Soziale Ideologien und politische Systeme 9783110321081, 9783110320909

Soziale Ideologien und Politische Systeme ist ein Versuch, den Bezug zwischen ideologischen Überzeugungen und bestimmten

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Soziale Ideologien und politische Systeme
 9783110321081, 9783110320909

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Mannheims Wissenssoziologie undC. W. Mills’ Soziologisches Wissen
Zwischen der Charybdis des Kapitalismusund der Szylla des Kommunismus:Die Emigration deutscherSozialwissenschaftler 1933-1945
Rasse, Klasse und Ethnizität
Wissenschaft, Modernitätund autorisierter Terror
Demozid der befohlene Tod:Massenmorde im 20. Jahrhundert
Wissenschaftliche Gemeinschaft undpolitisches System:Beziehungskonflikte zwischenSozialwissenschaftlern undpolitischen Praktikern
Gesellschaftliche Entfremdungund politische Systeme
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Irving Louis Horowitz Soziale Ideologien und politische Systeme

Irving Louis Horowitz

Soziale Ideologien und politische Systeme

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In Erinnerung an Melvin J. Lasky (1920 – 2004) Eine freie Seele in New York, London und Berlin

Vorwort Soziale Ideologien und Politische Systeme Bei einer Suche in Google findet man zahlreiche Einträge über mich als „deutschen Autor“. Das trifft zweifellos nicht zu, da ich zum Glück in Harlem, New York in den Vereinigten Staaten geboren und aufgewachsen bin. Aber trotzdem trifft es zu, dass ich eine große Achtung und Sympathie für die deutsche Sprache und die Sozialwissenschaften, die tief in dieser Kultur verwurzelt sind, habe. Ich trage in meinem intellektuellen Verständnis die Tradition von Marx, Weber (im besonderen die meines geliebten Max), Tönnies und Mannheim. In der Tat habe ich, wie der verstorbene Rene König, dem einer der folgenden Aufsätze gewidmet ist, sowohl verlegerisch als auch wissenschaftlich daran gearbeitet, den schrecklichen Schaden ,verursacht durch das Nazi-Regime, an einer unübertroffenen Tradition der Sozialtheorie und -forschung zu beheben. Die sieben Kapitel, die hier folgen, zeigen auch in einem gewissen Maße das Bewußtsein der Auswirkung auf, die die intellektuelle Migration hatte, die Zentraleuropa intellektuell lahm zurückließ, während sie eine amerikanische Tradition bereicherte, die vorher einen theoretischen Ankerplatz oder ein Verständnis für ein Ziel hinter dem Wohlfahrtsmodell der politischen Reform ermangelte. So verdanke ich also viel den verschieden Arbeiten von Emigranten wie Paul Lazarsfeld, Hannah Arendt, Reinhard Bendix, Paul Neurath, Hans Kohn; eine kleine Auswahl unter vielen brillanten Freunden. Mir war es möglich, einige von ihnen zuerst Lehrer zu nennen, dann Kollegen, und später im Leben Autoren von Transaction Publishers. Einige sind sogar Freunde. Es ist keine Tragödie, zuzugeben, dass man „auf den Schultern von Giganten sitzt“! Tatsächlich kann ich mir kaum vorstellen, was eine Tradition bedeuten kann ohne den Respekt für das, was zuvor vorhanden war. Es war wirklich mein großes Glück, meine Arbeit in Grundlagen der politischen Soziologie veröffentlicht zu sehen, 1975 in deutsch und in nicht weniger als 5 einzelnen Bänden erschienen. Damals war ich nicht schlau

ii genug, um zu erfassen, was für eine einzigartige Ehre so ein Projekt darstellt – oder welche verlegerischen Kosten dies bedeutete. Aber letztlich war ich schlau genug, umherzugehen mit einem Gefühl von Stolz auf eine, wie ich jetzt weiß, außergewöhnliche Verleihung. Ich möchte meine Anerkennung ausdehnen auf die verstorbene Petra Kelley von den Grünen. Ihr Dienst als mein Vertreterin ohne Geschäftsbereich in Deutschland, die dafür sorgte, dass der Übergang dieser Bemühungen sanft und reibungslos verlief, verdient Anerkennung. Ich kenne besser als die meisten die persönlichen Verwirrungen, Zweifel und Qualen, die zu dem Doppelselbstmord führten, der ihr Leben beendete. Ich bin nicht in der Lage, diese unvorstellbare Tat zu dulden oder zu verurteilen – oder die merkwürdige Politik, die dazu führte. Ich weiß aber, dass ich mich besser fühle, wenn ich ihre Taten der Güte im Auftrag eines Wissenschaftlers aus Übersee, dem sie in keiner Weise verpflichtet war, anerkenne. Die sieben Aufsätze, die in Soziale Ideologien und Politische Systeme folgen, erweitern viele der Themen, die bereits in Grundlagen der politischen Soziologie beinhaltet sind. Sie weisen eine Reihe der Grundsatzthemen der politischen Soziologie auf: die Beziehung von Ideologie zu Wissenschaft, die besonderen Umstände intellektuellen Lebens in politischen Regimes, Ethnizität, Religion und Massenverhalten in Situationen nationaler Leidenschaft, Extreme in sozialer Organisation – von Anarchie bis zum Monstrum –, und schließlich das, was ein zentraler Gegenstand in meinen Überlegungen geworden ist: die Bedingungen und Umstände, in denen das Töten menschlichen Lebens entweder akzeptiert, sich mit ihm abgefunden oder es bekämpft wird. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich erfreut zu sagen, dass die selbe Google-Suche ergab, dass sehr viele deutsche Bibliotheken Exemplare aller fünf Ausgaben meines Werks Taking Lives haben. Und dafür bin ich dankbar. Ich habe bereits dem Leser soviel Zeit genommen, wie sie durch diese Auswahl meiner Werke in deutsch gerechtfertigt ist. Die Unterstützung, die durch Rafael Hüntelmann, den Leiter des ontos verlags, mir geboten wird, verdient große Anerkennung. Ich bat ihn, seine Entscheidung, meine Arbeit zu veröffentlichen, nur auf grund ihres eigenen Werts zu treffen, und nicht durch die Tatsache beeinflusst zu werden, dass seine brillanten

iii englischsprachigen Publikationen in der anglo-amerikanischen Welt durch Transaction-Rutgers vertrieben werden. Seine Korrespondenz bestätigte mir dies unmissverständlich. So wie die Methodisten zu singen pflegen: „The circle remains unbroken.“ Die Gemeinschaft der Wissenschaft und die Kraft des Wortes können selbst durch die schlimmsten Tyranneien in den beunruhigendsten Zeiten nicht aufgelöst werden.

Irving Louis Horowitz Princeton, New Jersey 8. August 2005

Inhaltsverzeichnis

Mannheims Wissensoziologie und C. W. Mills’ Soziologisches Wissen

7

Zwischen der Charybdis des Kapitalismus und der Szylla des Kommunismus: Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945

43

Rasse, Klasse und Ethnizität

71

Wissenschaft, Modernität und autorisierter Terror

93

Demozid der befohlene Tod: Massenmorde im 20. Jahrhundert

113

Wissenschaftliche Gemeinschaft und politisches System: Beziehungskonflikte zwischen Sozialwissenschaftlern und politischen Praktikern

119

Gesellschaftliche Entfremdung und politische Systeme

147

7

Mannheims Wissenssoziologie und C. W. Mills’ Soziologisches Wissen

„Hat man einmal dieses innere Verhältnis zu dem historischen Wandel der Sinnelemente gewonnen, für das zwar kein besonderes Stadium des Geschichtlichen als absolut genommen wird, das ganze Werden aber dennoch ein aufgegebenes Problem enthält, so wird man sich bei jener ekstatischen Position, für die jede Geschichte ,nur Geschichte’ ist, nicht mehr beruhigen können.“ Karl Mannheim1 „History is the shank of any social study; we must study it if only to rid ourselves of it.” C. Wright Mills2

I Es besteht eine Analogie zwischen der Geschichtstheorie der großen Männer und der Theorie biologischer Mutation. Ab und zu wird jemand mit Eigenschaften geboren, die die seiner Mitmenschen weit übertreffen. Er ist in der Lage, „unrealized forms of future history” zu begreifen, und “he succeeds in wrenching society loose from its anchoring place in present equilibium and turning it into the uncharted seas beyond the known as familiar lands”3. Eine soziologische Interpretation der Theorie des großen Mannes – in diesem Fall die von Mills – geht davon aus, daß ein Mensch, sei er Soziologe oder auch nicht, wie ein klassischer Soziologe denken muß. Er muß zumindest zu verstehen versuchen, warum sich Menschen als Teil einer abstrakten Masse fühlen können, die mit persönlichen Problemen beschäftigt sind, warum sie häufig den Verlauf der Geschichte als eine Serie

8 nicht miteinander in Verbindung stehender, zufälliger Vorgänge verstehen und warum sie sich als Objekte und nicht als Subjekte sehen. Die von Mills sich selbst gestellte Aufgabe „of being simultaneously a Teddy Roosevelt and a F. Scott Fitzgerald, a public figure – a man of action and an artist-thinker“4 war für ihn eine beständige Quelle sowohl der Frustration als auch der Heiterkeit. Daß er es als notwendig empfand, die verengte Weltanschauung seiner professionellen Kollegen und der Öffentlichkeit insgesamt abzukanzeln, spiegelte einen Weltschmerz wider, der beim „Flugschriftschreiben“ während seiner letzten Lebensjahre besonders deutlich zutage tritt. Er mag seine Rolle als einsamer Langstreckenläufer vielleicht als mehr oder weniger angenehm empfunden haben, er verstand seine tägliche Arbeitsroutine als eine Form militärischer Auseinandersetzung5, dennoch war seine Mission nicht frei von Resignation. Indem man publiziert, macht man sich selbst publik6; als Ergebnis produziert man daher seine eigene Biographie und letztlich einen kleinen Ausschnitt der Menschheitsgeschichte. In seiner „Heidenpredigt“ des Jahres 1958 richtete er eine Frage an den amerikanischen Klerus: „You claim to be Christians. What does that mean as a biographical and public fact?“7 Substituiert man „Soziologen“ für „Christen“, so ändert man den Sinn der Anfrage nicht. Die soziologische Vorstellungskraft, so schreibt Mills, „enables us to grasp history and biography and the relations between the two within society. That is its task and its promise. To encourage this task and this promise is the mark of the classic social analyst. … No social study that does not come back to the problems of biography, of history and of their intersections within a society has completed its intellectual journey8.” Für Mills waren die scharfen Trennungen von Theorie und Methode genauso künstlich wie die von Soziologen und Öffentlichkeit. Er schrieb für eine Öffentlichkeit im aristotelischen Sinne; die Angst von Soziologen und anderen Mitgliedern der Intelligenz, als „Popularisierer“ zu erscheinen, erklärt teilweise, warum sich die Öffentlichkeit nur selten die Zeit nahm, ihre Arbeiten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. In der Konstruktion seiner eigenen Biographie entschied sich Mills dafür, sich in jeder nur möglichen Weise, persönlich und intellektuell, von denen zu unterscheiden, die er mit seiner Botschaft ansprechen wollte, so daß diese deren Weisheit leichter begreifen konnten. Dies scheint etwas paradox zu sein: sein Selbstverständnis war das eines großen Mannes, aber in der von ihm erhofften Ge-

9 sellschaft wäre die ihm zukommende Aufgabe nicht notwendig9. Handelt es sich wirklich um ein Paradox, das heißt unterscheidet sich dies in irgendeiner Weise von der klassischen Form der Hybris der Intellektuellen? Nicht ich bin für die Probleme der Gegenwart verantwortlich, scheint Mills zu sagen, sondern die Welt, die sich weigert, mich ernst zu nehmen. Ganz so einfach ist es nicht, trotz der großen Selbsteinschatzung von Mills. Formal gesehen, mag Wissen jedermann zugänglich sein, aber sein Inhalt ist nur für bestimmte Gruppen von Personen und nur während bestimmter Epochen interpretierbar. Ein besseres Verständnis des Wissens erreicht man, indem man die Motive und das Verhalten dieser Gruppen verstehen lernt. Geht man davon aus, daß der Zugang zu den Werkzeugen soziologischen Denkens unproblematisch ist – zumindest für die von Mills angesprochenen Angehörigen der gebildeten Mittelklasse – , so argumentierte er, daß die Chancen für eine industrielle Gesellschaft wie die Vereinigten Staaten von Amerika, von einem rationalen und moralischen Diskurs beherrscht zu werden, mit jedem Jahr geringer werden; daß die gegenwärtig Lebenden versuchten, die Beziehungen zwischen konkreten Phänomenen aufgrund besonders begrenzter Annahmen vorzunehmen, sofern sie dies überhaupt für notwendig erachteten; daß das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums zu einem Kollektiv, sei es eine soziale Klasse, eine bürokratische Organisation, eine Nation oder eine politische Partei, normalerweise zu Verzerrungen seiner Konstruktion der sozialen Wirklichkeit führt und, unterstellt man diese Interdependenz von persönlicher und kollektiver Identität, daß Intellektuelle mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten Kollektiven in der Regel diejenigen sind, deren biographisch-historische Leistungen besonders gering sind. .Die für Mills wichtigste Grundlage, auf die er sich bei der Analyse dieser Themen berief, war das Werk Karl Mannheims, der während der zwanziger und dreißiger Jahre als herausragender Vertreter der Wissenssoziologie hervortrat. Die These, daß die kognitive Basis rationalen Denkens notwendigerweise ein Produkt des sozio-historischen Kontextes des Denkenden ist, ein zentrales Element jeder Wissenstheorie, war für Mills immer von großer Wichtigkeit. Diese Annahme ermöglichte es ihm, Phänomene zu analysieren, die unser soziales Handeln beeinflussen; sie gab ihm das Fundament für eine Methodologie, die es ihm ermöglichte, persönliche Probleme von sozialen zu trennen; schließlich kristallisierte und verstärkte sich in ihr seine weitgehende Entfremdung, sowohl von der amerikanischen

