verwendung von verfassungsexternen Faktoren zu untersuchen sein.

II. Begriff der Sozialmoral Sozialmoral wird in dieser Arbeit als die Gesamtheit der gesellschaftlich dominanten Wertvorstellungen unter Einbeziehung der von der Gesellschaft akzeptierten Traditionen definiert. Die Sozialmoral umfaßt somit politische und moralische Wertvorstellungen. Es wurde keine Unterscheidung von 4

Brown v. Board of Education of Topeka , 347 U.S. 483 (1954). Siehe unten S. 81 ff. 5 Die Entstehungsgeschichte wird hier den verfassungsinternen Faktoren zugeordnet, handelt es sich doch um einen Umstand, der mit dem ursprünglichen Verfassungsinhalt verbunden ist. 6 Grundsätzlich unterscheidet die amerikanische Verfassungstheorie fünf verschiedene Arten von Rechtserkenntnisquellen: den Text der Verfassung, die Intentionen der Verfassungsgeber, systematische Argumente, Präjudizien und Gerechtigkeitsargumente. Vgl. statt aller R. H. Fallon , A Constructivist Coherence Theory of Constitutional Interpretation, 100 Harv. L. Rev. 1189 (1987).

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Einleitung

„Zeitgeist", d.h. der gegenwärtig vorherrschenden öffentlichen Meinung, und „Tradition" im Sinne von über einen längeren Zeitraum dominierenden Wertungen getroffen. Beide Begriffe überschneiden sich und werden nicht immer klar getrennt. 7 Es wird grundsätzlich nicht zwischen der gesellschaftlich dominanten Moral und der Richtermoral unterschieden. Hauptgrund hierfür ist die methodische Vorgehensweise dieser Untersuchung, die sich auf die Analyse von Urteilsbegründungen beschränkt. Die Frage, ob die Moralvorstellungen der einzelnen Richter des Supreme Court mit denen der Mehrheit der Amerikaner übereinstimmen, wird in dieser Untersuchung, von offensichtlichen Ausnahmen abgesehen, nicht diskutiert. Die grundsätzliche Gleichsetzung der von Richtern in Urteilsbegründungen angeführten moralischen Argumente mit der Sozialmoral ist auch Konsequenz einer der Thesen dieser Arbeit. Es wird vorausgesetzt, daß die von den Richtern des Supreme Court als entscheidungsrelevant angesehenen und daher in ihren Urteilsbegründungen angeführten Moralvorstellungen im Regelfall mit der Sozialmoral übereinstimmen. 8 Zwei andere Wege der Ermittlung des Zusammenhangs von Verfassungsrechtsprechung und Sozialmoral sind denkbar. Zum einen könnte die Entstehungsgeschichte von Entscheidungen empirisch erforscht werden. Diese Variante würde eine Beschäftigung mit der Richtersozialisation sowie des den Entscheidungen unmittelbar vorangehenden Prozesses voraussetzen. Die andere Möglichkeit der Ermittlung des Verhältnisses von Sozialmoral und Verfassungsrechtsprechung besteht in dem Vergleich der Urteile des Verfassungsgerichts mit den tatsächlich vorherrschenden gesellschaftlichen Präferenzen. 9 Beide Alternativen erfordern umfangreiche empirische Forschungen. Die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses von Gerichtsent7 Der hier verwandte Begriff der Sozialmoral deckt sich im wesentlichen mit der Terminologie Heinrich Henkels, der unter Sozialmoral den „Inbegriff der sittlichen Verhaltensanforderungen, die von der Sozietät an ihre Mitglieder gestellt werden", einen „Grundbestand gemeinsamer Anschauungen hinsichtlich des moralisch guten Handelns", versteht. Vgl. im einzelnen ders., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 71 ff. 8 Siehe dazu unten S. 275. 9 Die amerikanische Politikwissenschaft hat dem Verhältnis von Sozialmoral und Verfassungsrechtsprechung mehrere Untersuchungen gewidmet. Vgl. etwa R. A. Dahl y Decision-Making in a Democracy: the Supreme Court as a National PolicyMaker, in: L. W. Levy (Hrsg.), Judicial Review and the Supreme Court, 1967; J. D. Casper , The Supreme Court and National Policy Making, 70 Am. Pol. Sci. Rev 50 (1976); A. D. Monroe , Consistency Between Public Policy Preferences and National Policy Decisions, 7 Am. Pol. Q. 3 (1979); B. L Page/R. Y. Shapiro , Effects of Public Opinion on Policy, 77 Am. Pol. Sci. Rev. 175 (1983); T. R. Marshall , Public Opinion and the Supreme Court, 1989; H. Norpoth! J. A. Segal , Popular Influence on Supreme Court Decisions, 88 Am. Pol. Sci. Rev. 711 (1994); W. Mishler/

Β. Vorgehens weise

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Scheidungen wird zwar häufig versucht, erscheint jedoch nicht besonders aussichtsreich. Auch wenn es möglich ist, anhand von Befragungen der Verfassungsrichter beziehungsweise der Auswertung ihrer Aufzeichnungen ein Bild der Ereignisse zu zeichnen, die einer bestimmten Entscheidung vorangehen, bleibt die Gesamtheit der Motive eines jeden Richters schwer erforschbar. Erschwerend kommt hinzu, daß der Einfluß der Sozialmoral nicht in jedem Fall wahrgenommen wird. Häufig sind sich Richter des Einwirkens ihrer moralischen Vorstellungen auf den Rechtsanwendungsprozeß nicht bewußt. ΠΙ. Gang der Darstellung In der Arbeit werden sowohl die Entscheidungen des Supreme Court als auch die Stellungnahmen der amerikanischen Rechts und Verfassungstheorie aufgearbeitet. Der Hauptteil ist der Darstellung der Rechtsprechung des Supreme Court zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause gewidmet. Insgesamt wurden ca. 50 Entscheidungen des Supreme Court ausgewählt. Es wurden solche Entscheidungen besprochen, die für die Entwicklung der amerikanischen Verfassungsdoktrin von besonderer Bedeutung waren. Entscheidungen, in denen der Supreme Court neue Verfassungsprinzipien aufstellt, benötigen eher extraverfassungsrechtliche Begründungen als Entscheidungen, die bereits aufgestellte Prinzipien umsetzen. Da sich die Arbeit auf die Analyse von wenigen, besonders exponierten Entscheidungen des Supreme Court beschränkt, kann sie keine in jeder Hinsicht vollständige Darstellung der Entscheidungen des Supreme Court zur Equal Protection Clause beziehungsweise Substantive Due Process Clause bieten. 10 Jedoch bilden die behandelten Entscheidungen das Rückgrat der Rechtsprechung des Supreme Court auf den bearbeiteten Gebieten. Daran anschließend erfolgt eine Systematisierung der verschiedenen vom Supreme Court verwendeten Klassen von Argumenten, mit denen moralische Vorstellungen typischerweise in die Urteile eingebracht werden. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie. Die Frage, mit welchen Methoden, unter Zuhilfenahme welcher Rechtserkenntnisquellen die Verfassung auszulegen ist, wurde zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich beantwortet. Es wird auf die R. S. Sheehan, Response, ebd., S. 716; V. J. Hoekstra, The Supreme Court and Opinion Change, 23 Am. Pol. Q. 109 (1995) jeweils m.w.N. 10 Für eine umfassendere Darstellung der Entscheidungen des Supreme Court zu Individualrechten siehe W. Brugger y Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987.

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Einleitung

wichtigsten Strömungen seit Ende des letzten Jahrhunderts eingegangen. Beginnend mit dem führenden amerikanischen Juristen der Jahrhundertwende, Oliver Wendeil Holmes, werden solche Theorien vorgestellt, die die Interaktion von Recht und Sozialmoral ausführlich behandeln. Dabei wurde die Auswahl auf Theorien beschränkt, die in der amerikanischen Wissenschaftsgeschichte eine besondere Bedeutung haben. Angesichts der Fülle zu verarbeitenden Materials ist eine erschöpfende Darstellung der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie in diesem Rahmen nicht möglich. Der zweite Teil schließt mit einer Kritik der gegenwärtig in den Vereinigten Staaten vertretenen Verfassungstheorien und einem Abschnitt zu der Frage, welche Theorie die Rechtsprechung des Supreme Court am besten beschreibt. Dabei werden unter Berücksichtigung der Ergebnisse der bisherigen Darstellung die Argumente zusammengefaßt, die für oder gegen eine Einbeziehung der Sozialmoral in die Verfassungsinterpretation sprechen. Besonderes Augenmerk wird dem Einwand gewidmet, daß ein die Sozialmoral berücksichtigendes Verfassungsgericht „politisch" urteile und damit seine Kompetenzen überschreite (Legitimationsproblem). Der dritte Teil wagt einen Ausblick auf die deutsche Methodenlehre. Die Rolle, die sie der Sozialmoral in der Verfassungsinterpretation zuweist, soll zumindest überblicksartig dargestellt werden. Zudem soll ein Vergleich der amerikanischen und deutschen Methodik angestellt werden. Dabei wird zu prüfen sein, inwiefern deutsche und amerikanische Methodenlehre übereinstimmen und ob die von der deutschen Methodenlehre angebotenen Lösungen auch für die Beschreibung des amerikanischen Verfassungsrechts von Nutzen sein können.

1. Teil

Die Rechtsprechung des Supreme Court zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause Α. Die Rechtsprechung des Supreme Court bis 1870 I. Der Supreme Court - Zulässigkeit verfassungsgerichtlicher Kontrolle Bevor mit der Darstellung einzelner Entscheidungen des Supreme Court begonnen werden kann, sind einige grundsätzliche Bemerkungen zur Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten angebracht. Diese Bemerkungen können jedoch nicht eine umfassende Einführung in das amerikanische Rechtssystem ersetzen.1 Der Supreme Court, das Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten, ist mit neun Richtern (einem Chief Justice und acht Associate Justices) besetzt, die auf Lebenszeit berufen werden. Sie werden vom Präsidenten vorgeschlagen und vom Senat, der zweiten Kammer des amerikanischen Parlaments, bestätigt.2 Die Personen der Richter des Verfassungsgerichts stehen in den Vereinigten Staaten stärker im Mittelpunkt des Interesses als 1

Siehe die Einführungen von D. Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 5. Aufl., 1994; P. Hay , Einführung in das amerikanische Recht, 4. Aufl., 1995 sowie W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993. In den letzten zwei Jahrzehnten ist in Deutschland eine Vielzahl von Monographien und Aufsätzen erschienen, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit der Rolle des Supreme Court beschäftigen. Siehe insbesondere D. P. Currie, Positive und negative Grundrechte, AöR 111 (1986), 230 ff; ders, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988; B. Großfeld/H. Roth (Hrsg.), Verfassungsrichter, Rechtsfindung am U.S. Supreme Court und am Bundesverfassungsgericht, 1995; W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972. K. Heller, Der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika, Probleme eines Höchstgerichts, EuGRZ 1985, 685 ff.; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996; M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S. Supreme Court, 1995; J. Wielandy Der Zugang des Bürgers zum Bundesverfassungsgericht und zum U.S. Supreme Court, Der Staat 29 (1990), 333ff. 2 Vgl. Art. II, Absatz 2, Satz 2 der amerikanischen Verfassung. Die amerikanische Verfassung regelt nicht die genaue Anzahl der Richter des Supreme Court.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

in Deutschland. Daher wird in der Untersuchung häufiger auf einzelne Richterpersönlichkeiten des Supreme Court einzugehen sein. Die Kompetenz des Supreme Court ergibt sich aus Artikel I I I der amerikanischen Verfassung. Aus dem Text der Verfassung geht nicht eindeutig hervor, ob der Supreme Court ermächtigt ist, Akte der anderen Gewalten, die gegen die Verfassung verstoßen, für nichtig zu erklären. Diese Kompetenz wurde vom Supreme Court in der Leitentscheidung Marbury v. Madison bejaht und ist seitdem unbestritten. 3 In den Vereinigten Staaten existieren zwei verschiedene Gerichtszweige, die Bundesgerichte (federal courts) sowie die Gerichte der einzelnen Bundesstaaten (state courts). Der Supreme Court ist das höchste Bundesgericht. Seine Entscheidungen binden jedoch auch die Gerichte der einzelnen Bundesstaaten.4 Änderungen der amerikanischen Verfassung sind gemäß Artikel V nur durch Verabschiedung eines Zusatzartikels (Amendment) möglich. Die in dieser Untersuchung behandelte Rechtsprechung umfaßt die im 14. Amendment verankerten Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause. Der Inhalt der in den einzelnen Entscheidungen behandelten Verfassungsnormen wird bei der Besprechung der Entscheidungen wiedergegeben. Bei der Darstellung der Entscheidungen des Supreme Court wird zwischen der Meinung der Abstimmungsmehrheit (majority opinion), Dissenten (dissenting opinion) sowie zustimmenden Meinungen (concurring opinion) unterschieden. Letztere werden von Richtern verfaßt, die der Begründung der Abstimmungsmehrheit nur teilweise oder nur im Ergebnis zustimmen.5

Dem Supreme Court von 1789 gehörten etwa lediglich fünf Richter an. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts wurden jeweils neun Richter an das Gericht berufen. 3 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803), „It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is." Die von Chief Justice John Marshall , der von 1801 bis 1835 dem Gericht vorsaß, verfaßte Entscheidung begründete faktisch die Kompetenz des Supreme Court als Letztinterpret der amerikanischen Verfassung. Ob ein solches Ergebnis von der amerikanischen Verfassung vorgesehen war, ist nicht unumstritten. Heute wird die Entscheidungskompetenz des Supreme Court jedoch nicht mehr in Frage gestellt. Vgl. zur Problematik etwa Learned Hand, The Bill of Rights, 1958, S. 1 ff. Für eine deutsche Darstellung der Thematik siehe W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. 5 ff. 4 Martin v. Hunter's Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816). 5 Siehe hierzu die Untersuchung von K.-H. Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, 1985.

A. Bis 1870 II. Dred Scott ν. Sandford

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- Bürgerrechte für Sklaven?

Dred Scott v. Sandford 6 ist eine der bedeutendsten und zugleich berüchtigtesten Entscheidungen des Supreme Court. Mit diesem Urteil, das Schwarzen das Bürgerrecht absprach, trug der Supreme Court zu dem Konflikt zwischen den Südstaaten und der Abolitionistenbewegung der Nordstaaten bei, der in den amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) mündete.7

1. Die Urteilsbegründung

von Chief Justice Taney

Dred Scott, der Kläger, wurde von einem Militärarzt als Sklave gehalten. Dieser war ab 1834 in Illinois stationiert, einem Bundesstaat, der die Sklaverei ablehnte. Seit 1838 lebte Dred Scott mit seinem Besitzer wieder in Missouri, wo die Sklavenhaltung legal war. Die vom Supreme Court zu entscheidende Frage war, ob Dred Scott während des Aufenthalts in Illinois seinen Sklavenstatus verloren hatte, mithin Bürger der Vereinigten Staaten geworden war, oder weiterhin Eigentum seines Besitzers blieb. 8 Der Supreme Court beschäftigte sich in der von Chief Justice Taney verfaßten Urteilsbegründung zunächst mit der Frage, ob Dred Scott klagebefugt war. Taney formulierte das Grundproblem des Falls wie folgt: „Kann ein Schwarzer, dessen Vorfahren in dieses Land importiert und als Sklaven verkauft wurden, ein Mitglied der Gemeinschaft werden, die durch die Verfassung begründet wurde, und die Rechte, Privilegien und Immunitäten genießen, die diese den Bürgern garantiert? Eines dieser Privilegien ist das Recht, vor den Gerichten der Vereinigten Staaten zu klagen." 9 Taney lehnte es ab, die Nachkommen von Sklaven als Bürger der Vereinigten Staaten anzuerkennen. Er verwies auf die Zeit der Entstehung der amerikanischen Verfassung, in der Schwarze als „untergeordnete und minderwertige Klasse von Lebewesen" eingestuft worden seien, die „durch die dominante Rasse unterjocht wurden". Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, über die Gerechtigkeit dieser Gesetze zu entscheiden. Diese Entscheidung obliege ausschließlich der politischen, der rechtssetzenden Gewalt. Das Verfassungsgericht könne die Verfassung lediglich gemäß ihrem wahren Zweck unter Beachtung der Bedeutung der Verfassung zur Zeit ihrer Verabschiedung interpretieren. 10 6

60 U.S. (19 How.) 393 (1857). Zu den Auswirkungen der Dred-Scott-Entscheidung vgl. D. E. Fehrenbacher, The Dred Scott Case, 1978, S. 561 ff. 8 Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393, 458f. (1857). 9 Ebd., S. 403. 10 Ebd., S. 405. Hervorhebung durch H. Sch. 7

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Taney fragte, ob Schwarze zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Verfassung als Bürger der Vereinigten Staaten angesehen worden seien. Weder der Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung noch die öffentliche Meinung zu dieser Zeit spreche dafür. „Die Angehörigen dieser unglücklichen Rasse wurden vielmehr als minderwertig angesehen, als ungeeignet, sich mit der weißen Rasse sozial und politisch zu vereinigen. ... Sie wurden als normale Waren im Handelsverkehr gekauft und verkauft. Diese Ansicht war fest in der Moralität der zivilisierten Teile der weißen Rassen verankert." Um die öffentliche Meinung zur Zeit der Verfassungsgebung zu bestimmen, untersuchte Taney die Gesetze der ehemaligen englischen Kolonien auf amerikanischem Boden. Danach wandte er sich der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu. Taney zitierte: „Wir halten die folgenden Wahrheiten für offenkundig, daß alle Menschen gleich geschaffen wurden, daß sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten versehen wurden, unter anderem den Rechten auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück." Er merkte an, daß der Wortlaut alle Menschen zu umfassen scheine. Jedoch sei ein solches Ergebnis unvorstellbar, da es nicht beabsichtigt gewesen sei, die Unabhängigkeitserklärung auf die versklavte Rasse auszudehnen. In diesem Fall wäre das Verhalten der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung mit derselben völlig inkonsistent. Taney berief sich darauf, daß zum damaligen Zeitpunkt „in allen Teilen der zivilisierten Welt Konsens darüber bestand, daß die schwarze Rasse von der Familie der Nationen ausgeschlossen war und zur Sklaverei verdammt war." 1 1 Taney zog den Text der ursprünglichen Verfassung zu Rate, um die öffentliche Meinung zur Zeit ihrer Verabschiedung zu bestimmen. Er verwies insbesondere auf zwei Klauseln, die die Sklaverei voraussetzten, die Sklaven als Eigentum betrachteten. 12 Die Bundesregierung habe kein Recht, in das schutzwürdige Interesse der Sklavenhalter an ihrem Eigentum einzugreifen. 13 Taney argumentierte, daß Schwarze auch in den Staaten, die die Sklaverei abgeschafft hatten, nicht die gleichen Rechte wie Weiße hätten, sondern weiter als minderwertige Klasse behandelt würden. Zudem gebe es zahlreiche Bundesgesetze, die Schwarzen bestimmte Privilegien vorenthielten. 14 11

Ebd., S. 407 f., 410 Hervorhebungen durch H. Sch. Ebd., S. 411, 425. Es handelt sich um Art. I, Absatz 9, Satz 1, der einzelnen Bundesstaaten das Recht zum Sklavenimport bis 1808 zusicherte, und Art. IV, Absatz 2, Satz 3, der die Bundesstaaten verpflichtete, entlaufene Sklaven zurückzuführen. 13 Ebd., S. 451 f. Der Supreme Court erklärte nicht nur, daß Sklaveneigentum verfassungsgemäß war, sondern hielt auch den „Missouri Compromise" für verfassungswidrig, der die Sklaverei in bestimmten Territorien verbot. Vgl. dazu auch die zustimmenden Meinungen von sechs weiteren Richtern des Supreme Court, ebd., S. 455, 468 f., 528 f. 12

A. Bis 1870

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Nachdem Taney festgestellt hatte, daß die öffentliche Meinung zur Zeit der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung gegen die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Schwarze spreche, begründete er seinen methodischen Ansatz: Kein Wechsel in der öffentliche Meinung hinsichtlich dieser „unglücklichen Rasse" dürfe das Gericht dazu verleiten, die Verfassung liberaler auszulegen als zu ihrem Entstehungszeitpunkt. Solch eine Argumentation sei für jedes Tribunal unpassend, das die Verfassung interpretieren soll. Wenn eine Bestimmung der Verfassung als ungerecht empfunden werde, gebe es nur den Ausweg der formalen Verfassungsänderung. Wenn die Verfassung unverändert bleibe, müsse sie so ausgelegt werden wie zur Zeit ihrer Verabschiedung. Es handele sich nicht nur um dieselben Worte, sondern auch um dieselbe Bedeutung. Ansonsten würde das Verfassungsgericht zum bloßen Reflex der Leidenschaften des Tages. Folglich seien Schwarze keine Bürger im Sinne der Verfassung. Ihnen stehe auch nicht das Recht zu, vor Bundesgerichten zu klagen. 15 2. Kritische Analyse Diese Entscheidung war eine der Ursachen des amerikanischen Bürgerkrieges. Insbesondere die Charakterisierung der Sklaven als „minderwertige Rasse", an der Eigentum wie an Sachen zulässig sei, sorgte für den Widerstand der Abolitionisten. Dred Scott v. Sandford wurde nach Ende des Bürgerkriegs durch das 14. Amendment aufgehoben. 16 Die von Chief Justice Taney verwendete Methodik, die die historische Auslegung in den Vordergrund stellt, wird bis heute von einer der wichtigsten Strömungen der amerikanischen Verfassungsinterpretation, dem Originalismus, propagiert. 17 Ihr liegt das Verständnis zugrunde, daß Gerichte nicht Recht schaffen. Der Inhalt des Rechts sei vorherbestimmt. Die Verfassung, so Taney, ändere nicht ihre Bedeutung. Ihr könne nur durch formelle Verfassungsänderungen ein neuer Inhalt gegeben werden. Taney erweckte so den Anschein, daß Verfassungsanwendung ein wertungsfreier Prozeß sei, daß Richter Recht „fänden". Seine methodische Begründung ist gleichzeitig ein Plädoyer gegen die Einbeziehung der gegenwärtigen Sozialmoral. Gesellschaftlich dominante Wertungen oder Gerechtigkeitserwägungen sind nach Taneys Auffassung nur insofern relevant, als aus ihnen Rückschlüsse 14

Ebd., S. 413ff., 419ff. Ebd., S. 427, 454. Hervorhebung durch H. Sch. 16 Absatz I, Satz 1 des 14. Amendments lautet: „All persons bom or naturalized in the United States and subjects to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherein they reside." 17 Vgl. dazu M. Tushnet y Red, White and Blue, 1988, S. 44; R. A. Posner , Overcoming Law, 1995, S. 251. 15

3 Schiwek

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

auf die Intentionen der Verfassungsgeber möglich sind. Taney begründete seine Ansicht institutionell. Die politische Gewalt sei für Rechtssetzung zuständig, die Judikative habe sich auf Rechtsanwendung zu beschränken. Die Sozialmoral bleibt nach diesem Ansatz lediglich Hilfsmittel bei der historischen Auslegung. Festzuhalten ist, daß der Supreme Court sich in Dred Scott v. Sandford nicht nur auf die Sozialmoral der Vereinigten Staaten beschränkte. Vielmehr spricht Taney von der „Moralität der zivilisierten Teile der weißen Rassen". Weitere Quellen für die Bestimmung des Verfassungsinhalts waren in Dred Scott v. Sandford die Unabhängigkeitserklärung und die Gesetze der Bundesstaaten zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Verfassung. Jedoch scheint selbst die auf Vermeidung der Einbeziehung zeitgemäßer Wertungen bedachte Urteilsbegründung Taneys nicht ganz frei von Einflüssen der gegenwärtigen Sozialmoral zu sein. Auffällig ist dies insbesondere durch die Art und Weise, mit der Taney die Stellung der Schwarzen beschrieb, die er als „unglückliche Rasse" bezeichnete. Taney stellt den Schwarzen die weiße Rasse als „zivilisiert" gegenüber. Er erweckte so den Eindruck, von einer überlegenen Position voller Mitleid auf die Schwarzen herabzublicken. Taney selbst nahm im Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten für seine Heimat, die Südstaaten, Partei. Seine Begründung in Dred Scott v. Sandford wird als Bekenntnis zu den Institutionen und dem Lebensstil des Südens gewertet. 18

B. Die Rechtsprechung des Supreme Court von 1870-1930 I. Die Verabschiedung der Bürgerkriegs-Amendments Die Entscheidung in Dred Scott v. Sandford sollte nicht lange Bestand haben. In den Jahren 1865, 1868 und 1870 wurden die Amendments 13 bis 15 verabschiedet. Das 13. Amendment verbot die Sklaverei, das 15. Amendment gab den ehemaligen Sklaven das Wahlrecht. Das in dieser Untersuchung behandelte 14. Amendment hat in der Rechtsprechung des Supreme Court die größte Bedeutung. Der erste Absatz des 14. Amendments enthält vier Vorschriften. Der erste Satz hob Dred Scott v. Sandford auf. Alle in den Vereinigten Staaten geborenen Personen werden als Bürger der 18

So D. E. Fehrenbacher (Fn.7), S. 559ff.: „The Dred Scott opinion, defensive in substance but aggressive in temper, was the work of an angry southern gentleman." Obwohl Taney die Abolitionsbewegung, insbesondere ihre den Stil des Südens ablehnende Haltung, verachtete, war er selbst nicht Anhänger der Sklavenhaltung. Er hatte seinen eigenen Sklaven bereits zu einem frühen Zeitpunkt die Freiheit geschenkt. Vgl. F. O. Gatell, Roger B. Taney, in: The Justices of the United States Supreme Court, L. Friedman/F. L. Israel (Hrsg.), 1969, S. 635, 637, 652.

Β. Von 1870-1930

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Vereinigten Staaten und ihres jeweiligen Bundesstaats anerkannt. Satz zwei umfaßt die im folgenden behandelte Privileges and Immunities Clause, die Due Process Clause und die Equal Protection Clause.

II. Die Interpretation der Privileges and Immunities Clause Die Privileges and Immunities Clause des 14. Amendments verbietet es den Bundesstaaten, die „Privilegien und Immunitäten" der Bürger der Vereinigten Staaten zu verletzen. 19 Ihre Bedeutung wurde bereits wenige Jahre nach ihrer Entstehung stark eingeschränkt. Es folgen zwei Beispiele aus der frühen Rechtsprechung des Supreme Court.

7. Β radwell v. Illinois - das Recht von Frauen auf Zulassung als Rechtsanwältin a) Die Mehrheitsmeinung In diesem Fall, der vier Jahre nach der Ratifikation der Equal Protection Clause entschieden wurde, ging es um die Frage, ob Frauen das Recht haben, als Rechtsanwältin zugelassen zu werden. Nach dem Vertragsrecht des Staates Illinois konnten verheiratete Frauen keine vertraglichen Verpflichtungen eingehen. Die Klägerin, Myra Bradwell, erfüllte zwar alle Voraussetzungen für die Anwaltszulassung. Weil sie verheiratet war, wurde sie jedoch von den Gerichten des Bundesstaates Illinois nicht als Rechtsanwältin zugelassen.20 Der Supreme Court hatte zu entscheiden, ob das Urteil des Supreme Court von Illinois gegen das 14. Amendment verstieß. Richter Miller verfaßte die Entscheidung für die Mehrheit des Supreme Court und beschränkte sich dabei auf die Auslegung der Privileges and Immunities Clause. 21 Miller untersuchte, ob die Ausübung des Anwaltsberufs von den von der Bundesverfassung verliehenen Bürgerrechten abhängt. Er verneinte diese Frage mit dem Hinweis darauf, daß es zahlreiche Rechtsanwälte gebe, die nicht Bürger der Vereinigten Staaten seien. Folglich sei die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs nicht von den Bürgerrechten der Bundesverfassung 19

Die Vorschrift lautet im Original: „No State shall make or enforce any law which shall abridge the privileges and immunities of citizens of the United States", 14 Amendment, Absatz 1, Satz 2, 1. Halbsatz. 20 83 U.S. (16 Wall.) 130 (1873). 21 Der Fall würde heute unter der Equal Protection Clause entschieden werden. Zur Rechtsprechung des Supreme Court zu Geschlechtsklassifizierungen vgl. unten S. 101. 3"

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

abhängig. Das Gericht Illinois' habe mit der Nichtzulassung der Klägerin nicht gegen die Privileges and Immunities Clause verstoßen. 22

b) Die zustimmende Meinung des Richters Bradley Bemerkenswert und oft zitiert ist diese Entscheidung jedoch wegen der zustimmenden Meinung des Richters Bradley , der sich zwei weitere Richter anschlossen. Im Gegensatz zu der knapp gehaltenen Begründung des Richters Miller lassen Bradleys Ausführungen Rückschlüsse auf das zugrundeliegende Weltbild zu. Bradley drückte seine Vorstellungen von der gesellschaftlichen Rolle der Frauen wie folgt aus: „Männer sind und sollten die Verteidiger und Beschützer der Frauen sein. Die natürliche und angebrachte Schüchternheit des weiblichen Geschlechts läßt dieses offensichtlich für viele Beschäftigungen des bürgerlichen Lebens ungeeignet erscheinen. Sowohl die auf göttlicher Bestimmung beruhende Verfassung der Familie als auch die Natur der Dinge indizieren, daß die häusliche Sphäre auf die Funktion der Weiblichkeit zugeschnitten ist. Die Harmonie und Identität der Interessen, die zur Institution der Familie gehören beziehungsweise gehören sollten, ist mit der Idee unvereinbar, daß Frauen eine von der Karriere ihres Mannes verschiedene und unabhängige Beschäftigung ergreifen" 1* Bradley verwies auf das common law, das keine getrennte rechtliche Existenz von Eheleuten vorsah, so daß Ehefrauen ohne Einwilligung ihres Ehegatten keine Verträge schließen konnten. Unverheiratete Frauen, für die diese Regelung nicht zutraf, seien nur Ausnahmen von dieser Regel. „Schicksal und Bestimmung der Frau ist es, die edle und gütige Beschäftigung als Ehefrau und Mutter auszufüllen. Dies ist das Recht des Schöpfers. Die Regeln der zivilisierten Gesellschaft müssen sich an die Verfassung der Dinge anpassen. " 24 c) Kritische Analyse Die Ausführungen des Richters Bradley wurden hier deshalb wiedergegeben, weil sie in ihrer Deutlichkeit eine Ausnahme sind. Bradley legte die wertenden Momente seiner Entscheidung ungewöhnlich klar offen, indem er die Privileges and Immunities Clause des 14. Amendments vor dem Hintergrund seiner moralischen Anschauungen anwendete. Die unverhohlene Präsentation spricht für die Konsensfähigkeit dieser Ansicht zum damaligen Zeitpunkt. Methodisch gibt Bradley vor, aus der „Natur der Sache" zu 22 23 24

Ebd., S. 139. Ebd., S. 141 (Bradley, J., concurring). Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 141 f. Hervorhebung durch H. Sch.

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schließen. Die „natürliche Weltordnung" sehe verschiedene berufliche Aufgaben für die Geschlechter vor. Heute wird dieses Urteil oft als Beispiel für die Ignoranz und Befangenheit der Judikative gegenüber dem Schicksal der Frauen zitiert. Es sollte jedoch beachtet werden, daß Bradleys Position zur damaligen Zeit offensichtlich mehrheitsfähig war, mit den anerkannten Traditionen der Vereinigten Staaten übereinstimmte. Erst im Laufe der Zeit hat sich diese Geisteshaltung überholt. Auf Bradwell v. Illinois wird bei der Darstellung der neueren Rechtsprechung des Supreme Court zu Geschlechtsklassifizierungen zurückzukommen sein.

2. Die Slaughter-House Cases - das Ende der Privileges and Immunities Clause a) Die Entscheidung In den Slaughter-House Cases25 hatte der Supreme Court die Frage zu entscheiden, ob ein Gesetz des Bundesstaates Louisiana, das unter anderem den Betrieb von Schlachthäusern stark reglementierte, mit der Privileges and Immunities Clause des 14. Amendments vereinbar war. Richter Miller verfaßte die Begründung der Abstimmungsmehrheit. Er wies auf die Bedeutung der Entstehungsgeschichte des Amendments hin. Miller betonte, daß die Bürgerkriegsamendments in erster Linie zur Garantie der Freiheit der Schwarzen geschaffen worden seien. 26 Der erste Satz des 14. Amendments habe die Entscheidung des Supreme Court in Dred Scott v. Sandford aufgehoben. Unter Bezugnahme auf den Wortlaut der Privileges and Immunities Clause 27 unterschied Miller zwischen der Staatsbürgerschaft der einzelnen Bundesstaaten und der der Vereinigten Staaten. Nur letztere solle durch die Privileges and Immunities Clause geschützt werden. Im Umkehrschluß folge, daß die Rechte aus der Staatsbürgerschaft der Bundesstaaten nicht durch die Privileges and Immunities Clause erfaßt würden. 28 25

83 U.S. (16 Wall.) 36 (1873). Ebd., S. 68 ff. 27 Mit Privileges and Immunities Clause ist hier immer die Privileges and Immunities Clause des ersten Absatzes des 14. Amendments gemeint. Die amerikanische Verfassung enthält in Art. IV, Absatz 2 noch eine weitere Privileges and Immunities Clause, die dem einzelnen jedoch keine zusätzlichen Rechte verleiht. Hierzu vgl. ebd., S. 77. 28 Während Satz 1 des ersten Absatzes des 14. Amendments zwischen der Staatsbürgerschaft in den einzelnen Bundesstaaten und der in den Vereinigte Staaten unterscheidet, erwähnt die Privileges and Immunities Clause lediglich die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten. 26

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Miller fuhr fort, den Inhalt der Rechte zu beschreiben, die von der Privileges and Immunities Clause des 14. Amendments gewährt werden. Er wandte sich gegen die Ansicht des Klägers, daß die Privileges and Immunities Clause auch die Rechte beinhalte, die aus der Staatsbürgerschaft der Bundesstaaten erwachsen. Dann würde der Supreme Court zum Hüter der Rechte, die zwischen den einzelnen Bundesstaaten und ihren Bürgern bestehen. Eine solche Interpretation sei mit Struktur und Geist der Institutionen der Vereinigten Staaten nicht vereinbar, da die Bedeutung der Bundesstaaten radikal zurückgedrängt werden würde. Die von der Privileges and Immunities Clause umfaßten Rechte müßten vielmehr einen unmittelbaren Bezug zur nationalen Staatsbürgerschaft haben. Ein solcher Bezug existiere etwa bei dem Zugang des einzelnen zu Bundesbehörden und den Seehäfen der Nation und dem Schutz außerhalb der Vereinigten Staaten. Die von den Klägern behaupteten Rechte der Berufsausübung wiesen keinen Bezug zur nationalen Staatsbürgerschaft auf. Die Kläger könnten sich nicht auf die Privileges and Immunities Clause berufen. Die Frage, ob Rechte des Klägers aus der Due Process Clause des 14. Amendments verletzt worden waren, verneinte der Supreme Court. Er wies darauf hin, daß sich der Wortlaut der Due Process Clause des 5. Amendments und des 14. Amendments deckten und eine die behaupteten Rechte des Klägers begünstigende Auslegung der Due Process Clause des 5. Amendments unbekannt sei. Die Equal Protection Clause sei wiederum vor dem Hintergrund ihres Zwecks zu interpretieren, Diskriminierungen gegen Schwarze zu verhindern. Es sei sehr zweifelhaft, ob die Equal Protection Clause jemals so ausgelegt werden könne, daß sie auch andere als rassische Diskriminierungen umfasse. 29 b) Kritische Analyse Diese Entscheidung führte zur praktischen Bedeutungslosigkeit der Privileges and Immunities Clause. Heute wird überwiegend vertreten, daß die Auslegung der Privileges and Immunities Clause in den Slaughter-House Cases nicht nur mit der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments unvereinbar sei, sondern auch dem Kampf der Schwarzen für Gleichberechtigung empfindlich geschadet habe. 30 Richter Miller stützte sich bei seiner Analyse in erster Linie auf seine Interpretation der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments. Ein weiteres 29

Ebd., S. 78 ff. Hervorhebung durch H. Sch. E. Chemerinsky , The Supreme Court and the Fourteenth Amendment: The Unfulfilled Promise, 25 Loy. L. A. L. Rev. 1143 (1992); M. J. Horwitz , Foreword: The Constitution of Change: Legal Fundamentality Without Fundamentalism, 107 Harv. L. Rev. 32, 84 (1993). 30

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wichtiges Argument ist institutioneller Natur. Miller wandte sich gegen eine Kräfteverschiebung zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten. Ob die historischen Argumente berechtigt waren, wird bis heute angezweifelt. Jedoch kann kaum geleugnet werden, daß eine der wichtigsten Resultate der Bürgerkriegsamendments eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen der Bundesregierung und den einzelnen Bundesstaaten war. Wie später zu zeigen sein wird, hielt der Supreme Court nicht an der von Miller angemahnten engen, auf den Schutz Schwarzer beschränkten Auslegung der Due Process Clause und der Equal Protection Clause fest. Bereits wenige Jahre später bezeichnete der Supreme Court die Diskriminierung chinesischer Einwanderer als Verstoß gegen die Equal Protection Clause. 31

III. Die Auslegung der Equal Protection Clause Die im ersten Absatz des 14. Amendments enthaltene Equal Protection Clause verpflichtet die Bundesstaaten dazu, allen Bürgern den gleichen Schutz durch ihre Gesetze zu gewähren. 32

1. Strauder v. West Virginia - die Beteiligung von Schwarzen an Geschworenengerichten a) Die Entscheidung In Strauder v. West Virginia hielt der Supreme Court in einer von Richter Strong verfaßten Entscheidung ein Gesetz des Bundesstaates West Virginia für verfassungswidrig, das Schwarze von Geschworenengerichten ausschloß. Der Zweck des 14. Amendments, so Richter Strong , sei es, Schwarzen all die Bürgerrechte einzuräumen, die auch anderen Rassen zustehen. Die wahre Bedeutung des Amendments könne nicht ohne Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte erkannt werden. Zu dieser Zeit seien Diskriminierungen gegen Schwarze an der Tagesordnung gewesen. Die Schwarzen hätten des Schutzes der Bundesregierung gegen feindliche Handlungen der Bundesstaaten bedurft. Das Amendment müsse gemäß seinem Geist und den Intentionen seiner Autoren weit ausgelegt werden, um rassische Diskriminierungen zu verhindern. Die Equal Protection Clause schreibe 31

Vgl. sogleich die Darstellung zu Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356 (1886). Daß die Due Process Clause des 5. Amendments weiter ist als die des 14. Amendments, entschied der Supreme Court implizit in Bölling v. Sharpe, 347 U.S. 497 (1954) und ausdrücklich in Adarand Constructors Inc. v. Pena> 515 U.S. 200 (1995). Siehe unten S. 44 und S. 56 f. 32 Die Vorschrift lautet im Original: „nor shall any State ... deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws".

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vor, daß das Recht für Weiße und Schwarze gleich sein müsse. Die Schwarzen hätten das Recht, von Gesetzen befreit zu werden, die sich speziell gegen sie richteten, sie diskriminierten und ihre Minderwertigkeit in der Gesellschaft implizierten. 33 Die Tatsache, daß West Virginia die Schwarzen aussonderte und ihnen die Teilnahme am Gerichtsprozeß als Geschworene verbot, impliziere die Behauptung ihrer Minderwertigkeit und stimuliere rassische Vorurteile. Strong führte weiter aus, daß die Beteiligung Schwarzer an Geschworenengerichten ein nötiges Mittel zur Bekämpfung von Vorurteilen sei. Die Equal Protection Clause sei nur nötig gewesen, weil solche Vorurteile existierten. Das Gesetz enthalte daher eine gegen die Equal Protection Clause verstoßende Diskriminierung. 34 b) Anmerkung Im Gegensatz zu den Slaughter-House Cases wählte der Supreme Court eine weite Auslegung des 14. Amendments. Wiederum bezog sich der Supreme Court auf die Entstehungsgeschichte. Dabei ist jedoch nicht zu verkennen, daß in Strauder v. West Virginia der Kernbereich des 14. Amendments betroffen war, die Diskriminierung der ehemaligen Sklaven. Im Vergleich zu späteren Entscheidungen vertrat der Supreme Court in Strauder v. West Virginia eine aktivistischere Haltung zum Verhältnis von Verfassung und rassischen Vorurteilen in der Gesellschaft. Letztere sollten nicht toleriert, sondern bekämpft werden. Wenn der Supreme Court sich gegen „Vorurteile" wendet, weigert er sich in der Regel auch, bestimmte populäre Auffassungen anzuerkennen, hier etwa die Vorstellung, daß Schwarze nicht als Geschworene fungieren sollten. Insofern stellt sich der Supreme Court der öffentlichen Meinung entgegen. 2. Yick Wo v. Hopkins - die Equal Protection Clause als allgemeines Willkürverbot In Yick Wo v. Hopkins hatte der Supreme Court zu entscheiden, ob eine in San Francisco geltende Vorschrift verfassungsmäßig angewendet worden war, nach der Wäschereien nur in aus Stein gebauten Häusern genehmigungsfrei betrieben werden durften. Fast alle Wäschereien (310 von 320) wurden in Holzhäusern betrieben und waren daher genehmigungspflichtig. Zwei Drittel der Wäschereien wurden von Chinesen betrieben, denen regel33

100 U.S. 303, 306ff. (1880). Ebd., S. 308 f. Hervorhebung durch H. Sch. Vgl. auch ex parte Virginia, U.S. 339, 345 (1879). 34

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mäßig die Betriebsgenehmigung versagt wurde. Die Genehmigung wurde jedoch fast allen Bewerbern erteilt, die nicht chinesischer Herkunft waren. 35 Der Supreme Court führte in seiner Entscheidung zunächst aus, daß das 14. Amendment auch auf die chinesischen Kläger anwendbar sei, da es nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft voraussetze. Für eine willkürliche Ausübung der Staatsgewalt sei unter dem amerikanischen Regierungssystem kein Platz. Die fundamentalen Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück seien durch die Prinzipien des Verfassungsrechts geschützt. Es sei mit der Sklaverei vergleichbar, wenn das Leben oder die Mittel zum Verdienst des Lebensunterhalts einzig vom Willen eines anderen abhängen. In diesem Fall sei es nicht notwendig zu entscheiden, ob die Vorschrift von vornherein verfassungswidrig gewesen sei. Sie sei so ungleich angewendet worden, daß bereits hierin eine klare Verletzung der Equal Protection Clause liege. 36 Die Entscheidung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen bediente sich der Supreme Court der Methode der Analogie, als er den Schutz der Equal Protection Clause auf die chinesische Minderheit ausdehnte. Der Supreme Court sprach des weiteren von den „fundamentalen Rechten des Lebens", die dem einzelnen nicht willkürlich entzogen werden könnten. Dieser Begründungsansatz enthält ein starkes Wertungsmoment. Der Supreme Court ging nicht näher darauf ein, wie diese fundamentalen Rechte in der Verfassung verankert sind. Seit dieser Entscheidung ist das allgemeine Willkürverbot Teil des 14. Amendments. Yick Wo v. Hopkins Schloß sich jedoch ein langer Zeitraum an, in dem der Supreme Court den Anwendungsbereich der Equal Protection Clause nicht weiter ausdehnte.

3. Plessy v. Ferguson - die „separate but equal" -Doktrin a) Die Mehrheitsmeinung Bei Plessy v. Ferguson handelt es sich um eine der weitreichendsten Entscheidungen des Supreme Court, in deren Folge die Equal Protection Clause als Instrument zur Gleichstellung der Schwarzen über einen Zeitraum von 50 Jahren praktisch bedeutungslos wurde. Es ging es um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Louisiana, das die Trennung von Weißen und Schwarzen in Eisenbahnabteilen vorschrieb. Das Gesetz bestimmte, daß die Eisenbahngesellschaften 35 36

Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 365f. (1886). Ebd., S. 369f., 373. Hervorhebung durch H. Sch.

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für Weiße und Schwarze getrennte, jedoch gleichwertige Abteile zu schaffen hatten. Passagieren, die sich nicht an diese Vorschriften hielten, sowie dem Zugpersonal, das sie nicht durchsetzte, wurden bis 25 Dollar Geldstrafe und Freiheitsstrafe bis zu 21 Tagen angedroht. Der Kläger, Plessy, hatte eine Fahrkarte für ein ausschließlich Weißen vorbehaltenes Abteil erworben und sich geweigert, dieses auf Verlangen des Personals wieder zu verlassen. Daraufhin wurde er verhaftet. 37 Richter Brown untersuchte für die Mehrheit des Supreme Court zunächst, ob das Gesetz über die Rassentrennung in Eisenbahnen, wie vom Kläger vorgebracht, gegen das 13. Amendment verstieß. Das 1865 ratifizierte 13. Amendment schaffte die Sklaverei ab und verbot die Zwangsarbeit. 38 Der Supreme Court berief sich auf die Civil Rights Cases39, in denen entschieden worden war, daß nicht jede Diskriminierung automatisch mit dem Symbol der Sklaverei verbunden sei, und lehnte daher das Eingreifen des 13. Amendments ab. 4 0 Die Auslegung des 14. Amendments begann Richter Brown mit der Feststellung, daß diese Vorschrift die Gleichheit beider Rassen vor dem Gesetz beabsichtige, es jedoch aus der Natur der Sache folge, daß das 14. Amendment nur politische, nicht aber soziale Gleichheit durchsetzen könne. Die Trennung der Rassen impliziere nicht die Minderwertigkeit einer Rasse.41 Der Supreme Court berief sich auf Entscheidungen von Gerichten der Bundesstaaten, die die Rassentrennung in den Schulen aufrechterhielten, aber den Schwarzen politische Rechte einräumten. Soziale und politische Rechte, wie etwa das verfassungswidrige Verbot, Schwarze nicht als Geschworene zuzulassen, seien voneinander zu unterscheiden.. Die rechtliche, nicht aber die soziale Gleichstellung der Rassen sei durch das 14. Amendment geboten. Auf den Einwand des Richters Harlan, der in seiner abweichenden Meinung davor warnte, daß die Rassentrennung willkürlich in allen Lebensbereichen durchgesetzt werden könne 42 , entgegnete die Mehrheit des Supreme Court, daß die Rassentrennung am Maßstab der Vernunft gemessen werden müsse. Sie dürfe nur in gutem Glauben im Dienst des Gemeinwohls, nicht aber zur Unterdrückung einer bestimmten 37

Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 540ff. (1896). Absatz 1 des 13. Amendments lautet: „Neither slavery nor involuntary servitude, except as a punishment for crime whereof the party shall have been duly convicted, shall exist within the United States, or any place subject to their jurisdiction." 39 109 U.S. 3, 24 (1883). 40 Plessy v. Ferguson , 163 U.S. 537, 543 (1896). 41 Ebd., S. 544. Hervorhebung durch H. Sch. 42 Ebd., S. 557 (Harlan, J., dissenting). 38

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Klasse aufrechterhalten werden. Jedoch räumte der Supreme Court der Legislative für die Beurteilung der Vernünftigkeit einer Regelung einen weiten Spielraum ein. Diese Frage solle in Übereinstimmung mit den etablierten Bräuchen, Sitten und Traditionen, der Erhaltung des öffentlichen Friedens und der Ordnung entschieden werden. 43 Der Supreme Court wandte sich sodann der Frage zu, ob die Rassentrennung die Minderwertigkeit der Schwarzen impliziere. Dies sei, so die Formulierung des Richters Brown, nur dann der Fall, wenn die Schwarzen es selbst so verstünden. Zudem sei die Vorstellung unrealistisch, daß soziale Vorurteile durch Gesetzgebung überwunden werden könnten. Wenn die soziale Gleichheit der beiden Rassen hergestellt werden solle, könne dies nur aufgrund ihrer natürlichen Neigungen und ihrer freiwilligen Zustimmung geschehen.44 b) Harlans Dissent Der Dissent des Richters Harlan beschrieb Hintergründe und Wirkung der Segregationsgesetze realistischer: Die Rassentrennung treffe nicht beide Rassen mit der gleichen Stärke, sondern beabsichtige die Ausgrenzung der Schwarzen. In Eisenbahnen würden Schwarze unter dem Vorwand, daß sie die gleiche Behandlung wie Weiße erhielten, gezwungen, von Weißen getrennt zu reisen. Ihre persönliche Freiheit werde beeinträchtigt. Harlan wies darauf hin, daß sich die weiße Rasse als dominant betrachte. Dies sei nicht mit einer Verfassung vereinbar, die keine höheren Rassen kenne. Das Kastenwesen sei der amerikanischen Verfassung fremd. Die Verfassung sei farbenblind. Schließlich könne sich der Supreme Court nicht auf Urteile berufen, die zu einer Zeit entstanden seien, als die öffentliche Meinung durch die Institution der Sklaverei dominiert war t als Vorurteile gegenüber Schwarzen das Land regierten. Harlan sagte der Entscheidung in Plessy v. Ferguson genauso schlimme Auswirkungen voraus, wie sie Dred Scott v. Sandford nach sich gezogen habe. Plessy v. Ferguson werde zeigen, daß es durch Gesetze der Bundesstaaten möglich sei, die Zwecke des 14. Amendments zu unterlaufen 4 5 c) Kritische Analyse Es ist bemerkenswert, daß die Abstimmungsmehrheit und Richter Harlan, was die Methodik der Auslegung der Equal Protection Clause anbelangt, nicht so weit entfernt scheinen. Sie erachteten Diskriminierungen 43 44 45

Ebd., S. 550f. (majority opinion). Hervorhebungen durch H. Sch. Ebd., S. 551. Ebd., S. 551, 557 ff. (Harlan, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch.

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gegen eine bestimmte Rasse für unzulässig und betonten, daß die Gleichstellung der Rassen das Ziel des 14. Amendments war. Es fand keine ausführliche Diskussion über Text, Systematik oder historische Hintergründe des 14. Amendments statt. Der Unterschied zwischen beiden Auffassungen besteht im wesentlichen darin, daß die Mehrheitsansicht im Gegensatz zu Harlan Rassentrennung für vernünftig und dem Gemeinwohl zuträglich hielt. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Art und Weise, wie die Abstimmungsmehrheit den Gemeinwohlbegriff definierte. Sie entschied die „Vernünftigkeit" des Gesetzes unter Zuhilfenahme von Sitten, Bräuchen, Traditionen und verwies auf die „Natur der Sache". Es ist kaum bestreitbar, daß die Vorstellung, daß beide Rassen verschieden seien und daß die weiße Rasse höher einzustufen sei, zur damaligen Zeit herrschend war. Der Supreme Court ging mithin davon aus, daß die gegenwärtige Sozialmoral toleriert werden müsse. Richter Harlan war mit seiner Vision der „farbenblinden Verfassung" seiner Zeit voraus. Plessy v. Ferguson ist nicht leicht mit der Urteilsbegründung in Strauder v. West Virginia vereinbar. Dort hatte der Supreme Court alle gesetzlichen Diskriminierungen Schwarzer abgelehnt. Die in Plessy v. Ferguson neu eingeführte Unterscheidung zwischen der verbotenen politischen und der tolerierten sozialen Diskriminierung kommt einem teilweisen „overruling" der Entscheidung in Strauder v. West Virginia gleich. Bemerkenswert ist auch die unterschiedliche Behandlung dessen, was der Supreme Court als Vorurteile bezeichnet. Während in Strauder v. West Virginia das 14. Amendment als Mittel zur Bekämpfung gesellschaftlicher Vorurteile verstanden wurde, ließ der Supreme Court in Plessy v. Ferguson die sozialen Beziehungen zwischen den Rassen ungestört. Mit anderen Worten, die Verfassungsrichter tolerierten die soziale Ausgrenzung der Schwarzen. Der Supreme Court unterstellte des weiteren realitätsfremd, daß die soziale Rassentrennung zu tatsächlich gleichen Bedingungen für beide Rassen führe, daß sie nicht auf der Prämisse der Minderwertigkeit einer Rasse basiere. Dieser Begründungsansatz ist nur vor dem Hintergrund des Weltbildes der Richter des Supreme Court verständlich. Es handelt sich letztendlich um eine Wertentscheidung. Die Rassentrennung wurde von den Richtern des Supreme Court als sozial erwünscht beziehungsweise akzeptabel angesehen. Die Sozialmoral fand auf zwei verschiedenen Wegen Eingang in die Urteilsbegründung: Es wurde einerseits im Einklang mit ihr vorausgesetzt, daß die Rassentrennung keiner Rasse schade. Andererseits erkannte der Supreme Court die Sozialmoral explizit als Faktor zur Beurteilung der Vernünftigkeit von Gesetzen an.

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IV. Die Interpretation der Due Process Clause zu Anfang des 20. Jahrhunderts Die Due Process Clause des 14. Amendments bestimmt, daß der Staat dem einzelnen Leben, Freiheit oder Eigentum nur unter Beachtung eines angemessenen Verfahrens nehmen darf. 46 Die Rechtsprechung des Supreme Court zur Due Process Clause unterscheidet jedoch entgegen dem Wortlaut zwischen einer prozeduralen (Procedural Due Process) und einer materiellen (Substantive Due Process) Komponente. Diese Untersuchung beschäftigt sich ausschließlich mit dem materiellen Aspekt der Due Process Clause.

1. Der Schutz ökonomischer Interessen die Lochner-Rechtsprechung Bei der 1905 von Richter Peckham begründeten Entscheidung, die ein Gesetz des Bundesstaates New York für verfassungswidrig erklärte, das die Wochenarbeitszeit auf 60 Stunden begrenzte 47 , handelt es sich zweifellos um das in diesem Jahrhundert am meisten kritisierte Urteil des Supreme Court. Es ist Symbol für richterlichen Aktionismus entgegen den Vorstellungen der Mehrheit der Gesellschaft. Die amerikanische Kritik prägte für diesen Vorwurf das Schlagwort des „Lochnering" oder „Lochnerizing". Die Substantive Due Process Clause, auf die sich die Begründung in Lochner stützte, war bereits in früheren Entscheidungen des Supreme Court benutzt worden, um Gesetze der Bundesstaaten für verfassungswidrig zu halten. 48

a) Allgeyer v. Louisiana Allgeyer v. Louisiana 49 war einer der Fälle, die den Boden für die Lochner-Rechtsprechung bereiteten. Der Supreme Court hielt ein Gesetz des Bundesstaates Louisiana für verfassungswidrig, das das Versicherungswesen 46

Die Due Process Clause des 14. Amendments entspricht der des 5. Amendments und lautet im Original: „Nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property; without due process of law.", 14. Amendment, Absatz 1, Satz 2, 2. Halbsatz. 47 Lochner ν. New York, 198 U.S. 45 (1905). 48 Ein wichtiger Schritt bei der Verteidigung der Eigentumsrechte gegen staatliche Regulierung war die Entscheidung in Santa Clara Co. v. Southern Pac. R. /?., 118 U.S. 394 (1886), in der der Supreme Court die Klagebefugnis juristischer Personen unter dem 14. Amendment bejahte. Vgl. hierzu W. O. Douglas, Stare Decisis, 49 Colum. L. Rev. 735, 737 f. (1949). Für eine Zusammenfassung der Entscheidungen, die der Lochner-Rechtsprechung vorangingen, vgl. Stone u.a., Constitutional Law, 1991, S. 787 ff. 49 165 U.S. 578 (1897).

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in Louisiana regulierte. Für die hier verfolgten Zwecke ist nur der Teil der Entscheidung von Interesse, der sich mit dem Inhalt der Due Process Clause befaßt. Richter Peckham schrieb für den Supreme Court, daß der Freiheitsbegriff der Due Process Clause mehr als die körperliche Bewegungsfreiheit beinhalte. Freiheit im Sinne der Due Process Clause bedeute auch, daß der einzelne seine Fähigkeiten auf rechtmäßige Weise nutzen dürfe. Insbesondere sei er berechtigt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und zu diesem Zweck alle nötigen Verträge ungehindert abzuschließen. Unter Bezugnahme auf die Formulierung der Unabhängigkeitserklärung, die das Streben nach Glück (pursuit of happiness) als natürliches und unantastbares Menschenrecht bezeichnet, zitierte Peckham zustimmend eine frühere Entscheidung, in der das Recht, den Geschäften des täglichen Lebens nachzugehen, als gottgegeben und unantastbar bezeichnet worden war. Dies habe das vorliegende Gesetz nicht beachtet, als es der nicht in Louisiana ansässigen Klägerin Versicherungsgeschäfte in diesem Bundesstaat untersagte. Dieses Verhalten gehe über die zulässige Regulierung des Versicherungswesens hinaus und sei daher verfassungswidrig. 50 b) Die Begründung der Abstimmungsmehrheit in Lochner v. New York Richter Peckham gab die Auffassung von sieben Richtern des Supreme Court wieder. Die Richter Holmes und Harlan dissentierten. Die Mehrheit entschied, daß die gesetzliche Begrenzung der Wochenarbeitszeit von Bäkkern in New York die von der Due Process Clause des 14. Amendments garantierte Vertragsfreiheit verletzte. Peckham merkte an, daß die Vertragsfreiheit nicht unbegrenzt gelte. Vielmehr dürften die Bundesstaaten im Rahmen ihrer „police power" nur solche Beschränkungen der Vertragsfreiheit durchsetzen, die der Sicherheit, der Gesundheitsfürsorge, der Aufrechterhaltung der Moral und dem Gemeinwohl dienten und vernünftig seien. Peckham zitierte eine Reihe von Fällen, in denen gesetzliche Einschränkungen der Vertragsfreiheit aufrechterhalten wurden, unter anderem bei Regelungen zur Begrenzung der Wochenarbeitszeit von Bergarbeitern, der Kontrolle städtischer Gesellschaften, der Pflichtimpfung und der Beachtung der Sonntagsruhe. Er argumentierte, daß die „police power" nicht unbegrenzt gelten könne. In diesem Fall würde das 14. Amendment leerlaufen. Daher habe das Gericht in jedem Fall zu entscheiden, ob die „police power" auf unvernünftige, unnötige oder willkürliche Weise in die Freiheitsrechte des einzelnen eingreife. Dies sei jedoch nicht eine Frage der Substituierung der Entscheidung der Legislative durch die der Judikative. So sei die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vorstellbar, die das Gericht für falsch halte. 51 50

Ebd., S. 589, 591 f. Hervorhebung durch H. Sch.

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Peckham untersuchte, ob es für die Begrenzung der Wochenarbeitszeit von Bäckern einen vernünftigen Grund gab. Er vertrat die Ansicht, daß sich der Bäckerberuf im Gegensatz zu dem des Bergarbeiters nicht wesentlich von anderen Berufen unterscheide. Die Qualität des Brots hänge nicht von der Arbeitszeit der Bäcker ab. Peckham verwies auf das „gemeinsame Verständnis", nach dem der Bäckerberuf nicht an sich als ungesund angesehen werde. Wenn man eine Regulierung dieses Berufs zulasse, wäre kein anderer Beruf vor einer ebensolchen Regulierung geschützt. Die Macht der Legislative wäre unbegrenzt. Das Gesetz stelle eine unrechtmäßige Beeinträchtigung des Rechts von Arbeitnehmern und Arbeitgebern dar, den Vertrag zwischen ihnen nach ihrem eigenem Willen zu gestalten. Peckham Schloß mit der Bemerkung, daß Gesundheitsfürsorge und Gemeinwohl allenfalls eine entfernte Beziehung zu dem Gesetz hätten. 52

c) Der Dissent Harlans In seinem Dissent setzte der Richter Harlan zunächst die Theorie der Mehrheitsmeinung voraus, daß unter der verfassungsrechtlich geschützten Vertragsfreiheit nur für das Gemeinwohl vernünftige Regelungen zulässig seien. Er wies darauf hin, daß es nicht Aufgabe der Gerichte sei, zu entscheiden, ob ein Gesetz politisch klug sei. Hier sei es jedoch offensichtlich, daß eine substantielle Beziehung zwischen der Gesundheit der Bäcker und ihrer Wochenarbeitszeit bestehe, die Regelung unter Beachtung allgemeiner Erfahrungen mithin nicht willkürlich sei. 53 Zur Begründung zitierte Harlan aus der empirischen Literatur, die die Beschwerden der Berufsgruppe der Bäcker ausführlich diskutierte. Des weiteren berief sich Harlan auf statistische Angaben, verglich etwa die durchschnittliche Arbeitszeit von Bäckern in den Vereinigten Staaten mit der in anderen Ländern und kam zu dem Ergebnis, daß hinsichtlich der ökonomischen Vernunft der Regelung zumindest Raum zur Diskussion bestehe. Daher liege keine willkürliche Regelung vor. Das Gesetz verstoße nicht gegen die Verfassung. Harlan warf der Abstimmungsmehrheit vor, das 14. Amendment über den ursprünglich geplanten Anwendungsbereich hinaus anzuwenden. 54

51 Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 53ff. (1905). Peckham scheint auf den Unterschied zwischen Willkür und Unzweckmäßigkeit zu verweisen. 52 Ebd., S. 57, 59, 61, 64. 53 Ebd., S. 65, 68 f. (Harlan, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. 54 Ebd., S. 70ff.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court d) Holmes ' Dissent

Der Dissent von Oliver Wendeil Holmes gehört zu den berühmtesten und am häufigsten zitierten richterlichen Äußerungen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. In der für ihn typischen Prägnanz faßte Holmes seine Einwände gegen die Mehrheitsmeinung auf zwei Seiten zusammen. Holmes bemerkte eingangs, daß die Entscheidung in diesem Fall auf der Basis einer ökonomischen Theorie gefällt worden sei, die von einem Teil des Landes nicht vertreten werde. 55 Holmes lehnte es ab, sich näher mit der Frage zu beschäftigen, ob diese Theorie richtig sei. Dies sei nicht die Pflicht des Richters, dessen persönliche Übereinstimmung mit einem Gesetz nichts mit dem Recht der Mehrheit zu tun habe, ihre Meinungen in Gesetzen zu verkörpern. Das 14. Amendment „verkündet nicht die Sozialstatistik von Mr. Herbert Spencer." 56 Holmes verwies auf die vom Supreme Court für verfassungsgemäß gehaltenen Gesetze zur Zwangsimpfung und Höchstarbeitszeit für Bergleute. „Einige dieser Gesetze beinhalten Ansichten oder Vorurteile, die von Richtern wahrscheinlich geteilt werden. Andere nicht. Aber es ist nicht beabsichtigt, daß eine Verfassung eine bestimmte ökonomische Theorie verkörpert. Dies gilt für die Theorien des Paternalismus, der organischen Beziehung zwischen Bürger und Staat, ebenso wie für die des Laissez faire. Sie ist für Menschen mit fundamental verschiedenen Ansichten geschaffen worden. ... Generelle Aussagen entscheiden nicht konkrete Fälle. Jede Entscheidung beruht auf einem intuitiven Urteil, das subtiler ist als die Artikulation einer Prämisse. ... Ich glaube, daß das Wort ,Freiheit' im 14. Amendment verfälscht wird, wenn es dazu benutzt wird, das natürliche Ergebnis der dominanten Meinung zu verhindern, es sei denn, daß ein rationaler und fairer Mensch notwendig einräumen müßte, daß das Gesetz fundamentale Prinzipien verletzten würde, die in den Traditionen unseres Rechts und unseres Volkes verankert sind." 51 Dies sei bei dem hier zu überprüfenden Gesetz nicht der Fall. Ein vernünftiger Mensch könne es als zulässige Maßnahme zur Gesundheitsvorsorge verstehen. 58

55 Es ist die im 19. Jahrhundert vorherrschende Theorie des Laissez faire gemeint. 56 Ebd., S. 75. (Holmes, O. W., dissenting). Herbert Spencer (1820-1903), ein englischer Philosoph, war Anhänger des Sözialdarwinismus. Holmes selbst stand Spencers Lehren eher aufgeschlossen gegenüber. 57 Ebd., S. 75 f. Hervorhebung durch H. Sch. 58 Ebd.

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e) Kritische Analyse Es ist bemerkenswert, daß die Abstimmungsmehrheit das 14. Amendment, das zur Durchsetzung der Interessen der ehemaligen Sklaven geschaffen worden war, zum Schutz wirtschaftlicher Interessen benutzte. Insofern war der Supreme Court weit über die Intentionen der Autoren des 14. Amendments hinausgegangen. Der Supreme Court ging sowohl in Lochner v. New York als auch in Allgeyer v. Louisiana von der im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung aus, daß die Vertragsfreiheit eines der natürlichen Rechte sei, die bereits von der Unabhängigkeitserklärung garantiert worden seien. Die Due Process Clause des 14. Amendments erwähnt die Vertragsfreiheit nicht explizit, sie schreibt lediglich vor, daß die Beschränkung der Freiheit des einzelnen nicht ohne „due process of law" möglich ist. Entgegen dem in den Slaughter-House Cases verwendeten engen Auslegungskonzept, der Beschränkung des 14. Amendments auf die Gleichstellung der Schwarzen, hat der Supreme Court durch die Substantive Due ProcessRechtsprechung den Anwendungsbereich des 14. Amendments weit ausgedehnt. Die Richter der Abstimmungsmehrheit hatten, wie ihnen Harlan in seinem Dissent vorwarf, den Blick für die Realität verloren. Sie waren davon ausgegangen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Aushandlung der Arbeitsverträge gleichstarke Positionen einnahmen. In diesem Fall wäre ein Eingreifen des Staates nicht nötig, sondern unvernünftig gewesen. Die moralischen und ökonomischen Anschauungen der Richter führten zu einer Verklärung der Wirklichkeit. 5 9 Dieses Versagen ist Thema des Dissents des Richters Harlan. Die Philosophie des Laissez faire sei nicht geeignet, den Herausforderungen der industriellen Revolution um die Jahrhundertwende standzuhalten. Holmes kritisierte die Entscheidung grundsätzlicher. Die Wertungen des Gerichts seien nicht nur unrealistisch, sie seien auch einer bestimmten politischen Theorie verhaftet. Dies widerspreche der Natur der Verfassung. Während Theorien neu aufgestellt würden und wieder in Vergessenheit gerieten, habe sich das Verfassungsgericht an den von der dominanten Meinung vertretenen Theorien zu orientieren. Von diesen Theorien könne nur abgewichen werden, wenn die fundamentalen Traditionen des Landes dazu Anlaß geben. Holmes sprach sich in seinem Dissent für richterliche Toleranz gegenüber der Sozialmoral aus. Holmes hält die Legislative für den in der Regel verbindlichen Indikator der Sozialmoral. Nach seinem institutionellen Verständnis sind Gerichte bei der Anwendung der Verfassung zu 59

Vgl. J. H. Ely , The Wages of a Crying Wolf: Comment on Roe v. Wade, 82 Yale L. J. 920, 937 ff. (1973); J. G. Wilson , The Role of Public Opinion in Constitutional Interpretation, 1993 B.Y.U. L. Rev. 1037, 1082f. 4 Schiwek

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

äußerster Zurückhaltung aufgefordert. Ihnen bleibt lediglich die Vernunftkontrolle, der Vergleich mit den fundamentalen Traditionen der Nation. Nach der Konzeption dieser Arbeit wird Sozialmoral als die Gesamtheit der gesellschaftlich dominierenden Wertvorstellungen unter Einbeziehung der von der Gesellschaft akzeptierten Traditionen definiert. Diese Faktoren begrenzen nach Holmes' Theorie die Möglichkeiten des Verfassungsgerichts. Sein Hinweis auf den intuitiven Charakter des Prozesses der Verfassungsanwendung spiegelt seine Zweifel an der Objektivität der herkömmlichen Methodik wieder. Auf Holmes ' rechtstheoretische Arbeiten wird näher einzugehen sein. 60 Sein Lochner- Dissent kommt einem Plädoyer für eine sich wandelnde, lebendige Verfassung gleich, deren Inhalt von der jeweiligen Sozialmoral mitbestimmt wird. f) Die Lochner-Aldi Der Supreme Court hielt von 1905 bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts eine Vielzahl von wirtschaftslenkenden Gesetzen für verfassungswidrig. So wurden Gesetze zum Schutz von Gewerkschaftsmitgliedern vor willkürlichen Entlassungen 61 , Gesetze, die den Mindestlohn für Frauen festlegten 62 , und Gesetze zur Preisregulierung 63 für verfassungswidrig gehalten. Da diese Entscheidungen auf der Auslegung der Substantive Due Process Clause in Lochner v. New York basierten, spricht man heute von der „Lochner-Ära". Der Supreme Court war zu dieser Zeit tief gespalten. Die in der Abstimmung regelmäßig unterlegenen Richter Holmes, Brandeis, Stone, Hughes und Cardozo, Cardozo war auf Holmes' Position nachgerückt, verfaßten eine Vielzahl von Dissenten ähnlich denen von Holmes und Harlan in Lochner v. New York. Diese Rechtsprechung beeinträchtigte ernsthaft die Fähigkeit des Staates, auf die Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre zu reagieren. Offensichtlich entsprachen die Präferenzen der Lochner-Mehrheit nicht den Präferenzen der Mehrheit der Bürger der Vereinigten Staaten. Später wurde diese Periode als eine der von richterlichen Wertpräferenzen am stärksten beeinflußten Perioden in der amerikanischen Verfassungsgeschichte bezeichn e * 64

net. 60

Siehe unten S. 196ff. Copper ν. Kansas, 236 U.S. 1 (1915). 62 Adkins v. Childrens Hospital, 261 U.S. 525 (1923). 63 Ribnik v. McBride, 277 U.S. 350 (1928); Williams v. Standard Oil Co., 278 U.S. 235 (1929). Für eine Zusammenfassung der Entscheidungen des Supreme Court in der Lochner-Ära vgl. Stone u.a. (Fn. 48), S. 802 ff. m.w.N. 64 A. S. Miller/ R. F. Howell , The Myth of Neutrality in Constitutional Adjudication, 27 U. Chi. L. Rev. 661, 674 (1960). Vgl. auch die umfangreiche Darstellung 61

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2. Das Ende der Lochner-Rechtsprechung a) Die Kontroverse zwischen Supreme Court und Exekutive der „court packing plan" Die Lochner-Rechtsprechung blieb nicht ohne Widerspruch der anderen Gewalten. So versuchte Präsident Franklin D. Roosevelt durch den sogenannten „court packing plan" auf die Zusammensetzung des Supreme Court Einfluß zu nehmen. Dieser von ihm 1937 vorgeschlagene, jedoch letztendlich nicht ausgeführte Plan sah vor, daß für jeden Richter, der über 70 Jahre alt war, ein zusätzlicher Richter an den Supreme Court berufen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatten sechs der neun Richter die Altersgrenze überschritten. Bei Umsetzung des Plans hätte Roosevelt eine komfortable Mehrheit für seine New-Deal-Reformen gehabt, hatte der Supreme Court doch viele New-Deal-Gesetze mit einer fünf zu vier Mehrheit für verfassungswidrig erklärt. Der Plan hätte einfacher als ein Verfassungsamendment verwirklicht werden können, da die Besetzung des Supreme Court durch einfaches Gesetz geregelt wird. Letzten Endes entging der Supreme Court dem „court packing plan". Richter Roberts, ein Angehöriger der Mehrheit, die den New-Deal-Reformen feindselig gegenüberstand, Schloß sich in West Coast Hotel v. Parrish der Roosevelt-freundlichen Minderheit an. Wenig später trat der 1910 an den Supreme Court berufene Richter Van Devanter, ein weiteres Mitglied der konservativen Lochner-Mehrheit, aus Altersgründen von seiner Position zurück. Daraufhin ließ die Roosevelt-Administration den „court packing plan" fallen. 65 Aufgrund der freiwerdenden Positionen gelang es Roosevelt schließlich, den Supreme Court bis 1941 völlig neu zu besetzen.66 Der Konflikt zwischen Judikative auf der einen und den anderen beiden Gewalten auf der anderen Seite war gelöst. Die New-Deal-Krise ist nach der Dred-Scott-Entscheidung ein weiteres Beispiel dafür, daß der Supreme Court auf längere Zeit nicht gegen den Willen der dominanten Mehrheit agieren kann. zur Vertragsfreiheit unter der Substantive Due Process Clause bei H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 344ff. 65 „The switch in time that saved Nine". Es wird überwiegend vertreten, daß Roberts bereits vor der Bekanntgabe des „court packing plan" seine Meinung geändert hatte. Zu den Hintergründen des „court packing plan", insbesondere dem krassen Widerspruch zwischen dem Weltbild des überalterten Supreme Court und dem reformbedürftigen Land, vgl. W. E. Leuchtenburg, The Origins of Franklin D. Roosevelt's „Court Packing Plan", 1966 Sup. Ct. Rev. 347. 66 Vgl. D. M. O'Brien , Storm Center, The Supreme Court in American Politics, 1986, S. 92 ff. 4*

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court b) Der schrittweise Abschied von der Lochner-Rechtsprechung

Der Supreme Court hielt in der Lochner-Ära nicht sämtliche die Nutzung des Eigentums regulierenden staatlichen Regelungen für verfassungswidrig. Der Abschied von der Lochner-Rechtsprechung erfolgte schrittweise. Der Supreme Court hielt in Nebbia ν. New York 61 die staatliche Regulierung von Milchpreisen für verfassungsgemäß, ohne jedoch mit der Lochner-Ooktrin zu brechen oder ein Präjudiz der Lochner-Äia. explizit aufzuheben. Dies geschah drei Jahre später in West Coast Hotel v. Parrish. c) West Coast Hotel v. Parrish - die Wende des Supreme Court aa) Die Begründung der Abstimmungsmehrheit West Coast Hotel v. Parrish 68 ging als die Entscheidung in die Geschichte ein, in der der Supreme Court sich ausdrücklich von der Lochner-Rechtsprechung verabschiedete. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Staates Washington, das einen Mindestlohn für Frauen vorschrieb. Der Kläger berief sich auf die Entscheidung Adkins v. Childrens Hospital 9, in der der Supreme Court unter Berufung auf die Due Process Clause des 14. Amendments den Minimum Wage Act des District of Columbia für verfassungswidrig gehalten hatte. Chief Justice Hughes, der für die Abstimmungsmehrheit in West Coast Hotel v. Parrish schrieb, stellte zunächst fest, daß Adkins v. Childrens Hospital einschlägig sei, jedoch erneut überprüft werden müsse. Es handele sich um eine besonders bedeutende Frage, da viele Bundesstaaten ähnliche Gesetze verabschiedet hätten. Zudem hätten sich die wirtschaftlichen Bedingungen so geändert, daß eine neue Betrachtung der Rechtsfrage unumgänglich sei 10 Die Vertragsfreiheit selbst werde nicht im 14. Amendment erwähnt. Der Text des 14. Amendments schreibe nur vor, daß die Freiheit nicht ohne „Due Process of Law" eingeschränkt werden dürfe. Jedoch erkenne die Verfassung keine absolute und unkontrollierte Freiheit an. Der Schutz von Frauen gegen skrupellose Arbeitgeber liege im öffentlichen Interesse. Frauen konstituierten die Klasse von Arbeitnehmern mit den geringsten Löhnen. Ihre Verhandlungsposition sei relativ schwach. Sie seien Opfer derer, die diese schwache Position ausnutzten. Die Ungleichheit der Verhandlungsposition und die Verweigerung eines Arbeitslohns, der für das 67

291 U.S. 502 (1934). 300 U.S. 379 (1937). 69 261 U.S. 525 (1923). 70 West Coast Hotel v. Parrish, H. Sch. 68

300 U.S. 379, 390 (1937). Hervorhebung durch

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Lebensnotwendigste erforderlich sei, führe nicht nur zur Schädigung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frauen. Diese Frauen würden zugleich zu einer Last für die Gemeinschaft, die für sie sorgen müsse. Die Gemeinschaft könne jedoch nicht gezwungen werden, rücksichtslose Arbeitgeber zu subventionieren. Sie könne durch die Legislative den Mißbrauch korrigieren, der seine Wurzeln in der eigennützigen Gleichgültigkeit einiger Arbeitgeber gegenüber dem öffentlichen Interesse habe. Das Mindestlohngesetz sei ein geeignetes Mittel, diesem Übel abzuhelfen. Die legislative Antwort sei nicht willkürlich. Weiter könne die gerichtliche Überprüfung nicht gehen. Die Entscheidung in Adkins v. Childrens Hospital sei von den auf die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern anwendbaren Prinzipien abgewichen und werde daher aufgehoben. Das Mindestlohngesetz Washingtons sei verfassungsgemäß. 71

bb) Der Dissent des Richters Sutherland Drei Richter schlossen sich dem Dissent des Richters Sutherland an. Sutherland warf der Abstimmungsmehrheit vor, die Verfassung außerhalb der vorgeschriebenen Amendment-Prozedur abzuändern. Die Verfassung werde ausgehöhlt, wenn ihre Bedeutung an veränderte wirtschaftliche Bedingungen angepaßt werde. Sie könne nicht schon deshalb geändert werden, weil sie nicht neuen Bedingungen gerecht werde. Gerichte seien auf Interpretation beschränkt und dürften nicht unter dem Schleier der Interpretation den Inhalt der Verfassung ändern. Eine Verfassung werde ihrer Wirkung beraubt, wenn ihre Vorschriften den jeweiligen Umständen oder der öffentliche Meinung angepaßt würden. Gerichte dürften lediglich erklären, was das geschriebene Recht bedeute. Die Anpassung an veränderte Umstände müsse dem Volk überlassen bleiben. Die Bedeutung der Verfassung sei mit ihrer Verabschiedung festgelegt. 72 Mit einem derartigen Verfassungsverständnis sei die Abkehr von Adkins v. Childrens Hospital nicht vereinbar. Das Mindestlohngesetz sei vielmehr willkürlich und verstoße gegen die in der Due Process Clause des 14. Amendments verankerte Vertragsfreiheit. 73 cc) Kritische Analyse Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Mehrheitsmeinung und dem Dissent besteht in der Konzeption der Verfassungsinterpretation. 71 72 73

Ebd., S. 391. 397 ff. Ebd., S. 401, 403 f. (Sutherland, G., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 408.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Die dissentierenden Richter hielten an der Methode des 19. Jahrhunderts fest. Die Verfassung sei nicht lebendig, ihre Bedeutung könne nur auf dem formellen Weg der Verfassungsänderung abgeändert werden. Eine Anpassung der Verfassungsinterpretation an die jeweilige öffentliche Meinung beziehungsweise neue tatsächliche Umstände liege nicht in der Macht der Gerichte. Die Mehrheitsmeinung formulierte ihren methodischen Ansatz weniger deutlich. Sie bekannte sich nicht offen zu dem Konzept der lebendigen Verfassung. Die neuen wirtschaftlichen Bedingungen sind für sie jedoch Anlaß zur Überprüfung des Präzedenzfalls. Die fünf Richter der Abstimmungsmehrheit gingen ausführlich auf die neue Situation ein. Hinzuweisen ist auf die unterschiedliche Darstellung der Position der Arbeitgeber. Im Gegensatz zu Allgeyer v. Louisiana und Lochner v. New York, wo der Supreme Court ausführlich auf die historischen Wurzeln des Eigentumsrechtes einging, beschrieb Chief Justice Hughes eine neue Spezies von eigennützigen Eigentümern, die wehrlose Frauen ausbeuteten und sich auf Kosten der Gesellschaft bereicherten. Diese Ausführungen waren von der inzwischen herrschenden Sozialmoral geprägt, die die Rechte des einzelnen nicht um jeden Preis in den Vordergrund stellte. In den dreißiger Jahren standen die Probleme der Wirtschaftskrise, insbesondere die weitverbreitete Armut und Arbeitslosigkeit, im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Staatliche wirtschaftslenkende Maßnahmen wurden überwiegend als erstrebenswert angesehen, was in der überwältigenden Zustimmung für das NewDeal-Programm von F. D. Roosevelt zum Ausdruck kam. Die Urteilsbegründung von Chief Justice Hughes ist deutlich von dieser Zustimmung geprägt. Der Unterschied zwischen den Mehrheitsmeinungen in Lochner v. New York und West Coast Hotel v. Parrish besteht nicht in der Interpretationsmethode, sondern in der Ideologie der Verfassungsrichter. 74 Implizit erkannte die Abstimmungsmehrheit auch an, daß die Verfassung kein von der Realität unabhängiges Gebilde ist. Der Verfassungsinhalt wurde in West Coast Hotel v. Parrish vielmehr an den Erfordernissen der Wirklichkeit ausgerichtet. Das Prinzip der stare decisis spielte in dieser Entscheidung keine wesentliche Rolle. Da das Präjudiz, Adkins v. Childrens Hospital, nicht zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme geeignet war, hielt der Supreme Court nicht länger an ihm fest. Schließlich ist auf einen Vorwurf des Dissents hinzuweisen, der Versuche des Supreme Court, den Verfassungsinhalt an die Wirklichkeit anzupassen, bis zum heutigen Tag begleiten sollte. Die dissentierenden Richter hielten der Mehrheit vor, die richterliche Rolle zu überschreiten, indem sie die 74

E. Chemerinsky, Foreword: The Vanishing Constitution, 103 Harv. L. Rev. 43, 100 (1989).

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Verfassung abänderten und letzendlich »politisch4 entschieden, die Rolle der Legislative im Amendment-Prozeß übernahmen. Miller/Howell bemerkten zutreffend, daß die die Lochner-Rechtsprechung aufhebenden Richter nicht weniger von ihren Wertpräferenzen beeinflußt waren als die Richter der Lochner-Periode. 75 Letztendlich muß das Abrücken von der Lochner-Rechtsprechung als Kapitulation des Supreme Court vor der öffentliche Meinung verstanden werden. 76 d) Das Ende der Lochner-Doktrin Lochner v. New York wurde bis zum heutigen Zeitpunkt nicht formell aufgehoben. 77 Vielmehr macht der Supreme Court bei in das Eigentumsrecht eingreifenden Gesetzen von seiner Überprüfungsbefugnis unter der Substantive Due Process Clause keinen Gebrauch mehr. Er beschränkt sich auf eine reine Willkürkontrolle. 78 Der Supreme Court räumt den anderen Gewalten einen weiten Spielraum ein. In United States v. Carotene Products entschied der Supreme Court, daß bei ökonomischen Regelungen die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit gelte. Kläger, die eine Verletzung ihrer Rechte aus dem 14. Amendment behaupteten, trügen die Beweislast, daß die Regelung nicht auf einer rationalen Grundlage (rational basis) begründbar sei. 79 Der Supreme Court hielt wirtschaftslenkende Gesetze regelmäßig für mit der Due Process Clause vereinbar. 80 Mit der neuen Interpretation der Due Process Clause ging eine neue, weitere Interpretation der „Commerce Clause" des Artikel. I, 8. Absatz einher, die die Kompetenz der Bundesregierung in Wirtschaftsfragen wesentlich erweiterte. 81 75

A. S. Miller/ R. F. Howell. (Fn. 64), S. 674. Vgl. J. G. Wilson (Fn. 59), S. 1103 f. m.w.N. 77 Vgl. M. J. Horwitz (Fn. 30), S. 75 f. 78 Der Supreme Court der Lochner-Äia hielt eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen für verfassungswidrig, indem er sie als „willkürlich" einstufte. Dieser Willkürbegriff ist von dem heute verwendeten Willkürbegriff verschieden. Da in Lochner v. New York ein fundamentales Recht auf Eigentum anerkannt worden war, wurden eigentumsregulierende Maßnahmen strikt überprüft. Im heute verwendeten ScrutinySchema des Supreme Court, siehe dazu unten S. 68, würde die Löc/wer-Rechtsprechung oberhalb des auf Willkürkontrolle beschränkten „Rational Basis Test", etwa auf der Höhe des „Intermediate Scrutiny Test", eingeordnet werden. 79 304 U.S. 144 (1938). Diese Entscheidung ist heute vor allem für die „Fußnote 4" berühmt, die bei Eingriffen in Rechte von isolierten und politisch einflußlosen Gruppen einen strikteren gerichtlichen Überprüfungsstandard vorschreibt. Ebd., S. 152, Fn. 4. Siehe dazu unten S. 189. 80 Vgl. die Zusammenstellung der Fälle bei Stone u.a. (Fn. 48), S. 807ff. 81 Siehe United States v. Darby , 312 U.S. 100 (1941); Wickard v. Filburn, 317 U.S. 111 (1942). Vgl. auch Stone u.a., ebd., S. 167ff.; Barron u.a., Constitutional Law, 1992, S. 97ff. jeweils m.w.N. sowie H. Ehmke (Fn. 64), S. 138ff.; Η. H. 76

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Auch dieses wichtige Umschwenken des Supreme Court ist auf das Wirken der Sozialmoral zurückführbar. 82 Der Supreme Court distanzierte sich später in einigen obiter dicta von der Lochner-Methodik. So schrieb Richter Black in Ferguson v. Skrupa, daß die Doktrin der Loc/wer-Rechtsprechung, unzweckmäßige Gesetze unter der Substantive Due Process Clause aufzuheben, schon lange aufgegeben worden sei. Man sei vielmehr zu der ursprünglichen Interpretation der Verfassung zurückgekehrt, nach der Gerichte nicht ihre eigenen sozialen und ökonomischen Vorstellungen für die der Legislative substituieren dürften. 83 3. Der Schutz nichtökonomischer Interessen unter der Substantive Due Process Clause a) Meyer ν. Nebraska - das fundamentale Recht auf Erziehung aa) Die Urteilsbegründung Meyer v. Nebraska 84 war einer der ersten Fälle, in denen der Supreme Court die Substantive Due Process Clause außerhalb der Vertragsfreiheit interpretierte. Richter McReynolds schrieb die Urteilsbegründung für die Abstimmungsmehrheit. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Nebraska, das den Unterricht von Fremdsprachen in den ersten acht Schuljahren an allen privaten und öffentlichen Schulen des Bundesstaates verbot. Der Kläger hatte einem zehnjährigen Schüler Unterricht in Deutsch erteilt und war dafür von den Gerichten Nebraskas verurteilt worden. 85 McReynolds begann seine Ausführungen mit einer Definition des Freiheitsbegriffs des 14. Amendments. Dieser beschränke sich nicht auf die körperliche Bewegungsfreiheit, sondern umfasse auch die Vertragsfreiheit, das Recht, „den herkömmlichen Beschäftigungen des Lebens nachzugehen, nützliches Wissen zu erwerben, zu heiraten, einen Wohnsitz einzurichten, Trute, Zur Entwicklung des Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, ZaöRV 49 (1989), 191, 229 ff. Zum Verhältnis von Bund und Gliedstaaten in den USA vgl. auch E. Benda, Neuere Entwicklungen im amerikanischen Föderalismus, in: Gegenrede, Festschrift für E. G. Mahrenholz, 1994, S. 957 ff.; Α. Β. Gunlicks, Prinzipien des amerikanischen Föderalismus, in: Deutschland und sein Grundgesetz, P. Kirchhof, D. P. Kommers (Hrsg.), 1993, S. 99 ff. 82 So W. O. Douglas (Fn. 48), S. 738 f. 83 372 U.S. 726, 730 (1963). 84 262 U.S. 390 (1923). 85 Vgl. ebd., S. 396ff.

Β. Von 1870-1930

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Kinder zu erziehen ... und all die Privilegien zu genießen, die vom common law als für das Streben nach Glück wesentlich erachtet werden In diese Freiheit dürfe nicht willkürlich eingegriffen werden. Es sei vielmehr ein vernünftiger Bezug zu einem in der Kompetenz des Bundesstaates liegenden Zweck erforderlich. Das amerikanische Volk habe Ausbildung und Erwerb von Wissen immer als besonders wichtig angesehen. Mit diesem Recht korrespondiere die natürliche Pflicht der Eltern, für eine angemessene Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Deutschkenntnisse könnten vernünftigerweise nicht als schädlich angesehen werden. Das Recht, Deutsch zu unterrichten, sei Teil der vom 14. Amendment geschützten Freiheit. 8 6 McReynolds akzeptierte nicht den Einwand, daß das Gesetz zur Regelung des Fremdsprachenunterrichts erlassen worden sei, um die staatsbürgerliche Entwicklung und die Entwicklung amerikanischer Ideale zu fördern. Nebraska habe gegen ein fundamentales Recht verstoßen. Der erstrebenswerte Zweck könne nicht mit verbotenen Mitteln erreicht werden. Das Gesetz sei daher willkürlich und ohne vernünftigen Bezug zu einem in der Kompetenz Nebraskas liegenden Zweck. 8 7 Holmes ' zu einem Parallelfall veröffentlichter Dissent beschränkt sich auf die Feststellung, daß die von Nebraska angewandte Methode nicht von vornherein unvernünftig sei. Es handele sich vielmehr um eine Frage, über die vernünftigerweise verschiedene Meinungen möglich sind. Daher verstoße es nicht gegen die Verfassung, daß dieses Experiment durchgeführt werde. 88 bb) Kritische Analyse McReynolds ging in seiner Begründung nicht ausführlich auf die Schwierigkeiten ein, die bei der Anwendung des zum Schutz der Rechte der befreiten Sklaven geschaffenen 14. Amendments auf die Erziehungsrechte der Eltern entstehen. Er begründete kaum, warum das 14. Amendment ein fundamentales Recht auf Fremdprachenunterricht enthalten soll. McReynolds sprach vielmehr nur von dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern. Der Inhalt der Substantive Due Process Clause wurde von ihm mit Rücksicht auf die von der Gesellschaft anerkannten Traditionen bestimmt. McReynolds griff auf das common law als Quelle verfassungsrechtlich geschützter Traditionen zurück. Da allgemein akzeptierte Traditionen im hier verwendeten Sozialmoralbegriff enthalten sind, kann man McReynolds' Begründung als Ausfüllung 86 87 88

Ebd., S. 399f. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 402 f. Bartels v. Iowa, 262 U.S. 404, 412f. (Holmes, O. W., dissenting).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

der Due Process Clause mit Hilfe der Sozialmoral verstehen. Während Holmes es vermied, im Wertungskonflikt zwischen individuellen Rechten und dem Gemeinwohlinteresse Stellung zu beziehen, scheute McReynolds sich nicht vor der Parteinahme zugunsten der Individualrechte. Diese Wertung sollte ihm später den Vorwurf der „Naturrechtsmethodologie" einbrin89

gen. Holmes hielt an seinem in Lochner vertretenen VerfassungsVerständnis fest, nach dem das Verfassungsgericht Experimente des Gesetzgebers tolerieren müsse, solange eine bloße Meinungsverschiedenheit über die Frage möglich sei. Holmes akzeptierte die Beurteilung der Sozialmoral durch die Legislative in der Regel als verbindlich.

b) Pierce ν. Society of Sisters - das Recht auf Privatschulunterricht Pierce ν. Society of Sisters 90 ist neben Meyer v. Nebraska der einzige Fall, in dem der Supreme Court der zwanziger Jahre ein von der Vertragsfreiheit verschiedenes fundamentales Freiheitsrecht unter der Substantive Due Process Clause anerkannte. Die Kläger waren private Schulen, deren Betrieb durch ein Gesetz des Bundesstaates Oregon gefährdet wurde, das den Schulunterricht bis auf wenige Ausnahmen auf öffentliche Schulen begrenzte. Nachdem McReynolds, der für die Abstimmungsmehrheit schrieb, private Schulen als nützlich und wertvoll eingestuft hatte, verwies er knapp auf Meyer v. Nebraska und die in dieser Entscheidung verankerte Freiheit der Eltern, über die Ausbildung ihrer Kinder zu bestimmen. McReynolds stellte die Frage, ob das Gesetz in einer vernünftigen Beziehung zu einem erlaubtem Zweck stehe. Er berief sich auf die den Institutionen der Vereinigten Staaten zugrundeliegende fundamentale Freiheitstheorie, nach der die Bundesstaaten nicht die Macht hätten, Kinder zu standardisieren, indem sie gezwungen werden, in öffentlichen Schulen Unterricht zu erhalten. Ein Kind sei nicht nur eine Kreatur des Staates. Die, die es aufzögen und sein Schicksal bestimmten, hätten das Recht und die Pflicht, es für seine Verpflichtungen vorzubereiten. Das Gesetz Oregons sei unvernünftig und willkürlich. 9 1 Wiederum scheint die Entscheidung McReynolds von dessen konservativem Weltbild geprägt, in dem kein Platz für staatliche Eingriffe in die Kindeserziehung ist. Hinzuweisen ist auch auf eine andere argumentative Technik, mit der die Richter des Supreme Court ihre persönlichen Vorstellungen 89 So Richter Black in seinem Dissent zu Griswold S. 129. 90 268 U.S. 510 (1925). 91 Ebd., S. 535 f. Hervorhebung durch H. Sch.

v. Connecticut. Siehe unten

C. Vom Ende der Lochner-kra bis zum Warren-Court

59

in die Urteilsbegründung einbringen. McReynolds beschrieb ausführlich die Nützlichkeit privater Schulen, stellte diese Einrichtungen als unentbehrlich dar. Die Darstellung des Sachverhalts läßt häufig Rückschlüsse auf die Wertvorstellungen der Verfassungsrichter zu.

C. Rechtsprechung des Supreme Court vom Ende der Lochner-Àra bis zum Warren-Court I. Die Inkorporationsdebatte Mitte dieses Jahrhunderts beherrschte die Auseinandersetzung um die Due Process Clause des 14. Amendments die amerikanische Verfassungsdiskussion. Es ging um die Frage, ob die Bill of Rights über die Due Process Clause des 14. Amendments auch gegenüber den Bundesstaaten Anwendung findet. Diese Kontroverse nahm der Supreme Court zum Anlaß, grundsätzlich zur Interpretation der Due Process Clause Stellung zu nehmen. 7. Falko v. Connecticut - „ the concept of ordered liberty " Falko v. Connecticut 92 stellte den Supreme Court vor die Frage, ob die „Double Jeopardy Clause" des 5. Amendments, nach der eine Tat nur einmal bestraft werden kann, auch gegenüber den einzelnen Bundestaaten anwendbar ist. 9 3 Dazu müßte sie durch die Due Process Clause in das 14. Amendment inkorporiert worden sein. Der Fall wird heute vor allem wegen der Definition zitiert, mit der Richter Cardozo den Inhalt der Substantive Due Process Clause beschrieb. Cardozo lehnte es ab, die gesamte Bill of Rights, d.h. die ersten acht Amendments, in die Substantive Due Process Clause zu inkorporieren. 94 Letztere beinhalte nur solche Prinzipien, die notwendiger Bestandteil der Freiheitsordnung (implicit in the concept of ordered liberty) seien. Diese Gerechtigkeitsprinzipien seien so in Bewußtsein und Traditionen des Volkes verwurzelt, daß sie als fundamental eingeordnet würden 95 Ein solches Gerechtigkeitsprizip sei der Schutz vor Folter. 92

302 U.S. 319 (1937). Der entsprechende Absatz des 5. Amendments lautet im Original: „... nor shall any person be subject for the same offence to be twice put in jeopardy of life or limb". Die Klausel entspricht im wesentlichen Art. 103 III GG. 94 Ebd., S. 323. 95 Vgl. die ähnliche Formulierung Cardozos in einem früheren Urteil: Massachusetts könne seine Gerichte nach seiner eigenen Konzeption von politischer Richtigkeit und Fairneß organisieren, dürfe jedoch nicht Gerechtigkeitsprinzipien verletzen, die so in den Traditionen und Bewußtsein des Volkes verankert seien, daß sie als fundamental eingeordnet würden. Snyder ν. Massachusetts, 291 U.S. 97, 105 (1934). 93

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Die „Double Jeopardy Clause" selbst sei sicher nicht eines der fundamentalen Freiheits- und Gerechtigkeitsprinzipien, die die Grundlage der bürgerlichen und politischen Institutionen der Vereinigten Staaten bildeten. 96 Während die Entscheidung in Falko v. Connecticut später aufgehoben wurde 97 , d.h. die „Double Jeopardy Clause" gilt nach der neueren Rechtsprechung auch gegenüber den Bundesstaaten, hat Cardozos Definition der Substantive Due Process Clause bis heute Bestand. Cardozo stellte die Verbindung zwischen der Due Process Clause sowie Bewußtsein und Traditionen des Volkes, der Sozialmoral, her. Er hob das Bild von einer starren Verfassung mit einem zeitunabhängigen Inhalt auf. Due Process wird zum lebendigen Konzept. Diese Konzeption der Verfassungsinterpretation entspricht Cardozos rechtstheoretischen Arbeiten. 98 2. Adamson v. California

- die Black/Frankfurter-Debatte

Adamson v. California 99 ist ein weiterer Fall zur Inkorporationsdebatte, also der Frage, ob die Vorschriften der Bill of Rights über das 14. Amendment auch gegenüber den einzelnen Bundesstaaten anwendbar sind. Zu entscheiden war, ob die „Seif Incrimination Clause" 1 0 0 des 5. Amendments auch für die einzelnen Bundesstaaten verbindlich ist. Die „Seif Incrimination Clause" bestimmt, daß der Angeklagte im Strafprozeß nicht zur Aussage verpflichtet ist und - so die Auslegung durch den Supreme Court für das 5. Amendment - sein Schweigen nicht gegen ihn verwendet werden kann. Der Supreme Court lehnte die Anwendung der „Seif Incrimination Clause" gegenüber den einzelnen Bundesstaaten in einer von Richter Reed verfaßten Urteilsbegründung unter Berufung auf die Entscheidungen in Palko v. Connecticut 101 und Twining v. New Jersey 102 ab. Die Entscheidung verdient jedoch Aufmerksamkeit wegen der zustimmenden Meinung des Richters Frankfurter und dem von Richter Black verfaßten Dissent, der sogenannten Black/Frankfurter-Debatte. Inhalt der Auseinandersetzung war das Verhältnis von Legislative und Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine Teilfrage der Debatte war, welche Faktoren bei der Verfassungsauslegung eine Rolle spielen dürfen. 96

Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319, 325, 328 (1937). Hervorhebungen durch H. Sch. 97 Benton v, Maryland, 395 U.S. 784 (1969). 98 Vgl. dazu unten S. 210ff. 99 332 U.S. 46 (1947). 100 Der entsprechende Absatz des 5. Amendments lautet im Original: „... nor shall be compelled to be a witness against himself 4. 101 302 U.S. 319 (1937). 102 211 U.S. 78 (1908).

C. Vom Ende der Lochner-ra bis zum Warren-Court a) Frankfurters

61

Position

Richter Frankfurter verteidigte die von Cardozo in Palko v. Connecticut gewählte Formulierung, nach der die Due Process Clause des 14. Amendments die Prinzipien umfasse, die für ein faires, aufgeklärtes und gerechtes Regierungssystem wesentlich seien. Weder aus der Entstehungsgeschichte noch aus dem Wortlaut des 14. Amendments sei die Inkorporation der Bill of Rights ableitbar. Die einzelnen Bundesstaaten hätten kaum ohne Diskussion eine Vorschrift ratifiziert, die ihren Strafprozeß so fundamental verändert. 1 0 3 Die Due Process Clause des 14. Amendments enthalte nicht alle Vorschriften der Bill of Rights. Sie sei aber auch nicht auf diese beschränkt. Sie habe wie die Due Process Clause des 5. Amendments ein eigenes und unabhängiges Potential und umfasse die Vorstellungen von Anstand und Fairneß, die den Gerechtigkeitsvorstellungen der englisch sprechenden Völker entsprechen. 104 Jedoch folge daraus nicht, daß Richter völlig ungebunden seien. Sie müßten sich innerhalb der akzeptierten Gerechtigkeitsvorstellungen bewegen und dürften ihre Entscheidungen nicht auf ein von eigenen Vorlieben geprägtes persönliches Urteil stützen. Eine wichtige Garantie gegen ein ausschließlich persönliches Urteil sei die Einräumung eines weiten Spielraums für die einzelnen Bundesstaaten. 105 b) Der Dissent Blacks Richter Black stellte in seinem Dissent in erster Linie auf die institutionelle Rolle des Supreme Court ab. Die Mehrheitsmeinung, so Black, setze voraus, daß der Supreme Court ein dem Naturrecht vergleichbaren Einfluß habe, von Zeit zu Zeit die Verfassung zu erweitern oder zu beschränken, um sie seiner jeweiligen Konzeption von dem anzupassen, was „zivilisierter Anstand" oder „fundamentale Freiheit und Gerechtigkeit" bedeuteten. Eine derart weite Kompetenz stehe dem Supreme Court nicht z u . 1 0 6 Diese 103

ring).

Adamson v. California,

332 U.S. 46, 59, 62ff. (1947) (Frankfurter, F., concur-

104 Die Formulierung geht auf eine in Twining v. New Jersey, 211 U.S. 78 (1908) entwickelte Doktrin zurück. Dort hatte der Supreme Court auf den Zusammenhang zwischen der Due Process Clause und bestimmten generellen Prinzipien hingewiesen, die bereits Teil der Magna Charta („law of the land") gewesen waren. Es sei daher bei der Interpretation der Due Process Clause zu prüfen, ob ein fundamentales Freiheits- und Gerechtigkeitsprinzip verletzt worden sei, ebd., S. 100, 106. Die Formulierung („law of the land") der Magna Charta wurde vom Supreme Court bereits vor Inkrafttreten des 14. Amendments als bedeutungsgleich mit der Due Process Clause des 5. Amendments eingestuft. Siehe Murray v. Hoboken & Improvement Co., 59 U.S. (18 How.) 272ff. (1856). 105 Adamson v. California, 332 U.S. 46, 66ff. (1947) (Frankfurter, F. concurring). Hervorhebungen durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

„Naturrechtsformel" fördere eine unzulässige Auswucherung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auf Kosten der Legislative maßten sich Gerichte die letztverbindliche Entscheidungsgewalt auf Gebieten an, in denen die Kompetenz der Legislative nicht durch Vorschriften der Verfassung begrenzt sei. Black berief sich für diese Behauptungen auf die Entstehungsgeschichte des 14. Amendments und dessen Interpretation in den ersten 20 Jahren nach der Ratifizierung, unter anderem in den Slaughter-House Cases. Die in Allgeyer v. Louisiana und Lochner v. New York entwickelte Doktrin des Substantive Due Process habe sich gegen frühere Präjudizien gewendet, die der staatlichen Regulierung der Wirtschaft weiten Spielraum gelassen hatten. Black beschwor die Gefahr, daß der Supreme Court die Bill of Rights durch seine eigenen Vorstellungen über Anstand und Gerechtigkeit substituiere und damit seine Aufgabe aufgebe, die Bill of Rights zu interpretieren. Er schlug vor, die Due Process Clause des 14. Amendments auf die Bill of Rights zu beschränken und damit zu verhindern, daß der Supreme Court die Bill of Rights durch Naturrechtskonzepte ersetzt. 107

c) Kritische Analyse Die Entscheidung in Adamson v. California wurde wie schon Palko v. Connecticut durch den Warren-Court aufgehoben. 108 Heute erkennt der Supreme Court fast alle aus den Bill of Rights abgeleiteten Rechte auch gegenüber den einzelnen Bundesstaaten an. Ausnahmen sind nur die praktisch bedeutungslosen 2. und 3. Amendments, das vom 5. Amendment verliehene Recht auf Anklage durch eine „Grand Jury" sowie das 7. Amendment, das bei einem Streitwert über 20 Dollar das Recht auf ein Geschworenengericht gewährt. Die Inkorporationskontroverse wird hier vor allem wegen der Behandlung der institutionellen Rolle des Supreme Court in der Black/Frankfurter-Debatte dargestellt. Frankfurters Position entspricht einer Kombination der Ansichten von Holmes und Cardozo. Von Cardozo übernahm Frankfurter das Konzept der Offenheit der Verfassung für gesellschaftliche Wertvorstellungen, für Gerechtigkeitsprinzipien, für die Sozialmoral. Dennoch wollte Frankfurter dem Blackschen Vorwurf des „Lochnerizing", des Festschreibens der persönlichen Werte der Verfassungsrichter in die Verfassung, ausweichen. Dies gelang ihm, zumindest formal, durch die Übernahme des Holmesschen Modells der Gewaltenteilung. Holmes schrieb in seinem Lochner-Dissent, daß Verfassungsanwendung ein intuitiver Prozeß sei, und erkannte damit die 106 107 108

Ebd., S. 69 f. (Black, H., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 75 ff., 89. Hervorhebung durch H. Sch. Malloy v. Hogan, 378 U.S. 1 (1964).

C. Vom Ende der Lochner-a

bis zum Warren-Court

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Einflußnahme gesellschaftlicher Wertungen an. Holmes legte dem Richter aber auch Zurückhaltung auf. Hierin folgte ihm Frankfurter. Die Interpretation der Sozialmoral, d. h. der für die Entscheidung relevanten Werte, durch die Legislative sei in der Regel für das Verfassungsgericht verbindlich. Mit Hilfe dieser Vermutung suchte Frankfurter dem Vorwurf des „Lochnerizing" zu entkommen. Blacks Ansatz erinnert an die Begründungen der Abstimmungsmehrheit in Dred Scott v. Sandford und der dissentierenden Richter in West Coast Hotel v. Parrish. Black wollte die Verfassungsanwendung von Wertungen der Richter freihalten. Jedoch vertraute Black nicht auf die Entstehungsgeschichte, sondern bevorzugte die Formalisierung der Due Process Clause durch ihre Reduktion auf die Bill of Rights. 1 0 9 Black ist zuzustimmen, wenn er die fundamentalen Rechte unter der Substantive Due Process Clause als von Richtern geschaffen charakterisiert. Die Substantive-DueProcess-Doktrin geht sowohl über die Intentionen der Verfasser des 14. Amendments als auch über den prozeßorientierten Wortlaut hinaus. Im Ergebnis können beide Ansichten nicht ihr Ziel erreichen und weiteres „Lochnerizing" verhindern. Frankfurters Auffassung kann die relevanten Wertungsmomente nicht weiter als auf die vage Formulierung der „Gerechtigkeitsvorstellungen der englischsprechenden Völker" begrenzen. Zudem ist nicht klar, wie der Ermessenspielraum begrenzt werden kann, den Frankfurter den Bundesstaaten einräumen wollte. Holmes, der ebenfalls für einen weiten Ermessensspielraum für die Legislative der Bundesstaaten plädierte, zog in seinem Lochner- Dissent die Grenze bei der Verletzung fundamentaler Prinzipien und Traditionen des amerikanischen Volkes. Diese Faktoren können aufgrund ihrer Unbestimmtheit nicht garantieren, daß Richter nicht ihre persönliche Werte in die Verfassung schreiben. Nach Blacks Ansicht wird die Due Process Clause des 5. Amendments Teil der Due Process Clause des 14. Amendments, da letzteres die gesamte Bill of Rights inkorporiert. Black muß mit der systematischen Unstimmigkeit fertigwerden, daß die beiden Due-Process-Klauseln trotz gleichen Wortlauts einen unterschiedlichen Inhalt haben. 1 1 0 Schließlich ist die Anwendung der Bill of Rights selbst nicht wertungsfrei. Die Verfassungsrichter stehen wiederum vor der Aufgabe, allgemein gehaltene Formulierun109

Zu Blacks Konzept der Verfassungsinterpretation vgl. C.A. Reich, Mr. Justice Black and the Living Constitution, 76 Harv. L. Rev., 673 (1963) sowie M. Schef er (Fn. 1), S. 101 ff. 110 Dies wird allerdings von der neueren Rechtsprechung des Supreme Court, der die Equal Protection Clause des 14. Amendments in das 5. Amendment hineinliest, in Kauf genommen. Vgl. unten Bölling v. Sharpe und Adarand Constructors Inc. v. Pena, S. 43 f. und S. 56f.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

gen ausfüllen zu müssen. Blacks Position der totalen Inkorporation der Bill of Rights ist bis heute nicht vom Supreme Court übernommen worden. 1 1 1

II. Die Flag-Salute-Kontroverse Die beiden im folgenden dargestellten Fälle, Minersville School District v. Gobitis 112 und West Virginia State Board of Education ν. Barnette 113, bilden eine Ausnahme von den anderen in der Arbeit untersuchten Entscheidungen. Sie sind systematisch der Rede- und Religionsfreiheit des 1. Amendments zugehörig, das gegenüber den Bundesstaaten durch Inkorporation in das 14. Amendment anwendbar ist. Sie wurden in die Darstellung aufgenommen, weil es sich um einen der seltenen Fälle handelt, in denen der Supreme Court innerhalb weniger Jahre eine Entscheidung revidierte. Aus diesen Entscheidungen sind sowohl Rückschlüsse auf die Doktrin der stare decisis als auch auf das institutionelle Selbstverständnis des Gerichts möglich. 1. Minersville

School District ν. Gobitis

Der ersten Flag-Salute-Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die zwölfjährige Lillian Gobitis und ihr zehnjähriger Bruder William, deren Familie den Zeugen Jehovas angehörte, besuchten die öffentliche Schule in Minersville, Pennsylvania. In dieser Schule war allen Schülern und Lehrern die Teilnahme an einer Zeremonie vorgeschrieben, bei der, mit der rechten Hand zur Flagge salutierend, folgendes Gelöbnis zu sprechen war: „Ich gelobe Treue zu meiner Fahne, zu der Republik, für die sie steht, zu der unteilbaren Nation, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle schützt." 1 1 4 Die beiden Kinder lehnten aufgrund ihres Glaubens die Teilnahme an der Zeremonie ab und wurden daraufhin von der öffentlichen Schule ausgeschlossen. Der Supreme Court entschied in einer von Richter Frankfurter begründeten Entscheidung, daß das Vorgehen der Schule nicht gegen das in das 14. Amendment inkorporierte 1. Amendment verstieß. Frankfurter stellte die beiden beteiligten Interessen gegenüber, das der Kinder an der Ausübung ihrer Religion und das des Staates an der Bewahrung der nationalen Einheit. Unter Verweis auf die Notwendigkeit, Freiheit und Demokratie zu schützen, räumte Frankfurter der Legislative einen weiten Spielraum ein. Die privaten Vorstellungen des Richters über die Angemessenheit der Zeremonie dürften bei der Abwägung gegen die natio1,1 112 1.3 1.4

Vgl. hierzu Stone u.a. (Fn. 48), S. 782ff. m.w.N. 310 U.S. 586 (1940). 319 U.S. 624 (1943). Minersville School District ν. Gobitis , 310 U.S. 586, 591 (1940).