10 weitgehende Entfremdung, sowohl von der amerikanischen Massenkultur als auch von seinen professionellen Kollegen, und zwar in einer Art und Weise, die sich von der Veblens unterschied. Obwohl die Wissenssoziologie als intellektuelle Tradition vor und während seiner Zeit eindeutig europäischen Ursprungs war, negierte sie die von Mills in seinen frühen Schriften erarbeitete Problematik des amerikanischen Pragmatismus nicht, sondern erweiterte diese Thematik. Dennoch muß man fragen, was beeindruckte Mills an der Mannheimschen Konzeption der Wissenssoziologie? Trifft es nicht zu, daß Marx fast ein Jahrhundert früher in seinen frühen Schriften auf die enge Beziehung von geistigen und sozialen Prozessen hingewiesen hatte? Dies ist richtig. Es gibt drei Gründe, weshalb sich Mills von Mannheim besonders angezogen fühlte. Erstens, Hans Gerth war vor seiner und Mannheims Flucht vor den Nazis ein Schüler Mannheims gewesen; zweifellos wurde der junge Mills durch Gerth an der Universität von Wisconsin auf das Werk von Mannheim aufmerksam gemacht. Zweitens, Mannheim unterschied sich von Argumenten seiner Vorgänger und Zeitgenossen und elaborierte diese in einer Weise, die es Mills ermöglichte, sie als soziologische Munition im oben genannten Sinn zu verwenden. Aufgrund seiner Untersuchungen des europäischen Denkens seit der Reformation kam Mannheim zu dem Schluß, daß Wissen letztlich eine Aktivität von Gruppen oder Kollektiven ist10; es „presupposes a community of knowing which grows primarily out of a community of experiencing prepared for in the subconscious“11. Ideen sind „situationsbedingt” oder so stark durch die besonderen sozialen Bindungen des Denkenden beeinflußt, daß „the approach to a problem, the level on which the problem happens to be formulated, the stage of abstraction and the stage of concreteness that one hopes to attain, are all and in the same way bound up with social existence“12. Dies bedeutete jedoch nicht, daß alles Wissen gleich relativ zu verschiedenen konkurrierenden Interessen und daher nicht objektiv ist. Dies würde dazu führen, daß sich die Wissenssoziologie einem zirkulären und sinnlosen philosophischen Relativismus verschreibt. Das Gegengift soll ein „Relationismus“ sein, der verlangt, daß umfassenderes weltanschauliches Wissen es notwendig macht, nicht nur sich widersprechende Ansichten zu tolerieren, sondern sie sich zu eigen zu machen. Diese Vorgehensweise bietet die Grundlage für eine Planung sozialen Wandels un-

11 abhängig von der Problematik der Ideologie, die kurzsichtig, konservativ und „besonders interessengebunden“ ist, und der Utopie, die, obwohl sie ein größeres Maß von Hoffnung verspricht, dennoch sehr leicht in chiliastische Wünsche zur Vernichtung oder Veränderung bestehender gesellschaftlicher Zustände führen kann, ohne daß man sich Gedanken darüber macht, was an ihre Stelle treten soll. Wie Mannheim in seinem letzten wichtigen (und zu wenig beachteten) Buch Freiheit und geplante Demokratie schreibt: das Individuum muß eine relativistische Perspektive einnehmen „... in the expectation of enlarging his own personality by absorbing some features of a human being essentially different from himself. Practically, this means that the democratic personality welcomes disagreement because it has the courage to expose itself to change13.“ In dem Maß, in dem Ideen eine größere Gültigkeit zukommt, in dem sie mehr und mehr unterschiedliche Standpunkte zu einer Perspektive vereinen, verlieren sie graduell ihre situationsspezifische Abhängigkeit. Auf welche Weise kann sich ein Individuum eine Perspektive dieser Art zu eigen machen? Indem es gewichtige intellektuelle Verzerrungen, die sich aufgrund bestimmter Lebensweisen ergeben und in bestimmten ideologischen oder utopischen Positionen ihren Ausdruck finden, aufgibt oder vermeidet. Aber wie erreicht man das? Indem man mit einer Vielzahl von Perspektiven zu vergleichbaren Vorkommnissen und Phänomenen experimentiert. Und dies wiederum erfordert, daß man sein tägliches Leben in sozialen Gruppen führt, die sich in ihrem Stil und ihrer Funktion überschneiden: „… not only individual but also group experiences may become complementary, and that the roles which we live and directly experience may be in reality nothing but the inversion of the unknown roles in unknown individuals14.“ Allerdings ist es für die einzelne Person unmöglich, gleichzeitig in allen diesen Gruppen zu leben; sie muß daher an deren Grenzen leben und als indirekter Vermittler von Vorstellungen fungieren, die andernfalls nicht miteinander in Berührung kommen, es sei denn auf der Basis gegenseitiger Feindschaft, wobei die Fehlschlüsse der Opposition a priori angenommen werden. Die Rolle der Intellektuellen bestand schon immer darin, Verbindungen für diesen indirekten Diskurs zu schaffen oder, wie Mills es hätte formulieren können, „Kontakt mit dem Feind aufzunehmen“. Im Verlauf der Geschichte mußten sie ihren brahmanengleichen Status aufgeben und

12 die monopolartige Kontrolle des Wissens, die damit zusammenhing. Moderne Intellektuelle, deren Herkunft relativ klassenunspezifisch ist, gehören weniger verschiedenen Gruppen an, sondern „schweben“ eher von einer zur anderen Gruppe; daher auch der Begriff „freischwebende Intelligenz“. Diese Vorstellung von der Marginalität, die wesentlich auf Simmel zurückgeht, soll nicht nur auf die Prozesse abheben, mit denen Intellektuelle operieren, sondern ist der Prozeß selbst, aufgrund dessen sie überhaupt erst geschaffen werden. Je marginaler der Intellektuelle, desto wahrscheinlicher ist es, daß er einen Beitrag zum Wissen leistet, da seine Marginalität selbst dazu beitragt, daß er relativ unbeeinflußt bleibt von den Fallen des ideologischen Dogmatismus und utopischen Chiliasmus. Aus verschiedenen Gründen bestärkte diese Grundeinstellung, mehr als jede andere (die Mills zwar nicht vollständig übernahm), sein schwankendes Selbstverständnis (von dem man sagen könnte, daß es das amerikanische Äquivalent eines Freischwebenden war), und erklärt den frühen Einfluß des Pragmatismus und/oder seine soziologischen Vorstellungen. Marx, zum Beispiel, ging davon aus, daß Wissen und Klassenzugehörigkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Die Wahrheitsansprüche eines Intellektuellen müssen daher notwendigerweise seine Interessen in der gegebenen Wirtschaftsordnung widerspiegeln. Auch Mannheim nahm an, daß Intellektuelle häufig klassenbedingte Aussagen machen, allerdings gab es für ihn keine geschichtliche Dialektik, die die Unvermeidbarkeit solcher Verzerrungen bestimmt. Dies war nur ein Grund unter einer Reihe von Gründen, weshalb sich Mills, obwohl er mit der marxistischen Kritik des Kapitalismus sympathisierte, nicht dazu durchringen konnte, sich als Marxist zu betrachten. Max Weber war der Ansicht, daß wissenschaftliches Wissen objektiv ist und nur dann subjektiv wird, wenn es von persönlichen Werturteilen beeinflußt wird. Mannheim kehrte diese These um; der Wissensinhalt hängt von der subjektiven Position des Denkers ab, während die Werte selbst, zumindest innerhalb der Grenzen einer Epoche, objektiv sind15. Unter dem Einfluß von George Herbert Mead betonte Mills den sozialpsychologischen Zusammenhang zwischen Denker und Publikum, das er sich bei der Wahl der Methode zur Wissensgewinnung aussucht: „From the standpoint of the thinker, the socialization of his thought is coincidental with its revision. The social and intellectual habits and character of the audience, as

13 elements in this interaction, condition the statement of the thinker and the fixation of beliefs evolving from that interplay. ... No individual can be logical unless there be agreement among the members of his universe of discourse as to the validity of some general conception of good reasoning16.” Max Scheler war ein aristokratischer Platoniker, der der Überzeugung war, daß ein Gegensatz zwischen Sein und Denken besteht. Zwar kann es unterschiedliche Denkmuster je nach Epoche und sozialem Kontext geben, allerdings entspringen sie alle der Vorstellung von einem universalistischen, absoluten Bereich von Ideen und Werten. Im Gegensatz dazu war Mannheim der Ansicht, daß Wahrheit in erster Linie ein Produkt existentieller Bedingungen ist; obwohl Diskurs nicht zur Wahrheit führt, kann er sie jedoch innerhalb einer bestimmten geschichtlichen Epoche definieren und neu definieren. Die Wahrheit ist keine „geschichtliche Tatsache“, sie ist in unserem sozialen Leben verankert17. Es ist sehr gut möglich, daß Dilthey viele Gemeinsamkeiten mit Mannheim gehabt haben könnte, allerdings war er als Idealist gegen die Vorstellung von der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft. Dilthey war der Ansicht, daß es Funktion der Soziologie sein solle, die Philosophie von einem metaphysischen Stillstand zum zeitlichen Bewußtseins- und Gefühlsbereich zu führen, und nicht eine empirische Basis, die das Leben nur zur Sinnlosigkeit relativieren würde, zu suchen18. Ihre Bedeutung würde in einer umfassenden Lebendigkeit liegen. Kurz, im Gegensatz zu Mills war Dilthey nicht an soziologischen Antworten auf alltägliche Probleme interessiert. Man könnte den Vergleich zwischen Mannheim und Troeltsch, Alfred Weber, Meinecke oder von Schelting leicht fortführen, allerdings könnte man dann den für uns wichtigsten Gesichtspunkt aus den Augen verlieren: Mehr als andere Traditionen war es Mannheims Wissenssoziologie, die Mills das Rohmaterial für seinen Versuch lieferte, die komplexen Makrobeziehungen von Wissen, Glaubenssystemen und sozialer Macht in einer Epoche zu untersuchen, in der die beiden zuletztgenannten Faktoren immer weniger mit dem zuerstgenannten Faktor zusammenzuhängen schienen, gleichzeitig tat sie dies in einer Weise, die seinem Pragmatismus eine zusätzliche Dimension gab und ihn nicht zwang, mehr zu tun, als zwischen kollektiven Zugehörigkeiten hin und her zu schweben (obwohl er später in seinem Leben

14 sehr viel mehr versuchte). Mannheim war ein Liberaler im klassischen Sinne, einer, der gleichzeitig zur „frischen und jugendhaften Qualität“ der Aufklärung zurückkehren und dennoch zu beschreiben in der Lage war, wie eine moderne Gesellschaft für eine demokratische Zukunft planen konnte. Mills beschreibt Mannheims Einflug auf ihn in der Einleitung zu seinem Buch Images of Man: „Karl Mannheim’s essay on rationality contains the seeds of the most profound criticism of the secular rationalism of Western civilization. He did not work it out in just this way, but the passage given here is among the best writings of a man who is, I believe, one of the two or three most vital and important sociologists of the inter-war period19.“ Aber selbst ohne diesen expliziten Ausdruck der Dankbarkeit entdeckt man den Einfluß, den Mannheim auf Mills gehabt hat, besonders in seinen späteren Lebensjahren, als sein eindeutig Mannheimscher Sprachgebrauch fast schon übertrieben wirkt: „the main drift“, „the big discourse“, „the epoch in which we live“. Ein dritter und letzter Grund dafür, daß Mills sich von Mannheim beeinflussen ließ, kann darauf zurückgeführt werden, daß Mannheim einer der wenigen Theoretiker der Wissenssoziologie, zumindest während der dreißiger Jahre, war, dessen wichtigste Arbeiten in englischer Sprache zugänglich waren. Mills sprach kein Deutsch, zumindest nicht fließend (Gerth war für die Übersetzungen zu From Max Weber verantwortlich), und da die wichtigsten Vertreter dieses Fachgebiets Deutsche waren, war ihm die meiste Literatur praktisch unzugänglich. Die Art und Weise, in der Mills Mannheim als intellektuelle Ressource verwandte, obgleich vielfältig, konzentrierte sich auf drei miteinander verbundene Themen: 1. Darauf, daß die engen Verbindungen zwischen Soziologie und Philosophie, die immer mehr in Gefahr waren, unterbrochen zu werden, aufrechterhalten blieben; 2. die Ursachen sozialer Macht zu lokalisieren und ihre Beziehungen zu und Kontrolle über Wissen zu untersuchen, und 3. den offensichtlichen Mangel einer öffentlichen Soziologie aufgrund der Malaise der Kultur der amerikanischen Mittelklasse herauszuarbeiten. Das erste Thema findet sich besonders in Mills’ frühen Schriften, also vor seiner Berufung an die Columbia University, sowie später in Character and Social Structure, The Sociological Imagination und Images of Man. Das zweite Thema beschäftigte ihn von etwa 1947 bis 1956, das dritte

15 Thema von 1957 bis zu seinem Tod. Ich muß jedoch betonen, daß alle Themen während seiner ganzen Karriere eindeutig erkennbar sind; einige sind zwar eher direkt erkennbar (oder mögen auch bewußt latent geblieben sein) als andere, nichtsdestoweniger sind sie insgesamt vorhanden. Seine scharfe Kritik der Konsequenzen politischer Macht, die auf verantwortungslosem Handeln basiert und nicht auf jedermann zugänglichem Diskurs, ist zum Beispiel genauso leicht anwendbar auf das gescheiterte Abenteuer der Schweinebucht auf Kuba wie auch auf The Power Elite. Sein scharfer Aufruf in The Sociological Imagination an seine Kollegen in der Soziologie, sich der klassischen Theorie als prinzipieller Grundlage für zukünftige Forschung zu verschreiben, war stark beeinflußt von seiner selbstgeschaffenen Rolle als allgemeiner Kulturkritiker. Man sollte diese Kategorisierung deshalb als eher generelle Abgrenzung ansehen und nicht als eine strenge, chronologische Aufgliederung von Interessengebieten.

II Mills’ Wahl des Studienhauptfaches war für ihn eine administrative Formalität und hatte kaum einen Einfluß auf die Wahl der Vorlesungen und Seminare, die er besuchte; sie war vom Inhalt des Kurses abhängig sowie vom wissenschaftlichen Ruf des Professors. Er hat gleichzeitig, unter anderem, Soziologie und Philosophie studiert. Er machte daher nicht wie Mannheim eine „Wandlung“ vom Philosophen zum Soziologen durch, sondern sah in dessen Arbeiten einen Ansatz, obgleich nicht den einzigen, durch den er den Pragmatismus in soziologischen Kategorien erfassen konnte. Mannheim war, ebenso wie die Pragmatisten, ein starker Verfechter des politischen Liberalismus und vertrat eine Konzeption der Wahrheit, die durch Denken und Handeln bestimmt war, und er benutzte Modelle der indirekten Gültigkeitsbestimmung als geeigneteres Mittel zur Entwicklung von Wegen zur Bestimmung sozial determinierter Wahrheitsperspektiven. Mills machte seine Absicht deutlich, daß seine eigenen Arbeiten auf zwei intellektuellen Traditionen aufbauen sollten, die er nicht gegeneinander ausspielen wollte:

16 „Careful examination reveals no fundamental disagreement between Dewey’s and Mannheim’s conceptions of the generic character and derivation of epistemological forms ... Mannheim’s view overlaps the program that Dewey has pursued since 1903, when he turned from traditional concerns and squabbles over the ubiquitous relation of thought in general to reality at large, to a specific examination of the context, office and outcome of a type of inquiry20.“

Und: „C. S. Peirce analyzed four segments from Western intellectual history. His comparative and quasi-sociological work was preliminary to his own acceptance of an observational and verificatory model which he himself analyzed out and generalized from laboratory science ... Mannheim’s ‘total, absolute and universal’ type of ‘ideology’ in which social position bears upon ‘the structure of consciousness in its totality’, including form as well as content, may be interpreted to mean this social-historical relativization of a model of truth, or the influence of a ‘social position’ upon ‘choice’ of one model as over against another. Mann21 heim’s remarks do not contradict this more explicit and analytic statement .“

Mannheims Unterscheidung zwischen Relationismus und Relativismus erwies sich als eines der schwerwiegendsten Hindernisse, das er Kritikern und Anhängern zufolge nie zufriedenstellend aus dem Weg räumen konnte. Ziegenfuß22 und Scimecca23 kommen zu dem Schluß, daß es sich letztlich um ein Spiel mit Worten handelt, während es Phillips als wenig klar und als wenig überzeugend bezeichnet24. Auch Mills fand es nicht überzeugend, allerdings war er weniger kritisch als andere und aus Gründen, die sich entscheidend von denen Hans Speiers oder Alexander von Scheltings unterschieden, die Wissenssoziologie als eine Art Obergriff auf den Objektbereich der Philosophie ansahen. Mills war der Meinung, daß Mannheim seine logischen Überlegungen nicht zu ihrem logischen Schluß führte, da er weder den Sinn spezifischer Begriffe eindeutig genug definierte noch ihre Anwendbarkeit auf beobachtbare Ereignisse bestimmte. Seine Unzufriedenheit wird nirgends deutlicher als in seiner Besprechung von

17 Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus in der American Sociological Review25. Zu dieser Zeit waren Howard Becker und Thomas McCormick für die Buchbesprechungen der Zeitschrift verantwortlich und haben zweifellos, da sie von dem großen Interesse ihres Schülers an Ideologie und Utopie wußten, die Besprechung persönlich angeregt: „He (Mannheim) does not evidence skill in deducing from large discourse specific hypotheses and constructing the means of their testing. His work loses in firm specificity to gain in novel conceptual optics26.“ Mills verwehrt sich insbesondere gegen den von ihm als charakteristisch angesehenen allgemeinen Sprachgebrauch Mannheims, den er als besonders störend empfindet, da Mannheim selbst am Anfang von Ideologie und Utopie so glänzend erklärt hatte, wie die unterschiedliche Interpretation einzelner Begriffe durch Inhaber sozialer Positionen zu einem solch ideologischen Wirrnis wie dem im Europa der zwanziger Jahre führen kann: „This ‘mass society’ is one of the least substantiated notions in the book. One wishes Mannheim had characterized it less with words like ‘emotional’ and ‘irrational’ and more with such indices as voting trends. ... Repeatedly, the grossly unsociologic ‘we’ is used. Exactly whom does this ‘we’ include? Since he is not a magician, it cannot embrace others than those influenced in some manner by books of the kind he is writing. Who are these? They are the very ones whose 27 decline in prestige and power he himself has traced .“

Mills sah in Mannheims Arbeiten ein Mittel zur Konstruktion von brauchbaren Modellen sozialer Struktur in ihrer Totalität, in denen soziologische und pragmatische Einsichten verbunden sind. Und wie aus diesen Passagen deutlich wird, versuchte er, sowohl Mannheims soziologischen Sprachbegriff als auch seinen Wahrheitsbegriff auszubauen; Mills’ pragmatische Überzeugungen sind einer der Gründe, warum er in Mannheim von vornherein nur teilweise befriedigende Antworten gefunden hat. In diesem Sinn kann man deshalb davon sprechen, daß Mills zum Studium der Wissenssoziologie eher vom Pragmatismus her kam, als daß er den Pragmatismus zur Stärkung seiner wissenssoziologischen Ansichten benutzte. Mills’ Ziel war es, soziologische Erklärungen für die Interpretation von ideologischen Positionen von Kollektiven durch Mitglieder und Nichtmitglieder zu erarbeiten. Während seines Aufenthalts an der University of

18 Wisconsin veröffentlichte er drei Artikel, „Language, Logic, and Culture“28 , „Situtated Actions and Vocabularies of Motive“29 und „The Language and Ideas of Ancient China“30, in denen er die Rolle der Sprache als Katalysator oder Hemmnis sozialer Integration betonte. Stilistisch gesehen, sind diese Aufsätze häufig unzusammenhängend und verwirrend, andererseits aber inhaltlich stimulierend genug, um sie von bleibendem Interesse zu machen. Diskurs, sei es in der Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, wird sowohl vom Denkenden als auch vom Publikum mit Hilfe einer gemeinsamen Sprache betrieben. Bei dieser Sprache handelt es sich nicht notwendigerweise um eine bestimmte nationale oder ethnische Sprache, obwohl dies als Beispiel gelten könnte; vielmehr bezieht sich die Bezeichnung als Gattungsbegriff auf Argumentationsketten, deren Symbolhaftigkeit gemeinsame Reaktionsweisen hervorruft. Sofern Sprache unterschiedlich interpretierbar ist und die Perspektive bestimmt, von der aus wir ein Problem untersuchen, so muß sie auch die Interpretation der Motive eines Denkers durch ein Publikum beeinflussen. In seinem Aufsatz „Situated Actions and Vocabularies of Motive“ argumentiert Mills, daß man Motive nicht isoliert von Sprache oder ihrem sozialen Kontext analysieren kann. Die Mitgliedschaft in einer bestimmten sozialen Klasse oder Gruppe in einer mobilen Gesellschaft hat zur Folge, daß man keine Motive erlernt, deren Interpretation relativ stabil sein kann, es sei denn, ein bestimmtes Mitglied verläßt seine Gruppe oder die Eigenschaften der sozialen Struktur wandeln sich. Sofern wir uns für die „tatsächlichen Einstellungen“ oder „wirklichen Motive“ und nicht nur für die behaupteten Motive einer Person interessieren, müssen wir in Betracht ziehen, daß wir von den linguistischen Gewohnheiten einer Person nur darauf schließen können, was ihr sozial-bedingtes Handeln zur Zeit der von ihr ausgesprochenen Meinung oder ihres Verhaltens ist (Mills war der Ansicht, daß genau dies in der Mehrheit der von Soziologen durchgeführten Meinungsforschungen der Fall ist). Wie kann man mit diesen Folgerungen arbeiten? Wie Mills beschreibt, sind Soziologen in der Lage, Idealtypen des Vokabulars von Motiven, die in der Konstellation von Situationen zu finden sind, zu erarbeiten:

19 „A labor leader says he performs a certain act because he wants to get higher standards of living for the workers. A businessman says that this is rationalization, or a lie; that it is really because he wants more money for himself from the workers. A radical says a college professor will not engage in radical movements because he is afraid for his job, and besides, is a ‘reactionary’. The college professor says it is because he just likes to find out how things work. What is reason for one man is rationalization for another. The variable is the accepted vocabulary of motives, the ultimates of discourse, of each man’s dominant group about whose opinion he cares. Determination of such groups, their location and character, would enable delimitation and methodological control of as31 signment of motives for specific acts .“

Um die Identität dieser Gruppen näher bestimmen zu können, muß man den Sprachgebrauch mit bestimmten sozialen Kontexten in Verbindung bringen: „What is needed is to take all these terminologies of motive and locate them as vocabularies of motive in historic epochs and specified situations. Motives are of no value apart from the delimited societal situations for which they are the appropriate. They must be situated. At best, socially unlocated terminologies of motives represent unfinished attempts to block out social areas of motive imputation and avowal. Motives vary in content and character with historical epochs and societal structures32.“

In seinem Aufsatz „The Language and Ideas of Ancient China“ versucht Mills zu zeigen, warum sich die Wissenschaft in Ostasien nicht entwickeln konnte, während sie in Europa zur Blüte kam: „In America, this type of generalization from laboratory and craft facts has gone further than anywhere else. American pragmatism from Peirce through Dewey, and the core of Veblen has been built squarely around the technological laboratory and industrial domain of culture. The Chinese did not. Thus, although the means-ends, the physically technical logic, was no doubt implicit in the craft work of the Chinese, this logic was not raised to form part of the circle of official canons of truth and reality. The thinking elite were concerned with other domains of culture: the moral, liturgical, and political. The conceptions and

20 structure of Chinese thought cannot be explained in terms of technological domain and experiences33.“

Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß Mills’ Urteil über die besonderen Eigenschaften der chinesischen Wissenschaft, das sich insbesondere auf die bahnbrechenden Arbeiten von Marcel Granet stützte, angesichts späterer Forschungen von Joseph Needham und anderen einer grundlegenden Revision unterzogen werden müßte. Wichtiger ist jedoch, daß Mills Mannheims Wissenssoziologie in Verbindung mit einer volkstümlichen Psychologie anwandte, um das Ethos der Geistesgeschichte einer Gesellschaft zu untersuchen. In seinem Aufsatz „Language, Logic and Culture“ beschreibt Mills deutlich, wie er sich, durch den Pragmatismus angeregt, der Wissenssoziologie zuwandte. Für Mills war der Pragmatismus nicht so sehr eine Form philosophischen Diskurses als vielmehr eine Philosophie, die die wichtigen soziologischen Probleme bestimmte. Wie schon in seinem Aufsatz „Situated Actions and Vocabularies of Motive“ war er bemüht, die existierende Wissenssoziologie zu verbessern, da sie durch ein „lack of understanding and clear-cut formulations of the terms with which they would connect mind and other factors“34 gekennzeichnet war. Die Schriften von Peirce, Mead und Dewey bilden die Grundlage für seine Überlegungen. Sprache wird als ein „system of social control“ angesehen. Und in enger Anlehnung an Meads „Mind, Self, and Society” definiert er das Symbol als „an event with meaning because it produces a similar response from both the utterer and the hearer“. In ähnlicher Weise definiert er Kommunikation operational als den Kontext von „common modes of response“, in dem der Sinn der Sprache „the common social behavior evoked by it“ ist. Ebenso geht die Begriffsbestimmung des Geistes (mind) als „the interplay of the organism with social situation mediated by symbols“ auf Mead und Peirce zurück. Angelpunkt dieser Überlegungen ist die Dewey’sche Definition von Sprache und Vokabular als „sets of collective action“, die Ergebnis sozialer Normen und Wertvorstellungen sind. Man gewinnt in der Tat den Eindruck, als ließe sich in diesem Aufsatz von Mills alles soziologisch Relevante finden, was die Pragmatisten je über Sprache und Kultur geäußert haben. Indem er seinen Ansatz als „sociotics“ kennzeichnet, versucht Mills, alle soziologischen Phänomene, die man in