C. Vom Ende der Lochner-ia bis zum Warren-Court

65

nalen Interessen keine Rolle spielen. Die Flagge sei Symbol der Nation und verdiene Respekt. Gerichten fehle die Kompetenz einzuschätzen, welche Mittel zur Stärkung der nationalen Einheit notwendig seien. Fragen der Schulbildung sollten nicht im Gerichtssaal, sondern im Parlament entschieden werden. 115

2. West Virginia

State Board of Education ν. Barnette die Mehrheitsmeinung

In dieser vom Richter Jackson verfaßten Entscheidung revidierte der Supreme Court nur drei Jahre später seine Auffassung zur Verfassungsmäßigkeit der Teilnahmepflicht an den Flaggenzeremonien. Wiederum klagten Angehörige der Zeugen Jehovas gegen eine entsprechende Vorschrift. 116 Zunächst wandte sich Jackson gegen das Argument, daß Eingriffe dann unvermeidlich seien, wenn die Demokratie selbst geschützt werden müsse. Mit dieser Begründung könne letztendlich jede Freiheitsbeschränkung gerechtfertigt werden. Ziel der Bill of Rights sei es gewesen, bestimmte Rechte der Unbeständigkeit des politischen Streits zu entziehen, sie außerhalb der Reichweite von Mehrheiten und ihren Repräsentanten zu piazieren und sie als rechtliche Prinzipien zu etablieren. Jackson fügte eine generelle Bemerkung über die Anwendung der Bill of Rights an. Die in ihr verkörperten Prinzipien seien vor dem Hintergrund einer Philosophie entstanden, in der der einzelne Zentrum der Gesellschaft gewesen sei. Der Einfluß der Regierung sei gering gewesen. Diese Prinzipien müßten auf eine Gesellschaft übertragen werden, in der das Konzept des Laissez faire nicht mehr Anwendung finde. Gegenwärtig würde sozialer Fortschritt durch engere Integration der Gesellschaft gesucht, durch Ausweitung und Stärkung der Kontrolle der Regierung. y yDiese veränderten Bedingungen führen zu geringerer Zuverlässigkeit der Präjudizien und überlassen uns öfter, als wir es selbst wünschen, unserem eigenen Urteil."117 Jackson wandte sich daraufhin gegen den Versuch, den einzelnen zu indoktrinieren und wies auf die Gefahr des Totalitarismus hin. Die Vereinigten Staaten hätten eine Regierung der Regierten. Autorität werde von der öffentlichen Meinung kontrolliert und nicht die öffentliche Meinung von der Autorität. Schließlich seien die Haggenzeremonien ungeeignet, Patriotismus hervorzurufen, wenn die Teilnahme an ihnen zur Pflicht gemacht 115 116

Ebd., S. 595 ff. Hervorhebung durch H. Sch. West Virginia State Board of Education

ν. Barnette , 319 U.S. 624, 625f. (1943). 1,7 Ebd., S. 636, 638, 640. Hervorhebungen durch H. Sch. 5 Schiwek

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

werde. Daher verstoße die Pflicht zur Teilnahme an dieser Zeremonie gegen das 1. Amendment. 118 3. Der Frankfurter-Dissent in West Virginia of Education ν. Barnette

State Board

Felix Frankfurter, der Autor der Urteilsbegründung in Minersville School District ν. Gobitis, verfaßte einen Dissent, der über die Entscheidung hinaus Bedeutung hat. In Frankfurters Dissent wird ein institutionelles Selbstverständnis sichtbar, das auf Holmes zurückgeht und bis heute von einer einflußreichen Schule für das Verhältnis von Judikative und Legislative vertreten wird. Frankfurter begann seinen Dissent mit dem Hinweis auf seine eigene Zugehörigkeit zu einer oft verfolgten Minderheit und seine persönliche Ansicht. Er selbst tendiere eher zu einer liberalen Auslegung des 1. Amendments. Jedoch habe kein Mitglied des Gerichts das Recht, seine privaten politischen Ansichten in die Verfassung zu schreiben, unabhängig davon, wie tief es von ihrer Richtigkeit überzeugt sei. Die eigene Meinung über Weisheit oder Fehlerhaftigkeit des zu überprüfenden Gesetzes müsse ausgeschlossen werden, wenn der Richter urteile. Richter dürften vielmehr nur die Vernünftigkeit des Gesetzes überprüfen. Die Funktion der Judikative sei mit der der Legislative nicht vergleichbar. Gerichte könnten nicht als Super-Legislative agieren. Das politische Urteil der Legislative dürfe nicht durch das der Gerichte ersetzt werden. 119 Frankfurter ließ sich nicht auf eine Diskussion über die Nützlichkeit der Zwangsteilnahme an den Flaggenzeremonien ein. Selbst wenn es sich in den Augen des Gerichts um eine ungeeignete .Maßnahme handeln sollte, sei das Gericht aufgrund seiner Stellung im Regierungssystem nicht dazu befugt, die Zwangsteilnahme für verfassungswidrig zu erklären. Dies wäre nur dann möglich, wenn die Zwangsteilnahme ohne jeden Zweifel unvernünftig wäre. 1 2 0 Im für diese Untersuchung wichtigsten Teil des Dissents ging Frankfurter auf die Frage ein, inwiefern der Supreme Court seine Auslegung der Verfassung den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen soll. Frankfurter mahnte, daß das Verfassungsgericht seine Existenzberechtigung verliere, wenn es lediglich den Zwängen des Tages nachgebe. Verfassungsrichter müßten in längeren Zeiträumen als die Legislative denken. Falls Richter in jedem Streitfall ihre persönliche Meinung durchsetzten, gäbe es 118 119 120

Ebd., S. 641 f. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 647 f. (Frankfurter, F., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 661 f.

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keine Garantie, daß ihre Nachfolger nicht anders urteilten. Zwar erkannte Frankfurter an, daß richterliche Entscheidungen nicht unveränderbar seien. Dennoch sei das Übergehen der Entscheidung der Legislative in diesem Fall sehr bedenklich. Das Gericht maße sich eine in der Verfassung nicht definierte zerstörende Kraft an, wenn es Gesetze für verfassungswidrig erkläre, die es für einen Verstoß gegen den „Geist der Verfassung" ansehe. Im vorliegenden Fall sei jedenfalls offensichtlich, daß man vernünftigerweise unterschiedlicher Meinung über den Wert der obligatorischen Haggenzeremonien sein könne. Folglich habe das Gericht keine Macht, diese Maßnahme als verfassungswidrig zu bezeichnen. 121

4. Anmerkung zu den Flag-Salute-Fallen Frankfurters Begründung in Minersville School District v. Gobitis ist von dem der Holmesschen Tradition folgenden Bestreben beeinflußt, der Legislative einen weiten Entscheidungsspielraum einzuräumen und die persönlichen Ansichten des Richters zurückzustellen. Dem entspricht auch die Bemerkung Frankfurters in seinem West-Virginia-State-Board-of-Education-v.-Barnette- Dissent, daß er persönlich eine liberalere Auslegung des 1. Amendments bevorzuge. Frankfurters Minersville-School-District-v.GoWf/s-Begriindung ist jedoch nicht bar jeder Wertung. Frankfurter betonte den Respekt, den die nationale Hagge verdiene. Fragen, die die nationale Einheit betreffen, seien von richterlicher Kontrolle freizuhalten. Diese zurückhaltende Auffassung birgt selbst ein weitendes Moment, die Begrenzung individueller Rechte. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist, daß Frankfurter einer verfassungsrechtlichen Diskussion ausweicht, indem er vorgibt, neutral zu bleiben. Schließlich war Frankfurters Begründung in Minersville School District ν. Gobitis nicht so frei von persönlichen Ansichten, wie er es glauben machen wollte. Das deutliche Bekenntnis der Abstimmungsmehrheit zu nationalen Werten muß im Zusammenhang mit der Kriegsatmosphäre gesehen werden, die auch an den Richtern des Supreme Court nicht spurlos vorüberging. 122 Dies war auch der Ansatzpunkt für die von Jackson in West Virginia State Board of Education ν. Barnette vorgebrachte Kritik. Die Beschränkung individueller Rechte könne nicht per se mit dem Schutz der Demokratie gerechtfertigt werden. Vielmehr müsse in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob der Eingriff in ein individuelles Recht zulässig sei. Jackson argumentierte für die Anpassung der Verfassung an die jeweilige Sozialmo121

Ebd., S. 665 ff. Hervorhebung durch H. Sch. M. J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1992, S. 252; R. A. Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 147 f. 122

5*

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

ral. Die Kategorien des Laissez faire könnten nicht auf eine Gesellschaft angewendet werden, in der der einzelne viel stärker mit dem Staat verbunden ist, in der Eingriffe in individuelle Rechte zahlreicher sind. Festzuhalten ist auch, daß die Doktrin der stare decisis keine besondere Rolle bei der Aufhebung des erst drei Jahre alten Präzedenzfalls spielte. Frankfurter stellte in seinem Minersville-School-District-v.-Gobitis-Dissent nicht in Abrede, daß die Verfassung bestimmten Veränderungen unterliegt. 1 2 3 Jedoch seien, so Frankfurter, die persönlichen Präferenzen der Richter nicht für die Verfassungsauslegung relevant. Frankfurter ging von der Prämisse aus, daß es überhaupt möglich ist, den Einfluß der persönlichen Meinung des Interpreten bei der Verfassungsinterpretation zu eliminieren. Insofern entfernte er sich von Holmes, der außer Frage ließ, daß Richter in gewissem Maße legislativ handeln und persönlich urteilen. Frankfurter zitierte zwar Holmes mit der Forderung, daß Akte der Legislative nur aufgehoben werden dürften, wenn sie „unvernünftig" seien. Frankfurter blieb jedoch eine Erläuterung dessen schuldig, was „unvernünftig" bedeutet. III. Die Herausbildung des Strict-Scrutiny-Standards Der „Strict Scrutiny Test" ist ein relativ neues Phänomen in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung. Wenn er zur Anwendung kommt, wird der Ermessensspielraum der Legislative beziehungsweise der Exekutive so verkürzt, daß das Verfassungsgericht faktisch jede Regelung aufheben kann. Daher charakterisieren viele Beobachter des Supreme Court die Anwendung dieses Tests als „strict but fatal". 1 2 4 Der „Strict Scrutiny Test" kann als extreme Ausweitung der Kontrolldichte der Gerichte verstanden werden. 123

Frankfurter hatte an anderer Stelle, The Zeitgeist and the Judiciary, in: Law and Politics, Occasional Papers of Felix Frankfurter, A. Mac Leish/E. F. Prichard (Hrsg.), 1939, S. 3, 5 ff., darauf hingewiesen, daß es kein statisches Recht, keine unveränderbaren Prinzipien im Recht geben könne. Vielmehr sei es für die Lebensfähigkeit des Rechtssystems entscheidend, daß die Richter den Zeitgeist in sich aufnähmen. Verfassungsrecht sei nicht reine Wissenschaft, sondern angewandte Politik. In diesem Sinne ist Frankfurters Dissent in West Virginia State Board of Education v. Barnette einzuordnen. Frankfurter versuchte, eine Grenze zwischen dem seiner Ansicht nach zulässigen Einfluß der Sozialmoral und dem unzulässigen Einfluß der Richtermoral zu ziehen. Frankfurters Position ist vor dem Hintergrund der LochnerRechtsprechung zu sehen, in der das der Sozialmoral nicht entsprechende Weltbild der Verfassungsrichter zur Lähmung des Landes und einem beträchtlichen Ansehensverlust des Supreme Court geführt hatte. Frankfurters richterliches Selbstverständnis war von dem Bestreben geprägt, eine Wiederholung dieses Übels zu verhindern. 124 Vgl. etwa D. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, in: C. Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 3Iff.

C. Vom Ende der Lochner-i

bis zum Warren-Court

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Diese Ausweitung wurde vom Supreme Court auf einigen Gebieten, hauptsächlich bei der Auslegung der Substantive Due Process Clause durch den „Lochner-Court" vorgenommen, ohne daß eine dem „Strict Scrutiny Test" ähnliche Formulierung benutzt wurde. Vielmehr wurde die Einschätzung der Legislative in diesen Fällen als willkürlich und unvernünftig aufgehoben. Methodisch gibt es jedoch keinen Unterschied zu späteren StrictScrutiny-Entscheidungen, die die Kontrolldichte auf ähnliche Weise ausdehnten. Die Ursprünge des „Strict Scrutiny Test" in seiner heutigen Ausgestaltung finden sich in Entscheidungen des Supreme Court der vierziger Jahre. Der Supreme Court begann, sein Konzept von fundamentalen Rechten und inhärent suspekten Klassifizierungen zu entwickeln. 1. Skinner ν. Oklahoma - das Recht auf Fortpflanzung In Skinner ν. Oklahoma 125 hob der Supreme Court ein Gesetz Oklahomas auf, das die Zwangssterilisierung „habitueller Straftäter" autorisierte. Der Supreme Court bemängelte insbesondere, daß das Gesetz Diebstahl, unter anderem auch Trickdiebstahl und Betrug, nicht aber Unterschlagung erfaßte. Zudem seien die Rechte auf Heirat und Fortpflanzung von fundamentaler Bedeutung für die Existenz und das Überleben der menschlichen Rasse. Die Sterilisierung habe weitreichende Auswirkungen. Dem sterilisierten Straftäter werde unwiderruflich eine Grundfreiheit entzogen. Das Sterilisationsgesetz müsse daher besonders strikt untersucht werden (strict scrutiny). Diesem Test könne die willkürliche Unterscheidung von Diebstahl und Unterschlagung nicht standhalten. Es gebe keine Basis für die Annahme, daß der Unterschied zwischen Diebstahl und Unterschlagung eugenisch relevant sei, daß die Vererblichkeit krimineller Eigenschaften für die beiden Deliktstypen unterschiedlich sei. Diese Ungleichbehandlung verstoße gegen die Equal Protection Clause. 126 Erstmals definierte der Supreme Court ausdrücklich ein fundamentales Recht unter der Equal Protection Clause. Der Supreme Court beschränkte sich nicht auf eine bloße Willkürkontrolle und ließ nicht die Vermutung gelten, daß der Akt der Legislative verfassungsgemäß sei. Vielmehr forderte der Supreme Court Beweise für die Grenzziehung zwischen Unterschlagung und Diebstahl. Der Bundesstaat trug die Beweislast für die Vernünftigkeit der Regelung. Der Supreme Court benutzte zwar noch nicht die heute anerkannte Formulierung des „Strict Scrutiny Test", nach der der Staat nachweisen muß, daß die Regelung notwendig für das Erreichen eines 125 126

316 U.S. 535 (1942). Ebd., S. 538 f., 541 f. Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

überragenden Zwecks ist. Jedoch war der tatsächlich angewendete Überprüfungsstandard nicht weniger strikt.

2. Fälle zur Behandlung von Personen japanischer Herkunft während des zweiten Weltkriegs a) Hirabayashi v. U. S. Hirabayashi v. U.S. 121 behandelte die Gültigkeit einer Ausgangssperre, die nach dem Angriff auf Pearl Harbor über alle Personen japanischer Herkunft, die in den Westküstenstaaten lebten, verhängt worden w a r . 1 2 8 Diese Ausgangssperre betraf unterschiedslos Staatsbürger Japans und der Vereinigten Staaten. Chief Justice Stone verfaßte die Urteilsbegründung. Zunächst bejahte er die Kompetenz des Kongresses zur Autorisierung der Ausgangssperre. Stone untersuchte, ob es eine substantielle Basis für die Annahme von Kongreß und Militär gegeben habe, daß die Schutzmaßnahme nötig gewesen sei, um den Drohungen von Spionage und Sabotage zu begegnen. Er führte aus, daß die Regierung im Kriegsfall einer Vielzahl von Bürgern Entbehrungen aufbürden könne, wenn sie hinreichenden Grund habe, die Bedrohung als ernst einzustufen. Stone behauptete, daß die aus Japan Ausgewanderten durch Solidarität untereinander ihre Assimilierung als integraler Teil der weißen Bevölkerung verhindert hätten. Kinder hätten nach der Schule an japanischen Sprachschulen Unterricht erhalten, wobei vermutet werden könne, daß auf diesem Weg nationalistische Propaganda betrieben worden sei. Einige Kinder seien zur Ausbildung nach Japan geschickt worden. Des weiteren hätten einflußreiche Japaner Beziehungen zu den Konsulaten unterhalten, die wiederum Einfluß im Sinne der japanischen Regierung ausgeübt hätten. Es gebe in Kalifornien wenig gesellschaftliche Beziehungen zwischen Personen japanischer Herkunft und dem weißen Teil der Bevölkerung. Aus diesen Faktoren hätten Kongreß und Exekutive vernünftigerweise schließen können, daß es eine anhaltende Bindung zwischen Teilen der japanischstämmigen Bevölkerung Kaliforniens und Japans sowie japanischen Institutionen gegeben habe. Das wahre Ausmaß der Gefahr von Sabotage und Spionage sei erst im nachhinein einschätzbar gewesen. 129 127

320 U.S. 81 (1943). Obwohl der Kläger auch wegen Nichtbefolgung des Zwangsevakuierungsbefehls, der an alle Einwohner japanischer Herkunft erging, verurteilt worden war, ließ der Supreme Court die Frage nach dessen Rechtmäßigkeit unbeantwortet. Vgl. dazu sogleich die Entscheidung Korematsu v. U. S. 129 Ebd., S. 95 ff. 128

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Stone führte aus, daß das 5. Amendment 1 3 0 keine Equal Protection Clause enthalte, jedoch diskriminierende Bundesgesetze die Due Process Clause verletzen könnten. Unterscheidungen, die ausschließlich aufgrund der Herkunft des einzelnen getroffen würden, seien von vornherein verdächtig (suspect), da sie im Widerspruch zum Gleichheitsprinzip stünden, auf dem alle Institutionen der Vereinigten Staaten gegründet seien. Während rassische Diskriminierungen unter den meisten Umständen irrelevant und daher verboten seien, könnten sie im Kriegszustand nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Stone zitierte Chief Justice Marshall, der in einer Leitentscheidung darauf hingewiesen hatte, daß die Verfassung für die Zukunft geschaffen worden sei und daher an die jeweiligen Bedingungen angepaßt werden müsse.131 Die Ausgangssperre sei eine angemessene Maßnahme gewesen und daher verfassungsgemäß. 132

b) Korematsu v. U. S. In diesem Fall wurde die Verfassungsmäßigkeit der Zwangsevakuierung aller Einwohner japanischer Herkunft aus Kalifornien überprüft. Die Zwangsevakuierung war ohne Prüfung von Einzelfällen vorgenommen worden. Es wurde nicht bestritten, daß der Kläger den Vereinigten Staaten gegenüber loyal eingestellt war. Richter Black begann die Urteilsbegründung mit der Bemerkung, daß alle rechtlichen Beschränkungen, die die Bürgerrechte nur einer einzigen Rasse betreffen, von vornherein verdächtig (suspect) seien und daher der strengsten Kontrolle (most rigid scrutiny) unterworfen seien. Dies bedeute jedoch nicht ihre automatische Verfassungswidrigkeit. Vielmehr könnten sie durch schwerwiegende Gründe und dringende Notwendigkeit gerechtfertigt werden. 133 Black wies auf die Parallelen zur Ausgangsperre in Hirabayashi v. U. S. hin, die wie der vorliegende Fall eine Vielzahl von Bürgern betrafen, deren Loyalität zu den Vereinigten Staaten unbestritten war. Diese sei nur deshalb aufrechterhalten worden, weil das Gericht der Einschätzung des Militärs vertraut hätte, daß eine Trennung von loyalen und illoyalen Bürgern japanischer Herkunft nicht möglich gewesen sei. Die Prinzipien aus Hirabayashi v. U. S. seien auch auf die Zwangsevakuierung anwendbar. Der Vorwurf des Rassismus sei unzutreffend, da die Evakuierung aufgrund von Sicherheits130 Da es sich um Maßnahmen der Bundesregierung handelte, war das nur für die einzelnen Bundesstaaten geltende 14. Amendment nicht anwendbar, sondern die Due Process Clause des 5. Amendments. 131 McCulloch v. Maryland, 17 U.S. (4 Wheat.) 316, 407, 415 (1819). Hervorhebungen durch H. Sch. 132 Hirabayashi v. U.S., 320 U.S. 8, 100, 104f. (1943). 133 Korematsu v. U.S., 323 U.S. 214, 216 (1944). Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

bedenken angeordnet worden sei und nicht aus Feindseligkeit gegenüber Person oder Rasse des Klägers. 1 3 4 Drei Richter des Supreme Court, Jackson, Murphy und Roberts, dissentierten. Hier wird nur der die Mehrheit des Rassismus beschuldigende Dissent von Murphy wiedergegeben. 135 Murphy bezeichnete die Vertreibung der japanischen Bevölkerung aus den Westküstenstaaten als „über den äußersten Rand der Verfassungsmäßigkeit gehend und in den häßlichen Abgrund des Rassismus fallend." 1 3 6 Zwar sei den Militärbehörden in Fragen der nationalen Sicherheit ein weiter Spielraum einzuräumen. Dieser Spielraum sei aber nicht unbegrenzt. Es sei zu prüfen, ob ein vernünftiger Zusammenhang zwischen dem Ausschluß aller Personen japanischer Herkunft und der Gefahr von Sabotage und Spionage bestanden habe. Dieser vernünftige Zusammenhang sei nicht erkennbar. Insbesondere seien keine Beweise für die Vorverurteilung aller Japaner als „über 112.000 potentielle Feinde auf freiem Fuß" erbracht worden. Die Rechtfertigung werde vielmehr aufgrund fragwürdiger soziologischer und rassischer Anschauungen erbracht, daß die Japaner eine große unassimilierte Gruppe seien, die ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und starke Bindungen an ihre Kultur, Rasse und Religion habe. Die diesem Urteil zugrundeliegenden Berichte würden nie Einzelfälle zitieren, sondern immer nur von einer Vielzahl von Fällen sprechen. 137 Die Vertreter dieser Anhäufung von Falschinformationen und Halbwahrheiten gegen Amerikaner japanischer Herkunft seien von rassischen und ökonomischen Vorurteilen beeinflußt. Die auf solchen Vorurteilen basierende Einschätzung des Militärs verdiene nicht das große Gewicht, das normalerweise militärischen Beurteilungen eingeräumt werde. Zudem seien keine adäquaten Gründe angegeben worden, warum gegen Personen italienischer und deutscher Herkunft nicht ähnliche Maßnahmen ergriffen worden seien. Unglaubwürdig sei auch die Behauptung, daß die Loyalitäten der Amerikaner japanischer Herkunft unbekannt gewesen seien und nur wenig Zeit zur Verfügung gestanden habe. Der erste Evakuierungsbefehl sei vier, der letzte acht Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor erlassen worden. Aus den genannten Gründen könne sich Murphy der Legalisierung des Rassismus durch die Abstimmungsmehrheit nicht anschließen. 1 3 8

134

Ebd., S. 218 f., 223. Jacksons und Roberts' Dissente beschäftigten sich in erster Linie mit technischen Fehlern bei der Durchführung der Evakuierung. Siehe ebd., S. 225 ff., 242ff. 136 Ebd., S. 233 (Murphy, F., dissenting). 137 Ebd., S. 234ff. 138 Ebd., S. 239ff. 135

C. Vom Ende der Lochner-

bis zum Warren-Court

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c) Kritische Analyse Hirabayashi v. U. S. ist der erste Fall, in dem rassische Klassifizierungen mit der Begründung als suspekt bezeichnet werden, daß sie in der Regel irrelevant seien. Dies ist insofern bemerkenswert, als in einem großen Teil der Vereinigten Staaten unter der immer noch geltenden „separate but equal"- Doktrin aus Plessy v. Ferguson Rassentrennung praktiziert wurde. In Korematsu v. U. S. kündigte der Supreme Court erstmals die Strict-Scrutiny-Doktrin an, nach der Gerichte bei rassischen Klassifizierungen einen besonders strengen Überprüfungsmaßstab anlegen. Chief Justice Stone betonte die seltene Relevanz der Rassenzugehörigkeit. Er trat dafür ein, die Verfassung an die jeweilige gesellschaftliche Situation anzupassen. Die besondere Situation des Kriegszustandes rechtfertige die in normalen Zeiten unzulässigen Maßnahmen. Stone räumte den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlich dominanten Wertungen und der Verfassungsauslegung ein. Beide Entscheidungen sind jedoch nicht für die Strict-Scrutiny-Methode typisch. Sie stellen vielmehr seltene Ausnahmen von der späteren Praxis dar, rassische Klassifizierungen nahezu ausnahmslos am „Strict Scrutiny Test" scheitern zu lassen. Die Ursachen für die gerichtliche Tolerierung dieser Klassifizierungen sind wiederum nicht ohne Bezug zur Sozialmoral. Die Entscheidungen sind vor dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs zu verstehen. Japan war Kriegsgegner der Vereinigten Staaten. Insbesondere der Angriff auf Pearl Harbor hatte zu einer gegenüber Personen japanischer Herkunft feindseligen öffentlichen Meinung geführt. Murphys Dissent in Korematsu v. U.S. bezichtigte die Abstimmungsmehrheit nicht ganz zu Unrecht des Rassismus. Insbesondere die stereotypen Vorstellungen der Militärbehörden, daß die Bürger japanischer Herkunft alle gleich aussähen, schwer einschätzbar seien und jeglicher Assimilation widerstanden hätten, hatten zur Umsiedlung der japanischstämmigen Einwohner der Westküstenstaaten geführt, während in den Vereinigten Staaten lebende Deutsche und Italiener unbehelligt blieben. 1 3 9 Die Abstimmungsmehrheit übernahm diese Vorstellungen in beiden Fällen ungeprüft, indem sie den Militärbehörden einen weiten Einschätzungsspielraum zugestand. 140 Diese Vorgehensweise entspricht nicht der Anwendung des „Strict Scrutiny Test" in späteren Entscheidungen, wo der Supreme Court Beweise dafür verlangte, daß die konkrete Regelung notwendig war, um einen überragend wichtigen Zweck zu 139

Zur stereotypen Haltung der Militärbehörden vgl. die Nachweise bei Murphy, ebd., S. 236ff. 140 Aus diesem Grund wird Korematsu v. U.S. auch als Abwägungsentscheidung bezeichnet. Die Sicherheitsinteressen des Staates seien für wichtiger befunden worden als die Interessen der evakuierten Bürger. Vgl. T.A. Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, 96 Yale L. J. 943, 964, Fn. 125 (1987).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

erreichen (necessary for a compelling state interest). Trotz der anders lautenden Terminologie ist der in beiden Entscheidungen verwendete Überprüfungsstandard eher dem weiten „Rational Basis Test" als dem „Strict Scrutiny Test" zuzuordnen. D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court I. Brown v. Board of Education Brown ν. Board of Education 141 ist die in ihren Auswirkungen bedeutendste Entscheidung des Supreme Court in diesem Jahrhundert. Diese Entscheidung war Auftakt für die Revolution, mit der der Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren das amerikanische Verfassungsrecht nahezu unumkehrbar geprägt hat. Brown v. Board of Education ist zugleich die neben Lochner v. New York 142 und Roe v. Wade 143 umstrittenste Entscheidung in der neueren Rechtsprechung des Supreme Court. Die auf Brown v. Board of Education folgende wissenschaftliche Debatte verdient wie auch die Entstehungsgeschichte des Urteils besondere Beachtung. 1. Die Entwicklung der „separate but equal" -Doktrin seit Plessy v. Ferguson Plessy v. Ferguson war eine der letzten wichtigen Entscheidungen zur Equal Protection Clause. Danach vernachlässigte der Supreme Court die Equal Protection Clause über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Jedoch ergingen von 1938 bis 1950 vier Entscheidungen, die die „separate but equal"-Doktrin näher ausgestalteten. Es ging um die Zulassung schwarzer Studenten zu ausschließlich Weißen vorbehaltenen Universitäten. Die „separate but equal"-Doktrin tolerierte zwar die Rassentrennung im Universitätssystem, schrieb jedoch vor, daß die getrennten Einrichtungen von gleicher Qualität sein müßten. In Missouri ex rei Gaines v. Canada 144 klagte ein Schwarzer auf Zulassung zur juristischen Fakultät (Law School) der University of Missouri. Missouri unterhielt zu diesem Zeitpunkt ein zweigeteiltes Universitätssystem. Die angesehene University of Missouri ließ nur weiße Studenten zu. Schwarze Studenten mußten sich bei der Parallelinstitution, der Lincoln University, bewerben. Die Lincoln University bildete jedoch keine Juristen aus. 141 142 143 144

Brown v. Board of Education ofTopeka, 347 U.S. 483 (1954). 198 U.S. 45 (1905). 410 U.S. 113 (1973). Vgl. dazu unten S. 131 f. 305 U.S. 337 (1938).

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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Schwarzen Jurastudenten wurde daher ein Zuschuß für den Besuch einer Law School außerhalb Missouris gewährt. Diese Praxis, so Chief Justice Hughes für den Supreme Court, entspreche nicht den Anforderungen der „separate but equal"-Doktrin. Schwarze seien gezwungen, ihre juristische Ausbildung außerhalb des Bundesstaates zu erhalten. Hierin liege eine Ungleichbehandlung, da Missouri Schwarzen nicht das gleiche Recht auf Ausbildung in einer Universität des Bundesstaates gewähre. Diese Diskriminierung werde nicht durch die Übernahme der beim Studium an Universitäten anderer Bundesstaaten anfallenden Studiengebühren ausgeglichen. 145 Missouri ex rei Gaines v. Canada wurde in Sipuel v. Board of Regents 146 bestätigt, einem weiteren Fall, in dem einem schwarzen Bewerber die Zulassung zu einer allein weißen Studenten vorbehaltenen Universität verwehrt worden war. Der Supreme Court ging in Sweatt v. Painter 147 einen Schritt weiter. In diesem Fall war der Kläger nicht zur University of Texas Law School zugelassen worden, sondern auf eine Law School für Schwarze im selben Bundesstaat verwiesen worden. Diese zweispurige Praxis führe, so der Supreme Court, nicht zu einer tatsächlichen Gleichbehandlung. Die University of Texas Law School verfüge über eine bessere Reputation, mehr Erfahrung in Verwaltung und Lehre sowie ein einflußreiches Netzwerk von ehemaligen Studenten. Der Ausschluß schwarzer Studenten von dieser Institution verstoße gegen die Equal Protection Clause. 148 In einer Parallelentscheidung hatte sich der Supreme Court mit einer anderen Form der Ausgrenzung schwarzer Studenten zu befassen. Die University of Oklahoma ließ den schwarzen Kläger zwar zu, benachteiligte ihn jedoch systematisch. So mußte er die Vorlesungen von einem abgegrenzten Sitz aus verfolgen, konnte nicht zusammen mit anderen Studenten die Mahlzeiten einnehmen und war in der Bibliothek auf einen nur ihm zugewiesenen Tisch beschränkt. Der Supreme Court entschied, daß eine Ungleichbehandlung im Sinne der Equal Protection Clause vorlag, obwohl der Kläger Zugang zu den gleichen Einrichtungen wie weiße Studenten hatte. Die Möglichkeiten des Klägers, mit anderen Studenten zu kommunizieren und damit seine Ausbildung erfolgreich zu gestalten, seien zu stark beeinträchtigt worden. 1 4 9 Der Supreme Court vermied es in den aufgeführten Entscheidungen, direkt zur Verfassungsmäßigkeit der Rassentrennung Stellung zu nehmen. 145 146 147 148 149

(1950).

Ebd., S. 340ff. 332 U.S. 631 (1948). 339 U.S. 629 (1950). Ebd., S. 633 ff. McLaurin v. Oklahoma State Regents for Higher Education , 339 U.S. 637

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Er entschied innerhalb der „separate but equal"-Doktrin. Diese Entscheidungen wurden im nachhinein jedoch als Zeichen dafür gewertet, daß der Supreme Court gegen Ende der vierziger Jahre immer weniger bereit war, das System der Rassentrennung an sich zu akzeptieren. Im einzelnen ist jedoch umstritten, inwiefern die angeführten Entscheidungen die Aufhebung der Rassentrennung durch den Supreme Court in Brown v. Board of Education vorbereiteten. 150 Zumindest hielt der Supreme Court in seinen Urteilsbegründungen weiter an der „separate but equal"-Doktrin fest. D. h. es war zu diesem Zeitpunkt möglich, sich auf die jüngeren Entscheidungen des Supreme Court als Präjudizien für diese Doktrin zu berufen.

2. Die Urteilsbegründung

in Brown v. Board of Education

Die Kläger in Brown v. Board of Education waren schwarze Schulkinder. Zu entscheiden war, ob ihr Ausschluß von nur weißen Kindern vorbehaltenen Schulen verfassungsgemäß war. Chief Justice Warren erläuterte zu Beginn der Urteilsbegründung die „separate but equal"-Doktrin aus Plessy v. Ferguson. Nach dieser Doktrin werde dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot genügt, wenn den verschiedenen Rassen substantiell gleiche Einrichtungen zur Verfügung gestellt würden. Dies gelte auch dann, wenn die Einrichtungen getrennt seien. Die Entstehungsgeschichte des 14. Amendments gebe keine Antwort auf die Frage, ob die Rassentrennung verfassungsgemäß sei. Die Mitglieder der Bewegung für die Bürgerkriegsamendments seien zweifellos für die Abschaffung aller Unterschiede zwischen den Rassen gewesen. Ihre Gegner hätten einen möglichst begrenzten Effekt der Zusatzartikel favorisiert. Es könne nicht mit Sicherheit festgestellt werden, was der Kongreß und die das 14. Amendment ratifizierenden Parlamente der Bundesstaaten beabsichtigt hätten. 151 Warren wies auf die Unterschiede hin, die gegenüber der Schulausbildung des 19. Jahrhunderts bestanden. Während weiße Kinder damals vorwiegend in Privatschulen unterrichtet worden seien, hätten Schwarze in der Regel keine Schulbildung erhalten. Angesichts der geringen Bedeutung, den die Schulausbildung zum damaligen Zeitpunkt gehabt habe, sei es nicht verwunderlich, daß die Geschichte des 14. Amendments so wenig Auskünfte über den beabsichtigten Effekt des Zusatzartikels auf die Schulausbildung gebe. 1 5 2 150 Vgl. dazu D. J. Hutchinson , Unanimity and Desegregation, 68 Geo. L. J. 1,3 (1979) m.w.N. 151 Brown v. Board of Education ofTopeka , 347 U.S. 483, 488 f. (1954). 152 Ebd., S. 490.

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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Nach einer Zusammenfassung der Präzedenzfälle auf diesem Gebiet gab Warren seinen methodischen Standpunkt wieder: ,ßei der Annäherung an dieses Problem können wir nicht die Uhr auf 1868 zurückdrehen, als das 14. Amendment verabschiedet wurde; selbst nicht auf 1896, als Plessy v. Ferguson verfaßt wurde. Wir müssen die öffentliche Schulbildung im Lichte ihrer vollen Entwicklung und ihres Platzes im heutigen amerikanischen Leben betrachten. ... Heute ist die Schulausbildung die vielleicht wichtigste Funktion des Staates." 153 Warren begründete sodann, warum der Supreme Court die Rassentrennung im Schulwesen für eine Verletzung der Equal Protection Clause hielt. Er verwies auf „nicht greifbare" Elemente wie das Gefühl der Minderwertigkeit, das die Trennung von gleichaltrigen Kindern hervorrufe. Diese Wirkung sei umso größer, wenn sie rechtlich sanktioniert werde. Die staatlich anerkannte Rassentrennung werde meist als Hinweis auf die Minderwertigkeit der schwarzen Rasse verstanden. Dadurch werde die Lernfähigkeit eines jeden Kindes beeinflußt. Warren zitierte hierzu ausführlich aus der diese Behauptungen unterstützenden soziologischen Literatur. Er kam zu dem Ergebnis, daß für die „separate but equal"-Doktrin im Bereich des Schulwesens kein Platz sei. Getrennte Schuleinrichtungen seien notwendig ungleich. Diese Schlußfolgerung mache die Debatte überflüssig, ob die Rassentrennung in den Schulen auch die Due Process Clause verletze. 154

3. Anmerkung zur Urteilsbegründung Chief Justice Warren war auf die politische Wirkung der Entscheidung bedacht. Insbesondere versuchte er, die Südstaaten nicht für das System der Rassentrennung zu tadeln. Entsprechend kurz ist die Auseinandersetzung des Supreme Court mit Plessy v. Ferguson. Die Geschichte des 14. Amendments komme, so Warren ohne weitere Begründung, als Auslegungshilfe nicht in Betracht. 155 Warren gab nicht an, warum das Ergebnis 153

Ebd., S. 492f. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 494f. 155 Vgl. A. M. Eickel, The Original Understanding and the Segregation Decision, 69 Harv. L. Rev. 1 (1955). Eickel hatte als Clerk (Assistent) des Richters Frankfurter das Gutachten zur historischen Auslegung des 14. Amendments angefertigt, das später der Entscheidung zugrundegelegt wurde. Eickel hatte keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß die Verfasser der Equal Protection Clause die Rassentrennung in den Schulen aufheben wollten. Der Abgeordnete, der den Vorschlag der Verfassungsänderung in das Repräsentantenhaus, eingebracht hatte, hatte eine solche Auslegung des Amendments ausdrücklich abgelehnt. Vgl. Bickel y ebd., S. 56. Im einzelnen ist umstritten, ob die Entstehungsgeschichte des 14. Amendments für oder gegen die Beibehaltung der Rassentrennung in Schulen spricht. R. Eerger , Government by the Judiciary, 1977, S. 117 ff., ist der Auffassung, daß die Autoren 154

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

in Plessy v. Ferguson erneut überprüft wurde. Die Doktrin der stare decisis spielte in der Urteilsbegründung dieses vielleicht wichtigsten „overruling" in der Geschichte des Supreme Court keine Rolle. Zudem hatte Warren die „separate but equal"-Doktrin nur für den Bereich des Schulwesens aufgehoben. Brown v. Board of Education hätte so ausgelegt werden können, daß die „separate but equaP'-Doktrin außerhalb des Schulwesens weiter galt. Der Supreme Court hielt die Rassentrennung im Schulwesen für verfassungswidrig, ohne auf die gewohnten Entscheidungshilfen, historische Auslegung, Präjudizien beziehungsweise Verfassungsdoktrin, zurückgreifen zu können. 1 5 6 Warren machte deutlich, daß die Verfassung nicht ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Entwicklung, hier den zum Entstehungszeitpunkt des 14. Amendments ungeahnten Aufstieg des öffentlichen Schulwesens, interpretiert werden könne. Mit anderen Worten, die soziale Bedeutung einer Tätigkeit nimmt auf ihren verfassungsrechtlichen Schutz Einfluß. Im Gegensatz zu der anschließend behandelten Entscheidung in Bölling v. Sharpe stützte sich Warren nicht auf die Präjudizien in Korematsu v. U.S. und Hirabayashi v. U. S., wo der Supreme Court entschieden hatte, daß rassische Klassifizierungen von vornherein suspekt seien. Plessy v. Ferguson hatte sich als politisch und moralisch falsch erwiesen. Der Verfassungstext erzwang nicht die Aufhebung dieses Urteils. Er ermöglichte jedoch die Neubewertung durch den Warren-Court unter dem Einfluß eines veränderten politischen und moralischen Klimas. 1 5 7 Schließlich befaßte sich Warren ausführlich mit dem „Gefühl der Minderwertigkeit", das die Rassentrennung den ausgegrenzten schwarzen Kindern vermittele. Ein krasserer Unterschied zu Plessy v. Ferguson ist kaum vorstellbar. Dort hatte die Abstimmungsmehrheit konstatiert, daß Rassentrennung nur dann mit der Weitung der Minderwertigkeit verbunden sei, des 14. Amendments die Rassentrennung in den Schulen beibehalten wollten. Berger, der sich vor allem auf die Protokolle des 39. Kongresses stützt, übersieht, daß diese Protokolle nicht die Intentionen der Verfassungsgeber abschließend definieren. Hinzu kommen zumindest die Protokolle der Parlamente der Bundesstaaten, die das Amendment ratifizierten. Jedoch kann der Meinungsstreit hier dahinstehen. Es gibt zumindest keine klaren Anzeichen dafür, daß die Autoren des 14. Amendments für die Abschaffung der Rassentrennung in den Schulen waren. Zum historischen und politischen Hintergrund der Bürgerkriegsamendments vgl. R. J. Kaczorowski, Revolutionary Constitutionalism in the Era of the Civil Law and Reconstruction, 61 N.Y.U. L. Rev. 863 (1986); H. Steinberger , Rassendiskriminierung und Oberster Gerichtshof in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1969, S. 6ff. 156 Dies machte auch der Richter Jackson deutlich, der zunächst nur dann der Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen zustimmen wollte, wenn die politische Natur der Entscheidung betont worden wäre. Vgl. hierzu die unveröffentlichten Notizen Jacksons, wiedergegeben in: B. Schwartz , Chief Justice Rehnquist, Justice Jackson, and the Brown Case, 1988 Sup. Ct. Rev. 245, 255 ff. 157 R. A. Posner (Fn. 122), S. 307.

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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wenn die Schwarzen diese Sichtweise wählten. Warrens anderslautende Wertung war von moralischen Vorstellungen nicht unbeeinflußt. Die Mehrheit der Amerikaner stimmte im Ergebnis mit dem Supreme Court überein. 1 5 8 Lediglich in den Südstaaten gab es eine Mehrheit für die Beibehaltung der Rassentrennung. Bemerkenswert ist auch die Heranziehung soziologischer und psychologischer Erkenntnisse durch den Warren-Court, um die faktische Ungleichheit unter der „separate but equaP'-Doktrin zu demonstrieren. Die Hinwendung des Supreme Court zu den empirischen Wissenschaften unterstreicht den Einfluß, den der legal realism auf den Stil der Gerichte genommen hatte. 1 5 9

4. Boiling v. Sharpe a) Die Urteilsbegründung Boiling v. Sharpe 160 war ein Parallelfall zu Brown v. Board of Education. Die Kläger waren Schulkinder aus Washington, D.C. Das 14. Amendment ist nicht auf den District of Columbia anwendbar, der kein Bundesstaat, sondern eine vom Kongreß verwaltete besondere Verwaltungseinheit ist. 1 6 1 In Bölling v. Sharpe kam daher das 5. Amendment zur Anwendung. Chief Justice Warren handelte das rechtlich eher schwierig anmutende Problem - er interpretierte das 5. Amendment, das vor dem Bürgerkrieg als Teil der ursprünglichen Bill of Rights in Kraft trat, also zu einer Zeit, als die Sklaverei in den Vereinigten Staaten akzeptiert war - in einer dreiseitigen Begründung ab. Er bemerkte eingangs, daß das 5. Amendment keine Equal Protection Clause beinhalte. Jedoch schlössen sich die Institute des Due Process und der Equal Protection nicht gegenseitig aus. Beide Konzepte seien vielmehr mit dem amerikanischen Ideal der Fairneß verbunden. Obwohl sie nicht synonym seien, könne in jeder diskriminierenden Ungleichbehandlung auch eine Verletzung der Due Process Clause liegen} 62 Unter Berufung auf Korematsu v. U.S. und Hirabayashi v. U.S. merkte Warren an, daß Klassifizierungen, die ausschließlich auf die Rassenzugehörigkeit abstellten, den Traditionen der Vereinigten Staaten widersprä158

Vgl. G. A. Spann, Pure Politics, 88 Mich. L. Rev. 1971, 2014 (1990). Vgl. H. A. Linde , Judges, Critics, and the Realist Tradition, 82 Yale L. J. 227, 238 ff. (1972). 160 347 U. S. 497 (1954). 161 Vgl. Art. I, Absatz 8 der amerikanischen Verfassung. 162 Ebd., S. 499. Hervorhebung durch H. Sch. 159

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

chen und daher verfassungsrechtlich suspekt seien. Die Rassentrennung im öffentlichen Schulwesen stehe in keinem Zusammenhang zu einem zulässigen Zweck und stelle eine willkürliche Einschränkung des in der Due Process Clause zugesicherten Freiheitsrechts dar. Es sei unter Berücksichtigung der Entscheidung zur Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen der einzelnen Bundesstaaten undenkbar, daß das Verfassungsgericht der Bundesregierung eine weniger strikte Pflicht auferlege. Folglich sei auch die Rassentrennung im Schulwesen des Districts of Columbia verfassungswidrig. 1 6 3 b) Anmerkung zu Bölling v. Sharpe Boiling v. Sharpe ist methodisch schwer zu verteidigen. 164 Der Supreme Court inkorporierte die Equal Protection Clause des 14. Amendments in die Due Process Clause des 5. Amendments. Damit wies er der Due Process Clause des 5. Amendments einen anderen, weiteren Inhalt als der Due Process Clause des 14. Amendments zu. Auch aus historischer Sicht fällt die Begründung von Bölling v. Sharpe schwer. Die ursprüngliche Bill of Rights wurde zu einer Zeit verfaßt, als die Sklavenhaltung in einer Vielzahl von Bundesstaaten legal war. Die Verfassung selbst erkannte implizit die Sklaverei an. Folglich fußt Bölling v. Sharpe auf der Annahme, daß die Due Process Clause des 5. Amendments durch die Verabschiedung des 14. Amendments implizit abgeändert worden ist. Diese These ist schwer mit der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments vereinbar. Die Bürgerkriegsamendments wurden geschaffen, um die Macht der Bundesstaaten zu beschneiden. Die Resultate des Bürgerkriegs sollten gegen den Widerstand der Südstaaten gesichert werden. Die Bürgerkriegsamendments führten in der Tat zu einer beträchtlichen Verschiebung des Gewichts der Bundesstaaten im Verfassungsgefüge. 165 Es kann aus historischer Sicht kaum argumentiert werden, daß die Due Process Clause des 5. Amendments die Aufhebung der Rassentrennung verlange. Warrens Urteilsbegründung geht nicht auf die hier angesprochenen methodischen Bedenken ein. Sie basiert vielmehr auf folgenden Prämissen: Einerseits schließe das Institut des Due Process das Gleichheitsprinzip nicht aus. Dieses sei vielmehr mit dem amerikanischen Ideal der Fairneß verbunden. Zum anderen entstünde ein unerträglicher Wertungswiderspruch, wenn der Supreme Court die Aufhebung der Rassentrennung in den Bundesstaaten anordnete, sie aber an seinem Sitz, Washington D.C., weiter tolerierte. 163 164 165

Ebd., S. 499 f. Hervorhebung durch H. Sch. So auch H. A. Linde (Fn. 159) S. 233f.; R. A. Posner (Fn. 122), S. 144f. Vgl. dazu auch H. H. Trute (Fn. 81), S. 222f.

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Beide Prämissen sind zustimmungswürdig. 166 Es wäre politisch nicht zu vermitteln gewesen, die Rassentrennung im District of Columbia beizubehalten. Der Supreme Court hat jedoch in Bölling v. Sharpe jegliche Bindung an traditionelle Auslegungsmethoden aufgegeben und der Verfassung einen neuen Inhalt gegeben. Bölling v. Sharpe ist wie kaum eine andere Entscheidung des Supreme Court Beweis für die These des legal realism, daß Gerichte nicht im Einklang mit der traditionellen Methodik, d. h. historischer Auslegung, Wortlaut, Systematik und Präjudizien, handeln. Der Supreme Court hat sich in Bölling v. Sharpe über alle systematischen und historischen Bedenken hinweggesetzt, um das „richtige", d. h. mit den herrschenden Moralvorstellungen zu vereinbarende, Ergebnis zu erreichen. 5. Brown v. Board of Education II In Brown ν. Board of Education II 167 entschied der Supreme Court nach erneuter mündlicher Verhandlung über das Rechtsmittel in den Rassentrennungsfällen. Chief Justice Warren verwies die Fälle an die unteren Instanzen zurück, da diese aufgrund ihrer größeren Nähe zu den örtlichen Bedingungen die Entscheidung am besten umsetzen könnten. Dabei sollten sie nach equity 168 -Prinzipien vorgehen und die öffentlichen und privaten Interessen berücksichtigen. Die Rassentrennung müsse so bald wie praktisch möglich beseitigt werden. Die beklagten Schulämter trügen die Beweislast dafür, daß aus administrativen Gründen Verzögerungen nötig seien. Es sei dabei mit „überlegtem Tempo" (deliberate speed) vorzugehen. 169 6. Der Hintergrund der Urteilsfindung in den Fällen zur Rassentrennung Diese Untersuchung beschränkt sich bei der Ermittlung des Einflusses der Sozialmoral auf die Urteilsfindung grundsätzlich auf die Analyse der Urteilsbegründungen. Es geht um die Argumente, die der Richter nach der getroffenen Entscheidung verwendet, um die Beteiligten, aber auch andere Interessierte von der Richtigkeit des Urteils zu überzeugen. Es wird vertreten, daß die in der Urteilsbegründung verwendeten Argumente den gedanklichen Prozeß der Richter widerspiegeln. Andererseits 166

Vgl. L. H. Tribe , God Save this Honorable Court - How the Choice of Justices Shapes our History, 1985, S. 4. 167 349 U.S. 294 (1955). 168 Equity steht hier für Billigkeitsprinzipien, die in common-law-Ländern verbreitet sind. Für eine deutsche Einführung in die Geschichte von common law und equity vgl. P. Hay (Fn. 1), S. 5 ff. 169 349 U.S. 294, 299ff. (1955). 6 Schiwek

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

wird die Auffassung vorgetragen, daß die Entscheidung über den Ausgang des Falles auf anderem Wege falle. 1 7 0 Dieser Streit ist hier nicht zu entscheiden. Selbst wenn die Begründung des Urteils nicht notwendig den Prozeß der Urteilsgewinnung wiederspiegeln sollte, können aus ihrer Analyse Rückschlüsse auf das Wirken der Sozialmoral gezogen werden. Denn in diesem Fall würden in erster Linie solche Argumente Eingang in die Urteilsbegründungen finden, die dem Verfasser mehrheitsfähig erscheinen, mithin seiner Version der Sozialmoral entsprechen. Von der Begrenzung der Untersuchung auf die Urteilsbegründungen wird bei der Behandlung von Brown v. Board of Education eine Ausnahme gemacht. Grund hierfür ist, daß die Entstehungsgeschichte dieser Entscheidung wie bei keiner anderen Entscheidung des Supreme Court wissenschaftlich untersucht worden ist. Biographen, Rechtshistoriker und Beteiligte haben die Etappen auf dem Weg zu dem bisher wichtigsten Urteil in der Geschichte des Supreme Court ausführlich nachgezeichnet. Brown v. Board of Education war eine politische Entscheidung. Das heißt nicht, daß andere Entscheidungen des Supreme Court weniger wertungsintensiv waren. Jedoch hat sich der Supreme Court in Brown v. Board of Education in besonders starkem Maße mit den gesellschaftlichen und politischen Folgen der Entscheidung beschäftigt. Sowohl das Verfahren als auch die Formulierung der Urteilsbegründung waren von dem Bestreben gekennzeichnet, eine möglichst hohe Akzeptanz für die Entscheidung zu erreichen. a) Der Vinson-Cowvi Die erste mündliche Verhandlung (oral arguments) zu Brown v. Board of Education fand unter Chief Justice Vinson im Dezember 1952 statt. Im Juni 1953 beschloß der Supreme Court, den Fall nicht in der laufenden Sitzungsperiode zu entscheiden, sondern im Herbst 1953 eine erneute mündliche Verhandlung anzuberaumen. 171 Der Supreme Court war unter der Leitung von Chief Justice Vinson stark zersplittert. Vinson wurde von den anderen Richtern des Supreme Court nicht akzeptiert. Er konnte nicht die dem Chief Justice zugedachte Rolle als Vermittler und intellektueller Führer des Gerichts ausfüllen. 172 170

So etwa die Vertreter des legal realism. Siehe dazu unten S. 220ff. Die oral arguments sind keine mündliche Verhandlung im üblichen Sinne. Vielmehr bieten sie jeder Partei Gelegenheit, Fragen der Richter zu den eingereichten Klageschriften (briefs) zu beantworten. In der Regel werden alle innerhalb der einjährigen Sitzungsperiode verhandelten Fälle auch in dieser Periode entschieden. Nur in Ausnahmefällen, wie etwa Brown v. Board of Education , wird der Fall in die nächste Periode übernommen. Für eine detaillierte chronologische Übersicht zu Brown v. Board of Education vgl. M. Tushnet , What Really Happened in Brown v. Board of Education, 91 Colum. L. Rev. 1867, 1869, Fn. 9 (1991). 171

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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Die intellektuelle Atmosphäre, in der der Supreme Court zu Beginn der fünfziger Jahre agierte, machte die Bekräftigung der „separate but equal"Doktrin schwierig. 173 Im Gegensatz zum Zeitpunkt der Verabschiedung des 14. Amendments sprach sich eine Mehrheit der weißen Amerikaner gegen die Aufrechterhaltung der Rassentrennung aus. Die weißen Südstaatler, die einzigen Verteidiger des Prinzips der Rassentrennung, waren nur noch eine regionale Mehrheit. 1 7 4 Die Segregation im Süden stand im Widerspruch zu den Idealen, für die die Vereinigten Staaten im 2. Weltkrieg eingetreten waren. Zudem schadete die Rassentrennung der amerikanischen Außenpolitik in der Ost-West Auseinandersetzung. 175 Die Administration unter Präsident Truman hatte den Supreme Court bereits vor Brown v. Board of Education aufgefordert, Plessy v. Ferguson aufzuheben. Bei den Richtern des Supreme Court konnte der Eindruck entstehen, daß eine Mehrheit der Mitglieder des Kongresses für eine Aufhebung der Rassentrennung war, sich jedoch nicht durchsetzen konnte, da Abgeordnete der Südstaaten Schlüsselpositionen im Kongreß inne hatten. 176 Chief Justice Vinson selbst zögerte angesichts der weitreichenden Konsequenzen, die die Abschaffung der Rassentrennung nach sich gezogen hätte, die „separate but equal"-Doktrin aufzuheben. 177 Im September 1953 starb Chief Justice Vinson unerwartet. Präsident Eisenhower berief den Gouverneur Kaliforniens, Earl Warren, zum Chief Justice des Supreme Court.

b) Brown v. Board of Education unter Chief Justice Warren Earl Warren wurde im Laufe seiner sechzehnjährigen Karriere als Chief Justice des Supreme Court für sein Talent bekannt, Konsens zwischen den oft zerstrittenen Richtern des Gerichts aufzubauen. Diese Fähigkeit wurde bereits in seinem ersten Amtsjahr bei der Behandlung von Brown v. Board of Education deutlich. Nach der mündlichen Verhandlung wird jeder Fall von den Richtern des Supreme Court in geschlossener Sitzung diskutiert. In der Regel stimmen die Richter in dieser Sitzung über den Ausgang des Falles ab, wobei die 172

Vgl. M. Tushnet, ebd., S. 1870. Ders., ebd., S. 1885ff. 174 G. A. Spann (Fn. 158), S. 2014. 175 Vgl. dazu R. A. Posner (Fn. 122), S. 304 m.w.N. 176 Demokraten aus den Südstaaten kontrollierten die wichtigsten Ausschüsse des Kongresses und konnten dadurch Reformvorschläge blockieren. M. Tushnet (Fn. 171), S. 1908. 177 Vgl. B. Schwartz, Super-Chief, Earl Warren and his Supreme Court - A Judicial Biography, 1983, S. 72ff.; D. J. Hutchinson (Fn. 150), S. 36f. und M. Tushnet , ebd., S. 1903 ff. 173

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Abstimmung lediglich vorläufigen Charakter hat. In der Beratung zu Brown v. Board of Education schlug Chief Justice Warren vor, auf die vorläufige Abstimmung zu verzichten, um eine Festlegung der einzelnen Richter zu verhindern. Eine Mehrheit der Richter schien von der Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung überzeugt zu sein. Einige Richter äußerten sich angesichts der weitreichenden politischen Folgen skeptisch. Insbesondere die Richter Frankfurter 178 und Jackson 179 waren sich der politischen Natur der Entscheidung bewußt beziehungsweise machten institutionelle Bedenken geltend. Die beiden aus den Südstaaten stammenden Richter Clark und Reed wiesen auf den Widerstand hin, mit dem der Supreme Court zu rechnen hätte, wenn er die „separate but equal"-Doktrin außer Kraft setzte. Warren selbst ließ keinen Zweifel daran, daß er persönlich dafür war, Plessy v. Ferguson aufzuheben. Er betonte, daß das System der Rassentrennung auf dem Gedanken der Minderwertigkeit der Schwarzen beruhe. Es handele sich um eine ausschließlich moralische Frage. 1 8 0 Er versuchte in

178

Frankfurter war der Ansicht, daß sich der Supreme Court in der Regel auf Präjudizien und Entstehungsgeschichte der Verfassung zu beschränken habe, zwei Faktoren, die gegen die Aufhebung der „separate but equal"-Doktrin sprachen. Dabei vertrat Frankfurter keinen starren Formalismus, sondern akzeptierte, daß sich der Verfassungsinhalt an das jeweilige Zeitalter anpassen müsse. Vgl. oben Fn. 123 sowie die bereits behandelten Stellungnahmen Frankfurters in den Flag-Salute-Fällen und die Black/Frankfurter-Debatte in Adamson v. California. Frankfurter räumte ein, daß die zu entscheidenden Rechtsfragen unweigerlich mit sozialen, ökonomischen und politischen Problemen verbunden seien und es unvermeidbar sei, daß die persönlichen Ansichten der Richter zu diesen Problemen einen gewissen Einfluß ausübten. Frankfurter, der dem Gewaltenteilungsmodell seines Vorbildes, Oliver Wendell Holmes, folgte, warnte jedoch vor der seiner Ansicht nach unzulässigen Dominanz dieser Einflüsse. Vgl. B. Schwartz (Fn. 156), S. 250; ders. (Fn. 177), S. 75 und F. Frankfurter, John Marshall and the Judicial Function, 69 Harv. L. Rev. 217, 228 f. (1955). Für eine Zusammenfassung der Positionen Frankfurters vgl. P.A. Freund, Mr. Justice Frankfurter, 26 U. Chi. L. Rev. 205 (1959); J.A. C. Grant, Felix Frankfurter: A Dissenting Opinion, 12 UCLA L. R. 1013ff. (1965) m.w.N. sowie M. Kriele , Felix Frankfurter (1882-1965), JZ 1965, 242ff. Zum Verhältnis von Frankfurter und Holmes vgl. G. E. White, Justice Oliver Wendell Holmes, The Law and the Inner Seif, 1993, S. 356ff. 179 Jackson vertrat die Auffassung, daß es sich bei Brown v. Board of Education nicht um eine rechtliche, sondern um eine politische Entscheidung handelte. Er wies auf die Schwierigkeiten hin, die die Blockade der New-Deal-Gesetze durch den „politisch urteilenden" Supreme Court nach sich gezogen hatte. Im Gegensatz zu Frankfurter, der den politischen Charakter der Entscheidung in Brown v. Board of Education zu leugnen versuchte und nach einer juristischen Begründung der Entscheidung suchte, war Jackson trotz aller institutionellen Bedenken bereit, die von ihm persönlich als unerwünscht angesehene Rassentrennung aufzuheben. Zu Einzelheiten vgl. R. Kluger, Simple Justice, 1987, S. 681 ff.; B. Schwartz (Fn. 156); M. Tushnet (Fn. 171), S. 1872ff., 1894ff., 1905ff. m.w.N. 180 Vgl. B. Schwanz (Fn. 177), S. 87.

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einzelnen Gesprächen, die skeptischen Richter, insbesondere den Südstaatler Reed, zu überzeugen. 181 Warren faßte den Text der Entscheidung letztendlich so ab, daß die Südstaaten nicht für die fest verankerte Praxis der Rassentrennung getadelt wurden. Warren war darauf bedacht, Einstimmigkeit zu erreichen. Er wußte, daß der Supreme Court starken Widerstand aus den Südstaaten zu erwarten hatte. 1 8 2 Wenn der Supreme Court nicht einstimmig entschieden hätte, sondern eine von Dissenten beziehungsweise zustimmenden Meinungen begleitete Mehrheitsmeinung verfaßt hätte, hätte dies schwerwiegende Auswirkungen auf die Durchsetzungschancen der Entscheidung gehabt. 183 Schließlich war Warrens Taktik, zunächst die substantielle Rechtsfrage zu entscheiden und erst in der Sitzungsperiode 1954/55 nach erneuter mündlicher Verhandlung über das Rechtsmittel zu befinden, dazu geeignet, eine einstimmige Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung zu erreichen. Ursprünglich bestanden unter den Richtern des Supreme Court ernste Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Rechtsmittels. Des weiteren wollten die Richter des Supreme Court die politisch umstrittene Frage des Rechtsmittels erst nach den Wahlen im November 1954 entscheiden. 184 Es ist im einzelnen umstritten, ob die Einstimmigkeit allein auf die Bestrebungen von Chief Justice Warren zurückzuführen ist. 1 8 5 Chief Justice Warren hatte jedoch zweifellos einen großen Anteil an der Entscheidung, zu der sich der zerstrittene Supreme Court unter Chief Justice Vinson nicht 181 Chief Justice Warren versuchte, seine zögernden Kollegen auf der persönlichen Ebene zu erreichen. So organisierte er eine Reihe von „lunches" und individuellen Treffen mit dem Richter Reed, der der Aufhebung der „separate but equal"Doktrin am ablehnendsten gegenüberstand. Beobachter des Warren-Court rühmten die persönlichen Fähigkeiten des Chief Justice als wesentlichen Garanten der Einheit des Supreme Court. So etwa B. Schwartz (Fn. 177); S. 90. Vgl. auch M. Tushnet (Fn. 171), S. 1924; Kluger (Fn. 179), S. 698. 182 A. M. Bickel (Fn. 155), S. lf. (1955); R. Kluger (Fn. 179), S. 679. 183 D. J. Hutchinson (Fn. 150), S. 87. Wie aus den persönlichen Aufzeichnungen der Richter des Supreme Court hervorgeht, wäre ein einstimmiges Urteil in Brown v. Board of Education unter Chief Justice Vinson eher unwahrscheinlich gewesen. Statt dessen hätte es eine Vielzahl von zustimmenden Meinungen und Dissenten gegeben, was die Akzeptanz dieses politisch brisanten Urteils gefährdet hätte. Vgl. die Nachweise bei M. Tushnet (Fn. 171), S. 1908f. 184 Vgl. D. J. Hutchinson, Hail to the Chief, Earl Warren and the Supreme Court, 81 Mich. L. Rev. 922, 925 (1983); M. Tushnet , ebd., S. 1925 sowie allgemein zur Sensitivität des Supreme Court gegenüber seinem politischen Umfeld M. J. Gerhardt, The Role of Precedent in Constitutional Decisionmaking and Theory, 60 Geo. Wash. L. Rev. 68, 103 (1991). 185 Vgl. dazu D. J. Hutchinson (Fn. 150), S. 43 f., 86.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

hatte durchringen können. 1 8 6 Seine außergewöhnliche Begabung, Konsens zwischen den oft eigensinnigen Richtern des Supreme Court aufzubauen, wurde noch nach seinem Tode gerühmt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war Earl Warren in der Lage, die Meinungsverschiedenheiten zwischen seinen Kollegen auszugleichen und ein für alle akzeptables Ergebnis zu erreichen. Dabei half ihm die in seiner langen politischen Laufbahn gesammelte Erfahrung. 187 c) Boiling v. Sharpe und Brown v. Board of Education II Bemerkenswert ist auch die Entstehungsgeschichte von Bölling v. Sharpe y dem oben behandelten Parallelfall zu Brown v. Board of Education. Nach einem Entwurf der Urteilsbegründung von Chief Justice Warren sollte die Rassentrennung im District of Columbia unter Berufung auf die Due Process Clause aufgehoben werden. In diesem Entwurf, der nicht mit der späteren Urteilsbegründung übereinstimmt, bemerkte Warren, daß es kein statisches Konzept des Due Process gebe. Es handele sich vielmehr um ein lebendiges Prinzip. Es sei natürlich, daß eine freie Gesellschaft jeweils ihre eigene Vorstellung von dem, was vernünftig und richtig sei, habe. Das Konzept des Due Process sei nicht auf einen unveränderlichen Katalog fundamentaler Rechte beschränkt. 188 Diese Passagen wurden im zweiten Entwurf Warrens gestrichen. Hutchinson vermutet, daß Warren die Urteilsbegründung abänderte, um einen Dissent der Richter Black und Frankfurter zu verhindern, die eine solche Begründung aus methodischen Gründen nicht mitgetragen hätten. 189 Warren, der nach einer langen politischen Laufbahn als Generalstaatsanwalt und Gouverneur Kaliforniens an den Supreme Court gekommen war, war in erster Linie an Resultaten, hier der Aufhebung der Rassentrennung, interessiert und bereit, bezüglich der Urteilsbegründungen Kompromisse einzugehen. Warren wird daher als ergebnisorientierter, pragmatischer Richter bezeichnet. Politische, philosophische 186

So L. H. Pollak , The Legacy of Earl Warren, 88 Harv. L. Rev. 8 (1974). Vgl. W. J. Brennan , Chief Justice Warren, 88 Harv. L. Rev. Iff. (1974) und M. Tushnet (Fn. 171), S. 1874ff. 188 Hervorhebung durch H. Sch. Der Entwurf von Warrens Urteilsbegründung ist im Anhang zu D. J. Hutchinson (Fn. 150), S. 93 f. abgedruckt. Ähnlich liest sich die von Richter Jackson vorgeschlagene Urteilsbegründung zu den Rassentrennungsfällen. Jackson war der Auffassung, daß sich die Prämisse von Plessy v. Ferguson, daß zwischen der weißen und der schwarzen Rasse Unterschiede bestünden, die die Segregation rechtfertigten, als falsch erwiesen habe. Jackson enthielt sich bewußt jeder Wertung über die Richtigkeit von Plessy v. Ferguson zum Zeitpunkt der Entscheidung des Falls. Zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei offensichtlich, daß rassische Klassifizierungen nicht länger als vernünftig angesehen werden könnten. Zitat nach M. Tushnet (Fn. 171), S. 1916. 189 D. J. Hutchinson, ebd., S. 50. 187

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court und ideelle Gesichtspunkte wogen für Warren juristische Argumente. 190

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schwerer als konventionelle

Dies wird auch in der Abfassung der Urteilsbegründung in der Rechtsmittelstufe, Brown //, deutlich. Wiederum versuchte Chief Justice Warren, die Meinungsverschiedenheiten der anderen Richter auszugleichen. Man einigte sich schließlich auf eine Urteilsbegründung, die alle Verantwortung für die Umsetzung von Brown I auf die Instanzgerichte verlagerte. Durch diesen Schritt erhoffte sich der Supreme Court, den öffentlichen Druck auf das Gericht zu vermindern. 191 Schließlich versuchte der Supreme Court die Akzeptanz der Entscheidung zu erhöhen, indem er entgegen der sonst üblichen Praxis nicht die sofortige Zulassung schwarzer Schulkinder zu vormals ausschließlich weißen Kindern vorbehaltenen Schulen anordnete, sondern den Schulbehörden einen unbestimmten Anpassungszeitraum zugestand („all deliberate speed"). 192

d) Zusammenfassung Brown ν. Board of Education ist das empirisch vielleicht am besten erforschte Beispiel dafür, daß der Supreme Court bei der Verfassungsinterpretation nicht nur auf rechtliche Erwägungen zurückgreift. Die Richter hielten die „separate but equal"-Doktrin für politisch untragbar, mußten jedoch eingestehen, daß diese Wertung nicht mit traditionellen juristischen Argumenten begründet werden konnte. Die Richter des Supreme Court waren sich der politischen Natur der Entscheidung bewußt und versuchten daher mit einer Vielzahl von Mitteln, unter anderem der Terminierung der Entscheidungen, der Abtrennung der Rechtsmittelstufe und dem versöhnlichen Ton der Urteilsbegründung, die Akzeptanz der Entscheidung zu erhöhen. Brown v. Board of Education scheint die These des legal realism zu bestätigen, daß die Entscheidungsbegründung nicht notwendig den Entstehungsprozeß der Entscheidung wiedergibt. Zumindest ist es schwer zu leugnen, daß verschiedene Richter einer Entscheidung aus unterschiedlichen Gründen zustimmen. 193 An den Entschei190 Vgl. G. E. White , Earl Warren's Influence on the Court, in: The Warren Court, A. S. Rice (Hrsg.), 1987, S. 40ff. 191 Vgl. D. J. Hutchinson (Fn. 150), S., 55 ff. Das gleiche gilt für die per-curiamEntscheidungen, in denen die Rassentrennung in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens aufgehoben wurde. Darüber hinaus ließ der Supreme Court eine Reihe von Berufungen aus dem Bereich der Rassentrennung, die in seine Jurisdiktion fielen, nicht zu, um politischen Pressionen auszuweichen. Vgl. ebd., S. 60ff. 192 Vgl. M. Tushnet (Fn. 171), S. 1928 ff. 193 Das gleiche gilt für die Motive der Legislative bei der Verabschiedung von Gesetzen. Es erscheint fragwürdig, bei der Interpretation von Gesetzen die „Inten-

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

düngen des Supreme Court zur Rassentrennung ist ablesbar, daß sowohl die Abfassung der Urteilsbegründung als auch Umstände wie der Zeitpunkt der Entscheidung oder die Art des Rechtsmittels Resultat eines Kompromisses sind. Diese Einflüsse werden häufig unterschätzt, wenn Entscheidungen eines Verfassungsgerichts eine einzige theoretische Grundhaltung zugeschrieben wird, denen in Wirklichkeit ein Kompromiß verschiedener Anschauungen zugrunde liegt. II. Die Aufhebung der Rassentrennung nach Brown v. Board of Education I. Die Ausdehnung von Brown v. Board of Education auf andere Bereiche In mehreren per-curiam-Urteilen hielt der Supreme Court die Rassentrennung auch auf anderen Gebieten als dem Schulwesen für verfassungswidrig. Im einzelnen wurde die Rassentrennung in Bussen 194 , auf öffentlichen Golfplätzen 195 , an öffentlichen Stränden 196 und in öffentlichen Parks 1 9 7 vom Supreme Court aufgehoben. Diese Entscheidungen beriefen sich ausschließlich auf Brown v. Board of Education , ohne auf den Unterschied zwischen der dort besonders unterstrichenen Bedeutung der Schulausbildung und der jeweils behandelten Einrichtung einzugehen. Wie oben dargestellt, wurde Brown v. Board of Education in erster Linie damit begründet, daß die „separate but equal"-Doktrin im Bereich des Schulwesens nicht zu wirklich gleichen Resultaten fühen kann. Der Supreme Court hatte, von dieser Wertung abgesehen, keine weitere Begründung für das Abweichen von der „separate but equal"-Doktrin aus Plessy v. Ferguson gegeben. Umso überraschender ist es, daß die „separate but equal"-Doktrin faktisch auf allen Gebieten ohne weitere Begründung für verfassungswidrig erklärt wurde. Während sich Warren in Brown v. Board of Education noch darauf stützte, daß die Schulausbildung die wichtigste Funktion des Staates sei, gab der Supreme Court in den per-curiam-Entscheidungen keine Begründung dafür an, daß die „separate but equal"-Doktrin auch bei weniger wichtigen Aktivitäten wie Golf oder Schwimmen keine Anwendung tionen der Legislative" heranzuziehen, wenn diese Gesetze oft nur infolge eines Kompromisses Zustandekommen sind, dem aus ganz unterschiedlichen Gründen zugestimmt wurde. 194 Gäyle v. Browder, 352 U.S. 903 (1956). 195 Holmes v. City of Atlanta, 350 U.S. 879 (1955). 196 Mayor of Baltimore v. Dawson , 350 U.S. 877 (1955). 197 New Orleans City Park Imp. Ass'n v. Detiege , 358 U.S. 54 (1958).

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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fand. Durch diese Ausweitung der Entscheidung in Brown v. Board of Education wurde die „separate but equal"-Doktrin faktisch aus der Verfassung eliminiert. 1 9 8 Zu vermuten ist, daß die Rassentrennung auf diesen Gebieten entsprechend den in den Vereinigten Staaten dominierenden Weitanschauungen als ungerecht, als ungleich, als gegen die in der Due Process Clause und der Equal Protection Clause verkörperten Ideale verstoßend empfunden wurde. 1 9 9 Der Supreme Court blieb jedoch eine im Sinne der traditionellen Methodik abgesicherte juristische Begründung für die Ausweitung von Brown v. Board of Education schuldig.

2. Neuere Entscheidungen zur Aufhebung der Rassentrennung im Schulwesen Die „all deliberate speed"-Doktrin aus Brown v. Board of Education II erwies sich in der Praxis als wenig erfolgreich. Die Schulbehörden der Südstaaten versuchten, die Aufhebung der Rassentrennung mit allen erdenklichen Mitteln zu blockieren. Diese Blockade gipfelte in der Weigerung des Gouverneurs von Arkansas, Brown v. Board of Education anzuerkennen. Präsident Eisenhower mußte die Nationalgarde nach Little Rock, Arkansas entsenden, um die Zulassung der ersten schwarzen Schüler zu einer vormals ausschließlich Weißen vorbehaltenen Schule durchzusetzen. 200 Ein anderer Versuch, der Aufhebung der Rassentrennung auszuweichen, beschäftigte den Supreme Court in Griffin v. County School Board. 201 Die Schulbehörde hatte in diesem Fall alle öffentlichen Schulen mit der Folge geschlossen, daß weiße Schüler private Schulen besuchten und schwarze Schüler keine Möglichkeit zur Schulausbildung hatten. Der Supreme Court entschied, daß der einzige Grund für diese Maßnahmen die Umgehung der von der Verfassung vorgeschriebenen Aufhebung der Rassentrennung gewesen sei, die Schulbehörden daher gegen die Equal Protection Clause verstoßen hätten. Ein weiterer Schritt zur Überwindung der Rassentrennung war die Aufhebung von „freedom of choice"-Plänen durch den Supreme Court. Nach 198

Zur Bedeutung von Brown v. Board of Education vgl. M. Tushnet y The Significance of Brown v. Board of Education , 80 Va. L. Rev. 173 (1994). 199 Siehe A. Hill , The Political Dimension of Constitutional Adjudication, 63 S. Cal. L. Rev. 1237, 1266 (1990). 200 Vgl. dazu Cooper v. Aaron , 358 U.S. 1 (1958), wo der Supreme Court entschied, daß die Aufhebung der Rassentrennung selbst dann nicht verzögert werden dürfe, wenn mit gewaltsamen Widerstand zu rechnen sei. 201 377 U.S. 218 (1964).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

dieser Methode konnten Schüler auswählen, welche Schule sie besuchen wollten. Im Ergebnis wurden traditionell von Schwarzen besuchte Schulen weiter mehrheitlich von schwarzen Schülern frequentiert. Diese Vorgehensweise, so der Supreme Court in Green v. County School Board 202, genüge nicht, um das Schulsystem effektiv zu vereinheitlichen. Schließlich entschied der Supreme Court in Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education 203, daß die Schulbehörden auf eine Vielzahl von Mitteln bei der Überwindung der Rassentrennung zurückgreifen könnten. So seien sowohl eine Neugliederung der Schulbezirke als auch das „busing", der Transport von Schülern in Bezirke mit hohem Schüleranteil der anderen Hautfarbe, zulässig, um die Folgen der Segregation zu beseitigen. Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education war gleichzeitig die letzte Entscheidung, in der der Supreme Court den Freiraum der Schulbehörden zur Überwindung der Rassentrennung ausweitete. Später grenzte der Supreme Court den Handlungsspielraum der Schulbehörden ein. So wurde entschieden, daß Maßnahmen mit dem Ziel, ein möglichst ausgeglichenes Verhältnis von weißen und schwarzen Schülern zu erreichen, nur zulässig seien, um die Folgen des gezielten Ausschlusses Schwarzer von Weißen vorbehaltenen Schulen zu korrigieren. Diese Rechtsprechung erschwerte Anstrengungen, das Schulwesen in den Nordstaaten so zu reformieren, daß Weiße und Schwarze die gleichen Möglichkeiten der Schulausbildung haben. In den nördlichen Bundesstaaten hatte es kein gesetzlich verordnetes System der Rassentrennung in den Schulen gegeben. Dennoch ist bis zum heutigen Zeitpunkt eine „faktische Rassentrennung" verbreitet, da überdurchschnittlich viele Angehörige rassischer Minderheiten in einkommensschwachen Schulbezirken leben, was einen hohen Minderheitenanteil in den Schulen dieser Bezirke zur Folge hat. 2 0 4

202

391 U.S. 430 (1968). 402 U.S. 1 (1971). 204 Zum Erfordernis der intendierten Rassentrennung als Voraussetzung für spätere Maßnahmen mit dem Ziel der ausgewogenen Verteilung weißer und schwarzer Schüler vgl. Keyes v. School Dist. No. 7, 413 U.S. 189 (1973); Dayton Board of Education v. Brinkman , 433 U.S. 526 (1979) und Milliken v. Bradley , 418 U.S. 717 (1974). Eine ausführliche Darstellung der auf Brown v. Board of Education folgenden Entscheidungen ist bei Stone u.a. (Fn. 48), S. 507-532 zu finden. Zur Frage, ob es ein fundamentales Recht auf eine angemessen finanzierte Schulausbildung gibt, siehe die Entscheidung des Supreme Court in San Antonio Independent School District v. Rodriguez unten S. 149 f. 203

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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III. Weitere Entscheidungen zu rassischen Klassifizierungen Obwohl in dieser Arbeit die in der amerikanischen Rechtswissenschaft üblichen Bezeichnungen des „Warren-Court" oder „Burger-Court" verwendet werden, ist darauf hinzuweisen, daß der Supreme Court während der Amtszeit von Chief Justice Earl Warren, d.h. von 1953 bis 1969, keine monolithische Einheit war. Nicht weniger als 16 Richter amtierten unter Earl Warren am Supreme Court. Viele, wie etwa Frankfurter, Douglas, Black oder Harlan, vertraten einen methodisch eigenständigen Standpunkt. 2 0 5 Der Supreme Court unter Chief Justice Warren hinterließ ein eindrucksvolles Erbe. Für die Mehrheit der Richter des Warren-Court ging es weniger darum, ob die Entscheidungen des Supreme Court mit traditionellen juristischen Methoden begründbar waren. Statt dessen stand der Gerechtigkeitsgedanke im Mittelpunkt der Bemühungen des Supreme Court unter Chief Justice Warren. 206 Durch die heute meist als aktivistisch bezeichnete Rechtsprechung, insbesondere auf den Gebieten des Strafprozeßrechts und der Due Process und Equal Protection Clause, wurde das amerikanische Verfassungsrecht grundlegend verändert. Dabei war die verfassungsrechtliche Neubewertung der Rechte der Schwarzen die größte Errungenschaft des Warren-Court. 1. Loving v. Virginia

- die Heirat von Schwarzen und Weißen

Chief Justice Warren verfaßte die Urteilsbegründung des Supreme Court in einem Fall, in dem es um ein Gesetz des Bundesstaates Virginia ging, das die Heirat von Weißen mit Nichtweißen verbot. 2 0 7 In fünfzehn weiteren Bundesstaaten galten zu diesem Zeitpunkt ähnliche Gesetze. Die Vertreter Virginias argumentierten, daß das Gesetz gegenüber Weißen und Schwarzen gleichförmig angewendet werde und rational begründbar sei. Zudem sei es mit dem 14. Amendment nicht beabsichtigt gewesen, Gesetze abzuschaffen, die gemischtrassige Ehen verboten. Chief Justice Warren lehnte die Verwendung historischer Argumente ab. Die Geschichte des 14. Amendments lasse keine eindeutigen Schlüsse auf seine Interpretation zu. Während die Befürworter des 14. Amendments eine weite Auslegung favorisiert hätten, hätten sich seine Gegner einen möglichst 205 V g L ρ B Kurland, Earl Warren, the „Warren Court" and the Warren Myths, 67 Mich. L. Rev. 353 (1968) und Η. A. Linde (Fn. 159), S. 245 ff. 206 B. Schwartz , „Brennan VS. Rehnquist" - Mirror Images in Constitutional Construction, 19 Okla. City U. L. Rev. 213 (1994). 207 Für gemischtrassische Eheschließungen sah das Gesetz Gefängnisstrafen zwischen einem und fünf Jahren vor. Loving ν. Virginia, 388 U.S. 1, 4f. (1967).

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begrenzten Effekt gewünscht. Da es sich um eine rassische Klassifizierung handele, sei nicht der „Rational Basis Test", sondern der „Strict Scrutiny Test" anzuwenden. Chief Justice Warren wies auf traditionelle Gründe für das Verbot gemischtrassiger Ehen hin, die „Bewahrung der rassischen Integrität" und des „Stolzes der Rassen". Diese Gründe fußten auf der Annahme weißer Überlegenheit und seien nicht akzeptabel. Daher verstoße das Gesetz gegen die Equal Protection Clause. Ein weiterer Grund für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes sei die Verletzung des von der Substantive Due Process Clause garantierten fundamentalen Rechts auf Eheschließung. 208

2. Palmore v. Sidoti - Der Supreme Court und gesellschaftliche Vorurteile In dieser von Chief Justice Burger verfaßten Entscheidung befaßte sich der Supreme Court mit der Frage, ob bei der Vergabe der Sorgerechte für ein Kind die Rasse der Lebenspartner der geschiedenen Eltern eine Rolle spielen darf. Die angefochtene Entscheidung eines Familiengerichts des Bundesstaates Florida sprach dem weißen Vater des Kindes das Sorgerecht zu, nachdem die weiße Mutter Beziehungen zu einem schwarzen Lebenspartner aufgenommen hatte. Das Familiengericht hatte keinerlei Überlegungen hinsichtlich der Fähigkeiten der Eltern zur Kindeserziehung angestellt. Es hatte befunden, daß es im besten Interesse des Kindes sei, nicht in einer gemischtrassigen Familie aufzuwachsen. Andernfalls sei das Kind einem sozialen Stigma ausgesetzt, das seine Entwicklung im Schulalter behindere. 2 0 9 Chief Justice Burger verwies auf den anzuwendenden „Strict Scrutiny Test". Er erkannte an, daß das Bestreben Floridas, dem besten Interesse des Kindes zu dienen, höchsten Rang einnehme. Burger leugnete nicht, daß rassische und ethnische Vorurteile existierten und die Entwicklung eines in einer gemischtrassigen Familie lebenden Kindes beeinflussen könnten. Die Verfassung könne solche Vorurteile nicht kontrollieren. Dennoch dürften sie nicht toleriert werden. Private Vorurteile könnten außerhalb der Gesetze existieren, aber das Recht dürfe ihnen weder direkt noch indirekt zur Geltung verhelfen. Daher dürften real existierende rassische Vorurteile nicht dazu führen, daß Eltern allein aufgrund einer rassischen Klassifizierung das Sorgerecht entzogen werde. 2 1 0 208

Ebd., S. 9, 11 f. Hervorhebung durch H. Sch. Siehe die Zusammenfassung der Begründung des Instanzgerichts durch Chief Justice Burger, Palmore v. Sidoti, 466 U.S. 429, 431 (1984). 210 Ebd., S. 43Iff. Hervorhebung durch H. Sch. 209

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3. Kritische Analyse Beide Entscheidungen lassen darauf schließen, daß der Supreme Court kaum bereit ist, rassische Klassifizierungen zu tolerieren. Hinzuweisen ist auf Chief Justice Warrens Bemerkung in Loving ν. Virginia, daß die Geschichte des 14. Amendments für die spätere Interpretation belanglos sei. Dieser schon in Brown v. Board of Education verfolgte Ansatz ermöglicht es dem Gericht, explizite rassische Klassifizierungen auch dann als verfassungswidrig aufzuheben, wenn sie wie in Loving ν. Virginia zur Zeit der Verabschiedung des 14. Amendments legal gewesen waren. Palmore v. Sidoti wurde deshalb in diese Darstellung aufgenommen, weil der Supreme Court in dieser Entscheidung vor dem Dilemma stand, zu einem verbreiteten sozialen Phänomen, Vorurteilen gegen gemischtrassige Familien, Stellung nehmen zu müssen. Knapp 90 Jahre früher ließ der Supreme Court in Plessy v. Ferguson soziale Anschauungen unberührt und begrenzte das 14. Amendment auf politische Rechte. In Palmore v. Sidoti und Loving ν. Virginia akzeptierte der Supreme Court nicht die hinter den staatlichen Maßnahmen stehenden sozialen Anschauungen. Er untersuchte auch nicht ihre Mehrheitsfähigkeit. Vielmehr wurden die Klassifizierungen als auf Vorurteilen beruhend bezeichnet, die nicht von der Verfassung toleriert werden könnten. Der Supreme Court wich der Frage aus, ob auch die Autoren des 14. Amendments von derartigen „Vorurteilen" geprägt waren. Der Supreme Court ließ sich nicht von regional verbreiteten Anschauungen beeinflussen, wenn diese nicht mit den Wertanschauungen der Mehrheit der Verfassungsrichter übereinstimmen. Dennoch sind auch Loving-v.-Virginia- und Palmore-v.-SWöfi-Entscheidungen, deren Wertungen mit der Sozialmoral der Vereinigten Staaten vereinbar erscheinen. Zum Entscheidungszeitpunkt existierte ein gesellschaftlicher Grundkonsens gegen Rassismus. Von expliziten rassischen Klassifizierungen sind jedoch solche Fälle zu unterscheiden, in denen eine neutrale Formulierung zu unterschiedlichen Auswirkungen für die verschiedenen Rassen führt. In diesen Fällen wendet der Supreme Court einen weniger strengen Standard an. Der Kläger muß nachweisen, daß eine intendierte Ungleichbehandlung vorliegt. 2 1 1

2,1 Vgl. hierzu Washington v. Davis, 426 U.S. 229 (1976) und Village of Arlington Heights v. Metropolitan Housing Dev. Corp., 429 U.S. 252 (1977). In diesen Entscheidungen führte der Supreme Court aus, daß unbeabsichtigte diskriminierende Resultate von staatlichen Maßnahmen nicht für die Verletzung der Equal Protection Clause ausreichten. Vgl. dazu D.A. Strauss , Discriminatory Intent and the Taming of Brown, 56 U. Chi. L. Rev. 935 (1989) und C. R. Lawrence , The Id, the Ego, and Equal Protection: Reckoning with Unconscious Racism, 39 Stan. L. Rev. 317 (1987) jeweils m.w.N.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court IV. Affirmative action - Gleichstellungsprogramme

Affirmative action ist der amerikanische Terminus für Gleichstellungsprogramme, die die Bevorzugung historisch benachteiligter Gruppen zum Inhalt haben. Die Frage der Zulässigkeit und des Nutzens derartiger Programme ist bis heute umstritten, die Rechtsprechung umfangreich. 212 Im Rahmen der hier verfolgten Aufgabenstellung soll dieser Themenbereich anhand von zwei Entscheidungen untersucht werden, Regents of the Univ. of California v. Bakke 213, der ersten Entscheidung, in der der Supreme Court zur Zulässigkeit von staatlichen affirmative-action-Programmen unter der Equal Protection Clause Stellung nahm, und Adarand Constructors Inc. v. Pena 214, der jüngsten Wortmeldung des Supreme Court zu diesem Thema. 1. Regents of the Univ. of California ν. Bakke Studienplätze für benachteiligte Bewerber a) Die Pluralitätsmeinung des Richters Powell Der Supreme Court war bei seiner ersten Entscheidung über die verfassungsmäßige Zulässigkeit von affirmative-action-Programmen stark zersplittert. Vier Richter hielten das der Entscheidung zugrunde liegende affirmative-action-Programm für verfassungsgemäß. Vier weitere Richter sahen in dem Programm einen Verstoß gegen ein Bundesgesetz. Ein Richter, Lewis F. Powell, hielt das Programm für verfassungswidrig. Nach den Verfahrensregeln des Supreme Court oblag ihm die Abfassung der Pluralitätsmeinung, der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Die medizinische Fakultät der staatlichen University of California hatte ein affirmativeaction-Programm aufgestellt, nach dem 16 der 100 zur Verfügung stehenden Studienplätze außerhalb des üblichen Bewerbungsverfahrens an „benachteiligte" Bewerber vergeben wurden. Während Angehörige rassischer Minderheiten im normalen Bewerbungsverfahren durchschnittlich schlechtere Chancen auf Zulassung hatten, dominierten sie die unter dem affirmative-action-Programm vergebenen Studienplätze. Dem klagenden weißen Bewerber, Allan Bakke, wurde zweimal die Zulassung verweigert, obwohl er besser qualifiziert war als die über die 16 affirmative-actionPlätze zugelassenen Bewerber. 215 212

Vgl auch die rechts vergleichende Untersuchung zu affirmative action bei J. Suerbaum, Affirmative Action. Positive Diskriminierung im amerikanischen und im deutschen Recht, Der Staat 28 (1989), 419 ff. 2,3 438 U.S. 265 (1978). 214 515 U.S. 200 (1995).

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Umstritten war insbesondere, welcher Überprüfungsmaßstab auf affirmative-action-Programme angewendet werden sollte. Die Universität argumentierte, daß der „Strict Scrutiny Test" nicht einschlägig sei. Sie berief sich auf die „Carolene Products Fußnote" 2 1 6 , nach der der „Strict Scrutiny Test" nur bei Diskriminierungen gegen isolierte und politisch einflußlose Gruppen zur Anwendung komme. Affirmative-action-Programme richteten sich jedoch gegen die weiße Mehrheit, es handele sich daher um „gutartige" (benign) Klassifizierungen, auf die ein weniger strikter Kotrollmaßstab anzuwenden sei. Powell Schloß sich dieser Argumentationslinie nicht an. Das der „Carolene Products Fußnote" zugrunde liegende Prinzip, daß politische und gesellschaftliche Isolierung zu einer höheren Schutzbedürftigkeit führe, sei zwar ein zulässiger Faktor bei der Entscheidung, ob neue suspekte Klassifizierungen anerkannt werden sollten. Es sei jedoch nicht unabdingbare Voraussetzung für die Anwendung des „Strict Scrutiny Test". Alle rassischen Klassifizierungen seien vielmehr von vornherein suspekt und müßten daher einem besonders strengen Überprüfungsmaßstab standhalten. 217 Powell verwies auf die Ausweitung der Equal Protection Clause, die zunächst hauptsächlich für den Schutz der befreiten Sklaven geschaffen worden sei. Sie sei vom Supreme Court nach und nach auch auf andere ethnische Minderheiten angewendet worden. Zudem gebe es keine monolithische Mehrheit in den Vereinigten Staaten, die weiße Mehrheit sei wiederum aus verschiedenen Minderheiten zusammengesetzt. Seit den Slaughter- House Cases sei anerkannt, daß der Schutzbereich des 14. Amendments nicht nur bestimmte Hautfarben oder eine bestimmte ethnische Herkunft umfasse. Den Vorschlag des dissentierenden Richters Brennan, nur solche Gruppen zu schützen, deren Diskriminierung mit einem Stigma verbunden sei, lehnte Powell mit dem Hinweis auf die subjektive Beeinflußbarkeit dieses Kriteriums ab. Der Judikative stünden nicht die Mittel der soziologischen und politischen Analyse zur Verfügung, um zu entscheiden, welche ethnischen Gruppen jeweils besonders benachteiligt seien. Des weiteren könnten affirmative-action-Programme rassische Spannungen eher verschärfen als mildern. 2 1 8 Das affirmative-action-Programm der University of California habe eine vielseitige Zusammensetzung der Studentenschaft zum Ziel. Dieser Zweck 215 Regents of the Univ. of California v. Bakke , 438 U.S. 265, 273ff. (1978) (plurality opinion). 216 United States v. Carolene Products , 304 U.S. 144, 152 Fn. 4 (1938). Siehe unten S. 189. 2.7 Regents of the Univ. of California v. Bakke , 438 U.S. 265, 288ff. (1978) (plurality opinion). 2.8 Ebd., S. 291 ff., 295 ff. Hervorhebung durch H. Sch.

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sei zwar legitim, unter dem „Strict Scrutiny Test" müsse der Staat jedoch nachweisen, daß die verwendeten Mittel für den angestrebten Zweck nötig seien. Diesen Nachweis könne die Universität nicht erbringen. Dadurch, daß ein bestimmter Anteil der Studienplätze weißen Bewerbern von vornherein entzogen sei, sei eine individuelle Behandlung nicht mehr möglich. Powell verwies auf affirmative-action-Programme an anderen Schulen, die keine starren Quoten zum Inhalt hatten, sondern die Herkunft des einzelnen als einen Faktor bei der Beurteilung seiner Qualifikationen berücksichtigten. Das 14. Amendment garantiere das Recht auf Gleichbehandlung als Individuum. Die strikte Quotierung der Studienplätze werde diesem Grundsatz nicht gerecht und sei daher verfassungswidrig. 219

b) Kritische Analyse Die Bakke-Begründung des Richters Powell ist typisch für das methodische Vorgehen des Burger-Court. Im Gegensatz zum Warren-Court scheute das Gericht in vielen Fällen davor zurück, die Verfassung aktivistisch auszudehnen. Powell führte die Schwierigkeit, objektiv zu entscheiden, welche Gruppen als benachteiligt einzuordnen seien, als wichtigen Grund gegen die Anwendung eines weniger strengen Scrutiny-Standards bei der Beurteilung von affirmative-action-Programmen an. Dieses Argument deutet auf das Bestreben hin, dem Vorwurf des Subjektivismus, der politischen Verfassungsrechtsprechung, des „Lochnerizing", auszuweichen. Einzuwenden ist, daß die Begründung Powells nicht weniger subjektiv ist. Das 14. Amendment wurde geschaffen, so bereits der Supreme Court in den Slaughter-House Cases und Strauder v. West Virginia, um die Freiheit und Gleichbehandlung der befreiten Sklaven zu garantieren. Es ist durchaus vertretbar zu argumentieren, daß affirmative action Programme diesem Ziel dienen. 2. Adarand Constructors Ine. ν. Pena „Strict Scrutiny Test" für affirmative action a) Die Entscheidung Der Überprüfungsstandard für affirmative-action-Programme der Bundesregierung sollte in Adarand Constructors Inc. v. Pena festgelegt werden. Die Präzedenzfälle kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob es sich um ein affirmative-action-Programm eines Bundesstaates oder der Bundesregierung handelte. Im ersten Fall kam der „Strict Scrutiny 219

Ebd., S. 314, 318 ff.

D. Das Ende der Rassentrennung - der Warren-Court

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Test" zur Anwendung 2 2 0 , im letzteren Fall war der „Intermediate Scrutiny Test" einschlägig. 221 Richterin O'Connor schrieb für die Abstimmungsmehrheit. Sie argumentierte, daß der Supreme Court in seinen bisherigen Entscheidungen die Equal Protection Clause des 14. Amendments über die Due Process Clause des 5. Amendments auf bundesstaatliches Handeln angewendet habe. Aus den Präjudizien ergäben sich drei Prinzipien: Skeptizismus gegenüber allen rassischen Klassifizierungen, Konsistenz hinsichtlich des anzuwendenden Überprüfungsstandards unabhängig von der benachteiligten Rasse sowie Kongruenz der Equal Protection Analyse der Amendments fünf und vierzehn. Metro Broadcasting Ine. ν. FCC, der Präzedenzfall, der für bundesweite affirmative-action-Programme den weniger strikten „Intermediate Scrutiny Test" vorschrieb, sei von diesen Prinzipien abgewichen. Die Doktrin der stare decisis verbiete es nicht, diese Entscheidung aufzuheben. Stare decisis sei, so O'Connor mit einem Zitat des Richters Frankfurter, keine mechanische Formel, sondern ein Zweckmäßigkeitsprinzip. Eine Entscheidung könne dann nicht aufrechterhalten werden, wenn sie gegen bereits etablierte Prinzipien verstoße. Dies sei bei Metro Broadcasting Inc. v. FCC der Fall. Im Gegensatz zu der über zwei Jahrzehnte geltenden Rechtsprechung des Supreme Court zur Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs habe sich noch kein Vertrauen auf die Bestandskraft der Entscheidung in Metro Broadcasting Inc. v. FCC aufbauen können. Stare decisis könne den Supreme Court nicht daran hindern, diese von früher aufgestellten Prinzipien abweichende Entscheidung aufzuheben. Daher müsse bei den affirmative-action-Programmen der Bundesstaaten und der Bundesregierung derselbe strenge „Strict Scrutiny Test" angewendet werden. 2 2 2 Richter Thomas war zu diesem Zeitpunkt der einzige schwarze Richter am Supreme Court. Er hatte im Laufe seiner Karriere selbst von affirmativeaction-Programmen profitiert. In seiner zustimmenden Meinung zweifelte er den Nutzen von affirmative-action-Programmen an. Sie seien mit der Vermutung verbunden, daß Minderheiten nicht in der Lage seien, mit der Mehrheit im Wettbewerb zu stehen. Sie vermittelten den Minderheiten den Eindruck der Minderwertigkeit und könnten zu Abhängigkeiten führen. 2 2 3 220

Siehe Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469 (1989). Siehe Metro Broadcasting Inc. v. FCC, 497 U.S. 547 (1990). Für eine Übersicht zu den Entscheidungen des Supreme Court zur affirmative-action-Problematik zwischen Regents of the Univ. of California v. Bakke und Adarand Constructors Inc. v. Pena vgl. Barron u.a. (Fn. 81), S. 646-673 und Stone u.a. (Fn. 48), S. 627676 jeweils m. w. N. 222 Adarand Constructors Inc. v. Pena, 115 S. Court. 2097, 2115 ff. (1995). Hervorhebung durch H. Sch. 223 Ebd., S. 2119 (Thomas, C., concurring). 221

7 Schiwek

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Richter Scalia steuerte die fünfte für die Abstimmungsmehrheit erforderliche Stimme bei, bemerkte jedoch in seiner zustimmenden Meinung, daß affirmative-action-Programme niemals dem „Strict Scrutiny Test" standhalten könnten. Die Verfassung kenne nicht eine „Schuldner- und eine Gläubigerrasse". Selbst wenn man das Konzept der Klassifizierungen nach Rassen für die besten Zwecke benutze, bewahre man ein Übel für die Zukunft, das zur Sklaverei geführt habe, Rassenprivilegierung und Rassenhaß. In den Augen der Regierung dürfe es nur eine Rasse geben, die der Amerikaner. 224 b) Anmerkung Der Supreme Court konnte sich in Adarand Constructors Inc. v. Pena erstmals zu einer Mehrheitsmeinung durchringen, die einen einheitlichen Überprüfungsstandard für affirmative-action-Programme festlegte. Aufmerksamkeit verdient die Behandlung der Doktrin der stare decisis durch Richterin O'Connor. Ihre Behauptung, daß Metro Broadcasting, Inc. v. FCC, der aufgehobene Präzedenzfall, von dem feststehenden Prinzip der kongruenten Auslegung der 5. und 14. Amendments abgewichen sei, ist zumindest angreifbar. 225 Adarand Constructors Inc. v. Pena steht daher auch für die These, daß der Supreme Court sich von der Doktrin der stare decisis nicht abschrecken läßt, frühere Entscheidungen aufzuheben, wenn er die diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Prämissen nicht mehr teilt. Hinzuweisen ist auch auf die zustimmende Meinung des Richters Scalia. Sie ist zwar nur insofern bindendes Präjudiz geworden, als sie mit der Begründung der anderen vier Richter übereinstimmt. Die Bemerkung, daß alle rassischen Klassifizierungen am „Strict Scrutiny Test" scheitern müßten, ist bloßes Diktum. Sie ist jedoch Indiz für die sich wandelnde Sozialmoral. Während affirmative-action-Programme selbst nach den Vorstellungen des konservativen Richters Powell in Bakke nur in den Fällen verfassungswidrig sind, in denen die individuelle Behandlung des einzelnen Bewerbers nicht gewährleistet ist, hält sie Richter Scalia für schlechthin unzulässig. Scalia begründete seine Ansicht nicht mit traditionellen Argumenten, sondern mit der sozialen Gefährlichkeit von staatlichen rassischen Klassifizierungen. Diese Argumentation ist insofern bemerkenswert, als Richter Scalia in anderen Entscheidungen als einer der schärfsten Kritiker der „politischen" Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court auftritt 2 2 6 , sich hier aber offensichtlich von politischen Nützlichkeitsargumenten leiten läßt. 224

Ebd., S. 2118 f. (Scalia Α., concurring). Vgl. den Dissent von Richter Stevens, ebd. sowie die oben gegen Bölling v. Sharpe vorgebrachten Einwände. 226 Vgl. etwa Scalias Dissente zu den unten behandelten Entscheidungen United States v. Virginia und Romer v. Evans S. 110 und 162. 225

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

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E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter Die Rechtsprechung des Supreme Court über die Verfassungsmäßigkeit von an das Geschlecht anknüpfenden Klassifizierungen hat eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. Sie verdient im Rahmen dieser Untersuchung besondere Aufmerksamkeit, fand doch in den über 120 Jahren seit Inkrafttreten des 14. Amendments ein grundlegender Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen über die Rolle der Frau statt. Zu untersuchen ist, wie sich dieser Wandel auf die Auslegung der Equal Protection Clause ausgewirkt hat. Zwischen rassischen und an das Geschlecht anknüpfenden Klassifizierungen besteht aus historischer Sicht ein wesentlicher Unterschied. Während der Supreme Court von Anfang an eingeräumt hat, daß die Bürgerkriegsamendments zur Gleichstellung der befreiten Sklaven geschaffen worden waren, war ihre Anwendung auf Geschlechtsklassifizierungen lange unklar. Frauen nahmen zum Zeitpunkt der Verabschiedung des 14. Amendments eine gesellschaftlich zurückgezogene Position ein. Sie wurden, wenn sie verheiratet waren, vom common law in der Regel nicht als eigene Rechtspersönlichkeit anerkannt. Nach den Intentionen der Verfassungsgeber sollte die Equal Protection Clause des 14. Amendments nicht die gesellschaftliche Stellung der Frauen verbessern. 227 Ihnen wurde das Wahlrecht erst 1920 durch das 19. Amendment zugesprochen. Geschlechtsklassifizierungen spielten lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle bei der Auslegung der Equal Protection Clause, die ja in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ohnehin vernachlässigt worden war. Natürlich war die bereits besprochene Entscheidung des Supreme Court in Bradwell v. Illinois in Erinnerung, die die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben verfassungsrechtlich ungeahndet ließ. Erst in den siebziger Jahren begann sich der Supreme Court grundlegend mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Geschlechtsklassifizierungen nach dem herkömmlichen „Rational Basis Test" beurteilt werden sollten oder aber ein strengerer Überprüfungsmaßstab anzulegen sei. I. Die Entwicklung und Ausgestaltung des „Intermediate Scrutiny Test" 1. Reed v. Reed - Vorbote eines strikteren

Kontrollmaßstabs

Chief Justice Burger verfaßte die Begründung dieser Entscheidung. Der Supreme Court hielt ein Gesetz Idahos für verfassungswidrig, das im Streitfall den Vater des Verstorbenen unabhängig von seiner Eignung zum 227

7*

Vgl. A. Hill (Fn. 199), S. 1247 m.w.N.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Testamentsvollstrecker bestimmte. Die Mutter des Verstorbenen hatte keine Möglichkeit, in diesem Fall als Testamentsvollstrecker zu fungieren. Burger führte aus, daß die Equal Protection Clause Klassifizierungen nur dann zulasse, wenn diese in einem rationalen Verhältnis zum Zweck des Gesetzes stünden. Der Zweck des Gesetzes, die Reduzierung der Arbeit der Gerichte, die im Streitfall nicht zu entscheiden hätten, ob Vater oder Mutter als Testamentsvollstrecker fungieren, sei zwar zulässig. Das gewählte Mittel, die Benachteiligung der Frau, sei es nicht. Wegen der unterschiedlichen Behandlung von Frauen und Männern verstoße die Vorschrift gegen die Equal Protection Clause. 228 Der Supreme Court spezifizierte noch nicht, welcher Scrutiny-Standard auf an das Geschlecht anknüpfende Klassifizierungen anwendbar ist. Jedoch ist in Reed v. Reed kaum ein reiner „rational basis"-Standard angewendet worden. Unter diesem Standard prüft der Supreme Court in der Regel nur, ob ein Gesetz willkürlich ist, d.h. keine vernünftige Begründung für die staatliche Regelung denkbar ist. Von Zeit zu Zeit wendet der Supreme Court jedoch einen „strikteren Rational Basis Test" an und räumt dem Staat weniger Entscheidungsspielraum ein. Reed v. Reed ist ein Beispiel für ein solches Vorgehen. Dies ist vor dem Hintergrund des Bestrebens des Supreme Court zu sehen, sich einen strengeren Beurteilungsmaßstab für Geschlechtsklassifizierungen zu erarbeiten.

2. Frontiero v. Richardson „Strict Scrutiny Test" für Geschlechtsklassifizierungen? In Frontiero v. Richardson hielt der Supreme Court ein Bundesgesetz für verfassungswidrig, das Zuwendungen für Angehörige von Luftwaffenoffizieren regelte. Dieses Gesetz fingierte, daß Ehegatten männlicher Luftwaffenoffiziere in jedem Fall bedürftig seien und sich daher für die Zuwendungen qualifizierten. Die Ehegatten weiblicher Luftwaffenoffiziere hingegen mußten nachweisen, daß mehr als die Hälfte des Familieneinkommens von der Ehefrau stammte. 229 Richter Brennan verfaßte die Urteilsbegründung für die Pluralität, der drei weitere Richter angehörten. 230 Vier Richter stimmten im Ergebnis zu, 228

Reed v. Reed, 404 U.S. 71, 76f. (1971). Frontiero v. Richardson , 411 U.S. 677, 678 (1973). 230 Eine Mehrheit, in diesem Fall fünf der neun abstimmenden Richter, wäre erforderlich gewesen, damit nicht nur das Ergebnis der Entscheidung, sondern auch ihre Begründung verbindlich im Sinne eines Präzedenzfalls geworden wäre (majority opinion). Da nur vier Richter (plurality opinion) der Begründung Brennans zustimmten, ist diese nur insofern für spätere Entscheidungen im Sinne von stare decisis verbindlich, als sie mit der Begründung mindestens eines weiteren Richters über229

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

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vertrauten jedoch auf eine andere Begründung. 231 Brennan diskutierte zunächst, welcher Überprüfungsstandard auf Klassifizierungen anzuwenden ist, die nach dem Geschlecht unterscheiden. Unter Berufung auf Reed v. Reed argumentierte Brennan, daß Geschlechtsklassifizierungen solchen Klassifizierungen gleichzustellen seien, die nach Rasse, Herkunft oder Staatsbürgerschaft unterscheiden. Daher seien Geschlechtsklassifizierungen von vornherein verdächtig und müßten besonders sorgfältig überprüft werden. Dieser Standard stehe im Gegensatz zum traditionellen Überprüfungsmaßstab der Equal Protection Clause, nach dem nur dann ein Verstoß vorliege, wenn die Klassifizierung offensichtlich willkürlich sei. Brennan verwies darauf, daß die Vereinigten Staaten auf eine lange Geschichte der Diskriminierung von Frauen zurückblickten. Er zitierte als Beispiel das paternalistische Weltbild des Richters Bradley in Β radwell v. Illinois. 232 Ein Ergebnis dieser paternalistischen Weltsicht sei es, daß viele Gesetze von Vorurteilen geprägte Unterscheidungen beinhalteten. Die Lage der Frauen sei in vielen Aspekten der der Schwarzen vor dem Bürgerkrieg vergleichbar gewesen. Frauen hätten weder Ämter bekleiden noch als Geschworene fungieren können. Sie seien nicht in der Lage gewesen, im eigenen Namen zu klagen. Ihre Lage habe sich zwar in den letzten Jahren gebessert. Jedoch müßten sie weiterhin Diskriminierungen ertragen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine subtilere Form angenommen hätten. Aufgrund dieser Erwägungen seien nach dem Geschlecht differenzierende Klassifizierungen von vornherein suspekt. Sie seien einer besonders strengen richterlichen Kontrolle (strict scrutiny) zu unterwerfen. 233 Das vorliegende Gesetz könne einer Überprüfung unter diesem Standard nicht standhalten. Der von der Regierung zur Rechtfertigung des Gesetzes vorgebrachte Grundsatz der Effizienz der Verwaltung reiche allein nicht aus, um das Gesetz für verfassungsgemäß zu halten. Der Regierung könne nicht der sonst übliche Einschätzungsspielraum eingeräumt werden. 2 3 4 Frontiero v. Richardson ist die einzige Entscheidung des Supreme Court geblieben, in der der „Strict Scrutiny Test" auf Geschlechtsklassifizierungen angewendet wurde. Da es sich hinsichtlich des anzuwendenden Tests um einstimmt. Falls in dieser Darstellung keine besondere Kennzeichnung vorliegt, handelt es sich jeweils um eine majority opinion. 231 Richter Powell wandte sich in seiner zustimmenden Meinung gegen die Einordnung aller Geschlechtsklassifizierungen in eine bestimmte Verdächtigkeitskategorie und verwies auf das sich damals im Ratifikationsprozeß befindende Equal Rights Amendment, ebd., S. 692. Dieses Amendment trat letzten Endes nicht in Kraft, da nicht die von Artikel V geforderte Mehrheit von drei Vierteln aller Bundesstaaten zustimmte. 232 Ebd., S. 682ff. (plurality opinion). Hervorhebung durch H. Sch. 233 Ebd., S. 685 ff. Hervorhebung durch H. Sch. 234 Ebd., S. 689 f.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

eine bloße Pluralitätsmeinung handelt, hat die Entscheidung insofern keinen präjudiziellen Wert. Die Begründung des Richters Brennan läßt den Glauben an eine lebendige Verfassung erkennen, die sich der jeweiligen Sozialmoral anpaßt. Das in Bradwell v. Illinois zu Tage tretende Weltbild, das auch das vieler Verfassungsväter gewesen ist, wurde von Brennan als paternalistisch und vorurteilsbehaftet abgelehnt.