21 der Funktion der Sprache ausmachen kann, in einem Begriff zu fassen; nämlich die Art und Weise, in der Sprache das Denken kanalisiert, begrenzt und möglich macht. Wie aber Mills selbst bereitwillig andeutet, geht „sociotics“ auf das Werk von Charles W. Morris (Foundation of the Theory of Signs) zurück. Es handelt sich dabei aus soziologischer Sicht um nichts anderes als um die Beziehung von Zeichen zu ihren Benutzern – Morris nennt es Pragmatik. Aufgrund dieser Überlegungen, und nicht von Marx oder Mannheim angeregt, kam Mills zum Studium der Wissenssoziologie. Auch in seinem Bemühen, eine soziologische Basis für die Bestimmung von Wahrheit zu entwickeln, unterschied sich Mills von Mannheim. In „Methodological Consequences of the Sociology of Knowledge“ konzediert Mills, daß die soziale Stellung eines Denkers zwar die Wahrheit oder Gültigkeit einer Aussage nicht bestimmen, aber die Wahl der Verifikationskriterien entscheidend beeinflussen kann35. Dem Pragmatismus folgend, argumentiert er, daß der Relativismus der Wissenssoziologie nicht notwendigerweise ein Nachteil dieses soziologischen Spezialgebiets sein muß: „The imputation of the sociologist of knowledge may be tested with reference to the verificatory model generalizes; e.g. by Peirce and Dewey“; das heißt durch Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Welt: „The assertions of the sociologist of knowledge escapes the ‘absolutist’s dilemma’ because they can refer to a degree of truth and because they may include the conditions under which they are true. Only conditional assertions are translatable from one perspective to another. Assertions can properly be stated as probabilities, as more or less true. And only in this way can we account for the 36 fact that scientific inquiry is self-connecting .“

Mills stimmt völlig mit der von Peirce vorgeschlagenen Definition der technisch-intellektuellen Elite überein, nämlich als Personen, die sich mit dem Zweifel an der Kritik und der Bestimmung von Vorstellungen beschäftigen. Er gelangte ohne große Schwierigkeiten zu einer soziologischen Untersuchung der Bestimmung von Einstellungen sowie zu der Analyse der Bedingungen, unter denen Zweifel institutionalisiert und unter denen Kritik toleriert wird. Mills warf Mannheim Inkonsistenz und Ungenauigkeiten vor, da er im Gegensatz zu Dewey die empirische Analyse

22 nicht von der Untersuchung der generellen, relativistischen Aspekte des Wissens trennte: „We need here to realize Dewey’s identification of epistemology with methodology. This realization carries the belief that the deriving of norms from one type of inquiry ... is not the end of epistemology. In its ‘epistemologic function’ the sociology of knowledge is specifically propaedeutic to the construction of 37 sound methodology for the social sciences .“

Andererseits beruft sich Mills auf Mannheim, um Deweys Vorstellung des Experiments als eine Form wissenschaftlicher Beweisführung zu kritisieren. Mills argumentiert im einzelnen, daß Deweys Physikalismus [is] „informed by failure to see fully and clearly the difficulties and ambiguities associated with the physical paradigm of inquiry and particularly experiment, when applied to social data. Experiment in a societal situation does not“38. So wird klar, daß Mills schon 1940 mit der europäischen Wissenssoziologie dem Empirismus zu begegnen versucht und daß er durch die Tradition des amerikanischen Pragmatismus den eher rätselhaften Rationalismus zu überwinden trachtet. Diese Überlegungen kristallisierten sich in The Sociological Imagination und in seiner Aufsatzsammlung Images of Man. Die „klassische Tradition“, auf die er sich bezog, umfaßte ein Spektrum, das sich von Dewey bis Veblen sowie von Marx bis Mannheim erstreckte. Eine weitere, letzte Vorgehensweise, in der Mills auf Mannheim aufbaute, um Philosophie und Soziologie zu verbinden – er tat dies allerdings erst in den fünfziger Jahren – bezog sich auf Mannheims Kritik der Überrationalisierung in Massengesellschaften, die Mills mit seinen Überlegungen zur relativen Theorielosigkeit der amerikanischen Soziologie kombinierte. Wie auch schon Weber und Simmel vor ihm betont hatten, wies Mannheim darauf hin, daß die modernen Organisationen, die aufgrund von Effizienzüberlegungen geführt werden, dadurch charakterisiert sind, daß sich die Entscheidungsgewalt an der Spitze der Organisation konzentriert39. Lösungen von Problemen werden so auf den Grad bezogen, in dem Probleme von der Organisation abgewendet werden, und nicht auf das Maß, zu dem der Inhalt dieser Organisationsprobleme geeignet wäre, Aufschluß über das Verhalten komplexer sozialer Systeme zu geben; das heißt, es gibt ein Über-

23 maß von funktionaler Rationalität im Verhältnis zu substantieller Rationalität. Das Ergebnis ist, daß sich einzelne Mitglieder den Zielen ihrer Organisation gegenüber konform verhalten und damit einen vergleichbaren Verlust persönlicher Autonomie erleiden, daß ihr Interesse an Vorgängen außerhalb der Organisation und ihre Fähigkeit zu eigenen, unabhängigen Überlegungen abnimmt und daß es zu einer Dichotomisierung von Arbeit und Freizeit kommt, bei der Arbeit zu etwas wird, mit dem man sich bis zum Beginn der Freizeit „arrangieren“ muß. Mills wandte diese Überlegungen auch auf die Arbeit von Sozialwissenschaftlern in Organisationen an, seien es akademische Fachbereiche, staatliche Forschungsförderungsstellen oder Forschungsorganisationen. Soziologen, die Forschungsprojekte übernahmen, die starken organisatorischen Einflüssen ausgesetzt waren, sahen sich in der Regel mit dem Problem konfrontiert, daß sie Metaphysik mit Moral verwechselten, das heißt, indem sie sich (richtigerweise) dagegen zur Wehr setzten, bestimmte Urteile a priori in ihre Arbeit zu übernehmen, kamen sie gleichzeitig (fälschlicherweise) zu dem Schluß, daß die Forschung völlig frei von Fragen nach der Sinnhaftigkeit moralischen Handelns und dem Stellenwert von Wissen in diesem Zusammenhang sein muß. Daß diese Position von Mills in seinem Buch The Sociological Imagination detailliert dargelegt worden ist, braucht hier nicht betont zu werden. Allerdings ist weit weniger klar, daß Mannheim Mills in diesem Zusammenhang nicht nur „beeinflusste“, sondern daß er ihn um ein Vierteljahrhundert sowohl in Ton als auch in Inhalt antizipierte. In einer Buchbesprechung in der American Sociological Review des Jahres 1932 führt Mannheim, nachdem er die deutsche Soziologie wegen ihrer Überbetonung des spekulativen Elements kritisiert hat, aus: „… American sociology suffers from an excessive fear of theories, from a methodological asceticism which either prevents the putting forth of general theories or else keeps such theories as exist isolated from practical research. ... This ascetic attitude towards theories seems to be based on a mistrust of ‘philosophy’ or ‘metaphysics’. Unwillingness to discuss basic questions, however, does not benefit positive research. It is possible that many American scholars will admit the importance of theoretical construction. However, the main thing in the field of methodology is not to have a right opinion, but to act according to it. Now, it seems to me that the most

24 valuable specimens of ‘empirical’ sociology show a curious lack of ambition to excel in the quality of theoretical insight into phenominal structures. They reveal a great anxiety not to violate a certain very one-sided ideal of exactness. One almost ventures to say, such works aim in the first place at being exact, and only in the second place at conveying a knowledge of things. … Exaggerated ‘methodological asceticism’ often results in the drying up of the sources of scientific inspiration and invention. In order to know social reality, one must have imagination, a particular brand of imagination which I should 40 like to call ‘neolistic’ .“

Mills nahm bestimmte terminologische Veränderungen vor, aus „methodological asceticism“ wurde „abstracted empiricism“, aus „realism“ wurde „the sociological imagination“. Besonders wichtig ist, daß es Mannheim unterläßt, die Ursachen dieses Phänomens zu erklären. Mills vereinte die beiden hier erwähnten Kritikpunkte; das heißt, er erklärte das Überwiegen abstrakter Empiristen durch ihre enge Bindung an formale Organisationen, die bis zu einem gewissen Grad die Kunstform empirischer Sozialforschung bestimmen. Zu dieser Zeit hatte sich Mills natürlich schon lange mit der Nützlichkeit der Wissenssoziologie auseinandergesetzt. Es gibt eine Anzahl von Gründen, die dafür verantwortlich sind, daß Mills seinen ursprünglichen Enthusiasmus für die Themen, mit denen er sich in seinen frühen Aufsätzen beschäftigte, verlor. Erstens war die Unterstützung an der Columbia University im Vergleich zur University of Wisconsin für die intellektuelle Position, die er vertrat, weniger eindeutig. So schrieb er zum Beispiel Anfang des Jahres 1940 an Robert K. Merton an der Tulane University (Merton trat seine Position an der Columbia University im Herbst 1941 an), um ihn um kritische Anmerkungen für eine geplante Neufassung seines Aufsatzes „Methodological Consequences of the Sociology of Knowledge“ zu bitten. Merton antwortete ihm nach drei Monaten wie folgt: „In general, I cannot accept the relativistic impasse to which I am forced to believe you (and Mannheim) are driven. Secondly, I do not believe that the alternative is an absolutistic notion of ‘truth’. Thirdly, I think it can be shown that the avowed epistemological consequences of a sociology of knowledge rest in part, if not wholly, upon a semantic confusion in the use of such words as ‘truth’, ‘validity’, ‘knowledge’. Fourthly, I do not accept, of course, most of the

25 other views of Mannheim with respect to the tasks of a sociology of knowledge41.“

Zweitens, weder der Relativismus noch seine Variante, der Relationismus, hatte für Mills in der Praxis die Anziehungskraft, die er für ihn in der Theorie hatte. Er war eher ein Bilderstürmer als ein Vermittler. Sei es während seiner Studienjahre in Texas42 oder während der späteren Jahre im Privatleben43, Mills nahm in der Regel bei fast jedem Thema, das er diskutierte, eine temperamentvolle, kompromißlose Haltung ein. Verantwortlich dafür war unter anderem sicher, daß er mehr als nur Wissenssoziologe sein wollte; er wollte Soziologe sozialer Institutionen sein, insbesondere solcher Institutionen, die mit politischer Macht und der kulturellen Entwicklung Amerikas zu tun hatten – sowie der sozialen Rollen, die Intellektuelle (und die Wissenssoziologie) in jeder dieser Institutionen spielen. Schon im Januar 1942 verwies er in einem Brief an Professor Gerth auf kommende Entwicklungen: „You see, as if you didn’t know it, I am a political youngster. I never paid any attention to political affairs until last year, or better until this year in Washington (you ought to see me clipping the New York Times now). Such training as I’ve had has been concerned with the sharpening up of intellectual apparatus, and I am quite weak in content: social and political history. That is why you are so 44 good to keep setting me on the right track .“

III Trotz des Rufs, den sich Mills in den fünfziger Jahren durch seine Gegnerschaft zu Inhabern mächtiger Positionen in den USA erworben hatte, machte er deutlich, daß die Macht in einer Gesellschaft nicht aus den Läufen von Gewehren stammt, sondern aus den der Intelligenz zugänglichen Möglichkeiten; die Intellektuellen, so glaubt er, könnten die Freiheitsräume der Mächtigen aufzeigen: „It’s been said in criticism that I am too much fascinated by power. This is not really true. It is intellect I have been most fascinated by, and power primarily in

26 connection with that. It is the power in the intellect and the power of the intellect that most fascinates me, as a social analyst and cultural critic45.“

Mills war, wie schon Mannheim, davon überzeugt, daß uns die gegenwärtige Epoche in die Lage versetzt, mit größter Deutlichkeit zu verstehen, daß gegensätzliche politische Ansichten auf bestimmte soziale Kontexte zurückführen und daher im Prinzip komplementär sind. Intellektuelle können in dieser Situation als eine Art Klammer wirken. Sie würden politisch Handelnden nicht vorschreiben, welche Ziele die Gesellschaft anstreben solle, sondern würden ihnen zeigen, wie ihre Widersacher zu verstehen sind, indem sie deren wirkliche Motive und sozio-historische Position enthüllen. Es ist zwar richtig, daß Politik notwendigerweise parteilich ist, aber diese Parteilichkeit selbst ist veränderbar und ständig Wandlungen unterworfen. Im Gegensatz zu Mannheim war Mills der Meinung, daß die Aussichten für eine „wissenschaftliche Politik“, zumindest in den USA, nicht besonders gut waren und daß dies seit Ende des ersten Weltkriegs immer deutlicher geworden ist. In allen Arbeiten von Mills gibt es einen Generalnenner, der im Lauf der Zeit immer deutlicher wird: In den Vereinigten Staaten von Amerika kamen die politisch Mächtigen einst aus der Intelligenz. In den „überentwickelten Gesellschaften“ haben die Mächtigen den Intellekt als Bezugspunkt jedoch aufgegeben. Als Ergebnis dieser Entwicklung wird der politische Liberalismus als politische Kraft, sofern er nicht zur Banalität und Impotenz verurteilt ist, häufig im Interesse der Machtelite eingesetzt, um die von der Machtelite begangenen Verbrechen im Namen einer höheren Moral zu verschleiern. Genauso, wie das Wissen der Intellektuellen nur selten zur Macht führt, führt die Macht den Mächtigen nur selten zum Wissen46. Die Überlegungen, die Mills zu dieser Überzeugung brachten, lassen sich aus einer Reihe von Aufsätzen rekonstruieren, die er während seines Aufenthalts in Maryland schrieb. In einem unveröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Locating the Enemy: Problems of Intellectuals in Time of War“ verweist Mills darauf, daß die Intellektuellen die Möglichkeit zu autonomem Handeln dann weitgehend verloren haben, wenn sie zu Kriegszeiten aufgerufen sind, bestimmte Dienste für ihre Regierungen zu leisten. Aus Rücksicht auf die Notwendigkeit, die nationale Einheit zu stärken, ist es unmöglich, eine Vielzahl von Perspektiven zu erarbeiten, zumal diese

27 Perspektiven in der Regel ihren Ursprung im Ausland haben und daher als fragwürdig angesehen werden: „Liberal social thinking requires something of which to be ‘critical’, and something to which to look as ‘promising’. Liberal intellectuals are by their character as intellectuals in an opposition. But during war, the opposition lies across national boundaries; it is the ‘enemy’. All the social mechanics and situations connected with the tasks which thinkers pursue stand against the chances of the in47 tellectual content of their thinking being otherwise than mentioned .“

Allerdings unterließ es Mills zu erklären, warum Intellektuelle so bereitwillig waren, im Dienste des Staates diese Funktionen – Lehren, Schreiben, Herausgeben, Forschen – auszuüben. Zurückblickend hat man den Eindruck, daß die Bedeutung des Aufsatzes darin liegt, daß Mills andeutet, daß der Nationalismus, genauso wie klassenadministrative oder bürokratische Zugehörigkeit, ein Hindernis in der Wahrheitsfindung sein kann. In einem später geschriebenen unveröffentlichten Aufsatz „The Personal and Political“48 hat es den Anschein, als wolle er die Frage nach dem „Warum“ beantworten. Intellektuelle haben die absurde Dichotomie von Intellekt und Politik akzeptiert und damit auch Intellekt und Moralität voneinander getrennt. Wahrheit und politische Macht sind Gehilfen; sofern diejenigen, die Macht anstreben, Macht haben oder sie vermehren wollen, nicht eine von der Wissenssoziologie beeinflusste Einstellung zur Wahrheit einnehmen, besteht die Gefahr, daß sie sich einer „höheren Unsittlichkeit“ unterwerfen. Die Intellektuellen müssen nun, frustriert in ihrer Suche nach Macht oder in dem Bemühen, diejenigen zu beeinflussen, die Macht besitzen, das tun, was sie en masse zu vermeiden versuchten: nach Wahrheit nicht als kontemplativem Bereich zu suchen, der von „Politik“ nicht kontaminiert ist, sondern als einer Form politischen Aktivismus’49. Im Grunde sind sie jedoch Angehörige der Mittelklasse und in Organisationen beschäftigt; sie unterliegen häufig der politischen Psychologie des verängstigten Arbeitnehmers. Sie zensieren sich selbst, um „ungefährliche“ Problemansätze zu finden, im Gegensatz zu solchen, die ihren Rang im Angestelltenapparat in Frage stellen könnten, sehr wohl wissend, daß sie dabei ihre Autonomie kompromittieren. Dies ist Ursache persönlicher Frustrationen, mit denen Intellektuelle zu kämpfen haben.

28 Mills vertiefte seine These in einem 1944 veröffentlichten Aufsatz „The Powerless People: The Role of the Intellectuals“50. Das politische Geschäft basiert in allen „industriellen Gesellschaften auf Macht – und Geheimhaltung, Heuchelei, Unehrlichkeit, Bürokratisierung und die Unterdrückung von Dissent werden zunehmend Mittel zu diesem Zweck. Dennoch ist die Erklärung für diese Entwicklung nicht eindeutig; es handelt sich mehr um eine interne Bedingung als um einen externen Feind. Die Aufgabe des Intellektuellen ist es, die wirklichen Gründe und die Identität der Personen, die die Entwicklung in Gang gebracht haben, auszumachen. Aber warum ist er an diese Verantwortung gebunden? „The shaping of the society in which we live and the manner in which we shall live in it are increasingly political. And this society includes the realms of intellect and personal morals. If we demand that these realms be geared to our own activities which make a public difference, then personal morals and political interests become closely related; any philosophy that is not a personal escape involves taking a political stand … The independent artist and intellectual are among the few remaining personalities equipped to resist and to fight the stereotyping and consequent death of genuinely living things … These worlds of mass-art and mass-thought are increasingly geared to the demands of politics. That is why it is in politics that intellectual solidarity and effort must be centered. If the thinker does not relate himself to the value of the truth in political struggle, he cannot responsibly cope with the whole of live experience51.“

Im Ansatz enthalten diese drei Aufsatze all das, was Mills später zur Beziehung von Macht und freischwebenden Intellektuellen schreiben sollte. In der Tat hat er einige Abschnitte später wörtlich wieder verwendet52. Das obige Zitat im besonderen liest sich wie eine Aussage über eine persönliche Mission. Bei seinem Vorwurf an die Adresse des Klerus, die Politik zu meiden, bestand er darauf, daß [that] „this world is political. Politics, understood for what it really is today, has to do with the decisions men make which determine how they shall live and how they shall die“53. Seine Bücher The New Men of Power und The Power Elite können daher besser als missionarische Schriften verstanden werden, in denen er den religiösen und säkularen Klerus aufruft, Ideen in politisches Handeln umzusetzen.

29 Für Mills bestand das Versagen des modernen Liberalismus darin, daß er, wo er einst auf Vernunft und Intellekt für seine Durchsetzungskraft vertraute, nun zur Sprache der funktionalen Rationalität großer Institutionen geworden ist54. Das Individuum, der Freie, auf den sich liberales Gedankengut einst stützte, hat sich einem politischen Irrationalismus verschrieben: denn im gescheiterten Bemühen, den offensichtlichen Zerfall des „Konkurrenzgleichgewichts“ ebenso wie das zunehmende Zusammenwachsen von Wirtschaft, Politik und Militär zu erklären, hat er sich der Apathie oder dem ideologischen Wunschdenken, das gegen „Kommunisten“ oder irgendwelche andere identifizierbare Feinde gerichtet ist, verschrieben. Im Zusammenhang mit dem Niedergang liberaler Philosophie steht eine zunehmende Einflußnahme liberaler Rhetorik. Von Aristoteles über Locke bis Mannheim war es eine der grundlegenden Annahmen des Liberalismus, daß Moralität und Freiheit innerhalb und nicht außerhalb des politischen Prozesses gefunden werden müssen. Indem aber die Mächtigen auf „Moralität“ und „Freiheit“ rekurrieren, um ein Handeln zu rechtfertigen, das diese Ideale ständig verletzt, banalisieren sie sowohl diese Ideale als auch den Liberalismus selbst. Dort, wo der Liberalismus nicht zu einem Mechanismus der Verwirrung entartete, wurde er zum Zetergeschrei für Aufwärtsmobilität und wachsende Erwartungen in einer kapitalistischen Mischwirtschaft, als ein Vehikel für private und quasi-private Interessengruppen, die ihre Ansprüche dem Staat gegenüber vorbrachten, der jeder dieser Gruppen Almosen im Namen eines „fair play“ zukommen ließ. Die Anziehungskraft, die der Liberalismus in gleicher Weise auf Gewerkschaftsführer, Bürokraten und Geschäftsleute ausübte, war sein Verderben: „The ideals of liberalism have been divorced from any realities of modern social structure that might serve as the means of their realization. Everybody can easily agree on general ends; it is more difficult to agree on means and the relevance of various means to the ends articulated. The detachment of liberalism from the facts of a going society make it an excellent mask for those who do not, cannot, 55 or will not do what would have to be done to realize its ideals .“

Der Vorwurf, daß der Liberalismus an Kraft verlor, zu Kompromissen bereit war, nur zu rhetorischen Ausfällen fähig und nicht in der Lage war, ei-

30 nen Angriff auf politische Tyrannei zu unternehmen, war auch von konservativer Seite, allerdings aus völlig anderen Gründen, vorgetragen worden. Die liberale Nachkriegsintelligenz reagierte auf ihre Kritiker mit einer „Get-Tough-Policy“, wobei es sich dabei mehr um eine Besänftigung der Rechten in der Epoche des Kalten Krieges handelte, typisch dafür war die Vorstellung vom Ende der Ideologie, die Ende 1955 auf dem CCFKongreß in Mailand aufgestellt wurde, als um die linke Position, die Mills repräsentierte. Die späten vierziger und fünfziger Jahre waren, wie Garry Wills dies genannt hat, die Blütezeit des Bogart-Professors56, des liberalen „tough-guy“, der aufgrund seiner kampferprobten Erfahrungen im OSS, CIA oder besser noch als Ergebnis eines kurzen, aber erfolglosen Flirts mit der Kommunistischen Partei (von der zuletztgenannten Erfahrung sagte Arthur Koestler, daß sie am besten geeignet sei, um sich gegen die falschen Verlockungen von Ideologie zu wappnen) in der Lage war, den Herausforderungen einer wildgewordenen Ideologie angemessen zu begegnen. Während Koestler, Sidney Hook und Arthur Schlesinger den allgemeinen Ton angaben, eröffneten die liberalen Sprecher des Kalten Krieges, von der Annahme ausgehend, daß sie Vorstellungen entwickelten, durch die die herkömmlichen Verweise auf „rechts“ und „links“ ihre Gültigkeit verlieren würden, eine primäre Angriffsfront gegen die Linke (die der Gefahr unterlag, dem Stalinismus gegenüber blind zu sein) und eine sekundäre gegenüber der Rechten (die der vergleichbaren Gefahr unterlag in einer von Senator McCarthy beeinflußten Weise der Überreaktion). Mit anderen Worten: zur gleichen Zeit, als der Liberalismus die liberale Rhetorik schuf, brachte der Pragmatismus einen „tough-minded“ Pragmatismus oder als Alternative einen „hard-headed“ Pragmatismus hervor. Die von der Linken vertretene Kritik der gesamten amerikanischen Sozialstruktur war bestenfalls „einseitig“ und „utopisch“. Mills sah diese Vorstellungen als Ausdruck .eines „false consciousness, if there ever was one, [as] a disillusionment with any real commitment to socialism“, das weniger als explizite Auseinandersetzung als in einer an der Welt verzweifelten Stimmung ausgedrückt wurde. Paradoxerweise war die Hartnäckigkeit der Angehörigen der CCF Beweis für die Impotenz des Liberalismus. Die Vorstellung vom Ende der Ideologie war selbst ideologisch, obwohl es sich dabei, in Mannheims Begriffssprache, um eine parti-

31 kulare und nicht um eine totale Ideologie handelte. Was den Vorwurf des Utopismus angeht, so schrieb Mills: „‘Utopian’ nowadays I think refers to any criticism or proposal that transcends the up-close milieu of a scatter of individuals: the milieu which men and women can understand directly and which they can reasonably hope to change. In this exact sense, our theoretical work is indeed utopian in my own case, at least, deliberately so. What needs to be understood, and what needs to be changed, is not merely first this and then that detail of some institution or policy. If there is to be a politics of a New Left what needs to be analyzed is the structure of institutions, the foundation of policies. In this sense, both in its criticism and in its pro57 posals, our work is necessarily structural – and so, for us, just now – utopian .“

Mit anderen Worten, Mills basierte seine Überlegungen auf die gleichen Annahmen wie Mannheim. Fälschlicherweise richteten die Ideologen des Endes der Ideologie ihre Angriffe auf die gesamte utopische Linke, sie hatten sie richtigerweise nur auf ihren chiliastischen Teil, der nicht in der Lage ist, andere Visionen strukturellen Wandels auszudrücken als solche, die eine radikale Veränderung ihres sozio-historischen Kontextes implizieren, ausrichten sollen. Geblendet vom doktrinären offiziellen Anti-Kommunismus, erscheinen alle Utopisten als Chiliasten. Es ist gerade ihr Realismus, der verhindert, daß er sich Mannheims Warnung zu eigen macht: „Die liberale Idee ist adäquat nur verstehbar als Gegenspielerin des oft hinter rationalistischen Konstruktionen sich verbergenden chiliastischen Durchbruchserlebnisses, das stets potentiell historisch und sozial den Liberalismus rücklings zu überfallen droht58.“

IV In der Mitte der fünfziger Jahre kam Mills zu der Überzeugung, daß die Gesetzmäßigkeiten der Machtbeziehungen in Amerika weniger eine Frage der Politik als eine Angelegenheit der politischen Kultur sind; so wurden aus „freischwebenden Intellektuellen“ „kulturelle Arbeiter“. In diesen Veränderungen seiner Einstellung, die in The Sociological Imagination deut-

32 lich werden und besonders in den Aufsätzen des unveröffentlichten Buches The Cultural Apparatus, manifestiert sich Mills Beziehung zu Mannheim in dessen späteren Lebensjahren. Mills’ Einschätzung der amerikanischen Kultur stand in einer engen Beziehung zu seiner Überzeugung, daß die „kulturellen Arbeiter“ kaum einen Einfluß auf sie hatten. In einer gewissen und unbedeutenden Weise war die amerikanische Kultur für die vielen soziologischen und sozialpsychologischen Beobachtungen von und Vorurteilen über Mittelklassen- und untereMittelklassen-Familien dieser Zeit sehr empfänglich. Die fünfziger Jahre waren eine Periode des „Organization Man“, des Aufsteigers und Statussuchers, des Mannes im grauen Anzug und der einsamen Masse. Der „economic man“ des White Collar gab Mills Anhaltspunkte zur Formulierung einer analogen kulturellen Variante: des „cheerful robot“; ein „Roboter“, weil für ihn die Geschichte wenig mehr als ein unverständlicher Verlauf blinder Gewalten ist, an die er sich verstandesmäßig auf mechanische Weise mit Hilfe des klassischen Gesetzes vom Schicksal anpaßt („was ist, muß sein“); „fröhlich“, da die gute Botschaft, die sie ihren Mitmenschen bringen, ein gefrorenes Lächeln ist, dessen tiefere Beweggründe davonlaufen. Die wichtigste Aufgabe für Sozialwissenschaftler ist, sowohl tatsächlichen als auch potentiellen Robotern Bestandteile des Geschichtsverlaufs zu erklären. Verantwortlich dafür, daß sie dies bisher nicht getan haben, ist die Tatsache, daß es ihnen nicht gelungen ist, ihr Publikum zu identifizieren; mit anderen Worten, Sozialwissenschaftler selbst zu fröhlichen, aber gebildeten Robotern zu machen. Es ist ihnen daher nicht möglich, den Geschichtsverlauf im Sinn menschlicher Freiheit zu beeinflussen: „The ultimate problem of freedom is the problem of the cheerful robot, and it arises in this form today because today it has become evident to us that all men do not naturally want to be free; that all men are not willing or not able, as the case may be, to exert themselves to acquire the reason that freedom requires ... To formulate any problem requires that we state the values involved and the threat to those values. For it is the felt threat to cherished values – such as those of freedom and reason – that is the necessary moral substance of all significant problem of social inquiry, and as well of all public issues and private trou59 bles .“