3. Craig v. Boren - der „Intermediate Scrutiny Test" wird erstmals artikuliert Craig v. Boren ist eine der wichtigsten Entscheidungen des Supreme Court zur Vereinbarkeit von Geschlechtsklassifizierungen mit der Equal Protection Clause. Erstmals stimmte eine Mehrheit der Richter einem Begründungsansatz zu, der Geschlechtsklassifizierungen in das ScrutinySchema einordnete. Der Supreme Court hatte über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes Oklahomas zu entscheiden, das den Verkauf 3.2%igen Biers an Frauen ab dem 18. Lebensjahr gestattete, aber den Verkauf an Männer erst ab dem 21. Lebensjahr zuließ. Als Grund für die Differenzierung wurde angegeben, daß ein überproportionaler Anteil männlicher Jugendlicher im Alter zwischen 17 und 21 Jahren an Verkehrsunfällen beteiligt sei. Aus einer Untersuchung der Häufigkeit von Verhaftungen von 18 bis 21-jährigen Heranwachsenden wegen Trunkenheit am Steuer ging hervor, daß 0.18% der Frauen, aber 2% der Männer in dieser Altersgruppe verhaftet worden 235

waren. Wiederum verfaßte der Richter Brennan die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit. Brennan berief sich auf Präjudizien, aus denen hervorgehe, daß Klassifizierungen zwischen Männern und Frauen einem wichtigen Ziel des Staates dienen müßten und hierzu in einem substantiellen Zusammenhang stehen müßten? 36 Brennan führte aus, daß falsche Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft nicht Grundlage von Geschlechtsklassifizierungen sein dürften. Er wandte daraufhin den neu geschaffenen (intermediate scrutiny) Standard auf das Gesetz Oklahomas an. Insbesondere die Tatsache, daß lediglich 2% der männlichen Jugendlichen zwischen 18 und 21 Jahren betroffen seien, rechtfertige nicht die Klassifizierung. Zudem gebe es keine Anhaltspunkte dafür, daß der Genuß 3.2%igen Biers und nicht der anderer Alkoholika Ursache für die Trunkenheit am Steuer sei. Folglich stehe die Geschlechtsklassifizierung nicht in einem hinreichend substantiellen Verhältnis zu dem Ziel des Gesetzes. 237 235 236

Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 201 ff. (1976). Ebd., S. 197. Hervorhebung durch H. Sch.

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

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Die Dissente der Richter Burger und Rehnquist warfen der Mehrheitsmeinung vor, mit dem strengeren Kontrollmaßstab für Geschlechtsklassifizierungen ein neues Recht in die Verfassung zu schreiben, ohne daß es dafür Anhaltspunkte gebe. In diesem Fall sei vielmehr der traditionelle Kontrollmaßstab anzuwenden, der fragt, ob das zu überprüfende Gesetz rational begründbar sei. 2 3 8 Mit der Anwendung des „Intermediate Scrutiny Test" beschritt der Supreme Court verfassungsrechtliches Neuland. Entgegen den Ausführungen Brennans tauchte diese Formulierung in keinem der Präjudizien auf. Vielmehr hatte Chief Justice Burger in Reed v. Reed auf eine Einordnung in das Scrutiny-Schema verzichtet. Brennan selbst hatte in Frontiero v. Richardson für Geschlechtsklassifizierungen den „Strict Scrutiny Test" anwenden wollen. 2 3 9 Den Richtern Burger und Rehnquist ist insofern zuzustimmen, als die Mehrheitsmeinung die Verfassung fortgebildet hat, indem sie den „Intermediate Scrutiny Test" schuf. Jedoch war selbst Burgers moderatere Begründung in Reed v. Reed eine Fortbildung der Verfassung, war die dortige Auslegung doch nicht mit dem Verfassungsbild zum Zeitpunkt der Ratifizierung des 14. Amendments vereinbar. Eine Anpassung der Verfassungsinterpretation an die gesellschaftlich dominanten Vorstellungen über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern war nicht ohne Neuinterpretation des 14. Amendments möglich. 4. Califano v. Webster und Orr v. Orr die Anwendung des „Intermediate Scrutiny Test" Der Supreme Court hielt in einer 1977 ergangenen Entscheidung eine Rentenbestimmung des Social Security Act für verfassungsgemäß, die es Frauen erlaubte, bei der Rentenberechnung von einem höheren Durchschnittslohn auszugehen als Männer. Der Supreme Court benutzte den in Craig ν. Boren entwickelten Test, nach dem Geschlechtsklassifizierungen nur dann mit der Equal Protection Clause des 14. Amendments vereinbar sind, wenn sie in einer substantiellen Beziehung zu wichtigen staatlichen Zielen stehen. („Intermediate Scrutiny Test"). Klassifizierungen, die Resultat archaischer und zu weiter Verallgemeinerungen seien, könnten nicht toleriert werden. Beispiele hierfür seien die Annahmen, daß Frauen in der Regel von ihren Ehegatten abhängig seien, daß sie als das „schwache Geschlecht" besonders schutzbedürftig seien oder daß sie in der Regel die Kindererziehung übernähmen. Das vorliegende Gesetz fuße auf anderen 237

Ebd., S. 202ff. Ebd., S. 217 (Burger, W., Rehnquist W., dissenting). 239 Auf diesen Widerspruch wies der für den „Rational Basis Test" votierende Richter Rehnquist in seinem Dissent zu Craig ν. Boren hin, vgl. ebd., S. 217. 238

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Prämissen. Es ermögliche Frauen zu einem gewissen Anteil auszugleichen, daß sie auf dem Arbeitsmarkt in der Regel geringere Chancen hätten und schlechter bezahlt würden. Es sei daher geeignet, frühere Diskriminierungen auszugleichen. Dies werde von der Entstehungsgeschichte des Gesetzes unterstrichen. Die unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern sei nicht zufälliges Nebenprodukt traditioneller Sichtweisen über Frauen gewesen. Statt dessen habe der Kongreß beabsichtigt, Frauen für erlittene ökonomische Nachteile zu entschädigen. Das Gesetz sei daher verfassungsgemäß. 240 Richter Brennan sprach für die Mehrheit des Supreme Court in Orr v. Orr 24 \ wo es um die Verfassungsmäßigkeit des Unterhaltsgesetzes des Bundesstaates Alabama ging. Dieses Gesetz sah nur Unterhaltszahlungen des Ehemanns an seine geschiedene Ehegattin, nicht aber den umgekehrten Fall vor. Der Kläger hatte argumentiert, daß dem Gesetz Präferenzen für eine abhängige Rolle der Ehefrauen zugrunde lägen. Brennan stimmte ihm darin zu, daß ein solcher Zweck nicht zulässig sei. Die hergebrachte Vorstellung, daß es die Aufgabe des Ehemanns sei, für die materiellen Voraussetzungen der Ehe zu sorgen, könne nicht länger ein Gesetz rechtfertigen, das nach Geschlechtern unterscheide. Es sei kein Grund vorstellbar, warum bedürftige Männer nicht auch Unterhalt bekommen sollten. Das Gesetz begünstige ausschließlich finanziell bessergestellte Ehefrauen mit bedürftigen Ehegatten. Damit sei das Risiko verbunden, daß das Gesetz nur Vorurteile über den „ richtigen " Platz der Frau bestärken wolle. Dies sei nicht mit der Equal Protection Clause vereinbar. 242 Beide Entscheidungen lassen eine Tendenz des Supreme Court erkennen, bei jeder Geschlechtsklassifizierung die Frage zu stellen, ob diese auf einem „Vorurteil" gegenüber Frauen beruht. Im Gegensatz zum „Strict Scrutiny Test" ist mit dem „Intermediate Scrutiny Test" nicht die nahezu unwiderlegbare Vermutung verbunden, daß die untersuchte Regelung verfassungswidrig ist. Vielmehr hat der Supreme Court genug Spielraum, den Nutzen und Schaden der Klassifizierung gegeneinander abzuwägen. Der Supreme Court untersucht, ob die Klassifizierung im Zusammenhang mit „archaischen Vorurteilen" steht, d.h. auf Wertungen beruht, die mit der Rolle der Frau nach der gegenwärtigen Sozialmoral nicht vereinbar sind. Im Gegensatz dazu läßt der Supreme Court solche Regelungen passieren, die ihm vertretbar erscheinen. Daß dieses Urteil ein subjektives ist, lassen die im folgenden behandelten Entscheidungen erkennbar werden. 240 Califano v. Webster, 430 U.S. 313, 317f., 320 (1977). Hervorhebungen durch H. Sch. 241 440 U.S. 268 (1979). 242 Ebd., S. 279ff. Hervorhebung durch H. Sch.

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

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II. Die Rechtsprechung zum „Intermediate Scrutiny Test" seit 1980 Der Beginn der achtziger Jahre stellt keine klare Trennlinie in der Rechtsprechung des Supreme Court zu Geschlechtsklassifizierungen dar. Vielmehr wurde der Supreme Court erst nach und nach durch die Anstrengungen des Präsidenten Reagan mit konservativeren Richtern besetzt. Das Weltbild dieser Richter schlug sich in einigen Entscheidungen zu Geschlechtsklassifizierungen nieder. Es kam jedoch nicht zu einer Veränderung in der Systematik des „Intermediate Scrutiny Test".

1. Biologische Unterschiede a) Michael M. v. Superior Court In Michael M. v. Superior Court 243 hatte der Supreme Court zu entscheiden, ob ein Gesetz des Bundesstaates Kalifornien verfassungsgemäß war, das den einverständlichen Geschlechtsverkehr mit weiblichen Personen unter Strafe stellte, die jünger als 18 Jahre waren (statutory rape). Das Gesetz bestrafte nur männliche Täter, diese jedoch unabhängig von ihrem Alter. Der Kläger, Michael M., hatte im Alter von siebzehn Jahren mit einer Sechzehnjährigen Geschlechtsverkehr gehabt und wurde wegen Verstoßes gegen das oben genannte Gesetz von der Staatsanwaltschaft angeklagt. Richter 2 4 4 Rehnquist verfaßte die Begründung für die Pluralität, der drei weitere Richter zustimmten. 245 Zunächst wies er darauf hin, daß laut Craig v. Boren bei Geschlechtsklassifizierungen ein strengerer Kontrollmaßstab eingreife. Es müsse eine substantielle Beziehung der Klassifizierung zu einem legitimen Zweck bestehen. Rehnquist stufte den Zweck des Gesetzes, die Vermeidung von Schwangerschaften unter Jugendlichen, als hinreichend bedeutend ein. Er argumentierte, daß sich Männer und Frauen hinsichtlich der mit sexueller Aktivität verbundenen Risiken und Probleme in einer unterschiedlichen Position befänden. Nur die Frauen, die schwanger würden, müßten disproportionale physische, emotionale und psychologische Konsequenzen tragen. Das Risiko, schwanger zu werden, sei ein Abschrekkungsmoment, dem allein weibliche Jugendliche ausgesetzt seien. Die nur 243

450 U.S. 464 (1981). William H. Rehnquist war seit 1972 Richter am Supreme Court. 1986 folgte er Warren E. Burger auf die Position des Chief Justice nach. 245 Es handelt sich wiederum um eine plurality opinion mit beschränktem Wert als Präzedenzfall. Vgl. oben Fn 230. Die fünfte für die Entscheidung zugunsten der Verfassungsmäßigkeit nötige Stimme stammte von Richter Blackmun. Vgl. auch dessen zustimmende Meinung, ebd., S. 481 ff. 244

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Männer treffende Sanktion des Gesetzes gleiche den Abschreckungsunterschied aus.246 Grund für die Differenzierung seien biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen und nicht gesellschaftliche Vorurteile. Folglich verstoße das Gesetz nicht gegen das 14. Amendment. 247 Richter Stevens warf der Mehrheit in einem Dissent vor, daß das Gesetz Vorurteile der Legislative unzulässig reflektiere. Nach diesen mit traditionellen Ansichten übereinstimmenden Vorurteilen trage der männliche Teil die überwiegende Schuld an der Schwangerschaft. Diese Vorurteile seien irrational und könnten die unterschiedliche Behandlung nicht rechtfertigen,248 Ähnlich argumentierte Richter Brennan in seinem Dissent. Das Gesetz spiegele die historische Entwicklung wieder, nach der Frauen rechtlich nicht in der Lage gewesen seien, in sexuelle Handlungen einzuwilligen. Nach dieser Tradition sei es Aufgabe des Gesetzgebers, ihre Tugendhaftigkeit zu bewahren. 249 Die Pluralität und die dissentierenden Richter stimmten darin überein, daß auf Geschlechtsklassifizierungen der „Intermediate Scrutiny Test" anwendbar ist. Uneinigkeit bestand nur hinsichtlich der Frage, ob das kalifornische Gesetz auf untolerierbaren Vorurteilen basierte. Während die Richter, die sich der Begründung Rehnquists anschlossen, es als legitim und nicht vorurteilsbehaftet einordneten, nur den männlichen Teilnehmer sexueller Handlungen Minderjähriger zu bestrafen, verwiesen die dissentierenden Richter auf die Überholtheit dieser Tradition. Rehnquist legte seiner Begründung die unausgesprochene Vermutung zugrunde, daß es zumindest kein Vorurteil sei, daß weibliche Jugendliche von sexuellen Handlungen durch die Möglichkeit der Schwangerschaft abgeschreckt werden können, während männliche Jugendliche besonderer Abschreckung bedürften. Die Entscheidung in Michael M. v. Superior Court hing letzen Endes von der richterlichen Wertung über die zulässige Ausgestaltung des Sexuallebens minderjähriger Jugendlicher ab.

b) Rostker v. Goldberg In dieser ebenfalls von Richter Rehnquist begründeten Entscheidung hielt der Supreme Court ein Bundesgesetz für verfassungsgemäß, das die Registrierung für den Wehrdienst ausschließlich für Männer vorsah. Rehnquist berief sich in erster Linie auf den besonders großen Einschätzungsspielraum, der dem Kongreß in Verteidigungsfragen zukomme. 2 5 0 Dabei könne 246 247 248 249

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 470ff. (plurality opinion). Hervorhebung durch H. Sch. S. 476. S. 501 (Stevens, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. S. 494f. (Brennan, W., dissenting).

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

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der Ausschluß von Frauen auch der Geschlechtsklassifizierungen zukommenden erhöhten richterlichen Kontrolle standhalten. Die nationale Sicherheit stelle zweifellos ein wichtiges staatliches Interesse dar. Wie aus der Geschichte des Bundesgesetzes hervorgehe, sei der Kongreß über die gegenwärtigen Auffassungen hinsichtlich des Platzes der Frau in der Armee informiert gewesen. Das Gesetz sei nicht, wie in Califano v. Webster, zufällige Folge traditioneller Ansichten über Frauen gewesen. Frauen als Gruppe seien nicht kampffähig, so ein in Gesetzen verankertes Prinzip, das im Volk weitestgehend Unterstützung finde. Folglich befänden sich Männer und Frauen hinsichtlich ihrer Verwendungsfähigkeit für die Armee in einer unterschiedlichen Position. Die Legislative habe nicht willkürlich differenziert, das Gesetz sei verfassungsgemäß. 251 Richter Thurgood Marshall warf der Mehrheitsmeinung in seinem Dissent vor, eine der traditionellen Fehlvorstellungen über die Rolle der Frau zu rechtfertigen. 252 Wiederum ging es nur um die Frage, was ein Vorurteil über die Rolle der Frau in der Gesellschaft konstituiert. Hervorzuheben ist, daß sich Rehnquist, der sich gegen das Prinzip einer lebendigen, sich an die jeweiligen gesellschaftlichen Wertvorstellungen anpassenden Verfassung ausspricht , auf einfache Gesetze und die überwiegende öffentliche Meinung berief, um die Kampfunfähigkeit der Frauen zu unterstreichen. 2. Geschlechtsklassifizierungen

im Universitätswesen

a) Mississippi University for Woman v. Hogan Der von der Richterin O'Connor verfaßten Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger, Joe Hogan, war von Beruf Krankenpfleger und beantragte die Zulassung für ein Fortbildungsstudium an der Mississippi University for Woman. Diese Universität war ausschließlich Frauen vorbehalten. Seine Zulassung wurde aufgrund seines Geschlechts abgelehnt. 2 5 4 O'Connor benannte zunächst den anzuwendenden „Intermediate Scrutiny Test". Dieser Test müsse unabhängig von den festgefahrenen Vorstellungen über die Rolle von Mann und Frau angewendet werden. Besondere Vorsicht sei bei der Prüfung angebracht, wenn das Gesetz selbst archaische und ste250

Rostker v. Goldberg, 453 U.S. 57, 67 (1981). Ebd., S. 70f., 74, 76ff. Hervorhebung durch H. Sch. 252 Ebd., S. 86 (Marshall, T., dissenting). 253 Vgl. W. H. Rehnquist, The Notion of a Living Constitution, 54 Tex. L. Rev. 693 (1976). 254 Mississippi University for Woman v. Hogan, 458 U.S. 718ff. (1982). Hervorhebung durch H. Sch. 251

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

reotype Ansichten reflektiere. Wenn ein Gesetz versuche, ein Geschlecht zu „beschützen", weil es dieses als minderwertig ansehe, sei sein Ziel selbst illegitim. 255 Klassifizierungen zum Schutz von Frauen seien nur dort angebracht, wo sie, wie etwa in Califano v. Webster, frühere Diskriminierungen kompensieren sollten. Dies sei hier nicht der Fall. Frauen stellten den überwiegenden Anteil der Beschäftigten in der Krankenpflege. Die Praxis der Universität, Männer auszuschließen, perpetuiere das Vorurteil, daß die Krankenpflege ein typischer Frauenberuf sei, daß Frauen und nicht Männer Krankenpfleger werden sollten. Folglich sei die Equal Protection Clause des 14. Amendments verletzt. 2 5 6 Mississippi University for Woman v. Hogan reiht sich in die bisher dargestellte Rechtsprechung als eine Entscheidung ein, in der sich der Supreme Court gegen die Perpetuierung „gesellschaftlicher Vorurteile" ausspricht, d.h. früher herrschender, gegenwärtig als überholt angesehener Wertvorstellungen. Fraglich ist jedoch, ob es einen objektiv überprüfbaren, von den Wertvorstellungen des einzelnen Richters unabhängigen Weg gibt, zu ermitteln, ob ein Vorurteil vorliegt. Letzten Endes entscheidet das Wertverständnis eines jeden Richters.

b) United States v. Virginia aa) Die Mehrheitsmeinung der Richterin Ginsburg Richterin Ginsburg 257 begründete eine 1996 ergangene Entscheidung, in der es der Supreme Court für verfassungswidrig hielt, daß das Virginia Military Institute (VMI), ein mit staatlichen Mitteln gefördertes College, ausschließlich männliche Bewerber zuließ. Die Universität begründete diese Praktik mit ihrem rigorosen Ausbildungsplan. Studenten unterwarfen sich einem hierarchischen System, das außerordentliche Anforderungen an sie stellte. Ein strenger Ehrenkodex wurde von den jeweils älteren Jahrgängen durchgesetzt. Der einzelne Student verfügte kaum über Privatsphäre. Durch diese rigorose Ausbildung sollten Absolventen mit zivilen und militärischen Führungsqualitäten hervorgebracht werden. Die Universität argumentierte, daß dieses einzigartige Ausbildungsmodell nicht funktionieren könne, wenn die Zulassungsbeschränkung wegfiele. Sie räumte jedoch ein, daß auch weibliche Bewerber den physischen und psychischen Anforderungen der 255

Ebd., S. 724f. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 728 ff. 257 Ruth Bader Ginsburg wurde nach Sandra Day Ο*Connor als zweite Frau an den Supreme Court berufen. Sie hatte in früheren Verfahren vor dem Supreme Court, unter anderem Craig ν. Boren, für die ACLU (American Civil Liberties Union) argumentiert, daß Geschlechtsklassifizierungen dem „Strict Scrutiny Test" unterworfen werden müßten. 256

E. Das 14. Amendment und die Gleichstellung der Geschlechter

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Ausbildung genügen könnten. 2 5 8 Als Reaktion auf die Entscheidung in Mississippi University for Woman v. Hogan hatte der Staat Virginia ein ausschließlich Frauen vorbehaltenes College, das „Virginia Women's Institute of Leadership" (VWIL) gegründet, das weiblichen Bewerbern eine ähnliche Ausbildung bieten sollte. Die Gestaltung der Ausbildung war jedoch weniger militärisch. Zudem verfügte diese Institution nicht über Ausstattung und Ruf des V M I . 2 5 9 Ginsburg verwies auf die Entscheidung in Mississippi University for Woman v. Hogan als das einschlägige Präjudiz. Danach müsse der Staat nachweisen, daß die Geschlechtsklassifizierung einem wichtigen Zweck diene und in einem substantiellen Zusammenhang zu diesem Zweck stehe. Dies sei bei auf biologischen Unterschieden außauenden Klassifizierungen der Fall, nicht aber bei solchen Kriterien, die die rechtliche, soziale und ökonomische Minderwertigkeit von Frauen perpetuieren sollten. 260 Ginsburg untersuchte die Ursachen für den Ausschluß weiblicher Studenten aus dem V M I . Sie wies darauf hin, daß 1839, als das V M I gegründet wurde, höhere Schulbildung als für Frauen unpassend und schädlich betrachtet wurde. Insbesondere in Virginia sei Frauen die Zulassung zu Universitäten lange verwehrt worden. Alle anderen staatlich geförderten Ausbildungseinrichtungen hätten inzwischen geschlechtsbezogene Zulassungsbeschränkungen aufgegeben. Folglich könne Virginia nicht argumentieren, daß mit dem V M I die Vielfalt des Ausbildungssystems erhalten werden solle, da Frauen keine vergleichbare Institution zur Verfügung stehe. Ginsburg wandte sich gegen das Argument Virginias, daß Frauen in einer kooperativen Atmosphäre bessere Ergebnisse erzielten, während Männer eine Atmosphäre der Gegensätzlichkeit benötigten. Diese Art von Verallgemeinerungen müßten einer besonders rigiden Kontrolle unterzogen werden. Virginia habe weder nachweisen können, daß die Ausbildungsmethode des V M I für Frauen nicht geeignet sei, noch, daß die Ausbildungsmethode den Anlagen der Mehrheit der männlichen Bevölkerung entspreche. Es sei unbestritten, daß das Ausbildungsmodell für einige Frauen geeignet wäre. Das V W I L stelle keine wirkliche Alternative zum V M I dar. Die Möglichkeiten dieser Einrichtung seien nicht mit denen des V M I , einem der angesehensten Colleges der Vereinigten Staaten, vergleichbar. Es liege ein Verstoß gegen die Equal Protection Clause vor. 2 6 1

258 259 260 261

United States v. Virginia, 116 S. Ct. 2264, 2269 (1996). Ebd., S. 2272. Ebd., S. 2276. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 2277, 2279f., 2284.

110

1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court bb) Der Dissent des Richters Scalia

Richter Scalia warf der Abstimmungsmehrheit vor, eine Reihe von Entscheidungen fortzusetzen, die die gegenwärtigen gesellschaftlichen Präferenzen in die Verfassung schrieben. Dieses Mal sei es die Ansicht, daß eine Männern vorbehaltene militärische Akademie keinen substantiellen Wert darstelle. Scalia sprach dem dreistufigen Scrutiny-Schema jeden wissenschaftlichen Wert ab. Es komme ausschließlich darauf an, welches Recht als fundamental angesehen werde. Scalia argumentierte, daß die staatlich finanzierte militärische Schule für Männer in den Traditionen der Vereinigten Staaten verwurzelt sei. Das Volk habe das Recht, diese Traditionen auf demokratischem Wege zu ändern. Die Schlußfolgerung der Mehrheitsmeinung, daß diese Tradition verfassungswidrig sei, sei keine rechtliche Interpretation, sondern eine politische Weitung in rechtlichem Gewand. Die Verfassung werde nicht interpretiert, die Mehrheitsmeinung entwickle vielmehr neue Rechte. 262

3. Zusammenfassung Der Supreme Court bekräftigte in United States v. Virginia den in Mississippi University for Woman v. Hogan eingeschlagenen Weg. Geschlechtsklassifizierungen werden besonders intensiv bezüglich ihrer Genese untersucht. Hervorzuheben ist, daß Richterin Ginsburg die historischen Wurzeln des Ausschlusses von Frauen aus dem V M I zum Anlaß nahm, um dessen Zulassungspraxis als vorurteilsbehaftet zu charakterisieren. Mit dieser Methode wäre es auch möglich gewesen, das statutory rape Gesetz in Michael M. v. Superior Court sowie die Nichtregistrierung von Frauen in Rostker v. Goldberg als vorurteilsbehaftet abzulehnen. Beide Regelungen lassen sich auf traditionelle, heute nicht mehr mehrheitsfähige Anschauungen über die Rolle der Frau zurückführen. Die „Vorurteilsrechtsprechung" des Supreme Court läßt den einzelnen Richtern einen sehr weiten Spielraum. Richter Scalia hat recht, wenn er dem Supreme Court attestiert, gegenwärtige gesellschaftliche Präferenzen „in die Verfassung zu schreiben". Er übersieht jedoch, daß diese Praxis seit Beginn der Interpretation der Verfassung durch den Supreme Court üblich war. In den über 100 Jahren, die seit der Abfassung des Urteils in Β radwell v. Illinois vergangen sind, hat der Supreme Court die Equal Protection Clause fast entgegengesetzt ausgelegt. Mit der Veränderung der Sozialmoral, der gesellschaftlich dominanten Anschauungen über die Rolle der Frau, ging, 262

Ebd., S. 2291 ff. (Scalia, Α., dissenting). Hervorhebungen durch Η. Sch.

F. Suspekte Klassifizierungen unter der Equal Protection Clause wenn auch mit Verspätung, eine Veränderung der Interpretation 14. Amendments durch den Supreme Court einher. 2 6 3

111 des

Waren die Urteile des 19. Jahrhunderts falsch? Hat die Verfassung der Vereinigten Staaten von vornherein einen der heutigen Auslegung durch den Supreme Court entsprechenden Inhalt gehabt? Oder änderte sich nicht ihr Inhalt mit der Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen, zu denen auch die Moralvorstellungen gehören? Dann wäre Verfassungsrechtsprechung im Sinne Richter Scalias „politisch". Richter würden nicht die von vornherein feststehende Bedeutung der Verfassung ermitteln, sondern selbst die dominanten Wertvorstellungen interpretieren und in die Verfassungsanwendung einfließen lassen.

F. Weitere suspekte Klassifizierungen unter der Equal Protection Clause Bisher wurde die doktrinäre Entwicklung am Beispiel rassischer und an das Geschlecht anknüpfender Klassifizierungen dargestellt. Eine ähnliche, in der Praxis jedoch weniger umstrittene Entwicklung vollzog sich bei Klassifizierungen, die nach Staatsangehörigkeit beziehungsweise ehelicher Herkunft unterscheiden. Es wird zu jeder Fallgruppe jeweils eine Entscheidung dargestellt. I. Der Schutz von Ausländern unter der Equal Protection Clause Sugarman v. Dougal 1. Die Urteilsbegründung

des Richters Blackmun

In Sugarman v. Dougal hielt der Supreme Court in einer von Richter Blackmun verfaßten Entscheidung ein Gesetz des Bundesstaates New York für verfassungswidrig, das Ausländer von bestimmten Positionen des öffentlichen Dienstes ausschloß. Blackmun führte aus, daß Bestimmungen, die nach der Staatsangehörigkeit der Bewerber klassifizierten, erhöhter richterlicher Kontrolle (close judicial scrutiny) zu unterwerfen seien. 264 Blackmun berief sich auf die „Carolene Products Fußnote". Ausländer seien ein Beispiel für eine isolierte und einflußlose Minderheit, die besonderen Schutz 263

A. Hill (Fn. 199), S. 125Iff. Vgl auch die rechtsvergleichende Betrachtung von H. Bungerty Gleichberechtigung von Mann und Frau im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, ZvglRWiss 89 (1990), 441 ff. 264 Der Supreme Court hatte bereits in einer früheren Entscheidung ein Gesetz am „Strict Scrutiny Test" scheitern lassen, das staatliche Unterstützung nur amerikanischen Staatsbürgern, nicht aber legal in den Vereinigten Staaten lebenden Ausländern zukommen ließ: Graham v. Richardson , 403 U.S. 365, 371 f. (1971).

112

1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

durch die Gerichte benötige. Zwar seien auf Staatsangehörigkeit abstellende Klassifizierungen nicht von vornherein unzulässig. Das New Yorker Gesetz sei jedoch zu weit gefaßt und daher verfassungswidrig. 265

2. Die Kritik

des Richters Rehnquist

Richter Rehnquist kritisierte in seinem Dissent, daß die Mehrheit eine neue suspekte Klassifizierung definiere, für die es keine Anhaltspunkte in der Geschichte des 14. Amendments gebe. Hauptzweck des Amendments sei es gewesen, rassische Diskriminierungen zu untersagen. Nur aufgrund dieser manifestierten Intentionen der Verfasser des 14. Amendments seien rassische Klassifizierungen als suspekt eingeordnet worden. Rehnquist wandte sich insbesondere gegen die Verwendung der „Carolene Products Fußnote" für die Etablierung einer neuen „suspekten Klasse". So sei diese Fußnote nur von einer Pluralität von vier Richtern unterstützt worden und könne deshalb nicht als Ankündigung einer neuen Doktrin verstanden werden. Zudem sei das Argument, daß eine Klasse isoliert und einflußlos sei, kein Grund, Verbote für verfassungswidrig zu erklären, die auf Zugehörigkeit zu ihr beruhten. Dieser Ansatz führe aufgrund der außerordentlichen Vielfalt des Volkes der Vereinigten Staaten dazu, daß das Verfassungsgericht, wenn es eine Gruppe für isoliert genug halte, dieser speziellen Schutz zukommen lassen könne, ohne daß Anknüpfungspunkte in der Verfassung vonnöten seien. Die Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften, die nach Staatsbürgerschaft klassifizierten, sei vielmehr nach dem „Rational Basis Test" zu bestimmen. 266 3. Anmerkung Die Diskussion zwischen den Richtern Blackmun und Rehnquist zeigt, daß sich die Richter des Supreme Court nicht auf die konsistente Anwendung einer Auslegungsmethode einigen können. In Sugarman v. Dougal trafen zwei nicht miteinander zu vereinbarende methodische Ansätze aufeinander. Nach Rehnquists Ansicht sollte sich der Supreme Court subjektiver Wertungen enthalten und seine Entscheidungen mit der Geschichte der Verfassung abstimmen. Blackmun zog eine Theorie vor, nach der die Judikative Unzulänglichkeiten des politischen Prozesses ausgleichen sollte, selbst, wenn dadurch die Verfassung auf eine von ihren Autoren nicht vorhergesehene Weise interpretiert wird. Klassifizierungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, werden nach dieser Ansicht in der Regel als suspekt angesehen. Auf sie ist der „Strict Scrutiny Test" anwendbar. 265 266

Sugarman v. Dougal, 413 U.S. 634, 641 ff. (1973). Ebd., S. 649f., 655 ff. (Rehnquist W., dissenting).

F. Suspekte Klassifizierungen unter der Equal Protection Clause

113

Der Supreme Court macht jedoch bei solchen Regelungen eine Ausnahme, in denen Ausländern der Zugang zu einer „politischen Funktion" verwehrt bleibt. Dort stehe den anderen Gewalten ein größerer Entscheidungsspielraum zu, so daß der „Strict Scrutiny Test" nicht zur Anwendung komme. 2 6 7 II. Der verfassungsrechtliche Schutz unehelicher Kinder - Lalli v. Lalli In einem 1978 entschiedenen Fall setzte sich der Supreme Court mit der Frage auseinander, wie der Status unehelicher Kinder innerhalb des dreistufigen Scrutiny-Schemas einzuordnen ist. Zu entscheiden war über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates New York, das uneheliche Kinder nur dann ihren Vater beerben ließ, wenn die Vaterschaft zu Lebzeiten des Vaters gerichtlich festgestellt worden war. Der Vater des Klägers hatte in einem notariell beglaubigten Dokument die Vaterschaft anerkannt, jedoch nicht das für die Erbfähigkeit konstitutive gerichtliche Verfahren durchführen lassen. Richter Powell verfaßte die Urteilsbegründung für die Pluralität. Powell lehnte es ab, den „Strict Scrutiny Test" auf Klassifizierungen zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern anzuwenden. Statt dessen sei zu prüfen, ob die Klassifizierungen in einem substantiellen Verhältnis zu einem erlaubten Interesse des Staates stünden („Intermediate Scrutiny Test"). 2 6 8 Das zu überprüfende Gesetz des Bundesstaates New York diene erlaubten Zielen, der Unterstützung legitimer Familienbeziehungen und der Effizienz der Verteilung der Erbmasse. Im Gegensatz zu der Entscheidung in Trimble v. Gordon , wo das untersuchte Gesetz nichtehelichen Kindern die Erbschaft von vornherein verweigert habe, sei nur einigen nichtehelichen Kindern die Erbschaft verwehrt. Nur wenige gesetzliche Klassifizierungen seien völlig frei von unbilligen Ergebnissen. Da das New Yorker Gesetz in einem substantiellen Zusammenhang zu einem legitimen Zweck stehe, verstoße es nicht gegen die Equal Protection Clause des 14. Amendments. 267

269

Vgl. zu diesem Bereich Ambach v. Norwick, 441 U.S. 68 (1979) und Cabell v. ChaveZ'SalidOy 454 U.S. 432 (1982), wo der Supreme Court das Erfordernis der Staatsangehörigkeit für Lehrer und Bewährungshelfer aufrecht erhalten hatte. Siehe aber auch Bernal v. Fainter , 467 U.S. 216 (1984), wo der Supreme Court entschied, daß Urkundsbeamte (notaries public) nicht eine politische Funktion ausfüllten, diese Position folglich nicht auf amerikanischen Staatsbürger begrenzt werden dürfe. 268 Powell verwies dabei auf zwei Präzedenzfälle, Mathews v. Lucas, 427 U.S. 495 (1976) und Trimble v. Gordon , 430 U.S. 762 (1977). Lalli v. Lalli , 439 U.S. 259, 262ff. (1978). 8 Schiwek

114

1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Der Supreme Court hat sich für die Anwendung des „Intermediate Scrutiny Test" auf Klassifizierungen entschieden, die auf die Ehelichkeit von Kindern abstellen. Solche Klassifizierungen müssen in einem substantiellen Verhältnis zu einem legitimen Interesse des Staates stehen. Die richterliche Kontrolle geht über eine bloße Rationalitätsprüfung hinaus. Jedoch wendet der Supreme Court den „Intermediate Scrutiny Test" bei diesen Klassifizierungen meist weniger strikt an als bei Geschlechtsklassifizierungen. 270

G, Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause Ein strikterer richterlicher Kontrollmaßstab bei der Interpretation der Equal Protection Clause wird nicht nur durch suspekte Klassifizierungen ausgelöst. Der „Strict Scrutiny Test" ist auch dann anwendbar, wenn ein „fundamentales Recht" beeinträchtigt wird. Der Supreme Court hat einige fundamentale Rechte der Equal Protection Clause, andere der Substantive Due Process Clause zugeordnet. Die Unterscheidung ist nicht immer klar. In erster Linie wurden fundamentale Rechte unter Berufung auf die Equal Protection Clause anerkannt, wenn vom Staat verliehene Privilegien ungleich verteilt worden waren. Die fundamentalen Rechte unter der Substantive Due Process Clause sind eher auf dem Gebiet der Privatsphäre angesiedelt. I. Entscheidungen des Supreme Court zum Wahlrecht 1. Reynolds v. Sims - Wahlkreiseinteilung a) Die Mehrheitsmeinung Chief Justice Warren verfaßte die Urteilsbegründung in Reynolds v. Sims. 271 Zu entscheiden war, ob die Wahlkreiseinteilung des Bundesstaates Alabama gegen die Equal Protection Clause verstieß. Nach der in Alabama geltenden Wahlkreiseinteilung konnte ein Viertel der Wähler über die Hälfte der zu vergebenden Parlamentssitze entscheiden. 272 Warren vertrat die Auffassung, daß eine Diskriminierung immer dann gegen die Equal Protection Clause verstoße, wenn die verletzten Rechte persönlicher Natur seien. Das Wahlrecht sei in einer freien und demokratischen Gesellschaft zweifellos eine fundamentale Angelegenheit. Es trage 269 270 271 272

Ebd., S. 265, 273, 275. Vgl. Barron u.a. (Fn. 81), S. 727 m.w.N. 377 U.S. 533 (1964). Vgl. ebd., S. 545 f.

G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause

115

auch zum Schutz anderer wichtiger Rechte bei. Folglich müsse jede Einschränkung des Wahlrechts besonders sorgfältig untersucht werden. Der Vorschlag, den Einwohnern eines bestimmten Wahlkreises mehr als eine Stimme zu geben, während die Einwohner anderer Wahlkreise nur einmal abstimmen dürften, würde zweifellos als abwegig betracht werden. Genau dies sei der Effekt der Wahlkreiseinteilung in Alabama, wo Stimmen überbeziehungsweise unterbewertet würden. 2 7 3 Die Verringerung des Gewichts von Wählerstimmen aufgrund des Wohnsitzes der Wähler sei mit auf Rassenzugehörigkeit oder wirtschaftlichen Status abstellenden Klassifizierungen vergleichbar. 274 Aus der Equal Protection Clause folge, daß die Wahlkreiseinteilung auch bei Wahlen zu den Parlamenten der Bundesstaaten auf der Basis der Einwohnerzahl zu erfolgen habe. 275 b) Harlans Dissent Richter Harlan 276 verfaßte einen vielbeachteten Dissent zu der Begründung Earl Warrens. Er argumentierte, daß die Mehrheitsmeinung sich darauf beschränke zu behaupten, daß der unterschiedliche Erfolgswert der Stimmen unfair sei. Sie übersehe, daß die Equal Protection Clause nicht mit der Intention verfaßt worden sei, die Freiheit der Bundesstaaten einzuschränken, ein nach ihren Vorstellungen demokratisches Wahlrecht zu schaffen. Dies folge sowohl aus dem Sprachverständnis derjenigen, die das 14. Amendment verfaßt und ratifiziert haben als auch aus den politischen Praktiken der einzelnen Bundesstaaten zum Zeitpunkt der Verabschiedung des 14. Amendments. Die Mehrheit könne sich auch nicht auf ein Konzept der „Genese der Verfassung" berufen. Es sei bedeutungslos, von einer Entwicklung des Verfassungsrechts zu sprechen, wenn sowohl der Text als auch die Geschichte der anwendbaren Vorschrift ignoriert würden. 2 7 7 Harlan Schloß eine umfangreiche Darstellung der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments an. Er wies darauf hin, daß die Bundesstaaten auch nach 1868 die Kompetenz behielten, ihr Wahlrecht unabhängig von der 273

Ebd., S. 561 ff. Warren berief sich auf Brown v. Board of Education , Griffin ν. Illinois und Douglas v. California. Bemerkenswert ist, daß Warren implizierte, daß auch der ökonomische Status eine der Rassenzugehörigkeit vergleichbare „suspect class44 sei. Ebd., S. 566. 275 Ebd., S. 576. 276 John M. Harlan (Richter am Supreme Court von 1955-1971) ist der Enkel des ersten Richters Harlan (Richter am Supreme Court von 1877-1911), dessen Dissente zu Plessy v. Ferguson und Lochner v. New York Verfassungsgeschichte gemacht haben. 277 Ebd., S. 590f. (Harlan, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. 274

8*

116

1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Bundesgewalt einzurichten. Zudem sei ein Amendment der Verfassung notwendig gewesen, um Frauen das Wahlrecht zu garantieren. Es falle schwer einzusehen, warum das aus dem Gleichheitsgedanken viel schwerer ableitbare Recht auf eine bestimmte Form der Wahlkreiseinteilung ohne Amendment begründbar sein solle. Die Ausarbeitung der neuen „Verfassungsdoktrin" durch die Mehrheit des Supreme Court überschreite die Autorität des Gerichts und beschränke die Rechte der Legislative der Bundesstaaten auf untolerierbare Weise. 2 7 8 Die Entscheidung sei auf die verfehlte Ansicht gestützt, daß es die Funktion des Supreme Court sei, jedem gesellschaftlichen Mißstand durch die Schaffung neuer Verfassungsdoktrin abzuhelfen, Reformen anzuführen, wenn die anderen Regierungsgewalten untätig seien. Diese Ansicht setze etwas voraus, was dem Verfassungsgericht absichtlich vorenthalten worden sei: daß das Gericht unter dem Vorwand der Interpretation den Verfassungsänderungsprozeß durch seine Ansichten substituiere.

279

c) Analyse Harlans Dissent verdient Zustimmung, wenn er dem Supreme Court vorwirft, die Verfassung auf von ihren Autoren nicht vorhergesehene Fälle anzuwenden, sie anders zu interpretieren als ihre Verfasser. Durch die Ausdehnung der Equal Protection Clause auf die Wahlkreiseinteilung in den Bundesstaaten verschob sich das Gewicht in dem Verhältnis zwischen Bundesstaaten und Bundesregierung. Die Entscheidung in Reynolds v. Sims griff weit in die Eigenständigkeit der Bundesstaaten ein. Sie fußt, auch insofern ist Harlan zuzustimmen, auf der Wertung, daß die Erfolgswertverteilung der abgegebenen Stimmen im Wahlsystem Alabamas unfair war. Earl Warrens Begründung stützte sich im wesentlichen auf das Ideal der Fairneß, hatte aber eine bedeutende Kompetenzausweitung des Supreme Court zur Folge. Earl Warren hatte sich bereits in früheren Entscheidungen, etwa Bölling v. Sharpe, auf das Ideal der Fairneß berufen und auf einen detaillierteren, der traditionellen Methodik verpflichteten Begründungsansatz verzichtet. 2. Harper ν. Virginia

State Board of Elections - Wahlsteuer

a) Die Mehrheitsmeinung In dieser Entscheidung hatte der Supreme Court über die Wahlsteuer (poll tax) zu befinden, die der Bundesstaat Virginia in Höhe von $ 1.50 278 279

Ebd., S. 608, 612, 615. Ebd., S. 624 f. Hervorhebung durch H. Sch.

G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause

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erhob. Ihre Entrichtung war Voraussetzung für die Berechtigung, an den Wahlen Virginias teilzunehmen. 280 Richter Douglas schrieb die Urteilsbegründung für die Abstimmungsmehrheit. Er merkte zunächst an, daß das Recht, an den Wahlen der Bundesstaaten teilzunehmen, nicht in der Bundesverfassung erwähnt werde. Dies sei jedoch unerheblich, da das Wahlrecht, wenn es einmal von einem Bundesstaat verliehen worden sei, nur im Einklang mit Due Process Clause und Equal Protection Clause des 14. Amendments ausgeübt werden könne. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen dem Wohlstand der Wähler und ihrer Fähigkeit, an Wahlen teilzunehmen. Die meisten Bundesstaaten hätten die Wahlsteuer abgeschafft. 281 Douglas zitierte die Entscheidung in Reynolds v. Sims, wo der Supreme Court das Wahlrecht als fundamentalen Bestandteil der freien und demokratischen Gesellschaft bezeichnet hatte. Jede Beschränkung des Wahlrechts sei einer strengen Prüfung zu unterziehen. Wohlstand sei für die Ausübung des Wahlrechts nicht notwendig. Klassifizierungen, die nach dem Wohlstand des einzelnen differenzierten, seien wie nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse differenzierende Klassifizierungen traditionell unpopulär. 2* 2 Douglas zitierte zustimmend aus dem Holmes- Dissent in Lochner v. New York 283, daß auch die Equal Protection Clause nicht an die politische Theorie einer bestimmten Ära gekettet sei. Zwischen der Equal Protection Clause und der Due Process Clause bestehe diesbezüglich kein Unterschied. Douglas berief sich auf Warrens Urteilsbegründung in Brown v. Board of Education. Man könne die Uhr nicht auf das 19. Jahrhundert zurückstellen. 2 8 4 Es gebe, so Douglas, keinen von vornherein festgelegten Katalog fundamentaler Rechte. Die Vorstellungen darüber, was eine gleiche Behandlung im Sinne der Equal Protection Clause sei, änderten sich. Das Wahlrecht sei ein zu kostbares Recht, um beschränkt zu werden. Die Wahlsteuer verstoße gegen die Equal Protection Clause. 285

280

Harper ν. Virginia State Board of Elections, 383 U.S. 663 (1966). Neben Virginia erhoben lediglich vier weitere Staaten eine Steuer als Voraussetzung für das Wahlrecht. Vgl. ebd., S. 666, Fn. 4. 282 Ebd., S. 667f. Hervorhebung durch H. Sch. 283 198 U.S. 45 (1905) (Holmes, O. W., dissenting) „The Fourteenth Amendment does not enact Mr. Herbert Spencers Social Statistics". Vgl. oben S. 48. 284 Brown v. Board of Education of Topeka , 347 U.S. 483, 492 (1954). Vgl. oben S. 77. 285 Harper v. Virginia State Board of Elections, 383 U.S. 663, 669f. (1966). Hervorhebungen durch H. Sch. 281

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court b) Der Dissent des Richters Black

Der von Richter Black verfaßte Dissent erinnert an den fast 20 Jahre früher verfaßten Dissent in Adamson v. California. Die Mehrheitsansicht beziehe sich, so Black, nicht auf den ursprünglichen Zweck des 14. Amendments, sondern lehne die Wahlsteuer aus rein politischen Gründen a b . 2 8 6 Black verwies auf zulässige Einschränkungen der Wahlberechtigung wie die Aufstellung eines Mindestalters oder den Ausschluß Geisteskranker. Die von der Abstimmungsmehrheit verwendete Methode verwandele die Equal Protection Clause in ein leicht handhabbares Instrument, um solche Gesetze der Bundesstaaten aufzuheben, die der Supreme Court für politisch falsch halte. Nach richtiger Auslegung habe sich der Supreme Court darauf zu beschränken, solche Diskriminierungen für verfassungswidrig zu halten, die unvernünftig oder willkürlich seien. Den Bundesstaaten sei ein weiter Spielraum einzuräumen. Die Wahlsteuer fuße auf zwei vernünftigen Annahmen. Der Bundesstaat sei davon ausgegangen, daß die Wähler, die die Steuer entrichten, auch am Gemeinwohl interessiert seien. Des weiteren habe er seine Einnahmen erhöhen wollen. Black merkte an, daß er die Wahlsteuer persönlich ablehne. Es gebe jedoch keinen Grund dafür, sie für verfassungswidrig zu halten. 2 8 7 Als weiteren Grund für seinen Dissent gab Black an, daß der Supreme Court seine „alte Naturrechtsformel der Due Process Clause" benutze, um eine Verletzung der Equal Protection Clause festzustellen. Black verwies auf seine bereits in Adamson v. California vorgebrachten Einwände gegen die Benutzung der Due Process Clause als Blankovorschrift, um die Bedeutung der Verfassung je nach den politischen Vorstellungen der Mehrheit des Supreme Court zu ändern. Grundlegende Änderungen könnten nur durch den in Artikel V vorgeschriebenen Verfassungsänderungsprozeß vorgenommen werden. Black warf der Mehrheitsansicht vor, daß sie keine Gründe für die Willkür und Unvernünftigkeit der Wahlsteuer angebe. Black ging auf die Behauptung Douglas' ein, daß die Verfassung nicht an eine bestimmte Theorie gekettet sei. Er hielt der Abstimmungsmehrheit vor, daß sie die politische Theorie der Verfassungsgeber verwerfe. Die Mehrheitsmeinung teile dem Supreme Court die Aufgabe zu, nach seiner eigenen Theorie zu entscheiden, was das jeweils Beste für das Land sei. Die Richter des Supreme Court seien jedoch nicht dazu qualifiziert, die für das Land beste politische Theorie auszuwählen. Diese Aufgabe komme gemäß Artikel V dem Volk z u . 2 8 8

286 287 288

Ebd., S. 671 f. (Black, H., dissenting). Ebd., S. 673 ff. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 675 ff. Hervorhebung durch H. Sch.

G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause

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c) Die Kritik des Richters Harlan Richter Harlan begann seinen Dissent mit der Frage, ob der Supreme Court die richtige Institution für die Abschaffung der Wahlsteuern in den Bundesstaaten sei. Er warf dem Supreme Court vor, von einer etablierten Tradition abgewichen zu sein. Die Mehrheit kehre zu dem subjektiven Ansatz aus Reynolds v. Sims zurück, wenn sie das Wahlrecht als fundamental oder kostbar bezeichne. Die Equal Protection Clause schütze nur vor willkürlicher Behandlung durch die Bundesstaaten. Willkürlich seien nur solche Akte der Bundesstaaten, die nicht auf einer rationalen politischen Entscheidung beruhten. Ein strikterer Überprüfungsstandard sei aufgrund der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments allenfalls bei nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse differenzierenden Bestimmungen zulässig. 289 Es stehe außer Frage, daß die Wahlsteuer nicht willkürlich, sondern rational begründbar sei. Wahlsteuern seien traditioneller Bestandteil der politischen Kultur der Vereinigten Staaten. Harlan konstatierte jedoch auch die Tendenz der Abschaffung der Wahlsteuer in den meisten Bundesstaaten. Er kam zu der Schlußfolgerung, daß die Wahlsteuer mit den gegenwärtig vorherrschenden Gleichheitsvorstellungen kaum vereinbar sei. Die Legislative sei daher berechtigt, das Recht so zu modifizieren, daß es der öffentlichen Meinung entspricht. Es könne jedoch nicht Aufgabe der Judikative sein, eine zu einem bestimmten Zeitpunkt populäre politische Doktrin zu unterstützen und alle anderen Auffassungen für irrational zu erklären. Harlan erinnerte an Holmes' Mahnung in Lochner v. New York, daß die Verfassung nicht eine Laissez-faire-Theorie inkorporiere. Dies treffe auch für eine Ideologie des unbeschränkten Egalitarismus z u . 2 9 0 d) Kritische Analyse Der Meinungsstreit zwischen der Abstimmungsmehrheit und den dissentierenden Richtern ging über die Einordnung des Wahlrechts hinaus. Douglas machte wie kaum ein anderer Richter vor ihm deutlich, daß die Verfassung zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich ausgelegt wird. Die Verfassung müsse an neue gesellschaftliche Vorstellungen angepaßt werden. Es ist darauf hinzuweisen, daß der Supreme Court die relevanten gesellschaftlichen Vorstellungen häufig mit Rücksicht auf die von einer Mehrheit der Bundesstaaten verabschiedeten Gesetze bestimmt. Wenn Gesetze, wie hier das Gesetz Virginias zur Wahlsteuer, nur noch in wenigen anderen Bundesstaaten gelten, werden sie oft als überholt eingestuft. 289 290

Ebd., S. 681 f. (Harlan, J., dissenting). Ebd., S. 683 ff. Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Black und Harlan hielten an ihren schon früher dargelegten Ansichten fest, daß eine „politische" Rolle des Supreme Court nicht mit der Verfassung vereinbar sei. Der Supreme Court dürfe die Verfassung nicht entsprechend der jeweils herrschenden Sozialmoral auslegen. Sie bezichtigten die Abstimmungsmehrheit, die Fehler aus Lochner v. New York zu wiederholen. Darüber hinaus gab es zwischen den Richtern Douglas und Harlan einen Dissens über die Frage, ob die Wahlsteuer „Tradition" im Sinne der Verfassung sei. Harlan bejahte dies und verwies auf die früher weit verbreite Praxis. Douglas hatte ein anderes Traditionsverständnis. Er wählte eine andere Abstraktionsstufe und stellte nicht auf die Wahlsteuer ab, sondern auf an Wohlstand anknüpfende Klassifizierungen allgemein. Letztere seien, wie rassische Klassifizierungen, traditionell unpopulär. Dieser Meinungsstreit läßt die Unbestimmtheit des Traditionsbegriffs zutage treten. Während Harlan auf die Dauer der Existenz einer Tradition abstellte, bestimmte Douglas die relevanten Traditionen mit Blick auf die gegenwärtig dominante Sozialmoral. 3. Kramer v. Union Free School District Beschränkung der Wahlberechtigung

-

Chief Justice Warren verfaßte die Urteilsbegründung für die Abstimmungsmehrheit in Kramer v. Union Free School District. 291 Es ging um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates New York, nach dem nur diejenigen Einwohner für die Wahlen zum Aufsichtsgremium der örtlichen Schulen (school board) berechtigt waren, die Eltern schulpflichtiger Kinder waren oder Grundeigentum hatten beziehungsweise mieteten. Warren begann mit einem Verweis auf Reynolds v. Sims, wo der Supreme Court auf die fundamentale Bedeutung des Wahlrechts hingewiesen hatte und die strenge Untersuchung jeglicher Einschränkungen des Wahlrechts angekündigt hatte. Warren argumentierte, daß nur solche Einschränkungen des Wahlrechts zulässig seien, die notwendig einem zwingenden Interesse des Staates dienten. Den Bundesstaaten könne nicht der sonst übliche Spielraum eingeräumt werden. Die grundsätzliche Vermutung, daß die Gesetze der Bundesstaaten verfassungsgemäß seien, finde keine Anwendung. Diese Vermutung fuße auf der Annahme, daß die Institutionen des Bundesstaates so strukturiert seien, daß sie im großen und ganzen alle Bürger repräsentierten. Die Bundesstaaten könnten festlegen, ob bestimmte Positionen durch Wahlen besetzt werden sollten. Wenn sie sich jedoch für die Besetzung eines Amtes durch Wahlen entschieden, müßten sie den Kreis der Wahlberechtigten im Einklang mit der 291

395 U.S. 621 (1969).

G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause

121

Equal Protection Clause bestimmen. 292 Im vorliegenden Fall behauptete der Bundesstaat, daß die Beschränkungen der Wahlberechtigung sicherstellten, daß nur diejenigen wahlberechtigt seien, die ein Interesse am Ausgang der Wahlen hätten: die Eltern, da ihnen am Wohlergehen ihrer Kinder gelegen sei und die Grundeigentümer beziehungsweise Mieter, die durch die Grundsteuern an der Finanzierung des Schulwesens beteiligt seien. Warren wies diesen Rechtfertigungsversuch zurück. Es seien sowohl interessierte Bürger ausgeschlossen als auch nicht interessierte Bürger wahlberechtigt. Die Klassifizierung sei nicht präzise genug, so daß eine Verletzung der Equal Protection Clause vorliege. 2 9 3 Warren erklärte das fundamentale Recht auf Wahlbeteiligung prozessual. Die Judikative habe dort einzuschreiten, wo die Voraussetzungen für die demokratische Ordnung nicht vorliegen. Dieser Begründungsansatz entspricht der „Carolene Products Fußnote", nach der die Judikative bei Fehlern im politischen Prozeß ihre Zurückhaltung aufgibt und zu strikteren Überprüfungsmaßstäben greift. Der Supreme Court hat bis heute an dem fundamentalen Recht auf gleiche Beteiligung an Wahlen festgehalten. 294 II. Weitere fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause Das Recht auf gleiche Beteiligung an Wahlen ist das praktisch bedeutendste und in seiner Entstehung umstrittenste fundamentale Recht unter der Equal Protection Clause. Der Warren-Court erkannte jedoch noch zwei weitere fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause an, auf die hier kurz einzugehen ist. 7. Das Recht auf Zugang zu den Gerichten - Griffin

v. Illinois

Richter Black schrieb die Urteilsbegründung für die Pluralität 2 9 5 in einem Fall, in dem die Praxis des Bundesstaates Illinois zu beurteilen war, dem Angeklagten das stenographische Protokoll der Verhandlung von Kriminal292

Ebd., S. 625 ff. Ebd., S. 630, 632. 294 Vgl. Barron u.a. (Fn. 81), S. 768-783 und Stone u.a. (Fn. 48), S. 820-859 m.w.N. 295 Die fünfte Stimme kam von Richter Frankfurter. Er führte in seiner zustimmenden Meinung aus, daß das Konzept des Due Process das am wenigsten starre Konzept der Verfassung sei. Es sei nicht auf traditionelle Anschauungen beschränkt und absorbiere die sozialen Standards der progressiven Gesellschaft. Griffin v. Illinois, 351 U.S. 12, 20f. (1956) (Frankfurter, F., concurring). 293

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

fällen nur gegen Bezahlung einer Gebühr zu überlassen. Der Kläger, der nicht über die Mittel verfügte, um diese Gebühr zu entrichten, behauptete, daß das stenographische Protokoll für sein Obsiegen in der Berufungsverhandlung nötig gewesen wäre. 2 9 6 Black begann seine Ausführungen mit dem Verweis auf die Magna Charta, die jahrhundertealte Tradition, Gerechtigkeit unabhängig vom Ansehen der Person zu gewähren. Das Recht auf richterliches Gehör sei dann bedeutungslos, wenn es vom Einkommen des Angeklagten abhänge. Der Staat dürfe im Strafprozeß weder nach Religion und Hautfarbe noch nach dem Einkommen des Angeklagten differenzieren. Die Fähigkeit, die Kosten des Verfahrens zu bestreiten, stehe in keiner rationalen Beziehung zu Schuld oder Unschuld des Angeklagten. 297 Viele andere Bundesstaaten würden die Kosten des Angeklagten für das Berufungsverfahren übernehmen, wenn der Angeklagte mittellos sei. Es gebe dort keine Gerechtigkeit für alle, wo die Art des Verfahrens vom Wohlstand des Angeklagten abhänge. Daher sei der Bundesstaat Illinois verpflichtet, dem Angeklagten das Protokoll des Strafprozesses kostenfrei zur Verfügung zu stellen. 298 Richter Harlan wandte sich in seinem Dissent gegen die Annahme, daß der Gedanke des Due Process verletzt sei, wenn mittellosen Angeklagten das Verhandlungsprotokoll nur gegen eine Gebühr zur Verfügung gestellt werde. Zwar sei eine solche Praxis nicht politisch wünschenswert. Bei der Interpretation der Due Process Clause, so Harlan unter Berufung auf Cardozos Formulierung in Palko v. Connecticut, komme es darauf an, ob das zu untersuchende Recht notwendig ein Teil der freiheitlichen Ordnung sei, ob seine Vorenthaltung das Gerechtigkeitsempfinden verletze. Traditionell seien mittellosen Angeklagten die Kosten für ihre Gerichtsverfahren nicht ersetzt worden. Es handele sich hierbei um eine jüngere Entwicklung. Bis heute hätte sich ein Drittel der Bundesstaaten dieser Praxis nicht angeschlossen. Folglich sei Illinois' Praxis verfassungsgemäß. 299 Die Richter des Supreme Court konnten sich nicht darauf einigen, ob der Zugang zu den Gerichten von der Due Process Clause oder der Equal Protection Clause garantiert wird. Wie Chief Justice Warren in Bölling v. Sharpe feststellte, überschneiden sich beide Konzepte. Der Supreme Court ist in späteren Entscheidungen jedoch der Pluralität in Griffin v. Illinois gefolgt, so daß heute das fundamentale Recht auf gleichen Zugang zu den Gerichten aus der Equal Protection Clause abgeleitet w i r d . 3 0 0 Griffin v. Illinois verdient vor allem wegen des starken Bezuges auf den Gerechtigkeits296 297 298 299

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 12, 13 ff. (1956) (plurality opinion). S. 16ff. Hervorhebung durch H. Sch. S. 19 f. S. 38 f. (Harlan, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch.

G. Fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause

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gedanken Aufmerksamkeit. Richter Black, der sich in anderen Entscheidungen gegen eine „politische" Interpretation der Verfassung gewendet hatte, griff auf Gerechtigkeitstraditionen sowie die Magna Charta zurück, um das fundamentale Recht auf gleichen Zugang zu den Gerichten zu begründen. Harlan beobachtete zutreffend, daß der Supreme Court verfassungsrechtliches Neuland betrat. Das Ergebnis in Griffin v. Illinois konnte weder mit den traditionellen Auffassungen über Due Process oder das Gleichheitsprinzip gerechtfertigt werden noch auf Präjudizien des Supreme Court gestützt werden. Der Supreme Court schuf ein neues fundamentales Recht. Dabei konnte sich der Supreme Court nur auf die Sozialmoral stützen, die sich in der Abschaffung der Protokollgebühren durch die meisten Bundesstaaten manifestiert hatte.

2. Das Recht auf Freizügigkeit

- Shapiro ν. Thompson

Richter Brennan verfaßte die Urteilsbegründung dieser Entscheidung, in der der Supreme Court über die Verfassungsmäßigkeit der Sozialhilfegesetze Pennsylvanias, Connecticuts und des Districts of Columbia befand. Diese Gesetze bestimmten, daß nur derjenige Unterstützung bekommen konnte, der mindestens ein Jahr in dem jeweiligen Bundesstaat gelebt hatte. Diese Regelung, so Brennan, schaffe zwei Klassen Bedürftiger, die sich nur hinsichtlich der Aufenthaltsdauer in dem jeweiligen Bundesstaat unterschieden. Zweck der Gesetze war es, den Zustrom bedürftiger Bürger zu verringern und somit die Einwohner der jeweiligen Bundesstaaten vor finanziellen Belastungen zu schützen. Brennan räumte ein, daß die Gesetze zu diesem Zweck geeignet seien. Jedoch folge aus der Natur des Zusammenschlusses der Bundesstaaten und dem Verfassungskonzept der Freiheit, daß alle Bürger in der Lage sein müßten, sich frei und ungehindert in den Vereinigten Staaten zu bewegen. Dieses Recht dürfe nicht durch Gesetze auf unvernünftige Weise eingeschränkt werden. Obwohl das Recht nirgendwo in der Verfassung ausdrücklich erwähnt werde, sei es schon lange anerkannt worden. Bereits der Zweck der Gesetze, den Zustrom von Bedürftigen abzuwenden, sei verfassungswidrig. Auf Gesetze, die die Freizügigkeit innerhalb der Vereinigten Staaten einschränkten, sei nicht der „Rational Basis Test" anwendbar. Vielmehr müsse der Staat nachweisen, daß das Gesetz notwendig sei, um ein zwingendes Interesse zu fördern („Strict Scrutiny Test"). Die einjährige Wartezeit für aus anderen Bundesstaaten Zugewanderte könne unter diesem 300

Vgl. Douglas v. California, 372 U.S. 353 (1963), wo sich eine Mehrheit des Supreme Court für ein fundamentales Recht auf gleichen Zugang zu Gerichten unter der Equal Protection Clause entschied. Der Supreme Court hat diese Rechtsprechung ausgedehnt. Für weitere Nachweise vgl. Barron u.a. (Fn. 81), S. 784ff.

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Maßstab nicht gerechtfertigt werden. Die Gesetze seien daher verfassungswidrig. 3 0 1 Richter Harlan griff in seinem Dissent die Ausweitung des „Strict Scrutiny Test" auf fundamentale Rechte an. Da jedes Gesetz wichtige Rechte berühre, laufe der Supreme Court Gefahr, zu einer Super-Legislative zu werden. Die Entscheidung des Gerichts reflektiere die gegenwärtig populäre Vorstellung, daß der Supreme Court jedes nationale Problem durch die Schaffung neuer Verfassungsprinzipien lösen könne. 302 Wiederum trifft die Analyse Harlans zu. Der Supreme Court weitete die Equal Protection Clause durch die Schaffung eines neuen fundamentalen Rechts aus. Er konnte nicht auf traditionelle Auslegungsmethoden zurückgreifen, sondern mußte sich auf die Natur des Zusammenschlusses der Bundesstaaten berufen, ein Konzept, das nicht ohne Einfluß der Sozialmoral ausgefüllt werden kann.

H. Die Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960 I. Das Recht auf den Gebrauch von Mitteln zur Schwangerschaftsverhütung 1. Der Poe v. Ullman-Dissent a) Der Dissent des Richters Harlan Der Dissent des Richters Harlan in Poe v. Ullman nahm nicht nur eine spätere Entscheidung des Supreme Court, Griswold v. Connecticut, vorweg. Er gibt auch über häufig vom Supreme Court benutzte Methoden Auskunft. Poe v. Ullman 303 behandelte die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Connecticut, das den Gebrauch von Verhütungsmitteln untersagte. Die Abstimmungsmehrheit verneinte die Klagebefugnis und kam somit nicht zur Diskussion der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Due Process Clause des 14. Amendments. 304 Der Verbot Clause Clause

die Klagebefugnis bejahende Richter Harlan diskutierte, ob das des Gebrauchs von Verhütungsmitteln gegen die Due Process verstieß. Harlan begann seine Ausführungen über die Due Process mit dem Hinweis, daß aus der Entstehungsgeschichte wenig über

301 Shapiro ν. Thompson, 394 U.S. 618, 622ff., 628ff., 634, 638, 641 (1969). Hervorhebung durch H. Sch. 302 Ebd., S. 655, 660, 677 (Harlan, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. 303 367 U.S. 497 (1961). 304 Ebd., S. 498 ff.

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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die Bedeutung der Vorschrift geschlossen werden könne. Die Due Process Clause habe ihre Wurzeln in der Magna Charta. Sie sei ein Bollwerk gegen willkürliche Gesetzgebung. Ihr Inhalt sei nicht auf die Bill of Rights beschränkt. Due Process könne nicht auf eine Formel reduziert werden. Es gehe vielmehr um die Grenze, die die Nation zwischen der Freiheit des einzelnen und den Bedürfnissen der Gesellschaft ziehe. Es sei die Aufgabe der Richter, dieses Konzept mit Inhalt zu füllen. Dieser Prozeß müsse jedoch rational gestaltet werden. Richter dürften nicht unbegrenzt über den Inhalt der Due Process Clause spekulieren. Das Gleichgewicht zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft hänge von den Traditionen der Nation ab, sowohl von den Traditionen, die bis heute aufrecht erhalten worden seien, als auch von den Traditionen, mit denen gebrochen worden sei. Traditionen seien lebendig, eine von ihnen abweichende Entscheidung könne nicht lange überleben. Eine Entscheidung, die auf einer Tradition außaue, sei in der Regel richtig. Auf dem Gebiet des Due Process könne keine Formel als Ersatz für die Wertungen, aber auch die notwendige Zurückhaltung der Richter dienen. Jede neue Verfassungsfrage müsse vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Verfassungszwecke entschieden werden. Es gebe keinen mechanischen Maßstab, keine mechanische Antwort. 305 Harlan setzte sich mit den Hintergründen des Gesetzes Connecticuts auseinander. Das Gesetz spiegele den Versuch der Gesellschaft wider, moralisch auf den einzelnen einzuwirken. Dies sei nicht unzulässig. Die Gesellschaft sei traditionell bestrebt gewesen, auf die Sittlichkeit des einzelnen Einfluß zu nehmen. Beispiele hierfür seien die Gesetze über die Ehe, die Verbote von Unzucht, Ehebruch und homosexuellen Handlungen. Die Gesetze, die Sexualität auf den Bereich der Ehe beschränkten, seien so fest mit dem sozialen Leben verwoben, daß sie Basis für alle Verfassungsprinzipien auf diesem Gebiet sein müßten. Die Wertung Connecticuts, daß der Gebrauch von Verhütungsmitteln unmoralisch sei, sei nicht mehr oder weniger korrekt als eine ganze Reihe von anderen Wertungen, die Eingang in das Recht gefunden hätten. Harlan verwies auf die staatlichen Wertungen über Zulässigkeit und Ausgestaltung von Eheschließung, Scheidung, Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch und Selbstmord. Im vorliegenden Fall dringe der Staat jedoch in die intimsten Details des ehelichen Lebens ein. Er greife in den fundamentalsten Aspekt der Freiheit ein, die Privatsphäre im eigenen Haus. Es gebe kaum einen privateren Bereich als die Beziehungen zwischen den Ehegatten. Diese Vorgehensweise könne nur dann vor der Verfassung bestehen, wenn sie einer strikten richterlichen Kontrolle („Strict Scrutiny Test") standhalte. 305

Ebd., S. 522, 540ff. (Harlan, J., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Harlan unterschied zwischen den genannten Beziehungen und von ihm als verboten betrachteten homosexuellen oder unzüchtigen Beziehungen. Grund für die Differenzierung sei, daß letztere traditionell als unmoralisches Vergehen angesehen worden seien. Es sei jedoch verfassungswidrig, so intime Details der ehelichen Beziehung wie den Gebrauch von Verhütungsmitteln zu regulieren. 306 b) Kritische Analyse Harlan bejahte in seinem Dissent die Wertausfüllungsbedürftigkeit der Verfassung. Als wichtige Rechtserkenntnisquelle führte Harlan die Traditionen der Gesellschaft an. Traditionen seien nicht unveränderlich, sie würden von der Gesellschaft zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich definiert. Harlan spricht sich also für eine „lebendige Verfassung" aus. Sie sei zwar auf Traditionen gestützt. Der Inhalt der Traditionen werde jedoch mit Rücksicht auf gesellschaftliche Wertvorstellungen definiert. Dies kommt der Anerkennung der Sozialmoral als Rechtserkenntnisquelle gleich. Ein zweiter Punkt in Harlans Dissent verdient es, hervorgehoben zu werden. Harlan erkannte, daß spätere Gerichte nur solchen Entscheidungen folgen, die den von der Gesellschaft als richtig angesehenen Wertvorstellungen entsprechen. Mit anderen Worten, die Langlebigkeit einer Entscheidung hängt von dem Maß ihrer Übereinstimmung mit den gesellschaftlich dominanten Werten ab. Auf dieser Grundlage konnte Harlan auch andere moralische Fragen vom Komplex der Schwangerschaftsverhütung abgrenzen. So verneinte Harlan eine Tradition der Anerkennung homosexueller Beziehungen. Diese seien daher weniger schützenswert als traditionell als moralisch angesehene sexuelle Verhaltensweisen. Harlans Dissent scheint nicht leicht mit seinen früheren Dissenten zur Anerkennung fundamentaler Rechte unter der Equal Protection Clause vereinbar. Dort hatte er sich dagegen gewandt, daß der Supreme Court neue fundamentale Rechte anerkannte. Seine Kritik bezog sich jedoch immer darauf, daß der Supreme Court den gegenwärtig dominanten Meinungen nachgab und lange etablierte Praktiken wie etwa die Wahlsteuer oder die Gebühr für Verhandlungsprotokolle abschaffte. 307 Im Gegensatz hierzu glaubte Harlan bei der ehelichen Privatsphäre eine schutzwürdige Tradition ausmachen zu können. Harlan versuchte somit Verfassungsrechtsprechung zu objektivieren, indem er die entscheidungsrelevanten Traditionen mit 306

Ebd., S. 545 ff, 548, 552 f. Vgl. die oben wiedergegebenen Dissente Harlans in Reynolds v. Sims, S. 115, Harper ν. Virginia State Board of Elections, S. 119 und Griffin ν. Illinois, S. 122. 307

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1 9 6 0 1 2 7 Rücksicht auf die Dauer der gesellschaftlichen Anerkennung einer bestimmten Praktik bestimmte und nicht auf ihre gegenwärtige Popularität abstellte. Ob Harlan auf diesem Weg das von ihm angestrebte Maß an rationaler Beschränkung der richterlichen Tätigkeit erreichen kann, bleibt fraglich. Die Frage, was eine gesellschaftlich akzeptierte Tradition konstituiert, kann kaum rationaler beantwortet werden als die Frage, welche Verhaltensweise moralisch richtig ist.

2. Griswold v. Connecticut a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit In dieser Entscheidung sollte es zu einer Mehrheitsmeinung über die Zulässigkeit des Verbots von Verhütungsmitteln kommen. Richter Douglas, der für die Abstimmungsmehrheit schrieb, lehnte es zu Beginn seiner knapp gehaltenen Urteilsbegründung ab, Lochner v. New York als relevantes Präjudiz anzusehen. Der Supreme Court sei keine Super-Legislative, die über Weisheit und Richtigkeit von wirtschaftslenkenden Gesetzen urteile. Douglas berief sich jedoch auf Meyer v. Nebraska und Pierce ν. Society of Sisters. In beiden Fällen sei das geschützte Recht, Ausbildung an einer nicht-staatlichen Schule beziehungsweise Unterricht in einer Fremdsprache, nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt gewesen. Douglas verwies auch auf eine Entscheidung des Supreme Court, in der die Offenlegung der Mitgliederlisten einer Vereinigung, der N A A C P 3 0 8 , mit der Begründung verweigert worden war, daß die Geheimhaltung der Mitgliederlisten ein zu der vom 1. Amendment garantierten Versammlungsfreiheit peripheres Recht sei. 3 0 9 Douglas leitete aus diesem Präjudiz ab, daß das 1. Amendment eine Penumbra, eine Randzone, habe, in der die Privatsphäre eines jeden vor staatlichem Eindringen geschützt sei. 3 1 0 Auch andere Vorschriften der Bill of Rights, etwa das dritte, vierte und fünfte Amendment, seien mit einer solchen die Privatsphäre schützenden Randzone ausgestattet. Im vorliegenden Fall sei das Randzonenrecht auf Privatsphäre einschlägig, das sich aus verschiedenen Verfassungsgarantien ergebe. Das Gesetz Connecticuts sei unnötig weit gefaßt und dringe in die geschützte Privatsphäre von Eheleuten ein. Die Vorstellung, daß die Polizei die Schlafzimmer von Eheleuten nach Verhütungsmitteln durchsuche, verstoße gegen die Vorstellungen von 308

Die NAACP, die National Association for the Advancement of Colored People, ist eine der wichtigsten amerikanischen Organisationen mit dem Ziel der Gleichstellung Schwarzer. Die Offenlegung der Mitgliederlisten hätte zu einer gesellschaftlichen Ächtung vieler Mitglieder der NAACP in den Südstaaten geführt. 309 NAACP v. Alabama, 357 U.S. 449, 462 (1958). 310 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 482f. (1965).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Zurückgezogenheit, die mit der Ehe verbunden seien. Das Gesetz Connecticuts sei daher nicht mit der Verfassung vereinbar. 311

b) Die zustimmenden Meinungen der Richter Harlan und Goldberg Richter Goldberg argumentierte in seiner zustimmenden Meinung, daß das Recht auf Privatsphäre aus dem 9. Amendment folge. Diese Vorschrift schütze Rechte, die, wie das Recht auf Privatsphäre, tief in der Gesellschaft verwurzelt seien. Aus dem 9. Amendment folge, daß die in den ersten acht Amendments enumerierten Rechte nicht abschließend seien. 312 Goldberg ging wie Douglas davon aus, daß die Verfassung ein fundamentales Recht auf Privatsphäre enthalte, betonte aber im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung das 9. Amendment als textlichen Anknüpfungspunkt für dieses Recht. Richter Harlan leitete in seiner zustimmenden Meinung das Recht auf Privatsphäre aus der Due Process Clause des 14. Amendments ab. Er verwies auf die Urteilsbegründung Cardozos in Palko v. Connecticut, nach der die von der Freiheitsordnung vorausgesetzten Grundwerte durch das 14. Amendment geschützt werden. Im Gegensatz zu den dissentierenden 311

Ebd., S. 484ff. Hervorhebung durch H. Sch. Die Entscheidung in Griswold v. Connecticut wurde später auch auf den Gebrauch von Kontrazeptiva durch Nichtverheiratete ausgedehnt. Es gebe keinen rationalen Grund, so Richter Brennan in Eisenstadt v. Baird, das Recht des einzelnen auf Zugang zu Verhütungsmitteln von seinem ehelichen Status abhängig zu machen. 405 U.S. 438, 453 (1972). Dieses Ergebnis wurde von Brennan nicht unter Zuhilfenahme des „Strict Scrutiny Test" unter der Due Process Clause erreicht, sondern durch Anwendung des „Rational Basis Test" der Equal Protection Clause. Vgl. ebd., S. 447, Fn. 6. Zur späteren Ausgestaltung der Griswold v. Connecticut-Doktrin vgl. die bei Barron u.a. (Fn. 81), S. 415 ff. dargestellten Entscheidungen. 312 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 487ff., 491 (1965) (Goldberg, Α., concurring). Das 9. Amendment legt fest, daß aus der Enumerierung der Rechte in der Verfassung nicht geschlossen werden dürfe, daß andere Rechte, die beim Volk verbleiben, ausgeschlossen seien („The enumeration in the Constitution of certain rights shall not be construed to deny or disparage others retained by the people."). Richter Goldberg blieb jedoch mit seiner Interpretation allein. Das 9. Amendment wird in ständiger Rechtsprechung so interpretiert, daß es der Judikative keine zusätzliche Kompetenz einräumt, individuelle Rechte anzuerkennen. Der Hinweis auf die „dem Volk verbliebenen Rechte" wird vor dem Hintergrund des Föderalismusverständnisses der Verfasser der Bill of Rights interpretiert. Die Bundesregierung sollte auf die ihr ausdrücklich zugebilligten Kompetenzen beschränkt werden. Alle anderen Rechte sollten bei den Bundesstaaten (vgl. hierzu das 10. Amendment) oder aber dem Volk verbleiben. Vgl. hierzu auch den Dissent des Richters Black, ebd., S. 519 f. (Black, H., dissenting) sowie T. Giegerich, Privatwirkung der Grundrechte in den USA, 1992, S. 84ff. m.w.N. Dem 9. Amendment werden also keine zusätzlichen Rechte, auch nicht das Recht auf Privatsphäre, entnommen. So aber W. Heun, Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers, AöR 116 (1991), 185, 191.

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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Richtern war Harlan nicht der Meinung, daß eine solche Interpretation den Richtern Gelegenheit gebe, ihre eigenen Vorstellungen in die Verfassung zu interpretieren. Vielmehr könne die Anerkennung der Grundwerte der Gesellschaft, Respekt vor der Geschichte und verfassungsrechtlichen Prinzipien wie Föderalismus und Gewaltenteilung zwar nicht alle Differenzen zwischen Verfassungsrichtern beseitigen, aber das „Umherstreifen in verfassungsrechtlichen Gefilden " begrenzen, 313 c) Die Dissente der Richter Black und Stewart Blacks Dissent in Griswold v. Connecticut ist von institutionellen Bedenken geprägt. Black sprach dem Supreme Court die Kompetenz ab, die Verfassung anhand eigener Vorstellungen von Vernünftigkeit und zivilisierten Verhaltensformen auszulegen. Diese Einschätzung stehe der Legislative zu. Die Judikative könne Recht interpretieren, es aber nicht schaffen. Insbesondere wandte sich Black gegen die Auslegung der Due Process Clause als Verkörperung der dominanten Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese Argumentationsweise, die wahlweise an „ Vorstellungen, die tief in der Gemeinschaft verwurzelt seien" oder „den Sinn der Gemeinschaft für Fairneß und Gerechtigkeit" appelliere, reflektiere eine Naturrechtstheorie der Due Process Clause. Richter entschieden ohne Basis in der Verfassung und überschritten die ihnen verliehene Kompetenz. Black verurteilte insbesondere die „Naturrechts-Due-Process-Philosophie" des Richters McReynolds in Meyer v. Nebraska und Pierce ν. Society of Sisters, die auch in Lochner v. New York zum Tragen gekommen und von der Mehrheitsmeinung wiederbelebt worden sei. Diese Philosophie sei in mehreren Entscheidungen aufgegeben worden. 3 1 4 Black zitierte den Dissent von Oliver Wendeil Holmes aus Baldwin ν. Missouri. Holmes hatte sich dagegen gewandt, daß das 14. Amendment so interpretiert wird, daß es den Richtern des Supreme Court eine unbeschränkte Vollmacht gibt, ihre ökonomischen und moralischen Vorstellungen in die Verfassung zu schreiben. 315 Der Supreme Court könne nicht dafür sorgen, daß die Verfassung im Einklang mit der Zeit interpretiert werde. Die Verfassung könne nur durch ein festgelegtes Verfahren geändert werden. Daher könne man nicht auf das 9. Amendment, die Due Process Clause oder ein unbestimmtes und mysteriöses Naturrechtskonzept vertrauen, um dem Bedürfnis nach Wandel gerecht zu werden. Lochner v. New York habe gezeigt, wie die Stabilität der Nation bedroht werden könne, wenn der Supreme Court seine eigenen naturrechtlichen Vorstellungen durchsetze. Die gleiche Gefahr gehe von dem Gericht aus, 313 314 315 9 Schiwek

Ebd., S. 500ff. (Harlan, J., concurring). Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 51 Iff. (Black, H., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. Baldwin ν. Missouri, 281 U.S. 586, 595 (1930) (Holmes, O. W., dissenting).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

das dieselbe Methode auf dem Gebiet der Individualrechte anwende. Die Mehrheitsmeinung und die zustimmenden Meinungen ließen die gefährliche und völlig in Verruf geratene Lochner-Judikatur Wiederaufleben. 316 Ähnlich argumentierte Richter Stewart in seinem Dissent, den er mit der Bemerkung begann, daß er das Gesetz Connecticuts für ungewöhnlich unklug halte. Dies sei jedoch kein Grund, das Gesetz für verfassungswidrig zu halten. Es sei nicht Funktion des Gerichts, Fälle aufgrund der vorherrschenden Vorstellungen der Gemeinschaft zu entscheiden. Das Verfassungsgericht selbst müsse sich an die Verfassung halten. Die persönlichen Anschauungen der Richter über die Vernünftigkeit des Gesetzes dürften nicht die Verfassung substituieren. 317

d) Anmerkung Hinsichtlich der Frage, ob die Einbeziehung der Sozialmoral in die Verfassungsauslegung zulässig ist, unterscheiden sich die Mehrheitsmeinung und die zustimmenden Meinungen nicht. Sie gehen übereinstimmend davon aus, daß die im Volk verwurzelten Gerechtigkeitsvorstellungen Teil der Verfassung sind. Es gibt lediglich Differenzen hinsichtlich des textlichen Anknüpfungspunkts, der Frage, ob das Recht zur Schwangerschaftsverhütung in einer Penumbra, dem 9. Amendment oder der Due Process Clause des 14. Amendments verankert ist. Die Frage, ob das Recht auf Schwangerschaftsverhütung vom Recht auf Privatsphäre umfaßt ist, beantwortete Douglas unter Berufung auf die „Vorstellungen von der Zurückgezogenheit der Ehe". Douglas gab keine verifizierbaren Quellen für die Methoden an, mit denen er diese Vorstellungen ermittelt hat. Diese Formulierung kann jedoch als Synonym für die Interpretation der Sozialmoral durch die Richter des Supreme Court verstanden werden. Douglas gab vor, nicht in die Fußstapfen von Lochner v. New York zu treten. Jedoch gibt es keinen methodischen Unterschied zwischen der DueProcess-Rechtsprechung des Supreme Court in Lochner v. New York und den von Douglas zustimmend zitierten Entscheidungen, Pierce ν. Society of Sisters und Meyer ν. Nebraska. Die Auslegung der Due Process Clause in diesen Entscheidungen wurde wie in Lochner v. New York von moralischen Erwägungen bestimmt. Die Richter Black und Stewart haben insofern recht, als sich die Richter, die dem Recht auf Privatsphäre zustimmten, von vorpositiven, von „Naturrechts-Erwägungen", leiten ließen. Griswold v. Connecticut ist ein Beispiel für eine Entscheidung, in der die Sozialmoral und 316

Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 521 ff. (1965) (Black, H., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. 317 Ebd., S. 527, 530f. (Stewart, P., dissenting).

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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die dem aufgehobenen Gesetz zugrundeliegende Moral divergieren. Der Supreme Court entschied sich für die Durchsetzung der gegenwärtigen Sozialmoral. 318 Diese richterlichen Wertungen sollten später zum Angriffspunkt des Originalismus werden. 319 Hinzuweisen ist auch auf die für das common law typische Methode, mit der Douglas das Recht auf Privatsphäre konstruierte. Er faßte eine Anzahl von Präjudizien zusammen und leitete aus ihnen das verbindende Prinzip des Schutzes der Privatsphäre ab. Die Präjudizien wurden dabei so behandelt, als ob sie selbst Teil der Verfassung wären. Richter Harlan wies noch deutlicher als in seinem Poe v. Ullman- Dissent darauf hin, daß Richter bei der Auslegung der Due Process Clause lediglich von den Grundwerten der Gesellschaft beschränkt werden können. Seine Ansicht, nach der das Recht auf Privatsphäre in der Substantive Due Process Clause enthalten ist, erscheint eher mit den Präjudizien des Supreme Court, insbesondere Cardozos Freiheitsdefinition in Palko v. Connecticut, übereinzustimmen als Douglas' Penumbra-Modell. Blacks Analyse trifft zu. Richter lesen in gewissem Maße ihre Vorstellungen über Gerechtigkeit in die Verfassung hinein, sind damit legislativ tätig. Seine Alternative erscheint jedoch nicht gangbar. Auch die Beschränkung der Due Process Clause auf die Bill of Rights schließt Wertungen nicht aus. Richter sind von Traditionen, Präjudizien und Grundwerten der Gesellschaft abhängig. Diese legen sie jedoch nicht vollständig fest. Sie sind, so eine Formulierung von Oliver Wendeil Holmes, „in den Zwischenräumen legislativ tätig." 3 2 0 II. Die Rechtsprechung des Supreme Court zum Schwangerschaftsabbruch 1. Roe v. Wade Roe ν. Wade 321 war die nach Brown v. Board of Education umstrittenste Entscheidung des Supreme Court in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Die Entscheidung hat eine Vielzahl von Reaktionen auf politischer und wissenschaftlicher Ebene hervorgerufen. Zu entscheiden war über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Texas, das Schwangerschaftsabbrüche nur dann straffrei ließ, wenn das Leben der Mutter bedroht 3,8

Vgl. H H Wellington, Interpreting the Constitution, 1991, S. 90ff. Vgl. R. H. Bork, Neutral Principles and Some First Amendment Problems, 47 Ind. L. J. 1, 8 ff. (1971). 320 Southern Pacific Co. v. Jensen, 244 U.S. 205, 221 (1917) (Holmes, O. W., dissenting). Vgl. dazu ausführlich unten S. 196ff. 321 410 U.S. 113 (1973). 319

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war. Wegen der außerordentlichen Bedeutung des Falles verdient die von Richter Blackmun autorisierte Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit besondere Beachtung. a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit Blackmun betonte zu Beginn die emotionale Natur der Auseinandersetzung über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Er gestand ein, daß die politischen und religiösen Ansichten, die Erfahrungen und Wertvorstellungen eines jeden die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs beeinflußten. Er zitierte zustimmend aus dem Lochner- Dissent von Oliver Wendeil Holmes, daß die Verfassung für Menschen mit fundamental verschiedenen Ansichten geschaffen worden sei und die Zufälligkeit der Ablehnung bestimmter Ansichten durch Richter des Supreme Court nicht dazu führen dürfe, daß ein Gesetz für verfassungswidrig gehalten werde. 3 2 2 Blackmun zählte eine Reihe von Ursachen auf, die zu den den Schwangerschaftsabbruch kriminalisierenden Gesetzen geführt hatten. Er nannte im einzelnen historische Gründe, den Hippokratischen Eid, das common law sowie englische Gesetze, denen im 19. Jahrhundert die ersten Abtreibungsverbote amerikanischer Bundesstaaten gefolgt waren. Des weiteren zitierte Blackmun ausführlich aus Stellungnahmen der American Medical Association und der American Bar Association, die sich für die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs im ersten Trimester ausgesprochen hatten. 323 Blackmun nannte drei mögliche Zwecke des Verbots des Schwangerschaftsabbruchs. Ein früher oft genannter Zweck sei die Unterbindung unzulässiger außerehelicher sexueller Aktivität. Dieser Zweck sei jedoch nicht von Texas vorgebracht worden. Er sei ohnehin unzulässig. Ein weiterer Grund für das Verbot seien die Gefahren des medizinischen Verfahrens. Die Sterberate bei Schwangerschaftsabbrüchen sei früher hoch gewesen. Dies habe sich durch neue medizinische Techniken geändert. Die Sterberate bei legalen Schwangerschaftsabbrüchen liege unter der bei normalen Geburten. Bei den durch das Verbot bedingten illegalen Schwangerschaftsabbrüchen gebe es dagegen eine bedeutend höhere Sterberate, so daß dieser Faktor gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen spreche. Schließlich werde das Interesse des Staates am Schutz des vorgeburtlichen Lebens vorgebracht. A lie beteiligten Interessen seien gegeneinander abzuwägen? 24 Erst nach dieser ausführlichen Einleitung kam Blackmun zu der Frage, ob das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert sei. 322 323 324

Ebd., S. 113, 116f. Ebd., S. 130ff., 140ff. Ebd., S. 148 ff. Hervorhebung durch H. Sch.

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1 9 6 0 1 3 3 Die Verfassung verweise nicht explizit auf das Recht auf Privatsphäre. Jedoch habe der Supreme Court anerkannt, daß ein Recht auf Privatsphäre beziehungsweise eine Garantie der Privatsphäre in bestimmten Zonen existiere. Blackmun zitierte den „Penumbra-Ansatz" aus Griswold v. Connecticut, die Formulierung des „Konzepts der geordneten Freiheit" aus Falko v. Connecticut und weitere Substantive-Due-Process-Präjudizien wie Loving ν. Virginia, Skinner v. Oklahoma, Pierce v. Society of Sisters und Meyer v. Nebraska. Blackmun kam zu dem Schluß, daß das im 14. Amendment verkörperte Konzept der persönlichen Freiheit weit genug sei, um das Recht der Frau zu umfassen, eine Schwangerschaft zu beenden. Er verwies auf den Schaden, den der Staat Frauen durch das völlige Verbot des Schwangerschaftsabbruchs zufügen würde. So könne eine ungewollte Schwangerschaft zu einem bedrückenden Leben führen. Psychologische Schäden seien wahrscheinlich. Die mentale und körperliche Gesundheit könne durch die Kinderbetreuung angegriffen werden. Jedoch sei das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch nicht absolut. Der Staat habe ein legitimes Interesse am Schutz der Gesundheit der Frau, an der Aufrechterhaltung der medizinischen Standards sowie am Schutz des zukünftigen Lebens. An einem bestimmten Punkt der Schwangerschaft seien diese Interessen so zwingend, daß die Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs zulässig werde. 3 2 5 Wenn ein fundamentales Recht betroffen sei, könne ein Eingriff nur durch ein zwingendes Interesse (compelling interest) des Staates gerechtfertigt werden. Der Bundesstaat Texas hatte argumentiert, daß der Fötus eine Person sei und daher ein zwingendes Interesse vorliege. Die Verfassung verwende, so Blackmun, den Begriff der Person in verschiedenen Bestimmungen, etwa in den Wahlrecht, Einwanderung oder die Qualifikationen der Abgeordneten regulierenden Vorschriften, ohne ihn näher zu definieren. Diese Vorschriften seien jedoch auf das postnatale Leben bezogen. Zudem sei der Schwangerschaftsabbruch im 19. Jahrhundert weniger streng reguliert worden als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Folglich umfasse das Wort „Person" im 14. Amendment nicht den Fötus. 3 2 6 Jedoch hätten schwangere Frauen kein absolutes Recht auf Privatsphäre. Hierin liege der Unterschied zu anderen Anwendungsfällen des Rechts auf Privatsphäre. Es sei vernünftig, daß das Interesse des Staates am zukünftigen Leben an einem bestimmten Punkt der Schwangerschaft ins Spiel komme. Die schwierige Frage, wann schutzwürdiges Leben beginne, müsse nicht entschieden werden. Es sei weder Ärzten noch Theologen oder Philosophen gelungen, über diesen Punkt Einigkeit zu erzielen. Es könne daher nicht Aufgabe der Judikative sein, Spekulationen zu dieser Frage anzustel325 326

Ebd., S. 152ff. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 155 ff.

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len. Der Supreme Court könne sich nicht eine bestimmte Theorie des Lebensbeginns aneignen. Das Interesse des Staates an der Gesundheit der Mutter sei jedoch zum Ende des ersten Trimesters der Schwangerschaft legitim. Vorher liege die Sterblichkeitsrate bei Schwangerschaftsabbrüchen unter der bei Geburten. Vor diesem Punkt stehe es der Schwangeren frei, zusammen mit ihrem Arzt über die Beendigung der Schwangerschaft zu entscheiden. Hinsichtlich des Interesses des Staates am zukünftigen Leben sei die Lebensfähigkeit entscheidend. Grund hierfür sei die Fähigkeit zu einem sinnvollen Leben außerhalb des Mutterleibes. Der Staat könne Schwangerschaftsabbrüche nach diesem Punkt einschränken und sogar verbieten, wenn nicht das Leben der Schwangeren auf dem Spiel stehe. Das Gesetz des Bundesstaates Texas sei mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar und verstoße daher gegen die Verfassung. 327 b) Der Dissent des Richters Rehnquist Richter Rehnquist warf der Abstimmungsmehrheit in seinem Dissent vor, trotz gegenteiliger Beteuerungen gegen die in Holmes ' Lochner- Dissent dargelegten Prinzipien zu verstoßen. Die Entscheidung der Abstimmungsmehrheit stehe im Ergebnis der von Richter Peckham verfaßten Begründung in Lochner v. New York näher. Wie in Lochner und ähnlichen Fällen sei der Supreme Court unter der „compelling interest"-Analyse gezwungen, legislative Entscheidungen auf ihre Weisheit zu überprüfen. Das Ergebnis der Mehrheitsmeinung sei auch nicht mit der vom Supreme Court verwendeten Definition des Substantive Due Process vereinbar. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch sei nicht so in den Traditionen der Vereinigten Staaten verwurzelt, daß es als fundamental eingeordnet werden könne. Der Schwangerschaftsabbruch sei von der Verabschiedung des 14. Amendments bis zur Gegenwart in der Mehrzahl der Bundesstaaten untersagt oder eingeschränkt gewesen. Aus dem 14. Amendment folge nicht das vom Supreme Court anerkannte fundamentale Recht auf Schwangerschaftsabbruch. 328 c) Kritische Analyse Blackmuns Begründung wurde vielfach als methodisch unjuristisch angegriffen. 3 2 9 Diese Angriffe sind unberechtigt. Die Mehrheitsmeinung war in erster Linie eine Abwägungsentscheidung. Die in Roe ν. Wade zu entschei327

Ebd., S. 159, 162f., 166. Hervorhebungen durch H. Sch. Ebd., S. 171, 174 (Rehnquist, W., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. 329 Vgl. statt aller M. Tushnet (Fn. 17), S. 52ff.; J. H. Ely (Fn. 59), S. 920. Ähnlich H. Kaup> Der Schwangerschaftsabbruch aus verfassungsrechtlicher Sicht, 1991, S. 134f., die dem Supreme Court vorwirft, ein Grundrecht auf Schwangerschaftsab328

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1 9 6 0 1 3 5 dende Frage konnte nicht mit traditionellen Methoden beantwortet werden. Text, Systematik und Entstehungsgeschichte der Due Process Clause schrieben nicht ein bestimmtes Ergebnis vor. Blackmuns Begründung wurde oft kritisiert, weil sie auf die Verwendung traditionell akzeptierter Methoden weitestgehend verzichtete. Roe ν. Wade wurde von Blackmun jedoch zu Recht als eine moralische Entscheidung bezeichnet. Es war daher folgerichtig, die Faktoren zu identifizieren, die bei dieser moralischen Entscheidung eine Rolle spielten. Blackmun nahm in seiner Begründung ausdrücklich auf die Sozialmoral Bezug, als er darauf verwies, daß es keinen Konsens über die moralische Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs gebe, daher eine Interessenabwägung nötig sei. Diese Abwägung wurde nicht ohne Rücksicht auf die gesellschaftlich dominanten Wertvorstellungen vorgenommen. Ein besonderer Hinweis auf die von der Abstimmungsmehrheit für wesentlich eingeschätzten Abwägungsfaktoren ist die ausführliche Schilderung der Belastungen, denen Frauen bei einer Schwangerschaft mit einem ungewollten Kind ausgesetzt sind. Das Weltbild der Verfassungsrichter beeinflußte wiederum das Abwägungsergebnis. Rehnquists Dissent bezichtigte die Abstimmungsmehrheit des „Lochnerizing". Rehnquist behauptete, daß die Richter der Abstimmungsmehrheit der Gesellschaft ihre eigenen Werte aufzwängen und dadurch ihre Kompetenz überschritten. Zudem sei der Schwangerschaftsabbruch nicht mit den Traditionen der Vereinigten Staaten vereinbar. Wiederum ist offensichtlich, daß verschiedene Richter häufig unterschiedlicher Ansicht über die von der Gesellschaft anerkannten Traditionen sind. Rehnquist berief sich auf die in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Verbote des Schwangerschaftsabbruchs, um im Ergebnis eine „Tradition des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch" abzulehnen. Legte man Rehnquists begrenzten Traditionsbegriff zugrunde, käme man jedoch zu dem Ergebnis, daß die Due Process Clause nur solche Werte schützte, die ohnehin schon von einer Mehrzahl der Bundesstaaten anerkannt werden. Die Due Process Clause würde ihrer wichtigsten Funktion beraubt, des Schutzes der Freiheitsrechte des einzelnen gegen Eingriffe der Bundesstaaten.

2. Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch

nach Roe v. Wade

Der Supreme Court konkretisierte in späteren Entscheidungen das fundamentale Recht auf Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimester. 330 Er hielt Vetorechte dritter Personen, des Ehemannes oder der Eltern der bruch in die Verfassung hineinzuinterpretieren und insofern nicht anders als in Lochner v. New York zu agieren.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Schwangeren über die Entscheidung des Arztes oder der Frau für verfassungswidrig. 331 In einer späteren Entscheidung hielt der Supreme Court eine Regelung für verfassungswidrig, die Schwangerschaftsabbrüche nach Ende des ersten Trimesters nur in Krankenhäusern zuließ. Die Regelung sah auch eine Pflichtberatung der Frauen vor, in der der Arzt darauf hinweisen mußte, daß das menschliche Leben mit der Empfängnis beginne. Des weiteren war eine eintägige Wartezeit zwischen Beratung und Eingriff vorgeschrieben. Der Supreme Court führte aus, daß die Vorschriften nicht medizinisch notwendig seien und die in Roe ν. Wade anerkannten Rechte der Frau verletzten. 3 3 2 Jedoch hielt der Supreme Court nicht sämtliche staatlichen Maßnahmen zur Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs für verfassungswidrig. So wurde ein Gesetz Missouris für verfassungsgemäß gehalten, das die Einwilligung der Eltern von Minderjährigen zur Voraussetzung des Schwangerschaftsabbruchs machte, jedoch eine gerichtliche Ausweichprozedur vorsah. 333 Für mit der Verfassung vereinbar wurde ein Gesetz Connecticuts gehalten, das Frauen keine staatlichen Hilfen für nicht medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche gewährte. Gleichzeitig ersetzte der Bundesstaat Frauen die mit der Geburt verbundenen Kosten. 3 3 4 Eine noch strengere Regelung der Bundesregierung, das sogenannte „Hyde Amendment", wurde in einem späteren Fall überprüft. Sie sah vor, daß Frauen nur dann Bundesmittel für die Finanzierung des Schwangerschaftsabbruchs zur Verfügung gestellt werden durften, wenn ihr Leben in Gefahr sei oder sie Opfer einer Vergewaltigung oder Inzests gewesen seien. Frauen wurde der staatliche Zuschuß in allen anderen Fällen vorenthalten, auch in solchen Fällen, in denen die medizinische Notwendigkeit des Schwangerschaftsabbruchs indiziert war. Der Supreme Court hielt das „Hyde Amendment" mit der Begründung für verfassungsgemäß, daß die Due Process Clause lediglich gegen staatliche Verbote Schutz gewähre, dem einzelnen jedoch keine Ansprüche auf staatliche Leistungen verleihe. 335 Schließlich hielt der Supreme Court ein Gesetz Missouris für verfassungsgemäß, das Beschäftigten staatlicher Krankenhäuser selbst dann verbot, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, wenn die Frau alle Kosten selbst trug. 3 3 6 330 Vgl. zum folgenden auch die Übersicht bei S. Walther, Schwangerschaftsabbruch in den USA: Neuere Rechtsentwicklungen, EuGRZ 1992, 45 ff. 331 Planned Parenthood of Central Missouri v. Danforth, 428 U.S. 52 (1976). 332 City of Akron v. Akron Center for Reproductive Health , 462 U.S. 416 (1983). 333 Planned Parenthood Association of Kansas City v. Ashcroft , 462 U. S. 476 (1983). 334 Maker v. Roe, 432 U.S. 464 (1977). 335 Harris v. McRae , 448 U.S. 297 (1980).

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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3. Planned Parenthood v. Casey Planned Parenthood v. Casey 337 ist eine der herausragenden Entscheidungen des Supreme Court unter Chief Justice Rehnquist. Die Entscheidung stellte den Supreme Court nicht nur vor die Frage, ob Roe ν. Wade aufrechterhalten werden sollte. Der Supreme Court nutzte diese Entscheidung, um grundsätzlich zur Methodik der Verfassungsinterpretation, unter anderem zum Prinzip der stare decisis, Stellung zu nehmen.

a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit aa) Sachverhalt Das Gericht hatte die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Pennsylvania zu beurteilen, das für Schwangerschaftsabbrüche eine eintägige Wartefrist nach dem Beratungsgespräch vorsah und verheirateten abtreibungswilligen Frauen vorschrieb, ihren Ehemann von dem bevorstehenden Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Schwangerschaftsabbrüche minderjähriger Schwangerer bedurften der Zustimmung der Eltern oder eines Gerichts. Schließlich waren die Kliniken, in denen der Schwangerschaftsabbruch stattfand, verpflichtet, den zuständigen Behörden Bericht über jeden durchgeführten Schwangerschaftsabbruch zu erstatten. 338 Die Richter O'Connor , Souter und Kennedy verfaßten gemeinsam die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit. 339

bb) Präjudizien Die Urteilsbegründung des Supreme Court beginnt mit einer Bekräftigung der Entscheidung in Roe ν. Wade. Die Substantive Due Process Clause habe nicht nur prozedurale Bedeutung. Sie inkorporiere die meisten Amendments der Bill of Rights, sei aber nicht auf diese beschränkt. Sie umfasse auch Praktiken, die zum Zeitpunkt der Entstehung des 14. Amendments nicht geschützt worden seien. Ein Beispiel hierfür seien 336

Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490 (1989). Planned Parenthood v. Casey , 505 U.S. 833 (1992). 338 Der Wortlaut dieser Vorschriften ist in einem Annex der Entscheidung wiedergegeben. Siehe ebd., S. 902ff. 339 Die Richter Blackmun und Stevens stimmten deii drei genannten Richtern teilweise zu, so daß es sich zu einem Teil um eine Pluralitätsentscheidung, zum anderen Teil um eine echte Mehrheitsentscheidung handelt. Die Ausführungen zur Fundamentalst des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch und das Prinzip der stare decisis wurden von einer Mehrheit der Richter geteilt. Ebd., S. 843 ff. 337

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

die Präzedenzfälle, in denen der Supreme Court familiären Rechten besonderen Schutz eingeräumt habe. So seien Eheschließungen zwischen verschiedenen Rassen zum Zeitpunkt der Ratifizierung des 14. Amendments in den meisten Bundesstaaten verboten gewesen. Der Supreme Court habe jedoch in Loving ν. Virginia zweifellos richtig gehandelt, als er diese Praxis für verfassungswidrig hielt. Ähnliche Beispiele seien Griswold v. Connecticut, Pierce ν. Society of Sisters und Meyer ν. Nebraska. O'Connor, Souter und Kennedy zitierten aus dem berühmten Dissent des Richters Harlan in Poe v. Oilman , daß sich der Freiheitsbegriff der Due Process Clause nicht auf wenige Punkte reduzieren lasse, es sich vielmehr um ein rationales Kontinuum handele. Es sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbestritten, daß die Verfassung die Befugnis der Bundesstaaten begrenze, in die grundlegenden persönlichen Entscheidungen einzugreifen, die Familie und Kindeserziehung betreffen. Erneut aus dem Dissent Harlans in Poe v. Ullman zitierend, wiesen O'Connor, Souter und Kennedy darauf hin, daß die Due Process Clause nicht auf eine Formel reduziert werden könne, vielmehr eine Abwägung zwischen verschiedenen Traditionen erforderlich sei. 340 Aus den Präjudizien gehe hervor, daß die persönlichen Entscheidungen über Heirat, Fortpflanzung, Schwangerschaftsverhütung, familiäre Beziehungen und Kindeserziehung fundamentalen Charakter hätten. Diese Entscheidungen seien von zentraler Bedeutung für Autonomie und Würde des einzelnen und würden von dem in der Due Process Clause erwähnten Freiheitsrecht geschützt. Der Supreme Court wies auf die komplexen Konsequenzen hin, die mit der Entscheidung verbunden seien, die Schwangerschaft abzubrechen oder fortzusetzen. So werde Frauen, die die Schwangerschaft nicht abbrechen, ein großes Opfer abverlangt. Sie müßten mit Ängsten, physischen Einschränkungen und Schmerzen rechnen. Andererseits erführen Frauen für diese Opfer besondere gesellschaftliche Anerkennung. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, daß der Staat Frauen dieses Opfer abverlange. Ihr Leiden sei zu groß und zu persönlich, als daß der Staat auf seiner Auffassung von der Rolle der Frau bestehen dürfe. Dies gelte auch dann, wenn eine solche, die Mutterschaft in den Vordergrund stellende Rolle der Frau in der Geschichte und Kultur der Vereinigten Staaten einen zentralen Platz eingenommen habe. Es sollte daher anerkannt werden, daß die Frage, ob der Schwangerschaftsabbruch verfassungsgemäß sei, in gewisser Hinsicht im Zusammenhang mit der Frage des Rechts auf Schwangerschaftverhütung stehe. 341

340 341

Ebd., S. 846ff. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 851 f. Hervorhebung durch H. Sch.