33 Die Zwänge wachsender Rationalisierung moderner Gesellschaften kompartmentalisieren nicht alltägliches und esoterisches Wissen, sondern auch die Distanz zwischen den Gruppen, die ihre Träger sind. Esoterisches Wissen („intellect“) und alltägliches Wissen („common sense“) sind willkürliche Gegensätze. Von Intellektuellen wird behauptet, daß sie durch die zuerstgenannte und kaum durch die zuletztgenannte Wissensform ausgezeichnet sind. Die Öffentlichkeit hat angeblich viel von der zuletztgenannten und wenig von der zuerstgenannten Wissensform. Während für Thomas Paine „common sense“ die Integration von persönlichem Lebensstil und politischem Handeln bedeutete, repräsentiert es für den fröhlichen Roboter den idealen Vorwand: „Politik“ wandelte sich zum Lebensstil. Eigennützige kulturelle Unterscheidungen wie „highbrow“, „middlebrow“ und „lowbrow“ entwickeln sich. Freiheit und Sicherheit lassen sich immer weniger voneinander unterscheiden. Unter Mithilfe der Massenmedien werden Bedrohungen der persönlichen Sicherheit daher personifiziert als „sie“, die Feinde der Freiheit. Die Freiheit ist keine Notwendigkeit mehr, sondern eine a priori-Annahme, die sich um die ungenau definierten Vorstellungen von freier Wirtschaft und Anti-Kommunismus aufbaut. Diese Distanz ist somit sowohl ein allgemeiner soziologischer Begriff und, dies ist besonders wichtig, ein Mittel, mit dem man den modernen Trend zur integralen Demokratie erklären kann. Letztlich ist dies das wichtigste Merkmal der amerikanischen politischen Kultur. Seine Veränderung hatte jedoch nicht nur Vorteile. Privatleben und öffentliche Probleme mögen zusammenfallen, um ein „intakteres“ Individuum zu schaffen; allerdings können sie auch durch Zwang zusammenfallen. Diese Möglichkeit war genau die Entwicklung, die durch die Koordinierung von Macht und Wissen durch die Machtelite hervorgerufen wurde. Wie war es möglich, fragte sich Mills, daß das Aufzwingen von wirtschaftlichem, politischem und militärischem Autoritarismus auf das Privatleben in modernen Demokratien, besonders in den USA, Fuß fassen konnte: Wiederum bot Mannheim eine Erklärung an. Obwohl die Demokratie auf dem Glauben an die menschliche Vernunft basiert, politische Entscheidungen zu erzielen, erlaubt sie gleichzeitig, unbehinderten emotionalen Impulsen Ausdruck zu verleihen. Die Demokratie mag zwar zur Entfaltung der individuellen Persönlichkeit beitragen, aber sie entwickelt gleichzeitig einflußreiche Mechanismen, die dazu beitragen, daß das Individuum sein Gewissen aufgibt

34 und „Zuflucht in der Anonymität der Masse sucht“60. Eine Vernunftdemokratie kann daher eine Stimmungsdemokratie werden: „Dictatorships can arise only in democracies; they are made possible by the greater fluidity introduced into political life by democracy; it represents one of the possible ways in which a democratic society may try to solve its problems. ... As political democracy becomes broader and new groups enter the political arena, their impetuous activity may lead to crises and stalemate situations in which the political decision mechanisms of the society become paralyzed. The 61 political process may then be short-circuited so as to enter a dictatorial phase .“

Man kann daher sagen, daß Mannheim de Tocqueville sozusagen aus wissenssoziologischer Sicht wiedergab. Es hat den Anschein, daß Mills den Überlegungen Mannheims folgte, und zwar insofern, als Mannheim die Bereitschaft des Individuums analysierte, sich aus der politischen Arena, in der sich Macht und Intellekt gegenseitig verstärken, zurückzuziehen. Er unterschied sich jedoch von Mannheim in der Bestimmung der Art und Weise dieses Rückzugsverhaltens. Für Mannheim, der die Machtübernahme der Nazis miterlebt hatte, als er 1933 „The Democratization of Culture“ schrieb, manifestierte sich die Stimmungsdemokratie in der freiwilligen Unterwerfung des Individuums unter einen kollektivistischen, vulgarisierten Vitalismus. Für Mills manifestierte sie sich im völligen Rückzug des Individuums aus der Politik, sieht man einmal von der periodischen und relativ sinnlosen Stimmabgabe ab. Der Autoritarismus konsolidierte sich allmählich aufgrund mangelnder Oppositionsfeindlichkeit. Die Angstzustände der Mittelklasse sind Ursache und Ausdruck ihrer perzipierten Hilflosigkeit. Ihre Fähigkeit, politisch zu handeln, wird durch herrschende Ideologien beschränkt, die dazu dienen, Angstzustände über ein zulässiges Maß hinaus anwachsen zu lassen. Sofern sich diese Ideologien zu mehrdimensionalen und miteinander in Konflikt stehenden Ideologien entwickeln, reagiert das Individuum blasiert oder indem es sich auf sich zurückzieht und ist nicht in der Lage zu verstehen, daß die Gefühle, durch öffentliche und private Probleme überwältigt zu werden, Teil einer verschränkten „Falle“ oder „Schere“ sind. Der Intellekt allein kann die Schere nicht öffnen, er kann nur die Notwendigkeit dafür einsehen und Vorschläge dafür unterbreiten, wie dies möglich ist. Die Aufgabe, sie tat-

35 sächlich zu öffnen, ist eine Angelegenheit von Personen, die die Frage: „What must be done, personally and publicly, in order to get whatever it is we want for ourselves and … what must be done in and to the structure of society“62, in aller Öffentlichkeit stellen. Die in Frage kommenden Akteure finden sich heute nicht allein unter Intellektuellen, sondern in drei Gruppen – Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern, die jeweils für sich dem existierenden kulturellen Apparat entgegentreten müssen, der von den Herrschenden etabliert und erhalten wird. Mills zufolge besteht dieser Apparat aus: „All the organizations and milieus in which artistic, intellectual and scientific work is made available to circles, publics, and masses … Inside this apparatus, standing between men and events, the images, meanings, slogans, the worlds in which men live are organized, hidden, debunked, celebrated. Taken as a whole, the cultural apparatus is the lens of mankind through which men see; the medium through which they interpret and report what they see. It is the semiorganized source of their very identities and of their aspirations. It is the source of The 63 Human Variety – of styles of life and of ways to die .“

Kulturelle Aktivitäten finden ihren Ausdruck im Vokabular der Motive. Auf der ganzen Welt bedeutet, ein kulturelles Ereignis zu erleben, Kommunikationssymbole zu erleben, die durch die herrschende institutionelle Ordnung gefiltert sind. Herrschende kulturelle Einrichtungen entwickeln sich durch einen freiwilligen Austausch zwischen Kulturarbeitern und herrschender Elite. Das gemeinsame Austauschmedium ist Prestige. Der Kulturarbeiter, als dienender Handwerker, wird immer dann, wenn er sich um kulturelles Prestige bemüht, ko-optiert. Seine Fähigkeit, Vernunft, Sensibilität und Technik zur Schaffung von Schönheit zu vereinen, wird kompromittiert, ganz unabhängig davon, ob ihm dies bewußt ist oder nicht. Es zeigt sich hier eine Art Parallele mit der Marxschen Theorie des Mehrwerts, wie Mills es in seinem Aufsatz in Politics (1944) ausdrückte: „The means of effective communication are being expropriated from the intellectual worker. The material basis of his initiative and intellectual freedom is no longer in his hands.“ Dies hat zur Folge, daß sowohl der „Star“, der 5000 Dollar für einen populären Stil verlangt, obwohl er gerade diesen Stil hinter sich lassen möchte, als auch der liberale Intellektuelle oder Journa-

36 list, der dafür bezahlt wird, die Schweinebuchtaffäre zu verschleiern, ebenso wie der Physiker, der sich weigert, seine Vorgesetzten über die Gefahren des atomaren Krieges aufzuklären, ein gemeinsames kollektives, allerdings nicht klassenbedingtes Bewußtsein entwickeln. Indem Mills den Sozialwissenschaftler als Inhaber einer der sozialen Positionen sieht, die diesen erlaubt, als Vermittler zwischen den gesamtgesellschaftlichen Kulturgruppen zu fungieren, wird die von Mannheim beeinflußte Konzeption dieser Rollenträger besonders deutlich: der Soziologe als Handwerker, der Soziologe als großer Mann, der Soziologe als Autobiograph. Trotz der Dramatik, des Ehrgeizes und des Grads der Anregung, die diese Vision impliziert, enthält sie gleichzeitig eine Anzahl von Mängeln, ganz abgesehen von der eher fragwürdigen Annahme, daß sich die Aktivitäten von Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen ähneln. Erstens, Mills hatte nur geringe Kontakte mit amerikanischen Kulturschaffenden. Darüber hinaus war sein Eindruck vom Alltag in Amerika während der fünfziger und frühen sechziger Jahre notwendigerweise pessimistischer. Zwar war diese Zeit nicht gerade die Blüte eines RenaissanceMenschen, aber es war eine kulturelle Wüste, nur von unbedeutenden kreativen Ausbrüchen unterbrochen, die kaum von einem ebenso kleinen Publikum verstanden wurden. Romanciers wie Herbert Gold, Norman Mailer, Leslie Fiedler befanden sich auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität; über Jack Kerouac, Allen Ginsberg und die übrigen Poeten der Beat-Generation mag man zwar mehr geredet als sie gelesen haben (dies trifft immer noch zu), aber sie hatten trotzdem ein großes Publikum; in Hollywood produzierte man zu dieser Zeit eine Anzahl hervorragender Filme, unter ihnen Stanley Kubricks „Paths of Glory“ und „Dr. Strangelove“ (er wurde ein Jahr nach Mills’ Tod uraufgeführt), die nicht nur scharfe Kritiken eines „crackpot-realism“ enthielten, sondern auch Geschäftserfolge waren; Miles Davis, Bud Powell und John Coltrane erweiterten die Konturen des Jazz, ohne das Publikum ihrer Musik zu verärgern; moderne Kunst mag zwar chic gewesen sein, trotzdem führte dies nicht dazu, daß ihre Schöpfer dadurch herabgesetzt wurden. Aus „Race music“ wurde „Rythm and Blues“; Rock 'n Roll verdrängte Patti Page, die Ames Brothers und Your Hit Parade von der Bestsellerliste, obwohl Mills wie auch die anderen Intellektuellen die Bedeutung dieser Entwicklung nicht erkannten.

37 Man konnte natürlich eine neo-Schumpeterianische Haltung einnehmen und behaupten, daß die Massenmedien, die solchermaßen durch die Machtelite kontrolliert und personifiziert wurden, durch Langspielplatten, Fotografien, Filme und Taschenbücher das Ableben dieser Elite vorbereiteten. Diese These würde der von Daniel Bell vertretenen Auffassung in seinem Buch The Cultural Contradictions of Capitalism ziemlich nahekommen64. Dennoch ist sehr gut möglich, daß eine solche These auf lange Sicht nicht unbedingt zutreffen muß; aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, muß ihre Konsequenz notwendigerweise harmvoll sein? Mills hat diese möglichen Entwicklungen im Hinblick auf die Massenmedien jedoch nicht untersucht; er ging offenbar davon aus, daß die Massenmedien ein wichtiger Bestandteil der allgemeinen kulturellen Entwicklung sind. Zweitens, Mills’ Charakterisierung des fröhlichen Roboters ist zweifellos zu einem gewissen Grad realitätsnah, allerdings ist sie auch ein Produkt der Mängel der Literatur über die Massengesellschaft sowie der zu seiner Zeit vorherrschenden Vorurteile über die Vorstädter. Es waren William Michelson, Herbert Gans und Bennett Berger, die Gegenpositionen zu denen von William H. Whyte, John Seeley, Maurice Stein und David Reisman entwickelten. Die konsequente Ablehnung der strukturierten empirischen Sozialforschung hat Mills in diesem Zusammenhang schwer bezahlen müssen. Da er nicht bereit war, mit seiner Hypothese vom fröhlichen Roboter zu Felde zu ziehen, war er darauf angewiesen, aus einer Kollage von Impressionen aus erster Hand, zufälligen persönlichen Erlebnissen, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten sowie den empirischen Ergebnissen anderer seine eigene Kulturkritik zu entwickeln. Bis zu einem gewissen Punkt mögen diese Hilfsmittel sicher von Wert gewesen sein. Es ist möglich, daß Bennett Berger in kritischer Absicht an Mills dachte, als er seine Untersuchung eines Arbeitervororts in Kalifornien mit folgenden Bemerkungen endete: „The critic waves the prophet’s long and accusing finger and warns: ”You may think you’re happy, you smug and prosperous striver, but I tell you that the anxieties of status mobility are too much; they impoverish you psychologically, they alienate you from your family” … And the suburbanite looks at his new house, his new car, his new freezer, his lawn and patio … and scratches his head, bewildered. The critic appears as the eternal crotchet, the professional malcontent telling the prosperous that their prosperity, the visible symbols of

38 which surround them, is an illusion: the economic victory of capitalism is culturally Pyrrhic65.“

Da Mills den Bewohner der Vorstädte und den Massenmenschen als eng verbunden sah, überrascht es nicht, daß er nicht in der Lage war, die Verschiedenheit beider Idealtypen zu sehen. Zusammenfassend kann man jedoch sagen, daß Mills’ Verständnis der amerikanischen politischen Kultur, das Mannheims Überlegungen zur Integration von Reflexion und Handeln von Intellektuellen sowohl herausforderte als auch von ihnen herrührte, eine durchdringende und dennoch unvollständige Vision darstellte. Die Schwächen lassen sich kaum leugnen – manche Kritiker würden sagen, daß sie lahmend waren. Dennoch ist es ein Zeichen von Mills’ Größe als Sozialwissenschaftler, daß er zumindest in der Lage war, Arbeitshypothesen und -modelle für die Forschung zu entwickeln, die weit über die Grenzen der USA hinaus anwendbar sind.