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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cc) Stare decisis O'Connor , Souter und Kennedy wandten sich hierauf dem Prinzip der stare decisis zu. Frühere Entscheidungen seien nicht in jedem Fall ein unerbittlicher Befehl. Vielmehr seien sie einer späteren Überprüfung zugänglich. Das Für und Wider des Festhaltens am Präzedenzfall müsse sorgfältig abgewogen werden. Dabei müßten Faktoren wie Praktikabilität, das Vertrauen auf die frühere Entscheidung, die verwendeten rechtlichen Prinzipien und veränderte tatsächliche Gegebenheiten in Betracht gezogen werden. Roe ν. Wade habe sich als praktikabel erwiesen. Das Vertrauen auf diese Entscheidung könne nicht auf den Bereich der sexuellen Aktivität begrenzt werden. Nach zwei Dekaden habe sich die Einstellung vieler Menschen zu Schwangerschaftsverhütung und, im Fall ihres Scheiterns, Schwangerschaftsabbruch geändert. Die Möglichkeit für Frauen, ihr reproduktives Leben zu steuern, habe ihre Fähigkeiten verbessert, gleichberechtigt am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Die doktrinären Grundlagen von Roe ν. Wade hätten sich nicht verändert. Der Supreme Court habe sich in dieser Entscheidung in erster Linie auf Griswold v. Connecticut und ähnliche Entscheidungen gestützt, die nicht an Gültigkeit verloren hätten. Schließlich gebe es keine tatsächlichen Veränderungen, die ein Abweichen von Roe ν. Wade rechtfertigen würden. 3 4 2 O'Connor, Souter und Kennedy stellten fest, daß in einem normalen Fall die stare-decisis-Analyse beendet wäre. Es gebe jedoch eine besonders intensive nationale Kontroverse über die Zulässigkeit des Schwangerschaf tsabbruchs. Es handele sich daher um einen der seltenen Fälle, die einer besonderen Behandlung bedürften. Lediglich die Entscheidungen in Lochner v. New York und Plessy v. Ferguson seien in ihrer Bedeutung mit Roe v. Wade vergleichbar. Diese Entscheidungen seien in West Coast Hotel v. Parrish und Brown v. Board of Education aufgehoben worden, da sich das Verständnis der Gesellschaft von der Wirklichkeit geändert habe. Veränderte Umstände verlangten neue Lösungen. 343 dd) Die Rolle des Supreme Court O'Connor, Souter und Kennedy schlossen institutionelle Überlegungen an. West Coast Hotel v. Parrish und Brown v. Board of Education hätten die Präzedenzfälle aufgehoben, um Schaden vom Supreme Court abzuwenden. Der vorliegende Fall sei in dieser Hinsicht nicht vergleichbar. Folgte der Supreme Court Roe ν. Wade nicht, nähme er als Institution schweren 342 343

Ebd., S. 854ff. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 861 ff. Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Schaden. Der Supreme Court sei eine Institution mit beschränkten Möglichkeiten. Seine wahre Macht liege in seiner Legitimität, einem Produkt aus Substanz und Wahrnehmung von außen. Die Legitimität des Gerichts zeige sich in der Akzeptanz der Judikative als geeignete Institution zur Bestimmung des Rechts durch das Volk. Daher müsse das Gericht seinen Prinzipien treu bleiben und dürfe nicht sozialen und politischen Einflüssen nachgeben. Die Legitimität des Gerichts leite sich aus der Fähigkeit ab, Entscheidungen zu fällen, die rechtlichen Prinzipien entsprächen und plausibel genug seien, um von der Nation akzeptiert zu werden. 344 Folglich sei die Macht des Gerichts beschränkt, frühere Entscheidungen aufzuheben. Mit jedem „overruling" sei das Eingeständnis verbunden, daß die frühere Entscheidung falsch gewesen sei. Der Raum für das Eingeständnis von Fehlern sei nicht unbegrenzt. Vielmehr nehme die Legitimität des Gerichts mit der Häufigkeit seines Schwankens ab. In einem Fall von besonderer nationaler Bedeutung sei ein „overruling" nur dann gerechtfertigt, wenn besonders zwingende Gründe dafür sprächen. Nach wie vor gebe es keinen nationalen Konsens über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Ein „overruling " von Roe ν. Wade würde als Zeichen des Nachgebens angesichts des enormen politischen Drucks verstanden werden. Die Legitimität des Gerichts wäre ernsthaft beschädigt. Daher müsse Roe ν. Wade in seinen Grundlinien aufrechterhalten werden. 345 ee) Die Ausgestaltung des fundamentalen Rechts auf Schwangerschaftsabbruch O'Connor , Souter und Kennedy wichen nach den Roe ν. Wade generell bejahenden Äußerungen jedoch im einzelnen von dieser Entscheidung ab. Sie gingen zwar weiter davon aus, daß die Lebensfähigkeit des Fötus Grenzlinie für die Entscheidungsfreiheit der Frau sein sollte, verwarfen jedoch das Trimester-Modell aus Roe ν. Wade als zu rigide. Vielmehr sei in jedem Fall zu prüfen, ob die staatliche Regelung den Zweck oder Effekt habe, ein substantielles Hindernis für die Frau zu schaffen, die den Schwangerschaftsabbruch eines nicht lebensfähigen Fötus wünschte. Die Frau hätte das Recht, die endgültige Entscheidung zu treffen. Regelungen, die der Gesundheit der Frau dienten, würden auf ihre Erforderlichkeit hin untersucht. 3 4 6 344

Ebd., S. 865 f. Hervorhebungen durch H. Sch. Ebd., S. 866 ff. Hervorhebung durch H. Sch. Die Richter Stevens und Blackmun schlossen sich der Begründung der Richter O'Connor, Souter und Kennedy bis hierhin an. D. h. diese Ausführungen gelten als Präjudiz für spätere Entscheidungen. Stevens und Blackmun stimmten jedoch nicht mit dem im folgenden behandelten Abschnitt IV der Entscheidung überein. Diese Ausführungen haben damit nur den Rang einer Pluralitätsentscheidung. 345

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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Die Richter wandten diesen Test auf das Gesetz Pennsylvanias an. Die vorgeschriebene Beratung sei zulässig, wenn sie dazu diene, richtige und nicht irreführende Informationen weiterzugeben. Diese Anforderung stelle kein substantielles Hindernis für den Schwangerschaftsabbruch dar. Gleiches gelte für die eintägige Wartefrist nach der Beratung. Selbst wenn damit höhere Kosten und eine Verzögerung verbunden seien, handele es sich nicht um einen substantiellen Eingriff in das Recht der Frau. 3 4 7 O'Connor, Souter und Kennedy wandten sich sodann der Frage zu, ob die Vorschrift des Gesetzes verfassungsgemäß sei, die verheirateten Frauen die Benachrichtigung ihres Ehegatten vor Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs vorschrieb. Die Richter wiesen auf die hohe Rate von Mißhandlungen von Ehefrauen hin. Diese Mißhandlungen beschränkten sich nicht nur auf körperliche Angriffe, sie seien auch psychologischer Natur. Frauen seien oft sozial und ökonomisch isoliert und daher gezwungen, zu ihren Ehemännern zurückzukehren. In gut funktionierenden Ehen werde die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch ohnehin diskutiert. Es gebe aber Millionen von Frauen, die Opfer des Mißbrauchs durch ihre Ehegatten würden. Sie hätten gute Gründe, ihre Ehemänner nicht von einer Schwangerschaft zu informieren. Diese Frauen seien nicht von der gesetzlichen Informationspflicht ausgenommen. Es sei möglich, daß sie sich aus Furcht vor weiteren Mißhandlungen gegen den Schwangerschaftsabbruch entschieden. Die Informationspflicht stelle ein substantielles Hindernis für den Schwangerschaftsabbruch dar. 3 4 8 O'Connor, Souter und Kennedy wiesen auch auf Bradwell v. Illinois hin, wo das common-law-Prinzip bestätigt worden sei, daß verheiratete Frauen keine von ihrem Mann unabhängige rechtliche Existenz hätten. Die Ansicht, daß Frauen der Mittelpunkt des Hauses und der Familie seien und keine von ihrem Ehegatten unabhängigen Rechte aus der Verfassung beanspruchen könnten, stehe nicht in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Verständnis des Verhältnisses von Familie, dem einzelnen und der Verfassung. Das Gesetz Pennsylvanias verkörpere Vorstellungen des common law, die 346

Ebd., S. 870, 872, 877 f. (plurality opinion). Ebd., S. 881 ff. Dieser Teil der Entscheidung wurde nicht von den Richtern Blackmun und Stevens mitgetragen, es liegt insofern eine reine Pluralitätsentscheidung vor, da die dissentierenden Richter White, Scalia, Thomas und Rehnquist nicht der Begründung der Pluralität zustimmten, sondern nur das Ergebnis mittrugen, die Verfassungsmäßigkeit der entsprechendenen Vorschriften. Der Supreme Court wich hiermit von dem strengen Trimester-Modell in Roe ν. Wade ab, das keine staatlichen Eingriffe vor Lebensfähigkeit zuließ. Gleichzeitig wurde eine weitere Entscheidung, Akron v. Akron Center for Reproductive Health , 462 U.S. 416 (1983), aufgehoben, in der der Supreme Court eine Pflichtberatung im ersten Trimester für verfassungswidrig gehalten hatte. Siehe dazu oben S. 136. 348 Ebd., S. 891 ff. Hervorhebung durch H. Sch. 347

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dem jetzigen Verständnis der von der Verfassung geschützten Rechte widersprächen. Frauen hätten unabhängig von ihrem familiären Status die gleichen Rechte wie Männer. Die Pflicht, den Ehemann von dem Schwangerschaftsabbruch zu informieren, sei verfassungswidrig. 349 Der Supreme Court kam ferner zu dem Schluß, daß die Vorschriften des Gesetzes, die eine Zustimmungspflicht der Eltern minderjähriger Schwangerer und die Informationspflicht der Kliniken zum Inhalt hatten, kein substantieller Eingriff in das Recht auf Schwangerschaftsabbruch seien und nicht gegen die Verfassung verstießen. Die Richter O'Connor , Souter und Kennedy schlossen ihre Begründung mit der Bemerkung, daß die Verfassung ein Vertrag sei, der von der ersten Generation von Amerikanern bis in die Gegenwart gelte. Jede Generation müsse lernen, daß die Verfassung Ideen und Bestrebungen zum Inhalt habe, die für einen längeren Zeitraum geschaffen wurden. 3 5 0 b) Der Dissent von Chief Justice Rehnquist Chief Justice Rehnquist plädierte in seinem Dissent für die von der Pluralität in Michael H. v. Gerald D. angewandte Methode, die Traditionen der Vereinigten Staaten hinsichtlich des konkreten in Frage stehenden Rechts zu untersuchen. Schwangerschaftsabbrüche seien 1868, einer Tradition des common law folgend, in den meisten Bundesstaaten illegal gewesen. Diese Verbote seien in einer Mehrheit der Bundesstaaten bis 1973 gültig gewesen, dem Jahr, in dem Roe ν. Wade entschieden worden war. Es könne daher nicht behauptet werden, daß es eine tief verwurzelte Tradition der Anerkennung des unbeschränkten Rechts auf Schwangerschaftsabbruch gebe. Rehnquist wandte sich auch gegen die stare decisis Argumentation der Abstimmungsmehrheit. Es sei unzulässig, zu argumentieren, daß sich die Nation in den 19 Jahren seit Roe v. Wade an das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gewöhnt habe. Die „separate but equal"-Doktrin aus Plessy v. Ferguson habe 58 Jahre bestanden, die Lochner-Doktrin mehr als 32 Jahre. Dennoch habe die Gewöhnung mehrerer Generationen den Supreme Court nicht davon abgehalten, diese Entscheidungen aufzuheben. Sie seien nicht mit der Verfassung vereinbar gewesen. Es sei die Pflicht des Supreme Court, die öffentliche Meinung zu ignorieren. Die Legitimität der Judikative folge nicht aus dem Befolgen der öffentlichen Meinung, sondern aus der Interpretation der Verfassung. 351 349

Ebd., S. 897 f. Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 899ff. 351 Ebd., S. 944, 952, 957 f., 963 (Rehnquist, W., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. Vgl. auch den Dissent des Richters Scalia , der wie der Chief Justice der Abstimmungsmehrheit vorwarf, die Traditionen der Vereinigten Staaten falsch 350

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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c) Kritische Analyse Die Richter O'Connor , Souter und Kennedy wollten ihre Entscheidung nicht als bloßes Ergebnis der Bestrebungen konservativer politischer Kräfte gewertet wissen, die vieldiskutierte Roe-v.-Wade-Entscheidung rückgängig zu machen. 352 Sie lehnten es ab, dem konservativen Zeitgeist, der zu ihrer Nominierung beigetragen hatte, ohne weiteres nachzugeben. Insofern überraschte die Entscheidung in Casey viele Beobachter, die angenommen hatten, daß der mit einer soliden konservativen Mehrheit ausgestattete Supreme Court die konservative Agenda der republikanischen Präsidenten durchsetzen würde. Das fundamentale Recht auf Schwangerschaftsabbruch wurde bestätigt, obwohl es mit der Aufhebung des Trimester-Modells aus Roe ν. Wade deutlich abgeschwächt worden war. Obwohl es scheint, daß die Richter der Mehrheitsmeinung sich vom Prinzip der stare decisis leiten ließen, stellten sie in erster Linie auf die Akzeptanz von Roe ν. Wade ab. Stare decisis, so die Richterin O'Connor in einer früheren Entscheidung 353 , sei ein Zweckmäßigkeitsprinzip. Hier erschien es dem Supreme Court nicht zweckmäßig, von der früheren Entscheidung abzuweichen. Ein weiteres Ziel der Richter O'Connor , Souter und Kennedy war es, die Legitimität des Gerichts zu schützen. Es sollte nicht nur als Spielball politischer Mächte verstanden werden. Die Richter der Abstimmungsmehrheit erteilten dem Originalismus eine klare Absage, indem sie Loving ν. Virginia verteidigten, eine Entscheidung, in der der Supreme Court unter Chief Justice Warren deutlich von den zum Zeitpunkt der Verabschiedung des 14. Amendments dominanten Wertvorstellungen abgerückt war. Entscheidungen des Supreme Court seien nur dann legitim, führten die Richter O'Connor , Souter und Kennedy aus, wenn sie Akzeptanz fänden. Der Supreme Court unterschied mithin zwischen den tagespolitischen Einflüssen, die von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden müßten, und der grundsätzlichen Akzeptanz der Entscheidungen im Volk, die Voraussetzung für den Erfolg des Supreme Court als Institution sei. 3 5 4 Planned Parenthood v. Casey ist einer der seltenen Fälle, in denen der Supreme Court den Einfluß der Sozialmoral nicht nur offen einräumte, sondern auch als für seine Legitimation notwendig verteidigte. Daher wurde die Urteilsbezu interpretieren und eine politische Wertabwägung zu verbergen. Ebd., S. 979, 983 f. (Scalia, Α., dissenting). 352 O'Connor, Souter und Kennedy wurden von den Präsidenten Reagan und Bush nominiert. Insbesondere Präsident Reagan hatte nicht verhehlt, daß er seine Kompetenz zur Nominierung der Supreme-Court-Richter nutzen wollte, um die aktivistische Rechtsprechung des Supreme Court einzudämmen und seine „konservative Revolution" auch in die dritte Gewalt hineinzutragen. 353 Adarand Constructors Inc. v. Pena, siehe oben S. 96. 354 Vgl. auch J. G. Wilson (Fn. 59), S. 1046.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

gründung der Abstimmungsmehrheit als eine der ehrlichsten richterlichen Äußerungen in der Geschichte der amerikanischen Verfassungsinterpretation bezeichnet. 355 Daß O'Connor, Souter und Kennedy bei der Beurteilung des Gesetzes Pennsylvanias die Sozialmoral berücksichtigten, wird unter anderem an der ausführlichen Beschäftigung mit den Belastungen deutlich, denen Frauen bei einer ungewollten Schwangerschaft ausgesetzt sind. Ihnen dürfe nicht ein Opfer abverlangt werden, das zwar traditionell von der Gesellschaft gefordert wurde, aber nicht mehr mit den gegenwärtigen Anschauungen vereinbar sei. Der Supreme Court wies darauf hin, daß die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs bei Versagen anderer Methoden der Geburtenkontrolle von der Gesellschaft vorausgesetzt würde. Sie sei Voraussetzung der Gleichberechtigung der Frau. Mit anderen Worten, eine Roe v. Wade aufhebende Entscheidung liefe Gefahr, nicht akzeptiert und von späteren Gerichten wieder aufgehoben zu werden. Sie würde die Legitimität des Gerichts gefährden. Schließlich bekannte sich die Mehrheitsmeinung zum Charakter der Due Process Clause als Abwägungsvorschrift und Schloß damit an frühere Entscheidungen des Supreme Court an. Chief Justice Rehnquist griff die Erwägungen der Abstimmungsmehrheit zur Akzeptanz der Entscheidungen als Voraussetzung der Legitimität des Gerichts an. Sie entsprachen nicht seinem Konzept der Verfassungsinterpretation, nach dem unabhängig vom Zeitpunkt der Auslegung nur eine richtige Interpretation der Verfassung existiert. Die Entscheidung in Planned Parenthood v. Casey ist wiederum eine Entscheidung, in der verschiedene Richter des Supreme Court die für die Entscheidung relevanten Traditionen unterschiedlich interpretierten. Während es Rehnquist bei einem Verweis darauf beließ, daß der Schwangerschaftsabbruch traditionell verboten gewesen sei, sahen O'Connor, Souter und Kennedy die relevante Traditionen in einem anderen Licht. Zwar werde Frauen die Rolle der Mutter traditionell zugeschrieben. Der Staat könne sie jedoch nicht in diese Rolle zwingen. Insbesondere der Verweis auf Bradwell v. Illinois deutet darauf hin, daß die Richter der Mehrheitsmeinung die Rechtsprechung zur Gleichstellung von Frauen unter der Equal Protection Clause auf die Substantive Due Process Clause übertrugen. Das traditionelle Bild von der Frau als Mutter sei nicht mehr zeitgemäß. Gesetze, die diese Annahme voraussetzten, wurden als vorurteilsbehaftet aufgehoben. Die Richter der Mehrheitsmeinung hielten die common-law-Traditionen, auf die sich Rehnquist berief, für überholt. Daher maßen sie dem traditionellen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs keine Bedeutung bei.

355

Ebd., S. 1118.

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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ΠΙ. Beschränkungen des Zusammenlebens Der Supreme Court erkennt fundamentale Rechte unter der Substantive Due Process Clause auch hinsichtlich familiärer Beziehungen an. Diese Rechtsprechung hat in zu Beginn dieses Jahrhunderts entschiedenen Fällen wie Meyer v. Nebraska und Pierce ν. Society of Sisters ihren Ursprung. So erkannte der Supreme Court 1978 ein fundamentales Recht auf Eheschließung a n . 3 5 6 Im Rahmen dieser Untersuchung wird die Rechtsprechung des Supreme Court zu Beschränkungen des Zusammenlebens behandelt.

1. Village of Belle Terre

ν. Boraas

In dieser Entscheidung hielt der Supreme Court eine örtliche Satzung für verfassungsgemäß, die vorschrieb, daß nicht mehr als zwei nicht miteinander verwandte Personen in einem Haus leben durften. Die Kläger waren nicht miteinander verwandte Studenten, die ein Haus in dem regulierten Gebiet bewohnten. 357 Richter Douglas argumentierte, daß kein fundamentales Recht wie das Wahlrecht, die Versammlungsfreiheit oder das Recht auf Zugang zu den Gerichten betroffen sei. Vielmehr handele es sich um ökonomische und soziale Gesetzgebung, bei der der Legislative traditionell ein weiter Spielraum zustehe. Ein Verstoß gegen die Equal Protection Clause liege nur dann vor, wenn die Legislative willkürlich gehandelt habe. Ein willkürliches Vorgehen sei hier jedoch auszuschließen, da es Zweck der Vorschrift sei, Lärmbelästigungen zu vermeiden. Diese seien notwendig mit der Ansiedlung nicht miteinander verwandter Personen verbunden, die meist über ein eigenes Auto verfügten. 358 Richter Thurgood Marshall ging in seinem Dissent von einer Verletzung der fundamentalen Rechte auf Privatsphäre und Versammlungsfreiheit aus, die aus den 1. und 14. Amendments ableitbar seien. Daher sei nicht, wie von der Mehrheitsmeinung vorgeschlagen, der „Rational Basis Test", sondern der „Strict Scrutiny Test" anwendbar. 359 Marshall berief sich unter anderem auf die Entscheidungen in Meyer v. Nebraska und Griswold v. Connecticut, nach denen das Recht, eine Wohnung zu begründen, essentieller Teil des Freiheitsbegriffs des 14. Amendments sei. Die Auswahl der 356

Zablocki v. Redhail, 434 U.S. 374 (1978). Die Urteilsbegründung des Richters Thurgood Marshall bezog sich in erster Linie auf die Equal Protection Clause des 14. Amendments. Die Entscheidung wird heute jedoch der Substantive Due Process Clause zugeordnet. Vgl. Stone u.a. (Fn. 48), S. 961 ff. m.w.N. 357 Village of Belle Terre ν. Boraas , 416 U.S. If. (1974). 358 Ebd., S. 7 ff. 359 Ebd., S. 12f. (Marshall, T., dissenting). 10 Schiwek

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Mitbewohner sei eine besonders persönliche Entscheidung und falle daher in das Recht auf Privatsphäre. 360 2. Moore v. City of East Cleveland a) Die Pluralitätsmeinung Auch diese Entscheidung betraf eine örtliche Satzung. Sie schrieb vor, daß nur Familienmitglieder in einem Haus zusammenleben durften. Der Begriff der Familie wurde dabei so eng definiert, daß das Zusammenleben der Klägerin mit ihren beiden Enkeln gegen die Satzung verstieß. Richter Powell verfaßte die Urteilsbegründung für die Pluralität. 361 Powell unterschied den Sachverhalt zunächst von dem in Village of Belle Terre v. Boraas. Hier gehe es um eine Regulierung des familiären Zusammenlebens. In diesem Fall könne der Legislative nicht der sonst übliche Spielraum eingeräumt werden. Powell wies auf die Bedeutung hin, die der Supreme Court der Familie in Entscheidungen wie Meyer v. Nebraska, Pierce ν. Society of Sisters und Griswold ν. Connecticut eingeräumt habe. Unter Berufung auf den Dissent des Richters Harlan in Poe v. Ullman betonte Powell, daß nur solche Traditionen überlebten, die als richtig angesehen würden. Aus diesem Grund hätten die familienbezogenen Entscheidungen in Meyer v. Nebraska und Pierce ν. Society of Sisters überlebt, nicht aber andere Entscheidungen des Substantive Due Process. Powell spielte auf die Entscheidungen der Lochner-Peùode an. 3 6 2 Die Familie werde von den Entscheidungen des Supreme Court geschützt, weil sie als Institution tief in der Geschichte und den Traditionen der Nation verwurzelt sei. 363 Diese Tradition beschränke sich nicht auf die Kernfamilie. Statt dessen verdiene die Tradition, nach der Großeltern den Haushalt mit Eltern und Kindern teilten, genauso die Anerkennung der Verfassung. Powell zitierte aus der soziologischen Literatur und verwies auf Ergebnisse einer Volkszählung, die auf einen hohen Anteil von Haushalten schlossen, in denen außer den Eltern weitere erwachsene Personen lebten. Genausowenig wie der Staat die Schulbildung standardisieren dürfe, stehe ihm zu, bestimmte eng begrenzte Familienmuster zu definieren. Die Satzung sei deshalb verfassungswidrig. 364 360

Ebd., S. 15 f. Moore v. City of East Cleveland , 431 U.S. 494 (1977) (plurality opinion). Die fünfte zur Mehrheit nötige Stimme kam von Richter Stevens, der in seiner zustimmenden Meinung in der Satzung einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht der Kläger sah, ebd., S. 513 ff. (Stevens, J., concurring). 362 Ebd., S. 498 ff. Hervorhebung durch H. Sch. 363 Ebd., S. 502. Hervorhebung durch H. Sch. 361

H. Auslegung der Substantive Due Process Clause nach 1960

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Richter Brennan, der sich der Pluralität anschloß, fügte in seiner zustimmenden Meinung hinzu, daß der Satzung das Konzept der Kernfamilie zugrundeliege. Dieses Konzept sei häufig in von Weißen bewohnten Vororten anzutreffen. Die Verfassung könne aber nicht so interpretiert werden, daß sie nur die Präferenzen weißer Vorortbewohner toleriere. Die Großfamilie habe Generationen von Amerikanern über wirtschaftliche Schwierigkeiten hinweggeholfen und herrsche immer noch bei ärmeren Schichten und Minderheiten vor. Diese seien durch Mittellosigkeit gezwungen, die knappen Ressourcen in einem einzigen Haushalt zu vereinigen. Brennan zitierte Statistiken, die einen hohen Anteil Schwarzer in Großfamilien aufwiesen. Die Großfamilie sei ein wichtiger und schutzwürdiger Teil der Gesellschaft. 365 b) Der Dissent des Richters White Richter White bezweifelte in seinem Dissent, daß das 14. Amendment einschlägig sei. Obwohl die Due Process Clause mehr als einen rein prozeduralen Charakter habe, sei ihr substantieller Gehalt weder vom Text noch der Entstehungsgeschichte der Klausel vorgegeben. Ihr Inhalt sei nichts weiter als die Akkumulierung richterlicher Interpretation. Das Gericht dürfe nicht schon dann Gesetze für verfassungswidrig erklären t wenn es diese lediglich als unvernünftig beurteile. Es sei dann am verwundbarsten und komme der Illegitimität am nächsten, wenn seine Richter selbst Verfassungsrecht schufen, das keine oder kaum erkennbare Wurzeln in Text und Struktur der Verfassung habe. White mahnte, daß der Supreme Court vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Exekutive und Judikative in den dreißiger Jahren bei der Ausweitung der Substantive Due Process Clause große Zurückhaltung üben sollte. 3 6 6 Die Freiheit, mit seinen Enkelkindern zusammenzuleben, sei sicher nicht Teil des Konzepts geordneter Freiheit, das den Inhalt der Substantive Due Process Clause definiere. White akzeptierte nicht das Argument Powells, daß die Großfamilie Teil der Traditionen der Vereinigten Staaten sei. Der Inhalt der Traditionen des Landes sei fragwürdig. Noch fragwürdiger sei es zu entscheiden, welche Traditionen den Schutz der Due Process Clause verdienten. Daher sei eine erhöhte richterliche Kontrolle fehl am Platz. Die Satzung sei zumindest nicht willkürlich, sondern solle den Charakter einer Nachbarschaft mit Kleinfamilien gewährleisten. Sie verstoße nicht gegen die Verfassung. 367 364 365 366 367

10*

Ebd., S. 505 f. Ebd., S. 508 ff. (Brennan, W., concurring). Ebd., S. 543 f. (White, B., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch. Ebd., S. 549 f. Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court 3. Zusammenfassung zu Village of Belle Terre und Moore v. City of East Cleveland

ν. Boraas

Moore v. City of East Cleveland ist ein Beispiel für die Weiterentwicklung früherer Rechtsprechung durch „distinguishing". Die Tatsache, daß familiäre Beziehungen reguliert wurden, reichte aus, zu einem anderen Ergebnis als in Belle Terre zu kommen. Wie in Planned Parenthood v. Casey begründete der Supreme Court ein fundamentales Recht unter Beachtung der Traditionen der Vereinigten Staaten. Aufmerksamkeit verdient die Einschätzung Powells zu der unterschiedlichen Behandlung von in die persönliche und in die wirtschaftliche Freiheit eingreifenden Gesetzen. Die Loc/wer-Rechtsprechung habe sich im Gegensatz zu der Meyer- und P/erce-Rechtsprechung nicht durchsetzten können, weil sie nicht mit den als richtig empfundenen Traditionen der Vereinigten Staaten übereinstimmte. Damit räumte er ein, daß sich Lochner und Meyer beziehungsweise Pierce nur in der Akzeptanz der richterlichen Wertungen durch das Volk unterschieden. Die Akzeptanz der Entscheidung müsse daher bei der Interpretation der Verfassung berücksichtigt werden. Auf der sozialen Akzeptanz der Großfamilie bauen Powells und Brennans weitere Argumente auf. Weil die Großfamilie weit verbreitet und, so Brennan, erhaltenswert sei, gebe es eine anerkannte Tradition, die von der Due Process Clause geschützt werde. Die Stellungnahme des Richters White, der sich in Bowers v. Hardwick eine Mehrheit der Richter anschloß 368 , entspricht einer modernen Version der von Richter Black vorgebrachten Kritik an der „Naturrechtsphilosophie" in Lochner v. New York, Pierce ν. Society of Sisters und Meyer ν. Nebraska. Der Supreme Court sei am verwundbarsten, wenn er fundamentale Rechte anerkenne, die keinen Bezug zu Text, Struktur und Geschichte der Verfassung hätten. Den an den Traditionen der Vereinigten Staaten orientierten Ansatz Powells lehnte White ab, weil Traditionen nicht objektiv, d. h. ohne Rücksicht auf die persönlichen Wertungen der Richter, bestimmt werden könnten. 3 6 9 Whites Verfassungsverständnis ist von dem Bestreben geprägt, eine zweite Loc/wer-Tragödie zu verhindern. Er versucht, dieses Ziel mit Hilfe des Originalismus und richterlicher Zurückhaltung zu erreichen.

368

Siehe unten S. 158. Richter White war in der Ablehnung von Traditionen als Rechtserkenntnisquelle in späteren Entscheidungen nicht immer konsequent. Vgl. dazu seine Urteilsbegründung in Bowers ν. Hardwick, unten S. 101. Zu den Traditionskriterien, die der Supreme Court bei Entscheidungen zu familienbezogenen Rechten anlegt, vgl. auch W. Brugger (Fn. 3), S. 124 f., 136ff. 369

J. Nicht als suspekt anerkannte Klassifizierungen

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J. Nicht als suspekt anerkannte Klassifizierungen beziehungsweise nicht anerkannte fundamentale Rechte Seit den siebziger Jahren wurde der Supreme Court unter den Chief Justices Burger und Rehnquist bei der Anerkennung neuer fundamentaler Rechte beziehungsweise suspekter Klassifizierungen zurückhaltender. Der Supreme Court lehnte es häufiger ab, den „Strict Scrutiny Test" anzuwenden und gab vor, eine weniger aktivistische Verfassungsinterpretation anzustreben. Der Burger-Court war jedoch, das zeigt auch die bisherige Darstellung der Entscheidungen zur Equal Protection Clause und der Substantive Due Process Clause, nicht weniger aktivistisch als sein Vorgänger. Auf wichtigen Gebieten, insbesondere der verfassungsrechtlichen Behandlung von Geschlechtsklassifizierungen und dem Substantive Due Process, ging der Burger-Court über die Judikatur des Warren-Court hinaus. Schließlich räumte der Supreme Court unter Chief Justice Burger der Legislative keinen größeren Spielraum ein als unter Earl Warren, sondern erklärte eine ähnlich große Anzahl von Gesetzen für verfassungswidrig. 370 Auch wenn von den Präsidenten Nixon und Ford berufene Richter wie Burger, Rehnquist, Powell oder White versuchten, einen mäßigenden Einfluß auszuüben, haben die Grundprinzipien des Warren-Court weiter Bestand. 371 Dennoch suchten der Burger- und der Rehnquist-Court den Eindruck zu erwecken, ein restriktives Verfassungskonzept zu verfolgen. Es folgen die wichtigsten Entscheidungen mit dieser Tendenz auf dem Gebiet der Equal Protection Clause und der Substantive Due Process Clause. Beide Klauseln können zusammen behandelt werden, weil sich die Argumentation für und gegen die Ausweitung des „Strict Scrutiny Test" gleicht.

I. Das fundamentale Recht auf Ausbildung 1. San Antonio Independent School District v. Rodriguez Zwei potentielle Auslöser des „Strict Scrutiny Test" standen in San Antonio Independent School District v. Rodriguez zur Debatte, Armut als suspekte Klassifizierung sowie das Recht auf Ausbildung als fundamentales Recht. 3 7 2 Der von Richter Powell verfaßten Entscheidung lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Der Großraum San Antonio im Bundesstaat Texas 370

Vgl. B. Schwanz (Fn. 206), S. 220. V. Blasi , The Rootless Activism of the Burger Court, in: The Burger Court, The Counter-Revolution that Wasn't, V. Blasi (Hrsg.), 1983, S. 198 ff. 372 411 U.S. 1 (1973). 371

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

war in verschiedene Schulbezirke eingeteilt. Die Finanzierung des Schulsystems erfolgte zum Teil aus dem Aufkommen der Grundsteuern. Wegen des disproportionalen Grundsteueraufkommens stand einigen Schulbezirken mehr, anderen weniger Geld zur Verfügung. Gleichzeitig bestand ein großer Unterschied zwischen dem Durchschnittseinkommen in den einzelnen Schulbezirken, so daß Kinder aus einkommensschwachen Haushalten in der Regel in schlechter ausgestattete Schulen gingen. 3 7 3 Das Eingangsgericht hatte den „Strict Scrutiny Test" angewendet und das Finanzierungsschema als verfassungswidrig bezeichnet. Grund für die Anwendung dieses Überprüfungsmaßstabes seien der Eingriff in das „fundamentale Recht auf Bildung" und die suspekte Klassifizierung nach dem Einkommen gewesen. 374 Powell lehnte es ab, fundamentale Rechte oder suspekte Klassifizierungen anzuerkennen, die nicht explizit oder implizit aus der Verfassung ableitbar seien. Einkommensschwächere könnten in diesem Fall schon deshalb nicht als suspekte Klasse anerkannt werden, weil es keine klare Trennung der Klassen gebe. Nicht alle ärmeren Familien lebten in Bezirken mit geringerem Durchschnittseinkommen. Die Equal Protection Clause schreibe nicht absolute Gleichheit vor. Zudem lägen die traditionellen Merkmale einer suspekten Klasse nicht vor, es gebe weder eine Geschichte bewußter Benachteiligung der ärmeren Bevölkerung noch handele es sich um eine politisch einflußlose Klasse? 15 Powell behandelte sodann die Frage, ob die Verfassung ein fundamentales Recht auf Ausbildung beinhalte. Er zitierte Chief Justice Warren aus Brown v. Board of Education: Das Bildungswesen sei die wichtigste Funktion des Staates. Ausbildung, so Powell, sei das Fundament guter Staatsbürgerschaft. Es sei zweifelhaft, ob ein Kind ohne ausreichende Ausbildung in seinem späteren Leben erfolgreich sein könne. Die Wichtigkeit einer Funktion des Staates habe jedoch keinen Einfluß darauf, ob ein fundamentales Recht unter der Equal Protection Clause bestehe. Powell zitierte aus einer Entscheidung, die ein fundamentales Recht auf adäquate Wohnung abgelehnt hatte: Die Verfassung könne nicht jedes soziale Übel kurieren. Es sei nicht Aufgabe dieses Gerichts, fundamentale Rechte neu zu schaffen? 16 Ein Recht auf Ausbildung sei weder explizit noch implizit in der Verfassung verankert. Im Gegensatz zum Wahlrecht fehle es auch an einem Nexus zu 373

Während im aufkommensschwächsten ($ 4.686 durchschnittliches Familieneinkommen) Schulbezirk $ 356 pro Schüler zur Verfügung standen, konnte der aufkommensstärkste Schulbezirk ($ 8001 durchschnittliches Familieneinkommen) $ 594 pro Schüler ausgeben. Vgl. ebd., S. 12ff. 374 337 F. Supp. 280, 282 (WD Tex. 1971). 375 San Antonio Independent School District v. Rodriguez , 411 U.S. 1, 17, 22f., 28 (1973). Hervorhebung durch H. Sch. 376 Lindsey v. Normet, 405 U.S. 56, 74 (1972). Hervorhebung durch H. Sch.

J. Nicht als suspekt anerkannte Klassifizierungen

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einem von der Verfassung explizit genannten Recht. Daher könne der „Strict Scrutiny Test" nicht angewendet werden. Vielmehr werde nur die Rationalität der Regelung überprüft. An dieser bestehe kein Zweifel, so daß das Finanzierungsschema verfassungsgemäß sei. 3 7 7 2. Kritische

Analyse

Powells Urteilsbegründung differiert von den an den Idealen der Gerechtigkeit und Fairneß ausgerichteten Entscheidungen des WarrenCourt. So betonte Powell, daß die Judikative nicht dazu benutzt werden könne, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen. 378 Obwohl er die enorme Bedeutung der Schulbildung für den einzelnen hervorhob, ein Faktor der in Brown v. Board of Education ausgereicht hatte, um die jahrzehntelange Praxis der Rassentrennung im Schulwesen aufzuheben, stellte Powell klar, daß die soziale Bedeutung allein kein Grund für das Eingreifen der Gerichte sein könne. Er stellte für die Anerkennung weiterer fundamentaler Rechte und suspekter Klassifizierungen das Erfordernis der expliziten oder impliziten Verankerung in der Verfassung auf. An diesem Erfordernis hätten die meisten der Innovationen des Warren-Court scheitern müssen. Powell schloß sich insofern den Kritikern des Warren-Court an, die gegen eine weitere Ausdehnung der richterlichen Kontrolldichte und für einen weniger aktivistischen Supreme Court argumentierten. Argumentativ wäre es in San Antonio Independent School District v. Rodriguez ebenso möglich gewesen, eine gleichwertige Ausbildung als Voraussetzung der demokratischen Gesellschaft zu bezeichnen. Diesen Weg war der Warren-Court bei den Wahlrechtsentscheidungen gegangen. 379 Schließlich ist der Hinweis auf die fehlenden textlichen Anknüpfungspunkte nicht zwingend. Schon in den Brown v. Board of Education vorausgehenden Entscheidungen forderte der Supreme Court faktisch gleiche Ausbildungsmöglichkeiten, ohne daß er ein fundamentales Recht oder eine suspekte Klassifizierung voraussetzte. 380 San Antonio Independent School District v. Rodriguez signalisierte den Beginn des zögerlichen Bruchs des Supreme Court unter den Chief Justices Burger und Rehnquist mit der Methodik des Warren-Court. 377

San Antonio Independent School District v. Rodriguez , 411 U.S. 1, 29ff., 35, 40, 58 (1973). 378 Ähnlich schon die Dissente des Richters Harlan in Reynolds v. Sims, Harper v. Virginia State Board of Elections und Shapiro ν. Thompson. Vgl. oben S. 115, 119 und S. 124. 379 So die Argumentation des Richters Thurgood Marshall in seinem Dissent zu San Antonio Independent School District v. Rodriguez , 411 U.S. 1, 70, 98ff. 380 Vgl. die Entscheidungen des Supreme Court zur Rassentrennung unmittelbar vor Brown ν. Board of Education, oben S. 74.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court II. Massachusetts Board of Retirement ν . Murgia Alter als suspekte Klassifizierung

Der Supreme Court entschied in dieser per curiam unterzeichneten Entscheidung, daß ein Gesetz des Bundesstaates Massachusetts verfassungsgemäß war, das Polizisten im Alter von 50 Jahren automatisch in den Ruhestand versetzte. Der Supreme Court verwies auf die mit fortschreitendem Alter zunehmenden gesundheitlichen Risiken, die ein rationaler Grund für das Gesetz seien. Eine strengere gerichtliche Kontrolle sei nur möglich, wenn ein fundamentales Recht betroffen sei oder die Vorschrift eine suspekte Klassifizierung beinhalte. Älteren Menschen könne jedoch keine suspekte Klassifizierung zugeordnet werden. Obwohl Diskriminierungen Älterer nicht von vornherein ausgeschlossen seien, gebe es keine Geschichte absichtlicher Ungleichbehandlung dieser Gruppe. Es liege keine isolierte Gruppe im Sinne der „Carolene Products Fußnote" vor. Folglich sei nicht der „Strict Scrutiny Test" anzuwenden, sondern der „Rational Basis Test", dem das Gesetz standhalte. 381 Thurgood Marshall wandte sich in seinem Dissent gegen das zweistufige Modell des Supreme Court. Nicht alle Gesetzgebung, auf die der „Strict Scrutiny Test" nicht anwendbar sei, könne nach dem „Rational Basis Test" automatisch verfassungsgemäß sein. Auch als nicht fundamental klassifizierte Rechte seien für die Lebensfähigkeit der freiheitlichen Gesellschaft unentbehrlich. Auch Angehörige einer nicht suspekten Klasse müßten gegen Diskriminierungen geschützt werden. Die Stufentheorie berge die Gefahr, daß andere relevante Faktoren übersehen werden. Dies sei am Gesetz des Bundesstaates Massachusetts erkennbar. Es gebe keinen Grund, warum Polizisten, die alle physischen Voraussetzungen für den Polizeidienst erfüllten, an der Ausübung ihres Berufs gehindert werden sollten. Zwar stimme es, daß Ältere nicht mit der suspekten Klasse der Schwarzen oder der quasi-suspekten Klasse der Frauen vergleichbar seien. Es gebe viele Gesetze, die Ältere schützten. Jedoch sei es nicht gerechtfertigt, ihnen ein so wichtiges Recht wie das der Berufsausübung zu entziehen. Statt dessen müsse der Staat nachweisen, daß das Gesetz ein substantielles Interesse fördere und auf seinen Zweck zugeschnitten sei. Das hier vorliegende Gesetz diene zwar einem wichtigen Zweck, sei jedoch zu weitreichend, da es auch gesunden und dienstfähigen Polizisten die Berufsausübung verwehre. 3 8 2 Die Abstimmungsmehrheit beschränkte sich auf eine Analyse nach der zuerst in der „Carolene Products Fußnote" dargelegten Methode, d.h. sie fragte, ob ältere Menschen traditionell benachteiligt worden sind. Thurgood Marshalls Kritik wendet sich grundsätzlich gegen das Scrutiny381 382

Massachusetts Bd. of Retirement ν. Murgia , 427 U.S. 307, 312ff. (1976). Ebd., S. 318 ff., 325 (Marshall, T., dissenting).

J. Nicht als suspekt anerkannte Klassifizierungen

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Schema. Durch die strenge Zweiteilung, die im Ergebnis die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit des überprüften Gesetzes zur Folge habe, würden wertungsrelevante Aspekte ausgeblendet. Marshalls Kritik trifft zu. Die Zuordnung des Sachverhalts zu einer Stufe innerhalb des Scrutiny-Schemas ersetzt den ungleich schwierigeren Prozeß, die Rationalität einer Regelung im einzelnen nachzuprüfen. III. City of Cleburne v. Cleburne Living Center der Schutz geistig Behinderter 1. Die Urteilsbegründung

der Abstimmungsmehrheit

Richter White war der Autor der Urteilsbegründung der Mehrheitsmeinung in einer Entscheidung, in der der Supreme Court eine Vorschrift der texanischen Stadt Cleburne für verfassungswidrig hielt. Diese Vorschrift schrieb eine Nutzungserlaubnis für den Betrieb von Einrichtungen vor, in denen geistig Behinderte lebten. Die jährlich zu erneuernde Genehmigung war auch für den Betrieb von solchen Einrichtungen nötig, die Alkoholiker, Drogensüchtige oder Strafgefangene beherbergten. 383 White begann seine Begründung mit einer Beschreibung der vom Supreme Court bei der Auslegung der Equal Protection Clause verwendeten Methodik. Grundsätzlich gelte für Gesetze die Vermutung der Verfassungsgemäßheit. Eine Ausnahme bestehe bei Klassifizierungen, die nach Rasse, Staatsangehörigkeit oder nationaler Herkunft unterscheiden. Diese Eigenschaften seien in der Regel für das Erreichen legitimer staatlicher Zwecke irrelevant. Klassifizierungen nach diesen Eigenschaften reflektierten oft Vorurteile und Antipathie und müßten daher dem „ Strict Scrutiny Test" unterworfen werden. Ähnliches gelte für Geschlechtsklassifizierungen, die häufig in keinem Verhältnis zum vorgegebenen Zweck stünden und daher am „Intermediate Scrutiny Test" zu messen seien. 384 Unter Berufung auf Massachusetts Board of Retirement v. Murgia argumentierte White, daß die Gerichte dann keinen strengeren Überprüfungsmaßstab anlegen könnten, wenn die Klassifizierung für staatliche Interessen relevant sei. In diesem Fall sei nur der „Rational Basis Test" zulässig. Dies gelte auch für geistig Behinderte, eine Gruppe, die sich tatsächlich von der Mehrheit unterscheide. Vom Kongreß und den Bundesstaaten seien zahlreiche Gesetze verabschiedet worden, die geistig Behinderte schützten, so daß kein Bedürfnis für eine stärkere richterliche Kontrolle bestehe. Gesetzgebung, die auf geistig Behinderte zugeschnitten sei, reflektiere meist tatsäch383 384

City of Cleburne v. Cleburne Living Center , 473 U.S. 432, 435ff. (1985). Ebd., S. 440f. Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

liehe Unterschiede. Aus der Zustimmung, die solchen Gesetzen von der zivilisierten und rechtschaffenen Gesellschaft zuteil werde, folge, daß sie nicht nur legitim, sondern auch erstrebenswert seien. Schließlich wäre es unmöglich, anderen Gruppen mit bleibenden Behinderungen, wie etwa älteren oder gebrechlichen Menschen, erhöhten gerichtlichen Schutz zu verweigern, wenn dieser geistig Behinderten zugestanden würde. Folglich sei der „Rational Basis Test" anwendbar, nach dem das Gesetz in einem rationalen Verhältnis zu einem legitimen Zweck der Regierung stehen müsse. 385 White wandte diesen Test auf die texanische Vorschrift an. Er kam zu dem Ergebnis, daß es keine rationale Basis dafür gebe, daß eine Nutzungsgenehmigung nur für Häuser erforderlich sei, die geistig Behinderte beherbergten, nicht aber für Krankenhäuser, Wohnheime, Seniorenheime. Die tatsächlichen Unterschiede, die zwischen geistig Behinderten und den Einwohnern der anderen Einrichtungen bestünden, seien für die Unterscheidung nicht relevant. White wies darauf hin, daß die negative Haltung von Einwohnern - eine Furcht, die nicht mit rationalen Faktoren erklärbar sei die Ursache der Regelung sei. Sie könne nicht von der Equal Protection Clause toleriert werden. Er zitierte Palmore v. Sidoti, daß private Vorurteile zwar nicht direkt vom Recht beeinflußt werden könnten, aber daß das Recht den Vorurteilen auch nicht zur Geltung verhelfen dürfe. Die Regelung sei nicht rational begründbar. Es liege ein Verstoß gegen die Equal Protection Clause v o r . 3 8 6 2. Die zustimmende Meinung des Richters Stevens Einen methodisch anderen Ansatz wählte Richter Stevens, dessen zustimmender Meinung sich Chief Justice Burger anschloß. Stevens bezweifelte, daß das Stufenmodell der Equal Protection Clause tatsächlich die Methode sei, nach der der Supreme Court Fälle unter der Equal Protection Clause löse. Vielmehr werde es nur zur Erklärung von Entscheidungen benutzt, die der Supreme Court nach einem einzigen Standard fälle. Es gehe ausschließlich um die Rationalität der Regelung. So wäre es völlig irrational, das Wahlrecht nach Größe, Gewicht oder Hautfarbe zu verleihen. Für diese Entscheidung sei keine erhöhte gerichtliche Kontrolle nötig. In Fällen unter der Equal Protection Clause habe das Gericht zunächst die Frage zu ent385

Ebd., S. 442, 444 ff. Hervorhebung durch H. Sch. Hervorhebung durch H. Sch. White setzte sich noch mit weiteren Begründungsmöglichkeiten für die Regelung auseinander, unter anderem der Behauptung, daß diese nötig sei, um der Flutgefahr zu begegnen oder eine nahegelegene Schule zu schützen und lehnte diese als unsubstantiiert ab. Die Aussonderung geistig Behinderter im Gegensatz zu vergleichbaren Gruppen sei rational nicht begründbar. Ebd., S. 448 f. 386

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scheiden, ob die ausgesonderte Klasse traditionell vom Recht benachteiligt worden sei. Dies sei Indiz dafür, daß keine rationale Beziehung zwischen Regelung und Regelungszweck bestehe, es sich vielmehr um eine von Vorurteilen geprägte Diskriminierung handele. Folglich würden rassische Klassifizierungen fast ausschließlich als irrational eingestuft, während soziale und wirtschaftliche Gesetze in der Regel als verfassungsgemäß beurteilt würden. Klassifizierungen, die nach Geschlecht oder Staatsbürgerschaft unterschieden, würden tatsächlich nicht nach dem „Intermediate Scrutiny Test" beurteilt. Statt dessen seien diese Charakteristika nicht in jedem Fall relevant. Dies gelte auch für die Klasse der geistig Behinderten. Einige sie aussondernde Regelungen seien rational. Gleichzeitig seien Behinderte oft Ignoranz und Vorurteilen ausgesetzt gewesen und unfair behandelt worden. Solche Faktoren seien auch Ursachen der irrationalen und daher verfassungswidrigen texanischen Regelung gewesen. 387

3. Der Dissent Thurgood Marshalls Richter Thurgood Marshall stimmte der Abstimmungsmehrheit nur im Ergebnis zu. Er lehnte es ab, nur den „Rational Basis Test" anzuwenden und bestand auf einem strikteren Kontrollmaßstab. Gleichzeitig warf er der Abstimmungsmehrheit vor, am „Rational Basis Test" nur zum Schein festzuhalten. Nach dem „Rational Basis Test" hätte die Legislative so viel Entscheidungsspielraum, daß die texanische Regelung für verfassungsgemäß erklärt werden müßte. 3 8 8 Beachtung verdient die Argumentation Thurgood Marshalls für einen strikteren Kontrollmaßstab für Regelungen, die geistig Behinderte aussondern. Marshall verwies auf die Bedeutung des Rechts auf Wohnung sowie die Geschichte der Diskriminierung geistig Behinderter. Insbesondere der Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts habe zur Diskriminierung von geistig Behinderten geführt. Sie seien als Bedrohung für die Gesellschaft dargestellt worden und hätten Ausgrenzung und Feindseligkeit erfahren. 389 Marshall setzte sich auch mit der Frage auseinander, ob das Verfassungsgericht die geeignete Institution zur Festlegung eines strikteren Kontrollmaßstabs bei Regelungen sei, die aufgrund geistiger Behinderung differenzierten: „Gerichte handeln nicht in einem sozialen Vakuum. Moralphilosophen mögen debattieren, ob bestimmte Ungleichbehandlungen absolut falsch sind. Es geht aus der Geschichte hervor, daß sich bestimmte Verfassungsprinzipien wie Freiheit, Eigentum und Due Process mit fortschreiten387 388 389

Ebd., S. 45Iff. (Stevens J., concurring). Ebd., S. 455, 459 f. (Marshall, T., concurring in part, dissenting in part). Ebd., S. 461 ff.

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der Zeit entwickeln. Was einmal natürlich und selbstverständlich war, wird später als willkürliche Beschränkung ... menschlicher Freiheit angesehen. ... Sich verändernde kulturelle, politische und soziale Denkmuster führen dazu, daß Praktiken der Vergangenheit als mit den fundamentalen Prinzipien der amerikanischen Gesellschaft unvereinbar betrachtet werden. " 39° Ein strikterer richterlicher Kontrollmaßstab sei erforderlich, um Gesetze zu überprüfen, die auf irrationalen und veralteten Vorurteilen gegenüber geistig Behinderten basierten und auf die gesellschaftliche Isolation dieser Gruppe zurückführbar seien. Solche Barrieren seien mit den sich entwikkelnden Gleichheitsvorstellungen unvereinbar. Die politische Einflußlosigkeit, die entsprechend der „Carolene Products Fußnote" Anhaltspunkt für striktere gerichtliche Kontrolle sei, sei insofern relevant, als aus ihr auf die soziale und kulturelle Isolation der Gruppe geschlossen werden könne. Die Isolation einer Gruppe dürfe nicht aus einer rein politischen Perspektive beurteilt werden. Vielmehr komme es darauf an, ob die Gruppe auch kulturell und sozial isoliert sei. Richter seien dann die kompetentesten Ratgeber, wenn die Gesellschaft Individuen als Mitglieder einer unerwünschten Gruppe stigmatisiere. Dies sei bei der texanischen Regelung der Fall. Sie verstoße gegen die Equal Protection Clause. 391

4. Kritische Analyse Thurgood Marshall beobachtete in seinem Dissent zutreffend, daß die Mehrheitsmeinung nicht den üblichen, dem Staat einen weiten Spielraum einräumenden „Rational Basis Test" angewendet hatte. Richter White prüfte, ob die Stadt Cleburne das Genehmigungserfordernis auch auf andere Einrichtungen wie zum Beispiel Krankenhäuser hätte ausdehnen müssen. Unter dem „Rational Basis Test" läßt der Supreme Court dem Staat in der Regel mehr Experimentierfreiheit. Insbesondere dürfen Probleme nach und nach gelöst werden, ohne daß Klassifizierungen auf ihre Vollständigkeit überprüft werden. 3 9 2 Die Begründung der Abstimmungsmehrheit ist als Versuch einzuordnen, der Anerkennung weiterer suspekter Klassifizierungen auszuweichen, aber dennoch ein unbilliges Ergebnis zu vermeiden. Whites 390

Marshall wies auf den Evolutionsprozess der Gleichheitsvorstellungen hin, der zur Aufhebung von Plessy v. Ferguson in Brown v. Board of Education und von Bradwell v. Illinois in Reed v. Reed geführt habe, ebd., S. 466. Hervorhebung durch H. Sch. 391 Ebd., S. 467, 472. 392 Siehe dazu Railway Express Agency ν. New York, 336 U.S. 106 (1949), wo der Supreme Court ausführte, daß die Equal Protection Clause den Staat nicht dazu zwinge, alle Mißstände auf einmal zu beseitigen. Der Staat könne vielmehr differenzieren und Schritt für Schritt („one step at a time") vorgehen.

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Begründung deutet auf eine typische Abwägungsentscheidung hin. Zur Begründung griff White auf die Sozialmoral zurück, indem er der Stadt Cleburne vorwarf, von Vorurteilen gegen Behinderte beeinflußt worden zu sein. White berief sich ein zweites Mal auf die gesellschaftlich dominanten Wertvorstellungen, als er begründete, warum geistig Behinderte keine suspekte, von der Gesellschaft ausgegrenzte Gruppe seien. Er legte Wert darauf zu betonen, daß Gesetze zu ihrem Schutz von der „zivilisierten Gesellschaft" gebilligt würden. Daraus folge, daß sie erstrebenswert seien. Das Bedürfnis für eine besonders strenge gerichtliche Kontrolle entfalle. Bei dieser Argumentation vertraute White auf die verbreitete Billigung der staatlichen Behindertenpolitik, um letztendlich darauf zu verzichten, geistig Behinderten den Status einer suspekten Klasse zuzugestehen. Beachtung verdienen auch die grundsätzlichen Ausführungen der Richter White und Stevens zum Scrutiny-Schema des Supreme Court. White charakterisierte das Schema in erster Linie als Relevanztest. Häufig irrelevante Klassifizierungen, wie etwa die an Rasse oder Geschlecht anknüpfenden Klassifizierungen, führten zu einer Verschiebung der Beweislast. Die generelle Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gelte nicht mehr. Das Scrutiny-Schema orientiert sich nach dieser Ansicht an der Relevanz der verwendeten Faktoren. Stevens verwendet statt dessen den Begriff der Rationalität und kommt zu einem ähnlichem Ergebnis. Rassische Klassifizierungen werden von ihm als grundsätzlich irrational eingeordnet. Die Begriffe der Relevanz und Rationalität sind hier austauschbar. Es ist jedoch festzuhalten, daß das Stufenschema des Supreme Court besser als Rationalitäts- oder Willkürkontrolle eingeordnet wird. Das einzige Wertungsmoment ist die Frage nach der Rationalität der Regelung. Das Scrutiny-System kann über diese Tatsache hinwegtäuschen. So ist auch erklärbar, warum der Supreme Court die Kontrolle auf den einzelnen ScrutinyEbenen nicht immer gleichmäßig handhabt. City of Cleburne v. Cleburne Living Center ist mit einem strikteren „Rational Basis Test" ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise. Stevens ist insofern zuzustimmen, als das Scrutiny-Schema keine zusätzlichen Kriterien zur Beurteilung der Rationalität der überprüften Regelung bieten kann. Die Beurteilung der Rationalität einer Regelung hängt, wie Thurgood Marshall aufgezeigt hat, von den sich entwickelnden Wertvorstellungen der Gesellschaft ab. Schließlich ist auf Thurgood Marshalls Bemerkungen zur institutionellen Rolle des Supreme Court einzugehen. Marshall umging die Schwierigkeiten der Mehrheitsmeinung, neue suspekte Klassifizierungen anzuerkennen, indem er einräumte, daß Gerichte nicht in

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

einem sozialen Vakuum agierten. Marshall akzeptierte, daß sich Verfassungsprinzipien in einer ständigen Entwicklung befinden. Der Inhalt der Equal Protection Clause müsse mit Rücksicht auf die sich entwickelnden Gleichheitsvorstellungen bestimmt werden. Marshall plädierte mit einer für Richter des Supreme Court seltenen Deutlichkeit für das Konzept einer lebendigen Verfassung, die an Traditionen und Wertvorstellungen des Volkes anknüpft. 393

IV. Die verfassungsrechtliche Behandlung von Homosexuellen 1. Bowers ν. Hardwick Der Supreme Court befaßte sich in dieser Entscheidung mit einem Gesetz des Bundesstaates Georgia, das bestimmte Formen des Geschlechtsverkehrs, unter anderem homosexuellen Geschlechtsverkehr, unter Strafe stellte. Der Kläger, der praktizierender Homosexueller war, fühlte sich durch dieses Gesetz in seinen Rechten aus der Equal Protection Clause verletzt. Richter White verfaßt die Urteilsbegründung für die knappe Abstimmungsmehrheit in diesem heftig umstrittenen Fall.

a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit White begann seine Urteilsbegründung mit der Frage, ob die Verfassung ein fundamentales Recht enthalte, homosexuellen Geschlechtsverkehr zu praktizieren. Der Kläger hatte sich auf das Recht auf Privatsphäre berufen, das in Pierce ν. Society of Sisters, Meyer ν. Nebraska, Skinner v. Oklahoma, Loving v. Virginia, Griswold v. Connecticut und anderen Fällen für bestimmte Aspekte der Privatsphäre anerkannt worden war. White lehnte eine Analogie ab. Es gebe keine Verbindung zwischen Familie, Ehe und Fortpflanzung auf der einen Seite und Homosexualität auf der anderen Seite. Fundamentale Rechte könnten nicht anhand der persönlichen Werte der Verfassungsrichter bestimmt werden. White zitierte die Formel Cardozos aus Palko v. Connecticut, nach der fundamentale Freiheiten notwendig Teil des Konzepts der Freiheitsordnung seien. Sie müßten, so White, tief in Geschichte und Traditionen der Nation verwurzelt sein. Dies sei bei homosexualen Aktivitäten nicht der Fall. Es gebe vielmehr eine Tradition von Verboten und Einschränkungen homosexuellen Verhaltens. Es sei vom common law als Straftat eingeordnet worden. Zur Zeit der Entstehung des 393

Ähnliche Äußerungen finden sich bereits im Poe v. Ullman- Dissent des Richters Harlan, in der Begründung des Richters Douglas in Harper ν. Virginia sowie neuerdings in der Mehrheitsmeinung in Planned Parenthood v. Casey.

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14. Amendments sei Homosexualität in 32 von 37 ratifizierenden Bundesstaaten verboten gewesen. White wiederholte seine Mahnung aus Moore v. City of East Cleveland, daß das Gericht am verwundbarsten sei, wenn es Verfassungsrecht schaffe, das keine Wurzeln in Text oder Struktur der Verfassung habe. Er verwies auf die Konfrontation zwischen Supreme Court und Exekutive in den dreißiger Jahren, beschwor die Gefahr des „Lochnerizing". Er kam zu dem Schluß, daß die Due Process Clause des 14. Amendments kein fundamentales Recht enthalte, homosexuellen Geschlechtsverkehr zu praktizieren. 394 Da kein fundamentales Recht einschlägig war, beurteilte White die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nach dem „Rational Basis Test". Das Gesetz des Staates Georgia sei rational, da es auf dem Glauben der Mehrheit der Wähler Georgias fuße, daß Homosexualität unmoralisch sei. Gerichte könnten nicht alle moralischen Entscheidungen der Legislative überprüfen. Das Gesetz sei folglich verfassungsgemäß. 395 b) Die zustimmende Meinung von Chief Justice Burger Bemerkenswert ist die zustimmende Meinung von Chief Justice Burger, die die Tradition der Bekämpfung der Homosexualität betonte. Burger argumentierte, daß die westliche Zivilisation traditionell homosexuelles Verhalten eingeschränkt habe. Die Verurteilung dieser Praxis sei fest in jüdischen und christlichen moralischen und ethischen Standards verwurzelt. Homosexueller Geschlechtsverkehr sei schon unter dem Römischen Recht strafbar gewesen. Blackstone habe Homosexualität als Verbrechen gegen die Natur bezeichnet, deren bloße Erwähnung eine Schande für die menschliche Natur sei. Das Gesetz des Bundesstaates Georgia habe ein Verbot aus dem englischen common law aufgegriffen. Daher wäre ein Jahrtausend moralischer Lehren verworfen worden, wenn entschieden worden wäre, daß homosexueller Geschlechtsverkehr als fundamentales Recht geschützt sei. 396 c) Der Dissent des Richters Blackmun Richter Blackmun griff in seinem Dissent die Fragestellung des Richters White an. Es gehe nicht darum, ob ein fundamentales Recht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr existiere. Vielmehr gehe es um das wichtigste Recht überhaupt, das Recht, allein gelassen zu werden. Das vom Kläger 394

Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186, 191 ff., 194f. (1986). Hervorhebungen durch H. Sch. 395 Ebd., S. 196. Hervorhebung durch H. Sch. 396 Ebd., S. 196f. (Burger, W., concurring). Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

behauptete Recht sei von dem in Roe ν. Wade anerkannten Recht auf Privatsphäre umfaßt, nach dem der einzelne die persönlichsten Entscheidungen seines Lebens ohne staatliche Einmischung treffen könne. Blackmun kritisierte insbesondere, daß die Abstimmungsmehrheit allein auf die moralische Wertung der Legislative Georgias vertraute. Er wies auf Loving ν. Virginia und Palmore v. Sidoti hin, wo es der Supreme Court abgelehnt habe, rassische Vorurteile zu tolerieren. 397

d) Anmerkung White gab vor, unabhängig von seinen persönlichen Wertvorstellungen zu entscheiden. Er argumentierte, daß die Legitimität des Gerichts nur durch eine zurückhaltende Interpretation der Equal Protection Clause gewahrt werden könne. Er verschwieg jedoch die Gründe, aus denen er eine Analogie zu früheren Entscheidungen ablehnte, in denen der Supreme Court auf bestimmten Gebieten ein Recht auf Privatsphäre anerkannt hatte. White gab als Grund für die unterschiedliche Behandlung an, daß in Bowers v. Hardwick keine Familieninteressen beeinträchtigt waren. Der Supreme Court hatte jedoch nicht alle früheren Entscheidungen zum Recht auf Privatsphäre auf familiäre Beziehungen begrenzt. So wurden die Rechte auf Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung unabhängig von dem familiären Status der Betroffenen anerkannt. 398 Whites Analyse war mehr von persönlichen Wertungen geprägt, als er glauben machen wollte. White lehnte es ab, die moralischen Entscheidungen der Legislative zu hinterfragen, zu prüfen, ob „Vorurteile" bei der Abfassung des Gesetzes eine Rolle gespielt hatten. White hatte erst ein Jahr zuvor in seiner Begründung zu City of Cleburne v. Cleburne Living Center eine Regelung der Legislative am „Rational Basis Test" scheitern lassen, weil sie auf Vorurteilen gegenüber geistig Behinderten basierte. 399 Der Zusammenhang zwischen moralischen Anschauungen und der Ablehnung des verstärkten gerichtlichen Schutzes wird dagegen in der auf die traditionellen ethischen Standards verweisenden zustimmenden Meinung von Chief Justice Burger deutlich. Sie erscheint wie ein Spiegelbild der zustimmenden Meinung des Richters Bradley aus Bradwell v. Illinois. Burger verhehlte nicht die seiner Ansicht nach relevanten ethischen Wertungen. Die Äußerungen von Chief Justice Burger und der dissentierenden Richter sind ein weiteres Beispiel dafür, daß verschiedene Richter des 397 398

Ebd., S. 199, 210ff. (Blackmun, H., dissenting). Vgl. Roe v. Wade, oben S. 131 und Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438, 453

(1972). 399

Siehe oben S. 153 f.

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Supreme Court die entscheidungsrelevanten Traditionen unterschiedlich beurteilen. In Bowers ν. Hardwick griff die konservative Mehrheit des Supreme Court auf eine Methode zur Ablehnung neuer fundamentaler Rechte zurück, die bereits Richter Rehnquist in seinem Dissent zu Roe ν. Wade benutzt hatte. Sie fragte, ob das konkret in Frage kommende Recht traditionell von den Bundesstaaten geschützt wurde. Nach dieser Vorgehensweise ist jede Analogie zu bereits anerkannten fundamentalen Rechten ausgeschlossen. Die Präjudizien des Supreme Court werden einschränkend interpretiert. Methodisch liegt ein Bruch mit früheren Entscheidungen vor. So wurde das Ergebnis in Griswold v. Connecticut durch eine Analogie zu Meyer v. Nebraska und Pierce ν. Society of Sisters erreicht. Griswold selbst war Ausgangspunkt für Roe v. Wade und Moore v. City of East Cleveland. Die von White angewandte Methode wird meist mit dem Hinweis auf Cardozos Definition der Due Process Clause in Palko v. Connecticut als Akkumulierung der Traditionen begründet, die für die Freiheitsordnung unentbehrlich sind (implicit in the concept of ordered liberty). 4 0 0 Sie stimmt jedoch nicht mit dem rechtstheoretischen Ansatz Cardozos überein. Cardozo bejahte das Konzept aktivistischer Gerichte. Richter sollten, so Cardozo, ihre Entscheidungen nicht an formelhaften Methoden, sondern an der sozialen Wirklichkeit orientieren. 401

2. Romer v. Evans a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit In diesem unlängst entschiedenen Fall hatte sich der Supreme Court mit der umstrittenen Frage auseinanderzusetzen, ob ein Zusatzartikel der Verfassung des Bundesstaates Colorado, der den speziellen Schutz Homosexueller durch Antidiskriminierungsgesetze verbot, mit dem 14. Amendment vereinbar ist. Dieser Zusatzartikel war nach einem Referendum in die Verfassung Colorados aufgenommen worden, das vor dem Hintergrund einiger Gesetze und Satzungen abgehalten worden war, die die Diskriminierung Homosexueller am Arbeitsplatz oder bei der Vergabe von Wohnungen verboten. Die Verfassungsänderung verbot es, Gesetze zu erlassen, die Homo : sexuelle als Gruppe klassifizierten. Homosexuellen war damit der Zugang zu demokratischen Institutionen insofern verwehrt, als sie auf diesem Weg nicht Schutz gegen Diskriminierungen suchen konnten. Der Schutz durch Gesetze, die nicht speziell Homosexuelle als Gruppe erwähnten, blieb von 400 401

Vgl. oben S. 59. Siehe dazu unten S. 210ff.

11 Schiwek

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der Verfassungsänderung unberührt. 402 Für die Gegner des Zusatzartikels ergaben sich zwei Argumentationsmöglichkeiten, um zu einer über den „Rational Basis Test" hinausgehenden richterlichen Überprüfung zu kommen. Zum einen konnten sie argumentieren, daß Homosexuelle traditionell Diskriminierungen ausgesetzt worden waren und daher zumindest eine „quasi-suspekte" Klasse bilden, so daß wie bei Geschlechtsklassifizierungen der „Intermediate Scrutiny Test" anwendbar wäre. Die andere Begründungsmöglichkeit wurde vom Supreme Court des Bundesstaates Colorado gewählt, der die Verfassungsänderung als Verstoß gegen das 14. Amendment der Bundesverfassung ansah, weil das fundamentale Recht auf Zugang zum politischen Prozeß verletzt worden sei. 4 0 3 Dieses Recht wurde in einer Analogie zu den Wahlrechtsentscheidungen des Supreme Court hergeleitet. Das Gericht Colorados hatte ausgeführt, daß der „Strict Scrutiny Test" anwendbar sei, sobald die Möglichkeiten einer identifizierbaren Gruppe, am politischen Prozeß teilzunehmen, eingeschränkt würden. Der Supreme Court diskutierte in einer von Richter Kennedy verfaßten Entscheidung keine der beiden Möglichkeiten, einen strikteren Kontrollmaßstab als den „Rational Basis Test" anzuwenden. Statt dessen beschränkte sich die Abstimmungsmehrheit darauf, den Zusatzartikel am „Rational Basis Test" scheitern zu lassen. Die Aussonderung Homosexueller diene keinem zulässigen Grund. Der einzig erkennbare Hintergrund der Vorschrift sei eine feindliche Haltung gegenüber Homosexuellen. Eine solche Aussonderung widerspreche der Verfassungstradition der Vereinigten Staaten und könne nicht rational begründet werden 4 0 4

b) Der Dissent des Richters Scalia Richter Scalia wandte sich in seinem Dissent gegen den Begründungsansatz des Supreme Court. Er berief sich auf das vom Supreme Court in Bowers v. Hardwick tolerierte Verbot des homosexuellen Geschlechtsverkehrs. Wenn es verfassungsgemäß sei, homosexuelles Verhalten als Straftat zu ahnden, könne a fortiori auch das Verbot speziellen Schutzes für Homosexuelle nicht gegen die Verfassung verstoßen. Scalia kritisierte die Behauptung der Mehrheitsmeinung, daß Animosität gegenüber Homosexuellen nicht der einzige Grund für deren Aussonderung sein dürfe. Er wies darauf hin, daß es in den Vereinigten Staaten eine Tradition der Bekämpfung der Homosexualität gebe, was in den homosexuellen Geschlechtsverkehr unter Strafe stellenden Gesetzen zum Ausdruck komme. Scalia berief 402 403 404

Siehe Romer v. Evans, 116 S.Ct. 1620, 1623 (1996). Evans v. Romer, 854 P.2d 1270 (Colo. 1993). Romer v. Evans, 116 S.Ct. 1620, 1628 f. (1996). Hervorhebung durch H. Sch.

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sich auf andere Gesetze, wie etwa das Verbot der Polygamie, die einzig aufgrund einer moralisch ablehnenden Haltung gegenüber der verfolgten Gruppe begründet werden könnten. Zudem hätten Homosexuelle besonders großen politischen Einfluß. Der Zusatzartikel sei ein demokratisch legitimer Versuch, diesem überproportionalen Einfluß zu begegnen. Die vorherrschende Sozialmoral solle gegen eine politisch besonders einflußreiche Gruppe verteidigt werden. Scalia warf der Abstimmungsmehrheit vor, nicht juristisch, sondern politisch zu argumentieren. Sie gebe der bei Juristen vorherrschenden, vom Kongreß jedoch nicht geteilten Ansicht Verfassungsrang, daß Homosexualität speziellen Schutz genieße. 405

c) Analyse Scalias Dissent ist insofern zuzustimmen, als die Entscheidung in Romer v. Evans schwer mit dem in Bowers ν. Hardwick tolerierten Verbot des homosexuellen Geschlechtsverkehrs vereinbar ist. In dieser Entscheidung billigte eine Mehrheit der Richter des Supreme Court implizit eine Tradition, die Homosexuelle aussonderte. Ein weiteres Mal konnten sich die Richter des Supreme Court nicht darauf einigen, welche Traditionen der Vereinigten Staaten für die Interpretation der Substantive Due Process Clause relevant sind. Eine Unterscheidung ist nur insofern möglich, als Bowers ν. Hardwick die Privatsphäre von Homosexuellen betraf, während Romer v. Evans die politischen Mitwirkungsrechte dieser Gruppe behandelt. Romer v. Evans wurde jedoch nicht aufgrund eines Rechts auf Teilnahme am politischen Prozeß entschieden, sondern aufgrund der unzulässigen Aussonderung der Gruppe der Homosexuellen. Bezüglich dieser von Animositäten gegenüber Homosexuellen nicht unbeeinflußten Praxis liegen keine Unterschiede zu Bowers ν. Hardwick vor. Das Vorgehen des Supreme Court in Romer v. Evans hat mit dem in City of Cleburne v. Cleburne Living Center Ähnlichkeit. In beiden Fällen scheute die Abstimmungsmehrheit davor zurück, ein neues fundamentales Recht beziehungsweise eine neue suspekte Klassifizierung anzuerkennen. Statt dessen wandte der Supreme Court einen besonders strikten „Rational Basis Test" an, um die untersuchte Regelung als irrational aufzuheben. Dennoch kommt das Verbot aus Romer v. Evans, Homosexuelle als Gruppe auszusondern, einem Diskriminierungsverbot gleich, das traditionell durch den Terminus „suspekte Klassifizierung" umschrieben w i r d . 4 0 6 405 Ebd., S. 1629, 1631, 1633 ff. (Scalia, A, dissenting). Hervorhebung durch Η. Sch. 406 Ähnlich C. R. Sunstein, Foreword: Leaving Things Undecided, 110 Harv. L. Rev. 4, 61 f. (1996).

11*

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court V. Die Rechte des biologischen Vaters - Michael Κ ν. Gerald D. 1. Die Mehrheitsmeinung

Richter Scalia war Autor der Begründung der Abstimmungsmehrheit in einem Fall, in dem es um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Kalifornien ging. 4 0 7 Das Gesetz schrieb vor, daß das Kind einer verheirateten Frau grundsätzlich als Kind ihres Ehegatten anerkannt wird, wenn die Frau mit ihrem Ehegatten zusammenlebt. Nur die Ehegatten selbst konnten diese gesetzliche Vermutung widerlegen. Der Kläger, der behauptete, ein Kind mit einer nicht mit ihm verheirateten Frau zu haben, wollte entgegen dem Gesetz als leiblicher Vater anerkannt werden. Zu entscheiden war, ob die Substantive Due Process Clause ein entsprechendes Recht beinhaltet. Scalia beschränkte die Auslegung der Substantive Due Process Clause auf historisch anerkannte Traditionen. Familiäre Werte seien traditionell tief in der Nation verwurzelt. Es gebe jedoch keine Tradition, die die außereheliche Vaterschaftsbeziehung schütze. 408 Bereits das common law sei von der Vermutung der Legitimität ehelich geborener Kinder ausgegangen. Außereheliche Beziehungen hätten weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart besonderen Schutz genossen. Folglich stehe dem Kläger kein fundamentales Recht auf Anerkennung als Vater zu. Das Gesetz Kaliforniens sei verfassungsgemäß. 409

2. Der Dissent des Richters Brennan Richter Brennan monierte in seinem Dissent die Methodik Scalias, nach einer bestimmten Tradition zu suchen, nach der nichteheliche Väter Rechte hinsichtlich ihrer Kinder hätten. Es sei eine Illusion anzunehmen, daß es bestimmte, objektiv erkennbare Traditionen gebe. Vielmehr sei unbestimmt, was eine bestimmte Tradition konstituiere und welche Traditionen für den Freiheitsbegriff relevant seien. Zudem müsse bestimmt werden, zu welchem 407 Michael H. v. Gerald D., 491 U.S. 110 (1989) (plurality opinion). Es handelt sich um eine Pluralitätsmeinung. Die fünfte Stimme für die Aufrechterhaltung des Gesetzes kam von Richter Stevens, der sich nicht der Begründung Scalias anschloß. Ebd., S. 132ff. (Stevens, J., concurring). 408 Scalia verteidigte seinen Ansatz, auf eine spezifische Tradition, hier Elternrechte, abzustellen und nach ihrem historischen Schutz zu fragen, in einer Fußnote, der jedoch nur ein weiterer Richter zustimmte. Er warf den dissentierenden Richtern vor, daß Generalisierungen wie „Familienrechte" manipulierbar seien, da man hierdurch Rechte konstruieren könne, die historisch nicht anerkannt seien. Ebd., S. 127, Fn. 6 (plurality opinion). Vgl. auch ebd., S. 132. 409 Ebd., S. 123 ff.

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Zeitpunkt eine Tradition obsolet werde. Die Pluralität sei nicht in der Lage, diese Entscheidungen mit objektiven Argumenten zu begründen. Brennan wandte sich auch gegen Scalias Einbeziehung des common law. Das common law könne weder den Eigentums- noch den Freiheitsbegriff der Verfassung definieren. Diese unbestimmten Begriffe enthielten weite verfassungsrechtliche Konzepte. Sie seien absichtlich so weit gefaßt, damit ihre Bedeutung aus der Erfahrung abgeleitet werden könne. Brennan verwies auch auf tatsächliche Veränderungen, so die gewachsenen technischen Möglichkeiten, die es erlaubten, die Vaterschaft durch Bluttests exakt zu bestimmen. Des weiteren spiele die Stigmatisierung unehelich geborener Kinder nicht mehr die gleiche Rolle wie in der Vergangenheit. Brennan warf der Abstimmungsmehrheit vor, den Verfassungsschutz auf die Rechte zu begrenzen, die traditionell geschützt seien und damit die Due Process Clause inhaltlich überflüssig zu machen. Dadurch werde die Verfassung zu einem archaischen und stagnierenden Instrument, das tief in den Vorurteilen vergangener Zeiten versunken sei. 4 1 0 3. Anmerkung Scalias Begründung in dieser Entscheidung gleicht methodisch der des Richters White in Bowers ν. Hardwick. Durch das vom Supreme Court aufgestellte Erfordernis, nach dem das konkret in Frage stehende Recht traditionell anerkannt sein muß, um den Schutz der Due Process Clause zu genießen, gelingt es, die Anerkennung neuer fundamentaler Rechte auszuschließen. Wie Brennan in seinem Dissent feststellte, wird nach der von der Abstimmungsmehrheit benutzten Methode von der Substantive Due Process Clause nur umfaßt, was ohnehin schon geschützt ist. Brennan kritisierte auch zu Recht, daß die Begrenzung auf Traditionen Verfassungsinterpretation nicht objektiver macht. Es bleibt bei der unvermeidbaren Bestimmung der relevanten Traditionen, einer wertenden Entscheidung. Vielmehr liegt der von den Richtern Rehnquist, Scalia und White propagierten Methode der Wunsch nach einem gesellschaftlich weniger aktiven Verfassungsgericht zu Grunde. Diese Vorgehensweise ist verfassungsrechtlich nicht unzulässig. Die amerikanische Verfassung scheibt nicht zwingend vor, daß der Supreme Court eine Agenda verfolgt, die der des WarrenCourt gleicht. Jedoch ist der Schritt zu einer zurückhaltenden Methode der Verfassungsinterpretation nicht weniger wertungsintensiv als der Aktivismus, der die Verfassungsrechtsprechung der sechziger Jahre dominierte.

410

Ebd., S. 137 ff. (Brennan, W., dissenting). Hervorhebung durch H. Sch.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court VI. Das Recht auf menschenwürdiges Sterben 7. Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit

Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health war der erste Fall, in dem sich der Supreme Court mit dem Recht auf menschenwürdiges Sterben befaßte. Nancy Cruzan, in deren Namen der Supreme Court angerufen worden war, lag nach einem Autounfall über sechs Jahre lang im Koma und wurde nur durch künstliche Ernährung am Leben erhalten. Ihre Angehörigen wollten die lebenserhaltenden Maßnahmen beenden. Dies wäre nach den Gesetzen des Bundesstaates Missouri nur möglich gewesen, wenn klare Beweise für Nancys diesbezüglichen Willen vor dem Unfall vorgelegen hätten. 411 Die Familie Nancys war sich aufgrund früherer mit Nancy geführter Gespräche sicher, daß diese keine künstliche Verlängerung ihres Lebens wünschte. Dies reichte nicht aus, um den Beweisanforderungen der Gesetze Missouris gerecht werden. Chief Justice Rehnquist verfaßte die Urteilsbegründung für die Abstimmungsmehrheit. Er kam zu dem Ergebnis, daß aus den common-law-Präjudizien ein Recht ableitbar sei, ungewollte medizinische Behandlungen abzulehnen. Ferner erkenne die Due Process Clause des 14. Amendments ein Interesse des einzelnen an, über medizinische Behandlungen zu entscheiden. Dieses Interesse müsse jedoch gegen das Interesse des Staates abgewogen werden, menschliches Leben zu schützen. Dieses Interesse werde von allen zivilisierten Nationen anerkannt, die Totschlag als schweres Verbrechen bestraften. Der von Missouri verlangte strikte Beweisstandard sei legitim, da es sich um eine Entscheidung von höchster Bedeutung handele. Der Staat sei verpflichtet, eventuellen Mißbräuchen vorzubeugen. Die Due Process Clause erlege dem Staat nicht die Pflicht auf, die Entscheidung über den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen anderen Personen als dem Betroffenen zu überlassen. Rehnquist betonte, daß nicht die Frage entschieden würde, ob die Entscheidung des Betroffenen selbst zu respektieren sei. Es gehe vielmehr um die Befugnis des Staates, für diese Entscheidung bestimmte Beweisanforderungen zu stellen. Das Gesetz Missouris sei daher verfassungsgemäß. 412

411

Der gesetzliche Standard verlangte „clear and convincing evidence". Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health, 497 U.S. 261, 265 f. (1990). 412 Ebd., S. 277 ff., 286f. Hervorhebung durch H. Sch.

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b) Die Dissente der Richter Brennan und Stevens Richter Brennan kritisierte in seinem Dissent das Abwägungsergebnis der Abstimmungsmehrheit. Das Interesse des Staates müsse vielmehr dem fundamentalen Recht des Betroffenen weichen, über künstliche Lebensverlängerung zu entscheiden. Die von Missouri vorgeschriebenen Beweisanforderungen hinsichtlich des Willens des Betroffenen schränkten dieses fundamentale Recht zu sehr ein und verstießen gegen die Due Process Clause des 14. Amendments. Brennan argumentierte, daß das Recht, über seinen eigenen Körper zu bestimmen, Teil der Traditionen der Nation sei. Er beschrieb das Leiden der Klägerin detailliert und kam zu dem Schluß, daß das staatliche Interesse an der Lebenserhaltung zurückweichen müsse. 413 Richter Stevens verwies in seinem Dissent auf die Tradition, den einzelnen vor solchen Beeinträchtigungen zu schützen, die seine Menschenwürde betreffen. Die Entscheidung über den Tod treffe den Kern des Freiheitsrechts. Die ethischen Traditionen der Nationen hätten immer auf dem Zusammenhang zwischen Leben und Tod verwiesen. Das Leben der Klägerin sei gegenwärtig auf physiologisches Funktionieren begrenzt. Die Idee des Lebens gehe aber von mehr als der bloßen Reduktion auf physische Funktionen aus. Leben werde immer im Zusammenhang mit den Interessen des einzelnen verstanden. Missouri ignoriere diese Interessen. Die überhöhten Beweisanforderungen seien nicht rational begründbar und daher verfassungswidrig. 414 Es handelt sich um eine Abwägungsentscheidung. Ihr Ergebnis wird wiederum von dem Traditionsverständnis der Richter der Mehrheitsmeinung beeinflußt. Chief Justice Rehnquist nutzte das common law als Quelle für die verfassungsrelevanten Traditionen. Die Richter Stevens und Brennan stellten hingegen auf die historisch anerkannte Verfügungsfreiheit über das Leben ab. 2. Washington v. Glucksberg Dieser vom Supreme Court jüngst entschiedene Fall verdient nicht nur wegen seiner Aktualität besondere Aufmerksamkeit. Die Unterschiede zwischen der von Chief Justice Rehnquist verfaßten Mehrheitsmeinung und der zustimmenden Meinung des Richters Souter unterstreichen die methodische Inhomogenität des gegenwärtigen Supreme Court. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates Washington, das Beihilfe zum Selbstmord bestrafte. Die Kläger waren 413 414

Ebd., S. 302 ff., 310, 312, 316. (Brennan, W., dissenting). Ebd., S. 330, 342ff. (Stevens, J., dissenting).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Ärzte, die unheilbar Erkrankte behandelten. Sie wollten diesen Patienten die Möglichkeit geben, ihr Leiden zu beenden, sahen sich daran jedoch durch das Strafgesetz des Bundesstaates gehindert.

a) Die Urteilsbegründung der Abstimmungsmehrheit Chief Justice Rehnquist begann seine Ausführungen zu der Frage, ob die Due Process Clause des 14. Amendments dem einzelnen ein Recht auf Selbstmord verleihe, mit einer Erörterung der Traditionen der Vereinigten Staaten. Rehnquist kam zu dem Ergebnis, daß die Mißbilligung des Selbstmords einen zentralen Platz im philosophischen, rechtlichen und kulturellen Erbe der Vereinigten Staaten einnehme. Er berief sich auf alte englische Traditionen, die später vom amerikanischen common law übernommen worden seien. Er verwies darauf, daß zur Zeit der Verabschiedung des 14. Amendments die Beihilfe zum Selbstmord in den meisten Bundesstaaten strafbar war und wandte sich den gegenwärtig in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Vorschriften zu. Rehnquist betonte, daß sich die einzelnen Bundesstaaten sehr intensiv mit der Frage auseinandersetzten, wie menschenwürdiges Sterben ermöglicht werden könne, jedoch gleichzeitig überwiegend am Verbot der Beihilfe zum Selbstmord festhielten. 415 Rehnquist bekräftigte sein Widerstreben, den Anwendungsbereich der Substantive Due Process Clause zu erweitern. Er verwies auf die Gefahr, daß die persönlichen Präferenzen der Verfassungsrichter die Due Process Clause transformieren könnten. Daher müßten zwei Voraussetzungen erfüllt sein, bevor ein neues fundamentales Recht unter der Due Process Clause anerkannt werden könne. Das Interesse müsse genau umschrieben werden und in Traditionen und Geschichte der Nation tief verwurzelt sein beziehungsweise dem Konzept geordneter Freiheit (concept of ordered liberty) entsprechen. Das Erfordernis, daß das in Frage stehende Recht mit den rechtlichen Traditionen des Landes im Einklang stehen müsse, schränke die subjektiven Faktoren ein, die bei der Anwendung der Substantive Due Process Clause notwendig präsent seien. Zudem eliminiere diese Voraussetzung das Erfordernis die Notwendigkeit einer komplexen Interessenabwägung. 416 Der Fall sei, so Rehnquist , nicht mit der Entscheidung in Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health vergleichbar. Diese Entscheidung, die ein Recht anerkannt habe, ungewollte medizinische Behandlung abzulehnen, habe mit den rechtlichen Traditionen der Vereinigten Staaten überein415 Washington v. Glucksberg, 65 USLW 4699, 4671 ff. (1997). Hervorhebung durch H. Sch. Vgl. auch den Parallelfall, Vaco ν. Quill, 65 USLW 4695 (1997). 416 Washington v. Glucksberg, 65 USLW 4699, 4674 (1997). Hervorhebung durch H. Sch.

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gestimmt. Sie habe dieses Recht nicht aus einem abstrakten Konzept der personellen Autonomie deduziert. Der vorliegende Fall unterscheide sich von Cruzan insofern, als Selbstmord nicht mit ungewollter medizinischer Behandlung vergleichbar sei. Da die Traditionen der Vereinigten Staaten nicht das Recht beinhalteten, sich selbst zu töten, könne kein derartiges fundamentales Interesse unter der Due Process Clause anerkannt werden. 4 1 7 Der Supreme Court wandte daraufhin den „Rational Basis Test" an und kam zu dem Ergebnis, daß der Bundesstaat Washington ein rationales Mittel benutzt habe, um Kranke und Schwache zu schützen. Rehnquist verwies insbesondere auf empirische Forschungen, die das häufige Aufeinandertreffen von behandelbaren Depressionen und Selbstmordabsichten festgestellt hatten. Der Chief Justice Schloß seine Ausführungen mit der nochmaligen Bekräftigung, daß keine Interessenabwägung nötig gewesen sei und die Debatte über die Zulässigkeit der Beihilfe zum Selbstmord besser in den Bundesstaaten geführt werde. 4 1 8

b) Die zustimmenden Meinungen Der Supreme Court hielt das angefochtene Gesetz Washingtons zwar einstimmig für verfassungsgemäß. Es bestand jedoch keine Einigkeit hinsichtlich der Urteilsbegründung. Die Richterin O'Connor , die der Mehrheitsmeinung zugestimmt hatte, fügte in ihrer zustimmenden Meinung hinzu, daß zwar grundsätzlich kein Recht auf Selbstmord anerkannt werden könne. Sie Schloß jedoch nicht aus, daß in bestimmten Fällen ein Recht auf Beendigung menschlichen Leidens existiere. 419 Aus methodischer Hinsicht verdient jedoch die zustimmende Meinung des Richters Souter besondere Aufmerksamkeit. Souter stimmte der von Chief Justice Rehnquist dargelegten Substantive-Due-Process-Methodologie nicht zu. Er berief sich vor allem auf den Dissent des Richters Harlan in Poe v. Oilman , dessen Ansicht vom Supreme Court in späteren Entscheidungen, unter anderem Griswold v. Connecticut und Planned Parenthood v. Casey , aufgegriffen worden war. Ständige Verfassungspraxis habe, so Souter, dem Freiheitsbegriff der Due Process Clause einen substantiellen Inhalt gegeben. Bei der Ausfüllung der Substantive Due Process Clause könne der Supreme Court nicht von absoluten Prinzipien ausgehen. Statt dessen müsse jedes der beteiligten Interessen im Lichte der Entwicklungsgeschichte der Werte des Volkes gesehen werden. Nicht auf deduktivem Wege, sondern durch Abwägung der beteiligten Interessen müsse der Supreme 417 418 419

Ebd., S. 4675 f. Ebd., S. 4678. Ebd., S. 4678f. (O'Connor, S., concurring).

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Court bestimmen, ob ein Gesetz vernünftig sei. Bei der Interessenabwägung dürften, so Souter, jedoch nicht die persönlichen Moralvorstellungen der Richter entscheiden. Es komme auf die Werte an, die von verfassungsrechtlicher Statur seien, d.h. die entweder im Text der Verfassung verankert seien oder den von der Nation akzeptierten Traditionen entsprächen. Souter zog das common law zum Vergleich heran und hob hervor, daß die allmähliche Entwicklung des common law einer „alles-oder-nichts"-Methode vorzuziehen sei. 4 2 0 c) Kritische Analyse Die methodischen Ausgangspositionen der Richter Rehnquist und Souter unterscheiden sich auf den ersten Blick kaum. Beide betonen im Einklang mit Cardozos „ordered liberty"-Formel aus Palko v. Connecticut, daß der substantielle Inhalt der Due Process Clause nicht ohne Rückgriff auf die akzeptierten Traditionen des Landes bestimmt werden könne. Beide Richter versuchen dem Vorwurf des „Lochnerizing" auszuweichen, indem sie den Einfluß subjektiver Faktoren, d.h. der Richtermoral, zu minimieren versuchen. Rehnquists Ansatz ist jedoch der wertkonservativere. Im Gegensatz zu Souter, der auf den flexibleren Traditionsbegriff Harlans vertraut, beschränkt Rehnquist fundamentale Rechte auf solche Interessen, die traditionell rechtlichen Schutz genießen. Rehnquist will durch das Erfordernis der rechtlichen Verfestigung der Tradition den Einfluß der jeweils herrschenden Moralvorstellungen verringern, Dieser Ansatz minimiert den Wirkungskreis des Verfassungsgerichts ungemein, geht es bei verfassungsrechtlichen Streitigkeiten doch meist um den Schutz von Rechten, die sich noch nicht auf eine verfestigte Tradition stützen können. Souter vertritt einen lebendigeren Verfassungsbegriff. Er verzichtet darauf, die rechtliche Verfestigung der Wertvorstellungen zur Voraussetzung ihres verfassungsrechtlichen Schutzes zu machen. Vielmehr vergleicht er das Verfassungsrecht mit dem common law. Bei der Verfassungsinterpretation komme es wie im common law in erster Linie auf eine Interessenabwägung an. Rehnquists Ansatz kann nicht überzeugen. Rehnquist gibt vor, frei von persönlichen Wertungen nur unter Beachtung rechtlich abgesicherter Traditionen vorzugehen. Dennoch gelang der Vergleich des Falls mit dem von den Klägern angeführten Präjudiz, Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health, nicht wertungsfrei. Die Frage, inwiefern die Beendigung des Lebens durch Vorenthalten lebensnotwendiger medizinischer Versorgung 420

Ebd., S. 4683 f., 4687 f. (Souter, D., concurring). Hervorhebung durch H. Sch.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende Betrachtung

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dem aktiven Töten vergleichbar ist, kann nicht allein durch den Rückgriff auf rechtlich verfestigte Traditionen beantwortet werden. Washington v. Glucksberg schließt sich an eine Reihe von Entscheidungen an, in denen es der Supreme Court unter Chief Justice Rehnquist vermied, neue fundamentale Rechte beziehungsweise suspekte Klassifizierungen anzuerkennen. Der Burger-Court hatte die Tendenz der Beschränkung aktivistischer Verfassungsinterpretation begründet, jedoch nicht konsequent durchhalten können. Er wird daher als „Transitional Court" eingeordnet. Unter Chief Justice Rehnquist haben sich häufiger Mehrheiten gefunden, die sich gegen die Ausweitung der von der Verfassung geschützten Individualrechte aussprachen. Der Rehnquist-Court wird daher als minimalistisches Gericht charakterisiert, das versucht, konservative Werte unter dem Schleier der Neutralität in die Verfassungsinterpretation einzuführen. 421 Dieser Wandel in der Rechtsprechung des Supreme Court ist im Zusammenhang mit der Veränderung der dominanten gesellschaftlichen Werte der Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren zu sehen. 422 Die Sensitivität gegenüber Veränderungen der Sozialmoral, die in den sechziger Jahren zu den innovativen Entscheidungen des Warren-Court geführt hatte, verursachte zwei Jahrzehnte später die konservativere Ausrichtung des Supreme Court unter Chief Justice Rehnquist 423

Κ. Die Rolle der Sozialmoral in der Rechtsprechung des Supreme Court - systematisierende Betrachtung I. Die Aufgabenstellung Das Ziel der Untersuchung ist es, den Einfluß solcher Faktoren auf die Rechtsprechung des Supreme Court zu bestimmen, die außerhalb der Verfassung angesiedelt sind. Diese Faktoren wurden unter dem Begriff Sozialmoral zusammengefaßt. Sie umfassen die als entscheidungsrelevant angesehenen Traditionen, moralische und politische Wertungen. Es wurde keine Unterscheidung von „Zeitgeist", d.h. der gegenwärtig vorherrschenden 421

C. R. Sunstein (Fn. 406), S. 4; Vgl. auch E. Chemerinsky (Fn. 74); M. J. Horwitz (Fn. 30). 422 Bis auf Präsident Carter, in dessen Amtszeit keine Nominierung eines Supreme-Court-Richters fiel, gehörten alle Präsidenten der siebziger und achtziger Jahre der republikanischen Partei an. Sie hatten ihren Wahlkampf auf konservative Werte und gegen eine aktivistische Rechtsprechung des Supreme Court ausgerichtet. Folgerichtig nominierten sie nur solche Richter für den Supreme Court, die ihre Theorie der restriktiven Verfassungsinterpretation teilten. 423 G. A. Spann (Fn. 158), S. 1973; H. Vorländer, Forum Americanum, JöR N.F., Bd. 36 (1987), 451, 483 ff.

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öffentlichen Meinung, und „Tradition" im Sinne von über einen längeren Zeitraum dominanten Wertungen getroffen. Dem Einfluß von außerhalb der Verfassung angesiedelten Faktoren stehen die traditionellen Interpretationsmethoden gegenüber. Diese beschränken sich auf die Analyse der Präjudizien, des Textes, der Entstehungsgeschichte und der Systematik der Verfassung. Diese Rechtserkenntnisquellen sind jedoch selbst wertungsanfällig. Folglich war bei der Untersuchung des Einflusses der Sozialmoral auf die Verfassungsinterpretation auch auf die traditionellen Methoden einzugehen. Bisher wurde der Einfluß der Sozialmoral bei der Darstellung der wichtigsten Entscheidungen des Supreme Court zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause aufgezeigt. Dabei ist deutlich geworden, daß kaum eine Entscheidung ohne die Zuhilfenahme moralischer Erwägungen begründet werden konnte. Die Einbeziehung moralischer Argumente vollzog sich nicht auf uniforme Weise. Moralische Erwägungen fanden durch eine Vielzahl von Argumentationsmustern Eingang in die Urteilsbegründungen. Der folgende Abschnitt bemüht sich um eine Systematisierung dieser Argumentationsmuster. II. Offene moralische Argumente Diese Klasse von Argumenten war bei den dargestellten Entscheidungen am seltensten anzutreffen. Ihre Verwendung ist mit der Vorstellung verbunden, daß Richter ihre Kompetenz überschreiten, wenn sie nicht juristisch, sondern „politisch" argumentieren, d.h. Wertungen nicht mit traditionellen Methoden begründen, sondern allein auf moralische Argumente zurückgreifen. Beispiele für Urteilsbegründungen des Supreme Court, deren Argumente dieser Kategorie zugeordnet werden können, sind etwa die zustimmenden Meinungen des Richters Bradley in Bradwell v. Illinois und von Chief Justice Burger in Bowers v. Hardwick. Schließlich finden sich in einigen Entscheidungen des Supreme Court moralische Argumente unter Verweis auf das Naturrecht. 424 In Entscheidungen vor Inkrafttreten des 14. Amendments waren Verweise auf das Naturrecht nicht ungewöhnlich. 425 Die Verwendung naturrechtlicher Argumente dominierte jedoch nicht die Verfassungsinter424 Naturrechtliche Argumente werden hier als Beispiel für moralische Wertungen behandelt, d.h. sie werden in den hier verwendeten Sozialmoralbegriff einbezogen. Diese Vorgehensweise ist nicht mit der Prämisse von Vertretern naturrechtlicher Denkschulen vereinbar, daß das Naturrecht nicht nur vorpositiv sei, sondern auch unabhängig von seiner gesellschaftlichen Akzeptanz existiere. Naturrechtliche Argumente werden als Ausdrucksmittel moralischer Wertungen aufgefaßt. Falls diese Wertungen gesellschaftlich dominant sind, werden sie der Sozialmoral zugeordnet.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende B e t r a c h t u n g 1 7 3 pretation des 19. Jahrhunderts. Vielmehr war, wie Dred Scott v. Sandford zeigt, das Verständnis verbreitet, daß die Verfassung ohne Hilfsmittel von außen angewendet werden könne. Es gab ein zumindest teilweises Wiederaufleben naturrechtlicher Argumentation bei der Interpretation der Due Process Clause um die Jahrhundertwende. Das Recht auf Vertragsfreiheit wurde etwa von Richter Peckham als „gottgegeben" bezeichnet. 426 Eltern wurde ein „natürliches Erziehungsrecht" zugestanden. 427 Mit dem Niedergang der Lochner-Rechtsprechung schwand auch die Neigung der Richter des Supreme Court, moralische Wertungen mit dem Verweis auf das Naturrecht zu begründen. Moralische Weitungen fanden jedoch weiter Eingang in die Urteilsbegründungen des Supreme Court. Eine bis heute verbreitete argumentative Technik bedient sich der Unabhängigkeitserklärung, die nicht selbst Teil der Verfassung geworden war, deren Inhalt jedoch die Ausgestaltung der Verfassung durch den Supreme Court beeinflußte. Insbesondere wurde häufig der Verweis der Unabhängigkeitserklärung auf das gottgegebene Recht auf Streben nach Glück (pursuit of happiness) zitiert, um moralische Wertungen zu begründen. Beispiele für diese Vorgehensweise finden sich in den Urteilsbegründungen zu Yick Wo v. Hopkins, Allgeyer v. Louisiana, Meyer v. Nebraska und Griffin v. Illinois. Insbesondere bei der Auslegung der Due Process Clause neigt der Supreme Court dazu, moralische Wertungen auf Gerechtigkeitsprinzipien zu stützen. Moralische Wertungen werden so Teil der Urteilsbegründungen, ohne daß der Ursprung der Gerechtigkeitsprinzipien preisgegeben wird. Diese Vorgehensweise geht auf Cardozos Urteilsbegründung in Palko v. Connecticut zurück und wurde etwa von Richter Frankfurter in Adamson v. California befolgt. Jedoch sind Entscheidungen, die sich hauptsächlich auf das Naturrecht oder Gerechtigkeitsprinzipien stützen, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts kaum anzutreffen. Insofern hat der legal realism nachhaltig Einfluß auf die Ausgestaltung der Urteilsbegründungen genommen. Auch der Niedergang der Loc/wer-Rechtsprechung hatte seine Auswirkungen auf die Urteilsgestaltung des Supreme Court. Die Richter schreckten davor zurück, Entscheidungen allein durch Verweise auf das Naturrecht, die Unabhängigkeitserklärung oder abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien zu begründen. Auf425

Vgl. etwa Calder v. Bull , 3 U. S. (3 Dali.) 386 ff. (1798) und hierzu W. Brugger, Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, in: Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, R. Dreier (Hrsg.), ARSP Beiheft 37, 1990, S. 173, 174 f. 426 Vgl. Allgeyer v. Louisiana, oben S. 45. 427 Vgl. Meyer v. Nebraska, oben S. 56 und den Griswold-v.-Connecticut- Dissent des Richters Black, oben S. 129, der die Due-Process-Philosophie des Supreme Courts als „Naturrechtsphilosophie" einstufte.

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fällig ist, daß die Naturrechtsbewegung in der amerikanischen Rechtstheorie428, die zum Niedergang des legal realism geführt hatte, keine nennenswerten Spuren in der Rechtsprechung des Supreme Court hinterlassen hat. In der jüngeren Rechtsprechung des Supreme Court finden sich offene moralische Argumente in der Regel im Zusammenhang mit Abwägungsentscheidungen. Sie werden daher in einem späteren Abschnitt dargestellt.

III. Gemeinwohlorientierte Argumente Unter dieser Bezeichnung werden diejenigen Argumente zusammengefaßt, die auf die Sozialnützigkeit des vom Supreme Court beurteilten Verhaltens abstellen. Diese Kategorie unterscheidet sich von der soeben behandelten dadurch, daß nicht die Richtigkeit des in Frage stehenden Gesetzes, sondern seine Zweckmäßigkeit im Vordergrund steht. Es geht darum, was „das Beste für die Gesellschaft" ist. Zweckmäßigkeitsargumente sind, wie offene moralische Argumente, Spiegelbilder der von den Richtern als relevant angesehenen Wertvorstellungen. Richter können nicht ohne Einfluß ihres Weltbildes entscheiden, was der Gemeinschaft nützt, welche Ziele sie verfolgen soll. 4 2 9 Gemeinwohlorientierte Argumente wurden bei der Interpretation des 14. Amendments bereits früh verwendet. Richter Brown verwies in Plessy v. Ferguson darauf, daß die Rassentrennung nur im Dienst des Gemeinwohls toleriert werden könne. Dieser Argumentation lag die Prämisse zugrunde, daß die Institution der Rassentrennung überhaupt für das Gemeinwohl förderlich sei. Lochner v. New York, die nächste folgenschwere Entscheidung des Supreme Court, ließ nur solche Beschränkungen der Vertragsfreiheit zu, die nicht willkürlich waren und dem Gemeinwohl dienten. Die Abstimmungsmehrheit kam in dieser Entscheidung zu dem Ergebnis, daß die Beschränkung der wöchentlichen Arbeitszeit für Bäcker nicht dem Gemeinwohl diene. Der von Richter Harlan verfaßte Dissent zu dieser Entscheidung plädierte dagegen für die Zweckmäßigkeit der von der Abstimmungsmehrheit aufgehobenen Vorschrift. Auch in der die Lochner-Doktrin aufhebenden Entscheidung, West Coast Hotel v. Parrish, griff der Supreme Court auf Gemeinwohlargumente zurück. Die Abstimmungsmehrheit führte aus, daß Arbeitgeber, die Arbeitnehmer ausbeuteten, dem öffentlichen Interesse schadeten. Chief Justice Warren schätzte in Brown v. Board of Education die Sozialnützigkeit der Rassentrennung anders ein als die Richter in Plessy v. 428 429

Siehe unten S. 229 f. Vgl. dazu die Darstellung zu Cardozos „Methode der Soziologie", unten S. 213.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende Betrachtung

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Ferguson. Warren verwies auf die überragende Bedeutung der Schulausbildung und lehnte die Rassentrennung als untaugliches Mittel zur Förderung des Gemeinwohls ab. Die Gemeinnützigkeit ist jedoch nicht immer ein in den Begründungen des Supreme Court akzeptiertes Argument. So erklärte Richter Powell in San Antonio Independent School District v. Rodriguez , daß die soziale Wichtigkeit der Schulbildung keinen Einfluß auf die Auslegung des 14. Amendments haben könne. Powells Begründung ist ein Indiz für den Willen des Burger-Courts, die aktivistische Rechtsprechung des WarrenCourts nicht weiter fortzusetzen. Der Supreme Court, so Richter Harlan in seinem Dissent in Shapiro ν. Thompson, dürfe nicht jedes neue soziale Problem durch die Schaffung neuer Verfassungsprinzipien lösen. Auf diese institutionellen Bedenken, die sich gegen eine von Sozialnützlichkeitserwägungen geleitete Jurisprudenz des Supreme Court richteten, wird später einzugehen sein. IV. Die Rolle der öffentlichen Meinung Unter dieser Kategorie werden solche Argumente zusammengefaßt, die auf die öffentliche Meinung zum Zeitpunkt der Entscheidung Bezug nehmen. 430 In der Regel gibt der Supreme Court vor, von tagespolitischen Einflüssen frei zu sein. Es gibt Ausnahmen von dieser Praxis. 431 So plädierte Holmes in seinem vielzitierten Lochner- Dissent dafür, der dominanten Meinung im Regelfall zur Geltung zu verhelfen. Richter Jackson wies in West Virginia State Board of Education ν. Barnette darauf hin, daß die öffentliche Meinung die Autorität kontrolliere und nicht die Autorität die öffentliche Meinung. In Roe ν. Wade und Planned Parenthood v. Casey konstatierte die Abstimmungsmehrheit jeweils, daß es keinen gesellschaftlichen Konsens über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs gebe. Die Abstimmungsmehrheit in Planned Parenthood v. Casey folgerte sogar, daß die besonders intensive nationale Debatte um die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs eine spezielle methodische Behandlung erfordere. In Roe ν. Wade hatte Richter Blackmun die öffentliche Meinung in ihrer Interpreta430

Für eine umfassende Untersuchung hierzu vgl. J. G. Wilson, The Role of Public Opinion, in Constitutional Interpretation, 1993 B.Y.U. L. Rev. 1037, der auch die Rolle der öffentlichen Meinung zum Entstehungszeitpunkt der Verfassung beleuchtet. 431 Für eine Zusammenstellung der verschiedenen Formulierungen, mit denen Gerichte die öffentliche Meinung in ihre Urteilsbegründungen einbeziehen vgl. W. Sadurski, Conventional Morality and Judicial Standards, 73 U. Va. L. Rev. 339, 351 ff. (1987); T. R. Marshall , Public Opinion and the Supreme Court, 1989, S. 31 ff.

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tion durch die American Medical Association und die American Bar Association ausdrücklich berücksichtigt. 432 Oft werfen dissentierende Richter, die gegen eine Anpassung der Verfassungsinterpretation an die Sozialmoral sind, dem Supreme Court vor, lediglich der öffentlichen Meinung nachzugeben und damit seine institutionelle Rolle zu überschreiten. Der Supreme Court, so eine oft wiederholte Floskel, dürfe nicht zum Spielball der politischen Mächte werden. 433 Jedoch benutzen auch konservativere Richter wie White und Rehnquist die öffentliche Meinung, um ihre Argumente zu untermauern. 434 Die öffentliche Meinung zum Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung wird von Richtern zu Rate gezogen, die einen originalistischen Ansatz vertreten. Ein typisches Beispiel für diese Vorgehensweise ist Dred Scott v. Sandford. V. Traditionen und Abwägungsentscheidungen Abwägungen sind von Natur aus wertungsintensiv. Viele Entscheidungen des Supreme Court zum 14. Amendment werden als Abwägungsentscheidungen eingeordnet. 435 So kann die Urteilsbegründung des Richters Blackmun in Roe v. Wade als eine Abwägung zwischen den Interessen des Staates am Lebensschutz und den Interessen der Frauen verstanden werden. Die Abstimmungsmehrheit in Planned Parenthood v. Casey räumte ein, daß die Auslegung der Substantive Due Process Clause im wesentlichen die Abwägung von Traditionen erfordere. 436 Die Rechtsprechung des Supreme Court zur Equal Protection Clause kann ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung betrachtet werden. Da der Supreme Court diese Entscheidungen nicht als Abwägungsentscheidungen formuliert hat, sondern als Entscheidungen, die die Willkür staatlicher Maßnahmen untersuchten, werden sie gesondert behandelt. 432

Siehe oben S. 131. Vgl. dazu J. G. Wilson (Fn. 430), S. 1118. So etwa die Dissente der Richter Sutherland in West Coast Hotel v. Parrish, Black in Griswold v. Connecticut, Harlan in Harper ν. Virginia State Board of Elections und Shapiro ν. Thompson sowie Chief Justice Rehnquist in Planned Parenthood v. Casey und Richter Scalia in Romer ν. Evans sowie Adarand Constructors Inc. v. Pena. 434 Vgl. die Urteilsbegründung der Richter White in City of Cleburne v. Cleburne Living Center und Rehnquist in Rostker v. Goldberg. 435 vgi T A Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, 96 Yale L. J. 943 ff. (1987). 433

436 Weitere Beispiele für Entscheidungen, die im Rahmen dieser Untersuchung als Abwägungsentscheidungen eingeordnet wurden, sind Minersville School District v. Gobitis und Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende B e t r a c h t u n g 1 7 7 Das wertungsintensive Moment bei den Entscheidungen des Supreme Court zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause liegt jedoch nicht allein in der Abwägung. Vielmehr bestimmt der Supreme Court am Ausgangspunkt der Entscheidung die relevanten Traditionen. Wie Richter Brennan in seinem Dissent zu Michael H. v. Gerald D. festgestellt hat, gibt es keinen objektiven, wertungsneutralen Weg, die Traditionen eines Landes zu ermitteln. 4 3 7 Die Entscheidung, welche Wertungen sich so verfestigt haben, daß sie eine Tradition bilden, welche Praktiken nicht mehr von der Mehrheit der Gesellschaft unterstützt werden und somit nicht mehr als Tradition anerkannt werden, kann nicht ohne Rückgriff auf moralische Wertungen getroffen werden. 438 Die Unstimmigkeiten zwischen den Richtern der Mehrheitsmeinung und den dissentierenden Richtern betrafen häufig die Frage, welche Traditionen schutzwürdig und welche Traditionen bereits überholt sind. A m deutlichsten wird diese Praxis an den Dissenten des Richters Harlan zu den Entscheidungen, in denen der Warren-Court fundamentale Rechte unter der Equal Protection Clause anerkannte 439 , den Dissenten des Richters Rehnquist zu Substantive-Due-Process-Entscheidungen 440 sowie den Entscheidungen, in denen sich der späte Burger-Court und der Rehnquist-Court weigerten, neue fundamentale Rechte beziehungsweise suspekte Klassifizierungen anzuerkennen. Zur Begründung gab die Abstimmungsmehrheit häufig an, daß das behauptete Recht - etwa das Recht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr, das Recht auf Sterbehilfe oder Rechte des biologischen Vaters - nicht traditionell anerkannt worden sei. 4 4 1 Wie bereits dargelegt, bezieht sich dieser Ansatz auf eine Formulierung Cardozos aus Palko v. Connecticut. Dieser Ansatz stimmt jedoch nicht mit Cardozos rechtstheoretischer Konzeption überein. 442 Weitere Entscheidungen, in denen die Abstimmungsmehrheit beziehungsweise dissentierende Richter zu Traditionen der Vereinigten Staaten Stellung nahmen, sind Plessy v. Ferguson, Romer v. Evans, Meyer v. Nebraska, Moore v. City of East Cleveland , Frontiero v. Richardson , Califano v. Webster und United States v. Virginia. In den letztgenannten Entscheidungen wandte sich die 437

Vgl. hierzu auch W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987 S. 383 f. 438 Vgl. hierzu J. H. Ely , Democracy and Distrust, 1980, S. 60ff. und M. J. Perry , Morality, Politics, and Law, 1988, S. 137. 439 Siehe Harlans Dissente zu Poe v. Ullman, Reynolds v. Sims und Harper v. Virginia State Board of Elections. 440 Vgl. Rehnquists Dissente zu Roe v. Wade und Planned Parenthood v. Casey. 441 Siehe Bowers v. Hardwick , Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health und Michael H. v. Gerald D. 442 Vgl. dazu sogleich unten S. 188. 12 Schiwek

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Mehrheit des Supreme Court von der Tradition der Benachteiligung der Frauen ab. Gleichsam wandte sich Chief Justice Warren in Loving ν. Virginia gegen die Tradition der „weißen Überlegenheit". In Bölling v. Sharpe bemerkte Warren, daß das Konzept der Rassentrennung nicht mit den Traditionen der Vereinigten Staaten übereinstimme, eine Wertung, die mit den historischen Tatsachen nur schwer in Einklang zu bringen ist. Die Tradition der Rassentrennung wurde zweifellos über einen langen Zeitraum hinweg akzeptiert. Warren wollte mit seiner Begründung eher darauf hinweisen, daß diese Tradition nicht mehr zeitgemäß war, nicht mehr mit den gegenwärtigen Vorstellungen der amerikanischen Ideale übereinstimmte. Der Meinungsstreit über den Inhalt der von der Verfassung anerkannten Traditionen nimmt einen zentralen Platz in den neueren Urteilsbegründungen des Supreme Court ein. Diese Auseinandersetzung ist in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion eine der wichtigsten Gelegenheiten für das Einwirken moralischer Erwägungen auf die Rechtsprechung des Supreme Court. VI. Vorurteile Der Supreme Court begründet die Verfassungswidrigkeit von Regelungen häufig damit, daß diese von Vorurteilen beeinflußt worden seien. Auffällig ist, daß der Supreme Court nicht näher ausführt, was ein Vorurteil konstituiert. Der Begründungsprozeß endet in der Regel mit der Feststellung, daß die Regelung vorurteilsbehaftet sei. Es ist jedoch unmöglich, ohne moralische Prinzipien zu begründen, was ein Vorurteil konstituiert. 443 Der Einfluß moralischer Erwägungen über den Begriff des Vorurteils ist bei den Entscheidungen zu Geschlechtsklassifizierungen deutlich sichtbar. In diesen Fällen beschränkte sich der Supreme Court auf die Frage, ob die Regelung von einem Vorurteil über die Rolle der Frau beeinflußt sei. Einem ähnlichen Argumentationsmuster folgte die Abstimmungsmehrheit in Planned Parenthood v. Casey. Wenn der Supreme Court sich gegen die einer Regelung zugrundeliegenden Vorurteile wendet, lehnt er meist eine traditionelle Praxis ab. Der Begriff des Vorurteils wird zum Synonym für von Richtern nicht gebilligte Praktiken. Falls die Richter des Supreme Court lange vorherrschenden Praktiken zustimmen, bezeichnen sie diese als „Tradition". Die Begriffe Vorurteil und Tradition werden häufig spiegelbildlich gebraucht, je nachdem, ob Richter eine traditionelle Praxis billigen oder nicht. Dies wird an den Meinungsverschiedenheiten zwischen der Abstimmungsmehrheit und den dissentierenden Richtern in Entscheidungen wie 443

Vgl. W. Sadurski (Fn. 431), S. 367.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende Betrachtung

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Michael H. v. Gerald D.f Rostker v. Goldberg und United States v. Virginia deutlich. In den beiden letztgenannten Entscheidungen verteidigte ein Teil der Richter - die Mehrheitsmeinung in Rostker v. Goldberg und Richter Scalia in United States v. Virginia - die Tradition, daß Frauen nicht zum Wehrdienst herangezogen werden beziehungsweise nicht am V M I zugelassen wurden. Die andere Seite.warf den traditionsorientierten Richtern vor, überholten Vorurteilen über die Rolle der Frau zu folgen. 4 4 4 Der Supreme Court benutzte den Begriff des Vorurteils auch, wenn er Regelungen unter dem Etikett des „Rational Basis Test" für verfassungswidrig hielt, jedoch den Spielraum der Bundesstaaten so einschränkte wie normalerweise nur bei dem „Intermediate Scrutiny Test" beziehungsweise dem „Strict Scrutiny Test". 4 4 5 Ein deutlicher Unterschied bei der Behandlung „sozialer Vorurteile" wird bei der Analyse der Entscheidungen Plessy v. Ferguson und Palmore v. Sidoti erkennbar. Während der Supreme Court im ersteren Fall bemerkte, daß die Verfassung nicht helfen könne, soziale Vorurteile zu überwinden, erklärte Chief Justice Warren in Palmore v. Sidoti, daß die Verfassung Vorurteile nicht tolerieren könne. Diese Formulierung enthält ein Bekenntnis zu einem moralischen Prinzipien verpflichteten Konzept der Verfassungsinterpretation. VII. Willkür Eine Reihe von Entscheidungen des Supreme Court zum 14. Amendment wurde mit der willkürlichen Natur der untersuchten staatlichen Maßnahmen begründet. Ähnlich wie bei den bereits behandelten Kategorien von Argumenten endet der Begründungsprozeß an dem Punkt, an dem der Supreme Court den willkürlichen Charakter eines Gesetzes bejaht. Im Gegensatz zu Traditionen und Vorurteilen ist die Wertung, daß ein Verhalten willkürlich ist, nicht ausschließlich verfassungsextern. Die amerikanische Verfassung gibt, insbesondere durch das 14. Amendment, dem einzelnen das Recht, als Individuum behandelt zu werden. Klassifizierungen zwischen Individuen werden vom Supreme Court nur als zulässig erachtet, wenn für sie ein vernünftiger, ein rational begründbarer Grund angegeben werden kann, wenn sie nicht willkürlich sind. Daß das 14. Amendment den einzelnen vor willkürlicher Behandlung durch den Staat schützt, wurde erstmals in Yick Wo v. Hopkins eingeräumt. 446 Zwischen der Abstimmungs444 Ähnlich die Dissente des Richters Murphy in Korematsu v. U.S. und des Richters Harlan in Plessy v. Ferguson. 445 Siehe die Urteilsbegründungen zu City of Cleburne v. Cleburne Living Center und Romer v. Evans. 12*

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mehrheit und den dissentierenden Richtern gab es oft Streit über die Frage, ob das untersuchte Gesetz dem Willkürverbot standhielt. Beispiele für derartige Konfrontationen sind Lochner v. New York, West Coast Hotel v. Parrish und Regents of the Univ. of California ν. Bakke. Der Willkürbegriff wurde häufig benutzt, um fundamentale Rechte oder suspekte Klassifizierungen zu begründen. Dies war etwa in Meyer v. Nebraska, Pierce ν. Society of Sisters, Skinner v. Oklahoma, Boiling v. Sharpe und Frontiero v. Richardson der Fall. Wie Richter Thurgood Marshall in seinem Dissent zu City of Cleburne v. Cleburne Living Center feststellte, wird das, was einmal als natürlich und selbstverständlich empfunden wurde, später oft als willkürlich angesehen. Auch der Willkürbegriff wird von der Sozialmoral beeinflußt. Er dient in der Verfassungsrechtsprechung als Synonym für Wertungen, die nicht mit der Sozialmoral in der Interpretation durch die Verfassungsrichter übereinstimmen. VIII. Die Interpretation des Sachverhalts Die Interpretation des Sachverhalts ist keine wertfreie Angelegenheit. Der Sachverhalt wird trotz gegenteiliger Behauptungen von den Gerichten nicht einfach vorgefunden. Er ist interpretationsbedürftig. Häufig werden empirische Fakten mit normativen Fakten vermischt, als ob in der Verfassung eine andere Faktenwelt existierte. 447 Dies wird an den drei bedeutendsten verfassungsrechtlichen Kontroversen zum 14. Amendment deutlich. In Plessy v. Ferguson hatte die Abstimmungsmehrheit betont, daß sich das System der Rassentrennung nicht schädlich auf die einzelnen Rassen auswirke. Chief Justice Warren begründete das Urteil in Brown v. Board of Education unter anderem damit, daß die Rassentrennung den ausgegrenzten schwarzen Schülern den Stempel der Minderwertigkeit aufdrücke und ihre Entwicklung nachhaltig behindere. Die Lochner-Kontrovcrse entzündete sich an der Frage, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirklich, wie von der Abstimmungsmehrheit in Lochner v. New York behauptet, ebenbürtige Verhandlungspartner seien oder aber, so der Dissent des Richters Harlan und die Abstimmungsmehrheit in West Coast Hotel v. Parrish, die Arbeitnehmer aufgrund ihrer schwächeren Verhandlungsposition besonders schutzbedürftig seien. 446

Vgl. auch den Harlan- Dissent in Poe v. Ullman. Vgl. D. L Faigman , „Normative Constitutional Fact-Finding": Exploring the Empirical Component of Constitutional Interpretation, 139 U. Pa. L. Rev. 54, 564 (1991); J. G. Wilson (Fn. 430), S. 1101 f. und M. J. Horwitz t Foreword: The Constitution of Change: Legal Fundamentality Without Fundamentalism, 107 Harv. L. Rev. 32, 92 (1993). 447

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende B e t r a c h t u n g 1 8 1 Schließlich betonte die Abstimmungsmehrheit in den beiden hier dargestellten Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch nachdrücklich die schwere Lage, in der sich abtreibungswillige Frauen befinden, denen der Schwangerschaftsabbruch verweigert wird. Die Interpretation des Sachverhalts in diesen Entscheidungen läßt den Wertungshorizont der entscheidenden Richter deutlich werden. Weitere Beispiele, in denen bereits aus der Darstellung des Sachverhalts auf die Wertungen des Gerichts geschlossen werden kann, sind die Beschreibung der Lage der Personen japanischer Herkunft in Hirabayashi v. U. S. und Korematsu v. C/. 5 1 . 4 4 8 sowie die Behauptung des Richters Rehnquist in Michael M. v. Superior Court, daß das Abschreckungsmoment des statutory-rapeGesetzes Kaliforniens für männliche Jugendliche der Angst weiblicher Jugendlicher vor einer Schwangerschaft entspreche. Richter Scalia in United States v. Virginia sowie Richter McReynolds in Meyer v. Nebraska wiesen auf die Nützlichkeit des V M I beziehungsweise der Privatschulen hin und wandten sich daher gegen eine staatliche Regulierung beziehungsweise das Verbot dieser Schulen. Die Richterin Ginsburg, die für die Abstimmungsmehrheit in United States v. Virginia schrieb, betonte in ihrer Darstellung des Sachverhalts die Geschichte der Benachteiligung von Frauen im Universitätswesen Virginias. Die Interpretation des Sachverhalts ist ein weiterer Anknüpfungspunkt für richterliche Wertungen und ermöglicht den Einfluß der Sozialmoral. IX. Argumente, die sich auf das common law beziehungsweise Gesetze der Bundesstaaten beziehen Diese Argumente bieten eine verdeckte Möglichkeit für den Einfluß der Wertvorstellungen auf die Urteilsbegründungen. Durch den Verweis auf die Gesetze der Bundesstaaten beziehungsweise das common l a w 4 4 9 wird der 448 Siehe auch den Dissent des Richters Murphy in Korematsu v. U.S., der der Abstimmungsmehrheit vorwarf, von rassistischen soziologischen Prämissen auszugehen. Die bemerkenswerteste Schilderung des Sachverhalts einer Entscheidung gelang jedoch Richter Blackmun in Flood ν. Kuhn, 407 U.S. 258 (1972), einem Fall, in dem es um die Anwendbarkeit der Antitrust-Gesetze auf die Baseball League ging. Blackmun begann die Schilderung des Sachverhalts mit einer „Ode an Baseball", unter anderem der Aufzählung der seiner Ansicht nach besten Spieler in der Geschichte dieses Sports. 449 Das amerikanische Rechtssystem unterscheidet zwischen Bundesrecht und dem Recht der Bundesstaaten. Letzteres kann in das ungeschriebene common law (Richterrecht) und Gesetzesrecht unterteilt werden. Von der hier besprochenen Heranziehung des common law als Rechtsquelle ist jedoch die Charakterisierung der Methodik des Supreme Court als common-law-Methodik zu unterscheiden. Vgl. dazu unten S. 271.

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Anschein erweckt, eine objektive, d. h. von den persönlichen Wertungen des Richters freie Interpretationshilfe zu verwenden. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Verfassung selbst vorschriebe, daß ihr Inhalt unter Einbeziehung des Rechts der Bundesstaaten zu bestimmen sei. Eine solche Vorschrift existiert jedoch nicht. Das 14. Amendment beschränkt vielmehr die Macht der Bundesstaaten. Der Inhalt dieser Beschränkung kann naturgemäß nicht unter Zuhilfenahme des zu beschränkenden Rechts bestimmt werden. Das Recht der Bundesstaaten kann allenfalls als ein Indiz für die Verbreitung einer bestimmten Praxis gewertet werden. Wie unter anderem Chief Justice Burger in Palmore v. Sidoti ausführte, hat die weite Verbreitung bestimmter moralischer Vorstellungen nicht notwendig ihre verfassungsrechtliche Sanktionierung zur Folge. Auf das common law beziehen sich vor allem solche Richter, die eine restriktive Verfassungsinterpretation bevorzugen. Sie wollen die Verfassung nicht auf bisher nicht geschützte Bereiche ausdehnen. Beispiele für solche Vorgehensweisen sind die zustimmende Meinung des Richters Bradley in Bradwell v. Illinois, die Urteilsbegründungen der Abstimmungsmehrheit in Bowers ν. Hardwick und Michael H. v. Gerald D. sowie die Dissente des Richters Rehnquist in Substantive-Due-Process-Entscheidungen. Nicht immer schließen sich Richter den im common law verkörperten Traditionen an. Dies wird an den Mehrheitsmeinungen der hier behandelten Fälle zum Schwangerschaftsabbruch deutlich, die sich gegen die Aufrechterhaltung der Tradition des absoluten Verbots des Schwangerschaftsabbruchs aussprachen. Die Gesetze der Bundesstaaten werden dann von aktivistischen Richtern als Argumentationshilfen herangezogen, wenn sie nachweisen wollen, daß eine Regelung archaisch ist und nicht mit der gegenwärtig vorherrschenden Wertvorstellungen übereinstimmt. Sie werden somit zum Spiegelbild der Sozialmoral. In der Regel handelt es sich um Fälle, in denen wenige Bundesstaaten an einer von der überwiegenden Mehrheit der Bundesstaaten aufgegebenen Regelung festhalten. Beispiele für diese Vorgehensweise sind die Entscheidungen des Supreme Court in West Coast Hotel v. Parrish, Harper v. Virginia State Board of Elections und Griffin v. Illinois. Andererseits beziehen sich auch Richter auf die Gesetze der Bundesstaaten, die gegen eine aktivistische Rolle des Supreme Court argumentieren. Geschieht dies im Rahmen einer originalistischen Analyse, dienen die Gesetze der Bundesstaaten als Auslegungshilfe zur Bestimmung der Intentionen der Verfassungsgeber. 450 Die zweite Möglichkeit einer derartigen Argumentation besteht, wenn, wie in den Fällen zum Schwangerschaftsab450

Vgl. etwa die Urteilsbegründungen zu Dred Scott v. Sandford Hardwick.

und Bowers ν.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende B e t r a c h t u n g 1 8 3 bruch, die neue Interpretation der Verfassung im Widerspruch zu den Gesetzen der meisten Bundesstaaten steht. 451 Dieselbe Praxis ist bei den Entscheidungen anzutreffen, in denen der Supreme Court der Legislative des Bundesstaates einen weiten Spielraum einräumt. Die Mehrheitsmeinung in Bowers v. Hardwick oder der Dissent des Richters Scalia in Romer v. Evans sind Beispiele für diese Argumentationsweise. Festzuhalten bleibt, daß mit dem Verweis auf das common law oder Gesetze der Bundesstaaten keine zusätzlichen weitungsfreien Kriterien gewonnen werden. Das wertende Moment bei dieser Argumentationsweise liegt im ersten Fall, dem common law oder älterem Gesetzesrecht, in der Präferenz zugunsten einer traditionellen Praxis. Diese konservative 452 Wertung selbst ist jedoch von der Richtermoral beeinflußt. Andererseits indiziert die Einbeziehung progressiven Gesetzesrechts ein an neueren moralischen Vorstellungen orientiertes Verfassungskonzept. Ein wertender Aspekt liegt in beiden Fällen hinsichtlich des Gewaltenteilungsverständnisses vor. Die Sichtweise der Sozialmoral durch die Legislative wird als für Gerichte verbindlich eingestuft.

X. Die Rolle der Entstehungsgeschichte der Verfassung Die Entstehungsgeschichte des 14. Amendments wird gelegentlich vom Supreme Court benutzt, um Entscheidungen zu rechtfertigen. Die Interpretation der Entstehungsgeschichte selbst ist, wie die Geschichtswissenschaft generell, keine wertfreies Unterfangen. 453 Die Ansichten des späteren Betrachters, insbesondere sein Erwartungshorizont, beeinflussen die historische Auslegung. Die Geschichte des 14. Amendments ist Gegenstand ausführlicher Untersuchungen gewesen, ohne daß man sich auf ein bestimmtes Ergebnis - etwa bezüglich der Ansichten der Verfassungsgeber zur Rassentrennung in den Schulen - hat einigen können. A m besten in Erinnerung sind die von Chief Justice Warren in Brown v. Board of Education und Loving ν. Virginia vorgebrachten Erwägungen, daß die Entstehungsgeschichte des 14. Amendments zweifelhaft sei und daher keine Auskünfte zur Entscheidung einzelner Fälle geben könne. 451 Für ein solches Beispiel vgl. den Dissent des Richters Rehnquist in Roe ν. Wade und die von Richter White autorisierte Begründung der Abstimmungsmehrheit in City of Cleburne v. Cleburne Living Center . 452 Die Begriffe konservativ und progressiv werden hier in einem zeitlichen, nicht politischen Zusammenhang gebraucht. 453 Vgl. R. H. Fallon , A Constructivist Coherence Theory of Constitutional Interpretation, 100 Harv. L. Rev. 1189, 1198 (1987); E. Chemennsky , Foreword, The Vanishing Constitution, 103 Harv. L. Rev. 43, 92 (1989) sowie die unten dargestellte Kritik am Originalismus, S. 246ff.

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Die Entstehungsgeschichte wurde in den Slaughter-House Cases angeführt, um die einschränkende Auslegung des 14. Amendments zu rechtfertigen. Richter Harlan begründete seine Dissente zu den Wahlrechtsentscheidungen des Supreme Court ebenso mit der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments. Schließlich beschäftigte sich Chief Justice Taney in Dred Scott v. Sandford, der vielleicht am originalistischsten begründeten Entscheidung des Supreme Court, ausführlich mit der Entstehungsgeschichte der amerikanischen Verfassung. Im Vergleich mit anderen hier untersuchten Argumententypen spielte die Entstehungsgeschichte mit Ausnahme von Dred Scott v. Sandford eine eher untergeordnete Rolle bei der Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court. Ursache hierfür sind die außerordentliche Unbestimmtheit der Entstehungsgeschichte des 14. Amendments und vor allem die Tatsache, daß keine Mehrheit der Richter des Supreme Court zustande kam, die ausschließlich nach originalistischen Methoden arbeitete. Selbst dem Originalismus nahestehende Richter wie Black, Harlan, White, Rehnquist und Scalia zogen in ihren Entscheidungsbegründungen eher eine traditionsorientierte Argumentation vor. XI. Institutionelle Argumente Die Äußerungen über die Zulässigkeit bestimmter Argumente stehen in einem engen Zusammenhang mit der verfassungstheoretischen Position eines jeden Richters. Diese ist wiederum von institutionellen Vorstellungen beeinflußt. Im einzelnen sind zwei grundlegende Ansätze zur Rolle des Supreme Court erkennbar. Eine Position, der vor allem Richter anhängen, die einer originalistischen beziehungsweise traditionsorientierten Denkrichtung folgen, betont die Verschiedenheit der Funktionen von Legislative und Judikative. Letztere habe sich, so eine häufig anzutreffende Formulierung, auf die Interpretation der Verfassung zu beschränken. Die Verfassung dürfe nur durch den Amendment-Prozeß an die jeweiligen Verhältnisse angepaßt werden. Diese Auffassung wird am deutlichsten an von Richter Black verfaßten Entscheidungen sichtbar. 454 Die Gegenposition läßt der Judikative einen größeren Spielraum für die Anpassung der Verfassung an dominante Wertungen und gesellschaftliche Bedürfnisse. Sie wird in ihrer aktivistischsten Form von den Richtern des 454

Vgl. insbesondere die Black/Frankfurter-Kontroverse in Adamson v. California und den Dissent Blacks zu Harper ν. Virginia State Board of Elections oder auch den Frankfiirter-Dissent zu West Virginia State Board of Education v. Barnette.

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Warren-Court vertreten, spielte aber auch bei Entscheidungen des Supreme Court unter den Chief Justices Burger und Rehnquist eine Rolle. Richter, die diese Auffassung vertreten, stimmen eher der Anerkennung beziehungsweise Ausweitung suspekter Klassifizierungen oder fundamentaler Rechte z u . 4 5 5 XII. Natur der Sache Argumente dieser Kategorie können in zwei Klassen unterteilt werden. Zum einen gibt es bestimmte tatsächliche Gegebenheiten, denen sich das Recht unterordnen muß, um effektiv zu sein. So beträgt die Dauer einer Schwangerschaft in der Regel neun Monate. Interpretationen, die von éiner längeren beziehungsweise kürzeren Dauer ausgingen, würden sofort auf Widerstand stoßen. Sie würden als nicht mit der „Natur der Sache" vereinbar bezeichnet werden. Diese ausschließlich empirisch begründeten Argumente stehen nicht im Mittelpunkt dieses Abschnitts. 456 Vielmehr geht es um solche Argumente, die aus der Natur bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen, zum Beispiel der Ehe, auf bestimmte Ergebnisse schließen. Mit dem Verweis auf die Natur der Sache ist die Begründung in der Regel beendet. Die Frage, was die Natur bestimmter Beziehungen ausmacht, kann nicht ohne Rückgriff auf die moralischen Vorstellungen des Interpreten beantwortet werden. Ein typisches Beispiel für ein derartiges Interpretationsmuster findet sich im Dissent Bradleys in Bradwell v. Illinois. Dort folgerte der Interpret, daß sich bereits aus der Natur der Dinge ergebe, daß Frauen auf die häusliche Sphäre beschränkt seien. Er hätte genauso argumentieren können, daß seine Ansichten über die Rolle der Frau den dominanten Wertvorstellungen entsprachen. Beispiele für die Verwendung dieses Argumentationsmusters, d.h. der Abkürzung der Begründung der Wertungen des Interpreten unter Verweis auf die Natur der Dinge, lassen sich in einer Vielzahl von Entscheidungen finden. So folgerte Richter Brennan in Shapiro ν. Thompson aus der „Natur des Zusammenschlusses der Bundesstaaten" das fundamentale Recht auf Freizügigkeit. Richter Miller verwies in den Slaughter-House Cases auf „Struktur und Geist der Institutionen der Vereinigten Staaten". Chief Justice Warren berief sich in den Wahlrechtsentscheidungen auf „fundamentale Prinzipien der demokratischen Gesellschaft". Richter Brown schloß in Plessy v. Ferguson aus der „Natur der Sache", daß die Equal Protection Clause nicht die soziale Gleichstellung der Schwarzen garantieren könne. 455

Am deutlichsten etwa Richter Douglas in Harper ν. Virginia Board of Elections und Richter Thurgood Marshall in seinem Dissent zu City of Cleburne v. Cleburne Living Center. 456 Die Argumentation aus der „Natur der Sache" wird hier nur insofern behandelt, als sie Einflußmöglichkeit für die Sozialmoral ist.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Chief Justice Burger berief sich auf die „Natur des Menschen", als er in seinem Dissent zu Bowers ν. Hardwick speziellen Schutz für Homosexuelle ablehnte. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß moralische Argumente auch über die Argumentation aus der Natur der Sache in die Verfassungsinterpretation einfließen. XIII. Rechtstheoretische Argumente in den Urteilsbegründungen des Supreme Court In diesem Abschnitt werden Wortmeldungen von Richtern des Supreme Court behandelt, die sich explizit mit Verfassungstheorie beschäftigten. Es geht hier nicht um die Frage, welche rechtstheoretische Strömung die Rechtsprechung des Supreme Court am akkuratesten beschreibt. 457 Vielmehr soll die Verwendung verfassungstheoretischer Argumente durch den Supreme Court untersucht werden und das Wirksamwerden der Sozialmoral hierbei aufgeklärt werden. Der Supreme Court hat zu keiner einheitlichen rechtstheoretischen Position gefunden. In dem hier untersuchten Zeitraum sind eine Vielzahl von Interpretationstheorien vertreten worden. Die Richter des Supreme Court hielten sich mit Bekenntnissen zu bestimmten theoretischen Ansätzen zurück. Sie hängen in der Regel nicht einer theoretischen Strömung an, sondern beschränken sich darauf, die jeweilige Entscheidung in das Gebäude der Präjudizien einzupassen. Rechtstheoretische Argumente werden jedoch hin und wieder angeführt. Sie dienen dann der zusätzlichen Rechtfertigung des Ergebnisses. 458 Es gibt einige wenige Entscheidungen, in denen sich einzelne Richter ausdrücklich einer bestimmten Verfassungstheorie anschlossen. 1. Der Originalismus Die originalistische Theorie in der Fassung des 19. Jahrhunderts ging davon aus, daß alle Rechtsnormen eine objektiv ermittelbare, zeitunabhängige Bedeutung hätten. Die Aufgabe der Gerichte war darauf beschränkt, diese Bedeutung zu „erkennen". Interpretation wurde als wertungsfreie Tätigkeit aufgefaßt. Für Einflüsse der Sozialmoral beziehungsweise Gerechtigkeitserwägungen war kein Platz. 4 5 9 457

Siehe dazu unten S. 271. Vgl. M. Tushnet, Constitutional Interpretation, Character, and Experience, 72 B. U. L. Rev. 747, 749f., 756f. (1992). 459 Zum heute vertretenen Originalismus vgl. unten S. 243 ff. 458

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende Betrachtung Chief Justice Taney propagierte diese Denkrichtung in Dred Scott v. Sandford. Er gab vor, nur die Bedeutung der Verfassung zur Zeit ihrer Entstehung zu ermitteln. Das starre Verfassungsmodell Taneys wird auch von den dissentierenden Richtern in West Coast Hotel v. Parrish beschworen, die noch einmal den Geist des 19. Jahrhunderts aufleben ließen, als sie die Unveränderlichkeit der Verfassung behaupteten. Später, insbesondere unter dem Einfluß des legal realism, ließ sich die von Taney vertretene strikte Version des Originalismus nicht mehr halten. Es gibt jedoch eine zunächst von der Richtern Black und Harlan, später von den Richtern Rehnquist , White und Scalia vertretene Fassung des Originalismus. Diese abgeschwächte Version räumt ein, daß sich die Bedeutung der Verfassung im Laufe der Jahre ändert, daß es Situationen gibt, die von den Verfassungsgebern nicht antizipiert worden sind. Die Anwendung der Verfassung wird flexibler. Jedoch seien Richter weit davon entfernt, legislativ zu handeln. Vielmehr beschränke sich Verfassungsinterpretation in erster Linie auf Präjudizien, Text und historische Auslegung. Beide Versionen des Originalismus verbindet die Abneigung gegenüber richerlichen Wertungen, für die kein Anknüpfungspunkt in Text, Struktur und Entstehungsgeschichte der Verfassung vorhanden i s t . 4 6 0 Die Sozialmoral wird als Auslegungshilfe nicht akzeptiert. So schrieb Richter Harlan in seinen Dissenten zu den Wahlrechtsentscheidungen, daß der Supreme Court nicht befugt sei, Verfassungsdoktrin zu schaffen, die nicht mit der Entstehungsgeschichte der Verfassung vereinbar sei. Richter Black betonte in seinem Dissent zu Griswold v. Connecticut, daß der Verfassungsinhalt konstant bleibe, Richter nicht befugt seien, die Verfassung im Einklang mit der Zeit zu interpretieren. Verfassungsänderungen, so Black mit einem häufig anzutreffenden Argument, seien nicht durch die Judikative, sondern nur durch das Amendment-Verfahren nach Artikel V zulässig. Obwohl die Richter Rehnquist und Scalia die Bedeutung der Entstehungsgeschichte betonen, sind ihre Begründungen eher auf dem Vertrauen auf die anerkannten Traditionen der Vereinigten Staaten gegründet. 461

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Vgl. dazu die Formulierung des Richters White in seinem Dissent zu Moore v. City of East Cleveland , der in Bowers v. Hardwick eine Mehrheit von Richtern beipflichtete. White führte aus, daß der Supreme Court dann an seine institutionellen Grenzen stoße und der Illegitimität am nächsten komme, wenn er Verfassungsrecht schaffe, das nicht in Struktur, Text und Geschichte der Verfassung verwurzelt sei. Vgl. oben S. 147. 461 Vgl. etwa die neueren Substantive-Due-Process-Entscheidungen, in denen die genannten Richter in der Regel auf einer konkreten Tradition als Voraussetzung fundamentaler Rechte beziehungsweise suspekter Klassifizierungen bestanden.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

Historische Argumente treten in den Urteilsbegründungen des Supreme Court in der Regel nicht an die Stelle moralischer Wertungen. 462

2. Holmes ' und Cardozos Rechtstheorie, der legal realism Die im Anschluß an dieses Kapitel behandelten rechtstheoretischen Positionen von Holmes, Cardozo und den Anhängern des legal realism haben auch die Rechtsprechung des Supreme Court beeinflußt. Häufig wird aus Holmes' Lochner- Dissent zitiert, daß die persönlichen Anschauungen des Richters nicht die Verfassungsinterpretation beeinflussen dürften. 463 Jedoch geht die unter anderem von Black und Rehnquist vertretene Denkrichtung nicht über diese Formulierung hinaus. Sie setzt sich weder mit den Ausführungen Holmes' über die intuitive Natur der Verfassungsinterpretation auseinander, noch beachtet sie die These Holmes ', nach der es Aufgabe der Judikative sei, den dominanten gesellschaftlichen Wertungen zur Herrschaft zu verhelfen. 464 Ähnlich verkürzt wird Cardozos Definition des Due Process aus Palko v. Connecticut interpretiert. Während Cardozo die lückenfüllende, innovative Tätigkeit der Richter betonte, wird seine Due-Process-Definition als Beschränkung der Tätigkeit auf lange anerkannte Traditionen verstanden. 465 Der Begriff des Due Process wird so auf ohnehin geschützte Verhaltensweisen verengt. Diese Interpretation kann nicht mit Cardozos Forderung vereinbart werden, daß Richter wie Parlamentarier vorgehen sollen, indem sie vom Leben lernen. 4 6 6 Cardozos rechtstheoretische Gedanken werden eher vom Warren-Court und später von den Richtern Thurgood Marshall und Brennan aufgenommen, die die Entwicklung des Verfassungsrechts und seine Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse propagierten. Ein ähnlich flexibler, jedoch in seiner Ausgestaltung zurückhaltenderer Ansatz ist in der jüngeren Rechtsprechung des Supreme Court zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs zu beobachten. So schrieben die Richter O'Connor , Souter 462

Ebenso M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den Supreme Court, 1995, S. 226. 463 Siehe etwa Roe ν. Wade, wo sowohl Richter Blackmun als auch der dissentierende Richter Rehnquist vorgaben, dem Geist des Lochner- Dissents zu folgen, oben S. 131 ff. 464 Siehe den Lochner-Dissent Holmes' sowie die Darstellung zu Holmes' rechtstheoretischem Ansatz, unten S. 196 ff. 465 So etwa Richter White in Bowers ν. Hardwick, Chief Justice Rehnquist in Cruzan v. Director Missouri Dept. of Health und Richter Scalia in Michael H. v. Gerald D. 466 Vgl. unten S. 213.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende Betrachtung

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und Kennedy in Planned Parenthood v. Casey , daß die Verfassung, wie Entscheidungen des Warren-Court zeigten, nicht auf bestimmte Traditionen festgelegt sei. Sie lehnten ausdrücklich Traditionen ab, die eine bestimmte Rolle der Geschlechter festschrieben und erkannten damit die von Cardozo und Holmes geforderte Anpassung des Rechts an die jeweiligen Verhältnisse an. Die Theorie des legal realism ist, auch in der modernisierten Form der Critical Legal Studies, nie ausdrücklich vom Supreme Court übernommen worden. Jedoch hat die mit Holmes beginnende Kritik an der LochnerRechtsprechung tiefe Spuren hinterlassen. Die Richter des Supreme Court sind seit Mitte dieses Jahrhunderts ausnahmslos darauf bedacht, nicht die Fehler des Lochner-Court zu wiederholen, d.h. eine bestimmte ökonomische Theorie als unveränderlichen Teil der Verfassung aufzufassen. Sie beteuern häufig, daß sie nicht ihren eigenen moralischen Vorstellungen folgten und nicht die Fehler des Lochner-Court wiederholten. Insofern hat das Aufzeigen des Einflusses subjektiver Wertungen bei der Rechtsanwendung durch den legal realism Früchte getragen.

3. Die Bedeutung der „ Carolene Products Fußnote " Die „Carolene Products Fußnote" wurde insbesondere von Ely benutzt, um eine prozeßorientierte Theorie der Verfassungsinterpretation zu begründen. 4 6 7 Nach dieser Theorie hat die Judikative die Aufgabe, Unvollkommenheiten des legislativen Prozesses auszugleichen. Mit diesem Ansatz sind viele innovative Entscheidungen des Warren-Court erklärbar, insbesondere die Entscheidungen, die suspekte Klassifizierungen und das fundamentale Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen anerkannten. Der Supreme Court hat jedoch weder unter Chief Justice Warren noch zu irgend einem anderen Zeitpunkt diese prozessorientierte Theorie als einzig relevante Verfassungstheorie anerkannt. Nahezu alle Entscheidungen des Supreme Court zur Substantive Due Process Clause können nicht mit der prozessorientierten Theorie Ely's erklärt werden. Die „Carolene Products Fußnote" hat dennoch eine wichtige Rolle bei der Interpretation des 14. Amendments gespielt. Der Supreme Court stützte sich in vielen Entscheidungen zu suspekten Klassifizierungen auf die Analyse des Richters Stone in United States v. Carolene Products 4 6 8 Dabei ist die Entscheidung, warum gerade 467

Vgl. dazu unten S. 254f. 468 y gi e t w a Regents of the Univ. of California v. Bakke, Kramer v. Union Free School District, City of Cleburne v. Cleburne Living Center, Massachusetts Bd. of Retirement v. Murgia, San Antonio Independent School District v. Rodriguez und Sugarman v. Dougal, in der letztgenannten Entscheidung auch den Dissent des Richters Rehnquist , der auf den geringen präjudiziellen Wert der Fußnote hinwies.

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1. Teil: Die Rechtsprechung des Supreme Court

eine bestimmte Klasse so benachteiligt ist, daß ein erhöhter Schutz durch die Judikative erforderlich ist, auch eine moralische Entscheidung. Schließlich stehen die gesellschaftlichen Sympathien und Antipathien gegenüber einer bestimmten Gruppe in direktem Zusammenhang zu dem Schutz, der dieser Gruppe gewährt wird. XIV. Das dreistufige Scrutiny-Schema des Supreme Court Die Rechtsprechung des Supreme Court zum 14. Amendment ist seit Mitte diese Jahrhunderts vom zunächst zweistufigen, später dreistufigen Scrutiny-Schema mit dem „Rational Basis Test", dem „Intermediate Scrutiny Test" und dem „Strict Scrutiny Test" bestimmt. Die wichtigsten Debatten des amerikanischen Verfassungsrechts wurden zu der Frage geführt, ob das Scrutiny-Schema gerechtfertigt ist und ob weitere suspekte Klassifizierungen und fundamentale Rechte hinzugefügt werden sollten. Das ScrutinySchema fußt auf der Annahme, daß bestimmte staatliche Verhaltensweisen einer besonders strikten richterlichen Kontrolle unterliegen, während andere Bereiche staatlichen Handelns nicht durch richterliche Interventionen gestört werden sollten. Nach dem Wortlaut der verschiedenen „Scrutiny Tests" geht es im wesentlichen um die jeweils angemessene Kontrolldichte, d.h. es ist nicht ausgeschlossen, daß einerseits staatliche Maßnahmen am „Rational Basis Test" scheitern können oder vor dem „Strict Scrutiny Test" bestehen können. Es scheint sich um eine Beweislastregel zu handeln. 469 Diese Erklärung wird jedoch der Rechtsprechung des Supreme Court zu Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause nicht gerecht. Der Supreme Court hat regelmäßig unter dem „Strict Scrutiny Test" untersuchte Regelungen für verfassungswidrig gehalten 470 , während unter dem „Rational Basis Test" untersuchte Regelungen bis auf wenige Ausnahmen für verfassungsgemäß gehalten wurden. 4 7 1 In diesen Ausnahmefällen, insbesondere Romer v. Evans und City of Cleburne v. Cleburne Living Center , wurde nur zum Schein am „Rational Basis Test" festgehalten, d.h. der 469 Der Staat trägt bei Anwendung des „Strict Scrutiny Test" die Beweislast für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung, während bei Anwendung des „Rational Basis Test" dem Kläger der Nachweis für die behauptete Verfassungswidrigkeit der Regelung obliegt. Vgl. dazu Michael M. v. Superior Court, 450 U.S. 464, 497, Fn. 4 (1981) (Stevens, J., dissenting). 470 Ausnahmen bilden nur die beiden Entscheidungen in Hirabayashi v. U. S. und Korematsu v. U. S. Es handelt sich um Vorläufer des „Strict Scrutiny Test", bei denen der Supreme Court der Exekutive ein dem „Rational Basis Test" ähnlichen Entscheidungsspielraum einräumte. 471 D. D. Welch , Legitimate Government Purposes and State Enforcement of Morality, 1993 U. 111. L. Rev. 67, 73.

Κ. Die Rolle der Sozialmoral - systematisierende Betrachtung

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Supreme Court wendete einen strikteren Kontrollmaßstab a n . 4 7 2 Seit den achtziger Jahren ist der Supreme Court bei der Anerkennung neuer suspekter Klassifizierungen beziehungsweise fundamentaler Rechte zurückhaltender geworden. Dennoch wurden gesellschaftlich benachteiligte Gruppen, wie geistig Behinderte in City of Cleburne v. Cleburne Living Center und Homosexuelle in Romer v. Evans , weiter vom Supreme Court geschützt. Die Tendenz des Supreme Court, das dreistufige Scrutiny-Schema aufzulokkern, bestätigt die hier vertretene These, daß das Gericht bei seinen Entscheidungen zur Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause allein die Rationalität der staatlichen Regelung überprüft. 473 Es handelt sich mithin weniger um drei verschiedene „Tests" als um in der Regel unwiderlegbare Vermutungen. Wie Richter White in City of Cleburne v. Cleburne Living Center ausführte, ist die Relevanz des Kriteriums ausschlaggebend für die Einordnung in das Scrutiny-Schema. Richter Stevens stellte in der gleichen Entscheidung zu Recht fest, daß rassische Klassifizierungen immer irrelevant beziehungsweise irrational seien, es daher nicht der Einordnung in ein Schema bedürfe. Das dreistufige ScrutinySchema bietet dem Supreme Court somit keine über die Präjudizien hinausgehende zusätzliche Orientierung. In jedem Fall, in dem über die „Einordnung in das Scrutiny-Schema" zu entscheiden ist, trifft der Supreme Court eine Entscheidung zur Rationalität oder Vernünftigkeit der Regelung. Kritiker dieser Praxis verweisen darauf, daß das Scrutiny-Schema oft als Ersatz für die Diskussion über die der jeweiligen Entscheidung zugrundeliegenden materiellen Rechte benutzt w i r d . 4 7 4 Die Rationalitätsentscheidung im Rahmen der Einordnung in das Scrutiny-Schema ist eine Wertungsentscheidung. In sie fließen die von Richtern als relevant aufgefaßten Erwägungen ein. Die Argumente, mit denen der Supreme Court diese Wertungen begründet, wurden in den vorhergehenden Abschnitten analysiert. Hier bleibt festzuhalten, daß das Scrutiny-Schema des Supreme Court kein zusätzliches Kriterium zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit liefert. 4 7 5 472 Vgl. die Anmerkung zu City of Cleburne v. Cleburne Living Center, oben S. 157 f. 473 Vgl. auch C. R. Sunstein, Foreword: Leaving Things Undecided, 110 Harv. L. Rev. 4, 77 f. (1996). 474 E. Chemerinsky (Fn. 453), S. 73. 475 Ähnliches gilt für die allgemeinere Frage, ob der Gleichheitssatz selbst von Gerechtigkeitserwägungen unabhängige Kriterien liefert. Der Gleichheitssatz setzt zunächst eine Gleich- beziehungsweise Ungleichbehandlung voraus. Die Entscheidung, ob eine Gleich- beziehungsweise Ungleichbehandlung vorliegt, hängt von den Kategorien des Betrachters ab. Kategorien existieren nicht von vornherein, sondern korrespondieren mit moralischen Standards. Insofern wird der Gleichheitssatz nicht zu Unrecht als „inhaltsleer" bezeichnet. Es besteht die Gefahr, daß der Gleichheits-

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Jede Entscheidung des Supreme Court unter der Substantive Due Process Clause und der Equal Protection Clause ist im Kern eine Rationalitätsentscheidung. Aus diesem Grund können viele Entscheidungen des Supreme Court sowohl der Equal Protection Clause als auch der Due Process Clause zugeordnet werden. 4 7 6 XV. Ergebnis Der Supreme Court benutzt Argumente verschiedener Kategorien, um Wertungen, deren Quellen außerhalb der Verfassung liegen, in die Verfassungsinterpretation einzubringen. Die Verwendung von bestimmten Argumentationsmustern ist vom historischen Zeitraum abhängig. So ist die offene Verwendung moralischer Argumente nach dem Niedergang der Locft/ier-Rechtsprechung praktisch nicht mehr zu beobachten. Der WarrenCourt begründete seine Innovationen häufig mit gemeinwohlorientierten Argumenten. Die konservativeren Ansätze des Burger-Court und des Rehnquist-Court spiegeln sich in der Verwendung von Traditionsargumenten wieder. Häufig werden Argumente verschiedener Kategorien kumulativ verwendet. Eine Zuordnung von bestimmten Argumentenklassen zu einzelnen historischen Zeitabschnitten beziehungsweise einzelnen Richtern erscheint möglich. Eine detaillierte Kategorisierung erfordert jedoch ein größere Anzahl von untersuchten Entscheidungen pro Zeitabschnitt und Richter. In dieser Untersuchung kam es zunächst darauf an zu ermitteln, ob und in welchem Ausmaß die Sozialmoral die Verfassungsinterpretation beeinflußt. Es kann konstatiert werden, daß die Entwicklung neuer Verfassungsdoktrin in allen Phasen der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court von der Auffassung der Richter über die Sozialmoral der Vereinigten Staaten beeinflußt worden i s t . 4 7 7 In dieser Hinsicht bestehen keine Unterschiede zwischen den Entscheidungen des Supreme Court zur Substantive Due Process und zur Equal Protection Clause. 478 Entscheidungen, die neue Verfassatz als moralunabhängige Norm verstanden wird. Vgl. P. Westen, The Empty Idea of Equality, 95 Harv. L. Rev. 537, 544 ff., 579 (1982), der sich gegen eine undifferenzierte Anwendung von Gleichheitssatz und Scrutiny-Schema ausspricht. 476 So auch Westen, ebd., 559, Fn. 69. Vgl. auch E. Chemerinsky, In Defense of Equality: A Reply to Professor Westen, 81. Mich. L. Rev. 575 (1983). Ein Beispiel für die Austauschbarkeit von Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause ist der Hintergrund der Entscheidungen des Warren-Court zur Aufhebung der Rassentrennung. Chief Justice Warren hatte zunächst geplant, Brown v. Board of Education unter der Due Process Clause zu entscheiden. In diesem Falle wären Brown v. Board of Education und Boiling ν. Sharpe auch besser miteinander vereinbar gewesen. Vgl. oben S. 86. 477 Ähnlich J. G. Wilson (Fn. 430), S. 1047.

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sungsdoktrin begründeten, basierten immer auch auf moralischen Erwägungen. Im Normalfall, dies zeigen etwa die Entscheidungen zur Rassentrennung und zur Gleichstellung der Geschlechter, korrespondieren die vom Supreme Court getroffenen Wertungen mit der Sozialmoral. Jedoch gab es auch Entscheidungen, in denen der Supreme Court von den gesellschaftlich dominanten Wertungen abwich. Prominenteste Beispiele sind die Lochner-Rechtsprechung sowie die Entscheidung in Dred Scott v. Sandford. Diesen Entscheidungen war jedoch keine lange Lebensdauer beschieden.

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So auch R. H. Bork, Neutral Principles and Some First Amendment Problems, 47 Ind. L. J. 1, 11 (1971). 13 Schiwek

2. Teil

Die Behandlung der Sozialmoral in der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie In diesem Teil soll die Entwicklung der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Sozialmoral dargestellt werden. Angesichts des Umfangs und der Vielfalt der Strömungen in der amerikanischen Rechtstheorie werden nur solche Positionen behandelt, die besondere Verbreitung fanden oder aber das Verhältnis von Recht und Sozialmoral außergewöhnlich detailliert diskutierten. 1

A. Die amerikanische Rechtstheorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts Der Ausgangspunkt liegt nahe. Das hier vorrangig behandelte 14. Amendment wurde 1868 ratifiziert. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann ein junger Jurist in Boston die Vorarbeiten zu einem Werk über das common law, das Auftakt für die tiefgreifendste Veränderung in der amerikanischen Rechtstheorie sein sollte. 2 Der Jurist sollte bald zum berühmtesten amerikanischen Richter des 20. Jahrhunderts werden. Es handelt sich um Oliver Wendeil Holmes. Bevor Holmes' Werk dargestellt wird, soll die Lage der amerikanischen Rechtstheorie beschrieben werden, die Holmes in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vorfand. William Blackstones „Commentaries on the Law in England" waren zu dieser Zeit eine wichtige Quelle für Recht und Rechtstheorie in den Vereinigten Staaten. Blackstone begründete das common law aus seinen Wurzeln im englischen Gewohnheitsrecht, das er als Naturrecht ansah. Das common law hatte einen „naturrechtlichen Stammbaum". 3 Richter hatten nach Blackstones Theorie keine kreative Rolle. Sie waren bloße „Orakel des Rechts". 1

Für eine umfassende Darstellung zur amerikanischen Rechtstheorie vgl. etwa W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II: AngloAmerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 151 ff. 2 Zur Entstehungsgeschichte des „Common Law" siehe M. Howe, Justice Oliver Wendell Holmes, The Proving Years, 1963, S. 135 ff. 3 So die Formulierung bei R. A. Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 12.

Α. Die amerikanische Rechtstheorie gegen Ende des 19. Jh.

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Dagegen setzte Bentham den Positivismus. Recht war für den Utilitaristen Bentham nichts Natürliches, sondern eine Kreation politischer Kräfte. Jedoch wies auch Bentham Richtern nur eine untergeordnete Rolle zu. Sie sollten bloße Erfüllungsgehilfen der Legislative sein. Richterliches Ermessen war nach Benthams Vorstellungen auf ein Minimum begrenzt. 4 Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts am weitesten verbreitete Theorie war der Formalismus. 5 Unter der Führung des Deans der Harvard Law School, Christopher Columbus Langdell, etablierte sich eine Denkrichtung, die Recht als in sich geschlossenes System definierte. Der Formalismus ging davon aus, daß allem Recht bestimmte unveränderbare Prinzipien zugrundeliegen. Rechtsanwendung wurde als formalistischer, deduktiver Prozeß verstanden. Präjudizien waren als wichtigste Rechtsquelle anerkannt. Richter „fanden" nach der herrschenden Auffassung bereits existierendes Recht. 6 Politische Erwägungen waren der streng formalistischen Methode fremd. Recht und Realität waren getrennt. Streng kategorisiertes Denken mit einer Fülle von rechtlichen Definitionen hatte die frühere, aus England übernommene Billigkeitsrechtsprechung (equity) abgelöst. Es sollte ein Rechtssystem geschaffen werden, das unabhängig von den persönlichen Präferenzen des einzelnen Richters eine neutrale Konfliktregelung garantierte. 7

4 Zum englischen Rechtsdenken vgl. G. Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 1946, S. 50ff. sowie W. Fikentscher (Fn. 1), S. 3ff. 5 Für eine ausführliche Diskussion der rechtstheoretischen Strömungen des 19. Jahrhunderts vgl. die mehrteilige methodenvergleichende Darstellung bei R. Pound , The Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence, 24 Harv. L. Rev. 591 ff. (1911) und 25 Harv. L. Rev. 140ff. (1912) sowie E. A. Purcell, The Crisis of Democratic Theory, 1973, S. 74f. und Ν. Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, S. 29 ff. 6 Scheinbar ein Widerspruch, da die Weiterentwicklung von Präjudizien, die Anwendung des bereits existierenden Rechts auf neue Problemstellungen, kaum als ein und dasselbe Recht bezeichnet werden kann. Die herrschende Auffassung des 19. Jahrhunderts unterschied jedoch zwischen einem unveränderlichen Kern und der Peripherie einer Rechtsnorm. Letztere sollte die Anpassung der Norm an neue Sachverhalte gewährleisten. Dennoch sei die „Bedeutung" der Vorschrift unveränderlich. Vgl. dazu näher M. J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1992, S. 18 m.w.N., der diese Zweiteilung nicht zu Unrecht als für Juristen des 20. Jahrhunderts unverständlich bezeichnet. 7 Vgl. im einzelnen Ε. A. Purcell (Fn. 5), S. 74f; R. A. Posner (Fn. 3), S. lOff.; W. Fikentscher (Fn. 1), S. 15Iff. sowie die ausführliche Darstellung bei M. J. Horwitz, ebd., S. 9ff., 16f. m.w.N.

13'

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

B. Oliver Wendell Holmes I. Bedeutung Oliver Wendell Holmes, Richter am Supreme Court von 1902 bis 1932, wird gemeinhin als der bedeutendste und einflußreichste Jurist der Vereinigten Staaten in diesem Jahrhundert bezeichnet.8 Holmes, der nach einem Studium am Harvard College zunächst als Rechtsanwalt tätig war, diente von 1882 bis 1902 am Massachusetts Superior Court, seit 1899 als Chief Justice. Aufgrund seiner Verdienste wurde er im Alter von 61 Jahren an den Supreme Court berufen, wo er dreißig Jahre wirkte. Holmes verfaßte während seiner Tätigkeit am Supreme Court eine Vielzahl von Entscheidungen. Er befand sich in dem zu diesen Zeitpunkt von konservativen Richtern dominierten Supreme Court jedoch häufig in der Minderheit. 9 Bekannt wurde er in erster Linie durch seine Dissente, die oft den Boden für spätere Mehrheitsentscheidungen des Supreme Court bereiteten. Holmes wird daher oft als „great dissenter" bezeichnet. Sein Lochner- Dissent ist bereits an anderer Stelle analysiert worden. In diesem Abschnitt soll der rechtstheoretische Beitrag Holmes' gewürdigt werden. Holmes, der bis zu seinem neunzigsten Lebensjahr als Richter am Supreme Court amtierte, hinterließ eine Fülle an Urteilsbegründungen, legte seinen rechtstheoretischen Standpunkt jedoch nicht geschlossen in einem Werk dar. Seine wichtigste monographische Arbeit, „The Common Law", wurde 1881 veröffentlicht, als Holmes' lange juristische Karriere erst am Anfang stand. Holmes hielt sich darüber hinaus mit umfangreichen Publikationen zurück, verfaßte jedoch einige Aufsätze und unterhielt umfangreiche Briefwechsel. Die Aufsplitterung von Holmes' Werken erschwerte seine wissenschaftliche Bewertung erheblich. So ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob es eine „Wende" im Denken Holmes' gegeben hat. 1 0 Holmes' 8 Vgl. etwa „... the most important and influential legal thinker America has had", M. J. HorwitZy ebd., S. 109; „...the leading figure in American Jurisprudence", R. A. Posner (Fn. 3), S. 19; ders ., Overcoming Law , 1995, S.195 : „Holmes ... not only is the greatest judge and scholar in the history of our law but also possessed the finest philosophical mind in the history of judging."; „He is ... the philosopher and seer, the greatest of our age in the domain of jurisprudence, and one of the greatest of the ages.", B. N. Cardozo , Mr. Justice Holmes, 44 Harv. L. Rev. 682, 684 (1931) und Γ. C. Grey , Molecular Motions, 37 Wm and Mary L. Rev. 19 (1995), „Oliver Wendell Holmes was perhaps our most famous judge", mit Nachweisen zu Supreme Court Richtern, die sich bei Anhörungen im Senat auf das Holmessche Richterideal beriefen. 9 Zur Zusammensetzung des Supreme Court zur Zeit der Berufung Holmes' vgl. M. Lerner, The Mind and Faith of Justice Holmes, S. XXXVII. 10 Vgl. Af. Tushnet y The Logic of Experience, 63 Va. L. Rev. 975, 978, 1025, 1045 (1977). Diese Wende wird insbesondere deswegen für möglich gehalten, weil

Β. Oliver Wendell Holmes

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Aussagen zum Verhältnis von Recht und Moral erscheinen jedoch konstant, so daß Holmes ' Schriften hier als Einheit behandelt werden können. Cardozo bemerkte einmal über Holmes, daß dieser in der Lage war, eine Theorie des Rechts innerhalb eines einzigen Absatzes aufzustellen. Holmes benutze einen Satz, wo die meisten einen Absatz benötigten, einen Absatz, wo andere eine Seite schrieben. 11 Holmes einzigartiger, epigrammhafter Stil gebietet es, eine größere Anzahl von Aussagen in der Originalfassung wiederzugeben, als es sonst in dieser Untersuchung üblich ist. Π. Holmes 9 erkenntnistheoretische Position Holmes vertrat einen wertrelativistischen Standpunkt. Er wandte sich gegen die Vorstellung, daß es absolute und zeitunabhängige Wahrheiten gebe. Die jeweilige Mehrheit bestimme, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr angesehen werde. Jeder habe zwar in dem Sinne Präferenzen, daß er nicht umhin könne, bestimmte Aussagen als wahr anzuerkennen. Diese Präferenzen seien jedoch bloße „can't helps". 12 Sie seien jeglicher Argumentation entzogen. Es gebe keinen anderen Ausweg als den des Skeptizismus. 13 Holmes' frühe rechtstheoretische Aussagen schwer mit seiner zurückhaltenden Tätigkeit als Richter, zunächst am Supreme Judicial Court of Massachusetts, später am Supreme Court, vereinbar scheinen. Vgl. aber auch T. C. Grey (Fn. 8), S. 28 ff.; R. A. Posner (Fn. 8), S. 282 und G. E. White, Justice Oliver Wendell Holmes, The Law and the Inner Seif, 1993, S. 218 ff. Für weitere Akzentverschiebungen in Holmes' Werken, insbesondere zum Verhältnis von Bräuchen und Recht, vgl. M. J. Hörwitz (Fn. 6), S. 127, 138 f. 11 B.N. Cardozo (Fn. 8), S. 689. 12 „I therefore define the truth as the system of my limitations.", O. W. Holmes , Ideals and Doubts, 10 111. L. Rev. If. (1915). An anderer Stelle beschrieb sich Holmes als „bettabitarian". Da es keine universellen Notwendigkeiten gebe, müsse man sich darauf beschränken, darauf zu wetten (bet), welche Verhaltensformen notwendig seien. Holmes , Collected Legal Papers (1920), S. 310. Vgl. auch: „ I don't believe that it is an absolute principle or even a human ultimate that man is always an end to himself - that his dignity must be respected, etc. We march up a conscript with bayonets behind to die a cause he doesn't believe in. And I feel no scruples about it. Our morality seems to me only a check on the ultimate domination of force ... When the Germans in the late war disregarded what we called the rules of the game, I don't see there was anything to be said except: We don't like it and shall kill you if we can.", in: H. Shriver (Hrsg.), Holmes, Book Notices and Uncollected Letters and Papers, S. 187f. (1936). Ähnlich: „That is the justification of war. If people vehemently want to make different kinds of worlds I don't see what there is to do except for the most powerful to kill the others.", Holmes-Laski Letters, M. Howe (Hrsg.), Bd. II, 1953, S. 1071. 13 „Deep-seated preferences can not be argued about - you can not argue a man into liking a glass of beer - and therefore, when differences are sufficiently far

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Anhängern naturrechtlicher Strömungen, so Holmes, sei die Veränderlichkeit moralischer Anschauungen nicht bewußt. Sie akzeptierten auf eine naive Weise das, was ihnen vertraut erscheine. Sie setzten voraus, daß ihr Vorverständnis von allen Menschen geteilt werde. Glaubens Vorstellungen und Wünsche stünden jedoch auf einer transzendentalen, zufälligen Grundlage. Hiervon gebe es keine Ausnahmen. Selbst das fundamentalste Recht, das Recht auf Leben, werde von der Gesellschaft ohne Zögern in Kriegen geopfert, wenn die dominanten Gruppen dies für richtig hielten. Universelle Wahrheiten, so Holmes' Schlußfolgerung, könnten nicht in menschlichen Kategorien ausgedrückt werden. 14 Es bleiben, so Holmes, Ideale. Ideale würden jedoch meist nicht artikuliert. Das gegenwärtige Moralsystem verkörpere in emotionaler und unvollständiger Form gesellschaftliche Verallgemeinerungen. 15 Es könne nur dann klarer gesehen werden, wenn der emotionale Aspekt weggelassen werde und geprüft werde, welche der Verallgemeinerungen durch Tatsachen bestätigt würden. Bei Wertkollisionen könne die Logik nicht weiterhelfen. Es helfe jedoch, konventionelle Annahmen zu hinterfragen. 16

III. „The Common Law" Holmes ' wichtigstes monographisches Werk befaßt sich mit dem common law. Holmes faßte in dieser Abhandlung elf Vorlesungen zusammen, die er 1880 am Lowell Institute gehalten hatte (Lowell Lectures). Die Vorlesungen behandelten das common law im 19. Jahrhundert, unter anderem Delikts-, Vertrags-, Straf-, Sachen- und Erbrecht. Holmes stellte die aus methodischer Sicht wichtigste Aussage an den Anfang seiner Vorlesungen: „Das Leben des Rechts ist nicht Logik, sondern Erfahrung." 17 Holmes reaching, we try to kill the other man rather than let him have his way.", O. W. Holmes , Natural Law, 32 Harv. L. Rev. 40 f. (1918). 14 Ebd., S. 4Iff. Holmes wird häufig als Nihilist bezeichnet. So W . Fikentscher (Fn. 1), S. 176f.; D. Luban, Justice Holmes and the Metaphysics of Judicial Restraint, 44 Duke L. J. 449, 475 (1994) - anders: R. A. Posner (Fn. 3), S. 242 - , da er zeitunabhängige Werte leugnete und Werte auf bloße Präferenzen reduzierte. Fikentscher, ebd., S.176f., 216f., unterscheidet Nihilismus und Skeptizismus nach Kriele dahingehend, daß Nihilisten im Gegensatz zu Skeptizisten generell die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen über die Gerechtigkeit verneinen. In diesem Sinne war Holmes Nihilist. In der wissenschaftlichen Literatur der Vereinigten Staaten wird diese Unterscheidung im allgemeinen nicht verwendet. Holmes wird vielmehr überwiegend als Skeptizist eingeordnet. Der Begriff des Skeptizismus wird in dieser Untersuchung im letzteren Sinne gebraucht. 15 „Our system of morality is a body of imperfect generalizations expressed in terms of emotion.", O. W. Holmes (Fn. 12), S. 3. 16 „To have doubted one's own first principles is the mark of a civilized man.", ebd.

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lehnte die von John Austin repräsentierte analytische Schule ab. Er wandte sich gegen das im 19. Jahrhundert dominierende Methoden Verständnis, nach dem alles Recht auf deduktivem Wege objektiv erkennbar war. Recht, so Holmes, befinde sich in einem ständigen Wachstumsprozeß und passe sich den jeweiligen Bedürfnissen an. 1 8 Holmes lenkte die Aufmerksamkeit auf den Wandel im Recht. Im Gegensatz zur herrschenden Theorie, die von der syllogistischen Ableitung des common law aus Präjudizien ausging, betonte Holmes, daß die richterliche Fortbildung des Rechts einen legislativen Charakter habe. Recht habe eine geheime, von Richtern kaum beachtete Wurzel. Es handele sich um Zweckmäßigkeitserwägungen, politische Ansichten, die oft unbewußtes Resultat der von Richtern anerkannten Präferenzen und Traditionen seien. Präjudizien müßten daher nur dann beachtet werden, wenn die ihnen zugrundeliegenden Wertungen den gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen entsprächen. 19 Das Recht müsse in erster Linie mit der jeweils herrschenden Sozialmoral vereinbar sein, unabhängig davon, ob diese richtig oder falsch sei. 2 0 Holmes lehnte es ab, Kants These vom Menschen als Selbstzweck zu akzeptieren. Es könne keine absolute Gleichheit der Menschen geben. Jede Gesellschaft opfere in einem gewissen Umfang das Wohl einzelner zugunsten des Wohls aller. Holmes erläuterte am Beispiel des Strafrechts, daß der Zweck jeder Rechtsnorm, ihr Nutzen für die Gemeinschaft, im Vordergrund stehen müsse. 21 Die meisten Thesen Holmes' erscheinen selbstverständlich. Sie werden, mit Ausnahme seines Wertrelativismus, heute kaum noch in Frage gestellt. Zum Entstehungszeitpunkt des Werkes betrat Holmes jedoch rechtstheoretisches Neuland. Holmes betonte den Wandel im Recht. Zentrales Thema des 17 „The life of the law has not been logic: it has been experience.", O. W. Holmes, The Common Law, 1881, S. 5. Obwohl es sich hierbei um einen der meistzitierten Sätze in der amerikanischen Rechtstheorie handelt, war Holmes' Konzept, das den evolutionären Charakter des Rechts betonte, nicht völlig neu. Vgl. dazu und zum Entstehungsprozeß des „Common Law" G. E. White (Fn. 10), S. 148 ff. 18 Ο. W. Holmes, ebd., S. 8. 19 „The very considerations which judges most rarely mention, and always with an apology, are the secret root from which the law draws all the juices of life. I mean, of course, considerations of what is expedient for the community concerned.", ebd., S. 3Iff. 20 „The first requirement of a sound body of law is, that it should correspond with the actual feelings of the community, whether right or wrong.", ebd., S. 36. 21 Ebd., S. 37ff. Ein weiteres Beispiel für Holmes' These, daß die Interessen des einzelnen denen der Gesellschaft geopfert werden sollten, findet sich in seiner Unterstützung der Ausweitung des Prinzips der verschuldensunabhängigen Haftung auf das Zivilrecht, ebd., S. 67.

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„Common Law" war, daß Recht durch richterliche Kreativität zur primären Institution der rationalen Koordinierung gesellschaftlichen Wandels wird. 2 2 Holmes' Ansatz wird als Vereinigung von Darwinismus und Rechtstheorie beschrieben. 23 Holmes' Sichtweise des common law war der Grund, auf dem die amerikanische Rechtstheorie des 20. Jahrhunderts aufbaute.

IV. Recht und Sozialmoral Holmes' behandelte in seinem 1897 veröffentlichten Aufsatz „The Path of L a w " 2 4 , einem der meistzitierten Aufsätze in der amerikanischen rechtswissenschaftlichen Literatur überhaupt, die Interrelation zwischen Recht und Moral. Holmes beschränkte die Aufgabe der Rechtswissenschaft darauf, das Aufeinandertreffen des einzelnen mit der öffentlichen Gewalt in Gestalt der Gerichte möglichst präzise vorherzusagen. Das Recht sei nicht mehr als die Vorhersage dessen, was Gerichte tun werden. 25 Eine Rechtspflicht habe in diesem Zusammenhang keine andere Bedeutung, als daß im Fall ihrer Nichtbefolgung eine rechtliche Sanktion drohe. Der Inhalt des Rechts hänge eng mit den jeweils dominanten Moralvorstellungen zusammen. 26 Die Trennung von Recht und Moral sei lediglich für analytische Zwecke notwendig. Nur so könne die Wirkungsweise des Rechts besser verstanden werden. Holmes führte sein berühmtes „bad man" Beispiel an. Wenn man das Recht verstehen wolle, müsse man in die Rolle eine schlechten Menschen (bad man) schlüpfen. Dieser interessiere sich nicht für die Rechtsidee, sondern nur für die materiellen Konsequenzen seines Handelns. Recht funktioniere unabhängig von den moralischen Motiven der Rechtssubjekte. Holmes verwies auf die Gefahr des unbemerkten Überschreitens der Grenze zwischen Recht und Moral. Aufmerksamkeit verdiene nur das tatsächlich aner22

So die Formulierung bei M. Tushnet (Fn. 10), S. 977. Vgl. J. Vetter, The Evolution of Holmes, 72 Cal. L. Rev. 343, 362 (1984). 24 10 Harv. L. Rev. 457 (1897). 25 „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.", ebd., S. 461. Eine ähnliche Definition legte Holmes seiner Urteilsbegründung zu American Banana Co. v. United Fruit Co, 213 U.S. 347, 356 zugrunde: „a statement of the circumstances in which the public force will be brought to bear upon men through the courts ...". 26 „The law is the witness and external deposit of our moral life. Its history is the history of the moral development of the race.", O. W. Holmes (Fn. 24), S. 457 ff. Vgl. auch ders., „So when it comes to the development of a corpus juris the ultimate question is what do the dominant forces want and do they want it hard enough to disregard whatever inhibitions may stand in the way. ... I should think the only principles worth talking about were the existing notions of public policy.", in: H. Shriver (Fn. 12), S. 187f. 23

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kannte und durchgesetzte Recht. Holmes wandte sich gegen die Auffassung, daß ein von den Entscheidungen der Gerichte unabhängiges Recht existiere. Der „bad man" kümmere sich nicht um abstrakte Gedankensysteme, um Deduktionen aus ethischen Prinzipien. Ihm komme es auf die Konsequenzen an, die sein Tun vor den Gerichten nach sich ziehe. 27 Daher müßten die Faktoren rational analysiert werden, die die Entwicklung des Rechts ausmachten. Holmes wandte sich gegen die auf Austin zurückgehende Vorstellung, daß das Recht allein mit logischen Methoden beschrieben werden könne. Zwar habe die Logik eine besondere Bedeutung. Die Sprache der Juristen wimmele von Analogien und Deduktionen. Dennoch sei viel zu wenig bewußt, wie sehr das Recht schon von einem geringen Wandel der öffentlichen Meinung abhängig sei. Jede Entscheidung verkörpere Wertungen, die mit Logik allein nicht erklärbar seien. 28 Holmes kritisierte, daß Richter sich nicht der Pflicht bewußt seien, Gemeinwohlinteressen in Abwägungen einzubeziehen. Diese Pflicht sei unvermeidlich. Die richterliche Aversion gegen solche Erwägungen führe dazu, daß die wahren Gründe für die Entscheidungen oft unausgesprochen und unbewußt blieben. 29 Holmes' Streben nach sicher vorhersagbaren richterlichen Entscheidungen wurde später als überragendes Thema seines rechtstheoretischen Wirkens bezeichnet. In diesen Zusammenhang ist Holmes' Engagement gegen syllogistische und naturrechtliche Rechtsmodelle, die nicht dem tatsächlichen Wirken des Rechts entsprachen, einzuordnen. 30 Holmes vertrat einen evolutionären Rechtsbegriff. Das Recht sei nicht universell gültig, sondern entwickele sich im Einklang mit sozialen Idealen. Der Grund für die meisten Rechtsregeln sei in der Vergangenheit zu suchen. Es sei jedoch unakzeptabel, solche Rechtsregeln beizubehalten, deren historische Gründe im nachhinein weggefallen seien. 31 Holmes strebte an, daß nicht die Geschichte, sondern die Zwecke des Rechts im Zentrum der Rechtswissenschaft stehen. 32 Der Jurist müsse sich an den Wirtschaftswissenschaften orientieren. 33 Das Recht sei kein Selbst27

Ebd., S. 459 ff. Siehe auch: „The law can ask no better justification than the deepest instincts of man", O. W. Holmes (Fn. 24), S. 477. 29 Ebd., S. 464ff. 30 M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 110. 31 „It is revolting to have no better idea for a rule of law that so it was laid down in the time of Henry IV.", O. W. Holmes (Fn. 24), S. 468 f. 32 Insofern sind Holmes und Ihering vergleichbar. Beide betonten den Zwecküber den Systemgedanken. Ihering beharrte jedoch auf dem „Rechtswert", unterschied sich mithin von Holmes insofern, als er nicht die bedingungslose Anpassung des Rechtssystems an die Forderungen der gesellschaftlich dominanten Strömungen forderte. Näher dazu W. Fikentscher (Fn. 1), S. 172ff., 21 Iff. 28

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zweck, sondern müsse immer dem sozialen Zweck dienen, der von der in der Gemeinschaft dominierenden Macht gewünscht werde. Die Rechtswissenschaft solle sich nicht auf die Entwicklung von Dogmen oder logischen Deduktionen konzentrieren, sondern ihre Anstrengungen auf die korrekte Erfassung gesellschaftlicher Bedürfnisse ausrichten. 34 Die Stärke gesellschaftlicher Interessen sei jedoch von dem jeweils betrachteten Zeitraum abhängig. Das Recht müsse im Einklang mit den Wünschen der Gemeinschaft angewandt werden. Wenn zwei gleichstarke Interessen kollidierten, könnten Richter nicht auf Logik zurückgreifen, sondern müßten eine souveräne Abwägungsentscheidung treffen. 35 Holmes schrieb in seinem Dissent zu Southern Pacific Co. v. Jensen, daß er anerkenne, daß Richter legislativ tätig seien. Sie seien jedoch „auf die Zwischenräume begrenzt". 36 Holmes hatte damit alle wesentlichen Forderungen des legal realism vorweggenommen: Die Abkehr von der analytischen Methodik des 19. Jahrhunderts, die analytische Trennung von Recht und Moral, die Orientierung der Rechtswissenschaft an den praktischen Bedürfnissen, die Anerkennung der Bedeutung der aufkommenden Sozialwissenschaften sowie die Hervorhebung des Einflusses, den die subjektiven moralischen Vorstellungen der Interpreten des Rechts haben.

V. Holmes 9 Verständnis von der Aufgabe der Richter Holmes' bekannteste Stellungnahme zur Rolle des Richters ist sein bereits behandelter Dissent in Lochner v. New York. Holmes war der Auffassung, daß Richter den Wertungen der Legislative in fast allen Fällen Vorrang einräumen sollten. Er argumentierte, daß sich die richterliche und die legislative Tätigkeit nicht unterschieden. Richter müßten bei der rechtlichen Interpretation politische und moralische Erwägungen anstellen. Nach Holmes' erkenntnistheoretischer Auffassung gibt es keine objektiv erkennbaren Werte. Werte sind Präferenzen, Produkte ihrer Zeit, bloße „can't helps". Es erschien Holmes daher unsinnig, seine eigenen Werte höher zu stellen als die der gesellschaftlich dominanten Gruppen. Wenn Rechtsanwendung vor allem Abwägung sozialer Interessen bedeutet, ist der Legislative als der hierzu am besten geeigneten Institution Vorrang einzuräumen. 33

O. W. Holmes (Fn. 24), S. 474f. O. W. Holmes, Law in Science and Science in Law, in: Collected Legal Papers, 1920, S. 210f., 225f., 242. 35 Ebd., S. 238 f. 36 „I recognize with hesitation that judges do and must legislate, but they can do so only interstitially; they are confined from molar to molecular motions.", Southern Pacific Co. v. Jensen, 244 U.S. 205, 221 (1917) (Holmes, O. W., dissenting). 34

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Das Rechtssystem ist für Holmes lediglich Mittel zur Durchsetzung der Bestrebungen der dominanten Gruppen in der Gesellschaft. 37 Holmes formulierte einmal, daß es die Aufgabe der Richter sei, der Menge zu geben, was sie wolle. 3 8 In seinem Dissent zu Abrams v. U.S. schrieb Holmes, daß die Verfassung, wie das Leben, ein Experiment sei. 3 9 Holmes sah im Richter einen unbeteiligten Zuschauer dieses Experiments. Sein Lochner- Dissent kann als Beispiel für diese Position angeführt werden. Holmes kritisierte, daß der Lochner-Court die Wertungen der Legislative ignorierte, das Experiment Verfassung gewissermaßen störte. Holmes ' restriktives Gewaltenteilungsmodell ist Konsequenz seiner erkenntnistheoretischen und rechtstheoretischen Position. Obwohl Holmes über 50 Jahre als Richter tätig war, hat er relativ wenige richterliche Innovationen hinterlassen. Seine richterliche Tätigkeit war durch die Befolgung von Präjudizien und Einräumung weiter Spielräume für die Legislative gekennzeichnet. Holmes suchte, das Recht zu präzisieren und nicht zu reformieren. Er griff bei der Verfassungsinterpretation oft zu common-law-Methoden. Das zentrale Problem des common law, politische Wertungen der Richter, existierte für Holmes nicht im Verfassungsrecht, wo er auf die Weitungen der Legislative vertrauen konnte. 40 Er wollte das Recht nicht moralisch beeinflussen, sondern ließ in der Regel den in den Gesetzen manifestierten Vorstellungen der Gemeinschaft den Vorrang. 41 Holmes wird daher als skeptisch konservativer Richter beurteilt. 42 Obwohl er den Anschauungen der politischen Mehrheit persönlich kaum Sympathie entgegenbrachte, hielt sich Holmes als Richter mit seinen eigenen politischen und moralischen Urteilen zurück. Ihm ging es darum, der Gemeinschaft zu dienen und nicht darum, ihr Vorschriften zu 37

Y. Rogat, Mr. Justice Holmes: Some Modem Views, 31 U. Chi. L. Rev. 213, 250 (1964). 38 Das einschlägige Zitat lautet: „However, I am so sceptical as to our knowledge about the goodness or badness of laws that I have no practical criticism except what the crowd wants. Personally I bet that the crowd if it knew more wouldn't want what it does - but that is immaterial.", Holmes-Pollock Letters, M. Howe (Hrsg.), Bd. I, 1941, S. 163. 39 250 U.S. 616, 630 (1919) (Holmes, O. W., dissenting). Vgl. auch D. Luban (Fn. 14), S. 462 m.w.N., der zu dem Ergebnis kommt, daß Holmes als Richter der „Thayer's rule" folgte, nach der nur solche Gesetze verfassungswidrig sind, die einen klaren Fehler beinhalten (rule of clear mistake). Holmes formulierte in einem Brief an Laski drastischer: „a law is constitutional unless it makes me puke ...", Holmes-Laski Letters (Fn. 12), Bd. II, S. 888. 40 So Y. Rogat (Fn. 37), S. 214f. m.w.N. und M. Tushnet (Fn. 10), S. 1025. 41 M. Lerner (Fn. 9), S. 45 f. 42 Y. Rogat (Fn. 37), S. 225; G. E. White (Fn. 10), S.408ff.

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machen. 43 Holmes schrieb in einer Rede über seine richterlichen Tätigkeit, daß er versucht habe, die gegenwärtigen Tendenzen und Bestrebungen der Gesellschaft zu berücksichtigen. Da jedoch keine wissenschaftlich exakte Bewertung dieser Interessen möglich gewesen sei, habe er in der Regel dem bereits existierenden Recht den Vorrang eingeräumt. Dieses Recht habe einen Vorzug, es existiere bereits. 44 VI. Holmes 9 Sozialdarwinismus Die Holmes-Kritik nimmt oft auf den von Holmes vertretenen Sozialdarwinismus Bezug. Holmes ließ seine eigenen politischen und moralischen Ansichten in der Regel nicht in seine rechtswissenschaftlichen Ausführungen und Urteilsbegründungen einfließen. Der Umfang dieser Ansichten wurde erst nach dem Tode Holmes' sichtbar, als seine Briefwechsel mit den englischen Historikern Frederick Pollock und Harold Laski veröffentlicht wurden. 45 Bis zum Ende der dreißiger Jahre wurde Holmes vor allem vor dem Hintergrund seiner liberalen Rechtsprechung zum 1. Amendment beurteilt. 46 Holmes hatte jedoch bereits 1873 in einem Beitrag für die American Law Review seine sozialdarwinistischen Ansichten niedergelegt. Holmes setzte den Kampf ums Dasein bei Tieren und Menschen gleich. Aufgabe der Legislative sei es, Gesetze der de facto herrschenden Macht anzupassen. Die Gesetzgebung müsse den stärksten gesellschaftlichen Interessen entsprechen. Sie müsse benutzt werden, um das Überleben der Stärksten zu sichern. Holmes wandte sich dagegen, in jedem Fall die Interessen der zahlenmäßigen Mehrheit zu berücksichtigen. Die Interessen einer gegenwärtigen Minderheit könnten die Interessen der zukünftigen Mehrheit sein. Es komme immer auf die jeweils mächtigste Gruppe an. 4 7 Für Ideale, die von 43

So T. C. Grey (Fn. 8), S. 27, 38 m.w.N.; D. Luban (Fn. 14), S. 489f., verglich Holmes ' Verständnis von seiner Rolle als Richter mit dem Ethos eines Soldaten, der pflichtbewußt jeden Befehl ausführt, den ihm die Legislative gibt. Holmes schrieb über das Verhältnis von Volk und Judikative: „ I hope and believe that I am not influenced by my opinion that it is a foolish law. I have little doubt that the country likes it and I always say, as you know, that if my fellow citizens want to go to Hell I will help them.", Holmes-Laski Letters (Fn. 12), Bd. I, S. 248. 44 O. W. Holmes , Twenty Years in Retrospect, in: The Occasional Speeches of Justice Oliver Wendell Holmes, Mark de Howe (Hrsg.), 1962, S. 154, 156. 45 Zu der Wirkung der Veröffentlichungen vgl. Ε. A. Purcell (Fn. 5), S. 167 f. 46 Zu diesem Mißverständnis vgl. F. E. Lucey, Holmes-Liberal-Humanitarian-Believer in Democracy?, 39 Geo. L. J. 523, 524 (1951) und G. E. White (Fn. 10), S. 408. Auch Gustav Radbruch porträtierte Holmes, offensichtlich in Unkenntnis der Briefwechsel mit Laski und Pollock, nicht als skeptischen Sozialdarwinisten, sondern als liberalen Verteidiger der Menschenrechte: ders. y Oliver Wendell Holmes, SJZ 1 (1946), S. 25 ff.

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den Anschauungen der gegenwärtig dominanten Gruppen abweichen, gibt es nach Holmes' Auffassung keinen Platz. 48 Holmes lehnte daher auch jeden Minderheitenschutz ab und erkannte keine absoluten Menschenrechte 49

an. Holmes' Sozialdarwinismus wird meist im Zusammenhang mit dem Positivismus von Auguste Comte sowie dem Skeptizismus gesehen, der Folge der Lehren von Descartes, Hume und Kant war. Da es keine absoluten, universellen Werte gebe, sei es nur folgerichtig, die Werte zu bevorzugen, die aus dem ständigen Wettstreit der Ideen als Sieger hervorgehen. Werte wurden pragmatisch aufgefaßt. Ihre Bedeutung wurde auf den Zeitraum begrenzt, in dem sie mehrheitsfähig waren. Es gebe keine notwendigen Prinzipien, nur „can't helps". 50 VII. Holmes als wichtigster Vertreter des amerikanischen Pragmatismus Die Klassifizierung von Holmes' philosophischen und rechtstheoretischen Ansichten ist bis heute umstritten. 51 Holmes wird oft als Positivist, Utilitarist oder Konsequentialist bezeichnet. Holmes' Einordnung fällt deshalb schwer, weil er eine Vielzahl oft einander widersprechender Äußerungen hinterlassen hat und keine systematische Zusammenfassung seiner philosophischen und rechtstheoretischen Ansichten vorliegt. 47 „The more powerful interests must be more or less reflected in legislation; which, like every other device of man or beast, must tend in the long run to aid the survival of the fittest.", O. W. Holmes , The Gas-Stroked Strike, in: S. M. Novick (Hrsg.), Justice Holmes, Complete Public Writings, 1995, S. 323, 325. Vgl. auch O. W. Holmes , Montesquieu, in: Collected Legal Papers, 1920, S. 250, 258, wo Holmes bemerkte, daß es Aufgabe einer Regierung sei, das tatsächliche Gleichgewicht innerhalb der Gemeinschaft zu reflektieren, den Wünschen der dominanten Macht zu entsprechen. 48 D. Luban (Fn. 14), S. 498. 49 „And I understand by human rights what a given crowd will fight for (successfully).", Holmes-Laski Letters (Fn. 12), Bd. I, S. 115 (1953). 50 Ausführliche Schilderungen des philosophischen Hintergrunds Holmes' sind bei F. E. Lucey (Fn. 46), S. 525 ff. und D. Luban (Fn. 14), S. 464ff., 470ff. zu finden. 51 So zieht D. Luban, ebd., S. 464ff., 476ff., Parallelen zwischen Holmes und Nietzsche und nennt Holmes einen Metaphysiken Auch R. A. Posner (Fn. 3), S. 239ff., vergleicht Holmes mit Nietzsche. Während letzterer die Moral mit der öffentlichen Meinung gleichsetze, habe Holmes das Recht auf die dominante öffentliche Meinung reduziert. Beide seien konsequente Skeptiker gewesen, die einen aphoristischen Stil gepflegt hätten. Ders. (Fn. 8), S. 196, weist zutreffend darauf hin, daß Holmes nicht einer einzigen rechtstheoretisehen und philosophischen Richtung zugeordnet werden kann, sondern eine Mischung verschiedener Denkrichtungen („isms") vertrat.

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Luban hat nachgewiesen, daß Holmes kein Utilitarist war. 5 2 Der Utilitarismus baut auf der Prämisse auf, daß das Gemeinwohl aus der Summe des Wohls aller zu ermitteln sei. Holmes überließ es jedoch den dominanten Gruppen der Gesellschaft, darüber zu entscheiden, welchen Schutz Minderheiten genießen. Holmes' Gemeinwohlbegriff ist auf die Präferenzen der dominanten Mehrheit beschränkt, einer Prämisse, die in der Regel nicht von Utilitaristen geteilt wird. Holmes war zweifellos Positivist, vertrat er doch die Trennung von Sein und Sollen, die Trennung von Recht und Moral. Die Zuordnung Holmes' zum Pragmatismus ist jedoch präziser. Pragmatismus wird hier als Gegensatz zum rechtlichen Formalismus verstanden. 53 Letzterer sieht in der Rechtsanwendung einen wertungsfreien Prozeß. Nur die Legislative sei befugt, politische Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen der Entscheidung in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Der Pragmatismus sieht dagegen den Richter als Teil des sozialen Lebens an. Aufgabe des Richters sei es, sein Wirken an den Konsequenzen seines Handelns auszurichten. Der Richter wird zum Instrument der Gemeinschaft. Richter schaffen unter gewissen Umständen selbst Recht und richten diesen Prozess am Kriterium des Gemeinwohls aus. Pragmatisten greifen häufig zum Mittel der Abwägung. Rechtstheorie sei nur insofern relevant, als sie die kontextuelle Natur des Rechts berücksichtige, d.h. die Wechselwirkung zwischen Recht und Wirklichkeit. 5 4 Benjamin Cardozo und Richard Posner sind zwei weitere in dieser Untersuchung behandelte einflußreiche amerikanische Richter, die dem Pragmatismus zugerechnet werden. VIII. Die Holmes·Kritik Während Holmes zunächst der Ausgangspunkt für die die zwanziger und dreißiger Jahre dominierende Bewegung des legal realism wurde, wurde in den vierziger Jahren verstärkt Kritik an Holmes laut. Lon Fuller attackierte die von Holmes vertretene Trennung von Recht und Moral. Zum einen sei die Trennung von Recht und Moral praktisch nicht möglich, zum anderen führe sie zu selbstzerstörerischen Resultaten. 55 Fuller hielt Holmes vor, daß 52

D. Luban, ebd., S. 518 ff. Anderer Ansicht ist R. A. Posner (Fn. 3), S. 241, der Holmes als „milden Utilitaristen" bezeichnet. Letzten Endes hängt die Frage der Zuordnung Holmes zum Utilitarismus davon ab, ob man den, von Holmes nicht vorgesehenen, Minderheitenschutz als Voraussetzung des Utilitarismus versteht. 53 Vgl. T. C. Grey (Fn. 8), S. 21 f.; T.A. Aleinikoff,\ Constitutional Law in the Age of Balancing, 96 Yale L. J. 943, 958 (1987). 54 Holmes schrieb einmal an Laski : „I don't care a damn if twenty professors tell me that a decision is not law if I know that the courts will enforce it.", HolmesLaski Letters (Fn. 12), Bd. I, S. 115. 55 L. L. Fuller , The Law in Quest of Itself, 1940, S. 4ff.

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sein behavioristischer Ansatz nicht Diktaturen wie den Nationalsozialismus in Deutschland verhindern könne. 56 Holmes wurde vorgeworfen, daß, obwohl sein Wirken zum Fall der orthodoxen Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts beigetragen habe, sein theoretischer Ansatz keine Anhaltspunkte für eine neue Rechtstheorie biete. 57 Lucey, einer der vehementesten Kritiker Holmes', stellte Holmes und Hitler auf eine Stufe. Weil Holmes sich darauf beschränke, der jeweiligen Mehrheit zu folgen, setze er Wahrheit mit Macht gleich. Die einzigen Nutznießer von Holmes' Theorie seien die Mächtigen. Die Minderheit sei der Gnade der Mehrheit ausgeliefert. Die einzige Hoffnung für die Minderheit bestehe darin, von der Mehrheit toleriert zu werden. Leben werde so zum Kampf ums Dasein reduziert. Holmes' Demokratie sei die Demokratie des Dschungels. Die Unterordnung der Moral unter die Macht habe zur Etablierung des Hitler-Regimes geführt. Holmes könne derartigen Gefahren nichts entgegensetzen. Zudem sei Holmes' Theorie nicht praktikabel. Holmes übersehe, daß das Recht tatsächlich aus moralischen und religiösen Motiven befolgt werde. Das amerikanische System sei nicht lebensfähig, wenn Holmes' Skeptizismus die moralischen Grundlagen der Vereinigten Staaten ablöste. 58 Zumindest der letzte Vörwurf ist auf einem Mißverständnis gegründet. Holmes behandelte nicht die Moral als Befolgungsgrund des Rechts. Er riet dem „good man" nie, das Verhalten des „bad man" zu übernehmen. Er empfahl lediglich, daß der „good man" über die Realität des Rechts lernt, indem er am Beispiel des „bad man" beobachtet, wie das Recht funktioniert. 59 Mark deWolfe Howe, der Biograph Holmes', versuchte, Holmes gegen diese Angriffe zu verteidigen. Er wies darauf hin, daß die Ursache für die Kontroverse um Holmes in den unterschiedlichen philosophischen Prämissen liegt und nicht, wie von einigen Kritikern Holmes', insbesondere Fuller , behauptet, in Holmes' Positivismus. Howe wandte sich insbesondere gegen die These, daß Holmes selbst nicht die traditionellen amerikanischen Werte vertreten habe. Er verwies darauf, daß Holmes voller Idealismus im amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte. Schließlich betonte Howe den von einigen Kritikern vernachlässigten Unterschied zwischen Rechtsquelle und Rechtsinhalt. Holmes habe sich nur dagegen ausgesprochen, daß bestimmte moralische Prinzipien unabhängig von ihrer Akzeptanz notwen56

Ebd., S. 117, 120ff. So etwa J. Vetter (Fn. 23), S. 348 f. 58 F. E. Lucey (Fn. 46), S. 533, 547, 550, 561. 59 So schon J. Frank, Mr. Justice Holmes and Non-Euclidian Legal Thinking, 17 Cornell L. Q. 568, 571 (1932). 57

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diger Inhalt des Rechts werden. Holmes habe jedoch nie den Zusammenhang zwischen Recht und Moral geleugnet. Er habe im Gegenteil immer darauf hingewiesen, daß die Sozialmoral die wichtigste Quelle des Rechts ist. Holmes könne daher nicht vorgeworfen werden, daß er eine unmoralische Rechtsordnung wolle. 6 0 IX. Zusammenfassung Oliver Wendell Holmes wird zu Recht als bedeutendster amerikanischer Jurist dieses Jahrhunderts bezeichnet. Aufgewachsen mit dem Rechtsverständnis des 19. Jahrhunderts, fand er die Kraft, sich von der Vorstellung zu lösen, daß das Recht ein objektiv erkennbares, zeitunabhängiges Gebilde sei, das von jedem Richter auf dem Wege der Deduktion wertungsfrei angewandt und fortgebildet werden könne. Holmes hat, so eine Formulierung von Jerome Frank, den rechtlichen Mystizismus des 19. Jahrhunderts aufgegeben. 61 Er hatte, ohne den Begriff selbst zu benutzen, den Charakter der Jurisprudenz als Wertungsjurisprudenz erkannt. Dabei war Holmes nicht isoliert, sondern vielmehr Teil einer Bewegung von Juristen. Hintergrund für diese Bewegung war das Streben nach Vorhersagbarkeit und Konstanz des Rechts. 62 Holmes war jedoch Realist genug, um die intuitive Natur der Rechtsanwendung zu erkennen. Seine Forderungen nach Rationalität und Vorhersagbarkeit des Rechts und sein gleichzeitiges Eingestehen der intuitiven Natur des Interpretationsprozesses werden Holmes' dialektischer Denk- und Ausdrucksweise zugeschrieben. 63 Die Sozialmoral, die Gefühle und Forderungen der Gemeinschaft, wie Holmes häufig das in dieser Untersuchung behandelte Phänomen umschrieb, wurde von Holmes als wichtige, jedoch meist im Verborgenen wirkende Rechtsquelle identifiziert. Holmes wies darauf hin, daß die Akzeptanz des Rechts, die durch Übereinstimmung mit den dominanten Wertvorstellungen gesichert werde, wichtiger sei als den Gesetzen der Logik entsprechende Begründungen. Er lenkte die Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft auf das tatsächliche Leben und wurde so zum Begründer des amerikanischen Pragmatismus und zugleich zum Vater des legal realism. 60 M. Howe, The Positivism of Mr. Justice Holmes, 64 Harv. L. Rev. 529, 535, 541 ff. (1951). 61 J. Frank, Law and the Modern Mind, 1935, S. 256, 259. 62 M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 112, 116 m.w.N. Horwitz schreibt Holmes auch das Verdienst zu, die Rechtstheorie (»jurisprudence") als eigenständige Fachrichtung in den Vereinigten Staaten etabliert zu haben. Ebd., S. 117. 63 Vgl. hierzu T. C. Grey (Fn. 8), S. 24.

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Die Angriffe, die gegen Holmes von Vertretern naturrechtlicher Schulen vorgebracht wurden, verfehlten ihr Ziel. Sie lassen sich letztendlich darauf reduzieren, daß Holmes nicht die philosophischen Prämissen dieser Kritiker teilte. 64 Zwar ist einzuräumen, daß Holmes' Positivismus nicht in der Lage ist, dem Nationalsozialismus vergleichbare Diktaturen zu verhindern. Vertreter naturrechtlicher Ansätze.stehen jedoch vor dem ähnlichen Dilemma, begründen zu müssen, welche Prinzipien unabhängig von der herrschenden Sozialmoral gelten sollen. Auch sie sind nicht in der Lage, Diktaturen zu verhindern. Werte, die als absolut vertreten werden, tendieren dazu, andere Werte auszuschließen. Holmes' Ansatz läßt Raum für die Koexistenz verschiedener Werte. Er erscheint eher geeignet, einen toleranten Wettstreit der Werte zu gewährleisten. Der von Holmes' vertretene Sozialdarwinismus spiegelte seine persönlichen Ansichten wieder. Holmes betonte mehrmals, daß diese Ansichten keinen Einfluß auf seine Rolle als Richter haben dürfen. 65 Weder Holmes' Modell der Gewaltenteilung noch seine rechtstheoretischen Ansichten setzen den Sozialdarwinismus voraus. Holmes' Richterbild und Demokratieverständnis waren und sind umstritten. Die Frage, ob die Wertvorstellungen von Richtern in fast jedem Fall, wie in Holmes' Lochner- Dissent gefordert und von ihm selbst als Richter praktiziert, hinter die der Legislative zurücktreten sollten, wird auch heute nicht einheitlich beantwortet. Holmes' Verdienst liegt jedoch unbestreitbar darin, daß er auf die Problematik der Relation zwischen Recht und Sozialmoral aufmerksam gemacht hat. Die Erkenntnis, daß Rechtsanwendung zwingend ein Unternehmen wertender Natur ist, machte Holmes, mit den Worten von Jerome Frank, „zum ersten erwachsenen Juristen". 66

64

Dies gilt auch für Fikentschers Auseinandersetzung mit Holmes. Vgl. ders. y Rechtswissenschaft und Demokratie bei Justice Oliver Wendell Holmes, 1970. Fikentscher, ebd., S 34f. sowie (Fn. 1), S. 182f., 218ff., kritisiert vor allem Holmes' Demokratieverständnis und postuliert im Gegensatz zu Holmes bestimmte Werte, unter anderem die machtbegrenzende Funktion des Rechts, als absolut. Fikentschers Argumentation erscheint jedoch insofern inkonsistent, als er zum einen bestimmte „Grundwerte" voraussetzt, ohne die er die Rechtsidee gefährdet sieht, andererseits eine „Diktatur der Werte" ablehnt. Vgl. ebd., S. 219, besonders Fn. 202. Letzten Endes gibt es keinen anderen Ausweg als das Bekenntnis zu bestimmten absoluten Werten, dem, was Holmes als Naturrecht kritisierte, oder Holmes' konsequenten Wertrelativismus. 65 Holmes scheint dieses Postulat in seiner richterlichen Tätigkeit umgesetzt zu haben. Dies wird schon daraus erkennbar, daß seine sozialdarwinistische Grundhaltung erst nach der postumen Veröffentlichung seiner Briefwechsel mit Laski und Pollock bekannt wurde, aus seinen richterlichen Äußerungen mithin nicht ableitbar war. 66 J. Frank (Fn. 61), S. 253. Zur Bedeutung dieser Charakterisierung vgl. sogleich S. 225 f. 14 Schiwek

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

C. Benjamin Nathan Cardozo Benjamin Nathan Cardozo, Sohn eines Richters, war 18 Jahre lang (1917-1932) als Richter am New York Court of Appeals tätig. In dieser Zeit begründete er seine Reputation als einer der herausragenden commonlaw-Richter in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der New York Court of Appeals wurde unter seiner Führung, Cardozo nahm sechs Jahre die Position des Chief Judge ein, zum angesehensten state court der Vereinigten Staaten. Cardozo wurde daraufhin von Präsident Hoover als Nachfolger von Oliver Wendeil Holmes an den Supreme Court berufen. Seine sechsjährige Tätigkeit als Richter am Supreme Court war jedoch weniger fruchtbar. Cardozo verfaßte dort nur wenige Entscheidungen, die in ihrer Bedeutung mit seinen Urteilsbegründungen am New York Court of Appeals vergleichbar sind. 67 Eine Ausnahme hiervon stellt die bereits behandelte Due-Process-Entscheidung Palko v. Connecticut dar. Cardozos bekanntestes und für diese Untersuchung wichtigstes Werk beschäftigt sich mit der Methode der Rechtsfindung. Cardozo faßte seine Einsichten als Richter am Court of Appeals des Bundesstaates New York in den an der Yale University gehaltenen „Storrs Lectures" zusammen und veröffentlichte diese unter dem Titel „The Nature of the Judicial Process". Diese Abhandlung wird heute als Cardozos Hauptwerk angesehen. Sie ist eines der meistzitierten Werke der amerikanischen Rechtstheorie überhaupt. 68 Im Gegensatz zu Holmes, der seine rechtstheoretischen Ansichten oft in Epigrammen oder knapp gehaltenen Aufsätzen darlegte, bevorzugte Cardozo einen breiten Stil. Er wog das Für und Wider jeder Meinung sorgfältig ab und läßt den Leser so am Entstehungsprozeß seiner Ansichten teilhaben. 69 I. Der Ausgangspunkt - Holmes und die Freirechtsbewegung Cardozo, der seiner Bewunderung für Holmes an anderer Stelle Ausdruck verlieh 70 , stellte sich zu Beginn von „The Nature of the Judicial Process" gegen den Formalismus des 19. Jahrhunderts und auf die Seite Holmes'. Er 67

Eine ausführliche Untersuchung zur Cardozos richterlicher Tätigkeit findet sich bei R. A. Posner, Cardozo, A Study in Reputation, 1990, 125 ff. 68 Cardozo verfaßte zwei weitere rechtstheoretische Monographien, The Growth of Law (1924) und The Paradoxes of Legal Science (1928), deren Bedeutung aber hinter „The Nature of the Judicial Process" weit zurückbleibt. Siehe R. Α. Posner , ebd., S. 20 m.w.N. Zu „The Nature of the Judicial Process" vgl. auch die Besprechung von Harlan F. Stone, Book Review, 22 Colum. L. Rev. 382 (1922). 69 Zum Stil Cardozos vgl. näher R. A. Posner, ebd., S. 2If. sowie M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 191 f. 70 Siehe Β. N. Cardozo (Fn. 8), S. 682.

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nahm im Methodenstreit Stellung, indem er sich zu der These bekannte, daß Richter Recht schaffen. 71 Ihm gehe es, so Cardozo, darum, das Prinzip näher zu beschreiben, das dem richterlichen Rechtssetzungsprozeß zugrunde liege. Cardozo wies zunächst auf die oft unbewußt wirkenden Instinkte der Richter hin, die von ihnen anerkannten Traditionen, ihre Vorstellungen vom Gemeinwohl, ihr Vorverständnis. Der Einfluß dieser Faktoren auf die richterliche Tätigkeit müsse möglichst rational beschrieben werden. 72 Ein starres, zeitunabhängiges Naturrecht im Sinne Blackstones könne, so Cardozo, nicht mehr akzeptiert werden. Cardozo lehnte vorpositives Recht ab. Das moderne Recht habe mit dem alten Naturrecht das Streben nach Gerechtigkeit gemein. Jedoch habe dieses Streben im Gegensatz zum Naturrecht seine Grenzen im positiven Recht. Ein ideales, ewiges Recht könne von der modernen Rechtsschule nicht anerkannt werden. Es gebe nur das eine, das jeweils geltende Recht. Es bleibe jedoch das ewige Streben nach dem Ideal gerechten Rechts. 73 Cardozo verwies auf die Werke Génys, Ehrlichs und Kantorowicz ,74 und die von diesen Autoren verwendete soziologische Methode. Die Freirechtsschule, so Cardozo, sei vor allem im Bereich des Verfassungsrechts dominierend. 75 Der Inhalt der großen Abstraktionen der Verfassungen ändere sich von Zeit zu Zeit. Interpretation sei mehr als die Erfassung des Willens der Autoren der Rechtsnorm. Richter müßten die Lücken ausfüllen, die entstünden, wenn die Verfassung oder Gesetze schwiegen. 76 Dabei stehe ihnen bei der Verfassungsinterpretation ein besonders großer Spielraum zu. 7 7

II. Die Methoden des Richters Ausgangspunkt jeder richterlichen Entscheidung seien die Präjudizien. Sie seien zwar nicht die einzige Quelle des Rechts. Stare decisis sei jedoch 71

„ I take judge-made law as one of the existing realities of life.", B. N. Cardozo , The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 10. 72 Ebd., S. 12f., 116f. 73 Ebd., S. 131 ff. 74 Cardozo zitierte Genys „Méthode d*Interpretation et Sources en droit privé positif 4 , Ehrlichs „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" sowie das von Kantorowicz unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius veröffentlichte Werk „Der Kampf um die Rechtswissenschaft", ebd., S. 15 f. 75 Zum Einfluß der deutschen Freirechtsbewegung auf die Lehren Cardozos, Pounds und den amerikanischen legal realism vgl. J. E. Herget/S. Wallace , The German Free Law Movement as the Source of American Legal Realism, 73 Va. L. Rev. 399 (1987). 76 „The great generalities of the constitution have a content and a significance that vary from age to age.", Β. N. Cardozo (Fn. 71), S. 16 f. 77 Ebd., S. 71. 14*

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

die „tägliche Arbeitsregel des Rechts". 78 Jeder Entscheidung wohne aber auch eine schöpferische Kraft inne. Das common law sei induktiv, Prinzipien würden aus einzelnen Entscheidungen abgeleitet. 79 Jeder neuer Fall sei ein Experiment. Wenn sich eine Regel nicht bewähre, werde sie Schritt für Schritt umformuliert. Für jede Tendenz gebe es eine gegensätzliche Tendenz. Nichts sei absolut, alles sei im Fluß. Es gebe, wie schon von Heraklit bemerkt, ein ewiges Werden. Obwohl der Einfluß der Legislative größer geworden sei, sei der Wandel des Rechts in erster Linie von Richtern zu RO verantworten. Cardozo unterschied vier Methoden, nach denen Richter entscheiden, ob sie bestimmte Präjudizien befolgen sollten. Die erste Methode nannte Cardozo die „philosophische Methode" oder die Methode der Analogie. Hinzu komme die „Methode der Evolution", die auf die historische Entwicklung zurückgreife. Die „traditionelle Methode" orientiere sich an den Sitten und Bräuchen der Gemeinschaft. Schließlich gebe es die „soziologische Methode", die die Sozialmoral, die mores, die Gerechtigkeits- und Gemeinwohlvorstellungen umfasse. 81 Die „philosophische Methode", die Methode der Logik, stehe am Anfang. Gleiche Fälle würden in der Regel gleich entschieden. Die Befolgung der Präjudizien sei die Regel, nicht die Ausnahme. 82 Jedoch könne diese Methode nicht über einen gewissen Punkt hinweghelfen, an dem Analogien und Logik versagten. Der Richter müsse deshalb zu anderen Hilfsmitteln greifen. Die logische Methode, zitierte Cardozo zustimmend Gény , werde dann mißbraucht, wenn sie als einzige, als höchste Methode angesehen werde. 83 Die historische Methode könne dann weiterhelfen, wenn die logische Methode versage. Die Geschichte könne die Erklärung für Ergebnisse der logischen Methode liefern. 84 Ähnliches gelte für die traditionelle Methode. Sitten hätten vor allem bei der Anwendung von Rechtsregeln auf neue Sachverhalte Bedeutung. 85 78

Ebd., S. 19f. Cardozo bemerkte, daß die induktive Methode das amerikanische Rechtssystem vor vielen Fehlem und Gefahren gerettet habe, die mit der deduktiven kontinentaleuropäischen Methode einhergingen, ebd., S. 46. 80 Ebd., S. 23, 25, 27 f. Vgl. hierzu auch B. N. Cardozo, Jurisprudence, in: Selected Writings, M. E. Hall (Hrsg.), 1947, S. 7, 18. 81 Β. Ν. Cardozo (Fn. 71), S. 30f. Im folgenden wird Cardozos Terminologie verwendet, d. h. die „philosophische Methode" steht für die Bedeutung der Logik im Recht, die „soziologische Methode" behandelt nicht die Bedeutung der Soziologie, sondern Gemeinwohlerwägungen. Vgl. hierzu auch R. A. Posner (Fn. 67), S. 26. 82 Β. N. Cardozo, ebd., S. 33 f., 149ff. 83 Ebd., S. 43, 47. 84 Ebd., S. 51, 55. 79

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ΠΙ. Recht und Sozialmoral oder die „Methode der Soziologie" Die wichtigste Methode sei jedoch die Methode der Soziologie. Recht habe den Zweck, das Gemeinwohl zu fördern. Dieser Zweck müsse alle anderen Methoden dominieren. Cardozo warnte vor den Gefahren des „Dämons Formalismus", des Versuchs, den Intellekt in eine wissenschaftliche Ordnung zu pressen. Zwar seien Richter nicht befugt, sämtliche Rechtsregeln, die sie für unzweckmäßig hielten, durch andere, zweckmäßigere zu ersetzen. Das Gemeinwohl spiele vielmehr dann eine Rolle, wenn existierende Regeln eingeschränkt oder ausgeweitet werden sollten. 86 Cardozo zitierte zustimmend, daß Präjudizien dann an Bedeutung verlören, wenn sie offensichtlich unvernünftig und unzweckmäßig seien. Er verwies auf Holmes, der betont hatte, daß Richter „in den Zwischenräumen legislativ tätig seien". 87 Die Größe dieser Zwischenräume könne nur schwer bestimmt werden. Die Richter müßten sich an ihren Kollegen und Vorgängern sowie an den Traditionen orientieren. Das Recht, das bei der Ausfüllung dieser Lücken entstehe, werde nicht gefunden. Es werde von Richtern geschaffen. Dieser Prozeß sei legislativer Natur und verlange daher auch nach der Weisheit des Gesetzgebers. 88 Cardozo versuchte, den Terminus „Gemeinwohl" näher zu definieren. Dieser sei nicht auf bloße Zweckmäßigkeitserwägungen beschränkbar. Er umfasse auch solche Ziele, die in der Sozialmoral Ausdruck fänden. In letzterem Fall seien religiöse oder ethische Erwägungen anzustellen. Es gebe keinen einzigen Begriff, der all diese Faktoren beinhalte. Das deutsche Wort „Kultur" fasse diese Erwägungen am ehesten zusammen. Im Einklang mit Pound betonte Cardozo, daß sich die gegenwärtige Rechtswissenschaft zu Recht vom analytischen Rechtsbegriff entferne und einem funktionellen Rechtsbegriff zuwende. Jede Rechtsregel müsse vor allem an ihrem sozialen Nutzen gemessen werden. 89 Der Richter sollte sich in dem ihm überlassenen Spielraum an der Sozialmoral orientieren. Die entsprechenden Standards finde der Richter im Leben der Gemeinschaft. Er müsse sich hierzu derselben Methoden bedienen wie die Legislative. Es sei eine bewußte Anstrengung nötig. Der Pragmatismus sei die juristische Philosophie des common law. 9 0 Richter hätten sich am Gemeinwohl zu orientieren, um zu 85

Ebd., S. 60. Ebd., S. 66 f. 87 Ebd., S. 68f. Southern Pacific v. Jensen, 244 U.S. 205, 221 (1917) (Holmes, O. W., dissenting). 88 Β. Ν. Cardozo y ebd., S. 114 ff., 120. Cardozo zitierte zustimmend aus dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch von 1907, das dem Richter bei Versagen aller anderer Methoden anweist, legislativ zu handeln, ebd., S. 140. 89 Ebd., S. 72f. Cardozo bezog sich auf Iherings „Zweck im Recht", ebd., S. 102. 86

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

bestimmen, welche der oben aufgeführten Methoden zur Anwendung komme. Cardozo betonte die große soziale Bedeutung der Rechtssicherheit. Daher sollten Präjudizien in der Regel befolgt werden. 91 Wenn jedoch Richter die Sozialmoral ihrer Zeit falsch interpretiert hätten, oder sich die Sozialmoral selbst geändert habe, seien die Hände späterer Richter nicht durch frühere Entscheidungen gebunden. 92 Cardozo verlieh später seinem Bedauern Ausdruck, diese Formel nicht näher präzisieren zu können, d.h. beschreiben zu können, in welchen Fällen die Vermutung für das Präjudiz gelte. Der richterliche Entscheidungsprozeß werde von Kompromissen dominiert, Kompromissen zwischen Paradoxen, zwischen Rechtssicherheit und Rechtsunsicherheit. 93

IV. Sozialmoral und Verfassungsrecht Die soziologische Methode könne, so Cardozo, nicht isoliert betrachtet werden. In vielen Fällen müsse die Logik, die Konsistenz weiter als höchstes Ziel beachtet werden. Jedoch sei insbesondere im Verfassungsrecht offensichtlich, daß die Methode der Soziologie vorgehe. 94 Cardozo erläuterte seine These am Konzept des Due Process. Der Freiheitsbegriff könne für die gegenwärtige Generation nicht den gleichen Inhalt haben wie in der Vergangenheit. Beschränkungen, die noch vor wenigen Jahren als willkürlich empfunden worden seien, könnten bereits heute als nützlich und rational bewertet werden. Cardozo wies auf den Niedergang der Idee des Laissez faire hin. Diese auf Rousseau und Locke zurückgehende Konzeption habe der Unabhängigkeitserklärung zugrunde gelegen. Das 19. Jahrhundert sei vom Konzept des Laissez faire dominiert worden. Der Supreme Court habe diese Theorie noch 1905 in seiner Lochner-Entscheidung vertreten. Cardozo zitierte zustimmend aus Holmes' LochnerDissent, daß die Verfassung nicht für eine einzige Geisteshaltung stehe und 90 „... that the judge in shaping the rules of law must heed the mores of the day. ... The standards or patterns of utility and morals will be found by the judge in the life of the community. They will be found in the same way by the legislator.", ebd., S. 102, 104 f. Ähnlich: „If you ask how he [the judge - H. Sch.] is to know when one interest outweighs another, I can only answer that he must get his knowledge just as the legislator gets it, from experience and study and reflection; in brief, from life itself.", ebd., S. 113. 91 Ebd., S. 112. 92 Ebd., S. 152. 93 Β. Ν; Cardozo (Fn. 80), S. 7, 25. 94 Cardozo bemerkte an anderer Stelle, daß die legislative, innovative Tätigkeit der Richter nur einen geringen Prozentsatz der Fälle betreffe, scheint diese Bemerkung jedoch in erster Linie auf das common law zu beziehen. Β. N. Cardozo (Fn. 71), S. 165.

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falsch ausgelegt werde, wenn die dominante Meinung unterdrückt werde. Die Verfassung, so Cardozo, sei nicht auf die Gegenwart begrenzt. Ihre Prinzipien seien vielmehr für die Zukunft geschaffen. Bei der Ausgestaltung der Verfassung sei daher Flexibilität vonnöten. 95

V. Die Rolle der Judikative Nachdem Cardozo zu dem Ergebnis gekommen war, daß insbesondere im Verfassungsrecht die soziologische Methode anderen Methoden vorgehe, wandte er sich der Rolle zu, die Richter bei der Einbeziehung der Sozialmoral spielen. Richter hätten, so Cardozo, nicht das Recht, ihre eigenen Vorstellungen von Vernunft und Gerechtigkeit an die Stelle der Überzeugungen der Männer und Frauen zu setzen, denen sie dienten. Richter sollten der Legislative möglichst weite Spielräume einräumen. Sie seien einem objektiven Standard verpflichtet. Die Verfassung dürfe nicht einer bestimmten ökonomischen oder ethischen Theorie verfallen. Die Legislative, nicht die Judikative, sei in erster Linie der Wächter über Freiheiten und Wohl des Volkes. Die Gerichte sollten Gesetze nur dann aufheben, wenn diese offensichtlich willkürlich seien, so daß kein aufrichtiger Mensch ihnen zustimmen würde. 96 Ihre die Legislative beschränkende Funktion sollten Gerichte unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Werte ausüben. Dabei sei die Anpassung an die sich verändernden Bedürfnisse der Gesellschaft vonnöten. 97 Cardozo räumte ein, daß, obwohl der Richter bei der Ermittlung der Sozialmoral einen objektiven Standard anwenden müsse, nie völlige Objektivität erreicht werden könne. 98 Die Pflicht des Richters, das Recht entsprechend den Vernunft- und Gerechtigkeitsvorstellungen anzuwenden, sei bezüglich des erforderlichen Maßes an Objektivität mit der Pflicht vergleichbar, das Recht in Einklang mit den Sitten und Bräuchen zu bringen. Sobald Richter objektive und externe Standards verließen, liefen sie Gefahr, in „Gefühlsjurisprudenz" zu verfallen. In der Regel stimmten Sozialmoral und Richtermoral überein. Wenn jedoch eine Abweichung der Richtermoral von der Sozialmoral vorliege, sei der Richter verpflichtet, seine eigenen 95

Ebd., S. 76ff. Ebd., S. 88 ff. 97 Ebd., S. 94, 173 f. 98 „In every Court there are likely to be as many estimates of the »Zeitgeist' as there are judges on the bench. ... The spirit of the age, as it is revealed to each of us, is too often only the spirit of the group in which accidents of birth or education or occupation or fellowship have given us a place. No effort or revolution of the mind will overthrow utterly and at all times the empire of these subconscious loyalties.", ebd., S. 175. 96

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Auffassungen zurückzustellen. Er habe sich den mores seiner Zeit anzupassen. Es gebe eine wechselseitige Beziehung zwischen den Moralvorstellungen des Richters und denen der Gemeinschaft." Es gebe jedoch keine Gewähr für die fehlerlose Interpretation der Sozialmoral durch die Judikative. Richter handelten bei ihrer legislativen Tätigkeit auf eigene Gefahr. Es könne jedoch nicht in Frage gestellt werden, daß Richter die Sozialmoral zu interpretieren haben. Die Zuständigkeit für die Interpretation des Rechts müsse irgendwo angesiedelt werden. Die Verfassung habe die Judikative für diese Aufgabe ausgewählt. VI. Rechtssicherheit Häufig wird mit dem Begriff der Rechtssicherheit das Festhalten an alten Entscheidungen verbunden. Cardozo betonte in früheren Arbeiten oft, daß im Interesse der Rechtssicherheit die Präjudizien Ausgangspunkt der richterlichen Entscheidung sein müßten. Später modifizierte er diese Aussage. Cardozo unterschied zwischen der Rechtssicherheit vom Standpunkt des Juristen und aus der Sichtweise des Laien. Ersterer verbinde mit dem Begriff der Rechtssicherheit die Doktrin der stare decisis, das Festhalten an Präjudizien. Der Laie dagegen sei weniger an Logik und juristischer Eleganz interessiert. Ihm gehe es vielmehr darum, daß das Recht mit seinen vernünftigen Erwartungen übereinstimme. Recht, das nicht mit der Sozialmoral übereinstimme, enttäusche in der Regel auch die Erwartungen der Laien. Daraus folge, daß die Übereinstimmung von Recht und Sozialmoral auch im Dienste der Rechtssicherheit stehe. 100 VII. Cardozo und Holmes Fikentscher ordnete in seiner Darstellung der amerikanischen Rechtstheorie Holmes und Cardozo unterschiedlich ein. Er unterstellte insbesondere, daß Cardozo nicht Holmes' wertrelativistische Prämissen teilte, sondern offen ließ, ob Richter aus „bereits vorliegenden Rechtsgrundsätzen" Werte ableiteten. 101 Fikentscher stützte seine Aussagen in erster Linie auf den von Cardozo in „The Nature of the Judicial Process" verwendeten Begriff des Naturrechts. Dem kann nicht zugestimmt werden. Daß Cardozo vorpositi99

Ebd., S. 106ff., 120f. Cardozo bezog sich auf die europäische soziologische und rechtstheoretische Literatur. Im einzelnen zitierte Cardozo aus den Werken Ehrlichs, Dürkheims, Iherings, Brütts, Stammlers, Berolzheimers und Kantorowicz ebd., S. 102 Fn. 9, 104 Fn. 13, 107 Fn. 18, 112, Fn. 23, 116 Fn. 26f. sowie S. 120, Fn. 31, 33. 100 B. N. Cardozo (Fn. 80), S. 7, 28 f. 101 W. Fikentscher (Fn. 1), S. 210, 241, 248.