Anmerkungen 1

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1952, S. 81. C. Wright Mills, The Causes of World War Three, New York 1958, S. 20-21. 3 John Friedmann, Retracking America: A Theory of Transactive Planning, Garden City, N.Y., 1971, S.228. Friedmann ist immer noch einer der wenigen amerikanischen Planungstheoretiker, in deren Schriften die Beziehung zwischen Gesellschaftslenkung und Wissenssoziologie behandelt wird. 4 Harvey Swados, C. Wright Mills: A Personal Memoir: in: Dissent, Winter 1963, S. 37. 5 Dan Wakefield, Taking it Big: A Memoir of C. Wright Mills, in: Atlantic, September 1971, S.65. 6 Ders., a. a. O., S. 70. 7 C. Wright Mills, a. a. O., S.156. 8 C. Wright Mills, The Sociological Imagination, New York 1959, S. 6. 9 C. Wright Mills, Two Criteria for a Good Society, in: Irving Louis Horowitz (Hrsg.), On Social Men and Social Movements: The Collected Addresses and Lectures of C. Wright Mills, Mexico City 1968. 10 Jede der folgenden Quellen liefert eine adäquate bis ausgezeichnete Diskussion und/oder Kritik über Mannheims Wissenssoziologie. Zu den kürzeren Zusammenfassungen gehören: John Friedmann, a. a. O., S.22-48; Scott Green, The Logic of So2

39 cial Inquiry, Chicago 1969, S.5-6; W. Warren Wagan, The City of Mass, Boston 1963, S.252-53; Hans Speier, Social Order and the Risks of War: Papers in Political Sociology, Cambridge, Mass., 1969, S.190-201; H. Stuart Hughes, Consciousness and Society: The Reconstruction of European Social Thought, 1890-1930, New York 1958, S.418-27; Benjamin Walter, The Sociology of Knowledge and the Problem of Objectivity, in: Llewellyn Gross (Hrsg.), Sociological Theory: Inquiries and Paradigms, New York 1967, S.335-57; Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York 1957, S. 256-88; Kurt Wolff (Hrsg.), From Karl Mannheim, New York/ Oxford, S.XI-CXXXIII; Werner Stark, The Sociology of Knowledge: An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, London 1958; Jacques Macquet, The Sociology of Knowledge: Its Structure and its Relation to the Philosophy of Knowledge, Boston 1951. Für eine Diskussion darüber, inwieweit Mannheim Mills direkt beeinflußte, siehe: Joseph A. Scimecca, The Sociological Theory of C. Wright Mills, Port Washington, N.Y., 1977, S. 32-33, 50-51; Derek Phillips, Epistemology and the Sociology of Knowledge: The Contributions of Mannheim, Mills, and Merton, in: Theory and Society, 1, 1, 1974. 11 Karl Mannheim, a. a. O. 12 Ebd. 13 Karl Mannheim, Freedom, Power, and Democratic Planning, New York/Oxford 1950, S. 200/1. 14 Karl Mannheim, Essays on the Sociology of Culture, London 1956, S. 51. 15 H. Stuart Hughes, a. a. O., S.420. 16 C. Wright Mills, Situated Actions and Vocabularies of Motive, in: American Sociological Review, 5, Nr. 6, 1940, S. 427. 17 Werner Stark, a. a. O., S. 333-46. 18 Irving Louis Horowitz, Prehistoria de la Sociologia del Conocimiento: Bacon y Dilthey, in: Cuadernos de Sociologia, XIII, Nr. 22, 1960, S. 189-214. 19 C. Wright Mills, Images of Man, XXX, S.12. 20 Ders., Methodological Consequences of the Sociology of Knowledge, in: American Journal of Sociology, 46, Nr. 3, 1940, und in ders., Power, Politics and People, New York 1963, S.456. 21 Ders., Power, Politics and People, a. a. O., S.456-57. 22 W. Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie, 1954, S.67, zitiert in Werner Stark, The Sociology of Knowledge, a. a. 0., S. 338. Stark selbst erhebt genau den gleichen Vorwurf. 23 Joseph A. Scimecca, a. a. O., S. 50. 24 Derek Phillips, a. a. O., S. 65. 25 C. Wright Mills, Buchbesprechung von Karl Mannheim, Man and Society in an Age of Reconstruction, New York 1940, in: American Sociological Review, 5, Nr. 6,1940, S. 965-69. 26 Ebd., S. 965. 27 Ebd., S. 967-68. 28 Ders., a. a. O., 1963, S. 423-38. 29 Ebd., S. 439-52.

40 30

Ebd., S. 469-524. Ebd., S. 448. 32 Ebd., S. 452. 33 Ebd., S. 499. 34 Ebd., S. 424-68. 35 Ebd., S.453-68. 36 Ebd., S. 463. 37 Ebd., S. 464. 38 Ebd., S. 466. 39 Siehe Daniel Bell, The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, New York 1962, S. 24. 40 Karl Mannheim, Buchbesprechung von Stuart A. Rice (Hrsg.), Methods in Social Science, Chicago 1931, in: American Journal of Sociology, 38, Nr.2, 1932, S. 273-82; und in: Karl Mannheim, Essays on Sociology and Social Psychology, New York 1953, S.189-90. 41 Brief von Robert K. Merton an C. Wright Mills vom 16. April 1940. 42 Brief von A. P. Brogan an John L. Gillin vom 2. Februar 1939; Brief von Carl Rosenquist an T. C. McCormick vom 2. Februar 1939; Brief von Henry D. Sheldon, Jr. an John L. Gillin vom 4. Februar 1939. 43 Vgl. die Bemerkungen von Mrs. Yaroslava Mills in Joseph A. Scimecca, a. a. O., S.121. 44 Brief von C. Wright Mills an Hans Gerth vom 16. Januar 1942. 45 C. Wright Mills, A Preface to Political Morality, in: ders., a. a. O., 1968. 46 Ders., Power Elite, New York 1956, S. 352. 47 Ders., Locating the Enemy: Problems of Intellectuals During Time of War, in: ders., a. a. O., 1968. 48 Ders., The Personal and the Political, in: ders., a. a. O., 1968. 49 Siehe Karl Mannheim, a. a. O., 1952, S. 91. 50 C. Wright Mills, The Powerless People: The Role of Intellectuals, in: Politics, I, Nr. 3, April 1944; auch erschienen in: ders., a. a. O., 1963, S. 292-304. 51 Ders., a. a. O., 1963, S. 299. 52 Siehe zum Beispiel ders., White Collar, London 1969, S. 157-59. 53 Ders., a. a. O., 1958, S.155. 54 Siehe ders., Liberal Values in the Modern World, in: ders., a. a. O., 1963, S.187-95; ders., Political Ideals and Vulgar Ideologies, in: ders., a. a. O., 1968, und ders., a. a. O., 1956, S. 242-68. 55 Ders., a. a. O., 1963, S.189. 56 Gary Wills, Nixon Agonistes: The Crisis of the Self-Made Man, Boston 1970, S. 507-22. 57 C. Wright Mills, Letter to the New Left, in: New Left Review, Nr. 5, 1960; auch erschienen in: Chaim I. Waxman (Hrsg.), The End of Ideology Debate, New York 1968, S. 134. 58 Karl Mannheim, a. a. O., 1952, S.196. 59 C. Wright Mills, a. a. O., 1959, S.175. 31

41 60

Karl Mannheim, a. a. O., 1956, S.174. Ebd., S.171-172. 62 C. Wright Mills, Private Lives and Public Affairs: Life as a Trap, in: ders., a. a. O., 1968. 63 Ders., a. a. O., 1963, S. 406-07. 64 Daniel Bell, The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1976. 65 Bennett Berger, Working-Class Suburb, Berkeley and Los Angeles 1960. 61

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Welge.

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Zwischen der Charybdis des Kapitalismus und der Szylla des Kommunismus: Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945

I Ich möchte hier zwei Aspekte der deutschen wissenschaftlichen Emigration in die westlichen Demokratien, speziell in die USA und nach Großbritannien, untersuchen. Dabei ist es nicht unbedingt meine Absicht, eine umfassende Darstellung dieser komplexen historischen und ideologischen Materie zu liefern, aber doch eine, die sich nicht in dem Gestrüpp soziologischer Verallgemeinerungen verirrt, das inzwischen um diesen heiklen Gegenstand gewachsen ist. Lassen Sie mich ganz offen klarstellen, daß ich weder Anhänger des ideengeschichtlichen Ansatzes noch Apologet einer bestimmten Emigrantengruppe bzw. ihrer Ideologie bin. Vielmehr möchte ich die gemeinsamen Nenner oder besser die Wurzelelemente begreifen, die René König kürzlich dazu veranlaßt haben, die Quelle des deutschen soziologischen Exodus im extremen Nationalismus der zwanziger Jahre zu lokalisieren und zu folgern, daß die Verschmelzung von konservativen und radikalen Elementen im Nationalsozialismus nach 1933 eher die Kulmination als die Ursache des sozialwissenschaftlichen Niedergangs war.1 Als erstes wäre zu untersuchen, wer wegging und wer blieb. Alles weist darauf hin, daß die deutsche intellektuelle Emigration in überwältigendem Maße eine deutsch-jüdische und österreichisch-jüdische war. Letztlich machte es wenig aus, ob sich ein Wissenschaftler in höherem oder geringerem Maße als Jude fühlte, ob er aus einer assimilierten oder zionistisch orientierten Familie stammte. Ähnlich war die Frage der jüdischen Marginalität oder Zentralität für diejenigen belanglos, bei denen sich die Träume eines deutschen Nationalismus in die Alpträume deutscher Krematorien

44 verwandelten. Wer leugnen oder verniedlichen möchte, daß das Judentum in der intellektuellen Emigration aus Deutschland den entscheidenden Faktor darstellte, ist von vornherein gezwungen, gequälte, peinliche und letztlich hohle Erklärungen für die Tragödie der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts abzugeben.2 Denn das Entscheidende ist nicht die Emigration intellektueller Gruppen aus einem Land in ein anderes, sondern im Grunde die Vernichtung eines Volkes und in Verbindung damit die der Sozialwissenschaft als eines relativ neuen Teils der demokratischen Tradition des Westens. Der zweite, nicht weniger wichtige Aspekt meiner Untersuchung, der ebenfalls in der betreffenden Literatur zu kurz kommt, wenn er nicht gar gänzlich übergangen wird, liegt darin, daß diejenigen, die der Tragödie entkamen, fast ausnahmslos die Möglichkeit einer Auswanderung in die Sowjetunion ablehnten und statt dessen in die westlichen Demokratien gingen. Sogar jene, die ein problematisches Verhältnis zum Judentum gehabt hatten, sich aber öffentlich zum Sozialismus bekannten, zogen als kollektive neue Heimat den „dekadenten“ kapitalistischen Westen dem „fortschrittlichen“ kommunistischen Osten vor. Rechtsgerichtete Intellektuelle, solche, die im traditionellen Nationalismus und der Diktatur der Bürokratie befangen waren, hatten allen Grund, die sowjetischen Appelle an die internationale Klassensolidarität abzulehnen. Für sie war die Situation bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorgezeichnet, als Rasse und Klasse gegeneinander ihre Ansprüche geltend machten.3 Die linksgerichteten Intellektuellen hatten ihrerseits keine solche einfache Position, auf die sie sich hätten zurückziehen können. Sie mußten den sowjetischen Kommunismus nach empirischer und theoretischer Betrachtung ablehnen. Ich überlasse es anderen, aus dem beunruhigenden Resultat Schlüsse zu ziehen, daß sich deutschsprachige Radikale im kapitalistischen Westen in Sicherheit brachten, ohne sich jemals darüber klar zu werden, was dies für ihre ideologische Parteinahme für die Linke bedeutete.4 Bereits Ende der Zwanziger Jahre war es deutlich zu sehen, daß etwas Dramatisches im sowjetischen kommunistischen „Experiment“ fehlgelaufen war. Es ist ein großes Verdienst der Sozialwissenschaftler in Deutschland sowohl der jüdischer als auch der christlicher Herkunft – bei letzteren muß besonders auf die überragenden Leistungen von Karl August Wittfo-

45 gel5 und von Joseph Alois Schumpeter6 hingewiesen werden –, daß sie viele Probleme, die in der sowjetischen Gesellschaft auftauchten, offen und kritisch behandelten. Diese Kritik am sowjetischen Leben, anfangs nur ein Rinnsal, späterhin ein reißender Strom, trug dazu bei, das Wesen, den Zeitpunkt und den Ort der Emigration, als sie schließlich unumgänglich wurde, zu bestimmen. Es muß als Folge des normalen Utopismus in der sozialwissenschaftlichen Ideologie verstanden werden, daß es auf theoretischer Ebene keine entsprechende kritische Analyse des Sozialismus als eines positiven Werts an sich gab. Kein Utopismus konnte jedoch – spätestens 1933 nicht mehr – eine sowjetische Lösung für das Nazi-System annehmen. Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten: sie alle flohen westwärts. Diese beiden Faktoren gehören wesentlich zu jeder umfassenderen Rekonstruktion von Exilmustern. Jüdisches Überleben ist allgemein von einer relativ demokratischen Gesellschaft abhängig gewesen, in der Individuen, nicht Typen, Rassen oder Klassen von Menschen zählen. Das Überleben der Sozialwissenschaft hängt ebenfalls von einer demokratischen Gesellschaft ab, in der sich Analyse von Ideologie unterscheidet und in der Irrtümer mit wissenschaftlichem Tadel und nicht mit Gewehrfeuer bestraft werden. Ich möchte dieses Zwillingsphänomen – jüdische Marginalität und sozialwissenschaftliche Marginalität – wenigstens vorläufig als Teil der Geschichte und des Erbgutes der deutschen Emigration 1933 - 1945 untersuchen.