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ves Naturrecht jeglicher Art ablehnte, ist bereits gesagt worden. 1 0 2 Wenn Cardozo den Begriff „natural law" verwendete, meinte er ein Recht, das der jeweiligen Moral und dem Ideal moralischen Rechts entspricht. 103 Cardozo war nicht weniger Wertrelativist oder Pragmatiker, als Holmes es war. Zwar unterschied sich der Stil der beiden Rechtsdenker. Die oft brutal wirkende Offenheit Holmes' steht im krassen Unterschied zu Cardozos vorsichtiger, abwägender Ausdrucksweise. Cardozo stützte sich jedoch in "The Nature of the Judicial Process" im wesentlichen auf Holmes. 104 Alle wichtigen rechtstheoretischen Aussagen Holmes' finden sich in diesem Werk wieder. 1 0 5 Holmes und Cardozo lehnten sowohl den Austinsehen Formalismus als auch das Konzept vorpositiven Rechts ab. Sie erkannten beide die wertende Natur der Rechtsanwendung und die damit notwendig verbundene „legislative", d.h. wertende Tätigkeit des Richters. Sie kritisierten, daß Erwägungen wertender Natur meist unbewußt blieben und forderten ihre Richterkollegen auf, wertungsbewußter und folgenorientierter zu entscheiden. Cardozo und Holmes legten den Grundstein für den rechtswissenschaftlichen Pragmatismus. Richter sollten, so sowohl Holmes als auch Cardozo, ihre Weitungen, soweit es ihnen möglich ist, im Ein102

Siehe oben S. 211. Vgl. hierzu auch Β. N. Cardozo (Fn. 80), S 7, 18 und die in der folgenden Fußnote wiedergegebenen Zitate aus „The Nature of the Judicial Process". 103 Vgl. „The law of nature is no longer conceived of as something static and eternal. It does not override human or positive law. ... ,But the modem philosophy of law departs essentially from the natural-law philosophy in that the latter seeks a just, natural law outside positive law, while the new philosophy of law desires to deduce and fix the element of the just in and out of the positive law - out of what it is becoming. The natural law school seeks an absolute, ideal law ... The modem philosophy of law recognizes that there is only one law, the positive law, but it seeks its ideal side, and its enduring idea.4 ... What really matters is this, that the judge is under a duty, within the limits of his power of innovation, to maintain a relation between law and morals ...", Β. N. Cardozo (Fn. 71), S. 132f. Bei dem in , 1 zitierten Text handelt es sich um ein von Cardozo verwendetes Zitat Berolzheimers. Mit gleichem Ergebnis wie hier: N. Reich (Fn. 5), S. 80. 104 So zitiert Cardozo zustimmend Holmes' „The Common Law" , ebd., S. 33, „The Path of Law", ebd., S. 51, »Juristic Science in the Law", ebd., S. 57 und von Holmes verfaßte Urteilsbegründungen, ebd., S. 55, 82, insbesondere den LochnerDissent, ebd., S. 97 f. Insofern kann man auch nicht von einer späteren „Wendung Cardozos zur normfreien Jurisprudenz" sprechen oder zwischen Holmes einerseits und „Cardozo und der herrschenden Fallrechtstheorie" andererseits differenzieren. So aber W. Fikentscher (Fn. 1), S. 248 f. Zur Konstanz in Cardozos Ansichten vgl. auch dessen oft vernachlässigte späte rechtstheoretischer Arbeit, Jurisprudence (Fn. 80), S. 7, besonders S. 17 ff. 105 Vgl. R. A. Posner (Fn. 67), S. 21, der feststellt, daß im nachhinein fast der gesamte Inhalt von Cardozos „The Nature of the Judicial Process" auf Holmes' Schrifttum zurückgeführt werden könne.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

klang mit den Vorstellungen der gesellschaftlich dominanten Gruppen, der Sozialmoral, treffen und ihre persönlichen Präferenzen zurückstellen. Jedoch waren sowohl Cardozo als auch Holmes realistisch genug, die Unmöglichkeit zu erkennen, persönliche Präferenzen völlig auszublenden. Fikentscher wirft Holmes vor, daß er die „Rechtsidee", den „Rechtszweck" vernachlässige, wenn er vom Richter fordere, sich den gesellschaftlich dominanten Gruppen unterzuordnen. Holmes würde antworten, daß der Rechtszweck von der Gemeinschaft selbst bestimmt werde und es nicht Aufgabe des Richters sei, der Gemeinschaft seine eigene Version des Rechtszwecks vorzuschreiben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß sich Cardozo und Holmes' Gewaltenteilungsmodelle nicht unterscheiden. Cardozo scheint die Bedeutung des Gemeinwohls, des „Rechtszwecks" stärker zu betonen. Jedoch stellte er klar, daß die Frage, was das Gemeinwohl ausmache, letztendlich ausschließlich von der Sozialmoral beantwortet werde. Cardozo und Holmes unterscheiden sich daher, von stilistischen Fragen abgesehen, lediglich in ihrem philosophischen Ausgangspunkt. Cardozo kann zwar als Wertrelativist eingeordnet werden. Er vertrat jedoch keinen Sozialdarwinismus Holmesscher Prägung. Da Holmes' Sozialdarwinismus, wie oben dargelegt, nicht notwendig mit seinem rechtstheoretischen Werk verbunden ist, kann dieser Gesichtspunkt bei dem Vergleich der rechtstheoretischen Ansätze der beiden Rechtsdenker nicht ins Gewicht fallen. VIII. Zusammenfassung zu Cardozo Cardozos rechtstheoretische Arbeiten blieben nicht unumstritten. Kritiker warfen Cardozo vor, im Vergleich zu Holmes nichts Neues geschaffen zu haben. Posner stellte jedoch zutreffend fest, daß Cardozo in „The Nature of the Judicial Process" die erste systematische und zusammenhängende Darstellung des Pragmatismus lieferte. Cardozos Hauptwerk war der erste und bis heute bedeutendste Versuch zu erklären, wie Richter Entscheidungen treffen. Cardozo verstand es wie kein anderer vor ihm, den richterlichen Entscheidungsprozeß rational zu beschreiben, zu entmystifizieren, wie Frank bemerkte. 106 Cardozo stellte den Zusammenhang zwischen den oft nur in Epigrammen wiedergegebenen Aussagen Holmes' her. Darüber hinaus verwertete Cardozo die Ergebnisse der Freirechtsbewegung. 107 106

J. Frank (Fn. 61), S. 236ff. Frank unterschied Holmes und Cardozo wie folgt: Zwar hätten beide die wahre Natur des Rechtsanwendungsprozesses erkannt, Cardozo habe sich aber im Gegensatz zu Holmes wider besseres Wissen nie von dem Ideal der absoluten Bestimmbarkeit des Rechts trennen können, ebd., S. 239. 107 Vgl. R. A. Posner (Fn. 67), S. 12 f., 21, 28 f. und J. E. Herget/S. Wallace (Fn. 75), S. 427 f.

D. Roscoe Pound

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Harlan Fiske Stone, späterer Chief Justice am Supreme Court, wies auf das wahre Verdienst Cardozos hin, als er über dessen Hauptwerk schrieb: „Es handelt sich um das erste Buch, das in einfacher und verständlicher Sprache die Frage zu beantworten sucht, was den intellektuellen Prozeß ausmacht, mit dem Richter Fälle entscheiden." 108 Cardozo schrieb in bewundernswerter Offenheit über die richterliche Denkweise, einen Prozeß, über dessen Details die meisten seiner Berufskollegen Schweigen bewahrten.

D. Roscoe Pound I. Pounds Kritik am Formalismus Roscoe Pound war neben Cardozo und Holmes einer der einflußreichsten rechtstheoretischen amerikanischen Autoren in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Pound war kein Richter, sondern zunächst Professor, später hochangesehener Dean an der Harvard Law School, der zumindest zu diesem Zeitpunkt führenden Law School der Vereinigten Staaten. Neben Holmes und Cardozo war Pound der prominenteste Kritiker des Formalismus. Seine „soziologische Jurisprudenz" inspirierte nicht nur Cardozo, sondern auch den legal realism. Wie in den Abschnitten zu Holmes und Cardozo bereits dargestellt worden ist, wurde die amerikanische Rechtstheorie zu Anfang des 20. Jahrhunderts von der formalistischen Denkschule dominiert. Pound , der mit den Schriften Iherings vertraut war, betonte, daß der Zweck im Vordergrund der Beschäftigung mit dem Recht stehen müsse. Recht sei lediglich Mittel zum Zweck. Die sozialen Folgen und nicht die interne Struktur des Rechts verdienten die Aufmerksamkeit des Juristen. Der Formalismus, von Pound als „mechanische Jurisprudenz" bezeichnet, entbehre jeder Wissenschaftlichkeit. Die Ableitbarkeit von starren a-priori-Konzeptionen sei nicht Voraussetzung rechtlicher Prinzipien. 109 Es könne keine perfekte Uniformi tät und mechanische Sicherheit im Recht geben, wie es im 19. Jahrhundert postuliert worden sei. Der Formalismus des 19. Jahrhunderts habe die Bindung zur Realität verloren. 1 1 0 Pound forderte eine pragmatische Rechtswissenschaft, die rechtliche Prinzipien an die menschlichen Bedingungen anpaßt. Er nannte diese Methode die „soziologische Methode". Nicht die Logik, sondern der menschliche Faktor stehe an erster Stelle. 1 1 1 Pound ver108

H. F. Stone (Fn. 68), S. 382. Vgl. auch W. J. Brennan, Reason, Passion and „The Progress of the Law", 10 Cardozo L. Rev. 3 f. (1988). 109 R. Pound , Mechanical Jurisprudence, 8 Colum. L. Rev. 606, 608 ff. (1908). 110 R. Pound, The Call for a Realist Jurisprudence, 44 Harv. L. Rev. 697, 706 f. 111 Pound, der seit seiner Kindheit fließend Deutsch las, bezog sich unter anderem auf Ihering sowie andere deutsche Quellen und erwähnte lobend § 242 des

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

stand Jurisprudenz als Wissenschaft des „social engineering". Der Zweck des Rechts bestand für Pound in der Gewährleistung idealer Beziehungen zwischen den Menschen. 112 II. Die Interessentheorie Pounds Pound baute die „soziologische Methode" zu einer der deutschen lnteressenjurisprudenz vergleichbaren Konzeption aus. Er versuchte, alle für das Recht wesentlichen Interessen zu kategorisieren. 113 Er war jedoch nicht in der Lage, Prinzipien für die Abwägung der Interessen aufzustellen. Pound kam nicht darüber hinaus, ein „Inventar der relevanten Interessen" anzulegen. 1 1 4 Im Gegensatz zu Cardozo und Holmes nahm Pound nicht ausdrücklich zum Verhältnis von Sozialmoral und Recht Stellung. Er teilte mit ihnen die Ablehnung des Formalismus des 19. Jahrhunderts sowie eine pragmatische Auffassung von der Rolle des Rechts. Pound lehnte jedoch Holmes 9 Skeptizismus ab. Er betonte die Wichtigkeit des Festhaltens an der Rechtsidee. 115 Während Holmes und Cardozo den Schwerpunkt ihrer rechtstheoretischen Arbeiten auf die richterliche Tätigkeit setzten, beschränkte sich Pound auf die Aufstellung seiner Interessentheorie. Auf diesem Weg konnte er jedoch nicht die Frage beantworten, wie Wert- beziehungsweise Interessenkonflikte rechtlich zu lösen sind. 1 1 6

E. Der legal realism und seine Kritiker Als legal realism wird die Denkrichtung bezeichnet, die in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts die reformerischen Anstrengungen der „soziologischen Jurisprudenz" von Holmes, Pound und Cardozo fortBGB, der den Einklang von Recht und sozialer Wirklichkeit gewährleiste. Vgl. R. Pound (Fn. 109), S. 608 ff. 112 R. Pound , Jurisprudence, Bd. I, 1959, S. 291 ff. 113 R. Pound , Jurisprudence, Bd. III, 1959, S. 330 f. Vgl. auch die Zusammenfassungen bei W. Fikentscher (Fn. 1), S.227ff. und N. Reich (Fn. 5), S. 55 ff. 114 So auch H. Morris, Dean Pound's Jurisprudence, 13 Stan. L. Rev. 185, 192 (1960). 115 E. A. Purcell (Fn. 5), S. 77. 116 Lucey wies nicht zu Unrecht darauf hin, daß Pound vor der Konsequenz der Holmesschen Denkrichtung zurückschreckte. Pound habe im Gegensatz zu Holmes nicht auf die Sozialmoral, die dominanten Anschauungen abgestellt, sondern Fragen des Sollens nicht erörtert. Statt dessen habe sich Pound auf die Harmonisierung menschlicher Interessen zurückgezogen. F. E. Lucey, Natural Law and American Legal Realism, 30 Geo. L. J. 493, 497, 500, 504 (1942) m.w.N. Vgl. auch die unten in der Darstellung zu Llewellyn und Frank wiedergegebene Kritk an Pound.

E. Der legal realism und seine Kritiker

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setzte. Seine Anhänger waren im wesentlichen Professoren, die insbesondere an der Yale Law School sowie der Columbia Law School lehrten. Eine vollständige Darstellung der Werke der Vertreter des legal realism ist hier nicht möglich und hinsichtlich des in dieser Untersuchung verfolgten Ziels auch nicht notwendig. Statt dessen werden zwei der wichtigsten Vertreter dieser Strömung porträtiert. Vorher soll jedoch eine Zusammenfassung der Positionen gegeben werden, die von den meisten Vertretern des legal realism geteilt wurden. Dabei ist zu beachten, daß der legal realism keine in sich geschlossene Denkrichtung, sondern eine äußerst heterogene Strömung war. 1 1 7

I. Das Grundanliegen des legal realism Karl N. Llewellyn , dessen Werk sogleich ausführlicher besprochen wird, faßte in einem auf eine Kritik Pounds antwortenden Aufsatz die von den Vertretern des legal realism geteilten Ausgangspunkte zusammen. Die wichtigsten Thesen werden hier wiedergegeben: - Recht sei in Bewegung und werde von Richtern geschaffen; - Recht sei Mittel zur Verwirklichung der von der Gesellschaft bestimmten Zwecke. Die Gesellschaft selbst sei in Bewegung, in der Regel schneller als das Recht, so daß immer untersucht werden müsse, ob das Recht noch seinem ursprünglichen Zweck diene; - die zeitweilige Trennung von Sein und Sollen, d.h. die Beschreibung der Realität, sollte möglichst vom Vorverständnis des Betrachters unabhängig sein; - Mißtrauen gegenüber den tradierten Rechtsregeln und Konzepten. Diese gäben lediglich vor, die richterliche Entscheidungsfindung realistisch zu beschreiben. 118 Jerome Frank wies darauf hin, daß der legal realism nicht notwendig mit dem Positivismus gleichzusetzen sei. Vielmehr habe die überwältigende Mehrheit seiner Vertreter das Ziel, das Rechtssystem effizienter zu gestalten. Es solle den sozialen Bedürfnissen angepaßt werden und dadurch auch gerechter werden. 1 1 9 Nur ein geringer Teil der Anhänger des legal realism vertrat einen konsequenten Wertrelativismus. Viele Autoren des legal realism artikulierten ihre erkenntnistheoretischen Prämissen nicht und waren 117 M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 169; G. Casper , Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, 1964, S. 19. 118 K. N. Llewellyn , Some Realism about Realism, 44 Harv. L. Rev. 1222, 1236f. (1931). 119 7. Frank (Fn. 59), S. 586.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

zwischen der Erkenntnis der Zufälligkeit subjektiver Werte und dem Glauben an objektive Gerechtigkeitsstandards hin- und hergerissen. 120 Die Realisten forderten, daß die meisten der geschrieben Rechtsregeln (black letter rules) aufgegeben werden sollten und statt dessen Regeln verwendet werden sollten, die die Tätigkeit der Gerichte akkurater beschreiben (working rules). Gerichte sollten die involvierten Werte deutlicher identifizieren. 121 Bei einem Vergleich mit den Werken Holmes' und Cardozos fällt auf, daß der legal realism lediglich seinen konsequenten Regelskeptizismus neu einbrachte. 122 Llewellyn räumte ein, daß keine der vom legal realism vertretenen Thesen für sich neu sei. Vielmehr sei die systematische und programmatische Zusammenfassung dieser Forderungen an die Rechtswissenschaft das eigentlich Besondere des legal realism. 123

II. Karl N. Llewellyn Llewellyn war nicht nur einer der wichtigsten Sprecher des legal realism. Er trug auch zur Konstituierung dieser Bewegung bei, als er eine Liste der Autoren veröffentlichte, die der Bewegung zuzurechnen waren. 1 2 4 Später wurde allerdings eingewandt, daß diese Liste unvollständig gewesen sei. 1 2 5 Llewellyns Auseinandersetzung mit Pound übte großen Einfluß auf die amerikanische Rechtswissenschaft zu Anfang der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts aus. 1 2 6 Llewellyn wandte gegen Pounds methodischen Ansatz ein, daß dieser nicht über die allgemeine Formulierung der Interessenabwägung hinaus120

So W. Fisher/M. Horwitz/T. Reed, American Legal Realism, 1993, S. 169. Ebd., S. 166f.; M. Tushnet , Red, White and Blue, 1988, S. 191 ff. 122 Vgl. L. L. Fuller , American Legal Realism, 82 U. Pa. L. Rev. 429, 443 (1934) und W. Fisher/M. Horwitz/T\ Reed , ebd., S. 164 m.w.N., die daraufhinweisen, daß der Regelskeptizismus bei den einzelnen Vertretern des legal realism unterschiedlich stark ausgeprägt war. Zum legal realism vgl. auch H. A. Linde, Judges, Critics, and the Realist Tradition, 82 Yale L. J. 227 ff. (1972). 123 Κ. N. Llewellyn (Fn. 118), S. 1238, 1250, 1255. 124 Ebd., S. 1227, Fn. 18. Für einen repräsentativen Querschnitt der Werke der Autoren des legal realism vgl. die Zusammenstellung bei W. Fisher/ M. Horwitz/T. Reed (Fn. 120). Die beste deutsche Darstellung zum legal realism findet sich bei G. Casper (Fn. 117). Vgl. auch H. Coing , Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, ARSP 38 (1949/50), S. 536, 546ff. sowie N. Reich (Fn. 5), S. 82 ff. 125 Vgl. M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 171 f., 180ff. 126 Vgl. M. J. Horwitz, ebd., S. 172ff. und Ε. A. Purcell (Fn. 5), S. 84f. zu Einzelheiten über die Pound/Llewellyn Auseinandersetzung. 121

E. Der legal realism und seine Kritiker

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komme und keine Anhaltspunkte dafür gebe, wie das tatsächlich praktizierte Recht (law-in-action) untersucht werden solle. Llewellyn monierte, daß Pound sich zu sehr auf rechtliche Prinzipien konzentriere, daß er mit seiner „soziologischen Jurisprudenz" nicht über unbestimmte Formulierungen hinauskomme. 127 Llewellyn sprach dem traditionellen, prinzipienorientierten Ansatz jedoch nicht jegliche Bedeutung ab. In einigen Fällen könnten die Regeln, die Richter vorgeben anzuwenden, tatsächlich ihr Verhalten beeinflußt haben. Llewellyn betonte die seiner Ansicht nach wichtigere Methode, die Beschäftigung mit dem tatsächlichen Verhalten von Richtern und Laien. Nicht die Worte der Richter, sondern ihr Verhalten müsse im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. 128 Regeln und materielles Recht waren für Llewellyn nur Hilfsmittel bei der behavioristischen Analyse des richterlichen Entscheidungsprozesses. Llewellyn fragte, wie die für die Lösung von Konfliktfällen nötigen Werturteile der Richter Zustandekommen.129 Der deduktive Stil der Urteilsbegründungen könne den Entscheidungsprozeß weder beschreiben, noch erklären. Vielmehr handele es sich um Argumente, die von Richtern benutzt würden, um ihre Berufskollegen von der Plausibilität ihrer Entscheidung zu überzeugen. 1 3 0 Llewellyn verwies auf die Vielzahl von Faktoren wie die Persönlichkeit des Richters, die Interpretation des Sachverhalts und psychologische Einflüsse. Llewellyn schlußfolgerte voller Skepsis, daß eine akkurate Vorhersage des Verhaltens der Gerichte mit den traditionellen Methoden unwahrscheinlicher sei, als dies allgemein vermutet werde. III. Jerome Frank 1. Nichteuklidisches

Denken

Jerome Frank war einer der wichtigsten Vertreter des legal realism. Er berief sich auf Holmes, der den Realisten den Weg gewiesen habe, als er den Mythos des Formalismus zerstört habe. Frank umschrieb seinen Ansatz als „Nichteuklidisches Denken". Euklids Axiome seien zunächst als selbstverständlich vorausgesetzt worden. Alles andere sei nicht vorstellbar gewesen. Später habe man erkannt, daß Euklids Axiome bloße Hypothesen gewesen seien. Auf dem juristischen Gebiet sei ein ähnlicher Erkenntnisprozeß erforderlich. Axiome bedürften der Säkularisierung. Es gehe darum, bisher verborgene beziehungsweise nicht hinterfragte Axiome zu entdecken 127

K. N. Llewellyn , A Realistic Jurisprudence - The Next Step, 20 Colum. L. Rev. 431, 434, 435 Fn. 3 (1930). 128 Ebd., S. 442ff. 129 Ebd., S. 447, 464. 130 Ders. (Fn. 118), S. 1238 f.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

und alternative Hypothesen zu überprüfen. Nichteuklidisches Denken habe die Übereinstimmung von Axiomen und Phänomenen zum Ziel. Holmes habe das nichteuklidische Denken begründet, als er die Übereinstimmung der traditionellen Methodik mit der Rechtswirklichkeit angezweifelt habe. Viele andere „Nichteuklidiker", Frank zählte eine Reihe der bekanntesten Vertreter des legal realism auf, seien ihm gefolgt. 1 3 1 2. Das „menschliche Element im Recht " Frank griff vor allem das traditionelle Axiom an, daß das menschliche Element, der Richter, keinen Einfluß auf die Anwendung des Rechts habe. Frank zitierte Dickinson mit dem Axiom, daß Richter zwar wie andere Menschen von Vorurteilen, Schwächen und Leidenschaften heimgesucht würden, das Rechtssystem diese Faktoren jedoch auf ein Minimum reduziert habe. Eine ähnliche Tendenz sei bei Pound zu beobachten, der den Richter auffordere, die Gründe für seine Entscheidungen in der Form von rechtlichen Regeln und Prinzipien anzugeben. Frank stellte eine Gegenthese zu dem benannten Axiom auf: rechtliche Entscheidungen seien in erster Linie menschliche Entscheidungen. Das bisherige System verberge diese Tatsache und verstärke dadurch die unerwünschten Effekte des menschlichen Faktors. Daher rühre das Phänomen, daß richterliche Entscheidungen mit Begründungen versehen würden, die nicht dem tatsächlichen Entscheidungsprozeß gerecht würden. 1 3 2 Frank begründete seine These historisch. Blackstone habe den Richter als passives Orakel beschrieben, das lediglich das Recht verkünde. Diese Ansicht sei auf die Forderung zurückführbar, daß das Recht und nicht die Menschen herrschen sollten. Es habe Furcht vor dem menschlichen Element geherrscht. Ursprünglich hätten die richterlichen Entscheidungen Fehden ersetzen sollen. Schiedssprüche hätten daher kein menschliches Element enthalten dürfen. Sie haben als Gottesurteile gelten sollen. Das Recht habe dem Ideal der Unfehlbarkeit entsprechen müssen. Erst im Laufe der Entwicklung sei der Mensch selbst zum Entscheidungsträger geworden. Die Rechtsgeschichte sei die Geschichte erhöhter Toleranz für menschliche Entscheidungen. Die oben zitierten Axiome Pounds und Dickinsons korrespondierten nicht mit der Realität. 133

131

J. Frank (Fn. 59), S. 571 ff., 576ff., 599. Ebd., S. 579 ff. Das Zustandekommen der Entscheidung des Supreme Court in Brown v. Board of Education scheint Franks These zu bestätigen. Vgl. die Darstellung oben S. 81. 133 Ebd., S. 582. Für eine ähnliche historische Erklärung des Strebens der Judikative nach unpolitischer Methodik vgl. W. J. Brennan (Fn. 108), S. 9. 132

E. Der legal realism und seine Kritiker

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3. Die Theorie des „hunch" Frank führte noch eine Reihe weiterer „euklidischer" Axiome an und entwarf entsprechende Gegenthesen. 134 Eines der von Frank angezweifelten Axiome war die Behauptung, daß Richter „das Recht auf den Sachverhalt anwendeten". Frank wandte ein, daß Richter in der Regel zuerst das Ergebnis des Falles ermittelten und erst im nachhinein eine rechtliche Begründung für diese Entscheidung lieferten. Rechtliche Regeln würden demnach erst geschaffen, wenn das Ergebnis des Falles feststehe. Der Richter komme daher nicht durch die Anwendung bestimmter rechtlicher Regeln auf einen Fall zu seiner Entscheidung, sondern durch ein Werturteil darüber, was die gerechteste und zweckmäßigste Lösung des Falles sei, den „hunch". 1 3 5 Es handele sich um eine Vielzahl von Faktoren, unter anderem das Vorverständnis, Vorurteile, Voreingenommenheit gegenüber den beteiligten Parteien und Zeugen, die nicht einer Beschreibung mit rechtlichen Regeln und Prinzipien zugänglich seien. Daher würden sie von formellen Rechtsregeln nicht anerkannt. Dieses Schweigen der formellen Theorie führe zu einer unkorrekten Beschreibung des richterlichen Interpretationsprozesses. 136 4. „The Law and the Modern Mind " Franks rechtstheoretisches Hauptwerk, „The Law and the Modern Mind", erschien 1930. Frank stellte zu Beginn die Frage, warum Juristen von dem Mythos (The Basic Myth) ausgingen, daß der Inhalt des Rechts unveränderlich, stabil und exakt bestimmbar sei. Dieser Mythos entspreche nicht der Natur des Rechts, das ständig neuen Problemen angepaßt werden müsse. Das Recht befinde sich in einem ständigen Fluß. Seine Unbestimmtheit sei nicht nur unvermeidlich, sie sei auch erstrebenswert. Andernfalls würde die gesellschaftliche Entwicklung behindert werden. Der tentative Charakter des Rechts dürfe daher nicht als vermeidbares Übel angesehen werden. 1 3 7 134

Zum Beispiel, daß Zeugen in Gerichtsprozessen nicht lögen, daß vertragliche Regeln zukünftiges Verhalten vorhersagbar machten, daß eindeutige Normen Rechtsstreitigkeiten vermieden, daß Geschworenengerichte am ehesten in der Lage seien, den Sachverhalt zu beurteilen und andere, J. Frank (Fn. 59), S. 587 ff. 135 Ebd., S. 594. Die Theorie des „hunch" war von Hutcheson formuliert worden. Hutcheson, Richter an einem Bundesgericht, berichtete freimütig aus seiner Praxis als Richter. Richter, so Hutcheson, versuchten in erster Linie eine gerechte Lösung des Falls zu finden. J. C. Hutcheson, The Judgement Intuitive: The Function of the ,Hunch' in Judicial Decision", 1929, abgedruckt in: (Fn. 120), S. 202ff. Vgl. auch die ähnliche Konzeption von John Dewey , Logical Method and the Law, 10 Cornell L. Q. 17, 22ff. (1924). 136 7. Frank (Fn. 59), S. 595. 137 J. Frank (Fn. 61), S. 5ff. IS Schiwek

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Frank versuchte, diesen Mythos zum Teil mit einer psychoanalytischen Allegorie zu erklären. In einer Vater-Kind-Beziehung sei der Vater für das Kind unfehlbar. Mit zunehmendem Alter werde für das Kind offensichtlich, daß der Vater nicht unfehlbar und allmächtig sei. Viele Faktoren des täglichen Lebens könnten nicht von ihm kontrolliert werden. Das Recht werde für den Richter zum Substitut für den Vater und erfülle dessen kindliches Verlangen nach Geborgenheit und Unfehlbarkeit. Die meisten Juristen könnten die kindliche Furcht vor der Unsicherheit auch im Erwachsenenalter nicht ablegen. Nur derjenige werde erwachsen, der das kindliche Verlangen nach absoluter Sicherheit und Vorhersehbarkeit aufgebe und die unvermeidbaren Risiken des Lebens akzeptiere. In diesem Stadium stelle die Unbestimmtheit des Lebens keine Bedrohung mehr dar, sondern sei Grund für Enthusiasmus und Lebensfreude. 138 Frank wandte sich der Frage zu, ob Recht von Richtern geschaffen und verändert werden könne. Nach der konventionellen Sichtweise sei das Recht ein Regelsystem, das von der Zeit unabhängig existiere und nur von der Legislative geändert werden könne. Richter blieben auf eine passive Rolle beschränkt, sie seien lediglich „Orakel des Rechts". Die Urteilsbegründungen seien Beweis für bereits existierendes Recht. Wenn eine alte Entscheidung aufgehoben werde, werde das Recht nicht geändert. Vielmehr sei diese Entscheidung falsch gewesen. Wenn Richter neue Regeln entwickelten, machten sie sich der Usurpation der Macht der Legislative schuldig. 139 Dagegen wandte Frank ein, daß Richter Recht setzten. Der von ihnen aufrecht erhaltene Mythos der unveränderlichen Natur des Rechts sei unmittelbare Folge des subjektiven Bedürfnisses nach einer stabilen, unveränderlichen Rechtswelt, einer Kinderwelt. Die Doktrin, daß Richter kein Recht setzten, erfülle dabei nicht den Tatbestand der Lüge, da ihre Anhänger nicht um ihre Unwahrheit wüßten. Vielmehr handele es sich um einen Mythos, eine Behauptung, deren Fehlerhaftigkeit ihren Vertretern nicht bewußt sei. An dem Mythos werde nur festgehalten, weil viele Juristen und Nichtjuristen nicht in der Lage seien, die Wahrheit zu ertragen. 140 Frank zitierte aus der psychologischen Literatur, daß Kinder sich in der Regel nicht mit der eigenen Denkweise beschäftigten. Ähnlich einem Kinde befasse sich der Richter nicht mit der eigenen Denkweise. Er verdränge die Subjektivität der eigenen Vorstellungen. Auf die Frage, wie ein Kind zu einer bestimmten Schlußfolgerung gekommen sei, antworte es meist mit einer künstlichen Schilderung, die dem Ergebnis entspreche. Gleiches gelte 138 139 140

Ebd., S. 13 ff., 17 ff. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33 ff., 37,41.

E. Der legal realism und seine Kritiker

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für den Richter, bei dem das Verlangen nach absolut bestimmbarem Recht kindliche Vorstellungen aktiviere. 141 Frank wiederholte die bereits früher aufgestellte Theorie des „hunch", nach der Richter ihren Entscheidungsprozeß mit einem auf intuitiven Wege gefundenen Ergebnis beginnen. 142 Rechtliche Regeln seien nur insofern relevant, als sie die Intuition (hunch) stimulierten. Weitere Stimuli seien das Vorverständnis, die politischen, ökonomischen und moralischen Werte des Richters. Frank verwies auf Cardozo, der die Bedeutung der Interpretation der Sozialmoral (mores) durch die Richter herausgestellt hatte. 1 4 3 Frank setzte sich mit dem Werk Iherings, den er einen großen Juristen nannte, auseinander. Ihering habe zu Recht den Zweckgedanken im Recht betont. Dennoch habe er geleugnet, daß die Rechtsanwendung wertender Natur sei. Vielmehr sollten Richter im Gegensatz zur Exekutive ausschließlich vom Recht selbst geleitet werden. Frank sah Ihering als Kämpfer zwischen zwei miteinander unvereinbaren Ansichten. Ihering sei von seinem kindlichen Verlangen nach absoluter Sicherheit nur teilweise kuriert gewesen, da er auf der strikten Trennung von Judikative und Exekutive beharrt habe. 1 4 4 Cardozo sei hingegen in der Lage gewesen, den richterlichen Entscheidungsprozeß realistisch zu beschreiben. Er habe sich von den rechtlichen Mythen getrennt und erkannt, daß Recht notwendig unbestimmt sei. Dennoch habe Cardozo nicht den vollständigen Status des „Erwachsenen" erreicht, da er seine Einsichten von der Unbestimmtheit und Formbarkeit des Rechts nur mit Resignation und nicht mit dem für Erwachsene typischen Enthusiasmus erreicht habe. 1 4 5 Oliver Wendeil Holmes sei hingegen der erste Jurist gewesen, dem der Status des „Erwachsenen" uneingeschränkt zugeschrieben werden könne. Holmes habe nicht gezögert, traditionellen Axiome anzuzweifeln, sie als bloße „can't helps" zu bezeichnen. Er habe das Streben nach perfekter rechtlicher Uniformität ohne Zögern aufgegeben und späteren Generationen den Weg gewiesen, als er anerkannte, daß das Recht Teil eines ständigen Wachstumsprozesses sei. 1 4 6 Frank ist an seinem Ziel angekommen. Der Mythos des unveränderlichen Rechts ist zerstört. Modernes Denken (modern mind) habe die Kraft, sich von der Vaterautorität zu lösen. Wenn das Recht den Bedürfnissen der modernen Zivilisation gerecht werden wolle, müsse es eine Philosophie des Wandels akzeptieren. Recht müsse sich zum Pragmatismus bekennen. 147 141 142 143 144 145 146 147

15·

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 116f. S. 100ff. S. 104f. S. 217 ff. mit Nachweisen zu Iherings Streben nach Rechtssicherheit. S. 236ff. S. 253 ff. S. 252.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie 5. Anmerkung zu Jerome Frank

Franks Hauptwerk besticht sowohl durch seine Originalität als auch die Konsequenz, mit der er die Position des legal realism vertritt. Frank ist es wie keinem anderen Autor gelungen, die Vorläufer des legal realism, Holmes, Cardozo und Pound , methodisch einzuordnen. Ob Franks Allegorie der Vater- Kind-Beziehung mit dem Streben des Richters nach Sicherheit im Recht zutrifft, kann hier dahingestellt bleiben. Sie verdeutlicht jedenfalls anschaulich das Anliegen des legal realism, das menschliche Element im Recht zu untersuchen und den Formalismus im Recht als ein nicht mit der Realität übereinstimmendes Wunschbild zu entlarven. Mit der Betonung des menschlichen Elements im Recht wird auch auf die moralischen Einflüsse bei der Rechtsanwendung aufmerksam gemacht. Frank bekannte sich zu einem pragmatischen, den Anforderungen der jeweiligen Epoche verpflichteten Interpretationskonzept.

IV. Cardozos und Pounds Kritik am legal realism Cardozo und Pound , die beide zu den geistigen Vätern des legal realism gehörten, nutzten im Gegensatz zu Holmes die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit dieser einflußreichen Denkrichtung. Pound hielt dem legal realism vor, zu sehr auf das Sein fixiert zu sein und den normativen Aspekt des Rechts zu vernachlässigen. Während die analytische Schule des 19. Jahrhunderts auf dem „reinen Recht" bestanden habe, sei der legal realism auf die „reinen Fakten" begrenzt. Pound warnte, daß es keine neutrale Faktenauswahl geben könne. Die Realisten seien ebensowenig wie ältere Denkrichtungen in der Lage, die Wirklichkeit wertfrei zu beschreiben. Die Darstellung der Realitäten setze immer ein bestimmtes Vorverständnis der als relevant angesehenen Fakten voraus. Pound lobte jedoch, daß sich die Realisten mit dem nichtrationalen Element im Recht beschäftigten. Es sei allerdings zu beklagen, daß das logische und rationale Element vom legal realism zu wenig berücksichtigt werde. 1 4 8 Cardozo nahm in einer 1932 gehaltenen Ansprache vor der Anwaltschaft New Yorks (New York State Bar Address) zur Bewegung des legal realism Stellung. 1 4 9 Er wies darauf hin, daß der legal realism nicht in jeder Hinsicht neu war. Er erinnerte etwa an Ihering und Savigny, die das Recht im Kontext des realen Lebens untersucht hatten. Neu sei lediglich die Offenheit, mit der der richterliche Entscheidungsprozeß untersucht werde. Car148 149

R. Pound (Fn. 110), S. 700, 706f. Vgl. dazu R. A. Posner (Fn. 67), S. 31.

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dozo warf dem legal realism vor, die Tätigkeit der Richter zu sehr in den Vordergrund zu stellen, die Bedeutung von Prinzipien und Regeln zu sehr zu vernachlässigen. 150 Zudem gehe der legal realism zu weit, wenn er alle Fälle gleich bewerte. Cardozo hielt auch später an seiner schon in „The Nature of the Judicial Process" getroffenen Unterscheidung fest, nach der Richter nicht in jedem Fall innovativ tätig seien, viele Fälle aber mit der traditionellen Methodik gelöst würden. 1 5 1 Der legal realism betone die Bedeutung der richterlichen Intuition, des „hunch", zu stark. 1 5 2 V. Der Niedergang des legal realism Während der legal realism die amerikanische Rechtswissenschaft der dreißiger Jahre dominierte, nicht zuletzt wegen der Übereinstimmung mit dem empirischen Ansatz des New Deal, nahm zu Beginn der vierziger Jahre die Kritik am legal realism z u . 1 5 3 Eine Ursache des Niedergangs des legal realism war die scharfe Kritik von Vertretern naturrechtlicher Positionen. Die Bedenken Luceys und Fullers sollen hier stellvertretend für die Kritik aus dem akademischen Lager dargestellt werden. Lucey sah im legal realism lediglich eine Weiterentwicklung von Holmes' „Soziologischer Jurisprudenz". Diese Strömung habe die Logik des Formalismus mit dem pragmatischen Test der Sozialnützigkeit ersetzt. Lucey kritisierte, daß der Realismus das Recht inhaltsleer mache, da dem Wandel des Rechts keinerlei Grenzen gesetzt würden. Er setzte den legal realism mit den Anschauungen Holmes' gleich und warf diesem vor, das Recht auf die Präferenzen der jeweils dominanten Gruppen zu reduzieren. Richter würden lediglich als Stimme für die von ihrer sozialen Umgebung diktierten Werte gesehen. Das Sein stehe im Vordergrund, die Bedeutung des Sollens werde zurückgedrängt. 154 Lucey beschwor, daß von Holmes' Theorien und dem legal realism eine Gefahr für die Demokratie ausgehe. Diese Ansätze, so Lucey, leugneten eine der Grundvoraussetzungen der demokratischen Gesellschaft, die Gleichheit aller Menschen und den daraus resultierenden Minderheitenschutz. Lucey, ein Jesuit, sah im scholastischen Naturrecht den einzig gangbaren Ausweg. Nur auf diesem Wege könnten die natürlichen Rechte des Menschen begründet werden. 155 150 151

B. N. Cardozo (Fn. 80), S. 11, 13, 37. Zur besonderen Behandlung des Verfassungsrechts bei Cardozo vgl. oben

S. 214. 152

Ebd., S. 20, 22, 28. Vgl. G. E. White, The Evolution of Reasoned Elaboration, 59 Va. L. Rev. 279, 282 (1973). 154 F. E. Lucey (Fn. 116), S. 493 ff., 505 ff., 511, 514. 153

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Fuller lehnte die Trennung von Sein und Sollen durch den legal realism ab. Das Recht dürfe nicht vor der Wirklichkeit kapitulieren. Der Positivismus habe zur Folge, daß die Institutionen der Demokratie an Lebensfähigkeit verlören, da die ihnen zugrundeliegenden Ideale vernachlässigt würden. 1 5 6 Fuller war jedoch nicht in der Lage, das von ihm bevorzugte naturrechtliche System über vage Andeutungen hinaus zu entwickeln. 1 5 7 Zu der Kritik aus dem naturrechtlichen Lager kamen die praktischen Schwierigkeiten hinzu, auf die die Realisten bei der Umsetzung ihres wirklichkeitsorientierten Ansatzes trafen. Sie hatten versucht, ihre Thesen mit der Hilfe der Sozialwissenschaften zu beweisen. Die empirischen Wissenschaften gewannen an Attraktivität, weil keine verbindliche Methode zur Bestimmung objektiver Werte existierte. Werte sollten aus der Wirklichkeit abgeleitet werden. Die Hinwendung zu den empirischen Wissenschaften war das Ergebnis von Bemühungen, der Wertfrage auszuweichen. 158 Eine besondere Rolle spielte die Beschäftigung mit der Psychologie. Die Realisten wollten, wie das Beispiel Jerome Franks zeigt, die tatsächlich auf den Richter wirkenden Einflüsse untersuchen. Jedoch waren die empirischen Forschungen sehr aufwendig und zeigten nicht die gewünschten Ergebnisse. Das Rechtssystem ließ sich nicht ohne weiteres mit den empirischen Wissenschaften darstellen. 159 Der legal realism, dessen Stärke in den Angriffen gegen die überholte Theorie des Formalismus lag, hatte Schwierigkeiten, eine Theorie aufzustellen, die Richtern Richtlinien für die Rechtsanwendung geben konnte. 1 6 0 Die Vertreter des legal realism waren schließlich nicht in der Lage, den Vorwürfen zu begegnen, daß ihre Bewegung dem Totalitarismus nichts entgegensetzen könne. Im Ergebnis war der legal realism seit Ende der vierziger Jahre als Bewegung nicht mehr existent. Einige seiner Protagonisten, wie etwa Frank und Llewellyn , wandten sich dem Naturrecht z u . 1 6 1 VI. Zusammenfassung zum legal realism Der legal realism und seine Vorgänger, Holmes, Pound und Cardozo, haben zum Niedergang des Formalismus des 19. Jahrhunderts geführt. Recht wurde auch nach dem Niedergang des legal realism nicht als Befehl 155

Ebd., S. 523 f. L L Fuller (Fn. 122), S. 46; ders. (Fn. 55), S. 4ff. 157 Vgl. hierzu Ε. A. Purcell (Fn. 5), S. 164. 158 So M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 210 f. 159 Vgl. hierzu auch Ε. A. Purcell (Fn. 5), S. 86ff. und die Übersicht bei W. Fikentscher (Fn. 1), S. 293 ff. 160 Vgl. G. E. White (Fn. 153), S. 283 f. 161 Vgl. dazu Ε. A. Purcell (Fn. 5), S. 172 ff. und M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 247 ff. 156

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vorgegebenen Verhaltens verstanden, sondern als Mittel zum Zweck, der Förderung des Gemeinwohls. 162 Die Kritik des legal realism führte zu einer wirklichkeitsorientierteren Rechtsprechung der Gerichte. Auftakt war der berühmte „Brandeis-Brief" aus Muller v. Oregon. In diesem Fall hatte der Supreme Court über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden, die die Höchstarbeitszeit von Frauen festlegten. Louis D. Brandeis, später selbst Richter am Supreme Court, verfaßte die Klageerwiderung (Brandeis-Brief) für den Bundesstaat Oregon. Der Schriftsatz enthielt nur zwei Seiten rechtlicher Argumentation, jedoch über 90 Seiten über die Arbeitsbedingungen der Frauen. Der Supreme Court hielt das Gesetz einstimmig für verfassungsgemaß. 1 6 3 Auch der Stil der Urteilsbegründungen des Supreme Court änderte sich. So wurden Entscheidungen unter dem Einfluß des Pragmatismus von Holmes und Cardozo sowie des legal realism häufiger mit Interessenabwägungen begründet. Recht wurde nach dem Ende der Lochner-Ära als Instrument zur Lösung gesellschaftlicher Probleme begriffen. 164 Der Formalismus des 19. Jahrhunderts, der noch während der ersten zwanzig Jahre dieses Jahrhunderts eine starke Position eingenommen hatte, verlor mit dem Ende der Lochner-Rechtsprechung an Bedeutung. Der legal realism hatte an dieser Entwicklung einen nicht geringen Anteil. Schließlich wird Verfassungsrecht heute nahezu unumstritten mit den Entscheidungen des Supreme Court gleichgesetzt. Diese gerichtsorientierte Sichtweise ist auch ein Ergebnis des Wirkens des legal realism. 165 Die Naturrechtsbewegung hatte zwar durch ihre Kritik zum Fall des legal realism beigetragen, fand in der Rechtsprechung des Supreme Court jedoch keinen Niederschlag. So schrieb etwa Chief Justice Vinson 1951 für den Supreme Court: „Nichts ist in einer modernen Gesellschaft sicherer als das Prinzip, daß es keine Absoluten g i b t . " 1 6 6 Die Vertreter des legal realism wurden zu Unrecht pauschal des Nihilismus bezichtigt. Sie wollten überwiegend auf das Auseinanderklaffen von rechtlichen Regeln und Realität aufmerksam machen und das Recht auf diese Weise effizienter gestalten. 167 Alles was den Wert des legal realism 162

E. V. Rostov , American Legal Realism, 34 Rocky Mtn. L. Rev. 123 f. (1962). Midler v. Oregon , 208 U.S. 412 (1908). 164 T.A. AleinikoffiFn. 53), S. 949, 953 ff. 165 Die klassische Definition des Verfassungsrechts stammt von C. Hughes: „The Constitution is what the judges say it is." Vgl. im einzelnen H. A. Linde (Fn. 122), S. 227 m.w.N. 166 Dennis ν. United States , 341 U.S. 494, 508 (1951). 167 E. V. Rostov (Fn. 162), S. 131 f. 163

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ausmachte, kann jedoch letzten Endes in den Werken von Holmes und Cardozo gefunden werden. 168 Die Einflüsse, die hier als Sozialmoral zusammengefaßt werden, standen im Zentrum der Bemühungen des legal realism. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern sah der legal realism die Sozialmoral nicht als einen Faktor, der zusätzlich zu den traditionell akzeptierten Rechtsquellen zu untersuchen ist. Die Vertreter des legal realism waren vielmehr der Auffassung, daß die traditionellen Rechtsquellen, Präjudizien, Text und Entstehungsgeschichte, keine wichtige Rolle bei der Rechtsfindung spielten. Vielmehr würden sie nur benutzt, um das intuitiv gefundene Recht zu rechtfertigen. Außerrechtliche Einflüsse wie die von den Richtern verinnerlichten Werte und Traditionen seien die wahren Quellen des Rechts. Wie schon weiter oben angedeutet, kann die Frage, inwiefern die Urteilsbegründungen den tatsächlichen Entscheidungsprozeß wiedergeben, nicht ohne umfangreiche empirische Forschungen beantwortet werden. Daher muß hier offengelassen werden, ob dem legal realism in seiner konsequenten Betonung außerrechtlicher Einflüsse zuzustimmen ist. Es kann jedoch festgehalten werden, daß der legal realism ein bemerkenswerter Versuch war, den Rechtsfindungsprozeß in einem neuen Licht zu sehen.

F. Die Debatte um den Warren-Court - Paradigmenwechsel in der amerikanischen Verfassungstheorie Brown v. Board of Education löste in der amerikanischen Rechtswissenschaft eine heftige Kontroverse aus. Der Supreme Court hatte das erste Mal nach der Lochner-Àia. in einer wichtigen, politisch folgenreichen Entscheidung die Verfassung fortgeschrieben, ohne daß das Ergebnis mittels traditioneller Methoden hätte begründet werden können. I. Learned Hand und Herbert Wechsler 1. Learned Hand Learned Hand, ein angesehener und einflußreicher Bundesrichter, hielt 1958 die Holmes Lectures an der Harvard University. 1 6 9 Er beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit Gerichte befugt sind, Akte der Legislative aufzuheben. Learned Hand akzeptierte die Erkenntnisse der amerikanischen Rechtstheorie zu Beginn dieses Jahrhunderts, indem er voraussetzte, daß 168

So etwa R. A. Posner (Fn. 8), S. 2. Learned Hand, The Bill of Rights, 1958. Vgl. hierzu auch M. J. Horwitz (Fn. 6), S. 258 ff. 169

F. Die Debatte um den Warren-Court

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der Prozeß der Rechtsanwendung notwendig wertender Natur sei und das Vorverständnis der Richter diese Wertungen beeinflusse. 170 Learned Hand betonte jedoch, daß die Judikative nicht befugt sei, als dritte parlamentarische Kammer zu fungieren und Gesetze nach eigenem Ermessen aufzuheben. Vielmehr habe sie sich darauf zu beschränken, Kompetenzüberschreitungen der Legislative zu ahnden. Gerichten stehe es nicht zu, Gesetze de novo zu überprüfen. 171 Learned Hand wandte sich der Auslegung der Due Process Clause und der Equal Protection Clause durch den Supreme Court zu. Er kritisierte, daß das Verfassungsgericht nicht als Superlegislative agieren dürfe, die die Übereinstimmung von Gesetzen mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Richter prüfe. Learned Hand griff insbesondere die Unterscheidung des Supreme Court zwischen Eingriffen in Eigentumsrechte, die in der Regel ungeahndet blieben, und Eingriffen in persönliche Rechte an. Ein Beispiel für die nicht zu rechtfertigende unterschiedliche Behandlung dieser beiden Rechtstypen seien die Entscheidungen des Supreme Court zur Rassentrennung. 1 7 2 Learned Hand hatte insofern recht, als der Supreme Court Eingriffe in persönliche und Eigentumsrechte unterschiedlich behandelte. Seit dem Ende der Lochner-Rechtsprechung hatte der Supreme Court Gesetze, die in Eigentumsrechte eingriffen, unter dem „Rational Basis Test" untersucht und im Ergebnis als mit dem 14. Amendment vereinbar angesehen. Die höhere Kontrolldichte im Bereich der Individualrechte, insbesondere der Rechte rassischer Minderheiten auf Gleichbehandlung, ist nicht mit historischen oder präjudiziellen Argumenten begründbar. Learned Hand sollte mit seiner Kritik an Brown v. Board of Education nicht allein bleiben.

2. Herbert Wechslers „Neutrale Prinzipien" Herbert Wechslers 1959 gehaltenen Holmes Lectures waren Ausgangspunkt für die in den folgenden Jahren andauernde Diskussion um die Legitimation des Aktivismus des Warren-Court. Wechsler war zu diesem Zeitpunkt einer der angesehensten Professoren der Vereinigten Staaten. Er verlangte, daß der Supreme Court seine Entscheidungen anhand „neutraler Prinzipien" begründete. 170 Learned Hand mahnte jedoch auch, daß die Richter die Pflicht hätten, so unparteiisch wie möglich zu urteilen, ebd., S. 23, 66, 71. Vgl. auch L. Henkin, Some Reflections on Current Constitutional Controversy, 109 U. Pa. L. Rev 637, 654 (1961). 171 Learned Hand, ebd., S. 37 ff. 172 Ebd., S. 42ff., 54 f.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Wechsler konzentrierte sich im einzelnen auf die Fälle, in denen das Verfassungsgericht entscheiden müsse, ob es wegen ihrer „politischen Natur" von einer Entscheidung absehen sollte. Der Supreme Court dürfe nicht zum bloßen Machtorgan verkommen. Er müsse vermeiden, aus bloßer Sympathie ad hoc Entscheidungen zutreffen. Wechsler räumte zwar ein, daß Prinzipien selbst politisch instrumentalisiert werden könnten. Diese Tatsache entbinde Gerichte jedoch nicht von der Pflicht, ihre Entscheidungen mit generellen und neutralen Prinzipien zu begründen. 173 Verfassungsinterpretation, hob Wechsler hervor, sei keine wertungsfreie Angelegenheit. Die Judikative unterscheide sich von der legislativen Gewalt dadurch, daß sie verpflichtet sei, ihre Wertentscheidungen rational zu begründen. Wechsler zog sich nicht auf die Positionen des Formalismus des 19. Jahrhunderts zurück. Er akzeptierte, daß nicht in jedem Fall an den Präjudizien festgehalten werden kann, daß die Bedeutung der Verfassung nicht für immer festgeschrieben ist. Er betonte die Notwendigkeit „neutraler Prinzipien .

174

Wechsler untersuchte, ob die jüngsten Entscheidungen des Supreme Court, unter anderem die Entscheidungen zur Rassentrennung, mit „neutralen Prinzipien" begründet werden konnten. Er monierte, daß die Urteilsbegründung des Supreme Court auf der Wertung beruhe, daß im Schulwesen kein Platz für Rassentrennung sei, einer Wertung, mit der die Ausweitung von Brown v. Board of Education auf andere Bereiche nicht vereinbar sei. Wechsler verlieh seinem Unbehagen Ausdruck, daß der Supreme Court die „separate but equal"-Doktrin generell als Verstoß gegen den Gleichheitssatz ansah. Wechsler Schloß mit dem Eingeständnis, daß er nicht in der Lage sei, die Entscheidungen des Supreme Court zur Rassentrennung mit neutralen Prinzipien zu begründen. 175

3. Kritische

Betrachtung

Wie Learned Hand beschäftigte sich Wechsler mit der Abgrenzung von Legislative und Judikative. Beide Autoren sahen in Brown v. Board of Education eine Überschreitung der richterlichen Kompetenz. Wechsler schien dabei Gerichten einen größeren Entscheidungsspielraum zuzubilligen als Learned Hand. Er bestand jedoch auf einer rationalen Begründung wertungsintensiver Entscheidungen durch „neutrale Prinzipien". 173 H. Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, 73 Harv. L. Rev. 1,7, 11, 14 f. (1959). 174 Ebd., S. 15 ff., 19. 175 Ebd., S. 3Iff.

F. Die Debatte um den Warren-Court

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Die beiden Kritiker des Supreme Court wählten einen für die amerikanische Verfassungstheorie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts typischen Angriffspunkt, „politische" Entscheidungen, solche Entscheidungen, die mangels traditionell akzeptierter juristischer Argumente besonders wertungsintensiv sind. Learned Hand und Wechsler konnten nach den Erkenntnissen des legal realism nicht mehr behaupten, daß Recht wertfrei gefunden werden könne. Sie versuchten jedoch, den Umfang der richterlichen Wertungen zu beschränken. Das zentrale Thema der neueren verfassungstheoretischen Diskussion war geboren. Learned Hand und Wechsler gaben sich nicht mit der Antwort zufrieden, die ihnen Holmes und Cardozo hinterlassen hatten, daß Richter in einigen Fällen, insbesondere im Verfassungsrecht, nicht anders als die Legislative arbeiten können. Vielmehr versuchten sie, Legislative und Judikative zu unterscheiden. Moralische Wertungen sollten der Legislative vorbehalten bleiben. Wie oben beschrieben wurde, setzten auch Holmes und Cardozo diese beiden Institutionen nicht völlig gleich. Richter sollten lediglich „in den Zwischenräumen" legislativ urteilen. Cardozo räumte jedoch ein, daß diese „soziologische Methode" im Verfassungsrecht dominieren müsse. 176 Learned Hand und Wechsler waren nicht in der Lage, eine praktikable Alternative aufzuzeigen. Learned Hand beließ es bei der Warnung, daß Gerichte nicht politische Macht usurpieren dürften. Wechsler forderte neutrale Prinzipien, ohne jedoch auszuführen, wie diese Prinzipien bestimmt werden können. 1 7 7 Das Bestehen auf allgemein gültigen, neutralen Prinzipien allein teilt noch nichts über deren Inhalt beziehungsweise Erkenntnisquellen m i t . 1 7 8 Learned Hand und Wechsler versuchten das Unmögliche, die wertende Natur der Verfassungsinterpretation zu bejahen und zugleich richterliche Wertungen zu verhindern. 179

176

Vgl. oben S. 214. C. R. Sunstein, Neutrality in Constitutional Law, 92 Colum. L. Rev. 1, 5, 50 (1992), wies zu Recht darauf hin, daß das Festhalten Wechslers am Status quo nicht als neutral bezeichnet werden kann. Vielmehr teilt derjenige, der für Veränderungen im Verfassungsrecht „neutrale Prinzipien", also einen Rechtfertigungsgrund, verlangt, die Wertungen, die dem Status quo zugrundeliegen. Ähnlich E. Chemerinsky, Foreword: The Vanishing Constitution, 103 Harv. L. Rev. 43, 100 (1989). 178 y. H. Ely , Democracy and Distrust, 1980, S. 54f. Vgl. auch W. Brugger , Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. 358 ff. 179 Ähnlich M. Tushnet (Fn. 121), S. 46 ff: Es sei nicht möglich, inhaltlich neutrale Prinzipien aufzustellen, da diese Prinzipien geeignet sein müßten, Wertungskonflikte zu lösen. Hierzu müßten sie spezifizieren, welcher Wert in einem konkreten Konflikt höher zu bewerten sei. Dies könnten neutrale Prinzipien nicht leisten, ebd., S. 46 Fn. 77. An diesem Dilemma war bereits Pound gescheitert, als er seine Interessenjurisprudenz auf die Aufzählung der einzelnen Interessentypen beschrän177

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Ihr Ansatzpunkt sollte die Diskussion der amerikanischen Verfassungstheorie bis zum heutigen Tag beherrschen. Es ging nicht mehr um die von Holmes und Cardozo diskutierte Frage, auf welche Art und Weise Verfassungsrecht entsteht, sondern vielmehr darum, wie die politische Macht der Verfassungsrichter begrenzt werden kann. Insofern wurde die Prämisse des legal realism übernommen, daß Richter nicht objektiv erkennbares Recht finden, sondern Recht in einem wertenden Prozeß schaffen. Die Legitimierbarkeit der richterlichen Tätigkeit stand von nun an im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Der Ablauf des eigentlichen Entscheidungsprozesses, Thema der Diskussion in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, war in den Hintergrund getreten. Insofern kann man von einem Paradigmen Wechsel in der amerikanischen Verfassungstheorie sprechen. 180

II. Die Strömung der „Reasoned Elaboration" „Reasoned Elaboration" steht für eine bestimmte Art und Weise der Kritik an den Entscheidungen des Supreme Court. Der Begriff wurde von Henry Hart und Albert Sacks in ihrem gemeinsamen Werk „The Legal Process" geprägt. 181 Die von Hart und Sacks begründete Strömung forderte, daß Gerichte ihre Entscheidungen detailliert und kohärent begründen, daß sich die einzelnen Richter von ihrem Vorverständnis trennen und die Entscheidung Produkt eines kollektiven Prozesses (the maturing of collective thought) 1 8 2 ist. Schließlich sollten die Entscheidungen, insbesondere im Verfassungsrecht, den kollektiven Präferenzen entsprechen. Dadurch, daß sich Richter von ihren persönlichen Befangenheiten lösten, sollte ein mit Vernunft gleichzusetzendes „suprapersonales Konstrukt" entstehen, das den zuerst vom legal realism vorgebrachten Vorwürfen der Subjektivität der Rechtsfindung standhält. 183 Recht wird in den Augen der Anhänger dieser ken mußte und die Frage, welches Interesse im Konfliktfall vorgehen solle, nicht beantworten konnte. Vgl. oben S. 220. 180 Ähnlich E. Chemerinsky (Fn. 177), S. 61 ff., der das „Majoritarian Paradigm", die Konzentration der Lehre auf den vermeintlich antimajoritären Charakter der Arbeit der Judikative, als eine Reaktion auf die umstrittene Rechtsprechung des Supreme Court in der Lochner- und der Warren-Ära beschreibt. Vgl. hierzu auch M. J. Horwitz, Foreword: The Constitution of Change: Legal Fundamentality Without Fundamentalism, 107 Harv. L. Rev. 32, 57 ff. (1993). Instruktiv zur Debatte um Brown v. Board of Education auch: W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 327 ff. 181 H. M. Hart/A. M. Sacks, The Legal Process, 1994. Vgl. hierzu auch W. N. Eskridge/P. P. F rie key, The Making of the Legal Process, 1077 Harv. L. Rev. 2031 ff. (1994). 182 So H. M. Hart, Foreword: The Time Chart of the Justices, 73 Harv. L. Rev. 84, 100 (1959). 183 Vgl. G. E. White (Fn. 153), S. 286f.

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Strömung weder als bereits existierend gefunden, noch gesetzt. Es entsteht in einem vernunftorientierten Prozeß. Folgerichtig wurde die innovative Rechtsprechung des Warren-Court von Vertretern dieser Strömung kritisiert. Der Supreme Court wurde zu mehr institutioneller Zurückhaltung aufgefordert. 1 8 4 Der Warren-Court versah seine verfassungsrechtlichen Neuerungen nicht immer mit „vernünftigen" und detaillierten Begründungen, sondern stützte seine Rechtsprechung, vor allem im Bereich des Due Process und der Equal Protection Clause, auf Sozialnützigkeits- und Gerechtigkeitserwä„ „ „ „ ^ 185

gungen. Die Strömung der „Reasoned Elaboration" hat keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse hervorgebracht. Die Forderung, daß Richter ihre intuitiv getroffenen Weitungen zur Kenntnis nehmen und begründen, wurde bereits von Holmes erhoben. III. Weitere Theorien über die Rolle des Supreme Court Die von Learned Hand und Wechsler angestoßene Debatte wurde von einer Reihe prominenter Verfassungsrechtler fortgesetzt. 1. Louis Pollak Louis Pollak, der den Stil der Rassentrennungsentscheidungen des Supreme Court kritisierte, versuchte das zu leisten, wozu sich Wechsler außerstande erklärt hatte. Er wollte eine Entscheidungsbegründung verfassen, die die Aufhebung der Rassentrennung mit neutralen Prinzipien begründete. Pollak berief sich auf die Entscheidung in Korematsu v. U.S., wo der Supreme Court rassische Klassifizierungen als inhärent suspekt bezeichnet hatte. Rassische Diskriminierungen müßten als willkürlich eingeordnet werden, da sie auf Vorurteilen gegen eine isolierte Minderheit beruhten und die ausgegrenzten Schwarzen stigmatisierten. 186 Pollak bezeichnete seine Vorgehensweise als neutral im Sinne Wechslers, weil er sich auf den Zweck des 14. Amendments beschränkt habe, die Gleichstellung der Schwarzen zu erreichen. Pollak zitierte zustimmend Felix Frankfurter aus einer früheren Entscheidung, daß die Verfassung keinen fixierten Inhalt habe und daher zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Richtern unterschiedlich interpretiert werde. Dabei sei es Richtern nicht gestattet, auf ihre 184

Ebd., S. 289ff. m.w.N. Wie die per-curiam-Urteile zur Aufhebung der Rassentrennung zeigen, verzichtete der Warren-Court bei einigen Entscheidungen von immenser gesellschaftlicher Bedeutung sogar auf jegliche Urteilsbegründung. Vgl. oben S. 88. 186 L. H. Pollak , Racial Discrimination and Judicial Integrity, 108 U. Pa. L. Rev. 1, 25 ff. (1959). 185

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

persönlichen Moralvorstellungen zurückzugreifen. Sie seien vielmehr zu Unparteilichkeit verpflichtet. 187 Nur in diesem Sinne, schließt Pollak, sei neutrale Verfassungsinterpretation möglich. 1 8 8 2. Charles Black Charles Black verteidigte Brown v. Board of Education wie folgt: Die Equal Protection Clause schreibe vor, daß die Schwarzen durch staatliches Handeln nicht benachteiligt werden dürften. Das vom Staat verordnete System der Rassentrennung stelle eine erhebliche Benachteiligung der Schwarzen dar und verstoße daher gegen das 14. Amendment. Der Supreme Court sei in Plessy v. Ferguson von der falschen soziologischen und psychologischen Prämisse ausgegangen, daß Rassentrennung Schwarze nicht benachteilige. Die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten habe nicht zu wirklich getrennten, aber gleichen Institutionen geführt. Es sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt offensichtlich, daß die „separate but equaP'-Doktrin die schwarze Rasse als minderwertig betrachte. 189 Black ist zwar insofern zuzustimmen, als sich die soziologischen Prämissen des Supreme Court in Plessy v. Ferguson und Brown v. Board of Education unterschieden. Der Supreme Court nahm im ersten Fall an, daß Rassentrennung Schwarze nicht als minderwertig behandelte und kam in Brown v. Board of Education zum entgegengesetzten Ergebnis. Diese soziologischen Prämissen sind jedoch nicht, wie von Black vorausgesetzt, notwendig Teil des 14. Amendments. Zumindest zum Zeitpunkt der Ratifizierung des 14. Amendments war unbestimmt, ob das 14. Amendment auch die Rassentrennung abschaffen sollte. 1 9 0 Es wäre zum damaligen Zeitpunkt mit einer rein juristischen Argumentation vertretbar gewesen, im Sinne der Entscheidungen des Supreme Court vor Brown v. Board of Education 191 tatsächlich gleiche Bedingungen für Weiße und Schwarze zu fordern, was die Hebung der Qualität der für Schwarze bestimmten Institutionen zur Folge gehabt hätte.

187

Rochin v. California, 342 U.S. 165, 170ff. (1952). L H. Pollak (Fn. 186), S. 34. 189 C. L. Black, The Lawfulness of the Segregation Decisions, 69 Yale L. J. 421 f., 427 (1960). 190 Zur Geschichte des 14. Amendments vgl. die in Teil 1, Fn. 155 genannten Autoren. 191 Vgl. die oben auf S. 74 f. zusammengefaßten Entscheidungen Missouri ex rei . Gaines v. Canada, Sipuel v. Board of Regents, Sweatt v. Painter und McLaurin v. Oklahoma State Regents for Higher Education. 188

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IV. Zusammenfassung zur Debatte der fünfziger Jahre Diese Rechtfertigungsversuche für Brown v. Board of Education können nicht überzeugen. Die Frage, ob getrennte, aber gleichwertige Institutionen eine Ungleichbehandlung darstellen, ist nicht ohne Wertungen beantwortbar. Die Verfassung selbst gibt entgegen den Beteuerungen Pollaks und Blacks keine Antwort auf diese Frage. Die Richter in Plessy v. Ferguson werteten in Übereinstimmung mit der Sozialmoral ihrer Zeit, daß Rassentrennung keine Ungleichbehandlung sei. Der Warren-Court entschied sich in Brown v. Board of Education , wiederum im Einklang mit den gesellschaftlich dominanten Wertvorstellungen, für die entgegengesetzte Antwort. Die Verteidigungsversuche Blacks und Pollaks gehen ins Leere, weil eine „neutrale", d. h. wertfreie Entscheidung der Frage nicht möglich ist. Neutralität ist nur im Sinne von Konsistenz der Anwendung eines universalisierbaren Prinzips möglich. 1 9 2 Zu dem Ergebnis war auch Wechsler gekommen, als er sich nicht in der Lage sah, ein „neutrales" Verfassungsprinzip zu nennen, das Brown v. Board of Education rechtfertigen konnte. Der von Learned Hand und Wechsler unternommene Versuch, die Wertungen der Verfassungsinterpreten zu objektivieren, mußte ebenso scheitern. Verfassungsrecht ist notwendig wertender Natur. Wertungen sind nicht völlig frei von persönlichen Einflüssen möglich. Verfassungsrichter haben Wertpräferenzen, deren Einfluß minimiert, aber nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Eine „neutrale", sich aller Wertungen enthaltende Judikative ist nicht vorstellbar. 193 Die Wertungen der Verfassungsinterpreten werden durch den Text der Verfassung begrenzt. Dieser ist jedoch so unbestimmt, daß nur ein Minimum an Eindeutigkeit erreicht wird. Miller/Howell verwiesen zu Recht auf weitere Faktoren, die den Wertungsspielraum für Richter einengen, insbesondere das Streben nach Anerkennung von anderen Richtern, den Richtern höherer Gerichte oder, für die Richter letztinstanzlicher Gerichte, Anerkennung von zukünftigen Richtern dieser Gerichte. 194 Kritiker des Verfassungsgerichts müssen sich letztendlich damit begnügen, die jeweiligen Wertungen der Verfassungsrichter offenzulegen. Wer die wertende Natur der Verfassungsinterpretation verneint, begibt sich in die bereits vom legal realism ausführlich dargestellte Gefahr, persönliche Wertungen unbewußt in die Verfassung hineinzulesen. Problematisch ist nicht der Einfluß der Sozialmoral auf die Wertungen der Richter an sich, sondern der unartikulierte und unkontrollierte Verlauf dieses Prozesses. 195 192

So auch L. Henkin (Fn. 170), S. 653. Vgl. auch Λ. S. Miller/R. F. Howell , The Myth of Neutrality in Constitutional Adjudication, 27 U. Chi. L. Rev. 661, 664, 671, 675 (1960). 194 Ebd., S. 676. 193

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist es, Verfassungsprinzipien zu formulieren, die über den jeweils entschiedenen Fall hinausgehen. Es ist in diesem Prozeß nicht nur Schiedsrichter von im einzelnen bedeutungslosen Streitfällen, sondern spielt die Rolle des „nationales Gewissen des Volkes". 1 9 6 Die „process"-Theorie von Hart und Wechsler setzt voraus, daß gesellschaftliche Konflikte mit Vernunft (reason) gelöst werden können. Dies wäre nur möglich, wenn alle gesellschaftlichen Interessen harmonierten. Da dies nicht der Fall ist, können wertneutrale, „vernünftige" Prinzipien nicht diese Konflikte lösen. Vernunft im Sinne logischer Herleitung von Prinzipien ist im Gegensatz zu Harts Position nicht das Grundprinzip des Rechts. Statt dessen sind, wie bereits von Holmes formuliert, Zweckmäßigkeitserwägungen „die geheime Wurzel, aus der das Recht die Säfte des Lebens zieht". 1 9 7 V. Die „Countermajoritarian Difficulty" - Alexander Bichel Einer der einflußreichsten amerikanischen Verfassungstheoretiker, Alexander Bichel, beschrieb den Supreme Court als die „am wenigsten gefährliche Gewalt", die gleichzeitig „das mächtigste Verfassungsgericht der Welt" sei. 1 9 8 Das Hauptproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit, so Bichel, bestehe darin, daß der Supreme Court eine entgegen der Mehrheit wirkende Kraft sei (counter-majoritarian difficulty). 1 9 9 Wenn der Supreme Court ein Gesetz der gewählten Legislative aufhebe, widerspreche er dem Willen der Repräsentanten des Volkes. Er übe seine Kontrollfunktion nicht im Namen, sondern gegen die dominante Mehrheit aus. Es handele sich um eine essentiell abweichende Institution. 2 0 0 Bichels Charakterisierung der Judikative als antimajoritäres Organ kann nicht in vollem Umfang zugestimmt werden. Bichel postulierte, daß die Akte der Legislative in jedem Fall dem Willen des Volkes entsprechen. Dies stimmt nicht mit der Verfassungswirklichkeit überein. Oft, etwa in den Entscheidungen zum Wahlrecht, stellte der Supreme Court erst sicher, daß dem Willen der Mehrheit zur Geltung verholfen wurde. Die Judikative ist zwar dem Volk nicht direkt verantwortlich. Sie kann aber die Akte der anderen 195

Mit gleichem Ergebnis A. S. Miller/R. F. Howell , ebd., S. 678, 683 und L Henkin (Fn. 170), S. 655 ff. 196 So die Formulierung bei A. S. Miller/R. F. Howell , ebd., S. 686, 689 m.w.N. 197 Ebd., S. 687, 694f. mit dem Zitat aus Holmes' „Common Law4'. Siehe dazu oben Fn. 19. 198 Α. M. Bickely The Least Dangerous Branch, 1962, S. 1. 199 Ebd., S. 16. 200 Ebd., S. 17 f.

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beiden Gewalten so korrigieren, daß diese den in der Verfassung verankerten Traditionen und Werten entsprechen. Bichel verengte den Demokratiebegriff zu sehr, als er anmerkte, daß die Verantwortlichkeit der Legislative gegenüber dem Wähler das zentrale Kennzeichen des demokratischen Systems sei. 2 0 1 Viele Demokratiemodelle sehen eine Einschränkung der Befugnisse der Legislative vor,, etwa zum Schutz von Minderheiten. Unkontrollierte Mehrheitsherrschaft ist nicht notwendiger Bestandteil eines jeden demokratischen Systems. Bichels Analyse ist nicht völlig neu. Daß Verfassungsgerichtsbarkeit demokratisch legitimiert werden müsse, hatten bereits Wechsler und Learned Hand betont. Bichel Schloß aus der Legitimationsproblematik jedoch nicht wie Wechsler auf die Unzulässigkeit bestimmter Entscheidungen. Er argumentierte, daß eine Regierung nicht allein dem Zeitgeist dienen solle, sondern auch bestimmte Werte anzuerkennen habe. Diese Werte seien nicht allein aus der Vergangenheit ableitbar. Sie bedürften der ständigen Aktualisierung und Konkretisierung. Die Judikative habe im Gegensatz zu den anderen Gewalten die Fähigkeit, die Grundwerte der Gesellschaft zu formulieren. Isolation und zeitlicher Spielraum gebe Richtern die Möglichkeit, an die „bessere Natur des Menschen zu appellieren", Ideale zu beschwören, die vom Zeitgeist vernachlässigt werden. 2 0 2 Das Verfassungsgericht dürfe die für die Gesellschaft neben dem Prinzip der Volksherrschaft verbindlichen Prinzipien jedoch nicht ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Emotionen und Ansichten des Volkes formulieren. Aufgabe des Gerichts sei es, seinen Urteilen durch die Zustimmung der Rechtsunterworfenen zur Geltung zu verhelfen. Bichel verwieß als Beispiel für eine solche Vorgehensweise auf die Rechtsprechung des Supreme Court zur Aufhebung der Rassentrennung. Durch die „with all deliberate speed"-Formel sei es gelungen, auf die Widerstände der Betroffenen Rücksicht zu nehmen und die Durchsetzung von Brown v. Board of Education zu erleichtern. 203 Bichel war, obwohl er das Legitimationsproblem für richterliche Kontrolle legislativer Entscheidungen betonte, eher als Learned Hand und Wechsler in der Lage, Entscheidungen eines aktivistischen Supreme Court mitzutragen. 2 0 4 Er bezog die Sozialmoral in den Interpretationsprozeß ein, als er forderte, daß das Gericht bei der Formulierung der Grundwerte der Gesellschaft auf die Akzeptanz seiner Entscheidungen achten solle. 201

Ebd., S.19. Ebd., S. 24ff. 203 Ebd., S. 250f., 261. Zur „all deliberate speed" Formel vgl. oben S. 81. 204 Für Bickels Position zum Warren-Court vgl. ders. y The Original Understanding and the Segregation Decision, 69 Harv. L. Rev. 1 (1955). Zu Bichel vgl. auch J. H Ely (Fn. 178), S. 71 f. 202

16 Schiwek

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie in den Vereinigten Staaten Die Unterscheidung zwischen historisch bedeutsamen und gegenwärtig vertretenen verfassungstheoretischen Ansätzen wird hier lediglich aus Gründen des Aufbaus getroffen. Die bereits behandelten Theorien werden, wenn auch unterschiedlich stark und häufig in verschiedenen Strömungen, auch heute noch vertreten. Angesichts der Vielzahl von theoretischen Ansätzen ist wiederum eine Beschränkung auf die am weitesten verbreiteten Ansichten vonnöten. Es werden solche Theorien besonders ausführlich behandelt, die sich explizit für oder gegen die Einbeziehung der Sozialmoral in die Verfassungsinterpretation aussprechen. Dabei werden vor allem Autoren zitiert, die sich besonders intensiv mit diesem Problemkreis beschäftigt haben. 205 Trotz der Vielzahl von Strömungen in der amerikanischen Verfassungstheorie fällt eine grundsätzliche Unterteilung der vertretenen Ansätze leicht. Zum einen gibt es die Strömung des Originalismus, zum anderen den Nicht-Originalismus. Der Originalismus vertritt hinsichtlich der Rolle, die die Sozialmoral im Verfassungsrecht spielt, die extremste Position, indem er jeglichen Einfluß der jeweils dominanten Wertvorstellungen auszuschließen sucht. Alle anderen Interpretationstheorien lassen, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, zu, daß die hier unter dem Begriff der Sozialmoral zusammengefaßten Faktoren bei der Verfassungsanwendung eine Rolle spielen. Bei der Darstellung der einzelnen Ansätze wird auf die unterschiedlichen Begründungen für beziehungsweise gegen die Einbeziehung der Sozialmoral einzugehen sein. I. Anforderungen an Verfassungstheorien Zusätzlich zur Darstellung ihrer wesentlichen Thesen sollen die Theorien in bezug auf ihre Fähigkeit untersucht werden, die Geschichte der amerikanischen Verfassungsinterpretation beschreiben zu können. Grundsätzlich muß eine Verfassungstheorie zwei Anforderungen erfüllen: Sie muß normativ vertretbar und deskriptiv zumindest potentiell korrekt sein. 205

Eine detailliertere als die hier wiedergegebene Übersicht über die heute in den Vereinigten Staaten vertretenen Verfassungstheorien findet sich bei R. D. Rotunda/J. E. Nowak, Treatise on Constitutional Law, Bd. IV, 1992, S. 618 ff.; M. Tushnet (Fn. 121); J. H. Ely (Fn. 178). Von den deutschen Abhandlungen vgl. W. Brugger,, Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, JöR N. F. 42 (1994), 571 ff.; H. Bungert, Zeitgenössische Strömungen in der amerikanischen Verfassungsinterpretation, AöR 117 (1992), 7Iff. Zur aktuellen verfassungsrechtlichen Diskussion in den Vereinigten Staaten siehe auch L M. Seidman/M. Tushnet, Remnants of Belief, 1996.

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie

243

Eine richtige Theorie der Verfassungsinterpretation muß in der Lage sein, die bisherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts korrekt zu beschreiben. 2 0 6 Eine Theorie, die nicht die tatsächliche Tätigkeit der Gerichte beschreiben kann, bleibt ein Wunschbild, eine Illusion. Von dieser Anforderung kann eine Ausnahme gemacht werden. Dann, wenn die Theorie aus normativen Gründen die bisherige Methodik der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht billigt, ist sie dennoch zulässig, wenn sie ihre Praktikabilität nachweisen kann. Sie muß also die zukünftige, sich an ihr orientierende Rechtsprechung glaubwürdig beschreiben können, das Potential zu deskriptiver Richtigkeit haben. Korrekte beziehungsweise potentiell korrekte Beschreibung der Wirklichkeit führt jedoch nicht automatisch zu einer richtigen Theorie der Verfassungsinterpretation. Andernfalls unterläge ein Verfassungsgericht keinerlei Beschränkungen. Sein und Sollen wären gleichgesetzt. Es muß möglich sein, die Übereinstimmung der Entscheidungen der Judikative mit der Verfassung theoretisch zu prüfen. Die normative Richtigkeit einer Theorie bestimmt sich aus der Verfassung selbst. 207 Eine normativ richtige Theorie muß der Rolle gerecht werden, die der Judikative in der Verfassung zugeteilt wurde. Sie muß mit den in der amerikanischen Verfassung verankerten Prinzipien, insbesondere dem Demokratie- und dem Gewaltenteilungsprinzip, vereinbar sein. II. Der Originalismus Auslöser für die Bewegung des Originalismus war die aktivistische Rechtsprechung des Warren-Court, die als „begrenzter Staatsstreich" wahrgenommen wurde. 2 0 8 Den Richtern des Warren-Court wurde vorgeworfen, ihre liberalen Präferenzen in die Verfassung hineingelesen zu haben. 2 0 9 Präsident Nixon hatte seinen Wahlkampf gegen die liberale Rechtsprechung des Warren-Court ausgerichtet. Ihm fiel die Bestellung von vier Verfassungsrichtern z u . 2 1 0 Es bestand das Bedürfnis, eine weitere Ausweitung individueller Verfassungsrechte durch den Supreme Court zu verhindern. 211 Dazu mußte der theoretische Unterbau für eine weniger aktivistische Form der Verfassungsinterpretation geschaffen werden. 206

T. C. Grey (Fn. 8), S. 22 (1995); R. H. Fallon , A Constructivist Coherence Theory of Constitutional Interpretation, 100 Harv. L. Rev. 1189, 1203 (1987). Die Forderung wurde am deutlichsten vom legal realism vertreten. 207 Vgl. R. H. Fallon , ebd., S. 1232ff. 208 R. H. Bork , Neutral Principles and Some First Amendment Problems, 47 Ind. L. J. 1, 6 (1971). 209 R. Berger , Government by the Judiciary, 1977, S. 3. 210 Es handelt sich um die Richter Blackmun, Powell, Rehnquist und Burger. Letzterer nahm den Platz von Earl Warren als Chief Justice ein. 16*

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie 1. Die Forderungen des Originalismus

Die Vertreter des Originalismus lehnen es konsequent ab, Erwägungen der Sozialmoral in die Verfassungsinterpretation einzubeziehen. Sie beschränken die möglichen Hilfsmittel für die Anwendung der Verfassung auf deren Text und Entstehungsgeschichte. Andere Rechtserkenntnisquellen wie die Sozialmoral werden als unzulässig ausgeschlossen.212 Die Konsequenz ist, daß eine Anpassung der Verfassung an die jeweils dominanten Wertvorstellungen unmöglich wird. Änderungen der Verfassung sind nach dieser Theorie nur auf dem formellen Weg des Amendments nach Artikel V möglich. Eine „lebendige", flexible Verfassung wird nicht anerkannt. Die Bedeutung der Verfassungsnormen bleibt auch über lange Zeiträume konstant und weicht nicht von der Bedeutung zum Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung ab. 2 1 3 Richter haben sich aller Wertungen zu enthalten. Das Verfassungsgericht soll von Prinzipien kontrolliert werden, die außerhalb des Einflusses seiner Richter stehen. Insbesondere soll es unzulässig sein, daß der Supreme Court neue fundamentale Rechte anerkennt. Folglich wird die Rechtsprechung des Supreme Court zum „Substantive Due Process" als kompetenzüberschreitend abgelehnt. Ähnliches gilt für die Akzeptanz neuer fundamentaler Rechte unter der Equal Protection Clause. So wird etwa bestritten, daß der Gleichheitssatz dem Supreme Court als Basis für den besonderen Schutz fundamentaler Rechte beziehungsweise suspekter Klassifizierungen dienen kann. 2 1 4

211 Vgl. dazu M. Tushnety Constitutional Interpretation, Character, and Experience, 72 B. U. L. Rev. 747, 760 (1992); Β. Woodward/S. Armstrong, The Brethren, 1979, S. 5 ff. 212 W. H. Rehnquist , The Notion of a Living Constitution, 54 Tex. L. Rev. 693, 696 (1976). Zur theoretischen Grundhaltung von Chief Justice Rehnquist vgl. B. Schwartz , „Brennan VS. Rehnquist" - Mirror Images in Constitutional Construction, 19 Okla. City U. L. Rev. 213, 220 ff. (1994). Teilweise wird zwischen „Interpretivismus" und „Originalismus" unterschieden. Während der „Originalismus" nach dieser wenig hilfreichen Unterscheidung nur Text und Entstehungsgeschichte als Rechtserkenntnisquellen zuläßt, erlaubt der „Interpretivismus" die Hinzuziehung anderer Rechtserkenntnisquellen, um die „abstrakten Intentionen" der Verfassungsgeber zu ermitteln. R. H. Fallon (Fn. 206), S. 1211. Vgl. auch W. Brugger (Fn. 178), S. 39, 347; ders. (Fn. 205), S. 583. Da der letztgenannte Ansatz Wertungen zuläßt, die nicht von den Verfassungsgebern getroffen worden, erscheint es sinnvoller, ihn dem „Nicht-Originalismus" zuzurechnen. Zumindest im Rahmen dieser Untersuchung kommt es entscheidend darauf an, welche Wertungen die Verfassungsanwendung beeinflussen. Daß sich die Schule der „abstrakten Intentionen" nur aus rhetorischen Gründen auf die Verfassungsgeber beruft, wird noch näher ausgeführt. Vgl. unten S. 252. 213 A. Scalia , Originalism: The Lesser Evil, 57 U. Cin. L. Rev. 849, 862 ff. (1989); R. Berger , Mark Tushnet's Critique of Interpretivism, 51 Geo. Wash. L. Rev. 532 (1983).

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2. Das Legitimationsproblem Hintergrund dieser Position ist eine an die Positionen Wechslers und Learned Hands anknüpfende Überlegung. Richter werden als nicht demokratisch legitimiert betrachtet, Entscheidungen mit politischen Auswirkungen zu treffen. Originalisten verweisen darauf, daß die Richter des Supreme Court nicht vom Volk gewählt werden und auch nicht zur Wiederwahl stehen. Die fehlende Verantwortung dem Wähler gegenüber führe zu einer Beschränkung des Handlungsspielraums der Judikative. Diese dürfe nicht moralische und politische Entscheidungen der anderen, demokratisch besser legitimierten Gewalten überstimmen. Richter dürften nicht ihre Wertpräferenzen an die Stelle der Entscheidungen des Gesetzgebers setzen. Andernfalls komme es zu einer „Usurpation der politischen Macht" durch die Judikative, die ihre Legitimität verliere und zur „dritten Kammer der Bundesgesetzgebung" werde. 2 1 5 Das Rechtfertigungsbedürfnis für richterliche Wertentscheidungen wird im folgenden als Legitimationsproblem bezeichnet. Originalisten lehnen moralische Wertungen von Richtern häufig aufgrund eines von ihnen vertretenen Wertskeptizismus ab. Moralische Wertungen von Richtern seien gerade deshalb so problematisch, weil es keine Möglichkeit gebe, ihre Richtigkeit zu beweisen. 216 Der Originalismus bleibt sogar noch hinter Wechsler und damit hinter den Erkenntnissen Holmes' und Cardozos zurück, wenn er verlangt, daß Richter sich moralischer und politischer Wertungen enthalten sollten. Wechsler hatte diese Erkenntnisse berücksichtigt, als er einräumte, daß Verfassungsinterpretation notwendig wertender Natur sei. Er hatte jedoch das Erfordernis „neutraler Prinzipien" für diese Wertungen aufgestellt. 217 Der Originalismus hingegen begibt sich auf die Stufe des Formalismus des 19. Jahrhunderts, indem er Richtern versagt, selbst Recht zu „schaffen", d.h. bei der Anwendung der einzelnen Verfassungsnormen Werte einfließen zu lassen, die nicht notwendig von den Verfassungsgebern geteilt wurden. Richter seien vielmehr nur dazu befugt, bereits getroffene Wertungen umzusetzen. 218 Originalisten verweisen oft auf Entscheidungen wie Dred Scott v. Sandford und Lochner v. New York, in denen der Supreme Court durch die 214 /?. H. Bork (Fn. 208), S. 6f., lOff.; E. Meese, Construing the Constitution, 19 U. C. Davis L. Rev. 22, 27 ff. (1985). 215 So die Formulierung bei W. H. Rehnquist (Fn. 212), S. 698. Die Verbindung zwischen der von Wechsler aufgeworfenen Legitimationsfrage und dem Originalismus wird etwa deutlich bei R. H. Bork, ebd., S. 1 ff. Vgl. ders., The Tempting of America, The Political Seduction of the Law, 1990; R. Berger (Fn. 209), S. 296ff.; A. Scalia (Fn. 213), S. 862 ff. 216 W ; H Rehnquist , ebd., S. 704f.; R. H Bork, ebd., S. 29. 217 Vgl. oben S. 233. 218 Vgl. R. H. Bork (Fn. 208), S. 4, 17; R. Berger (Fn. 209), S. 284ff.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Überstimmung der Legislative sich selbst und dem Land Schaden zugefügt habe. 2 1 9 Sie berücksichtigen freilich nicht, daß der Supreme Court in beiden Entscheidungen gerade nicht die gegenwärtige Sozialmoral in seine Überlegungen einbezogen hatte. Sowohl in Dred Scott v. Sandford als auch in Lochner v. New York verteidigte der Supreme Court Werte einer längst vergangenen Epoche. 2 2 0

3. Vereinbarkeit des originalistischen Demokratiemodells mit der amerikanischen Verfassung a) Demokratietheoretische Schwächen des Originalismus Originalisten gehen von einem Demokratiemodell aus, das voraussetzt, daß Entscheidungen von einer bestimmten Reichweite nur von solchen Personen getroffen werden dürfen, die vom Volk gewählt wurden und dem Wähler weiter verantwortlich sind. Dieses Modell gestattet keine Ausübung politischer Macht durch von der Legislative auf Lebenszeit berufene Amtsträger. Ob ein solches Demokratiemodell mit der amerikanischen Verfassung vereinbar ist, erscheint fraglich. So werden Entscheidungsträger der Exekutive, wie die Leiter von Behörden (Agency), vom Kongreß auf Vorschlag des Präsidenten berufen, ohne daß sie von diesem ohne weiteres wieder abgesetzt werden können. Der Präsident selbst ist auf zwei Amtsperioden begrenzt. 221 Er muß seine zweite Amtsperiode nicht auf seine Wiederwahl ausrichten, so daß in dieser Hinsicht eine Supreme-Court-Richtern vergleichbare Lage besteht. Schließlich setzt der Originalismus voraus, daß die Legislative grundsätzlich den Willen des Volkes am besten repräsentiert. Kritiker dieser These verweisen darauf, daß die Legislative selbst in vielen Fällen undemokratisch operiert. So finden Wahlen nur periodisch statt. Während der Legislaturperiode können die Ansichten von Wählern und Repräsentanten auseinanderdriften. Der Wähler habe, so Kritiker des Originalismus, kaum die Möglichkeit, einen Repräsentanten zu wählen, der alle seine Präferenzen teile. Oft würden Kandidaten nicht aufgrund bestimmter inhaltlicher Positionen gewählt, sondern aufgrund eines generellen Eindrucks, daß diese den Wähler gut vertreten würden. Nationale Wahlen könnten zudem nur von einer Koalition verschiedener Interessengruppen gewonnen werden, so daß die regierende Koalition notwendig eine heterogene Gruppe sei, die verschiedene Interessen ausbalancieren müsse. Die Struktur der Legislative 219 220 221

W. H. Rehnquist (Fn. 212), S. 700ff.; E. Meese (Fn. 214), S. 27. So H. H. Wellington, Interpreting the Constitution, 1991, S. 95. Vgl. das 22. Amendment.

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie

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selbst führe zu vielen antimajoritären Ergebnissen. So sei es möglich, daß Senatoren, die nicht mehr als 15% der Wähler repräsentierten, die Mehrheit im Senat stellten. Die Organisation der Legislative mit weitreichenden Kompetenzen für Ausschüsse, Unterausschüsse und dem beträchtliche Einfluß der Ausschußvorsitzenden blockiere den Willen der Mehrheit der Wähler und gebe Interessengruppen überproportionalen Einfluß. 2 2 2 Es wird darüber hinaus vertreten, daß die Autoren der Verfassung selbst nicht beabsichtigt hätten, daß ihre Intentionen, soweit diese sich nicht in der Verfassung selbst niedergeschlagen haben, bei der Verfassungsanwendung eine Rolle spielten. 223 Der Verweis auf die Intentionen der Verfassungsgeber geht zudem dann fehl, wenn Normen absichtlich vage gelassen wurden, wenn die Autoren der Verfassung durch die weite Formulierung der Verfassungsnormen künftigen Generationen die Möglichkeit geben wollten, die Verfassung nach ihren eigenen Wertmaßstäben auszulegen. 224

b) Alternativen zum originalistischen Demokratiekonzept Die eigentliche Schwäche der Argumentation des Originalismus ist jedoch nicht die Behauptung, daß nur das strikte originalistische Demokratiemodell mit der amerikanischen Verfassung vereinbar sei. Vertreter des Originalismus bleiben den Nachweis schuldig, daß ihr Demokratiekonzept das einzige mit der amerikanischen Verfassung vereinbare Konzept i s t . 2 2 5 Den Richtern des Supreme Court, die vom demokratisch legitimierten Präsidenten vorgeschlagen und vom ebenso legitimierten Senat bestätigt werden, fehlt gerade nicht jegliche demokratische Legitimation. Sie sind lediglich nicht direkt gewählt, sondern beziehen ihre Legitimation durch eine andere Legitimationskette, ein nicht schlechthin undemokratisches Ver222 So J. H. Choper , Judicial Review and the National Political Process, 1980, S. 12 ff. Vgl. auch W. Sadurski , Conventional Morality and Judicial Standards, 73 U. Va. L. Rev. 339, 347 (1987). 223 So H. J. Powell , The Original Understanding of Original Intent, 98 Harv. L. Rev. 885, 948 (1985). Powell verweist unter anderem auf den Entstehungsprozeß der Verfassung, auf die common-law-Tradition sowie auf die von den Autoren der Verfassung befolgte Tradition des britischen Protestantismus, nach der es nur auf den Wortlaut der Schrift, nicht aber auf zusätzliche Autoritäten außerhalb des Textes ankam, ebd., S. 889, 898, 902ff. Für das 14. Amendment kommt A. M. Bickel (Fn. 204), S. 63 zum gleichen Ergebnis. 224 R. W. Bennet, Objectivity in Constitutional Law, 132 U. Pa. L. Rev. 445, 458 (1984); Anderer Ansicht: H. P. Monaghan, Stare Decisis and Constitutional Adjudication, 88 Colum. L. Rev. 723 (1988). 225 Vgl. M. Tushnet (Fn. 121), S. 27; R. M. Dworkin , Unenumerated Rights: Whether and How Roe Should be Overruled, 59 U. Chi. L. Rev. 381, 385 (1992); R. A. Posner (Fn. 8), S. 242.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

fahren. Demokratie schaft. 226

kann mehr bedeuten als einfache

Mehrheitsherr-

Wie an verschiedenen Beispielen aus der amerikanischen Verfassungsgeschichte deutlich wird, bevorzugten die Väter der amerikanischen Verfassung eine indirekte Form der Demokratie. 227 Eine Vielzahl von Schutzmechanismen, unter anderem die horizontale und vertikale Gewaltenteilung sowie die Einrichtung eines Zweikammernparlamentes, sollen Stabilität garantieren. Dem Senat, dessen Abgeordnete für sechs Jahre gewählt werden, kommt die Aufgabe zu, auf Kontinuität hinzuwirken. 2 2 8 Die Verfasser der amerikanischen Verfassung suchten durch das von ihnen konzipierte Gewaltenteilungsmodell die Anfälligkeit des Systems gegenüber schnell wechselnden Mehrheiten zu verringern. Hintergrund dieser Erwägungen war das Bestreben der Verfassungsgeber, die Rechte des einzelnen so weit wie möglich zu schützen. Der Staat sollte sich, das zeigt auch die Enumerierung der Kompetenzen der Bundesgewalt in Artikel I, Absatz 8 der amerikanischen Verfassung, auf wenige Bereiche konzentrieren. Zudem verlieren die Legislative beziehungsweise der Präsident durch die Bestellung der Richter des Supreme Court auf Lebenszeit nicht völlig ihren Einfluß auf das Verfassungsgericht. Haben sie doch durch das Freiwerden von Richterpositionen die ständige Möglichkeit, die Richtung des Gerichts zu beeinflussen. 229 Somit besteht für die dem Wähler verantwortlichen 226 Vgl. E. V. Rostov , The Supreme Court and the People's Will, 33 Notre Dame Law 573, 576ff. (1958); E. Chemerinsky (Fn. 177), S. 75 ff. 227 So wurden die Mitglieder des Senats bis zur Verabschiedung des 27. Amendments 1913 nicht durch direkte Wahlen, sondern von den Parlamenten der einzelnen Bundesstaaten bestimmt (Art. I, Abs. 3). Präsident und Vizepräsident werden bis heute durch ein Wahlmännergremium (Electoral College) gewählt (Art. II, Abs. 1). 228 Zur Amtszeit der Senatoren vgl. das 27. Amendment. Die Mitglieder des Repräsentantenhauses müssen sich laut Art. I, Absatz 2 alle zwei Jahre zur Wiederwahl stellen. 229 Die Besetzung des Supreme Court ist oft Thema von Wahlkämpfen. Hervorzuheben ist etwa der Wahlkampf von Präsident Nixon gegen den Warren-Court. Nixon gab das Wahlkampfversprechen ab, nur solche Richter an den Supreme Court zu berufen, die eine weniger aktivistische Rolle der Judikative als der Warren-Court vertraten. Des weiteren betrieben die Präsidenten Reagan und Bush Wahlkampf gegen die Rechtsprechung des Supreme Court zum Schwangerschaftsabbruch. Vgl. dazu M. J. Gerhardt, The Role of Precedent in Constitutional Decisionmaking and Theory, 60 Geo. Wash. L. Rev. 68, 100 f. (1991). Zu den Supreme Court Nominierungen von Präsident Clinton vgl. L. M. Seidman/M . Tushnet (Fn. 205), S. 90ff. Historisch betrachtet dauert es ungefähr 10 Jahre, bis eine politische Mehrheit die Gerichte beherrscht. M. Tushnet, The Politics of Constitutional Law, in: D. Kairys (Hrsg.), The Politics of Law, 1990, S. 219, 225; Berufungen von Richtern an den Supreme Court werden in der Regel von politischen Gesichtspunkten geleitet. Vgl. M. Tushnet (Fn. 121), S. 120, 200ff.; D. M. O'Brien , Storm Center, The Supreme

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Amtsinhaber die Möglichkeit, die Richtung des Verfassungsgerichts mitzubestimmen. Es vergeht jedoch ein bestimmter Zeitraum, bis ein Präsident den Supreme Court und andere Bundesgerichte mit Richtern besetzen kann, die seine Überzeugungen von der Rolle der Judikative teilen. Den Ansichten der älteren Generation wird so zusätzliches Gewicht verliehen. Dieses Verzögerungswirkung wird dadurch verstärkt, daß die zum Verfassungsrichter berufenen Juristen meist lange Zeit an einem unteren Bundesgericht tätig waren und sowohl von ihrem Alter als auch ihrem beruflichen Werdegang her dazu neigen, konservative Werte zu vertreten. 230 Durch diese Struktur wird gesichert, daß die Wertvorstellungen der Bundesrichter, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, mit denen der Wähler übereinstimmen. Insofern nimmt die Judikative, ähnlich dem Senat, eine stabilisierende Rolle ein. Auf der anderen Seite stehen die Mitglieder des Repräsentantenhauses und der Präsident, die aufgrund ihrer kürzeren Amtszeit für gesellschaftliche Veränderungen empfänglicher sind. Der Senat und die Bundesgerichtsbarkeit bilden hierzu ein Gegengewicht.

c) Der Amendment-Prozeß und das Generationenproblem Originalisten vertreten häufig die These, daß ihre Theorie dem Demokratiegedanken am besten entspreche. Der Originalismus gibt vor, alle wesentlichen Wertungen der Legislative zu überlassen und damit den Interessen des Volkes am besten zu dienen. Wenn es um die Anpassung der Verfassung an neue Verhältnisse geht, verweisen Originalisten meist nur auf die Möglichkeit einer Verfassungsänderung nach Artikel V . 2 3 1 Diese Argumentation berücksichtigt jedoch nicht, daß Verfassungsänderungen eher eine Ausnahme in der amerikanischen Verfassungsgeschichte sind. In den mehr als zweihundert Jahren seit der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung wurde diese lediglich 27 mal geändert, davon nur viermal, um eine Entscheidung des Supreme Court aufzuheben. 232 Die Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung nach Artikel V sind so schwer zu erfüllen, daß ein solcher Weg immer die Ausnahme bleiben w i r d . 2 3 3 Die SchwerfälligCourt in American Politics, 1986, S. 52, 65 ff.; R. A. Dahl, Decision-Making in a Democracy: the Supreme Court as a National Policy-Maker, in: Judicial Review and the Supreme Court, L. W. Levy (Hrsg.), S. 105, 111. 230 „Konservativ" wird wiederum im zeitlichen, nicht im politischen Sinne gebraucht. 231 So W. H. Rehnquist (Fn. 212), S. 699f. 232 Vgl. dazu G. R. Stone, Precedent, the Amendment Process and Evolution in Constitutional Doctrine, 11 Harv. J. L. & Pub. Pol'y 67 f. (1988); J. H. Ely (Fn. 178), S. 46 und H. H. Wellington (Fn. 220), S. 128.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

keit des Verfassungsänderungsprozesses wurde von den Autoren der amerikanischen Verfassung bewußt in Kauf genommen, um Kontinuität zu garantieren. Wenn keine Verfassungsänderung vorgenommen wurde, orientiert sich der Originalismus nicht an den Weitmaßstäben der gegenwärtigen Generation, sondern an denen der Autoren der Verfassung. Hieraus folgt das sogenannte Generationenproblem. Die Tatsache, daß eine Verfassungsänderung nicht zustande kommt, kann nicht in jedem Fall als legislative Zustimmung zu den Wertungen der Verfassungsgeber ausgelegt werden. Letztendlich billigt der Originalismus eine Diktatur der Werte der Vergangenheit. 234 Er beschränkt sich auf den Status quo und nimmt der Verfassung jegliches Entwicklungspotential. Gleichzeitig wird die Anerkennung von neuen, von den Verfassungsgebern nicht geschützten Individualrechten faktisch ausgeschlossen. Der Originalismus ist somit politischer, als seine die „Entpolitisierung der Judikative" propagierenden Vertreter einräumen. 235 Die von ihm vorausgesetzte Legitimationskette, d.h. die Entfernung der Entscheidungsträger vom Souverän, ist länger als bei der Entscheidung von Weitkonflikten durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Ein konsequenter Originalismus setzt voraus, daß ein über 200 Jahre altes Dokument, ein Produkt des Agrarzeitalters, in der Lage ist, die Probleme des Industriezeitalters zu lösen. Ein solcher Ansatz wurde nicht zu Unrecht mit der Forderung an einen Chemiker verglichen, seine Aufgaben mit den Methoden des Alchimisten zu lösen. 2 3 6 Hinzu kommt, daß die 233 Art. V der amerikanischen Verfassung schreibt eine Verfassungskonvention beziehungsweise Zweidrittelmehrheit des Kongresses und Ratifikation durch drei Viertel aller Bundesstaaten als Voraussetzung einer Verfassungsänderung vor. Gerade das Ratifikationserfordernis macht tiefgreifende Verfassungsreformen auf dem Wege des Amendments schier unmöglich. So werden die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten oft von Partikularinteressen beherrscht, die sich größeren Reformen widersetzen. Als Beispiel seien hier etwa die Bemühungen der politisch ungewöhnlich starken Roosevelt- Administration genannt, die Reformen des New Deal auf dem Amendment-Weg verfassungsmäßig abzusichern. Präsident Franklin Delano Roosevelt, der wie kaum ein anderer Präsident den Rückhalt des Volkes genoß, nahm wegen der zu erwartenden Widerstände von Plänen Abstand, die „LochnerRechtsprechung" über Art. V aufzuheben und bereitete eher den fragwürdigen „court packing plan" vor. Vgl. dazu oben S. 51 sowie W. E. Leuchtenburg, The Origins of Franklin D. Roosevelt's „Court Packing Plan", 1966 Sup. Ct. Rev. 347, 384. 234 Vgl. R. A. Posner (Fn. 3), S. 138; D.A. Strauss , Common Law Constitutional Interpretation, 63 U. Chi. L. Rev. 877, 879 (1996). 235 W. J. Brennan, Construing the Constitution, 19 U.C. Davis L. Rev. 2, 4f., 8 (1985). Vgl. zum Problem der Wertanfälligkeit neutraler, da am Status quo festhaltender, Wertungen auch C. R. Sunstein (Fn. 177). 236 F. K. Beutel , Some Implications of Experimental Jurisprudence, 48 Harv. L. Rev. 169, 185 f. (1934).

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie

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Legitimation der Verfassungsgeber mit heutigen demokratischen Anforderungen nur schwer vereinbar erscheint. Eine Mehrheit des Volkes, Schwarze, Frauen, Nichtbesitzende, waren vom verfassungsgebenden Prozeß ausgeschlossen.237 Der Originalismus nimmt der Judikative die Mittel, um eine Tyrannei der Legislative zu verhindern. 238 Im Ergebnis können die demokratietheoretischen Einwände des Originalismus nicht überzeugen. Die normative Richtigkeit dieser Theorie erscheint fraglich. 4. Das Machbarkeitsproblem Das eigentliche Problem des Originalismus liegt jedoch in der Durchführbarkeit seiner Methode. Der Originalismus setzt voraus, daß die Anwendung der Verfassung ohne Rückgriff auf die moralischen und politischen Wertvorstellungen der Richter möglich ist, daß Wertkonflikte allein unter Rückgriff auf die Verfassung gelöst werden können. 2 3 9 Zum einen gibt es eine Vielzahl praktischer Schwierigkeiten. Die amerikanische Verfassung ist über zweihundert Jahre alt, das hier besprochene 14. Amendment erlebt bereits sein zweites Jahrhundert. Unter Historikern sind selbst grundsätzliche Fragen umstritten. Es erscheint nahezu unmöglich zu entscheiden, wie die Verfassungsgeber ein konkretes verfassungsrechtliches Problem des 20. Jahrhunderts gelöst hätten. Historische Texte sind nicht ohne tieferes Verständnis der vergangenen Epochen zu verstehen. Institutionen verändern ihre Bedeutung. Das Sich-Hineinversetzen in einen anderen historischen Zeitraum erfordert Kreativität. Dieser Prozeß ist weder frei von Wertungen, noch garantiert er eindeutige Ergebnisse. 240 Zudem setzt der Originalismus voraus, daß es so etwas wie gemeinsame Intentionen der Verfassungsgeber geben kann. Das ist insofern bedenklich, 237

Hierauf verweist R. M. Dworkin , Law's Empire, 1986, S. 364. M. Tushnet (Fn. 121), S. 27 f. 239 R. H. Bork (Fn. 208), S. 1, 3. 240 Für eine ausführliche Diskussion dieser praktischen Schwierigkeiten des Originalismus vgl. M. Tushnet (Fn. 121), S. 34 f. Vgl. auch W. Heun y Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers, 116 AöR (1991), 185 ff; W. Brugger (Fn. 205), S. 586 f. Ein Beispiel für die unterschiedliche Bedeutung von Institutionen ist die Rolle, die das Schulwesen zur Zeit der Verabschiedung des 14. Amendments gespielt hat beziehungsweise zum heutigen Zeitpunkt spielt. Während Schulbildung im Amerika des 19. Jahrhunderts eine eher untergeordnete Bedeutung hatte, ist sie heute eine Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben. So bereits die Analyse von Chief Justice Warren in Brown v. Board of Education. Der Originalismus berücksichtigt diese Entwicklung nicht, wenn er etwa Bemerkungen der Autoren des 14. Amendments über das Schulwesen des 19. Jahrhunderts auf die heutige Zeit überträgt. Vgl. dazu Tushnet, ebd., S. 39ff. 238

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

als verschiedene Mitglieder der Legislative einer Norm aus verschiedenen Gründen zustimmen. 241 Bei der amerikanischen Verfassung kommt hinzu, daß nicht nur die verfassungsgebende Versammlung, beziehungsweise bei den Amendments der Kongreß, sondern auch die ratifizierenden Bundesstaaten Verfassungsgeber sind. Es erscheint problematisch, einer derart großen Anzahl von Menschen einen „Willen" zuzuordnen, der dann über 100 Jahre später einen konkreten Fall entscheiden soll. Vertreter des Originalismus können nur mit einer den Einzelfall erfassenden konkreten Anleitung ihr Ziel erreichen, den Einfluß des Werthorizontes des Rechtsanwenders auszuschalten. Eine gemäßigte Form des Originalismus postuliert hingegen, daß konkrete Anwendungsfälle nicht von den Autoren der Verfassung antizipiert worden sein müssen. Es genüge, daß ihre „generellen Intentionen" bekannt seien, wie zum Beispiel das Ziel der Autoren des 14. Amendments, Schwarze und Weiße gleich zu behandeln. In diesem Fall läßt man wiederum richterliche Wertungen zu, wie zum Beispiel die Plessy v. Ferguson und Brown v. Board of Education zugrunde liegende Wertung, ob nach Rassen getrennte, aber gleichwertige Schulen, gegen das Gleichheitsgebot verstoßen. 242 Damit wird der Anspruch des Originalismus unterlaufen, moralische Wertentscheidungen den demokratisch besser legitimierten anderen Gewalten zu überlassen. Der „Originalismus", der „abstrakte" oder „generelle" Intentionen als Interpretationshilfe zuläßt, ist daher eine im Kern nichtoriginalistische Theorie. Der Originalismus begibt sich auf die Stufe des Formalismus des 19. Jahrhunderts. Deutlich wird dies unter anderem, wenn die Formulierungen vergangener Jahrhunderte übernommen werden, nach denen nur das Recht und nicht willkürliche Menschen regieren dürften. 243 Das vom legal realism und seinen Vorgängern entdeckte „menschliche Element im Recht" . t . . 244 wird ignoriert. Während sich der Originalismus ausführlich mit der eingangs behandelten Frage auseinandersetzt, ob es praktisch möglich ist, die Intentionen der Autoren der Verfassung zu ermitteln, schweigen seine Anhänger zu der 241 Vgl. F. H. Easterbrook , Legal Interpretation and the Power of the Judiciary, 7 Harv. J. L. & Pub. Pol'y 87f. (1984); W. J. Brennan (Fn. 235), S. 4; L H. Tribe , God Save this Honorable Court - How the Choice of Justices Shapes our History, 1985, S. 6. 242 Anders aber Bork (Fn. 208), S. 14 f., der glaubt, daß Brown v. Board of Education mit von moralischen Erwägungen freien rechtlichen Prinzipien begründet werden kann. Dagegen /?. A. Posner (Fn. 8), S. 247; R. H. Fallon (Fn. 206), S. 1215. Zu Bork vgl. auch R. M. Dworkin , The Bork Nomination, 9 Cardozo L. Rev. 101 (1988); L. M. Seidman/M. Tushnet (Fn. 205), S. 9ff. 243 R. Berger (Fn. 209), S. 288 f. 244 Vgl. dazu oben S. 224.

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie

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grundsätzlicheren Frage, ob es überhaupt möglich ist, Wertungen im Verfassungsrecht von vornherein auszuschließen.245 In der Regel wird dies stillschweigend vorausgesetzt. Die Vertreter des Originalismus setzen sich nicht mit der Natur der Verfassungsanwendung auseinander. Sie stellen nicht die Frage Holmes' und Cardozos, wie der Verfassungsrichter vorgeht. Sie schließen vielmehr von vornherein aus, daß Verfassungsrecht von der Natur der Sache her Wertungen erfordert. Statt dessen begnügen sie sich mit dem Hinweis, daß die Judikative kein Recht „schaffen" dürfe, beschränken sich also auf einen Sollen-Seins-Schluß: Da Verfassungsrichter keine Werturteile treffen dürften, müsse wertungsfreie Verfassungsrechtsprechung auch möglich sein. 2 4 6 Mit dieser Argumentation wird die Aufmerksamkeit von der wertenden Natur der Verfassungsinterpretation abgelenkt. Richter, die der Illusion erliegen, die Verfassung wertungsfrei interpretieren zu können, sind jedoch für den verdeckten Einfluß ihrer persönlichen Präferenzen offen. 2 4 7 Originalisten bestreiten nicht, daß ein Großteil der Rechtsprechung des Supreme Court nicht mit ihrer Theorie übereinstimmt. Sie fordern eine Änderung dieser Rechtsprechung. 248 Sie können jedoch nicht glaubhaft machen, daß ihr Ansatz praktikabel ist. Der Originalismus kann im Ergebnis auch in deskriptiver Hinsicht nicht überzeugen.

5. Verdienste

des Originalismus

Obwohl den Thesen des Originalismus nicht zugestimmt werden kann, ist dieser Ansatz nicht ohne jegliche Bedeutung für die Beschreibung der Rechtsprechung des Supreme Court. Die Vertreter dieser Strömung wiesen zutreffend darauf hin, daß der Supreme Court tatsächlich in einer Vielzahl von Entscheidungen, insbesondere auf den Gebieten des Substantive Due Process und der Equal Protection Clause, ohne Anhaltspunkte in Text, Systematik und Struktur der Verfassung neues Verfassungsrecht geschaffen hat. Die Rechtsprechung des Supreme Court entspricht nicht den originalistischen Vorgaben. 249 Der Supreme Court hat insbesondere das 14. Amendment unter dem Vorwand seiner Interpretation ständig umge245

Vgl. etwa E. Meese (Fn. 214), S. 24. Ähnlich E. Chemerinsky (Fn. 177), S. 87: Das „majoritarian paradigm" führe zu einem nutzlosen Verlangen nach richterlicher Neutralität und lenke von der Rolle des Supreme Court ab, die Werte der politischen Ordnung mitzubestimmen. 247 Vgl. R. M. Dworkin (Fn. 225), S. 391. 248 Vgl. die Zusammenfassung zum Originalismus bei R. H. Fallon (Fn. 206), S. 121 Iff. 249 So auch A. Scalia (Fn. 213), S. 852. 246

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

schrieben. 250 Bork wies zu Recht darauf hin, daß aus dem Gleichheitssatz allein nicht die Rechtsprechung des Supreme Court zu fundamentalen Rechten und suspekten Klassifizierungen ableitbar war. Rechtliche Prinzipien allein hätten diese Entscheidungen nicht begründen können. Diese Entscheidungen seien unweigerlich auf die Wertpräferenzen der Richter des Supreme Court zurückführbar. Fälle, die die Ausfüllung des Freiheits- und Gleichheitsbegriffs beträfen, seien nur mit moralischen Entscheidungen zu lösen. 2 5 1 Diese Beschreibung der Verfassungsrechtsprechung entspricht nicht nur den Tatsachen, sondern fordert den Supreme Court auch heraus, sich für seine verfassungsfortbildende Tätigkeit zu rechtfertigen. Dem Originalismus gebührt damit das Verdienst, auf den Einfluß moralischer Wertungen auf die neuere Verfassungsrechtsprechung aufmerksam gemacht zu haben. Die vom Originalismus bevorzugte Alternative, das Sich-Zurückziehen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf den Wertungshorizont der Verfassungsgeber, erscheint jedoch zweifelhaft, wird die Verfassung dadurch doch überholt und inhaltsleer. III. Nichtorigînalistische Theorien Die in diesem Abschnitt behandelten Theorien reduzieren die für die Verfassungsinterpretation nötigen Rechtserkenntnisquellen nicht auf Text und Entstehungsgeschichte. Dennoch werden Wertungen, die der Sozialmoral entnommen wurden, nicht in jedem Fall zugelassen.

1. Die prozeßorientierte

Theorie

a) John Hart Ely - „Democracy and Distrust" Ein von John Hart Ely vorgebrachter Ansatz orientiert sich an prozessualen Werten. 252 Ely beginnt wie viele andere Kritiker des Supreme Court mit demokratietheoretischen Bedenken. Es sei mit dem Demokratiebegriff nur schwer in Einklang zu bringen, daß Bundesrichter, die weder demokratisch gewählt würden, noch dem Wähler gegenüber direkt verantwortlich seien, Entscheidungen der Legislative für ungültig erklärten. 253 Ely verweist auf die Schwierigkeiten, denen die Legislative begegnet, wenn sie eine Entscheidung des Supreme Court auf dem Wege des Amendments oder der 250

R. Berger (Fn. 209), S. 1. R. H. Bork (Fn. 208), S. 11 f. 252 J. H. Ely (Fn. 178). 253 Ebd., S. 4 ff. Vgl. auch ders ., The Wages of a Crying Wolf: Comment on Roe v. Wade, 82 Yale L. J. 920, 923 (1973). 251

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Neubesetzung des Supreme Court lösen will. 2 5 4 Das Naturrecht sei kein Ausweg aus diesem Dilemma. Aufgrund seiner Unbestimmtheit sei es nicht geeignet, konkrete Fälle zu lösen. Folglich sei diese Argumentationsweise aus dem verfassungsrechtlichen Diskurs verschwunden. 255 Gleiches gelte für die Versuche, das Legitimationsproblem mit Hilfe der Vernunft oder anerkannter Traditionen zu lösen. Es gebe keine universell anerkannte Methode der Moralphilosophie. Traditionen seien nicht objektiv erkennbar und demzufolge leicht manipulierbar. Zudem seien sie ausschließlich rückwärtsgewandt. Die Beschränkung auf Traditionen führe zu einer Herrschaft der Mehrheiten der Vergangenheit, was wiederum demokratietheoretisch bedenklich sei. 2 5 6 Ely führt den von Richter Stone in United States v. Carolene Products, der sogenannten „Carolene Products Fußnote", vertretenen Ansatz fort. 2 5 7 Nach diesem Ansatz gilt für Gesetze grundsätzlich die widerlegbare Vermutung der Verfassungsgemäßheit. Etwas anderes könne jedoch dann gelten, wenn der politische Prozeß selbst gestört sei, oder aber religiöse, rassische und andere isolierte Minderheiten von einem Gesetz betroffen würden. 2 5 8 Ely grenzt die Aufgaben des Supreme Court dramatisch ein. Die Rolle des Verfassungsgerichts besteht nach seiner Theorie im wesentlichen in der Überwachung des politischen Prozesses sowie im Schutz bestimmter Minderheiten. Ely sieht hierin den Ausweg aus dem Wertedilemma. Er räumt zwar ein, daß die Teilnahme am politischen Prozeß selbst einen Wert darstellt. Sein Ansatz sei aber solchen Theorien überlegen, die substantielle, nichtprozessuale Werte vertreten. Es bestehe ein qualitativer Unterschied, ob man den Prozeß regele, durch den Wertentscheidungen zustande kommen, oder aber Wertentscheidungen von eben diesem Prozeß ausschließe. 259 Ely sieht für den Supreme Court lediglich die Rolle des Schiedsrichters vor, der den politischen Prozeß von ungewünschten Behinderungen freihält. Ely hat versucht, die amerikanische Verfassung als fast ausschließlich prozessuales Dokument darzustellen. So diene etwa das 1. Amendment 254

J. H. Ely (Fn. 178), S. 46f. Ebd., S. 50ff. 256 Ebd., S. 60ff. 257 304 U.S. 144, 152f., Fn. 4 (1938). United States v. Carolene Products wurde bereits im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Supreme Court zur Due Process Clause behandelt. Vgl. oben S. 55. Die Bedeutung der „Carolene Products Fußnote" geht jedoch weit über die der eigentlichen Entscheidung hinaus. Sie wird daher als die „berühmteste Fußnote in der Geschichte des Supreme Court" bezeichnet. So etwa M. Tushnet (Fn. 229), S. 228. 258 J. H. Ely (Fn. 178), S. 60ff. 259 Ebd., S. 75 ff. 255

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

(Redefreiheit) dazu, die Voraussetzungen für den Regierungsprozeß zu schaffen. Ely kommt zu dem Ergebnis, daß die einzigen substantiell bedeutenden Vorschriften der Verfassung, der Gleichheitssatz und die Religionsfreiheit, dem Minderheitenschutz dienen. Grund für den Minderheitenschutz sei jedoch, daß schutzwürdige Minderheiten nicht über die Möglichkeit verfügten, wirksam am politischen Prozeß teilzunehmen. Die Verfassung der Vereinigten Staaten sei kein Dokument, das eine bestimmte Ideologie durchsetze. Ihr Hauptkennzeichen sei die Sicherung der Repräsentation („representation-reinforcing"). Die prozessuale Deutung der amerikanischen Verfassung scheint geglückt. 2 6 0 Richter seien, so Ely , besonders gut geeignet, um den politischen Prozeß unabhängig zu beurteilen. Als Juristen seien sie in prozessualen Fragen besonders gut ausgebildet. Gleichzeitig seien sie frei von den Einflüssen des alltäglichen politischen Lebens. Falls die materiellen Entscheidungen des politischen Prozesses von den Wählern nicht gebilligt würden, bleibe in einem funktionierendem politischen System immer noch der Ausweg der Abwahl der Funktionsträger. 261 b) Anmerkung zu Ely Ely hätte nur dann die Antwort auf das Wertungsdilemma im Verfassungsrecht gefunden, wenn er bewiesen hätte, daß Richter prozessuale Werte tatsächlich objektiv finden können. Ely bleibt diesen Beweis schuld i g . 2 6 2 Die amerikanische Verfassung vermittelt, wie jede andere Verfassung auch, nur eine grobe Skizze des politischen Systems. So ist die Frage, wann Wahlen als fair zu betrachten sind, nicht ohne persönliche Wertungen beantwortbar. Lange Zeit sind Wahlen, die Schwarze und Frauen ausschlossen, als fair eingeschätzt worden. 2 6 3 Gerade die Behandlung von rassischen Minderheiten und Frauen in den Vereinigten Staaten unterstreicht, daß die Beantwortung der Frage, wann der politische Prozeß als gestört anzusehen ist, auch von der Sozialmoral abhängt. Ely kann nur einige Entscheidungen des Supreme Court erklären. So hat der Supreme Court nach der Auffassung Ely's in nahezu allen SubstantiveDue-Process-Fällen seine Kompetenzen überschritten. 264 Ely kommt daher zu einem ungewöhnlichen Ergebnis. Er billigt den größten Teil der aktivi260

Vgl. ebd., S. 93 ff., 101, 135 ff. Ebd., S. 101 ff. 262 R. H. Fallon (Fn. 206), S. 1220. 263 Schwarze bekamen erst durch das 13. Amendment (1870) das Wahlrecht zugesprochen, Frauen mußten bis zur Verabschiedung des 19. Amendments (1920) warten. 264 Vgl. auch Ely's Kritik an Roe v. Wade, in: ders. (Fn. 253), 920ff. 261

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie

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stischen Rechtsprechung des Warren-Court mit dem Argument, daß dieser mit seinen Wahlrechts- und strafprozessualen Entscheidungen lediglich prozessuale Werte sowie, mit seinen Entscheidungen zum Gleichheitssatz, den Minderheitenschutz gefördert habe. 2 6 5 Gleichzeitig lehnt er die nicht weniger aktivistische Rechtsprechung des Burger-Court zur Substantive Due Process Clause ab. Eine unterschiedliche Bewertung dieser beiden Gebiete erscheint jedoch nicht gerechtfertigt. 266 In beiden Fällen spielten materielle Wertabwägungen eine gewichtige Rolle. Eine Verkürzung der Rechtsprechung des Warren-Court auf prozessuale Aspekte wird nicht dessen innovativer Methode gerecht. Zwar ist es nicht unmöglich, in viele Bestimmungen der amerikanischen Verfassung eine prozessuale Bedeutung hineinzulesen. Es gibt jedoch weder im Text noch in der Entstehungsgeschichte der Verfassung Anhaltspunkte für eine Reduktion der Verfassung auf ein rein prozessuales Konzept. 2 6 7 Es erscheint unmöglich zu ermitteln, wie weit die einzelnen Amendments bei einer ausschließlich prozessualen Deutung zu interpretieren sind. Zu entscheiden wäre etwa, welche Meinungsäußerungen dem politischen Prozeß dienten, denn nur in diesem Fall wären sie vom 1. Amendment geschützt. Ely's Methode wird daher auch deshalb kritisiert, weil sie Demokratie ohne fundamentale Werte voraussetzt. Sie könne letzten Endes nicht die Tyrannei der Legislative verhindern. Ely wird vorgeworfen, daß er nicht definiert, wie weit das Verfassungsgericht in den politischen Prozeß eingreifen kann. So gebe es eine Vielzahl informeller Hindernisse, die andererseits auch als normaler Bestandteil des politischen Systems aufgefaßt werden könnten. 2 6 8 Oft nutzten gut organisierte Minderheiten ihren Einfluß, um den von einer Mehrheit gewollten sozialen Wandel zu blockieren. 269 Fraglich ist, wann die Ausnutzung dieser Blockademöglichkeiten dazu führen soll, daß die Gerichte zugunsten der Mehrheit eingreifen. Problematisch erscheint auch der Anspruch Elys f objektiv bestimmen zu können, welche Minderheiten so benachteiligt worden sind, daß ihnen der 265 266 267

Vgl. ebd., S. 943. R. H. Fallon (Fn. 206), S. 1222. R. A. Posner (Fn. 8), S. 202; L H. Tribe , Constitutional Choices, 1985, S. 5,

lOff. 268 Ygi e t w a γι Tribe , The Puzzling Persistence of Process-Based Constitutional Theories, 89 Yale Law Journal 1063 (1980); M. Tushnet (Fn. 121), S. 70ff., 99; W. Brugger (Fn. 178), S. 372ff. 269 Vgl. etwa W. G. Friedmans Law in a Changing Society, 1959, S. 17, der insbesondere auf die Bestrebungen katholischer Gruppen in den fünfziger Jahren verweist, Kontrazeptiva zu iiiegalisieren. Ähnlich R. A. Posner (Fn. 8), S. 204. Das Standardbeispiel für eine Minderheit, die durch Maximierung ihrer Vetorechte den politischen Willen der Mehrheit vereitelt, ist die Blockade von Reformen zur Abschaffung der Rassentrennung im Süden durch weiße Südstaatler. 17 Schiwek

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Zugang zum politischen System verwehrt blieb, so daß das Einschreiten der Gerichte notwendig ist. Das demokratische System bringt bei jeder Abstimmung Gewinner und Verlierer hervor. Jeder Verlierer wird den Anspruch erheben, einer politisch benachteiligten Minderheit anzugehören. 270 Die Entscheidung, wann die Benachteiligung so groß ist, daß die Entscheidung der Mehrheit außer Kraft gesetzt wird, ist wiederum so wertanfällig, daß Raum für die Präferenzen der Verfassungsrichter besteht. Das Konzept Ely's geht nicht auf. Sein Anspruch, materielle Wertungen durch rein prozessuale Wertungen zu ersetzen, entspricht weder der Verfassungswirklichkeit noch den normativen Anforderungen der amerikanischen Verfassung. 2. Critical Legal Studies Unter dem Sammelbegriff „Critical Legal Studies" wird eine Reihe von Autoren zusammengefaßt, die eine dem legal realism nicht unähnliche Position vertreten. Critical Legal Studies und legal realism lehnen beide die Vorstellung ab, daß Rechtstheorie eine objektive Basis für spätere Entscheidungen bieten könne. 2 7 1 Diese Strömung soll hier am Beispiel von Mark Tushnets Werk „Red, White and Blue" behandelt werden. Tushnet setzt sich in diesem Werk mit sogenannten „grand theories" auseinander. Diese Theorien, so Tushnet, würden von einem bestimmten generellen Prinzip beherrscht. Ihre Aufgabe sei es, die Verfassungspraxis zu erklären und zu rechtfertigen. Die Theorien orientierten sich an der liberalen Tradition, die den Individualismus und den Schutz des einzelnen vor Kompetenzüberschreitungen der Regierung in den Vordergrund stelle. Sie versuchten ein Modell zu entwickeln, das sowohl die Legislative als auch die Judikative beschränke, die Diktatur einer jeden Gewalt verhindere. 272 Diese Theorien versuchten das Unmögli270

Vgl. M. Tushnet (Fn. 121), S. 94; R. A. Posner (Fn. 8), S. 203; L. H. Tribe (Fn. 267), S. 15; W. Brugger, Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, in: Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, R. Dreier (Hrsg.), ARSP Beiheft 37, 1990, S. 173, 174 f. sowie die bereits dargestellte Kritik des Richters Rehnquist an der „Carolene Products Fußnote" in seinem Sugarman-v.Dougal- Dissent. Siehe dazu oben S. 112. 271 Vgl. M. Tushnet, ebd., S. 191; G. A. Spann, Pure Politics, 88 Mich. L. Rev. 1971 (1990). Allgemein zu Critical Legal Studies: R. M. Unger , The Critical Legal Studies Movement, 1986; 5. P. Martin, Ist das Recht mehr als eine bloße soziale Tatsache?, Rechtstheorie 22 (1991), 525ff.; W. Brugger (Fn. 205), S. 573, 581 ff. sowie die in C. Joerges/D.M. Trubek (Hrsg.), Critical Legal Thought: An American-German Debate, 1989 abgedruckten Beiträge. 272 Der Terminus „grand theory" wird in der folgenden Darstellung in diesem Sinne verwendet.

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che. Verfassungsgerichtsbarkeit könne nicht die Legislative wirksam kontrollieren und zugleich durch eine Verfassungstheorie begrenzt werden. Talentierte Richter könnten jede beliebige Entscheidung verfassungstheoretisch begründen. Mit anderen Worten, eine an eine bestimmte Theorie gebundene Verfassungsgerichtsbarkeit kann ihre Aufgabe nicht erfüllen. Es sei nur möglich, jeweils eine Gewalt, die Legislative oder die Judikative, effektiv zu beschränken. 273 Tushnet weist im einzelnen nach, daß keine der heute vertretenen „grand theories" in der Lage ist, die Verfassungsrechtsprechung korrekt zu beschreiben und zugleich Wege aufzuzeigen, Kompetenzüberschreitungen der Judikative zu verhindern. Der Ausweg, so Tushnet, liege nicht in einer „grand theory". Statt dessen solle man sich an der Tradition des Republikanismus orientieren, die Gemeinschaftswerte in den Vordergrund stelle und nicht auf einer strikten Trennung von Recht und Politik beharre. 274 Verfassungsrecht sei immer eine Reflexion der Politik. 2 7 5 Tushnets Ansatz deckt sich nur teilweise mit dem dieser Arbeit. Tushnet begrenzte seine Untersuchung auf solche Theorien, die vorgaben, richterliche Kompetenzüberschreitungen, d.h. unkontrollierte richterliche Wertungen, verhindern zu können. Es geht ihm allein um die Frage, ob Wertungen bei der Verfassungsinterpretation ausgeschaltet werden können. Tushnet verneint diese Frage und stimmt insofern mit dem in dieser Arbeit gefundenen Resultat überein. Dennoch erscheint Tushnets Definition einer „grand theory" zu eng. Verfassungstheorie muß nicht notwendig zum Ziel haben, Richter zu beschränken. Vielmehr kommt es darauf an, die Tätigkeit der Verfassungsgerichte adäquat zu beschreiben und normativ zu rechtfertigen. 3. Ronald Dworkin Ronald Dworkin geht davon aus, daß Verfassungsrecht einen „philosophischen Charakter" habe, interpretationsbedürftig sei. Die konkreten Vorstellungen der Verfassungsgeber, etwa über die Zulässigkeit der Rassentrennung, dürften bei der Verfassungsinterpretation keine Rolle spielen. Es sei weder mit dem Fairneßgedanken, noch mit dem Demokratieprinzip vereinbar, daß die detaillierten politischen Wertvorstellungen von politischen Repräsentanten einer Epoche herrschen sollten, in der die Sozialmoral, das 273

M. Tushnet, ebd., S. Iff., 313f.; ders. (Fn. 211), S. 747. M. Tushnet (Fn. 121), S. lOf. 144f., 314. Für eine Kritik Tushnets vgl. M. J. Gerhardt, Book Review: Critical Legal Studies and. Constitutional Law, 67 Tex. L. Rev. 393, 403 ff. (1988). 275 M. Tushnet (Fn. 229), S. 230. 274

17*

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

politische Leben, die wirtschaftlichen Begleitumstände und vieles mehr gänzlich verschieden waren. 2 7 6 Dworkin erkennt, daß Entscheidungen wie Brown v. Board of Education und Roe ν. Wade nicht den von den Autoren des 14. Amendments vertretenen Konzeptionen entsprechen. Verfassungsrecht, so Dworkin , müsse mit Traditionen und Sozialmoral des Volkes vereinbar sein. Dennoch glaubt Dworkin , zwischen „rechtlichen" und „politischen" Entscheidungen, letztere seien der Legislative zu überlassen, unterscheiden zu können. Richter seien nicht befugt, ihre Präferenzen an die Stelle der Präferenzen der Legislative zu setzen. Vielmehr seien sie auf die prinzipiengeleitete Erkenntnis richtigen Rechts beschränkt. Dworkin rechtfertigt Entscheidungen wie Roe ν. Wade oder Brown v. Board of Education als „fair und gerecht" und verwirft Entscheidungen wie Lochner v. New York als „politisch" beziehungsweise „aktivistisch. 2 7 7 Diese Unterscheidung kann nicht einleuchten. Wenn man Richtern politische und moralische Werturteile zugesteht, kann man nicht zwischen „richtigen, gerechten, prinzipiengeleiteten" und „falschen politischen" Entscheidungen differenzieren. 278 Weder aus dem Wortlaut, noch dem „ G e i s t " 2 7 9 der Verfassung können Entscheidungen wie Plessy v. Ferguson, Lochner v. New York, Brown v. Board of Education und Roe ν. Wade begründet werden. Sie sind wie viele andere der hier dargestellten innovativen Entscheidungen des Supreme Court auf moralische und politische Wertungen zurückführbar. Dworkins theoretischer Ansatz setzt trotz gegenteiliger Versicherungen bestimmte zeitunabhängige Grundwerte voraus. 280 Er leugnet 276

R. M. Dworkin (Fn. 237), S. 359 ff., 380. Ebd., S. 397 f. Vgl. auch R. M. Dworkin (Fn. 242), S. 101; ders. (Fn. 225), S. 393 sowie ders., Gleichheit, Demokratie und die Verfassung: Wir, das Volk, und die Richter, in: U. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994. Für eine neuere deutsche Darstellung der Ansichten Dworkins siehe S. P. Martin (Fn. 271), S. 530ff. 278 So auch R. A. Posner (Fn. 3), S. 22 f., 239. 279 Die auch von Dworkin verwendete Formulierung „Geist der Verfassung" ist ungenau, postuliert sie doch, daß verfassungsexterne Wertungen irgendwie aus der Verfassung selbst extrahiert werden können. 280 Dieses naturrechtsgleiche Grundverständnis der Verfassung wird etwa an Dworkins Kritik der Ansichten Robert Borks deutlich: R. M. Dworkin (Fn. 242), S. 101 ff. Dworkin unterstellt, daß Bork mit extremen politischen Positionen die Verfassung radikal ändern wolle und wendet sich gegen eine „Ideologisierung" des Verfassungsrechts. Gleichzeitig vertritt Dworkin mit Nachdruck bestimmte moralische Positionen, etwa, daß der Gleichheitssatz die Diskriminierung von Minderheiten wie Homosexuellen notwendig untersage. Dworkin begründet seine Argumentation mit der notwendigen Korrektur moralischer Fehler der Verfassungsgeber. Eigentliches Ziel der Polemik Dworkins ist jedoch Borks wertrelativistische Grundhaltung, vgl. ebd., S. 109, 111. Ähnlich Dworkins Position zum Schwanger277

G. Die gegenwärtige Rechts- und Verfassungstheorie

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den Einfluß der Sozialmoral auf Verfassungsinterpretation zwar nicht, überläßt ihr jedoch nicht das gesamte Feld. Vielmehr beharrt Dworkin auf einer vorpositiven moralphilosophischen Komponente. Er betont die Möglichkeit, moralisch vernünftige Prinzipien herzuleiten, bleibt jedoch eine genauere Definition dieser Prinzipien schuldig. 281 4. Der Pragmatismus Pragmatische Theorien wurden seit Holmes und Cardozo vertreten. Der rechtliche Pragmatismus wird hier als Gegenstück zum Formalismus verstanden. Er betont den instrumentalen Charakter der richterlichen Tätigkeit. Rechtsanwendung wird als kontextbezogen aufgefaßt. Richter seien in die Komplexität sozialer Praktiken eingebunden, die eigenen Gesetzen folgten. Recht könne nicht mit einer Theorie erklärt werden, die einen einzigen Aspekt in den Vordergrund stelle. 2 8 2 Pragmatismus setzt voraus, daß eine „grand theory" des Verfassungsrechts, eine Theorie, die vorgibt, einzelne Entscheidungen vorhersagen zu können, unmöglich ist. 2 8 3

schaftsabbruch: vgl. R. M. Dworkin (Fn. 225), S., 389 ff . Zum insofern vergleichbaren Ansatz Rawls' siehe R. A. Posner (Fn. 8), S. 189 m.w.N. Eine ähnliche, bestimmte Werte, insbesondere die Menschenwürde, als notwendigen Bestandteil der Verfassung voraussetzende Theorie wurde vom einflußreichen liberalen Verfassungsrichter W. J. Brennan vertreten. Vgl. ders. (Fn. 235), S. 2, 9 ff; ders. y Landmarks of Legal Liberty, in: The Fourteenth Amendment, B. Schwartz (Hrsg.) 1970, S. lf. sowie B. Schwartz (Fn. 212), S. 213 ff. Zur Problematik von Naturrecht und Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten allgemein siehe R. A. Posner (Fn. 3), S. 236 ff. 281 Vgl. hierzu M. Tushnet (Fn. 121), S. 139. Für eine grundsätzliche Kritik des Versuchs der Herleitung moralisch vernünftige Prinzipien und ihrer Verwendung bei der Rechtsanwendung vgl. R. A. Posner, The Problematics of Moral and Legal Theory, 111 Harv. L. Rev. 1638ff. (1998); ders., Reply to Critics, ebd., S. 1796ff. sowie die Gegenargumentation R. Dworkins, Darwin's New Bulldog, ebd., S. 1718 ff. 282 T. C. Grey (Fn. 8), S. 21. Zum Pragmatismus in der amerikanischen Rechtstheorie vgl. B. Z. Tamanaha, Pragmatism in U.S. Legal Theory, 41 Am. J. Juris. 315 (1996) und D. A. Farber, Legal Pragmatism and the Constitution, 72 Minn. L. Rev. 1331 (1988). Zum amerikanischen Pragmatismus und seinem philosophischen Hintergrund siehe H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 148ff.; G. Casper (Fn. 117), S. 43ff.; J. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999. 283 Vgl. D.A. Farber, ebd., S. 1332.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie a) Richard A. Posner

Der gegenwärtig in den Vereinigten Staaten vertretene Pragmatismus soll hier anhand des Werks eines der führenden Repräsentanten dieser Strömung, des Richters Richard A. Posner, dargestellt werden. 2 8 4 Posner bestreitet nicht, daß Richter selbst Recht schaffen, insofern gesetzgeberisch tätig sind. Er stimmt mit den Vertretern der Critical Legal Studies überein, daß Rechtstheorie nicht das Ermessen von Richtern beschränken kann, moralische und politische Werte in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Posner schließt sich Cardozos Auffassung an, nach der der Zweck des Rechts darin besteht, dem Gemeinwohl zu dienen. Dem Richter falle die Aufgabe zu, den Gemeinwohlbegriff auszufüllen. 285 Für Posner wie für Holmes ist Pragmatismus unweigerlich mit Skeptizismus gegenüber absoluten Werten verbunden. Mit Absolutheitsanspruch vertretene Werte werden lediglich für Überzeugungen der Gemeinschaft, für „can't helps", gehalten, die sich mit jeder Generation ändern. In diesem Sinne sei der Pragmatist antidogmatisch. Er konzentriere sich darauf, so Posner, Thesen auf ihre Falsifizierbarkeit zu überprüfen, halte die Diskussion dabei jedoch immer für neue Lösungen offen. 2 8 6 Richter, so Posner, müßten zwar unparteiisch ohne Ansehen der Person entscheiden. Dies könne jedoch nicht mit dem völligen Ausblenden des Vorverständnisses gleichgesetzt werden. Es gebe kein objektiv erkennbares Recht. Andererseits wären viele Begleitumstände der richterlichen Tätigkeit nicht erklärbar. Posner führt etwa die Befangenheitsvorschriften an und verweist auf die Form der Präsentation richterlicher Entscheidungen. So seien die Regeln für richterliche Befangenheit infolge von Interessenkonflikten umso mehr verschärft worden, je schwächer der gesellschaftliche Konsens über die Grundwerte des Rechtssystems geworden sei. Infolge der moralischen Heterogenität der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft sei der Konsens über rechtliche Grundwerte schwächer geworden. Posner führt als Beispiel die Unfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft an, in der Frage der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu einem Konsens zu kommen. Die rechtliche Heterogenität einer Nation sei Spiegelbild ihrer moralischen Heterogenität. 287 284

Posner ist auch einer der Protagonisten der „Law and Economics" Bewegung. Vgl. etwa R. A. Posner, Economic Analysis of Law, 3. Aufl., 1986; ders. (Fn. 8), S. 15 ff. Für weitere Varianten pragmatischer Verfassungstheorie vgl. die Ausführungen zu Holmes und Cardozo sowie R. J. Traynor, Law and Social Change in a Democratic Society, 1956 U. 111. L. F. 230. 285 R. A. Posner (Fn. 3), S. 21 ff. 286 R. A. Posner (Fn. 8), S. 5 f. 287 R. A. Posner (Fn. 3), S. 125, 127 ff.

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Richterliche Entscheidungen, so Posner, ähnelten in schwierigen Fällen eher einer politischen Analyse und nicht Produkten einer bestimmten juristischen Methode. Unbestimmtheit könne dennoch vermieden werden, wenn Richter die Prinzipien der Widerspruchsfreiheit und der Publizität befolgten. Das letztgenannte Prinzip verlange, daß Richter die wirklichen Gründe für ihre Entscheidungen angeben. Posner räumt jedoch ein, daß dieses Prinzip nicht gegen den Willen der Richter durchsetzbar ist. Richter könnten nicht dazu gezwungen werden, offen zu sein. 2 8 8 Richter versuchten statt dessen, politische Entscheidungen hinter einem formalistischen Vokabular zu verbergen. Ein besonders krasses Beispiel für eine ausschließlich politische Entscheidung sei Bölling v. Sharpe, der Parallelfall zu Brown v. Board of Education, gewesen. Rechtlich sei eine Ungleichbehandlung von Brown v. Board of Education und dem Parallelfall im District of Columbia notwendig gewesen. 289 Politisch wäre ein solches Ergebnis nicht vermittelbar gewesen. Folglich habe sich der Supreme Court systemwidrig für die Anwendung der Equal Protection Clause auf den District of Columbia entschieden. Diese und viele andere Entscheidungen des Supreme Court seien mit formaljuristischen Argumenten nicht begründbar. 290 Bei vom Verfassungsgeber nicht vorhergesehenen Situationen müßten Richter die allgemeinen und unbestimmten Verfassungsnormen kreativ ausfüllen. Es handele sich in diesen Fällen um eine Ermessensentscheidung, die jedoch nicht als Usurpation der gesetzgeberischen Macht durch die Richter eingeordnet werden könne. Die allgemeine Abfassung der meisten Vorschriften der Bill of Rights habe diese davor bewahrt, zum Anachronismus zu werden. Die Ambiguität von Verfassungsnormen ermögliche jedoch nicht nur die Flexibilität und damit Überlebensfähigkeit der Verfassung. Sie habe auch zur Folge, daß die Verfassung unterschiedlich interpretiert werden könne, daß Richter bei der Interpretation Ermessen ausüben müßten. 291 Politische Faktoren seien in schwierigen Fällen oft entscheidend. Konsequenzen dürften bei der Rechtsanwendung nie als irrelevant angesehen werden. Oft würden Wertentscheidungen aufgrund der persönlichen Präferenzen der Richter getroffen, ohne daß die beteiligten Werte der Argumentation zugänglich seien. Die Wertentscheidungen der Legislative seien lediglich ein Element des Rechtsanwendungsprozesses. 292 Posner leugnet nicht jegliche Bedeutung der Logik im Recht. Die logische Methode, so Posner im Einklang mit früheren Pragmatisten wie Holmes oder Cardozo, sei jedoch unvollkommen und bedürfe der Ergän288 289 290 291 292

Ebd., S. 133 ff. Vgl. hierzu oben S. 80. Ebd., S. 144f. R. A. Posner (Fn. 8), S. 231 ff. R. A. Posner (Fn. 3), S. 148 f., 457.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

zung durch praktische Vernunft. Recht sei, trotz gegenteiliger Beteuerungen vieler einflußreicher Juristen, mehr als ein Gebäude von Prinzipien, die in einem rationalen Zusammenhang stehen. Deshalb sei für die Untersuchung des Rechtssystems ein behavioristischer Ansatz am besten geeignet. 293 Die Rolle der Judikative sei trotz der Unbestimmbarkeit des Rechts im Einzelfall nicht mit der der Legislative vergleichbar. Richter hätten auf Präjudizien, den Sachverhalt des Falles und rechtliche Prinzipien Rücksicht zu nehmen. Sie seien auf den Einzelfall beschränkt, hätten kein populäres Mandat und seien gezwungen, schriftliche Begründungen für ihre Entscheidungen abzugeben. Jedoch müßten sich Richter andererseits nicht mit Einflüssen auseinandersetzen, denen die Legislative unterliege. Interessengruppen und die öffentliche Meinung schränkten den Spielraum der Legislative oft stärker ein als den der Judikative. Posner kommt zu dem Ergebnis, daß Judikative und Legislative, jede Gewalt auf ihre eigene Art, politische Macht haben. Es sei jedoch nicht eindeutig erkennbar, welche Gewalt weniger Beschränkungen unterliege und daher mächtiger sei. 2 9 4

b) Anmerkung zum Pragmatismus Posner ist nicht der einzige Vertreter des amerikanischen Pragmatismus. Auch andere Theoretiker versuchten, die Wechselwirkung von Sozialmoral und Verfassungsrecht zu erklären. 295 Sein Werk verdient jedoch unter 293

Ebd., S. 456f. Ebd., S. 130ff. 295 Bruce Ackerman hat ein Modell entwickelt, das versucht, die Veränderungen in der Rechtsprechung des Supreme Court, insbesondere in der New-Deal-Ära, zu rechtfertigen. Ackerman unterscheidet zwischen zwei Grundfällen. Im Normalfall binde die Verfassung die Interpreten, eine schöpferische Interpretation, wie vom Pragmatismus diagnostiziert, finde nicht statt. Etwas anderes gelte in sogenannten „revolutionären Perioden" wie etwa der New-Deal-Ära. Ackerman läßt dann eine Verfassungsänderung durch richterliche Neuinterpretation zu, wenn das Ergebnis dem populären Willen in einer Umbruchperiode entspricht. Vgl. ders, Constitutional Politics/Constitutional Law, 99 Yale L.J. 453 (1989); ders., We the People: Foundations, 1993. Diese Variante kann nicht überzeugen. Zum einen gibt es keine Basis für die temporäre Umgehung des formellen Verfassungsänderungsprozesses nach Art. V. Des weiteren erscheint die Charakterisierung des Supreme Court in „nichtrevolutionären Perioden" als unzutreffend. Dadurch, daß Ackerman den Einfluß der Sozialmoral auf bestimmte Zeiträume verkürzt, wird er der wertenden Natur der Verfassungsinterpretation insgesamt nicht gerecht. Eine ausführlichere Kritik des Ackermanschen Ansatzes findet sich bei R. A. Posner (Fn. 8), S. 215 ff. Vgl. auch M. Schef er, Konkretisierung von Grundrechten durch den Supreme Court, 1995, S. 270 ff.; R. H. Fallon (Fn. 206), S. 1227 f. Ackermans Ansatz ist jedoch insofern erwähnenswert, als er zeigt, daß die Rechtsprechung des Supreme Court zumindest in bestimmten Perioden ohne Einbeziehung der Sozialmoral nicht zutreffend beschrieben werden kann. 294

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der hier bearbeiteten Thematik besondere Aufmerksamkeit. Posner betonte die pragmatische Tradition in der amerikanischen Rechtstheorie und wies nach, daß die von Holmes und Cardozo vertretene Theorie der Verfassungsinterpretation der Aufgabe des Supreme Court am besten gerecht wird. Er beschränkte sich nicht auf das Legitimationsproblem der Verfassungsrechtsprechung, sondern untersuchte zunächst das Wesen der Verfassungsinterpretation. Er stimmte mit Holmes und Cardozo darin überein, daß die Verfassung nicht ohne moralische Weitungen angewendet werden kann. Andere Autoren kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie argumentieren, daß aus der Offenheit der Sprache der Verfassungsvorschriften die Notwendigkeit der Interpretation, der Interaktion von Text und Leser folge. 2 9 6 Das Besondere einer Verfassung sei ihre Kompatibilität, ihre Fähigkeit, grundlegende Prinzipien an die gegenwärtigen Bedürfnisse anzupassen. 297 Rostov bemerkte zutreffend, daß es keine klare Grenze zwischen Recht und Politik, zwischen dem interpretativen und dem kreativen Aspekt der Verfassungsanwendung gebe. Recht sei vielmehr eine bestimmte Form, Politik auszudrücken, müsse daher auch den sich wandelnden Gerechtigkeitsvorstellungen, der Sozialmoral, entsprechen. 298 Die Sozialmoral sei, neben Präjudizien, Text und Geschichte, eine der Quellen des Verfassungsrechts. Das Gewicht, das die Sozialmoral neben den anderen Rechtserkenntnisquellen des Verfassungsrechts habe, werde vom Supreme Court bestimmt. Wenn der Supreme Court über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entscheide, prüfe er, ob die dem Gesetz zugrunde liegende moralische Weitung mit der gegenwärtigen Sozialmoral vereinbar sei. Der Supreme Court sei nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine politische Institution, eine gestaltende Kraft in der amerikanischen Politik. 2 9 9 Nur unter Einbeziehung der dynamischen Komponente, des Anpassens des Verfassungsrechts an die jeweilige Sozialmoral, sei es möglich, die Lebensfähigkeit der Verfassung zu erhalten. Mit den Worten des Richters William O. Douglas: „Es ist besser, die eigene Geschichte zu machen, als von den Toten regiert zu werden." 3 0 0 Wenn sich die Fakten veränderten, könne Recht nicht statisch bleiben. Prinzipien müßten sich an die Fakten anpassen. Letztere geben nicht nach. Das Rechtssystem sei nur dann lebensfähig, wenn Recht und Sozialmoral übereinstimmten. 301 296

So W. J. Brennan (Fn. 235), S. 2. Ebd., S. 7. 298 E. V. Rostov (Fn. 162), S. 135, 141 f; ders. (Fn. 226), S. 573; H. H. Wellington (Fn. 220), S. 84f., 90. 299 R. A. Dahl (Fn. 229), S. 105; G. A. Spann (Fn. 271), S. 1990. 300 W. O. Douglas, Stare Decisis, 49 Colum. L. Rev. 735, 739 (1949). 301 So schon F. Frankfurter, The Zeitgeist and the Judiciary, in: Law and Politics, Occasional Papers of Felix Frankfurter, A. Mac Leish/E. F. Prichard (Hrsg.), 1939, S. 3, 6. Mit gleichem Ergebnis: E. V. Rostov (Fn. 226), S. 592f. 297

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Das Wissen um die Natur der Verfassungsauslegung ist nötig, um zu erklären, warum die Aufhebung von Akten der Legislative durch die Verfassungsgerichtsbarkeit demokratisch legitimiert werden kann. Gerade weil Verfassungsinterpretation notwendig wertende Gesichtspunkte involviert, ist jede Entscheidung für ein Verfassungsgericht auch eine Entscheidung für die Einbeziehung der Sozialmoral durch das Gericht. Der Pragmatismus stimmt mit den Critical Legal Studies insofern überein, als er die Möglichkeit ablehnt, eine bestimmte Entscheidung eines Gerichts vorhersagen zu können und daher die Judikative vor Überschreitungen ihrer Kompetenzen bewahren zu können. Kennzeichen des Pragmatismus ist gerade seine inhaltliche Flexibilität. Es handelt sich somit nicht um eine „grand theory". c) Der heutige Pragmatismus und die von Holmes und Cardozo begründete Tradition Bei einem Vergleich der in diesem Abschnitt diskutierten Werke mit den Positionen von Holmes und Cardozo fällt auf, daß keine zu großen Unterschiede bestehen. Es ist neueren Autoren nicht gelungen, den Prozeß der Interpretation des Rechts genauer zu beschreiben als Holmes und Cardozo, letzterer vor allem in „The Nature of the Judicial Process". Obwohl Recht und Moral bei der Analyse des Rechts getrennt betrachtet werden müßten, so Cardozo, gehe die „soziologische Methode", die die Übereinstimmung der Entscheidungen mit den gesellschaftlich dominanten Wertungen sicherstellt, allen anderen Methoden vor. Die Rolle der Sozialmoral als wichtiger, im Verfassungsrecht dominierender Rechtserkenntnisquelle ist bereits von diesen beiden großen amerikanischen Rechtsdenkern herausgearbeitet worden. Ihre den amerikanischen Pragmatismus begründenden Werke haben nicht an Aktualität verloren.

H. Die Methodik des Supreme Court in den Augen der amerikanischen Rechtstheorie Der Supreme Court läßt sich in seiner Rechtsprechung kaum von der Kritik der Lehre beeinflussen. Verfassungsrecht in den Vereinigten Staaten ist nicht auf eine einzige Theorie beschränkbar. Verfassungstheorien dienen den einzelnen Richtern des Supreme Court lediglich als rhetorische M i t t e l . 3 0 2 In diesem Abschnitt geht es nicht um die bereits behandelte 302

Vgl. M. Tushnet (Fn. 211), S. 749 f., 756f. Tushnet kommt zu der Schlußfolgerung, daß die Beobachter des Supreme Court einen behavioristischen Ansatz verfolgen sollten. Es komme in erster Linie auf den Charakter der einzelnen Richter an, ebd., S. 763. Zur Beschränkung der verfassungstheoretischen Argumentation in

H. Die Methodik des Supreme Court

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Frage, zu welcher Theorie sich der Supreme Court bekennt oder welche Interpretationstheorien von der amerikanischen Verfassung toleriert werden. Vielmehr sollen zwei Versuche behandelt werden, die Rechtsprechung des Supreme Court außerhalb einer „grand theory" zu beschreiben: Die Doktrin der stare decisis sowie die Methode des common law.

I. Stare decisis Die Theorie der stare decisis, der Präjudizienbindung, wird häufig als Erklärungsmuster für die Rechtsprechung des Supreme Court herangezogen. Nach dieser Theorie richten sich Entscheidungen nach den Prinzipien der Präjudizien. Eine rigide Präjudizienbindung wurde im Gegensatz zu England im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten nie vertreten. 303 Es gab immer Entscheidungen des Supreme Court, die Präjudizien als falsch oder überholt aufhoben. Die hier behandelten „overrulings" wie Brown v. Board of Education , West Coast Hotel v. Parrish oder West Virginia State Board of Education v. Barnette sind jedoch Ausnahmen in der Rechtsprechung des Supreme Court. In der Regel entwickelt der Supreme Court neue Verfassungsdoktrin behutsamer, wie etwa die Entscheidungen zum Substantive Due Process oder zu den Geschlechtsklassifizierungen zeigen. Richter Douglas wies zu Recht darauf hin, daß unpopuläre Entscheidungen nur im Ausnahmefall aufgehoben werden. Die häufiger angewandte Methode ist die des „graduellen, impliziten overruling". 3 0 4 Der Supreme Court unterscheidet spätere Fälle oft so lange („distinguishing"), bis das ursprüngliche Präjudiz bedeutungslos ist, obwohl es weder explizit noch implizit aufgehoben wurde. 3 0 5 In fast allen Fällen beruft sich der Supreme Court auf Prinzipien früherer Entscheidungen. 306 Die Präjudizien fordern in der Regel keine bestimmte Entscheidung. Spätere Entscheidungen werden nicht durch logische DedukSupreme-Court-Entscheidungen auf rein rhetorische Mittel einzelner Richter vgl. auch schon oben S. 186. 303 Vgl. R. W. Bennet (Fn. 224), S. 484; G. Radbruch (Fn. 4), S. 43 ff. 304 Vgl. W. O. Douglas (Fn. 300), S. 746 f. sowie die Untersuchung M. J. Gerhardts (Fn. 229), S. 99 ff. Gerhardt machte vier Faktoren aus, die entscheiden, ob der Supreme Court ein ungeliebtes Präjudiz explizit oder implizit aufhebt oder durch „distinguishing" faktisch wirkungslos macht: Stimmung und Zusammensetzung des Gerichts, politisches Klima, Rechtsgebiet und Sachverhalt des Falls. Für eine rechts vergleichende Analyse der Doktrin der stare decisis vgl. Κ. L. Pilny , Präjudizienrecht im anglo-amerikanisehen und im deutschen Recht, 1993. 305 Zum Schwächen von Präjudizien durch „distinguishing" vgl. Gerhardt, ebd., S. 106ff.; D. Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 5. Aufl., 1994, S. 30, 39ff.; P. Hay , Einführung in das amerikanische Recht, 4. Aufl., 1995, S. 10.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

tionen aus Präjudizien, sondern durch einen wertenden Prozeß gewonnen. 3 0 7 Die Sachverhalte zweier Fälle sind meist so verschieden, daß bei der späteren Entscheidung genug Spielraum bleibt, um dem Präjudiz zu folgen, oder aber die Vergleichbarkeit der Sachverhalte abzulehnen. Um festzustellen, ob ein Präjudiz mit dem jeweils zu entscheidenden Fall vergleichbar ist, benötigt man Relevanzregeln, die Vergleichbarkeitskriterien beinhalten. Diese Relevanzregeln sind kontextbezogen. Sie sind zeit- und kulturabhängig. 308 Insofern bestehen keine Unterschiede zu unbestimmten Rechtsnormen wie dem Gleichheitssatz. Gleiches gilt für die Extraktion von Prinzipien aus den Präjudizien. Die einer Entscheidung zugrunde liegenden Prinzipien können erst sicher identifiziert werden, wenn sie von einem Gericht in einem zweiten Fall bestätigt worden sind. Die Ermittlung dieser Prinzipien durch den Richter verlangt Kreativität und die Abwägung sozialer Werte. 3 0 9 Präjudizien enthalten nicht von vornherein objektiv erkennbare Prinzipien. Die Prinzipien werden erst im nachhinein in diese Entscheidungen interpretiert. 310 Folglich wird es immer möglich sein, zugleich zu argumentieren, daß eine bestimmte Entscheidung den Präjudizien entspricht oder aber gegen sie verstößt. 311 306 Vgl. L. F. Powell, Stare Decisis and Judicial Restraint, 47 Was & Lee L. Rev. 28Iff. (1990). 307 W. O. Douglas (Fn. 300), S. 735 f.; F. H. EasterbrooK Stability and Reliability in Judicial Decisions, 73 Cornell L. Rev. 422 ff. (1988); R. H. Fallon (Fn. 206), S. 1204; D. Blumenwitz (Fn. 305), S. 41. 308 Ausführlich zu Relevanzregeln und ihrer Kontextabhängigkeit: F. Schauer, Precedent, 39 Stan. L. Rev. 571, 577, 584 ff. (1987). Zur verwandten Problematik des sozialen Ursprungs von Klassifizierungen und Kategorien vgl. M. J. Horwitz (Fn. 180), S. 32f. m.w.N. 309 H. F. Stone, The Common Law in the United States, 50 Harv. L. Rev. 4, 10 (1936); R. J. Traynor (Fn. 284), S. 232. Vgl. auch W. O. Douglas (Fn. 300), S. 735 ff., der darauf hinweist, daß insbesondere im Verfassungsrecht die Bindungskraft von stare decisis eher gering sei. Nur so sei die Unsicherheit zu erklären, die bei der Neubesetzung des Supreme Court entstehe. Mit jeder neuen Richtergeneration ändere sich auch der Blick auf die Verfassung. Stare decisis müsse der dynamischen Komponente im Verfassungsrecht Platz machen. Klassisches Beispiel für die Änderung der Rechtsprechung des Supreme Court nach der Neuberufung von zwei Supreme-Court-Richtern sind die Legal Tender Cases. Vgl., ebd., S. 740f. 310 P. E. Quint, Amerikanisches Verfassungsrecht - ein aktueller Überblick, JZ 1986, 619, 625; Vgl. auch J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 183 ff. 311 Vgl. F. H. Easterbrook (Fn. 307), S. 424f. Vgl. auch M. Tushnet (Fn. 121), S. 49 ff., der darauf hinweist, daß etwa das in Griswold v. Connecticut anerkannte „Recht auf Privatsphäre" nicht ohne weiteres aus Entscheidungen der Lochner-Peùode wie Pierce ν. Society of Sisters und Meyer ν. Nebraska abgeleitet werden kann. Ders., ebd., S. 53 ff., argumentiert zu Recht, daß Richter bei geschickter Begründungstechnik frei sind, ihre persönlichen Wertungen durchzusetzen. Inhaltlich neu-

H. Die Methodik des Supreme Court

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Aufgrund der Subjektivität des Konzepts der stare decisis wird dieses nicht zu Unrecht „doctrine of convenience" genannt. 312 Liberale und konservative Juristen berufen sich je nach Bedürfnis auf diese Doktrin. Die Frage, wann ein Präjudiz aufzuheben ist, kann weniger mit rechtlichen als mit moralischen beziehungsweise Zweckmäßigkeitserwägungen beantwortet werden. 313 Insofern erscheint es Beobachtern des Supreme Court unmöglich, eine Theorie aufzustellen, die die Handhabung der Doktrin der stare decisis durch das Gericht erklärt. Vielmehr scheint jeder einzelne Richter eine eigene Theorie über die Aufhebung von Präjudizien zu vertreten. Dies wird mit dem Hinweis auf die divergierenden Anschauungen der Richter über die Bedeutung von Stabilität und Kontinuität in der Verfassungsrechtsprechung erklärt. 3 1 4 Im Ergebnis kann auch die Präjudizienbindung nicht das Legitimationsproblem lösen. Die Lehre von den stare decisis erklärt jedoch Argumentationsmuster in verfassungsrechtlichen Urteilsbegründungen. Stare decisis hält Richter zu Uniformität und Kontinuität an, fördert die Effizienz der Gerichte, macht Recht vorhersagbarer und fördert das Ansehen der Judikative. 3 1 5 In einem gewissen Maße verringert die Doktrin das Willkürpotential, da jeder Richter versucht, zumindest formal mit früheren Entscheidungen übereinzustimmen. 316 In der Regel werden Entscheidungen als logische Folge ihrer Präjudizien dargestellt. 317 Eine Vielzahl früher heftig umstrittener verfassungsrechtlicher Fragen sind aufgrund von Entscheidungen des Supreme Court faktisch von der Tagesordnung verschwunden. In einigen trale Prinzipien seien im Verfassungsrecht nicht möglich. Ähnlich für das englische Recht: HL· A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 187 ff: Gerichte übten auf dem Gebiet, das ihnen durch die Theorie der Präjudizien eröffnet werde, eine regelschaffende, rechtsschöpfende Funktion aus, die freilich oft geleugnet werde. 312 So C. J. Cooper , Stare Decisis: Precedent and Principle in Constitutional Adjudication, 73 Cornell L. Rev. 401 ff. (1988). 313 F. H. Easterbrook (Fn. 307), S. 432; W. J. Brennan (Fn. 235), S. 13; R. A. Posner (Fn. 3), S. 455. 314 Vgl. M. J. Gerhardt (Fn. 229), S. 117 ff., der etwa Unterschiede der Neigungen der gegenwärtigen Richter des Supreme Court konstatierte, ungeliebte Präjudizien explizit aufzuheben oder durch „distinguishing" praktisch bedeutungslos zu machen. 3.5 Vgl. W. O. Douglas (Fn. 300), S. 735f., 754; J. P. Stevens, The Life Span of a Judge-Made Rule, 58 N.Y.U. L. Rev. If. (1983); L F. Powell (Fn. 306), S. 281 ff.; M. J. Gerhardt, ebd., S. 77, 88f.; G. R. Stone (Fn. 232), S. 70. Stone, ebd., weist auf einen weiteren Effekt der Doktrin der stare decisis hin. Dadurch, daß Richter zumindest pro forma an Präjudizien festhielten, werde der Wandel des Gerichts nach der Berufung neuer Richter moderater. Die neuen Mehrheiten versuchten „overrulings" aus dem Weg zu gehen und entfernten sich eher graduell von Präjudizien, die sie nicht billigten. 3.6 F. H. Easterbrook (Fn. 307), S. 422f.; M. J. Gerhardt, ebd., S. 98; D.A. Strauss (Fn. 234), S. 879. 317 R. W. Bennet (Fn. 224), S. 476; W. Brugger (Fn. 178), S. 430.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Fällen hatte sich der Supreme Court von den Intentionen der Autoren der Verfassung entfernt. Dennoch haben diese Entscheidungen heute größere Bedeutung als die ursprünglichen Absichten der Verfassungsgeber. 318 Präjudizien haben größere Bindungswirkung als der allgemein gehaltene Text der Verfassung oder die schwer ermittelbaren Intentionen der Verfassungsgeber. 319 Sie können jedoch nicht das Ergebnis einer bestimmten Entscheidung vorherbestimmen. Nachfolgenden Richtern bleibt in jedem Fall genug Spielraum, um von den Präjudizien abzuweichen.

II. Verfassungsrecht als common law - Recht und Wandel 1. Die Methode des common law In diesem Abschnitt geht es um die Frage, ob die Entscheidungspraxis des Supreme Court am besten mit der common-law-Methodik erklärt werden kann. Common-law-Regeln werden von Gerichten mit politischen Argumenten begründet. Sie haben nur dann Aussicht auf Anerkennung, wenn sie als sozial erstrebenswert angesehen werden. Die soziale Akzeptanz einer Regel kann nicht ohne Rücksicht auf das politische Leben, etwa öffentliche Reden, die Medien oder Meinungsumfragen, bestimmt werden. 3 2 0 Common-law-Richter müssen zwischen unterschiedlichen Werten auswählen, entscheiden, welche Alternative eher den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht. Insofern unterscheidet sich ihre Tätigkeit nicht von der der Legislative. 321 Dabei müssen common-law-Richter dem ständigen Wertewandel Rechnung tragen. Zu einem Zeitpunkt als unvernünftig angesehene Handlungen können unter anderen Umständen zulässig sein. Der common-law-Richter adaptiert das Recht entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen. Die Rechtsgeschichte der Vereinigten Staaten ist die Geschichte der ständigen Anpassung des Rechts an sich schnell verändernde wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse. Gesellschaftlicher Wandel hatte immer auch rechtlichen Wandel zur Folge. 3 2 2 Dabei entwikkelte sich das common law allmählich, evolutionär. 323 Rechtliche Prinzi318 H. P. Monaghan (Fn. 224), S. 744, 772 mit dem Hinweis auf Brown v. Board of Education und die Legal Tender Cases. Vgl. hierzu auch D.A. Strauss (Fn. 234), S. 883. 319 D.A. Strauss , ebd., S. 926f. 320 H. H. Wellington, Common Law Rules and Constitutional Double Standards: Some Notes on Adjudication, 83 Yale L. J. 221, 236 f. (1973). 321 H. F. Stone (Fn. 309), S. 20; H. H. Wellington , ebd., S. 240. 322 H. F. Stone, ebd., S. 11, 24. Eine der Ursachen für die Anpassung des Rechts an die sich ändernde Wirklichkeit ist die große Anzahl neuer Rechtsfragen, mit denen die Gerichte ständig konfrontiert werden. R. W. Bennet (Fn. 224), S. 483. 323 D. Blumenwitz (Fn. 305), S. 43.

H. Die Methodik des Supreme Court

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pien entstanden nicht ohne den Einfluß der Sozialmoral. Diese kann nicht getrennt von Geschichte und Traditionen eines Landes bestimmt werden. Das amerikanische common law ist eng mit traditionell vertretenen Idealen verbunden. Diese Ideale sind, wenn sie auch nicht in jedem Fall von allen Bürgern geteilt werden, für jeden erkennbar. 324 2. Der Supreme Court als common-law-Gericht Der Supreme Court wendet bei der Interpretation der amerikanischen Verfassung keine andere Methoden an als common-law-Richter. 325 Verfassungsrichter schaffen bei der Anwendung der Verfassung neues Verfassungsrecht. Die common-law-Theorie kann am besten erklären, warum die wichtigsten Veränderungen im amerikanischen Verfassungsrecht außerhalb des Amendment-Prozesses stattgefunden haben. Amerikanisches Verfassungsrecht, das hat die Darstellung der Entscheidungen des Supreme Court zum 14. Amendment gezeigt, besteht in erster Linie aus von Richtern geschaffener Verfassungsdoktrin. Der Text und die Intentionen der Verfassungsgeber treten in der Verfassungswirklichkeit hinter die Entscheidungen des Supreme Court zurück. Die common-law-Methode ist deskriptiv korrekt. Nur sie kann den in erster Linie evolutionären Charakter der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung erklären. 326 Im Gegensatz zu anderen Theorien setzt das common law nicht voraus, daß das Recht ausnahmslos dem Befehl (command) des Souveräns zu folgen hat. Die common-law-Methodik umgeht auch das Legitimationsproblem, das Theorien lösen müssen, die die Verfassung als unveränderlichen 324

H. H. Wellington (Fn. 320), S. 245. H. F. Stone (Fn. 309), S.22; H. H. Wellington (Fn. 220), S. 78, 127. Klassische Quelle für diese Erkenntnis ist die Urteilsbegründung von Chief Justice Marshall in McCulloch v. Maryland, 17 U.S. (4 Wheat.) 316, 407, 415 (1819): „It is a constitution we are expounding ... intended to endure for ages to come, and, consequently, to be adapted to the various crisis of human affairs." 326 P. E. Quint (Fn. 310), S. 626; H. Vorländer, Forum Americanum, JöR Ν. F., Bd. 36 (1987), 451, 456. D.A. Strauss (Fn. 234), S. 884ff., 903. Strauss weist zu Recht darauf hin, daß die Verfassungsrechtsprechung der Vereinigten Staaten eher dem common law als der Interpretation von einfachen Gesetzen gleicht. Bei letzteren sei die auf Austin zurückgehende Befehls (Command) -Theorie unter Umständen noch vertretbar, ebd., S. 888. Vgl. auch T.A. Aleinikoff (Fn. 53), S. 965, der Abwägungen, ein für das common law typisches Instrument, für das zentrale Merkmal der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung hält. Die Charakterisierung der Methodik des Supreme Court als common-law-Methode erklärt die Zulässigkeit der Einbeziehung moralischer Erwägungen durch das Gericht. Zwar setzt das common law grundsätzlich eine evolutionäre Fortschreibung des Rechts durch die Richter voraus. Daraus folgt jedoch nicht, daß plötzliche Umschwünge in der Verfassungsrechtsprechung, etwa durch das Aufheben von Präjudizien, von vornherein ausgeschlossen sind. Vgl. dazu das eben zum Prinzip der stare decisis Gesagte. 325

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Befehl der Verfassungsgeber auffassen. Nach einem solchen Ansatz sind moralische Wertungen der Judikative unerwünscht. Diese soll sich vielmehr darauf beschränken, den Willen des Souveräns zu ermitteln. Nach der common-law-Methode ist die evolutionäre Weiterentwicklung des Rechts von vornherein Aufgabe der Judikative. Moralische Werturteile sind notwendige Bestandteile dieses Prozesses. Dabei gibt es eine ständige Spannung zwischen Traditionen und Argumenten der gegenwärtig dominanten Werte. Nur dann, wenn Traditionen so schwach werden, daß sie von der Mehrheit nicht mehr akzeptiert werden, gehen moralische Argumente neueren Ursprungs v o r . 3 2 7 Eine Unterscheidung von legislativer und richterlicher Funktion ist nach der common-law-Methodik insofern nicht möglich, als die Judikative wie die Legislative neues Recht kreiert. Jedoch bestehen Unterschiede zwischen den Methoden von Legislative und Judikative. Letztere ist auf einen kleineren Bereich beschränkt. Eine Vielzahl richterlicher Wertungen hat lediglich die Zuordnung von Sachverhalten zu bestimmten Kategorien zum Inhalt und nicht den Entwurf allgemeiner Sollenssätze. 328 Dennoch verlangt die Abwägung von Interessen nach der common-law-Methode die Einbeziehung von verfassungsexternen Werten. Diese Werte sind nicht lediglich die persönlichen Präferenzen der Verfassungsrichter. 329 Vielmehr greift das Verfassungsgericht auf die sozial dominanten Werte zurück. 3 3 0 Aufgrund der allgemeinen Formulierungen in der amerikanischen Verfassung ist es möglich, eine lebendige und dynamische Verfassungsjudikatur zu entwickeln, was der Supreme Court auch getan hat. Die Ambiguität vieler Verfassungsnormen ist kein Zufall. Sie ermöglicht, daß neue Ideen Teil der Verfassung werden. Verfassungsinterpretation ist ein dynamischer und evolutionärer Prozeß. Das common law gibt den Richtern das Handwerkszeug, um die Verfassung zeitgemäß auslegen zu können. Die Richter sind mit seiner Methodik bereits vertraut. Sie ermöglicht es ihnen, eine gewisse Konstanz des Rechts beizubehalten und gleichzeitig dem gesellschaftlichen Wertewandel Rechnung zu tragen. 331 Common-law-Richter stellen die Sozialnützlichkeit einer Entscheidung über die Vereinbarkeit mit Präjudizien und abstrakten Prinzipien. Sie sind Pragmatiker. 327

So D.A. Strauss , ebd., S. 899ff. In dieser Untersuchung wird der Traditionsbegriff in den Sozialmoralbegriff einbezogen. Diese Terminologie berücksichtigt, daß die Akzeptanz von Traditionen von moralischen Wertungen abhängt. 328 E. V; Rostov (Fn. 226), S. 583 ff. 329 Vgl. T.A. Aleinikoff(Fn. 53), S., 973. 330 So bereits Cardozo. Vgl. oben Fn. 90. 331 Vgl. G. R. Stone (Fn. 232), S. 69, 72; H. H. Wellington (Fn. 220), S. 127; D. Blumenwitz (Fn. 305), S. 30; H. Vorländer (Fn. 326), S. 456. Vgl. auch W. Brugger (Fn. 205), S. 579 f.

J. Fazit: Verfassungsinterpretation

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J. Fazit: Verfassungsinterpretation unter Berücksichtigung der Sozialmoral Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die Sozialmoral ein wesentlicher Faktor bei der Interpretation der amerikanischen Verfassung ist. Dennoch trifft der Rückgriff auf.die Sozialmoral als Rechtserkenntnisquelle häufig auf Widerspruch. Der folgende Abschnitt systematisiert die Argumente, die für die Einbeziehung der Sozialmoral in die Verfassungsinterpretation sprechen. I. Die Kritik an der Einbeziehung der Sozialmoral Theorien, die sich für die Einbeziehung der Sozialmoral in die Verfassungsinterpretation einsetzen, wird vorgeworfen, daß der von ihnen vorausgesetzte gesellschaftliche Konsens im pluralistischen Amerika nicht existiere. Zudem sei es unmöglich, den Inhalt des gesellschaftlichen Konsenses exakt zu ermitteln. Die Gerichte seien für diese Aufgabe in jedem Fall zu schlecht ausgestattet. 332 Selbst wenn es möglich wäre, diesen Konsens zu ermitteln, wäre die Legislative die hierzu am besten geeignete Institution. Es sei nicht vermittelbar, daß ungewählte Richter den Vertretern der Wähler und damit dem Wähler selbst vorschrieben, welche Werte zu beachten seien. Das Argument des Minderheitenschutzes könne nicht für eine solche Praxis angeführt werden. Es sei unvorstellbar, daß die Minderheiten vor der Mehrheit mit Hilfe der Werte der Mehrheit geschützt werden könnten. 333 Diese Kritik setzt voraus, daß ein „objektiv erkennbarer" gesellschaftlicher Konsens Voraussetzung pragmatischer Verfassungsinterpretation i s t . 3 3 4 In diesem Falle müßte die Judikative vor jeder Entscheidung die öffentliche Meinung mit empirischen Methoden ermitteln, eine Aufgabe, für deren Bewältigung sie tatsächlich schlecht ausgestattet ist. 3 3 5 Die Sozialmoral 332

So etwa M. Tushnet, Red, White and Blue, 1988, S. 134ff. Ebd., S. 136.; J. Κ Ely , Democracy and Distrust, 1980, S. 63 ff. 334 So etwa die Prämisse von W. Sadurski , Conventional Morality and Judicial Standards, 73 U. Va. L. Rev. 339, 356 ff. (1987). Vgl. auch 7. G. Wilson , The Role of Public Opinion in Constitutional Interpretation, 1993 B.Y.U. L. Rev. 1037, 1079; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. 385. 335 Gleiches gilt für die Ermittlung zeitunabhängiger moralischer Wahrheiten. Ginge man davon aus, daß es erkennbare moralische Wahrheiten gäbe, müßte man ihre Ermittlung nicht Richtern, sondern Philosophen überlassen. Vgl. dazu M. Tushnet (Fn. 332), S. 111 ff. Naturrechtliche Ansätze spielen jedoch in der heutigen amerikanischen Verfassungsdiskussion keine nennenswerte Rolle mehr und werden daher in dieser Untersuchung nicht näher behandelt. 333

18 Schiwek

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

beeinflußt die Verfassungsrechtsprechung jedoch subtiler. Bei der Anwendung von wertausfüllungsbedürftigen Normen reflektiert der Richter notwendig die entscheidungsrelevanten Werte. Die Vieldeutigkeit des Textes führt zu einem kritischen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Sozialmoral wird vom Verfassungsinterpreten nicht im Sinne einer Meinungsumfrage erfaßt. Statt dessen findet eine Gesamtschau der in Texten, Traditionen, Institutionen, politischen und historischen Ereignissen verankerten gesellschaftlichen Werte statt. Die Sozialmoral wird, wie der Verfassungsinhalt selbst, in einem interpretativen Prozeß gewonnen. 336 Gleichzeitig existiert ein dialektisches Verhältnis zwischen der Sozialmoral und den Entscheidungen der Judikative. 337 So kann die Entscheidung in Brown v. Board of Education nicht lediglich als Reaktion auf die geänderte öffentliche Meinung zur Rassentrennung eingeordnet werden. Der Supreme Court unter Earl Warren beeinflußte durch dieses Urteil den sozialen Wandel. 3 3 8 In den wenigen Fällen, in denen der Supreme Court gesellschaftlich dominante Werte ignorierte, etwa Dred Scott v. Sandford oder der Loc/mer-Rechtsprechung, wurden seine Entscheidungen durch die Legislative beziehungsweise spätere Entscheidungen des Supreme Court aufgehoben. II. Die wertende Natur der Verfassungsinterpretation Verfassungsinterpretation ist, das hat die Analyse der Entscheidungen des Supreme Court zum 14. Amendment gezeigt, nicht ohne Wertungen des Betrachters möglich. Eine Vielzahl von Bestimmungen der amerikanischen Verfassung ist so allgemein und unbestimmt gehalten, daß der Verfassungstext allein nicht zur Lösung verfassungsrechtlicher Fragen ausreicht. 339 Diese Unbestimmtheit dient zwei Zwecken. Zum einen sicherte sie die Verabschiedung der Verfassung, indem sie den Verfassungsgebern die Möglichkeit gab, inhaltliche Differenzen über die genaue Ausgestaltung der Verfassung zu überbrücken. Die Vagheit der Verfassung ist Voraussetzung ihrer Überlebensfähigkeit. Nur aufgrund ihrer Allgemeinheit können Vorschriften, 336

So auch R. H. Fallon , A Constructivist Coherence Theory of Constitutional Interpretation, 100 Harv. L. Rev. 1189, 1263, Fn. 297 (1987). Vgl. dazu T. R. Marshall, Public Opinion and the Supreme Court, 1989, S. 17. 337 R. H. Fallon, ebd., S. 1236; M. J. Perry, Morality, Politics, and Law, 1988, S. 142, 178; G. E. White, The Evolution of Reasoned Elaboration, 59 Va. L. Rev. 279, 297 f. (1973); H. Vorländer, Forum Americanum, JöR Ν. F., Bd. 36 (1987), 451, 456 f. Vgl. auch die ähnliche Einschätzung durch den Supreme Court selbst in Planned Parenthood v. Casey, oben S. 140. 338 W. G. Friedmann, Law in a Changing Society, 1959, S. 12. 339 Vielzitierte Ausnahme ist Art. II Absatz 5, der bestimmt, daß nur Präsident der Vereinigten Staaten werden kann, wer das Alter von 35 Jahren erreicht hat.

J. Fazit: Verfassungsinterpretation

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die im Agrarzeitalter geschaffen wurden, zweihundert Jahre später bei der Lösung der Probleme der Informationsgesellschaft helfen. Die Anpassungsfähigkeit der Verfassung ist jedoch nur um den Preis ihrer Unbestimmtheit zu haben. Die Verfassungsgeber haben die meisten „hard questions" nicht beantwortet. 340 Der Text und die Systematik der Verfassung reichen für die Lösung verfassungsrechtlicher Probleme nicht aus. Zusätzliche, verfassungsexterne Wertungen durch das Verfassungsgericht sind erforderlich. Sie können von keiner Verfassungstheorie eliminiert werden. 341 Wenn Verfassungsrichter vorgeben, keine Wertentscheidungen zu treffen beziehungsweise diese der angeblich besser legitimierten Legislative zu überlassen, maskieren sie die von ihnen vorgenommen Wertungen. Die Geschichte der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court ist die Geschichte richterlicher Wertungen. Das Gericht kann dafür kritisiert werden, daß es die falschen Wertentscheidungen getroffen hat. Man kann ihm jedoch nicht vorwerfen, daß es Werturteile abgibt. 3 4 2 III. Die besondere Position der Judikative Richter sind, gegen die Einflüsse des täglichen politischen Lebens immun, viel eher in der Lage, eine stabilisierende Rolle auszuüben. Richter müssen aber im Gegensatz zu Mitgliedern der Legislative Unparteilichkeit bewahren und Abstand zu den politischen Kontroversen halten. Sie müssen ohne Ansehen der Person urteilen. Bestimmte Faktoren sind von der richterlichen Entscheidungsfindung ausgeschlossen.343 Die Verfassungsgerichts340

Zur „offenen Struktur des Rechts" vgl. grundlegend, H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 173 ff. Hart beschränkt die Wertausfüllungsbedürftigkeit des Rechts nicht auf das Verfassungsrecht. Die Unbestimmtheit des Rechts an der Grenze sei der Preis, den man für die Verwendung allgemeiner klassifikatorischer Ausdrücke bei der Kommunikation von Tatsachen zahlen müsse, ebd., S. 178. Es sei unbestreitbar, daß die Entwicklung des Rechts zu allen Zeiten und in allen Gegenden sowohl von der konventionellen Sittlichkeit und den Idealen einer bestimmten sozialen Gruppe als auch von Formen aufgeklärter sittlicher Kritik tief beeinflußt worden sei, ebd., S. 255, 280f. Vgl. auch W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 324; H Vorländer (Fn. 337), S. 456f. 341 R. H. Fallon (Fn. 336), S. 1246; E. Chemerinsky, Foreword: The Vanishing Constitution, 103 Harv. L. Rev. 43, 90f. (1989); L. H. Tribe , Constitutional Choices, 1985, S. 6. Vgl. auch oben die Anmerkung zur Debatte um die Entscheidungen des Warren-Court, S. 239. 342 E. Chemerinsky, ebd., S. 100 f. 343 So zum Beispiel die Religion oder die finanzielle Situation der Verfahrensbeteiligten. Diese für die meisten Fälle der Rechtsanwendung irrelevanten Faktoren können von der Legislative in stärkerem Maße berücksichtigt werden. Vgl. C. R. Sunstein, Neutrality in Constitutional Law, 92 Colum. L. Rev. 1, 51 (1992). Ähn18*

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

barkeit ist bei der Behandlung politisch und moralisch kontroverser Fragen institutionell im Vorteil. 3 4 4 Richter werden in der Regel aus der sozialen Schicht, die die jeweilige politische Mehrheit stellt, rekrutiert und reflektieren deren Werte. 3 4 5 Trotz formaler Schutzmechanismen wie der Bestellung der Bundesrichter auf Lebenszeit und finanzieller Unabhängigkeit sichert die Sozialisation der Verfassungsrichter, daß ihre Präferenzen mit denen der gesellschaftlich dominanten Gruppen übereinstimmen. 346 Insofern ist der Supreme Court keine „counter-majoritäre", sondern eine „verdeckt majoritäre" Institution. Die Richter des Supreme Court erkennen diesen Zusammenhang in der Regel nicht an. Dies hat zur Folge, daß die Präferenzen der Mehrheit unbewußt wirken. Majoritäre Einflüsse können andererseits nicht ohne weiteres ausgeblendet werden. 347 Vom Präsidenten nominierte Kandidaten für den Supreme Court, die extreme Positionen vertreten, werden häufig nicht vom Senat bestätigt. 348 Zwar ist das genaue Abstimmungsverhalten von Richtern nicht von vornlich Hart (Fn. 340), S. 282: Die richterliche Tätigkeit werde zu Recht nicht mit der Gesetzgebung gleichgesetzt, habe der Richter bei der Abwägung von Interessen doch Tugenden wie Unparteilichkeit und Neutralität zu beächten. 344 M. J. Perry (Fn. 337), S. 147; H. H. Wellington, Common Law Rules and Constitutional Double Standards: Some Notes on Adjudication, 83 Yale L. J. 221, 248, 266f. (1973); R. Η. Fallon (Fn. 336), S. 1266. 345 Zur Berufungsprozeß für Supreme-Court-Richter vgl. oben Fn. 229. M. J. Perry , ebd., S. 149 f., empfiehlt daher dem Richter, bei der Beantwortung moralischer Fragen auf seine eigene Moral und nicht auf die Sozialmoral zu vertrauen. Letzten Endes wird eine klare Trennung zwischen der Richtermoral und der Sozialmoral nicht möglich sein. Nur im Ausnahmefall wird dem Richter bewußt sein, daß seine Auffassung der relevanten Werte und Traditionen von der der Mehrheit abweicht. In jedem Fall muß ein Richter, der bewußt von der Sozialmoral abweicht, damit rechnen, daß seine Entscheidungen von der Berufungsinstanz oder, im Fall des Supreme Court, von einem späteren Gericht aufgehoben werden. Zudem muß bei einem Kollegialgericht wie dem Supreme Court eine Mehrheit von fünf Richtern von einer Entscheidungsvariante überzeugt werden. Die Notwendigkeit der Koalitionsbildung verringert die Gefahr, daß sich eine radikale Ansicht durchsetzt. Vgl. ebd.; H. F. Stone, The Common Law in the United States, 50 Harv. L. Rev. 4, 25 (1936); H. H. Wellington, Interpreting the Constitution, 1991, S. 104ff. Im Normalfall trifft der Richter gerade keine „persönliche Wertentscheidung41, sondern eine Entscheidung über öffentliche Werte. R. W. Bennet, Objectivity in Constitutional Law, 132 U. Pa. L. Rev. 445, 477 (1984). 346 Nach Art. III, Absatz 1 dürfen die Bezüge der Richter des Supreme Court nicht während ihrer Amtszeit gesenkt werden. 347 G. A. Spann, Pure Politics, 88 Mich. L. Rev. 1971, 1982 ff. (1990). Zum unbewußten Wirken rassischer Vorurteile vgl. C. R. Lawrence, The Id, the Ego, and Equal Protection: Reckoning with Unconscious Racism, 39 Stan. L. Rev. 317 (1987). 348 So etwa Robert Bork. Zu seiner Nominierung vgl. R. M. Dworkin , The Bork Nomination, 9 Cardozo L. Rev. 101 (1988); D. M. O'Brien , Storm Center, The Supreme Court in American Politics, 1986, S. I l l ff .

J. Fazit: Verfassungsinterpretation

277

herein vorhersagbar. Jedoch sichert ihr Bestellungsprozeß, daß die von ihnen vertretenen Werte im großen und ganzen mit den gesellschaftlich dominanten Werten übereinstimmen. 349 Auch wenn über viele von Verfassungsgerichten entschiedene Fragen kein meßbarer Konsens besteht, existieren doch allgemein akzeptierte Werte. Gerade aufgrund ihrer Unbestimmtheit sind viele Ideale weit verbreitet. 3 5 0 Daß die vom Richter als relevant angesehenen Werte in der Regel den gesellschaftlich dominanten Werten entsprechen, kann anhand der hier behandelten Entscheidungen des Supreme Court bestätigt werden. Der Supreme Court stimmt auf Dauer mit den vorherrschenden Wertvorstellungen überein. 351 Verfassungsrechtsprechung wird daher auch als Diskurs zwischen dem Verfassungsgericht und der Gemeinschaft verstanden. Verfassungsrichter bemühen sich, ihre Entscheidungen so zu begründen, daß sie mehrheitsfähig sind. 3 5 2 Besonders deutlich wird dies an den Entscheidungen des Warren-Court. Earl Warren gelang es wie kaum einem anderen Richter, die Gerechtigkeitsvorstellungen und Ideale der amerikanischen Gesellschaft zu verwirklichen. 353 Ähnliches gilt für die Rechtsprechung des Supreme Court zur Gleichstellung von Mann und Frau. Weil die Rechte der Frauen in der Sozialmoral der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts einen höheren Stellenwert einnehmen, änderte sich die Rechtsprechung des Supreme Court mit der Einführung des „Intermediate Scrutiny Test" für Geschlechtsklassifizierungen. 354 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Supreme Court aus eigenem Interesse anstreben muß, mit der Sozialmoral übereinzustimmen. Das institutionelle Ansehen des Gerichts sowie die Durchsetzungschancen seiner Entscheidungen hängen in erster Linie davon ab, ob deren Grundwerte mit denen des Volkes übereinstimmen. Die Überzeu349

M. Tushnet (Fn. 332), S. 201; M. J. Perry (Fn. 337), S. 168; E. Chemerinsky (Fn. 341), S. 82; G. A. Spann (Fn. 347), S. 1983, 2009f. Bereits Cardozo hat, vgl. oben, Fn. 98, darauf hingewiesen, daß durch die unterschiedliche Herkunft der einzelnen Richter ein breites gesellschaftliches Spektrum auf der Richterbank vertreten ist. 350 Vgl. dazu M. J. Perry, ebd., S. 154f.; G. Calabresi , Ideals, Beliefs, Attitudes and the Law, 1985. (Deutsche Übersetzung: Ideale, Überzeugungen, Einstellungen und ihr Verhältnis zum Recht, 1990). Zu Perrys verfassungstheoretischem Ansatz vgl. etwa Brugger (Fn. 334), S. 387 ff. 351 Vgl. Ai. Tushnet, Constitutional Interpretation, Character, and Experience, 72 B. U. L. Rev. 747, 757 (1992); R. A. Dahl, Decision-Making in a Democracy: the Supreme Court as a National Policy-Maker, in: Judicial Review and the Supreme Court, L. W. Levy (Hrsg.), 1967, S. 105, 112; T. R. Marshall (Fn. 336), S. 192. 352 Vgl. M. 7. Perry (Fn. 337), S. 159. 353 M. Tushnet (Fn. 332), S. 133. 354 Vgl. H. H. Wellington (Fn. 345), S. 86.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

gungskraft der Entscheidungen des Verfassungsgerichts seines Erfolgs als Institution. 355

ist der Garant

IV. Das Legitimationsproblem Der Verweis darauf, daß die Legislative am besten geeignet ist, die Sozialmoral zu reflektieren, geht fehl. Obwohl die Legislative gegenüber dem Verfassungsgericht bestimmte institutionelle Vorteile bei der Faktenermittlung hat, unterscheiden sich die Weitabwägungen von Legislative und Judikative nicht grundsätzlich. 356 Mit der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit hat der Verfassungsgeber die Entscheidung darüber getroffen, daß die Legislative nicht unbeschränkt agieren kann. Mit anderen Worten, die Interpretation der Sozialmoral durch die Legislative ist nicht letztverbindlich. Es stellt sich daher nicht die Frage, ob Akte der Legislative von einer anderen Gewalt überprüft werden sollen. Ähnliches gilt für den Einwand, daß die Einbeziehung der Sozialmoral gegen das Demokratieprinzip verstößt. Das Konzept der Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern ist gerade nicht das einzige Grundprinzip der amerikanischen Verfassung. Ihm stehen das Gleichheits- und das Freiheitsprinzip gleichberechtigt gegenüber. 3 5 7 Die letztgenannten Prinzipien können jedoch nicht durch abstrakte Theorien konkretisiert werden. 3 5 8 Ihnen kann nur dann zur Geltung verholfen werden, wenn die Judikative ermächtigt wird, die Verfassung entsprechend den gegenwärtigen Verhältnissen auszulegen. Die Entscheidung gegen die Letztverbindlichkeit der Wertungen der Legislative führt zu einer größeren Vielfalt und Stabilität der vom Staat eingenommenen Wertpositionen. Die Weitungen der Legislative sind tagespolitischen Zwängen unterworfen und daher für den Zeitgeist empfänglicher. Die Judikative wird sich aufgrund ihrer besonderen Position häufiger an traditionelleren Werten orientieren. 359 Dadurch sind Richter in der Lage, 355

A. M. Eickel, The Least Dangerous Branch, 1962, S. 258; J. G. Wilson (Fn. 334), S. 1083. Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Supreme Court in Planned Parenthood v. Casey oben S. 140, wo der Supreme Court in seltener Offenheit den Zusammenhang zwischen der Legitimität des Gerichts und der Überzeugungskraft seiner Entscheidungen betonte. 356 H. H. Wellington (Fn. 344), S. 240. 357 M. J. Perry (Fn. 337), S. 166f. 358 W; G. Friedmann (Fn. 338), S. 491; G. Λ. Spann (Fn. 347), S. 1988. 359 H. F. Stone (Fn. 345), S. 10. Das Argument, nach dem es Aufgabe des Supreme Courts sei, den „wechselnden Leidenschaften des Tages" nicht nachzugeben, sondern die eigentlichen Werte der Verfassung zu verteidigen, so etwa H. H. Wellington (Fn. 344), S. 248, erscheint nicht unangreifbar. Die Frage, ob es sich um eine lediglich kurzfristige Stimmung der öffentlichen Meinung handelt, oder aber ein Wandel der Grundwerte der Gesellschaft vorliegt, ist wohl erst im nachhinein beantwortbar. Vgl. auch W. Sadurski (Fn. 334), S. 366ff., der hinsichtlich der Her-

J. Fazit: Verfassungsinterpretation

279

bestimmte Exzesse der Legislative auszugleichen. Ein plötzlicher Meinungsumschwung kontrolliert nicht in jedem Fall die Verfassungsinterpretat i o n . 3 6 0 Richterlicher Takt, nicht abstrakte Prinzipien, bestimmen letzten Endes die Relation zwischen Stabilität und Wandel. 3 6 1 Dem Verfassungsgericht, insofern ist Elys prozessorientierter Theorie zuzustimmen, fällt als zusätzlicher Wertungsinstanz die Aufgabe zu, solche Werte zu berücksichtigen, die von der Legislative ignoriert wurden. Die Wertungen der Legislative werden nicht lediglich wiederholt, sondern aus einer anderen Perspektive geprüft. 3 6 2 Dabei können sowohl Minderheits- als auch Mehrheitsinteressen im legislativen Prozeß unterrepräsentiert gewesen sein. 3 6 3 Letztere können vom Supreme Court betont werden, wenn die Legislative von einer Minderheit mit überproportionalem Einfluß dominiert wird. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen war Brown v. Board of Education , wo die Vertreter der weißen Südstaatler, einer nationalen Minderheit, im Kongreß alle Reformen mit dem Ziel der Aufhebung der Rassentrennung blockierten. Das Verfassungsgericht nimmt somit eine die Wertabwägungen der Legislative ausgleichende Funktion e i n . 3 6 4 Die Anpassung des Verfassungsrechts an die sich ändernde Sozialmoral muß nicht notwendig auf Fehlern des politischen Prozesses beruhen. Es gibt viele Gebiete, auf denen die Legislative überhaupt nicht agiert, so daß ältere Gesetze nicht mehr mit der Sozialmoral im Einklang stehen. Dieser Tatbestand kann einen Verfassungsverstoß bedeuten. In diesen Fällen obliegt der Judikative die Aktualisierung der unverändert gelassenen Normen. 3 6 5 In diesem Zusammenhang wird oft die Gefahr der Diktatur der persönlichen Präferenzen der Verfassungsrichter beschworen. Die Heterogenität der ausfilterbarkeit von Vorurteilen und Leidenschaften des Moments durch sogenannte „laundering devices" skeptisch bleibt. 360 D.A. Strauss , Common Law Constitutional Interpretation, 63 U. Chi. L. Rev. 877, 930 (1996). Dies kann sich für Minderheiten positiv auswirken. Insofern ist die These Ely's von der Schutzfunktion der Judikative für im legislativen Prozeß unterrepräsentierte Minderheiten richtig. Jedoch gibt es keinen dauerhaften Schutz bestimmter Minderheiten. Art und Umfang des Minderheitenschutzes hängt auf lange Sicht von der Sozialmoral ab. 361 W. G. Friedmann (Fn. 338), S. 45; R. W. Bennet (Fn. 345), S. 483. 362 T.A. Aleinikoff\ Constitutional Law in the Age of Balancing, 96 Yale L. J. 943, 984 ff. (1987). 363 Zu Repräsentationsdefekten im amerikanischen politischen Prozess vgl. oben S. 246. 364 Vgl. dazu W. Sadurski (Fn. 334), S. 346; D. D. Welch, Legitimate Government Purposes and State Enforcement of Morality, 1993 U. 111. L. Rev. 67, 97. 365 W. Sadurski , ebd., S. 345.

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2. Teil: Sozialmoral der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

Gesellschaft führt jedoch zu heterogen besetzten Richterbänken. Gerichte sind aufgrund ihrer Zusammensetzung regelmäßig nicht in der Lage, der Gesellschaft eine in sich geschlossene Doktrin aufzuzwingen. 366 Die Kritik, die vor einem zu großen Einfluß der persönlichen Werte der Verfassungsrichter, der Tyrannei der Judikative, warnt, erscheint daher unberechtigt.

V. Grenzen pragmatischer Verfassungsinterpretation Der Prozeß der richterlichen Weitinterpretation wird letztendlich nie völlig objektiviert werden können. Richter sollten aber vermeiden, das zeigen etwa die Beispiele der Lochner- und Dred-Scott- Rechtsprechung, in einen offenen Konflikt mit der Sozialmoral zu geraten. In diesem Fall nimmt nicht nur die Institution des Supreme Court empfindlichen Schaden. Entscheidungen, in denen die Werte des Gerichts in einer gesellschaftlich umstrittenen Frage von der Sozialmoral abweichen, ist keine lange Lebensdauer beschieden. 367 Die Theorie von der Einbeziehung der Sozialmoral kann jedoch nicht in jedem Fall das „richtige" Ergebnis vorhersagen. Sie gibt den Anspruch auf, Richtern bei der Anwendung der offenen Verfassungsnormen das Wertungsergebnis vorzuschreiben. Sie ist keine „grand theory" mehr. Das Verfassungsgericht bleibt eine fehlbare Institution. 3 6 8 Jedoch gestattet es ein pragmatischer Ansatz auch, unpraktikable Entscheidungen aufzuheben. Recht wird, wie von Oliver Wendell Holmes, dem herausragenden Vertreter des amerikanischen Pragmatismus, beschrieben, zum Experiment. 369 Die Kontrolle der Legislative ist nur um den Preis einer zusätzlichen Wertungsinstanz möglich. Verfassungsinterpretation ist ein notwendig wertendes Unterfangen. Es stellt sich somit lediglich die Frage, welche Werte bei der Anwendung der Verfassung eine Rolle spielen sollen. Im wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten. Die konsequent originalistische Interpretationsvariante stößt nicht nur auf fast unüberwindbare Schwierigkeiten. Sie ist auch die undemokratischere Variante, stellt sie doch die Werte älterer 366

R. A. Posner, Overcoming Law, 1995, S. 197. H. H. Wellington (Fn. 345), S. 88. Hier ist der Einwand denkbar, daß viele verfassungsrechtliche Fragen, insbesondere aus dem verfassungsorganisatorischen Bereich, von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden, Verfassungsrichter daher ohne Einschränkungen ihre persönlichen Präferenzen durchsetzen könnten. Jedoch bleiben die Verfassungsinterpreten selbst in solchen Fällen nicht ohne Publikum, müssen ihre Entscheidungen doch vor ihren Nachfolgern standhalten. Vgl. A. Hill, The Political Dimension of Constitutional Adjudication, 63 S. Cal. L. Rev. 1237, 1300 (1990). 368 S. R. Munzer/J. W. Nickel , Does the Constitution Mean What it Always Meant?, 77 Colum. L. Rev. 1029, 1052, 1058 (1977); M. J. Perry (Fn. 337), S. 166. 369 Abrams v. U.S., 250 U.S. 616, 630 (Holmes, O. W., dissenting). 367

J. Fazit: Verfassungsinterpretation

281

Generationen über die Werte der Gegenwart und führt zu einer Verfassung, die nicht den Anforderungen der Zeit entsprechen kann. Es bleibt die hier vertretene Option der Verfassungsinterpretation unter Berücksichtigung der Sozialmoral.

3. Teil

Ausblick und Methodenvergleich - Sozialmoral und die deutsche Verfassungstheorie Das Verhältnis von Verfassungsrecht und Sozialmoral wurde bisher ausschließlich aus amerikanischer Sicht untersucht. Es wurde darauf verzichtet, bei der Analyse des amerikanischen Verfassungsrechts Erkenntnisse der deutschen Rechts- und Verfassungstheorie zu verwenden. Selbst Begriffe wie „Grundrechte", „Schranken", „teleologische Auslegung" und andere primär der deutschen Methodologie eigenen Termini wurden vermieden. Dieser Ansatz ist nicht zwingend. 1 Zweifellos gibt es zwischen der deutschen und der amerikanischen Verfassung eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten. Der Grund für die Darstellung des amerikanischen Verfassungsrechts aus amerikanischer Perspektive ist ein anderer. Mit der Übernahme der deutschen Begrifflichkeit ist die Gefahr verbunden, daß lediglich Ähnliches als gleich gewertet wird, daß Unterschiede verdeckt werden, weil man meint, Bekanntes wiederzuerkennen. Gleiches gilt für die Beschreibung der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie. Auch hier mag der deutsche Betrachter Elemente antreffen, die ihm vertraut erscheinen. Versuchte er, die amerikanische Rechtstheorie aufgrund dieser Gemeinsamkeiten in bekannte Kategorien zu pressen, liefe er Gefahr, genuin amerikanische Elemente zu übersehen, die Gegensätze der beiden Rechtskulturen zu überspielen. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, wurde die Gegenüberstellung von deutscher und amerikanischer Theorie an das Ende der Untersuchung verschoben.

A. Zur Vergleichbarkeit von deutschen und amerikanischen Interpretationstheorien Bevor ein Vergleich zwischen deutscher und amerikanischer Verfassungstheorie angestellt werden kann, erscheinen einige Anmerkungen zum Vergleichsobjekt angebracht. In Deutschland unterscheidet man traditionell 1

Für einen Versuch, das amerikanische Verfassungsrecht „so deutsch wie möglich und so amerikanisch wie nötig" darzustellen, siehe W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, besonders S. XXIII.

Α. Deutsche und amerikanische Interpretationstheorien

283

zwischen Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Methodenlehre, wobei im Bereich der Verfassungsinterpretation besondere Verfassungs- oder Grundrechtstheorien vertreten werden. Die amerikanische Wissenschaft verwendet teilweise eine abweichende Terminologie. Der Rechtsphilosophie kann der Bereich der »jurisprudence" zugeordnet werden, wobei letztere auch Ausschnitte der Rechtstheorie umfaßt. Zwischen den anderen genannten Bereichen wird in den Vereinigten Staaten nicht immer klar differenziert. Meist werden sie mit „legal theory" oder „constitutional theory" umschrieben. Diese terminologischen Unterschiede fallen bei dieser Untersuchung jedoch nicht ins Gewicht. Es geht insofern um eine gemeinsame Schnittmenge, die Frage, wie die Normen der Verfassung zu interpretieren sind, die Individualrechte verleihen. Hierfür wird der Begriff der „Interpretationstheorie" verwendet. 2 Der Vergleich der Interpretationstheorien wird dabei nur vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Supreme Court angestellt. Weder die Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch das Grundgesetz selbst können hier berücksichtigt werden. Vielmehr soll geklärt werden, ob die in Deutschland vertretenen Interpretationstheorien bei der Lösung der Probleme helfen können, die sich bei der Anwendung der amerikanischen Verfassung stellen. Insofern handelt es sich nicht um einen echten Vergleich, sondern um eine Kritik der deutschen Interpretationstheorie aus amerikanischer Sicht. In beiden Ländern steht man vor grundsätzlich ähnlichen Aufgaben. Es muß eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie die unbestimmten, fragmentarischen und wertausfüllungsbedürftigen Normen der Verfassung 3 angesichts eines steten Wertewandels interpretiert werden sollen. Wenn zu einzelnen in Deutschland vertretenen Interpretationstheorien Stellung genommen wird, ist dies immer in bezug auf ihre Eignung zu verstehen, dem gesellschaftlichen Wertewandel Rechnung zu tragen. Sie werden nicht 2 In Deutschland wird der Gegenstand dieser Untersuchung von Theorien der Rechtsanwendung, der Verfassungsinterpretation sowie Grundrechtstheorien diskutiert. Die Frage, ob Normen, die nicht der Verfassung zuzuordnen sind, anders als Verfassungsnormen zu interpretieren sind, muß hier offenbleiben. Wenn im folgenden von Interpretationstheorie gesprochen wird, geht es unabhängig vom konkreten theoretischen Ansatz (Grundrechtstheorie, Verfassungstheorie, Theorie der Rechtsanwendung) jeweils um die gemeinsame „Schnittmenge" der Theorien, die Interpretation unbestimmt gefaßter Normen, die Individualrechte verleihen. 3 Nicht alle Verfassungsnormen haben einen fragmentarischen Charakter. Wenn hier von wertausfüllungsbedürftigen Verfassungsnormen gesprochen wird, sind in erster Linie die Vorschriften gemeint, die individuelle Rechte verleihen. Es sei jedoch angemerkt, daß sich das Problem der Wertanfälligkeit von Verfassungsnormen auch im Bereich des Verfassungsorganisationsrechts stellt, nicht zuletzt bei der Ausfüllung der verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien.

284

. Teil: Sozialmoral

d

esche Verfassungstheorie

hinsichtlich der spezifischen Probleme des Grundgesetzes und dessen Interpretationsgeschichte überprüft. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß Verfassungen bestimmte Anforderungen an ihre Interpretationsmethoden stellen. 4 Insofern können sich auf die Frage nach der deskriptiv und normativ korrekten Interpretationstheorie unterschiedliche Antworten ergeben.5 Die in Deutschland vertretenen Interpretationstheorien werden mithin nicht auf ihre Eignung überprüft, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts adäquat zu beschreiben oder den normativen Anforderungen des Grundgesetzes zu entsprechen. Eine solche Untersuchung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der Sozialmoral steht noch aus. Das Anliegen dieser Arbeit ist es auch, das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung zu schärfen.

B. Grundfragen der amerikanischen Rechtsund Verfassungstheorie I. Fragestellungen Der Vergleich von Interpretationstheorien verschiedener Rechtskreise kann nur gelingen, wenn die Verschiedenheit ihrer Fragestellungen berücksichtigt wird. Bei der Darstellung der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie sind zwei Hauptthemen sichtbar geworden. Zunächst stand die Auseinandersetzung mit dem Formalismus des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion. Es ging um die Frage, ob Richter „Recht finden" oder „Recht schaffen". Beginnend mit den Werken Oliver Wendeil Holmes' rückte das „menschliche Element im Recht" in den Blick4 Vgl. dazu etwa die Forderung nach verfassungsgemäßen Grundrechtstheorien bei E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529, 1537; ähnlich A. Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, VerwArch 80 (1989), 415, 430 ff. 5 Zu den Anforderungen an Verfassungstheorien vgl. oben S. 242. Die Unterschiede in der Bewertung verschiedener Interpretationstheorien können in den Anforderungen an ihre normative Richtigkeit liegen. So wurde etwa das Demokratieverständnis des Originalismus vor dem Hintergrund des in der amerikanischen Verfassung vorgesehenen Demokratiemodells besprochen. Vgl. oben S. 246. Bei einem „echten" Vergleich zwischen deutscher und amerikanischer Interpretationstheorie wären etwa die unterschiedlichen Ausprägungen des deutschen und amerikanischen Demokratieprinzips und Gewaltenteilungsprinzips zu beachten. Da Verfassungstheorie immer auch die Kompetenzverteilung zwischen der Judikative und den anderen beiden Gewalten betrifft, kommt dem Gewaltenteilungsprinzip in seiner jeweiligen Ausformung besondere Bedeutung bei der Ermittlung der anwendbaren Interpretationstheorie zu.

Β. Grundfragen der amerikanischen Rechts- und Verfassungstheorie

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punkt. Das Recht wurde nicht mehr als geschlossenes System betrachtet. Vielmehr wurde der Zweck des Rechts als Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme betont. Diese Denkrichtung fand im legal realism ihren Höhepunkt. Der legal realism erteilte der hergebrachten Vorstellung, daß die Entscheidungen der Gerichte Ergebnisse eines mit wissenschaftlichen Methoden erfaßbaren Prozesses seien, eine klare Absage. Aufgabe der Rechtswissenschaft könne lediglich die Vorhersage der Entscheidungen der Gerichte mit behavioristischen Methoden sein. Der legal realism, der zum Verschwinden des Formalismus des 19. Jahrhunderts beigetragen hatte, konnte sich jedoch nicht gegen die zu Mitte dieses Jahrhunderts gegen ihn vorgebrachte Kritik behaupten. Es kam zu einem Paradigmen Wechsel. Die wertende Natur des Rechtsanwendungsprozesses wurde nicht mehr bestritten. Sie wurde zum Ansatzpunkt für die wissenschaftliche Kritik in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Wenn es nicht möglich sein sollte, richterliche Wertungen völlig auszuschließen, sollten sie kanalisiert werden. Es sollte sichergestellt werden, daß Wertungen nicht direkt gewählter Richter nicht die Entscheidungen der demokratisch besser legitimierten Legislative ersetzen. Das Hauptthema der neueren amerikanischen Verfassungsdiskussion sind die Wertungen der dritten Gewalt.

II. Der Zusammenhang zwischen Rechtsprechung und Interpretationstheorie Diese Entwicklung ist nur vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Supreme Court verständlich. Die amerikanische Rechts- und Verfassungstheorie ist immer im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Supreme Court zu sehen. Die im Vergleich mit Deutschland wesentlich engere Verbindung von Rechtswissenschaft und Judikative ist ein Hauptmerkmal der amerikanischen Verfassungstheorie. Dies übersieht, wer vorschnell Parallelen zwischen der deutschen und der amerikanischen Lehre zieht. Drei Entscheidungen des Supreme Court waren für die amerikanische Interpretationstheorie grundlegend. Die größte Bedeutung hatte zweifellos Lochner v. New York. 6 Diese Entscheidung, die zu der Konfrontation zwischen dem Supreme Court und der /toaseve/i-Administration führte, wurde zum Symbol für unzulässigen richterlichen Aktionismus, für „Lochnerizing". Zunächst war Lochner der Angriffspunkt des legal realism. Dieser berief sich auf Holmes ' Dissent zu der Entscheidung. Holmes hatte kritisiert, daß das Weltbild der Richter - hier durch die ökonomische Theorie des Laissez faire - nicht den gesellschaftlich dominanten Werten vorgehen sollte. 6

Ebenso C. R. Sunstein, Lochner's Legacy, 87 Colum. L. Rev. 873 (1987).

286

. Teil: Sozialmoral

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esche Verfassungstheorie

Brown v. Board of Education gab in den fünfziger Jahren Anlaß zu einer intensiven Debatte um die Rolle des Supreme Court. Obwohl die meisten Kritiker die Entscheidung im Ergebnis billigten, verlangten sie nach einer neutralen, einer vernünftigen Begründung, mit der Brown von Lochner unterschieden werden konnte. Es entstand das Verlangen nach dem, was Tushnet als "grand theory" bezeichnet hat 7 , einer Verfassungstheorie, die „Lochnerizing" verhindert und zugleich Wertungen der Judikative kontrolliert. Roe v. Wade ist schließlich die dritte die neuere amerikanische Verfassungstheorie prägende Entscheidung. In der Frage der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs war und ist die amerikanische Gesellschaft tief gespalten. Viel von dem, was in den über zwanzig Jahren seit Roe v. Wade auf dem Gebiet der Verfassungstheorie geschrieben wurde, ist mit Blick auf diese Entscheidung verfaßt. Ihre Verteidiger, meist auch die Verteidiger der liberalen Rechtsprechung des Warren-Court, suchten nach Wegen, Roe ν. Wade methodisch zu begründen. Die Kritiker dieser Entscheidung, am vehementesten die Vertreter des Originalismus, befürchten ein Wiederaufleben des Aktivismus des Lochner-Court. 8

C. Der deutsche Ansatz Zur Verdeutlichung der Grundfragen der deutschen Interpretationstheorie soll zunächst ein Blick auf eine vor über zwei Jahrzehnten veröffentlichte Untersuchung Böckenförde s geworfen werden. 9 Böckenfördes damalige Anmerkungen zu den in Deutschland vertretenen Methoden der Verfassungsinterpretation lassen die Hauptthemen der deutschen Interpretationstheorie deutlich werden. 7

Vgl. oben S. 258. Zwei Zitate aus Entscheidungen des Supreme Court verdeutlichen die Kontroverse, die seit Roe v. Wade an Intensität nicht abgenommen hat. Zum einen Richter White aus Moore v. City of East Cleveland und Bowers v. Hardwick : Der Supreme Court sei am verwundbarsten und komme der Illegitimität am nächsten, wenn er Verfassungsrecht schaffe, das keine Wurzeln in Text und Struktur der Verfassung habe. Vgl. oben S. 147 und S. 159. Dieses Zitat kann als Credo des konservativen Supreme Court der achtziger Jahre gelten. Auf der anderen Seite: Die Legitimität des Gerichts zeige sich in der Akzeptanz der Judikative als geeignete Institution zur Bestimmung des Rechts durch das Volk. Sie leite sich aus der Fähigkeit ab, Entscheidungen zu fällen, die rechtlichen Prinzipien entsprächen und plausibel genug seien, um von der Nation akzeptiert zu werden. Diese von fünf Richtern in Casey , der Nachfolgeentscheidung Roes, mitgetragene Formulierung steht für die eher pragmatische Tendenz des Supreme Court der neunziger Jahre. Vgl. oben S. 140. 9 E. W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, 2089 ff. 8

C. Der deutsche Ansatz

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Böckenförde begann mit einer Bestandsaufnahme der Interpretationstheorien. Das Bundesverfassungsgericht bekenne sich zwar formell zur klassischen Auslegungsmethode, wende jedoch verschiedene Methoden an. Böckenförde stellte im einzelnen vier methodische Ansätze vor: die klassisch-hermeneutische Methode, die topisch-problemorientierte Methode, die wirklichkeitswissenschaftlich orientierte Methode sowie die hermeneutisch-konkretisierende Methode. 10 Er unterschied einfache Gesetze und die Verfassung. Letztere habe eine andere, eine fragmentarische Struktur. Folglich könnten die Auslegungsmethoden für einfache Gesetze nicht ohne weiteres auf die Verfassung übertragen werden. Böckenförde wandte sich gegen Versuche, die Normgeltung der Gesetze in Frage zu stellen. Er beschwor die Gefahr des Abbaus der Normativität der Verfassung. 11 Böckenförde bezeichnete den Gegensatz zwischen der Unbestimmtheit der Verfassungsnormen und der Normativität der Verfassung als das Grundproblem der Verfassungsinterpretation. Er betonte das Problem der politischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Verfassungsgericht dürfe nicht zum Herrn der Verfassung werden. Das Problem der Offenheit der Verfassungsnormen solle nicht auf dem Weg der normbildenden, rechtspolitisch entscheidenden Auslegung gelöst werden. Der Ausweg liege in der Ausarbeitung einer bestimmten Verfassungstheorie. Verfassungstheorie müsse mehr sein als Vorverständnis und gesellschaftlicher Konsens. Sie müsse aus dem Verfassungstext und der Verfassungsentstehung mit rationalen Mitteln erhebbar sein. 12 An dieser Stelle soll noch nicht inhaltlich zu Böckenfördes Position Stellung genommen werden. Statt dessen geht es um die Herausarbeitung der Themen der deutschen Verfassungstheorie. Der deutsche Ansatz orientiert sich an der Struktur der Normen. Die Offenheit der Verfassungsnormen, nicht etwa umstrittene Entscheidungen des Verfassungsgerichts, soll zu einer besonderen theoretischen Behandlung des Verfassungsrechts führen. Das „law in the books", nicht das „law in action" ist das vorrangige Thema der Verfassungstheorie. Obwohl Parallelen zu dem in den Vereinigten Staaten diskutierten Problem der Wertungen im Recht deutlich werden, ist der Ansatzpunkt ein anderer. Es geht nicht in erster Linie darum, den Machtmißbrauch der Judikative gegenüber der Legislative zu verhindern. Dieses Problem wird zwar gesehen, steht jedoch nicht im Vordergrund. Vielmehr bemüht man sich, dem „Normcharakter", der „Normativität" der Verfassung gerecht zu werden. Die deutsche Interpretationstheorie erscheint in ihrem 10 Ebd., S. 2090ff. Für eine Stellungnahme zu diesen Methoden vgl. sogleich S. 288 ff. 11 Ebd., S. 2091 ff., 2097. 12 Ebd., S. 2098 f.

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Teil: Sozialmoral

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Ausgangspunkt im Gegensatz zu ihrem amerikanischen Pendant weniger gerichts- als normenorientiert.

D. Einzelne deutsche Stellungnahmen zur Verfassungsinterpretation Im folgenden wird eine Auswahl von deutschen Interpretationstheorien vorgestellt. Diese werden auf ihre Fähigkeit untersucht, dem gesellschaftlichen Wertewandel, der sich ändernden Sozialmoral, Rechnung zu tragen. I. Das traditionelle Modell - die canones und die Lehre von der teleologischen Auslegung I. Inhalt Nach der herkömmlichen Interpretationstheorie wird die Verfassung im Wege des syllogistischen Schlusses angewandt. Der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der systematische Zusammenhang sowie der Zweck der einzelnen Verfassungsnormen bestimmen die Entscheidung im Einzelfall. Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich in ständiger Rechtsprechung zu dieser Methode. Das Ziel der Interpretation sei die Ermittlung dés „objektivierten Willens des Gesetzgebers". 13 Es wird jedoch bezweifelt, ob das Bundesverfassungsgericht tatsächlich nach dieser Methode verfährt. Beobachter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommen zu dem Schluß, daß das Gericht nicht die Regeln befolgt, zu denen es sich programmatisch bekennt. 14 2. Verfassungsinterpretation

als Gesetzesinterpretation

Ernst Forsthoff war ein Fürsprecher der Anwendung der herkömmlichen Interpretationsmethode. Er hielt am Konzept des syllogistischen Schlusses bei der Interpretation von Rechtsnormen fest. Dies gelte auch für die Verfassungsinterpretation. Die Gesetzesform der Verfassung müsse ernst genommen werden. Eine Beliebigkeit der Auslegungsmethoden dürfe nicht 13 Zuerst in BVerfGE 1, 299, 312. Müller und Hesse haben diese, die rechtssetzenden Elemente bei der Rechtsanwendung verdrängende Methode nicht zu Unrecht als „Lebenslüge der Juristen" bezeichnet. Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., 1997, S. 81, Fn. 143; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl., 1993, Rdii. 76. 14 Vgl. etwa die Analyse bei F. Müller, ebd., Rdn. 27 ff. sowie M. Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR V, 1992, § 110, Rdn. 24 ff.

D. Einzelne deutsche Stellungnahmen zur Verfassungsinterpretation

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geduldet werden. Andernfalls werde das Gesetz negiert und aufgelöst. 15 Forsthoff warnte vor einer Entwertung von Wortlaut und Struktur der Verfassung, der Entformalisierung der Verfassung. Der Rechtsstaat werde in diesem Fall zum Justizstaat. Die Richter würden sich zum Herrn der Verfassung machen, Entscheidungskompetenzen usurpieren. 16 Forsthoff betonte den Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Rechtsanwendung. Gesetze enthielten einen bestimmten Sinn, der mit juristischen Methoden erfaßt werden könne. Er wandte sich dagegen, bestimmte Werte in die Normen zu legen. In diesem Falle könne man nicht mehr von juristischer Sinnerfassung reden, sondern begebe sich auf das Gebiet der Philosophie. 17 Forsthoff forderte die Rückkehr zu den Regeln der juristischen Hermeneutik. Forsthoffs Warnung vor der Kompetenzüberschreitung der Richter durch unzulässige Wertungen im Verfassungsrecht ist ohne Erfolg geblieben. Die Gleichsetzung von Verfassung und einfachem Gesetz wird nicht mehr mit der von ihm geforderten Konsequenz vertreten. Die These, daß die Verfassung wie Gesetze durch Subsumtion und logischen Schluß interpretiert werden könne, ist auf heftigen Widerspruch gestoßen. Kritik wurde insbesondere an der Übertragung der Savignyschen canones auf das Verfassungsrecht laut. Die canones seien für die Auslegung einfacher Gesetze geschaffen worden und würden dem fragmentarischen Charakter der Verfassung nicht gerecht. 18 Forsthoffs Mahnung ist jedoch aus methodenvergleichender Sicht von Interesse. Sie entspricht zwar nicht den Einwänden, die gegen den Supreme Court nach Brown v. Board of Education vorgebracht wurden. Kritiker wie Learned Hand und Herbert Wechsler warfen zwar dem Supreme Court ebenso Kompetenzüberschreitung vor. Sie hatten sich jedoch mit der Wertanfälligkeit der Verfassungsinterpretation abgefunden. Forsthoffs Ausführungen erinnern vielmehr an den Formalismus, der um die Jahrhundertwende die amerikanische Rechtswissenschaft beherrschte. Richterliche Wertungen außerhalb des formalen Deduktionsmodells wurden von vornherein als unzulässig betrachtet. Forsthoff darf freilich nicht mit dem amerikanischen Formalismus gleichgesetzt werden, der andere Wurzeln hatte. So 15 E. Forsthoff\ Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 f. (zugleich abgedruckt in: Probleme der Verfassungsinterpretation, R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), 1976). 16 Ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 28 f., 33 f. 17 Ders. (Fn. 15), S. 41. 18 So E.-W. Böckenförde (Fn. 9), S. 2091; F. Müller (Fn. 13), Rdn. 90; F. Müller, ebd., Rdn. 92, ist der Auffassung, daß die Übertragung der canones Savignys auf das Verfassungsrecht nicht mit Savignys auf das Zivil- und Strafrecht zugeschnittenem Ansatz vereinbar ist. Ähnlich M. Kriele y Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, S. 77 ff. Schiwek

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waren weder Savignys canones noch das hermeneutische Konzept der Interpretation durch „Verstehen von Texten" in den Vereinigten Staaten verbreitet. Beide Auffassungen fassen jedoch das Recht als geschlossenes System auf und verneinen die Notwendigkeit normexterner Wertungen bei der Rechtsanwendung. 3. Die teleologische Auslegung Bei der Analyse der herkömmlichen Auslegungsmethode verdient die teleologische Auslegung besondere Beachtung. Die von Savigny aufgestellten canones der Auslegung, die grammatische, logische, historische und systematische Auslegungsmethode, werden heute fast ausschließlich im Zusammenhang mit einer weiteren Auslegungsmethode vertreten, der Methode der teleologischen Auslegung. Karl Larenz begriff die Jurisprudenz als „verstehende Wissenschaft". Das Ziel der Auslegung sei es, den Sinn des Textes zu ermitteln. Dabei solle die der Rechtsnorm zugrundeliegende Wertung aufgedeckt werden. Bei der Anwendung wertausfüllungs- und konkretisierungsbedürftiger Normen sei keine logische Subsumtion möglich. Es komme auf wertorientiertes Denken an. Die Rechtsordnung stelle dem Richter die für ihn verbindlichen Wertungsmaßstäbe zur Verfügung. 19 Larenz stellte auf teleologische Kriterien ab, wenn Wortsinn und Kontext mehrere Auslegungen zulassen. Zwischen den einzelnen Auslegungskriterien bestehe kein festes Rangverhältnis. Wortsinn und Kontext komme vor allem eine eingrenzende Funktion zu. Es empfehle sich, zunächst die nach diesen Kriterien möglichen Auslegungen zu ermitteln. Der Regelungszweck der Norm solle dann die anzuwendende Auslegungsvariante bestimmen. Teleologische Kriterien sind nach Larenz die Sachstrukturen des Normbereichs sowie die der Rechtsordnung immanenten Prinzipien, insbesondere das Postulat der Gerechtigkeit, gleich zu Bewertendes gleich zu behandeln. Letzte Genauigkeit sei bei diesem Prozeß nicht möglich. Auslegung sei schöpferische Geistestätigkeit. Dieser Beurteilungsspielraum des Interpreten könne nicht völlig ausgeschlossen werden. Den Interpreten treffe jedoch die Obliegenheit, bei einem Konflikt verschiedener Auslegungsgesichtspunkte sein Ergebnis zu begründen. 20 Larenz ging grundsätzlich auch von der Anwendbarkeit der geschilderten Auslegungsgrundsätze auf das Verfassungsrecht aus, Schloß aber nicht aus, daß diese bei ausfüllungsbedürftigen Verfassungsnormen nicht ausreichen. 19

K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 204, 214 f., 223, 288 ff. 20 Ebd., S. 345 f.

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Das Verfassungsgericht stoße öfter an die Grenze zur politischen Entscheidung. Hier seien Folgenerwägungen zulässig, komme dem Gedanken des Gemeinwohls besondere Bedeutung zu. 2 1 Larenz hat versucht, die traditionelle Auslegungsmethode und die wertende Natur der Rechtsanwendung miteinander zu vereinbaren. Letzten Endes wird jedoch nicht deutlich, nach welchen Gesichtspunkten der Richter bei unterschiedlichen Ergebnissen der einzelnen Auslegungskriterien unterscheiden soll. 2 2 Besonders problematisch erscheint dabei der Begriff der „teleologischen Interpretation". Er wird zu Recht als Blankett bezeichnet. 23 Die Gesichtspunkte, mit denen der „Zweck" einer Norm ermittelt wird, sind nicht eingrenzbar. Sie sind, wie ein Beobachter treffend formulierte,"kaum mehr als ein Sammelbegriff für Wertungen verschiedenster Herkunft, für ein sachlich wie normativ nicht mehr begrenzbares Feld von Auslegungsmöglichkeiten", „beinahe der Beliebigkeit des subjektiven Bewertens anheimgegeben". 24 Sie können auch nicht mit den anderen traditionell anerkannten Methoden erfaßt werden, soll doch die teleologische Auslegung diese Methoden ergänzen. Es hilft daher nicht weiter, zur Lösung eines Einzelfalls auf den „Zweck" einer Norm abzustellen, wenn der Zweck der Norm für diesen Fall gerade umstritten ist. Hesse führt diese Argumentationsweise auf das von der Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts übernommene Willensdogma zurück. Mit der teleologischen Auslegung versuche man etwas nachzuvollziehen, was real noch nicht existent sei. Dort, wo nichts Eindeutiges gewollt sei, könne allenfalls ein vermuteter oder fiktiver Wille ermittelt werden. 25 Hesses Kritik verdient auch vor dem Hintergrund der amerikanischen Interpretationsgeschichte Zustimmung. Der Supreme Court verzichtete weitestgehend auf eine der teleologischen Auslegung vergleichbare Argumentationsfigur. Es fiele auch schwer, etwa dem 14. Amendment einen bestimmten Zweck zuzuschreiben. Die Ausweitung, die die Substantive Due Process Clause und Equal Protection Clause in den letzten fünfzig Jahren erfahren haben, kann nicht auf einen bestimmten Normzweck zurückgeführt werden. Bei konsequenter Anwendung der Methode der teleologischen Auslegung müßte man annehmen, daß das 14. Amendment von vornherein den „Zweck" der Gleichstellung von benachteiligten Gruppen wie Frauen oder Schwarzen zum Inhalt hatte, dieser jedoch erst vom Supreme Court der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „erkannt" wurde. Diese These würde nicht dem gesellschaftlichen Wertewandel gerecht, der zu der Neuinterpre21 22 23 24 25

*

Ebd., S. 364f. Vgl. die Kritik bei M. Kriele (Fn. 14), Rdn. 27 f. So K. Hesse (Fn. 13), Rdn. 56 f. So F. Müller (Fn. 13), Rdn. 29, 96. K. Hesse (Fn. 13), Rdn. 56.

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tation dieser Vorschrift durch den Supreme Court geführt hat. Ähnliches gilt für die Anerkennung bestimmter fundamentaler Rechte durch den Supreme Court in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Eine Vielzahl dieser Rechte wurde traditionell nicht von der Rechtsordnung anerkannt. Ihr rechtlicher Schutz ist Ausdruck der veränderten Sozialmoral, nicht der späten Entdeckung des wahren Zwecks des 14. Amendments. Die Schwäche teleologischer Argumentation liegt vor allem in der Unfähigkeit, der mit dem gesellschaftlichen Wandel verbundenen Weiterentwicklung der Verfassung gerecht zu werden. Der einzig konsequente Versuch, Verfassungsnormen einen einzigen „Zweck" zuzuschreiben, ist der des Originalismus, der jegliche Wandlung des Verfassungsinhalts ablehnt. Diese Argumentationsfigur wird in Deutschland jedoch nicht der teleologischen Auslegung, sondern der „subjektiven Methode" zugerechnet. Im Ergebnis kann festgehalten werden, daß die Lehre von der teleologischen Auslegung keine Hilfe bei der Lösung der Probleme der amerikanischen Interpretationstheorie bieten kann.

4. Rechtsfortbildung Nach der herkömmlichen Interpretationstheorie werden Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung strikt getrennt. Die Auslegung beschränkt sich auf die Ermittlung des Sinngehalts der Norm. Bei der Rechtsfortbildung, von der gesprochen wird, wenn der Wortlaut der Norm überschritten wird beziehungsweise keine einschlägige Norm zur Verfügung steht, werden normexterne Gesichtspunkte berücksichtigt. 26 Diese Zweiteilung ist Konsequenz der herkömmlichen Interpretationstheorie, nach der im Normalfall eine Norm angewendet wird, indem der ihr innewohnende Sinngehalt erkannt und in Zusammenhang mit dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt gebracht wird. Normexterne Faktoren spielen nach dieser Theorie bei der Textauslegung keine wesentliche Rolle. Es ist jedoch offensichtlich, daß Gerichte zumindest in einer Reihe von Fällen über dieses Modell hinausgehen. In diesen Fällen scheint die Rückführbarkeit der Entscheidung auf eine Rechtsnorm ausgeschlossen. Die herkömmliche Auslegungslehre behilft sich, indem sie diese Fälle zu Ausnahmefällen erklärt. Recht werde hier nicht angewandt, sondern von den Richtern geschaffen. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Abgrenzung von Richterrecht und der Gesetzesauslegung ergeben, entstehen nicht, wenn 26 Die traditionelle Unterscheidung zwischen der Anwendung einer bereits feststehenden Norm einerseits und der Ausfüllung von Lücken im Gesetz durch außergesetzliche Gesichtspunkte andererseits wurde etwa vertreten von K. Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, Iff.

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man auf die Voraussetzung der syllogistischen Subsumtion verzichtet. Wird die Anwendung von Normen durch den Richter als rechtserzeugend verstanden, Richtern bei der Interpretation ein kreativer Spielraum eingeräumt, fällt die Akzeptanz richterlicher Wertentscheidungen leichter. Von Richtern geschaffene Rechtsnormen sind nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall. 2 7 Bei der Analyse des amerikanischen Verfassungsrechts ist deutlich geworden, daß Verfassungsinterpretation mehr als die Ermittlung normimmanenter Zwecke bedeutet. Die Verfassung ist vom Supreme Court entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen „fortgebildet" worden. Die in Deutschland verbreitete Unterscheidung zwischen Sinnermittlung durch Auslegung und Rechtsfortbildung wird der amerikanischen Interpretationsgeschichte nicht gerecht. Die Untersuchung der Entscheidungen des Supreme Court hat ergeben, daß grundlegende Entscheidungen nicht ohne Argumente begründet werden können, deren Ursprung außerhalb der Verfassung liegt. Die Entscheidungen des Supreme Court zu Equal Protection Clause und Substantive Due Process Clause können nicht als Auslegung der Verfassungsnormen im Sinne von Verstehen des Norminhalts beschrieben werden. Die Konkretisierung der amerikanischen Verfassung durch den Supreme Court ist mit dem traditionellen deutschen Modell nicht erfaßbar. Mit der deutschen Terminologie müßte man von einer „permanenten Rechtsfortbildung" durch den Supreme Court sprechen.

5. Teleologische Auslegung und amerikanisches Verfassungsrecht Die Rechtsprechung des Supreme Court wird von deutschen Beobachtern, stellvertretend seien die Arbeiten Winfried Bruggers genannt, häufig mit dem traditionellen Modell erklärt. Sie wird teilweise als teleologische Auslegung 28 und teilweise als rechtsfortbildend 29 eingestuft. Diese Einordnung scheint darauf hinzudeuten, daß das herkömmliche Interpretationsmodell die bewegte Interpretationsgeschichte der amerikani27 So etwa F. Müller, Richterrecht rechtstheoretisch formuliert, in: Richterliche Rechtsfortbildung, Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 68 f. Vgl. auch P. Kirchhof Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, ebd., S. 11 ff. sowie H. Sendler, Überlegungen zu Richterrecht und richterlicher Rechtsfortbildung, DVB1. 1988, 828 ff. 28 W. Brugger, Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, JöR N.F., Bd. 42 (1994), 571, 576. 29 Ders., Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, in: R. Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, ARSP Beiheft 37, 1990, S. 173, 184; ders. (Fn. 1), S. 429f., 434ff.

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sehen Verfassung zu erfassen vermag. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, daß vom herkömmlichen Interpretationsmodell lediglich die Begrifflichkeit geblieben ist. Der Begriff der teleologischen Auslegung wird nicht mehr im erkennenden oder verstehenden Sinne gebraucht. Mit ihm wird nicht das Erfassen des bereits feststehenden Normzwecks durch die (das Recht erkennenden) Gerichte umschrieben. Vielmehr wird es im Rahmen der „teleologischen Auslegung" für zulässig gehalten, daß die Gerichte bei der Verfassungsinterpretation moralische, politische und soziale Werturteile abgeben, daß ethische und auf Klugheit abstellende Aspekte einfließen. 30 Der Begriff der teleologischen Auslegung wird ins Uferlose ausgedehnt. Zwar hält man einerseits daran fest, daß die Gerichte das Gewollte und Gesagte zu ermitteln haben. Dabei werden jedoch eigenständige Überlegungen des Gerichts zugelassen, das sich bei Wahlmöglichkeiten an Gemeinwohlelementen zu orientieren hat. Hierdurch sei zwar nicht die Bestimmbarkeit objektiv richtiger Entscheidungen gegeben. 31 Der Supreme Court schreibe die Verfassung jedoch kontrolliert fort. Ein Überstimmen der Legislative sei zulässig, wenn gute Gründe vorlägen. 32 Die Ergebnisse der Analyse Bruggers decken sich zu einem großen Teil mit den Ergebnissen dieser Untersuchung. Der Supreme Court hat die Verfassung der Vereinigten Staaten fortgeschrieben. Der Supreme Court hat sich dabei von Argumenten leiten lassen, die dem Gemeinwohl verpflichtet waren. Die Richter des Supreme Court haben bei allen wichtigen Entscheidungen moralische Werturteile getroffen, die sie nicht der Verfassung entnehmen konnten. Es fragt sich jedoch, warum die innovative Tätigkeit des Supreme Court in ein Klassifikationsschema gepreßt werden soll, das eine solche Tätigkeit der Gerichte nicht vorsieht. Wenn man postuliert, daß ein Gericht zugleich an das von den Verfassungsgebern Gesagte und Gewollte gebunden ist und die Kompetenz zur Anpassung der Verfassung an die Erfordernisse der Zeit besitzt, bleibt ein wesentlicher, die amerikanische Diskussion prägender Punkt auf der Strecke: Die Frage der Zulässigkeit und des Umfangs richterlicher Wertungen bei der Verfassungsinterpretation. Die richterliche Entscheidungsverantwortung, die „legislative" Tätigkeit der 30

So ders. (Fn. 28), S. 576. Ders. y Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), 1, 27 ff.; ders. (Fn. 28), S. 578 f. 32 Ders. (Fn. 29), S. 186 f. Brugger, der diese Argumentation als „materiales Wertdenken" umschreibt, bezieht sich dabei auch auf die Sozialmoral. Die kreative Fortscheibungskompetenz des Gerichts sei auf Fälle zu beschränken, in denen das Gericht gute Gründe zu der Annahme habe, daß die Heranziehung einer bestimmten Gerechtigkeitskonzeption dem wirklichen, reflektierten Willen des Volkes besser entspreche als das legislative Urteil. Vor dem Hintergrund der Uneinigkeit des amerikanischen Volkes zur Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs kritisiert Brugger daher Roe ν. Wade als Überziehung der Kompetenz des Supreme Court. Ebd. 31

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Gerichte, sollte nicht unter dem Mantel des traditionellen Interpretationsschemas verborgen werden. Dies ist mit der Gefahr verbunden, daß das für die Beschreibung der richterlichen Entscheidungsfindung so wichtige moralische Element vernachlässigt wird.

6. Das Problem der „objektiven Wertordnung

"

Eng verwandt mit dem Konzept der teleologischen Auslegung ist das Postulat, daß dem Grundgesetz, insbesondere den Grundrechten, eine „objektive Wertordnung" zugrunde liegt. 3 3 Es geht hierbei nicht um die Frage, inwiefern die vom Verfassungsinterpreten geteilten Werte in die Auslegung der Verfassung einfließen. Vielmehr wird vorausgesetzt, daß in der Verfassung selbst bestimmte Werte enthalten sind. Es ist zwar unbestreitbar, daß die einzelnen Verfassungsnormen bestimmte Werte verwirklichen. Die These von der „objektiven Wertordnung" geht jedoch weiter. Die „objektive Wertordnung" wird selbst zur Auslegungshilfe. Immer wenn es zu Wertkonflikten kommt, etwa wenn verschiedene Rechtsgüter betroffen sind, soll das richtige Ergebnis durch den Rückgriff auf die dem Grundgesetz zugrunde liegende „Wertordnung" möglich sein. Strukturell gleicht diese Argumentation dem Konzept der teleologischen Auslegung. Wenn die herkömmlichen Methoden nicht zu einem eindeutigen Resultat führen, verweist man pauschal auf ein im einzelnen nicht näher begründetes Ergebnis. In beiden Fällen wird angenommen, daß die Entscheidung aus der Verfassung allein möglich ist. Aufgabe des Interpreten sei es lediglich, den „Zweck" der Norm zu erkennen beziehungsweise bei Wertkollisionen den zu bevorzugenden Wert aus einer „objektiven Ordnung" abzuleiten. Letztendlich entzieht das Konzept der „objektiven Wertordnung" richterliche Wertungen jeglicher Kontrolle. Es wird keine Diskussion zu der Frage zugelassen, welche Werte im Einzelfall vorgehen sollen. 34 Eine solche Argumentationsweise hätte im amerikanischen Verfassungsrecht kaum Aussicht auf Erfolg. Sie ähnelt am ehesten der Naturrechtsargumentation des Supreme Court um die Jahrhundertwende. Das zentrale Thema der neueren amerikanischen Verfassungstheorie sind richterliche Wertungen bei der Verfassungsinterpretation. Dieser Problemkreis wird umgangen, wenn postuliert wird, daß die bei der Verfassungsanwendung notwendigen Wertentscheidungen bereits von der Verfassung getroffen wurden und aus einer „objektiven Wertordnung" deduzierbar sind.

33

So das Bundesverfassungsgericht erstmals im Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198,

205.

34

Vgl. auch die Kritik bei F. Müller (Fn. 13), Rdn. 66.

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Π. Verfassungstheorie 1. Die Verfassungstheorie

als Quelle des Norminhalts

Ernst-Wolfgang Böckenförde erkannte die Unzulänglichkeiten der „klassisch-hermeneutischen" Methode. Diese berücksichtige die fragmentarische Natur der Verfassungsnormen nicht hinreichend. Die Verfassung habe im Vergleich zum Gesetz eine andere normativ-inhaltliche Struktur. Ihre Vorschriften seien typischerweise keine vollzugsfähigen Einzelregelungen. Die Verfassungsordnung sei eine Rahmenordnung. 35 Ein bindender Norminhalt lasse sich aus dem vieldeutigen Normtext nicht ohne Rückgriff auf eine verbindliche Verfassungs- beziehungsweise Grundrechtstheorie gewinnen. Dieser Theorie komme die Funktion einer normativen Leitidee für die Interpretation zu. Andernfalls bestehe die Gefahr des „Abbaus der Normativität der Verfassung". Unkontrolliertes Vorverständnis und darauf bezogener Konsens sowie Wirklichkeitsanalysen führten zur Verstärkung der Unbestimmtheit der Verfassung. 36 Böckenförde versuchte, ein Zwischenstadium zwischen der nicht mehr haltbaren Methode der teleologischen Auslegung und der Beliebigkeit der Topik zu erreichen. Einerseits sei die unkontrollierte Einbeziehung von außerverfassungsrechtlichen Weitungen nicht wünschenswert. Zum anderen könne der Inhalt des Normtextes nicht mit den traditionellen Methoden der Gesetzesauslegung bestimmt werden. Dennoch müsse der „Normcharakter" der Verfassung nicht aufgegeben werden. Die Lösung soll in der Aufstellung einer verbindlichen Verfassungstheorie liegen. Diese Theorie soll aus Verfassungstext und Verfassungsentstehung mit rationalen Mitteln erhebbar sein. Dadurch sollen die mit der Offenheit der Verfassungsnormen verbundenen Probleme gelöst werden. Der Gesetzgeber, nicht die Rechtsprechung, habe die Aufgabe, den materiellrechtlichen Teil der Verfassung rechtsschöpferisch zu konkretisieren. Die Verfassungsgerichtsbarkeit sei für „Gerichtskontrolle" als Gegensatz zu politischer Kontrolle verantwortlich. Eigeninitiative des Gerichts sowie ein eigener verfassungpolitischer Gestaltungsspielraum seien ausgeschlossen. Das Verfassungsgericht sei auf einen strikten, intersubjektiv nachvollziehbaren Interpretationsrahmen zu beschränken. Nur so könne Verfassungsgerichtsbarkeit so konsolidiert werden, daß die normative Geltung der Verfassung gesichert werde. „Soweit eine Verfassung ,offen* ist, kann sie daher Geltung nicht beanspruchen." 37 Böckenförde kritisiert die „klassisch-hermeneutische" Methode. Diese biete Einbruchsteilen für verdeckte interpretatorische Beliebigkeit. Böcken35 36 37

E.-W. Böckenförde Ebd., S. 2096f. Ebd., S. 2093, 2099.

(Fn. 9), S. 2091.

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forde setzt voraus, daß mit der „richtigen Verfassungstheorie" das Problem der Weitungen im Recht gelöst wird. 3 8 Mit dem Begriff der „Normativität der Verfassung" verbindet Böckenförde den Anspruch, der in der amerikanischen Interpretationstheorie mit dem Begriff der „grand theory" verknüpft wird: Die Verfassungstheorie soll die Wertungen des Verfassungsinterpreten im Einzelfall auf ein bestimmtes Ergebnis lenken. 39 Bei der Analyse der amerikanischen Verfassungstheorie hat sich die Vergeblichkeit eines solchen Ansinnens gezeigt. Die Eliminierung richterlicher Wertungen ist nur um den Preis der Aufgabe effektiver Kontrolle der Legislative durch die dritte Gewalt möglich. Böckenförde will dieses Ergebnis mit einer Verfassungstheorie umgehen. Entweder ist die Verfassungstheorie so unbestimmt, daß im Einzelfall Raum für richterliche Weitungen besteht. Oder sie ist eine „grand theory", schreibt das Interpretationsergebnis in Einzelfällen vor. In letzterem Fall enthält sie notwendig Wertungen, die ihren Ursprung außerhalb der Verfassung haben. Mit anderen Worten: es gibt nur eine Wahl zwischen der Diktatur der Legislative oder der der Judikative. 40 Ein Sowohl-Als-Auch, die Begrenzung der Weitungen der Legislative durch Gerichte, die selbst auf Weitungen verzichten, ist unmöglich.

38

Ebd., S. 2091. Böckenförde postulierte anderswo - insofern nimmt er denselben Ausgangspunkt ein wie viele Kritiker des Supreme Court seit dem legal realism - , daß eine rationale Begründung der Rangfolge von Werten nicht ersichtlich sei. Vgl. ders. (Fn. 4), S. 1534. 39 Böckenförde hat seine Auffassung inzwischen modifiziert. So beschreibt er die Grundrechtsinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht als „ein Stück rechtsschöpferisch". Ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 15. Für den Fall der Annahme „objektivrechtlicher Grundrechtsgehalte" komme es zur Abwägung zwischen verschiedenen „Grundrechtsgehalten". Der Rechtsprechung eröffne sich bei dieser Abwägung ein weiter Spielraum. Grundrechte würden zu Optimierungsgeboten (Prinzipien-Normen - vgl. dazu sogleich die Darstellung zu Alexy). Ihre Anwendung sei nicht mehr Sinnermittlung, sondern rechtsschöpferische Sinngebung. Es komme zu einer Nebenordnung parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung. Der qualitative Unterschied zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung würde eingeebnet. Ebd., S. 52ff., 60f. Alternative hierzu sei die „ Z u r ü c k n a h m e der Grundrechte auf subjektive Freiheitsrechte im unmittelbaren Verhältnis Bürger/Staat". Böckenförde entscheidet sich letztendlich nicht zwischen diesen Alternativen. Ebd., S. 72f. Zumindest hinsichtlich der zuerst geschilderten Variante scheint Böckenförde den Anspruch der „grand theory", die Möglichkeit, das Wertungsproblem im Recht durch eine aus der Verfassung ableitbare Theorie zu lösen, aufzugeben. Unklar bleibt das Verhältnis von Verfassung und richterlichen Wertungen in der zweiten Alternative. 40 Vgl. oben S. 259 sowie Mark Tushnets Ausführungen zum „Arrow's theorem" in: ders., Red, White and Blue, 1988, S. 16.

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2. Grundrechte als Prinzipiennormen Die von Robert Alexy aufgestellte „Theorie der Grundrechte" soll hier vor allem deshalb besprochen werden, weil sie besonderes Augenmerk auf das Wertungsproblem bei der Rechtsanwendung richtet. In problematischen Fällen, so Alexy, könne die Entscheidung nicht allein mit Hilfe der Logik gewonnen werden. Es seien zusätzliche Wertungen notwendig. 41 Alexy bezeichnet die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien als Schlüssel zur Lösung zentraler Probleme der Grundrechtsdogmatik. Alexy versteht unter Regeln Normen, die erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Demgegenüber seien Prinzipien Optimierungsgebote. Sie würden entsprechend den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße realisiert. Bei der Kollision von Prinzipien müsse eines der beiden Prinzipien zurücktreten. Die Frage, welches Prinzip unter bestimmten Bedingungen vorgehe, werde mit Hilfe einer Vorrangrelation entschieden. Besondere Bedeutung komme dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu. Dieser impliziere in seinem dritten Teilgrundsatz, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, ein Abwägungsgebot. 42 Prinzipien und Werte seien eng miteinander verwandt. Eine Abwägung zwischen Prinzipien bedeute eine Wertabwägung. Eine vollständige, geschlossene Wertordnung sei jedoch nur auf einer hohen Generalitätsstufe - etwa mit Begriffen wie Würde, Freiheit oder Gleichheit - erreichbar. Es gebe kaum Aussicht auf ein aussagekräftiges geschlossenes Wertesystem. Die Abwägung, räumt Alexy ein, sei keine Methode, die rationale Kontrolle in dem Sinne ermögliche, daß sie zu genau einem Ergebnis führe. 43 Alexy bleibt jedoch nicht bei diesem Ergebnis stehen. Er sieht den Ausweg in einer „rationalen Abwägung". Eine Abwägung sei rational, wenn der Präferenzsatz, zu dem sie führt, rational begründet werden könne. Zur Begründung von Präferenzsätzen könnten unter anderem dogmatische, präjudizielle, allgemeine praktische und empirische Argumente verwendet werden. Insofern gebe es Gemeinsamkeiten mit der Präzisierung vager Begriffe. Auch bei der gewöhnlichen Auslegung seien regelmäßig Abwägungen anzustellen. Für die Abwägung von Prinzipien stellt Alexy das „Abwägungsgesetz" auf: Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips sei, um so größer müsse die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein. Das Abwägungsgesetz als solches sei kein Maßstab, mit dessen Hilfe Fälle definitiv entschieden werden könnten. Es gebe jedoch ein Kriterium, indem es sage, was rational begründet werden 41 42 43

R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., 1996, S. 37. Ebd., S. 71 f., 75 f., 100 f. Ebd., S. 125, 133, 138f., 143.

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müsse. Alexy gelingt so die Verknüpfung mit seiner Theorie der rationalen juristischen Argumentation. 44 Im einzelnen beruft er sich auf die semantische und strukturelle Offenheit sowie den Prinzipiencharakter der Grundrechtsbestimmungen. Es stehe nicht fest, was durch die Grundrechtsnormen gesollt sei. Ihre Anwendung erfordere ein nicht kontrollierbares „offenes Verfahren", die Abwägung. Die Offenheit der Abwägung führe zu einem, auch gegenüber der Moral, offenem Rechtssystem. Alexy sieht auch den Zusammenhang zwischen dieser Erkenntnis und dem Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit. Er kommt zu dem Schluß, daß das Tätigwerden im Bereich der Gesetzgebung keine verfassungswidrige Kompetenzanmaßung sei, sondern etwas von der Verfassung Gebotenes.45 Alexy versucht, die Probleme, die sich aus der Offenheit der Verfassungsnormen ergeben, mit der Theorie der juristischen Argumentation zu lösen. Da es in der juristischen Diskussion letztendlich darum gehe, was geboten, verboten und erlaubt sei, sei der juristische Diskurs ein Sonderfall des allgemein praktischen Diskurses. Alexy postuliert, daß die Wertungen dieses Diskurses kontrollierbar und „rationalisierbar" seien. Er betont jedoch, daß die Diskursprozedur zwar bestimmte Ergebnisse ausschließen könne, aber mit unterschiedlichen Ergebnissen vereinbar sei. Es bestehe eine Ergebnisunsicherheit des allgemeinen praktischen Diskurses. Alexy hat sich ausführlich mit dem Problem beschäftigt, das die amerikanische Verfassungsdiskussion beherrscht, in Deutschland jedoch zu häufig nicht ernst genug genommen wird, der Frage der Wertungen bei der Rechtsanwendung. Er hat andererseits nicht die Anforderung erfüllen können, die Böckenförde an Verfassungstheorien gestellt hat: Die Aufstellung einer verbindlichen Verfassungstheorie, die aus Verfassungstext und Verfassungsentstehung mit rationalen Erkenntnismitteln erhebbar ist. 4 6 Von einer Verfassungstheorie, die allein aus Text und Genese gewonnen werde, so Alexys Replik auf Böckenförde, könne nicht die Beseitigung der Offenheit der Verfassung erwartet werden. Zu ihrer Begründung seien außerverfassungsrechtliche Prämissen erforderlich. 47 Alexys „Theorie der Grundrechte" ist vielleicht der gelungenste deutsche Versuch der Aufstellung einer Verfassungstheorie. Alexy kommt zu einem Ergebnis, das dem Beobachter der amerikanischen Interpretationstheorie vertraut ist: Eine „grand theory", eine Theorie, die die Offenheit der Verfassung unter dem Ausschluß verfassungsexterner Wertungen beseitigt, ist unmöglich 4 8 Man sollte sich von der Wunschvorstellung der „grand 44 45 46 47

Ebd., S. 144ff., 151 f. Ebd., S. 494ff. Vgl. E.-W; Böckenförde (Fn. 9), S. 2098. R. Alexy (Fn. 41), S. 515.

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theory" verabschieden, die die elegante juristische Lösung genuin moralischer und politischer Fragen verspricht. 3. Die Theorie der juristischen Argumentation Alexy verweist am Ende seiner „Theorie der Grundrechte" auf die „Theorie der juristischen Argumentation". Dies ist nicht der Ort, um die Diskurstheorie Alexys einer allgemeinen Kritik zu unterziehen. Es soll hier jedoch ansatzweise versucht werden zu klären, ob diese Theorie das die amerikanische Diskussion dominierende Problem der Wertungen im Recht lösen kann. Alexy mißt diesem Problem enorme Bedeutung zu. Von seiner Lösung hänge der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz ab. Wenn eine rationale Begründung von Wertungen nicht möglich sei, habe dies auch Auswirkungen für den Umfang der richterlichen Kompetenz. 49 Alexys Diskurstheorie beruht auf der „Sonderfallthese": Der juristische Diskurs sei ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses. Es gehe um die Richtigkeit normativer Aussagen. Der juristische Diskurs sei insofern ein Sonderfall, als er unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen wie Präjudizien und von der Rechtswissenschaft erarbeiteter Dogmatik stattfinde. Im Rahmen der juristischen Argumentation sei praktische Argumentation erforderlich. 50 Alexy hat eine Reihe von Diskursregeln aufgestellt. Sie seien Voraussetzung für die Richtigkeit normativer Sätze, legten das Ergebnis der Argumentation jedoch nicht in allen Fällen fest. Im einzelnen knüpft Alexy an die Konsensustheorie Habermas' an. Anspruch dieser Konsensustheorie ist es zu zeigen, wie begründete von unbegründeten, gültigen von ungültigen Argumenten unterschieden werden können. Der begründete Konsens wird zum Wahrheitskriterium. 51 Alexy schlägt im einzelnen die folgenden Diskursregeln vor, deren Befolgung zu einem solchen Konsens führen soll: Es bestehe eine Begründungspflicht für Aussagen (allgemeine Begründungsregel), das Recht auf freie Teilnahme am Diskurs (dem, was Habermas als „ideale Sprechsituation" bezeichnet hat), Regeln der Widerspruchsfreiheit 48 Ähnlich R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: Probleme der Verfassungsinterpretation, ders./F. Schwegmann (Hrsg.), 1976, S. 43 : „Die Vorurteilshaftigkeit des Verstehens läßt sich nicht durch den Hinweis auf eine dem zu interpretierenden Text immanente Theorie unterlaufen". Vgl. auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1994, S. 1691, der zu Recht auf die Gefahr eines Zirkelschlusses hinweist. 49 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl., 1991, S. 24, 31, 45. 50 Ebd., S. 32 ff., 263 ff., 349 ff. 51 Vgl. die Darstellung bei Alexy, ebd., S. 141, 146.

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und Wahrhaftigkeit der Diskursteilnehmer sowie das Prinzip der Universalisierbarkeit. Diese Regeln schließen nach Alexy bestimmte materielle Ergebnisse aus. So mache die Vernunftregel (Bedingung für die Vernünftigkeit von Diskursen sei der freie Zugang eines jeden zum Diskurs) etwa den Sklavenstatus des einzelnen unmöglich. 52 Alexy betont, daß die Theorie der juristischen Argumentation den juristischen Diskurs lediglich rationalisiere, nicht jedoch die Gewißheit seiner Ergebnisse garantiere. Ihre Bedeutung liege daher in ihrer Funktion als Richtigkeitskriterium für die Vernünftigkeit von Entscheidungsverfahren. 53 Alexys Diskurstheorie kommt - wie seiner Theorie der Grundrechte - das Verdienst zu, auf den Zusammenhang von Recht und Moral hingewiesen zu haben. Dies gilt insbesondere für die Sonderfallthese, nach der der juristische Diskurs ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurs ist. Alexys Theorie ist aus amerikanischer Sicht den Einwänden ausgesetzt, die anderen prozessualen Theorien entgegengebracht wurden. Diese Einwände wurden bei der Behandlung der Theorie Elys analysiert. 54 Sie gelten auch gegenüber der Diskurstheorie. Problematisch ist vor dem Hintergrund der amerikanischen Interpretationsgeschichte etwa die „Vernunftregel", nach der jeder, der sprechen kann, an Diskursen teilnehmen darf. 55 Einige der wichtigsten Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court, genannt sei hier nur Dred Scott v. Sandford, beschäftigten sich mit der Frage, ob der Sklavenstatus zulässig sei. 56 Zwar wird diese Entscheidung im Ergebnis heute einhellig abgelehnt. Dies darf jedoch nicht dazu verleiten, das Recht aller auf Teilnahme am Diskurs als prozessuales, von materiellen Werten unabhängiges Recht darzustellen. Der zweite Einwand betrifft die von der Diskurstheorie behauptete Möglichkeit, Kriterien für normativ richtige Entscheidungen der Gerichte zu liefern. Es fragt sich, ob diese Kriterien - von der eben behandelten „materiellen Komponente" der Diskurstheorie abgesehen - in der Lage sind, in einem einzigen der „hard cases" zur richtigen Entscheidung zu leiten. 57 Die Regeln der Widerspruchsfreiheit, Wahrhaftigkeit, Universalität, 52 Ebd., S. 167 ff., 171 zu Habermas' Konsensustheorie, S. 234ff. zu Alexys Theorie des allgemeinen rationalen praktischen Diskurses sowie S. 361 ff. für eine Zusammenfassung der Diskursregeln. 53 Ebd., S. 356, 358. 54 Vgl. oben S. 256. 55 R. Alexy (Fn. 49), S. 170f., 240f. 56 Dabei ist Dred Scott nicht die letzte Entscheidung zu diesem Thema. Sowohl das System der Rassentrennung, das Schwarze de facto vom Diskurs ausschloß, als auch Frauen zunächst offen, später subtiler benachteiligende Regelungen können nach Alexys „Vernunftregel" ausgeschlossen werden. Es handelt sich jeweils um genuin materielle Entscheidungen.

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die Argumentationslast- und Begründungsregeln sind so allgemein gefaßt, daß in jedem der hier behandelten Fälle bei geschickter Argumentation beide Lösungen, die der Abstimmungsmehrheit sowie die der Dissenter, mit ihnen begründbar sind. Wie soll etwa die genuin moralische Frage, ob die Rassentrennung bei gleichwertigen Institutionen eine Ungleichbehandlung darstellt, mit der Diskurstheorie beantwortet werden? Bereits die Entscheidung des Supreme Court in Brown v. Board of Education , die heute nahezu einhellig als richtig anerkannt wird, kann mit der Diskurstheorie nicht zwingend begründet werden. Der Warren-Court hätte sogar einige der Argumentationsregeln gegen sich, etwa die Argumentationslastregel, die bei dem gewünschten „overruling" eines Präjudizes eingreift. Man kann den Verteidigern von Plessy v. Ferguson auch nicht vorhalten, gegen die Regel der Wahrhaftigkeit oder Widerspruchsfreiheit zu verstoßen. Waren viele unter ihnen doch der Ansicht, daß die Rassentrennung beiden Rassen nütze. Es ist nicht ersichtlich, wie mit Hilfe der Diskurstheorie andere heute überwiegend als falsch oder überholt eingeordnete Entscheidungen ausgeschlossen werden können. 58 Wie soll die Diskurstheorie dann bei den heute ungleich schwieriger zu lösenden Problemen Rationalität garantieren? Man denke etwa an die in dieser Untersuchung behandelten Fragen des gerichtlichen Schutzes bestimmter fundamentaler Rechte oder diskriminierter Minderheiten. Schließlich hat zu der die neuere amerikanische Verfassungsdiskussion dominierenden Frage der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs ein besonders intensiver nationaler Diskurs stattgefunden, ohne daß eine Lösung in Sicht scheint. Die Diskurstheorie ist keine „grand theory". Sie kann nicht, dies betont auch Alexy, normativ richtige Entscheidungen garantieren. Es erscheint vor dem Hintergrund der amerikanischen Interpretationsgeschichte zweifelhaft, 57

Es ist darüber hinaus der grundsätzliche Einwand denkbar, daß der Diskurs selbst wenn er nach der Theorie Alexys geführt wird - in keiner Weise rationalitätsfördemd ist. Vgl. dazu O. Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in W. Krawietz/R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, 1983, S. 159, 185 ff. Alexy hat diesen Einwand nicht widerlegen können. Er berief sich lediglich darauf, daß es zumindest kein Verfahren gebe, das Erfindungs- und Urteilsvermögen rationaler kontrollieren könne als das Diskursverfahren. Die Diskurstheorie sei zwar nicht entscheidungsdefinit. Sie sichere jedoch zumindest ein „Mehr" an Rationalität. R. Alexy (Fn. 49), S. 402f., 410ff., 416f. Alexy gelang es jedoch nicht, den Beweis für diese Behauptung zu führen. Sein Argument, daß andere Verfahren auch nicht zu besseren Ergebnissen führten, besagt nichts über die Qualitäten der Diskurstheorie. 58 Man denke etwa an Lochner v. New York. Selbst die These dieser Entscheidung, daß die Theorie des Laissez faire die „richtige" Wirtschaftstheorie für die Vereinigten Staaten zum Ausgang des 19. Jahrhunderts war, die heute als einer der größten Irrtümer des Supreme Court gilt, kann mit der Diskurstheorie nicht widerlegt werden.

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ob sie überhaupt zur Lösung des Wertungsproblems bei der Rechtsanwendung beitragen kann. Die Diskurstheorie scheint an dem allen prozeduralen Theorien eigenen Mangel zu leiden, daß sie nur dort Lösungen bereithält, wo sie materielle Elemente beinhaltet. Im übrigen erscheinen die Diskursregeln zu unbestimmt formuliert, als daß sie zur Gewinnung richtiger normativer Aussagen im Rechtsanwendungsprozeß beitragen könnten. III. Verfassungsinterpretation als Konkretisierung 1. Konrad Hesse Konrad Hesse setzt wie andere deutsche Autoren bei der strukturellen Eigenart der Verfassung an. Die Verfassung regele nur in Grundzügen. Sie erhebe von vornherein nicht den Anspruch der Lückenlosigkeit oder der systematischen Geschlossenheit. Nur durch ihre Unvollständigkeit und Offenheit könne die Verfassung die Bewältigung neuer Problemlagen gewährleisten. 59 Die geschriebene Verfassung könne daher nicht die letzte Quelle des Rechts sein. Sie schaffe nur relative Konstanz. Sie bedürfe der Ergänzung durch ungeschriebenes Verfassungsrecht, das wiederum nicht gänzlich losgelöst von der Verfassung bestehen könne, sondern nur als Entfaltung, Vervollständigung oder Fortbildung der Prinzipien der geschriebenen Verfassung. Hesse betont die Funktion des Verfassungstextes. Der Verfassungswandel finde an ihm seine Grenze. Die Abweichung vom Verfassungstext stelle eine unzulässige Verfassungsdurchbrechung dar. 6 0 Probleme, die sich aus der Unbestimmtheit der Verfassung ergeben, sollen auf dem Wege der Interpretation gelöst werden. Aufgabe der Interpreten sei es, das verfassungsmäßig „richtige" Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden. 61 Hesse versteht Verfassungsinterpretation als Konkretisierung. Die juristische Interpretation trage schöpferischen Charakter. Der Inhalt der Norm vollende sich erst in der Auslegung. Konkretisierung sei nur aus einer konkreten geschichtlichen Situation heraus möglich, die die Denkinhalte, Vorurteile, das Vor-Verständnis des Interpreten geprägt haben. Hesse leitet aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit der Begründung des Vor-Verständnisses ab, die Aufgabe der Verfassungstheorie sei. Dabei sei die Konkretisierung von Verfassungsnormen immer im Zusammenhang mit dem konkreten Problem zu sehen. Die leitenden Gesichtspunkte bei diesem Konkretisierungsprozeß (Topoi) seien normativ gelenkt und begrenzt. Beim Auffinden 59

K. Hesse (Fn. 13), Rdn. 21, 23. Ebd., Rdn. 34 f., 39, 77. 61 Ebd., Rdn. 51. Zu Hesses Kritik an den herkömmlichen Interpretationsregeln vgl. ebd., Rdn. 53 ff. sowie oben S. 291. 60

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dieser Gesichtspunkte gewännen die herkömmlichen Auslegungsmethoden an Gewicht. Sachfremde Gesichtspunkte dürften nicht berücksichtigt werden. Hesse verweist auf „Prinzipien der Verfassungsinterpretation" und nennt im einzelnen die Prinzipien der praktischen Konkordanz, der Einheit der Verfassung, der integrierenden Wirkung sowie der normativen Kraft der Verfassung. Dieses „normativ geleitete und begrenzt topische Vorgehen" könne Verfassungsrecht nicht völlig rationalisieren, werde jedoch dem Anspruch „relativer Richtigkeit" gerecht. 62 Hesse ist einen Schritt weiter als diejenigen, die an der traditionellen Interpretationsmethode festhalten. Er überwindet die Hauptschwäche dieser Methode, indem er das Dogma vom Willen, vom unveränderlichen Zweck der Norm, aufgibt. Hesse akzeptiert die Wandelbarkeit der Verfassung und hält nicht am Anspruch der absoluten Bestimmbarkeit des Rechts fest. Hesse teilt jedoch nur teilweise das bei der Behandlung des amerikanischen Verfassungsrechts vorgestellte Konzept der pragmatischen Verfassungsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung der Sozialmoral. Seine Alternative des „problembezogenen, normativ geleiteten und begrenzt topischen Vorgehens" behebt einige der Unzulänglichkeiten der klassischen Auslegungsmethode. Sie akzeptiert die Notwendigkeit, daß sich die Verfassungsinterpretation an die sich ändernden tatsächlichen Verhältnisse anpassen muß. Insofern entspricht sie dem Modell der pragmatischen Verfassungsinterpretation. Dennoch bleibt Hesse s Alternative zu unbestimmt. Er spezifiziert nicht, inwiefern die Konkretisierung der Verfassung auf außerverfassungsrechtlichen Erwägungen beruht. Als einzig klare Grenze für die Verfassungsinterpretation benennt Hesse den Wortlaut. Der Verfassungstext liefert jedoch aufgrund seiner Unbestimmtheit kaum Kriterien für die Verfassungsinterpretation. Der Verweis auf Verfassungsprinzipien sagt wenig aus. Die Frage, ob ein Prinzip in der Verfassung enthalten ist und vor allem, wie es die Verfassungsanwendung im Einzelfall beeinflussen soll, kann nicht aufgrund verfassungsinterner Faktoren entschieden werden. 63 Hesse ging einen Schritt in die richtige Richtung, als er das Ideal der absoluten Bestimmbarkeit des Rechts, das Ideal einer „grand theory", aufgab. Er bemüht sich um einen Kompromiß zwischen der scheinbar unbegrenzten Unbestimmtheit der Töpik und der Starrheit des traditionellen Interpretationsmodells. Er erkennt, daß Verfassungsinterpretation nicht ohne den Einfluß des Vorverständnisses des Interpreten möglich ist und betont zu Recht die Sachbezogenheit des Rechts. 62 63

Ebd., Rdn. 60ff. Vgl. oben S. 239 und S. 269.

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Hesses Lösungsangebot des „Verfahrens der Konkretisierung von Verfassungsnormen" geht nicht weit genug. Sein Verweis auf „problembezogenes, normativ geleitetes, begrenzt topisches" Vorgehen läßt das Ausmaß des Einflusses außerverfassungsrechtlicher Faktoren im Dunkeln. Dies gilt insbesondere für die rationalisierende Wirkung, die Hesse den Prinzipien der Verfassungsinterpretation zuschreibt. Die Schwäche des Versuchs der normativen Lenkung der Gesichtspunkte durch Prinzipien der Verfassungsinterpretation wird bei genauerer Betrachtung der von Hesse angeführten Prinzipien deutlich. Hesse führt etwa das Gebot der Widerspruchsfreiheit (Einheit der Verfassung), das Gebot der Optimierung der von der Verfassung geschützten Rechtsgüter (praktische Konkordanz 64 ) und den Maßstab der funktionellen Richtigkeit an. 6 5 Diese Prinzipien können im Einzelfall gerade keine Anhaltspunkte dafür geben, welcher Interpretationsvariante der Vorzug zu geben ist. So schreibt etwa das letztgenannte Prinzip vor, daß die Judikative das funktionelle Verhältnis zum Gesetzgeber zu respektieren hat. Die Interpretationsgeschichte der amerikanischen Verfassung war jedoch gerade vom Ringen um das Verhältnis zwischen Judikative und Legislative geprägt. Es kam zu keiner allgemein akzeptierten Lösung dieses Problems. Bis heute ist umstritten, wann die dritte Gewalt zu weit in die Kompetenzen der Legislative eindringt. An der Entwicklung des amerikanischen Verfassungsrechts wird deutlich, daß auf diese Frage unterschiedlichste Antworten möglich sind. Man denke etwa an die aktivistische Rechtsprechung des Lochner-Court und des Warren-Court einerseits und die zurückhaltende Rechtsprechung des Rehnquist-Court andererseits. Auch die weiteren von Hesse angeführten Prinzipien haben sich in der amerikanischen Interpretationsgeschichte als wenig hilfreich erwiesen. So wurde etwa das Gebot der Widerspruchsfreiheit - insbesondere hinsichtlich der Übereinstimmung mit den Präjudizien - von Interpreten der verschiedensten Richtungen argumentativ verwendet. Ähnliches gilt für das Gebot der Verfassungsoptimierung. Wenn gerade fraglich ist, ob ein gewisses Recht von der Verfassung verliehen wird, oder, ob ein Rechtsgut einem anderen vorgehen soll, hilft der Verweis auf den optimalen Ausgleich der von der Verfassung geschützten Rechtsgüter nicht weiter. Hesses Lösung der Verfassungskonkretisierung durch normativ gebundenes, topisches Vorgehen kann nicht überzeugen. Es ist nicht klar, nach welchen aus der Verfassung ableitbaren Prinzipien etwa die Richtigkeit von amerikanischen Leitentscheidungen wie Plessy, Brown, Lochner oder Roe 64

Hesse räumt jedoch ein, daß dieses Prinzip nicht regele, welches Rechtsgut im Einzelfall vorgehe. 65 Ebd., Rdn. 7Iff. Kritisch zu der Verwendung bestimmter Verfassungsprinzipien wie „Einheit der Verfassung", „praktische Konkordanz", „Grundsatz der normativen Kraft der Verfassung" auch F. Müller (Fn. 13), Rdn. 387 f., 392 f. 20 Schiwek

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beurteilt werden soll. Welche Gesichtspunkte sollten bei diesen Entscheidungen als „sachfremd" ausscheiden? Hesse stellt nicht die Frage, die die amerikanische Interpretationstheorie der letzten fünfzig Jahre dominierte, die Frage nach den Quellen der verfassungsexternen Wertungen. Letztendlich kommt es auf die moralischen Vorstellungen des Interpreten an, eine Erkenntnis, vor deren Konsequenz Hesse zurückscheute.

2. Friedrich

Müller

Friedrich Müller geht wie Konrad Hesse davon aus, daß der Verfassungstext die Verfassungsanwendung nicht determiniert. Die Verfassung müsse konkretisiert werden, d.h. für jeden Einzelfall müsse aus dem „Normprogramm" (der Interpretation des Normtextes) und dem „Normbereich" (dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt) die „Entscheidungsnorm" konstruiert werden. 66 Die „Entscheidungsnorm" ist nach Müller das Ergebnis eines Konkretisierungsprozesses, in den auch die Eigenheiten des Sachverhalts einfließen. Rechtsanwendung beinhalte mehr als den syllogistischen Schluß. Müller führt dies auf die Konkretisierungsbedürftigkeit zurück, die aus der Verwendung unbestimmter Ausdrücke folge. Wertungen könnten bei der Konstruktion der „Entscheidungsnorm" nicht ausgeschaltet werden. Müller lehnt die herkömmliche Vorstellung ab, daß es bei der Interpretation um das Erfassen des „Willens des Gesetzes oder Gesetzgebers" gehe. Es gebe keinen Anlaß, das Willensdogma in den nachpositivistischen Rechtsauffassungen beizubehalten. 67 Rechtsprechung bedeute nicht bloßen Nachvollzug der Wertungen der Legislative. Sie habe grundsätzlich (und nicht nur im Fall der Rechtsfortbildung) einen schöpferischen Charakter. 68 Müller lenkt die Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft weg von den Normtexten zu den entscheidenden Juristen. Durch die Feststellung, daß die Entscheidungsnorm erst im Einzelfall geschaffen werde, ändere sich der Forschungsgegenstand der Jurisprudenz. Es gehe nicht mehr um das bloße Verstehen, um die Sinnermittlung von Normen. Erst in der Rechtsanwendung werde die Entscheidungsnorm für den einzelnen Fall geschaffen. Der Richter werde zum Herrn über den Normtext. 69 Folglich rücke die Rechtsanwendung im Einzelfall in den Vordergrund. Die Unvermeidlichkeit richterlicher Wertungen dürfe jedoch nicht zur Aufgabe der Forderung nach Objektivität führen. Die erforderlichen und tat66 67 68 69

F. Müllen ebd., Rdn. 16. Ebd., Rdn. 86, 262ff., 274ff. F. Müller (Fn. 27), S. 70f. Ders. (Fn. 13), Rdn. 284, 288.

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sächlich erfolgten Wertungen müßten offengelegt werden. Gleichzeitig könne nicht am Anspruch auf vollständige Rationalität der Rechtsbildung festgehalten werden. Aufgrund des Entscheidungs- und Wertungscharakters des Rechts könne das Ziel der Rechtswissenschaft nur die weitgehende Rationalität der Rechtsbildung sein. Müller besteht auf der Bindung des Richters an den Normtext. Topische Argumentation sei daher auf solche Gesichtspunkte zu begrenzen, die mit dem Normtext vereinbar seien. 70 Bei der Konkretisierung der Normtexte unterscheidet Müller zwei Gruppen von Konkretisierungselementen. Die erste Gruppe umfasse Regeln der Textinterpretation. Diese Regeln seien durch Gesichtspunkte zu ergänzen, die sich aus dem Normbereich ergäben. Die canones seien bei der Textinterpretation erforderlich, jedoch ergänzungsbedürftig. Müller fordert eine praxisbezogene Reflexion juristischer Methodik, die Einbeziehung von Sachaspekten.71 Im Gegensatz zu der Mehrzahl der deutschen Autoren räumt Müller den Einfluß „politischer Elemente" ein. Er kritisiert, daß diese Elemente häufig verdeckt wirkten, etwa unter den Bezeichnungen „Wertsystem", „Wertordnung", „normative Kraft der Verfassung", „Güterabwägung" etc. in die verfassungsrechtliche Diskussion eingeführt würden. Vorzugswürdig sei die ehrliche Kennzeichnung dieser Elemente als verfassungspolitisch. Der Einfluß dieser Elemente finde jedoch dort seine Grenze, wo mit dem Mittel des Normtextes vorentschieden worden sei. Müller fügt jedoch einschränkend hinzu, daß juristische Methodik aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen nicht bei politischen Rechtfertigungspraktiken stehenbleiben dürfe. Folglich gingen direkt normtextbezogene Elemente den nicht direkt normtextbezogenen Elementen vor. 7 2 Müller gelingt es trotz seines normtheoretischen Ausgangspunkts, „politische" oder moralische Argumente in sein Interpretationsmodell einzubeziehen. Er erkennt die Wertungsanfälligkeit der Verfassungsinterpretation an und räumt ein, daß in bestimmten Fällen die herkömmlichen methodischen Konkretisierungselemente nicht ausreichen. Insofern ist Müller eine Analyse gelungen, die das Wertungsproblem bei der Rechtsanwendung ernst nimmt. Im Vergleich zu den vorgestellten amerikanischen Interpretationstheorien bleiben jedoch einige Fragen offen. So ist die Rolle der Präjudizien nicht geklärt. Der Verweis darauf, daß moralische Argumente hinter normtextbezogene Elementen zurücktreten müssen, hat einen wahren Kern. Der eindeutige Verfassungstext geht vor. Die amerikanische Interpretationsgeschichte hat jedoch gezeigt, daß diese Fälle die Ausnahme sind. Es fragt 70 71 72

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Ebd., Rdn. 119ff., 269f., 308ff. Ebd., Rdn. 348 f., 397. Ebd., Rdn. 425 ff., 437.

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sich, ob man in allen anderen Fällen bei dem von Müller behaupteten Vorrang normtextbezogener Elemente bleiben kann. Bei fast allen behandelten amerikanischen Fällen entschied sich der Supreme Court gegen bestimmte normtextbezogene Elemente, insbesondere gegen historische Elemente. Häufig stand auf der anderen Seite, man denke etwa an Brown v. Board of Education , lediglich ein moralisches Argument. Müllers Ansatz kommt jedoch das Verdienst zu, außerhalb der Verfassung liegende Faktoren zu berücksichtigen, die den Prozeß der Verfassungsinterpretation beeinflussen.

IV. Verfassungsinterpretation als Akt richterlicher Verantwortung 1. Interpretation als Entscheidung der Rechtsvernunft Martin Kriele beginnt im Gegensatz zu den meisten deutschen Autoren nicht mit der „normativen Frage", welche Methode der Verfassungsinterpretation aus der Struktur der Verfassung folgt. Er bemüht sich zunächst, den tatsächlichen Denkvorgang des Juristen bei der Normanwendung zu beschreiben. Dabei geht er vom konkreten Rechtsproblem aus. Nur im Ausnahmefall könne einem Lebenssachverhalt ein Rechtssatz zweifelsfrei im Wege der Subsumtion zugeordnet werden. In der Regel müßten sich Juristen zunächst an den Präjudizien orientieren. Eine Abweichung von den Präjudizien könne nur mit „guten Gründen" gerechtfertigt werden. 73 Der Rechtstext könne nur richtig interpretiert werden, wenn ihm die Intention der Vernünftigkeit und Unparteilichkeit unterstellt werde. Kriele betont, daß es keine notwendige Verbindung zwischen Gerechtigkeit und gesetztem Recht gebe. Davon sei jedoch zu unterscheiden, daß bei der praktischen Rechtsanwendung vorausgesetzt werde, daß die Rechtsnorm einen vernünftigen Inhalt habe und dem Allgemeininteresse diene. 74 Der einzige Unterschied zwischen juristischer und rechtspolitischer Argumentation bestehe darin, daß erstere an die Entscheidungen der rechtssetzenden Gewalt und präsumtiv an die Präjudizien gebunden sei. Davon abgesehen seien die Struktur der rechtspolitischen und juristischen Argumentationsweise vergleichbar. Es gehe um die Frage, welche der möglichen Normhypothesen dem Allgemeininteresse oder, bei Gruppeninteressen, dem relativ fundamentalsten diene, mithin am „vernünftigsten" sei. 75 Dennoch habe die Verfassungsinterpretation eine rechtliche Natur. Die Präjudizienvermutung gewährleiste, daß sich das Verfassungsgericht an über den Einzelfall hinausweisenden Maximen orientiere. Nur so seien die Einflüsse von 73 74 75

M. Kriele (Fn. 18), S. 163 f. Ebd., S. 167, 169 ff. Ebd., S. 179, 195, 198.

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Ideologien und Interessen begrenzbar. Es könne verhindert werden, daß sich das Verfassungsgericht in ein politisches Organ verwandele. 76 Rechtsanwendung ist nach diesem Modell im Regelfall von dem Bemühen geprägt, eine gerechte Interessenabwägung zu treffen. Krieles Ansatz ist insofern neu, als er nicht von einem Normmodell ausgeht, aus dem abstrakt bestimmte Auslegungsrichtlinien deduziert werden. Vielmehr bemüht sich der Ansatz, der Wirklichkeit gerecht zu werden. Ein Beispiel für diese Anstrengung sind die Ausführungen zur Rolle der Präjudizien bei der Rechtsanwendung, ein von der deutschen Methodenlehre zumeist stiefmütterlich behandeltes Gebiet. Im Gegensatz zum hergebrachten Auslegungsmodell beschäftigt sich Kriele intensiv mit dem Problem der Wertungen im Recht. F. Müller räumt zwar die Notwendigkeit moralischer Elemente bei der Rechtsanwendung ein, billigt ihnen in seinem normtheoretischen Modell jedoch nur einen untergeordneten Platz zu. Kriele stellt die Frage der Wertung im Recht in den Mittelpunkt, wenn er behauptet, daß der juristischen und der verfassungspolitischen Argumentation die gleichen Strukturen zugrunde lägen. Die bei der Anwendung abstrakter Normen unausweichlichen Wertungen werden nicht verschwiegen oder hinter Begriffen wie „teleologischer Auslegung" und „Verfassungstheorie" versteckt. Kriele bekennt sich zur Entscheidungsverantwortung des Norminterpreten. 77 Insofern wird sein Modell (von den bisher vorgestellten Modellen) der amerikanischen Interpretationsgeschichte am besten gerecht. Es ähnelt in seinem Gemeinwohlbezug dem amerikanischen Pragmatismus. Krieles Vertrauen in Präjudizien als Mittel der Verhinderung „politischer Verfassungsrechtsprechung" kann hier vor dem Hintergrund der amerikanischen Erfahrung nicht geteilt werden. Unbestreitbar ist, daß das Prinzip der stare decisis einen mäßigenden, „rationalisierenden" Einfluß auf die Verfassungsinterpretation des Supreme Court ausgeübt hat. Es hat freilich nicht verhindern können, daß wichtige, „politische", d.h. letztendlich nur mit moralischen Erwägungen begründbare, Entscheidungen des Supreme Court getroffen wurden. 78 76

Vgl. M. Kriele (Fn. 14), Rdn. 29 ff. Kriele setzt ebd. die Präjudizien Vermutung mit Herbert Wechslers „neutralen Prinzipien" gleich, wird damit aber Wechslers Ansinnen wohl nicht ganz gerecht. Wechsler wandte sich zwar - wie Kriele - gegen von politischen Gesichtspunkten dominierte ad-hoc-Entscheidungen. Er vertraute jedoch hierzu nicht auf das Prinzip der stare decisis, das sich als nicht robust genug erwiesen hatte, um die Innovationen des Warren-Court zu verhindern. Vielmehr strebte er Prinzipien an, die eine „rationale Begründung" der Entscheidungen des Verfassungsgerichts möglich machen. Vgl. dazu oben S. 233. Zur Verbindlichkeit von Präjudizien vgl. auch Krieles ausführliche Diskussion in: (Fn. 18), S. 243 ff. 77 Vgl. M. Kriele (Fn. 18), S. 312ff.

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2. Die Lehre vom Vorverständnis Josef Esser versuchte ebenfalls, das herrschende Selbstverständnis der Rechtsanwendung zu korrigieren, nach dem sich die Rechtsanwendung in einem Prozeß nachvollziehbarer Erkenntnisakte aus Rechtsnormen vollzieht. Es werde unterstellt, daß das Normgebilde, das der Richter anzuwenden hat, bereits „fertig" sei. Eine Ursache dieser Denkweise liege in der Beschränkung der juristischen Aufmerksamkeit auf den vorgegebenen Normtext. Gegenstand der Methode dürfe jedoch nicht die ausschließliche Beschäftigung mit Normen sein, wenn sie sich nicht zuvor mit der Entscheidung und ihren Horizonten und Auswahlperspektiven befasse. 79 Esser hob die Rolle der Dogmatik, der Erarbeitung innersystematischer Beurteilungsmerkmale in einem Ordnungssystem, hervor. Ihr rechtspolitischer Wert liege in der Vermeidung ständiger Neuargumentation. Esser beschrieb jedoch auch den innersystematischen Charakter der Dogmatik. Dogmatik sei zunächst das Ausgehen von unveränderlichen Autoritäten. Es sei dem Rechtsfinder überlassen, sie mit dem Vorverständnis der jeweiligen Konfliktlage in Einklang zu bringen. Esser wandte sich gegen eine positivistische Dogmatik, die von der Verbindlichkeit vorgegebener Wertungen und symbolisierender Begriffe ausgeht. Sie lasse keinen Raum für kritisches Denken aus historischer und rechtspolitischer Sicht. „Offiziell" seien nur innersystematische Kriterien und Perspektiven zugelassen worden. 80 Wie Kriele betonte Esser die Eigenverantwortung der rechtsprechenden Gewalt. Der Rechtsprechungsauftrag schließe angesichts begrenzter Vornormierung durch Überlieferung und Gesetz notwendig auch dort die Legitimation zur Rechtsschöpfung ein, wo inhaltlich Vorgeordnetes fehle. Zur Anwendung des Rechts sei ein Willensakt erforderlich, der mit dem Verstehen der Norm nicht identisch sei. Das Gesetz, als Programmierung in vieler Hinsicht unklar und unvollständig, sei auf die Rückinformation aus dem Anwendungsprozeß angewiesen. Es komme nicht nur auf den Text, sondern auch auf den Konsens über die Vernünftigkeit zwischen den Wertungsvorstellungen des Rechtsanwenders und der Rechtsbetroffenen an. 81 Esser lenkte die Aufmerksamkeit auf das Vorverständnis, die allgemeinen Denk- und Verständnisbedingungen, die nicht nur sach- und sprachlogische Bedingungen des Interpretationsverstehens seien, sondern auch die Richtigkeitskontrolle des juristischen Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses 78

Vgl. dazu oben S. 267. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 17, 74, 82. 80 Ebd., S. 91, 94, 96. 81 Ebd., S. 18, 76, 116ff. 79

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beherrschten. 82 Die Verantwortung des Interpreten beginne mit seiner Vorbeurteilung der Sach- und Rechtslage in bezug auf die mögliche Problematik. Die Einstellung des Befragenden zum Text entscheide die Interpretationsmöglichkeiten vor. Diese Einstellung werde jedoch von seinen Erwartungen an den Text präjudiziell, von seinem gesellschaftlich-historischen Horizont. Nicht nur logische oder philosophische Einsichten bestimmten die Erwartungen der Rechtsanwenders, sondern auch seine Zeit- und Gesellschaftsinteressen, die ihm als Kompaß für die Richtung der Befragung dienten. Die Auswahl unter den meist in Anlehnung an Savigny verwandten „Methoden" werde aus einer teleologischen Richtigkeitskontrolle des Ergebnisses unter dem Gesichtspunkt der Akzeptierbarkeit in einer gegebenen Sozialordnung gesteuert. 8 3 Esser gab jedoch nicht das Ideal der rationalen Rechtsanwendung auf. Die Subjektivität des Interpreten könne überwunden werden. Er verlangte die Nachprüfbarkeit des rechtspolitischen Gedankengangs, die adäquate Erfassung des Sprachmediums durch den Richter sowie die adäquate Begründung der Entscheidung. Der Prozeß der Normanwendung sei Schritt für Schritt durch Überlegungen der Brauchbarkeit und Akzeptabilität unterbrochen. Dabei werde der Textinhalt nicht mit einer bestimmten Methode erfaßt. Dem Normanwender gehe es darum, den Text so zu „verstehen", daß er anhand der „ratio" eine befriedigende Entscheidung fällen könne. Die Normbefragung stehe unter dem entscheidungsbezogenen Vorverständnis. Der Interpret werde zum Vermittler zwischen gesellschaftlichem Bewußtsein und dogmatischer Ordnungstradition. Alternativen zu diesem Modell seien lediglich ein streng dogmatisiertes oder ein streng ideologisiertes Recht. Esser wandte sich nachdrücklich gegen die totale Systemautonomie des Rechts. Sie verbiete jede kritische Reflexion des Interpreten über sein Vorverständnis und damit auch jede rationale Richtigkeitskontrolle und führe „das ideologisch abgedichtete und sich autonom gebärdende Rechtssystem in die Arme der politischen Manipulation". 84 Esser hielt eine Richtigkeitskontrolle der richterlichen Entscheidung für möglich. Er wies auf die Bedeutung topischer Denkformen hin. Sie seien unverzichtbar für die Einschleusung metadogmatischer Wertungsgesichtspunkte und die Richtigkeitsgewähr der Entscheidung. Er beschäftigte sich mit der Bedeutung des Wertkonsens. Dieser werde vom positiven Recht rezipiert und kontrolliert. Es handele sich um als herrschende Wertvorstellung anerkannte Entscheidungsgesichtspunkte. Über die Gründe der Konsensbildung finde kein Gericht statt. Der Richter trete nicht aus der Dimen82 83 84

Ebd., S. 22f. Ebd., S. 122f., 126. Ebd., S. 133 ff., 139 ff.

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sion der gesellschaftlichen Erfahrung in die Sphäre des ideologischen Meinungskampfes. Seine eigene Werterfahrung werde durch seine gesellschaftliche Kommunikation begrenzt und bedingt. 85 Essers Behandlung vorpositiver, rechtspolitischer Einflüsse auf das Recht ist für die deutsche Interpretationstheorie ungewöhnlich. Esser löste sich wie Kriele von dem in Deutschland herrschenden normtheoretischen Ausgangspunkt und befaßte sich mit der Situation des Richters. Beide Autoren betonten die richterliche Entscheidungsverantwortung bei der Rechtsanwendung und lehnten die in Deutschland verbreitete Vorstellung ab, daß mit Hilfe der Dogmatik Entscheidungen in konkreten Einzelfällen „aus der Rechtsnorm heraus" möglich seien, d.h. ohne die Einbeziehung von außerhalb der Norm herrührenden Wertungsmomenten. Sie verabschiedeten sich von der Wunschvorstellung einer „grand theory". Esser kommt das Verdienst zu, die Strukturen der außerrechtlichen Einflüsse aufgehellt zu haben. Vieles von dem, was Esser zum Vorverständnis schrieb, wurde in den Vereinigten Staaten unter der Thematik Recht und Sozialmoral diskutiert. Kriele und Esser gingen über den legal realism hinaus, als sie die Vernunft beziehungsweise die Autorität des Rechts betonten. Sie haben mit ihm das Verlangen nach der Aufhellung der richterlichen Wertungen gemein. Sie teilten auch die Beobachtung des amerikanischen Pragmatismus, nach der das Recht, wenn es schon nicht in jedem Einzelfall von einer Interpretationstheorie vorhergesagt werden kann, zumindest die Tendenz hat, die Verwirklichung der von der Gemeinschaft akzeptierten Werte anzustreben. V. Weitere Theorien zur Verfassungsinterpretation Die bisherige Darstellung hat versucht, Grundlinien der deutschen Interpretationstheorie nachzuzeichnen. Die Mehrzahl der deutschen Autoren auf dem Gebiet der Verfassungsinterpretation kann einer der behandelten Richtungen zugeordnet werden. Bevor eine Bewertung der deutschen Lösungsversuche vor dem Hintergrund der amerikanischen Interpretationsgeschichte versucht wird, sollen überblicksartig einige deutsche Autoren behandelt werden, deren Ansatz von den bisher vorgestellten Modellen abweicht. 86 85

Ebd., S. 156, 165. Die Darstellung dieses Abschnitts erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zur Problematik der Wertbezogenheit und Wandelbarkeit des Rechts vgl. insbesondere E. Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, ZRP 1977, Iff.; R. Dreier, Recht - Moral - Ideologie, 1981; C. Gusy, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Faktor, EuGRZ 1982, 93 ff.; J. Isensee, Die Normativität der Verfassung und der politische Prozeß, in: Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik, A. Kimmel (Hrsg.), 1995, S. 25 ff., besonders S. 41 ff.; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Das 86

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Zunächst ist Ehmkes topisches Modell der Verfassungsinterpretation zu nennen. Ehmke betonte die strukturelle Offenheit der Verfassung. Angesichts der Knappheit des Textes und der Weite und Unbestimmtheit der Verfassung ergebe sich die Notwendigkeit kontinuierlicher Rechtsfortbildung. 87 Interpretationsfragen von einigem Schwierigkeitsgrad würden von dem bewußten oder unbewußten Vorverständnis entschieden. Im Verfassungsrecht sei für logische Schlüsse im Sinne des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideals nur sehr begrenzt Raum, so daß die Frage aufzuwerfen sei, welchem verfassungsrechtlichen Vorverständnis gefolgt werden solle. Die Antwort, die Ehmke in der Tradition der Topik gibt, lautet: „Der Konsens der Vernünftig- und Gerecht-Denkenden". Hierunter fallen einerseits Richter und Rechtslehrer, andererseits das ganze Gemeinwesen. Ehmke schließt nicht aus, daß sich die „Vernünftig- und Gerecht-Denkenden" irren können. In diesem Fall „laufe die Sache eben schief*. 88 Häberle hat die Wechselbeziehung von Zeit und Verfassung thematisiert. Er betont die Bedeutung der Flexibilität der Verfassung. Eine Verfassung könne sich nur in der Zeit halten, wenn sie mit ihr gehe. 89 Häberle vertritt das Konzept einer „lebenden Verfassung". Verfassungsänderung und Verfassungswandel durch Auslegung unterschieden sich mehr in der formalen Struktur als im praktischen Ergebnis. Dabei könne das Problem des Verfassungswandels innerhalb der hergebrachten Interpretationsmethoden gelöst Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, M. Piazolo (Hrsg.), 1995; M. Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Rechtsprechungslehre, W. Hoppe/W. Krawietz/M. Schulte (Hrsg.), 1992, S. 179ff., besonders S. 184f., 191; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §21; ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl., 1996, Kapitel 9, 33. Die Fragen der Wertungen im Staatsrecht und des Verhältnisses von Recht und Politik hatten bereits zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre geführt. Vgl. dazu etwa M. Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, AöR 102 (1977), 161 ff.; D. Wyduckel, lus Publicum, 1984, S. 316ff. m.w.N. Zum Konzept des nachpositivistischen Rechtsrealismus, der sich um ein zeitgemäßes Verfassungsverständnis bemüht, vgl. auch ebd., S. 322ff.; ders., Normativität und Positivität des Rechts, in: Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit, Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, A. Aarnio/S. L. Paulson/O. Weinberger/G. H. v. Wright/D. Wyduckel (Hrsg.), 1993, S. 437, 462ff. sowie M. Schulte, Recht, Staat und Gesellschaft - rechtsrealistisch betrachtet, ebd., S. 317 ff. 87 H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1961), 53, 62 (zugleich abgedruckt in: Probleme der Verfassungsinterpretation, R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), 1976, S. 5Iff.). 88 Ebd., S. 71 f. 89 P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), 111, 115 f. (zugleich abgedruckt in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 59ff. sowie in: Probleme der Verfassungsinterpretation, R. Dreier/ F. Schwegmann (Hrsg.), 1976, S. 293 ff.).

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werden. Diese Methoden bildeten das „Material", die Grundlage der Auslegung. Der Methodenkanon werde geöffnet. Die Interpretationsmethoden und die Rechtsnorm selbst trügen den Zeitfaktor in sich. Eine Verfassung könne sich so durch Auslegung ändern. Verfassungsänderungen könnten durch Interpretation überflüssig gemacht werden. Die Grenze der Interpretation liege im Verfassungstext. Sein Inhalt folge jedoch aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Ziel aller Auslegung sei ein zukunftsoffenes Verfassungsverständnis sowie ein gerechter Interessenausgleich. 90 Häberle hat diesen Ansatz ausgebaut. Eine ausführlichere Darstellung muß hier aus Platzgründen unterbleiben. Hingewiesen werden soll zumindest auf Häberles Modell der Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß, auf das pluralistische Modell der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". 91 Häberle hat dieses Modell weiterentwickelt und den Begriff der Grundrechtskultur als integrierender Teil der Verfassungskultur eines Volkes eingeführt: Grundrechte beanspruchten weniger juristische Geltung. Sie entwickelten sich in offenen Gesellschaften im Verfahren der Interpretation. Der rein juristische Ansatz müsse ins Kulturelle geweitet werden. In diesem Zusammenhang komme der Grundrechtsvergleichung besondere Bedeutung zu. Häberle verweist auf das gemeinsame europäischatlantische Erbe, das sich im Verfassungsstaat kristallisiere. 92 Der Zusammenhang zwischen dem Wandel des Bewußtseins des Rechtsanwenders und dem Wandel der Rechtsordnung stand im Zentrum einer Untersuchung Würtenbergers. 93 Würtenberger wies auf die Abhängigkeiten des Juristen vom kollektiven Wert- und Gerechtigkeitsbewußtsein und damit den dominanten geistigen Strömungen einer Epoche hin. Er untersuchte den Einfluß des Zeitgeistes auf das Rechtsbewußtsein, das über das politisch-rechtliche Bewußtsein, die sozialethischen Vorstellungen und das 90

Ebd., S. 121 ff., 129 f., 134ff. Vgl. hierzu Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, besonders S. 121 ff., 155 ff. 92 Ders., Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913, 915 ff. sowie ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. Vgl. in diesem Zusammenhang auch H. Vorländer, Verfassung und Konsens, 1981. Vorländer kommt zu dem Ergebnis, daß an die Verfassung der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie andere Funktionsanforderungen gestellt werden müssen als an die Verfassung der rechtstaatlich organisierten liberalbürgerlichen Gesellschaft. Die Verfassung in der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie müsse in ihrer Normstruktur offen sein, um in ihrer Konsensualität bestehen zu können. Ebd., S. 35Iff. 93 Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991. Würtenberger versteht unter Zeitgeist mehr als kurzlebige gesellschaftliche Bewegungen oder Moden des Tages, versteht unter ihm (nach Herder) „die gemeinsame geistige Basis einer Epoche", ebd., S. 20. Sein Zeitgeistbegriff entspricht daher ungefähr dem dieser Untersuchung zugrundeliegenden Begriff der Sozialmoral. Vgl. oben S. 25. 91

D. Einzelne deutsche Stellungnahmen zur Verfassungsinterpretation

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Rechtsgefühl auf die Rechtsanwendung einwirke. 94 Dabei betonte Würtenberger, daß die Norminterpretation nur zum Teil vom Gesetzgeber bestimmt werde. Hinzu komme die autonome Entscheidung des Interpreten, die wiederum von dessen Sozialisation, Rechtsverständnis und Rechtsgefühl beeinflußt werde. Er hob den Zusammenhang zwischen dem Wandel der Rechtsordnung und dem sprachlichen Wandel hervor. Auch dem gesetzesgebundenen Richter eröffneten sich zwangsläufig Bereiche schöpferischer Rechtsfindung. Sowohl der soziokulturelle Erfahrungshorizont als auch das Rechtsbewußtsein des Richters gingen in dessen Rechtsprechung ein. 9 5 Es sei die Aufgabe von Rechtsprechung und Dogmatik, die Interpretation der Rechtsordnung mit den sich wandelnden Wert-, Gerechtigkeits- und Richtigkeitsvorstellungen in Einklang zu bringen. Würtenberger kritisierte folgerichtig die bereits behandelten Versuche eines Teils der Methodenlehre, die Einflüsse der Sozialmoral auszublenden und auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers" abzustellen. 96 Würtenberger verteidigte schließlich die demokratische Legitimität zeitgeistorientierter Rechtsfortbildung. Hierbei griff er auf eine Vielzahl von Argumenten zurück, die in dieser Untersuchung bei der Behandlung des „Legitimationsproblems" im amerikanischen Verfassungsrecht behandelt wurden. Problematisch erscheint jedoch der Anspruch Würtenbergers, bei der Rechtsfortbildung „mittelmäßige Durchschnittswertungen" herauszufiltern und „Irrwege der Sozialmoral" zu vermeiden. 97 Distanz zum kollektiven Rechtsbewußtsein sei immer dann geboten, wenn dieses manipuliert und demagogisch verführt werde. Drohe ein Verfall der bewährten Standards sozialen Zusammenlebens, habe die Rechtsprechung eine edukatorische Funktion. Hier seien unreflektierte und meist auch manipulierte Gerechtigkeitsvorstellungen inkompetent und außer acht zu lassen. 98 Vor dem Hintergrund der amerikanischen Erfahrung ist vor Versuchen zu warnen, die „richtige Sozialmoral" von „falschen Vorurteilen" zu trennen. 99 94 Ebd., S. 11 ff., 34f., 96ff. Siehe auch die Beispiele, die Würtenberger für den Wandel des sozialethischen Bewußtseins und des Rechtsgefühls anführt. Ebd., S. 116ff. Viele dieser Beispiele (Sterbehilfe, Sexualmoral, Schwangerschaftsabbruch, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Rechtsgehorsam) haben sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten zu Diskussionen über die Rolle des Richters bei der Rechtsanwendung geführt. 95 Ders., Rechtsprechung und sich wandelndes Rechtsbewußtsein, in: Rechtsprechungslehre, W. Hoppe/W. Krawietz/M. Schulte (Hrsg.), 1992, S. 545, 550f. 96 Ders. (Fn. 93), S. 157 ff. Zu weiteren deutschen Autoren, die das Thema der richterlichen Wertungen problematisieren, vgl. die Nachweise ebd., S. 166, Fn. 50ff. Zum Verhältnis von Logik, Weitung und Kreativität im Recht siehe besonders J. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999. 97 Ebd., S. 235 f. 98 Ders. (Fn. 95), S. 557.

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Selbst Richter, die aus heutiger Sicht „falsche" Entscheidungen wie Dred Scott, Plessy und Lochner trafen, waren der Auffassung, die „richtigen Werte" gegen den „falschen Zeitgeist" zu verteidigen. Auch die Rassentrennung und die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen gehörten zu den nach damaliger Auffassung „bewährten Standards des sozialen Zusammenlebens". Nur derjenige, der moralische Werte mit einem Absolutheitsanspruch vertritt, wird in der Lage sein, bestimmten Entwicklungen der Sozialmoral zu widerstehen. Richter, die an von der Sozialmoral überholten Werten festhalten, müssen sich der Konsequenzen ihres Tuns bewußt sein. Sie riskieren, der Gesellschaft ihr Weltbild aufzuzwingen, und somit das zu tun, was im amerikanischen Verfassungsrecht in Anlehnung an die berühmte Entscheidung als „Lochnerizing" verrufen ist. Eine ausführliche Analyse der in diesem Abschnitt überblicksartig dargestellten Werke muß hier unterbleiben. In mancher Hinsicht bieten sich Parallelen zu den im dritten und vierten Abschnitt ausführlicher besprochenen Autoren. Gemeinsamkeiten bestehen auch zu den amerikanischen Autoren, die in dieser Untersuchung dem Pragmatismus zugerechnet wurden. Hervorzuheben ist der von Häberle verwandte Begriff der Verfassungskultur. Hat doch Cardozo zu Beginn dieses Jahrhunderts auf denselben (deutschen) Begriff verwiesen, als er die gemeinwohlorientierte „Methode der Soziologie" beschrieb. 100 Die in den letzten Abschnitten vorgestellten Autoren bemühten sich um eine wirklichkeitsnahe Beschreibung der Verfassungsinterpretation. Der Einfluß rechtsvergleichender Aspekte, namentlich solcher mit Ursprung im amerikanischen Rechtskreis, ist in vielen der zuletzt besprochenen Werke unverkennbar.

E. Zusammenfassung zu den deutschen Interpretationstheorien I. Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Interpretationstheorien Beim Vergleich von deutschen und amerikanischen Interpretationstheorien fällt der unterschiedliche Ausgangspunkt auf. Während die deutsche Lehre bei der Normstruktur ansetzt, geht es in der amerikanischen Verfassungstheorie vor allem um einzelne Entscheidungen des Supreme Court. 99

Vgl. hierzu auch die sich an Würtenbergers Vortrag anschließende Diskussion auf dem Zweiten Internationalen Symposium Rechtsprechungslehre, Münster 1988, insbesondere den Diskussionsbeitrag von Ogorek. Ebd., S. 559, 565 f. 100 Ygi 0 b e n § 213. Ähnlich Heinrich Henkel: Die Verhaltensanforderungen der Sozialmoral stellten Vorformen der Rechtsnormen dar, die als „Kulturnormen" in das positive Recht eingingen. Dabei sei nicht nur die Rechtssetzung, sondern auch die Rechtsanwendung an der Sozialmoral ausgerichtet. Ders., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 89f.

E. Zusammenfassung zu den deutschen Interpretationstheorien

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Esser bemerkte treffend, daß der Unterschied zwischen dem kontinentalen und dem angelsächsischen Rechtsdenken darin bestehe, daß bei ersterem die Rückbeziehung auf ein System objektiv vorhandener Normen vorausgesetzt werde, „während im angelsächsischen Richterrecht die rechtspolitischen Gründe für jede neue Einstellung gegenüber den precedents offen als solche argumentiert werden. Dies liegt an der verschiedenen Einstellung zur rechtsschöpferischen Verantwortung des Urteils." 1 0 1 Man kann sagen, der deutsche Ansatz ist norm-, der amerikanische Ansatz ist wirklichkeitsorientiert. Dies gilt insbesondere für das common law, wo richterliche Zweckmäßigkeitserwägungen seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsanwendung sind. Was das amerikanische Verfassungsrecht anbelangt, kann Essers Beobachtung nicht völlig zugestimmt werden. Die Frage, inwiefern der Supreme Court befugt ist, bei der Interpretation der Verfassung rechtspolitische Gesichtspunkte einfließen zu lassen, inwieweit ihm rechtsschöpferische Verantwortung zukommt, ist bis heute heftig umstritten. Die Ursachen der unterschiedlichen Vorgehensweise im deutschen und amerikanischen Verfassungsrecht können hier nur vermutet werden. Zunächst ist auf die unterschiedliche Rolle hinzuweisen, die der Supreme Court und das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre spielten. Dies gilt weniger für die Literatur zum Verfassungsrecht als für die Methodenlehre. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland bestimmt das Verfassungsgericht die Tagesordnung der Verfassungswissenschaft. Das amerikanische Bonmot „the constitution is what the judges say it is" hat in Smends „Das Grundgesetz gilt nunmehr faktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne" 1 0 2 sein Pendant gefunden. Das Bundesverfassungsgericht wird jedoch - anders als der Supreme Court - selten aus methodischer Sicht grundlegend angegriffen. 103 Ein Grund dieser Toleranz für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 101

J. Esser (Fn. 79), S. 82. R. Smend, Das Bundesverfassungsgericht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 581 f. 103 So ist in Deutschland eine dem amerikanischen Originalismus vergleichbare Strömung, die die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit auf den bloßen Nachvollzug der Wertungen der Verfassungsgeber beschränken will, nicht erkennbar. Vgl. hierzu W. Heun, Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers, AöR 116 (1991), 185 ff. Das Bundesverfassungsgericht weist historischen Gesichtspunkten („subjektive Auslegungsmethode") eine eher untergeordnete Rolle bei der Verfassungsinterpretation zu. Vgl. M. Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DVB1. 1984, 73 ff.; O. Depenheuer, Politischer Wille und Verfassungsänderung, DVB1. 1987, 809 ff. 102

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liegt in der relativ kurzen Geltungsdauer des Grundgesetzes. 104 Der in den Vereinigten Staaten schon seit langem währende Prozeß der Entfernung der Grundwerte der Gesellschaft von den Grundwerten der Verfassungsgeber beginnt in Deutschland erst. Das Bundesverfassungsgericht ist folglich weniger Katalysator für die rechtliche Verarbeitung des sozialen Wandels als der amerikanische Supreme Court. Daß dieser Unterschied nicht bestehen bleiben muß, zeigt die zu Beginn dieser Arbeit erwähnte Kontroverse um jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Beim Vergleich von amerikanischer und deutscher Interpretationstheorie fällt auf, daß die deutsche Lehre die Legitimation „politischer Entscheidungen" des Bundesverfassungsgerichts weniger in Frage stellt als ihr amerikanisches Gegenstück. Ein Grund hierfür ist die Interpretationsgeschichte des Grundgesetzes. Es gibt keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die in Auswirkungen und Kritik der Entscheidung des Supreme Court in Lochner v. New York vergleichbar ist. Folglich wiegt der Vorwurf des unzulässigen Aktivismus des Verfassungsgerichts in den Vereinigten Staaten ungleich schwerer als in Deutschland. Schließlich ist der normtheoretische deutsche Ansatz auch Folge des immer noch fortwirkenden Gesetzespositivismus. Die Verfassung wurde von dieser Strömung als formales System begriffen. Zwischen ihr und den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen wurde eine Grenze gezogen. „Nichtjuristische" Elemente waren nicht Teil der Dogmatik. Einer der Folgen dieser Betrachtungsweise war die Eliminierung der Frage der Wertungen bei der Rechtsanwendung. Norm und Normtext wurden als Einheit betrachtet. Die Methoden des Verfassungsrechts waren daher auf „Kunstregeln" beschränkt, die nicht viel mit der tatsächlichen Tätigkeit der Gerichte zu tun haben. 105 II. Deutsche Kritik an pragmatischen Interpretationstheorien Die Rolle der Dogmatik bestimmt die Kritik an den pragmatischen Theorien in Deutschland. Man spricht etwa hinsichtlich der Lehre vom Vorverständnis von einer anti-dogmatischen Doktrin. Diese leugne die Prämisse 104 Eine Reihe weiterer Ursachen für die unterschiedliche Stellung von Bundesverfassungsgericht und Supreme Court sind denkbar. So hatte das Bundesverfassungsgericht von vornherein die Kompetenz, Akte der Legislative auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen. Diese Kompetenz wurde dem Supreme Court nicht ausdrücklich zugewiesen. Sie steht erst seit der Leitentscheidung in Marbury v. Madison fest. Vgl. oben S. 30. Zu Unterschieden im deutschen und amerikanischen Verfassungsverständnis vgl. auch G. W. Ehrlich, Einfluß des angelsächsischen Verfassungsdenkens auf die Entstehung des Grundgesetzes, in: 40 Jahre Grundgesetz, K. Stern (Hrsg.), 1990, S. 23 ff. 105 So F. Müller (Fn. 13), Rdn. 77ff., 85.

E. Zusammenfassung zu den deutschen Interpretationstheorien

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der auslegungsfähigen, verbindlichen Regel, die der Richter appliziere. Norm und Dogmatik würden als objektive Bedingungen aufgegeben. 106 Man wirft dieser Lehre vor, daß sie kein „besseres Recht" als die herkömmliche Lehre produziere. Sie beinhalte freie Dezision anstatt den intendierten Rationalismus der gebundenen Kognition. Dabei wird ein „volitives Element" bei der herkömmlichen Methode nicht verleugnet. Aufgabe der hermeneutischen Arbeit sei es, dazu anzuspornen, die Eigenwertung zugunsten einer objektiven Ermittlung von Regeln und Wertungen des geltenden Rechts soweit wie möglich zurückzudrängen. Als Ziel wird dabei weiterhin die rationale Deduktion der richtigen Lösung mit Hilfe der Dogmatik angegeben. 107 Die hier nur beispielsweise referierte Kritik kann nicht einleuchten. Einerseits wird nicht mehr bestritten, daß der Rechtsanwendung ein gewisses „volitives", gemeint ist wohl ein mit Hilfe von Normtext und Dogmatik nicht bestimmbares, Element innewohnt. Andererseits wird jegliche Diskussion über das Wirken dieses Elements abgelehnt und als Grund das Streben nach möglichst rationaler Gestaltung der Rechtsanwendung angegeben. Es kommt der Eindruck auf, daß man nicht sehen will, was nicht sein kann. Es bleibt jedoch fraglich, inwiefern hierin ein Beitrag zur Rationalisierung der Rechtsanwendung zu sehen ist. Die Kritik wurde auch deshalb dargestellt, weil in ihr ein Element betont wurde, dem in der deutschen, nicht aber in der amerikanischen Interpretationstheorie besondere Bedeutung zukommt, die Dogmatik. In der amerikanischen Diskussion hat der legal realism dazu geführt, daß außerrechtliche Wertungen bei der Rechtsanwendung kaum mehr bestritten werden. In Deutschland ist - vor dem Hintergrund der kontinentaleuropäischen Tradition - das Vertrauen in die Erkenntnisgewinnung „aus der Rechtsnorm heraus" größer, die Tendenz zu einer realistischen Sichtweise des Interpretationsprozesses schwächer. 108 Böckenförde hat dem pragmatischen Ansatz vorgehalten, daß er einen bereits bestehenden Verfassungskonsens voraussetze. Komme es zum Aufbrechen politischer Konflikte, sei die Verfassungsinterpretation ihrer Konsensbasis beraubt. Das Gericht stehe im Zentrum der politischen Konfrontation. 109 Der Verfassungskonsens in der Bundesrepublik ist in den zwei Jahrzehnten seit der Kritik Böckenfördes zweifellos schwächer geworden. Die amerikanische Verfassungsdiskussion hat ein wesentlich höheres Maß an Hete106 So etwa E. Picker, Rechtsgewinnung ?, JZ 1988, 107 Ebd., S. 3, 71 f. 108 Ähnlich W. Brugger 109 E.-W. Böckenförde

Richterrecht oder Rechtsdogmatik - Alternativen der 1, 3, 8. (Fn. 28), S. 575. (Fn. 9), S. 2094.

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rogenität erreicht. Dennoch konnte festgestellt werden, daß die neuere Rechtsprechung des Supreme Court von der Sozialmoral maßgeblich beeinflußt wurde. Das Argument, daß ein bestehender, genau erfaßbarer Konsens Voraussetzung der Verfassungsinterpretation sein müsse 110 , geht fehl. Es wird der Art und Weise der Beeinflussung der Verfassungsinterpretation durch die Sozialmoral nicht gerecht. Die gesellschaftlich dominanten Anschauungen befinden sich in einem ständigen Wandel. Es wird selbst mit einem großem Aufwand an empirischen Mitteln kaum möglich sein, den Inhalt der Sozialmoral zu einem bestimmten Zeitpunkt festzuhalten. Dies ist für die Verfassungsinterpretation jedoch nicht nötig. Nach den Erkenntnissen dieser Untersuchung gestaltet sich die Einwirkung moralischer Anschauungen auf den Interpretationsprozeß subtiler. Weil die Verfassungsinterpreten im Regelfall die moralischen Vorstellungen der die Gesellschaft dominierenden Gruppen teilen, legen sie bei der Verfassungsanwendung diese Anschauungen zugrunde. Geht das Verfassungsgericht anders vor, wird seine Legitimität beschädigt. Es läuft Gefahr, zu einem zweiten „Lochner-Court" zu werden. ΠΙ. Das Verhältnis von Theorie und Praxis Von den hier untersuchten Interpretationstheorien konnten lediglich die in den Teilen I V und V des letzten Abschnitts referierten Interpretationstheorien zur Lösung der von der amerikanischen Verfassungstheorie aufgeworfenen Fragen, insbesondere des Problems richterlicher Wertungen bei der Verfassungsanwendung, beitragen. Auffällig ist, daß die genannten Autoren einen Ausgangspunkt wählten, der sich von dem anderer deutscher Interpretationstheorien grundlegend unterscheidet. Sie stellten sich zunächst das Ziel, die Rechtsanwendung durch die Gerichte realistisch zu beschreiben. Sie orientierten sich an der Rechtspraxis. Dieser Ausgangspunkt ist für amerikanische Interpretationstheorien selbstverständlich. Bei der Analyse dieser Theorien wurde daher besonderer Wert auf die Fähigkeit einer jeden Theorie gelegt, die Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court korrekt zu beschreiben. 111 Die in Deutschland herkömmlich vertretenen Theorien verstehen Verfassungsinterpretation vor allem als Auslegung von Texten. Sie versuchen, die Anwendung der Verfassung aus dem Normtext, seinen Strukturen und den aus ihm ableitbaren Prinzipien zu erklären. Ihr Ausgangspunkt ist normorientiert. Sie laufen dabei Gefahr, unerreichbare Forderungen aufzustellen. Dies kann dazu führen, daß einerseits das Ansehen der Gerichte in den 110 111

So aber auch R. Alexy (Fn. 49), S. 27 f. Vgl. oben S. 242.

F. Schluß

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Augen der Wissenschaft sinkt, andererseits der Kredit der Wissenschaft bei den Richtern verspielt w i r d . 1 1 2 Dies soll nicht heißen, daß sich die Interpretationstheorie bedingungslos der Praxis der Gerichte unterzuordnen hat. Daher wurde bei der Beurteilung der amerikanischen Interpretationstheorien das Kriterium der normativen Vereinbarkeit mit der Verfassung eingeführt." 3 Mit diesem Kriterium ist jedoch nicht, wie häufig von deutscher Seite behauptet, die Forderung nach der „Bindung des Richters an Recht und Gesetz" in dem Sinne verbunden, daß sich der Richter jeglicher nicht aus der Verfassung ableitbarer Wertungen zu enthalten habe. Vielmehr gibt die Verfassung Anhaltspunkte zu den Fragen der Zulässigkeit und des Umfangs richterlicher Wertungen bei ihrer Anwendung. Von besonderer Bedeutung sind das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip in seiner jeweiligen Ausprägung. Die Kritik an der in der deutschen Interpretationstheorie vielfach zu kurz gekommenen Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der Rechtspraxis geht mithin nicht von der Gleichsetzung von Sein und Sollen aus. Sie fordert jedoch, daß eine Interpretationstheorie zumindest potentiell in der Lage sein muß, die Konkretisierung der Verfassung durch die Gerichte adäquat zu beschreiben.

F. Schluß Letztendlich ist die Interpretation unbestimmter Verfassungsnormen nur möglich, wenn den Interpreten ein gewisser Wertungsspielraum eingeräumt wird. Diese Wertungen sind, so das Ergebnis dieser Untersuchung, nicht aus der Verfassung ableitbar. Es handelt sich um Zweckmäßigkeitserwägungen, Wertungen, die ihren Ursprung in den moralischen Vorstellungen der Interpreten haben. Solange sich die Interpreten der Verfassung von der Sozialmoral leiten lassen, wie sie es im Fall der Vereinigten Staaten in der Regel getan haben, beeinflußt diese das Verfassungsrecht. Diese auch heute, über ein Jahrhundert nach dem Erscheinen des „Common Law", häufig verschwiegenen oder nur mit einer Entschuldigung erwähnten Gesichtspunkte sind „die geheime Wurzel, aus der das Recht seine Lebenssäfte zieht." 1 1 4

1,2

Vgl. dazu etwa M. Kriele (Fn. 18), S. 37ff., zur Zusammengehörigkeit von Theorie und Praxis ebd., S. 43 ff. sowie T. Würtenberger (Fn. 95), S. 552ff. 113 Vgl. oben S. 242. 1,4 O. W. Holmes, The Common Law, 1881, S. 32. 21 Schiwek

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Personen- und Sachwortverzeichnis Abwägung 104, 132ff., 138ff., 166ff., 174ff., 220, 257, 298 Affirmative Action 94 ff. Aktivistische Verfassungsinterpretation 22, 40, 149, 161, 165, 243 Ausländer 70ff., 111 ff. Behaviorismus 223 Bickel, Alexander 240 Black / Frankfurter Debatte 60 ff. Blackstone, William 194f., 211, 224 Cardozo, Benjamin Nathan 50, 59 ff., 128, 158, 161, 170, 188f., 197, 206, 210ff., 222, 228 f., 235, 262ff. Caroline Products Fußnote 55, 95, l l l f . , 121, 152, 156, 189, 255 Common Law 131 f., 141, 158, 164 ff., 170, 181ff., 194, 203, 212, 270ff. Court Packing Plan 51 Critical Legal Studies 258ff., 266 Demokratieprinzip 22, 65 ff., 163, 240ff., 246ff., 254f., 257, 284 Diskriminierung 39 f., 43 f., 71, 75, 95, 101, 103 ff., 114, 118, 152, 155 Diskurstheorie 300 ff. Ely, John Hart 189, 254ff., 279 Entstehungsgeschichte 25, 38 ff., 61 f., 76 ff., 91, 112, 115 f., 124, 158, 183f., 25Iff. Formalismus 195, 210, 217, 219, 230, 234, 289 Forsthoff, Ernst 288ff. Frank, Jerome 209, 221, 223ff Frankfurter, Felix 60 ff., 64 ff., 84, 91, 97, 121 Frauenrechte 35ff., 52f., 99ff., 109, 116, 133, 138 ff.

Freiheit 46, 48, 52, 56 ff., 59 ff., 123 ff., 138, 145 ff., 158, 164, 168 Freirechtsbewegung 21 Of., 218 Freizügigkeit 123 f. Fundamentale Rechte 41, 55 ff., 63, 69, 86, 92, 114ff., 121 ff., 133, 138, 145 ff., 149 ff., 159, 165, 190, 244 Gemeinwohl 42ff., 46f., 58, 118, 174f., 191, 206, 213 Gerechtigkeit 31, 33, 59, 61, 91, 122 f., 129, 131, 173 Geschlechtsklassifizierungen 35 ff., 99 ff., 107 ff., 149, 153, 179 Gleichbehandlung 75 ff., 79ff., 89ff., 96, 116 Grand Theory 258f., 261, 286, 302 Holmes, Oliver Wendell 28, 46, 48 ff., 57, 62f., 66ff., 84, 117ff., 129, 132, 134, 175, 188f., 196ff, 210, 214ff., 222, 227, 235, 262ff., 280, 284 Homosexualität 126, 158 ff., 161 ff. Intermediate Scrutiny Test 55, 97, 102 ff., 107 ff., 113 f., 153, 162, 179, 190 Interpretationstheorie 283, 316 ff. Learned Hand 252$, 245,289 Legal Realism 79, 81 f., 174, 187 ff., 202, 220ff., 285 Legitimationsproblem 245ff., 269, 278ff. Llewellyn, Karl N. 22Iff. Lochner-Rechtsprechung / Lochnerizing 45ff., 50ff., 62ff., 68, 96, 129f., 142, 148, 159, 170, 173, 188f., 192f., 203, 231, 286

336

Personen- und Sachwortverzeichnis

Magna Charta 61, 123, 125

Schwarze 31 ff., 38ff., 41 ff., 74ff., 91 ff., 147, 152 Nationale Interessen 64ff., 70ff., 107 Scrutiny-Schema 68 f., 110, 152ff., Natur der Sache 36, 42 ff., 123, 159, 156 ff., 190ff. 185f. „Separate but equal"-Doktrin 41 ff., Naturrecht 61 f., 118, 129, 172ff, 194, 73 ff., 83, 88 ff., 142, 234 198, 209, 229 f., 255 Sklaverei 31 ff., 41 f., 49, 57, 79 f., 95 Sozialdarwinismus 204, 209 Öffentliche Meinung 32 ff., 40, 43, 49, Sozialmoral 21 ff., 25ff., 33, 44, 49f., 53, 55, 65, 118f., 125f., 142, 175f. 56ff., 81, 93, 98, llOf., 120, 123, Originalismus 33, 143, 148, 176, 182, 125, 130 ff., 135, 143f„ 163, 171, 184, 186ff, 243ff. 180, 192, 199ff., 213ff., 273ff. Overruling 44, 78, 140, 267 Staatsbürgerschaft 37, 41 Stare Decisis 54, 78, 97 ff., 139, 143, Positivismus 206f., 221 211 f., 267ff. Posner, Richard 206, 262,ff. Strict Scrutiny Test 68 ff., 92, 95 ff., Pound, Roscoe 219ff., 222ff., 228 101, 112, 123, 125, 145, 149ff., 162, Privatsphäre 125 ff., 133 ff., 145 179, 190 Priviliges and Immunities Clause 35 ff. Suspekte Klassifizierungen 71, 80, 11 Iff., 150ff., 153ff., 163, 190, 244 Rassentrennung 41 ff., 74 ff., 79 ff., Taney, Roger B. 31 ff., 184, 187 88 ff., 174, 178, 234 Teleologische Auslegung 290ff., 293 f. Rassische Klassifizierungen 3 Iff., 39 f., 41 ff., 71 ff., 74ff., 79ff., 91 ff., Traditionen 25, 43f., 48, 50, 57, 59f., 63, 79, 106, 110, 117ff., 121 ff., 94 ff., 99, 117 125 f., 134 f., 138 ff., 146 ff., 158 ff.,' Rational Basis Test 55, 92, 99 f., 112, 162 ff., 164 ff., 168 ff., 176ff, 179, 123, 145, 152 ff., 162, 169, 179, 190, 187 ff., 192, 199, 255 233 Reasoned Elaboration 236 ff. Unabhängigkeitserklärung 32, 46, 49, Rechtsfortbildung 199, 292 f. 173 Richterbestellung 149, 171, 243, Universitätswesen 74ff., 107 ff. 248 ff., 276 Richtermoral 26, 44, 49 f., 59, 61 ff., Utilitarismus 206 64ff., 82ff., 108, 130, 135, 160f., Verfassungsänderung 30, 33, 53 f., 168, 170, 181, 209, 215, 223, 254, 118, 244, 249 ff. 262 f., 310 ff. 53, 60 ff., Rolle des Supreme Court 58, 61 ff., Verfassungsinterpretation 66ff., llOff., 150f., 155f., 168ff., 66 ff., 116, 118 f., 124, 128 ff., 139ff., 234ff., 321 147, 182, 184 f., 215f., 233ff., Verfassungsprinzipien 268, 290, 240ff., 245 ff., 255, 262 ff., 275 ff. 298 ff., 303 ff. Verfassungstheorie 186 ff., 242 ff., Schulwesen 56ff., 76ff., 79 ff., 89ff., 283 ff., 296 ff. 120 f., 149 ff., 175 Schwangerschaftsabbruch 97, 131 ff., Vernunft 42, 44, 46ff., 50, 57f., 66ff., 72, 86, 118, 133, 170, 179 135 ff., 137 ff. Vorurteile 40, 43 f., 72f., 92f., 103 f., Schwangerschaftsverhütung 124 ff., 106 ff., 153, 160, 164, 178f. 127 ff.

Personen- und Sachwortverzeichnis Wahlrecht 114 ff., 151 Warren, Earl 76ff., 83 ff., 91 f., 114ff., 120 f., 149, 174, 177, 185, 189 Warren-Court 59, 91, 96, 121, 149, 151, 171, 188, 192, 239, 243, 277, 286 Wechsler, Herbert 233ff., 245, 289

22 Schiwek

337

Wertrelativismus 197, 221 Willkür 40f., 47, 55, 57 f., 69, 80, 107, 118f., 145ff., 157, 176, 779/, 269 Zeitgeist 25, 143, 171 Zweckmäßigkeit 97, 143, 199, 213, 321

neunverzeichnis Abrams ν. United States 203 Adamson v. California 60f., 84, 118, 173, 184 Adarand Constructors Inc. v. Pena 96 ff. Adkins v. Children's Hospital 52 ff. Allgeyer v. Louisiana 45f., 49, 54, 62, 173 Boiling v. Sharpe 79ff., 86ff., 116, 122, 178, 263 Bowers ν. Hardwick 148, 158ff, 163, 172, 182 f., 187 f. Bradwell v. Illinois 35ff., 99, 101 f., 110, 141, 144, 160, 172, 182, 185 Brown v. Board of Education of Topeka (Brown I) 24, 74ff., 81 ff., 88ff., 93, 117, 131, 139, 149ff., 174, 179, 183, 232ff., 252, 260, 263, 267, 279, 289, 302 Brown v. Board of Education of Topeka (Brown II) 81, 86ff. Califano v. Webster 103f. , 107f., 177 City of Cleburne v. Cleburne Living Center 153ff, 160, 163, 179, 183, 185, 189 ff. Craig v. Boren 102f., 105 Cruzan v. Director Missouri Department of Health 766/, 170, 188 Dred Scott v. Sandford 3Iff, 37, 43, 51, 63, 173, 176, 182, 184, 187, 193, 245, 280, 301 Frontiero v. Richardson lOOff,

ill

Green v. County School Board 90 Griffin v. County School Board 89 Griffin v. Illinois 121ff., 173, 182

Griswold v. Connecticut 133

124, 127ff.,

Harper v. Virginia Board of Elections 116ff., 158, 182, 184f. Hirabayashi v. United States 70ff., 78 f., 181, 190 Korematsu v. United States 77ff., 78 f., 179, 181, 190 Kramer v. Union Free School District 720/, 189 Lalli v. Lalli 113f. Lochner v. New York 45ff, 54f., 62, 74, 117, 127, 129 f., 132, 134, 139, 174 f., 179, 188, 202, 214, 245, 260, 280, 285 Loving v. Virginia 91ff., 133, 138, 143, 160, 178 Marbury v. Madison 30 Martin v. Hunter's Lessee 30 Massachusetts Board of Retirement v. Murgia 152 f., 189 Metro Broadcasting Inc. v. FCC 97 Meyer v. Nebraska 56ff, 121, 129f., 133, 138, 145 ff., 158, 161, 177, 181 Michael H. v. Gerald D. 164f., 179,

182, 188

Michael M. v. Superior Court 105f., 110, 181, 190 Minersville School District v. Gobitis 64 ff. Mississipi University for Women v. Hogan 107 ff . Missouri ex rei. Gaines v. Canada 74 ff. Moore v. City of East Cleveland 146ff, 159, 177 Müller v. Oregon 231

Entscheidungsverzeichnis Nebbia v. New York 52 Orr v. Orr 103 f. Palko v. Connecticut 59ff, 122, 128, 131, 133, 158, 161, 170, 173, 177, 210 Palmore v. Sidoti 92/, 154, 160, 179 Pierce ν. Society of Sisters 58f., 127, 129 f., 133, 138, 145ff., 158, 161 Planned Parenthood v. Casey 137ff. , 148, 158, 169, 175 f., 178, 189 Plessy ν. Ferguson 41ff., 73f., 76ff., 83ff., 93, 139, 174, 177, 179f., 185, 237 ff., 252, 260, 302 Poe v. Ullman 124ff, 131, 138, 146, 158, 169, 179 Reed v. Reed 99 ff. Regents of the University of California v. Bakke 94ff., 98, 189 Reynolds v. Sims 14ff., 119f. Roe v. Wade 74, 13Iff., 137ff., 160f., 175 f., 183, 188, 286 Romer v. Evans 161ff, 177, 179, 183, 190f. Rostker v. Goldberg 106, 110, 179 San Antonio Independent School District v. Rodriguez 149ff, 175, 189

22*

339

Shapiro v. Thompson 123f., 175, 185 Sipuel v. Board of Regents 75 Skinner v. Oklahoma 69ff, 158 Slaughter-House Cases 37ff, 49, 62, 96, 185 Strauder v. West Virginia 39ff., 44, 96 Sugarman v. Dougall Ulf., 189 Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education 90 Sweatt v. Painter 75 ff. Trimble v. Gordon 113 Twining v. New Jersey 60 f. United States v. Carolene Products 55, 189, 255 United States v. Virginia 108ff, 177, 179, 181 Village of Belle Terre v. Boraas 145 ff . Washington v. Glucksberg 167ff. West Coast Hotel v. Parrish 52ff, 63, 139, 174, 179, 267 West Virginia State Board of Education v. Barnette 65ff, 175, 184, 267 Yick Wo v. Hopkins 40f. , 173, 179