II Kürzlich schrieb John Lukacs: „Wenn in Deutschland etwas ehrbar wird, dann wird es gekaut, geschluckt, wiedergekäut, immer und immer wieder.“7 Er dachte dabei speziell an die heftige Nostalgie nach der Weimarer Zeit, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein Emigrantenmythos wurde. Jedoch sollte dieses Thema deutscher intellektueller Emigration meines Erachtens eher als Nebenprodukt des umfassenderen Themas Dekadenz und Demokratie in der Zeit vor Hitler betrachtet werden. Glaubwürdig wird diese Einschätzung dadurch, daß nicht wenige der in den dreißiger Jahren

46 gerade zu Ansehen gelangenden jüngeren Weimarer Persönlichkeiten in ihrer späteren Arbeit ihre besondere Aufmerksamkeit Fragen der Macht, der Interessenvertretung und der Freiheit zuwandten: um nur einige zu nennen, Herbert Marcuse8, Henry Pachter9 und Hans Morgenthau.10 Hoffentlich können in der Analyse der deutsch-jüdischen Emigration nach Amerika und England Exzesse von Pathos und Trivialität vermieden und statt dessen ein Verständnis dafür erreicht werden, wie die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt. Die Verpflichtung der deutsch-jüdischen Sozialwissenschaftler gegenüber der deutschen Kultur ist lang als selbstverständlich angenommen worden – und zu Recht, wenn auch aufgrund der nur bruchstückhaft existierenden autobiographischen Belege.11 Doch nicht bloß die eigene Bildungsgeschichte, sondern auch die großen Themen deutscher Kultur beschäftigten das Weimarer und das Wiener Judentum gleichermaßen. Das Rückgrat der deutschen Soziologie bestand in der Auseinandersetzung mit den großen Problemkreisen Klasse, gesellschaftliche Schichtung und Rasse, gepaart mit dem philosophischen Interesse daran, wie sich Menschen Freiheit und Ordnung aneignen. Es bleibt das ewige Verdienst dieser Tradition, daß sie empirisch, ja noch mehr, daß sie klinisch gewesen ist. Ihr Inhalt kann nicht auf irgendeine abstrakte Karikatur wie etwa Verstehenstheorie einer verstehenden Soziologie12 reduziert werden. Die Reichhaltigkeit der Analyse, die unerreichte Höhe ihrer Leistung entstammen vielmehr dieser symbiotischen Verschmelzung von Untersuchungen gesellschaftlicher Schichtung und Sozialpsychologie – ein Beispiel dafür wäre vielleicht die Arbeit von Hans Gerth und C. Wright Mills zur Sozialpsychologie.13 Auch der Band von Reinhard Bendix über Arbeit und Autorität in der Industriegesellschaft ist eine repräsentative Leistung dieser Art.14 Ich möchte nicht behaupten, daß diese Werke spezifisch jüdische Themen behandeln. Eine derartige Behauptung wäre leicht zu widerlegen und angesichts der Tatsachen absurd. Aber es ist weder ein Irrtum noch eine Übertreibung zu behaupten, daß solche Themen deutliche Bezüge zum Alten Testament aufweisen und Entsprechungen bei den großen deutschjüdischen theologischen Lehrern gefunden haben, so etwa bei Franz Rosenzweig15, Martin Buber16 und Hermann Cohen.17 Besonders Rosenzweig

47 schrieb zu einer Reihe von Themen, welche parallel zu den soziologischen Fragestellungen der Weimarer Republik verliefen. Behaupten möchte ich allerdings, daß die Juden sich zu diesen großen Fragen und von daher oft auch zur Sozialwissenschaft hingezogen fühlten, da ihr Schicksal mit einer Weberschen Perspektive verknüpft war. Sie konnten die groben Begriffe nationaler Interessen, die ein Gustav Schmoller auf der Rechten und ein Vladimir Lenin auf der Linken gemein hatten, weder intellektuell noch emotional akzeptieren. Sogar jüdischen Sozialisten und Kommunisten in Deutschland, wie etwa Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, fiel es schwer, die leninistische Parteikonzeption zu akzeptieren. Wir sollten auch nicht vergessen, daß viele klassische, auf deutsch verfaßte Texte der Sozialforschung, von Georg Simmel bis Paul Lazarsfeld, eigentlich Ergebnisse einer jüdischen Tradition waren, die im Deutschen eine universelle Sprache besaß, um ihre sozialwissenschaftlichen Ideen auszudrücken. Damit soll nicht die Bedeutsamkeit auch prosaischerer Faktoren geleugnet werden: Im allgemeinen blieb Juden der administrativbürokratische Apparat verschlossen. Daher brachte die Beschränkung ihrer beruflichen Möglichkeiten viele Juden dazu, sich entweder für akademische Aufgaben und radikale politische Betätigung zu entscheiden oder aber Geschäftsleute und Ladenbesitzer zu werden. Vor der nationalsozialistischen Konsolidierung der Macht beachtete die deutsche Gesellschaft – mit ihrer Fixierung auf einen übergeordneten Staat – dieses Phänomen relativ wenig, zumindest was ethnische und religiöse Zugehörigkeit betraf.18 Bedenkt man jedoch die Überrepräsentation von Juden bei den Autoren der Weltbühne, den Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung sowie in den Führungspositionen der Sozialdemokratischen Partei, so wird deutlich, daß die Affinität deutscher Juden zu bestimmten Aktivitäten nicht mit dem Hinweis auf die Chancen beruflicher Beschäftigung zu erklären ist, zumal solche Chancen in bürgerlichen Unternehmen ja wohl eher als in den radikalen Bereichen der Gesellschaft zu finden waren. Wie neuere Erhebungen bestätigen, handelt es sich beim deutschen Judentum um ein allgemeines kulturelles Phänomen, das sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Ungarn und Teilen der Schweiz finden läßt. Das heißt nicht, daß die Grundelemente dieser Kultur sich gänzlich von denen anderer Kulturen unterschieden hätten, sondern vielmehr, daß ihr jüdischer Hintergrund als organisatorische Wertskala diente,

48 welche deutsch-jüdische Kultur von anderen Kulturen unterschied. Die deutschen Juden sind ein besonders interessantes Beispiel für eine Gruppe, die trotz erheblichen Assimilationsdrucks, der in Deutschland seit der Emanzipation auf sie ausgeübt wurde, sich der völligen Eingliederung in die deutsche Gesellschaft widersetzte. Statt dessen entwickelten sie eine spezifische deutsch-jüdische Identität, die großen Hindernissen zum Trotz überlebte. In der Tat war der Druck sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gruppe, sich von dieser Identität zu distanzieren und sie abzulegen, zeitweise immens. In jüngerer Zeit wurde dieser Druck weniger wegen der Verbindung zum Judentum als wegen der früheren Verbindung mit der deutschen Kultur ausgeübt.19 Diese deutsch-jüdische Formation, wie sie von Mitgliedern der sozialwissenschaftlichen Welt verkörpert wurde, war gefangen zwischen der Charybdis des Kapitalismus – den sie als das System der Ausbeutung verachteten (dessen Früchte sie aber nichtsdestoweniger genossen) und der Szylla des Kommunismus, den sie als System noch ärgerer Ausbeutung verachteten (und dessen bitteren Früchte sie oft, im Gegensatz zu den russischen Juden, entgingen). Als die Karten gegen sie standen, und das taten sie 1933 bis 1945 wahrhaftig, fällten Mitglieder dieses einflußreichen, wenn auch kleinen Netzes Entscheidungen nicht auf der Basis rivalisierender ideologischer Ansprüche oder gar schlicht ökonomischer Errungenschaften, sondern vielmehr auf der Grundlage politischer und rechtlicher Erwägungen, welche der Gesellschaften die beste Chance für das eigene Überleben und weitere geistige Entwicklung böte. Ein weiterer Punkt hängt damit zusammen: Während manche als zusammenhängende theoretisch orientierte Gruppe in die Emigration gingen, wie etwa in der Soziologie die Frankfurter Schule oder in der Philosophie der Wiener Kreis, war das verbindende Element der deutschen Juden eher in der Ablehnung der Tyrannei als in einer einheitlichen Gesellschaftsund/oder Religionstheorie zu suchen. Auch dies ist für das jüdische Leben kennzeichnend, dem von den talmudischen bis zu den MidraschTraditionen eher ein gemeinsamer Haß auf Tyrannei als eine einheitliche Vorstellung von jüdischer Kultur gemein ist. Wenn dieser Rahmen hinreichend beachtet wird, dann versteht man nicht nur den enormen kulturellen Einfluß der deutschen Juden, sondern auch ihren Anteil an der ersten massiven Kritik am Totalitarismus. Eine Hinnah-

49 me des deutschen Nationalismus der zwanziger Jahre oder des faschistischen Totalitarismus der zwanziger Jahre stand außer Frage. Höchstens solche Juden, die einem ideologischen Sado-Masochismus etwas abzugewinnen vermochten, konnten im Faschismus mehr als eine Perversion sehen. Ihre Kritik am Kommunismus – in seinem Verhältnis zur jüdischen Frage – bestimmte ihr Emigrationsmuster. Die Forschung tendiert nicht so sehr dahin, diese Auffassung kategorisch abzulehnen, als vielmehr dazu, ihre Bedeutung zu verringern oder sie gar zu einer Trivialität zu erklären. Ein nur zu typisches Paradebeispiel dafür ist die Arbeit Tom Bottomores über die Frankfurter Schule. In seinem Werk übergeht er wunderbar die zentrale Rolle des Jüdischen im deutschjüdischen Denken und läßt gleichzeitig die Hauptfrage völlig außer acht, warum diese sozialistisch orientierte Gruppe, die eine sozialistische Vernunft vertrat und das Ende des irrationalen Kapitalismus erstrebte, in die USA und nach England ging. „Was an der Analyse des Faschismus (genauer gesagt, des Nationalsozialismus in Deutschland) von Horkheimer und Adorno am meisten auffällt“, so Bottomore, „ist, daß sie ihn praktisch mit Antisemitismus gleichsetzten oder ihn wenigstens fast ausschließlich unter diesem begrenzten Gesichtspunkt betrachteten.“ Aber es stellt sich heraus, daß dieser „begrenzte Gesichtspunkt“ – zumindest bei Horkheimer und Pollock – nichts Geringeres bestätigt als den „Vorrang der Politik über die Ökonomie und die durch ,technologische Rationalität’ sowie durch Ausnutzung irrationaler Gefühle und Einstellungen der Masse der Bevölkerung (als Beispiel der Antisemitismus) ausgeübte Herrschaft.“20 Der gewaltige Bruch mit dem orthodoxen Marxismus, den eine solche Sichtweise andeutete, ein Bruch, der die exakte Analyse des Totalitarismus der Rechten und der Linken gestattete, kann Bottomore nicht zugeben oder gar gutheißen. Sonst hätte er den weiteren Schluß ziehen müssen, daß dieses Verständnis des Primats oder zumindest der Autonomie der Politik ebenfalls eher für eine Emigration in den kapitalistischen Westen als in den kommunistischen Osten sprach. Und weiter, daß ein solcher Analyseansatz tragfähig und weitreichend ist, weil er vor allem den jüdischen Hintergrund ins Auge fasst.21 Jedenfalls erwies sich die Verbindung der ,jüdischen Frage’ mit der politischen als äußerst fruchtbar für die Kritik, welche die Richtung deutschsprachiger Intellektueller während ihrer Emigration eindeutig bestimmte.

50 Selbst diejenigen, die dem Judentum keine besondere Bedeutung in ihren politischen oder soziologischen Analysen beimaßen, schienen, nachdem sie auf den freien Boden des Westens verpflanzt worden waren, durchaus bereit, den Antisemitismus zu studieren.22 Auf die starken antikapitalistischen Gefühle der deutsch-jüdischen Sozialwissenschaftler muß wohl kaum weiter hingewiesen werden. In der Tat reicht selbst bei Vertretern der Philosophie und der Psychoanalyse, wo man vielleicht schwächere antikapitalistische Affekte vermutet hätte, die Übereinstimmung sehr weit. Zu klären wäre aber noch, wie das antiautoritäre Element zu der antikapitalistischen Haltung hinzukam. An dieser Stelle zerbricht der Konsens zwar nicht wirklich, beginnt jedoch, sich in verschiedene Richtungen aufzulösen.23 Denn das Bedürfnis, sich mit dem totalitären System in der Sowjetunion auseinanderzusetzen, wenn man schon nicht damit einiggehen konnte, war für die Antikapitalisten unter den deutschjüdischen Intellektuellen ebensowohl eine Herausforderung wie für die Antikommunisten unter ihnen eine Bestätigung ihrer Meinungen. Ich möchte kurz darauf eingehen, wie diese gegensätzlichen Themen ihren Weg in die tatsächlich kritischen Arbeiten der verschiedenen Gruppen und Individuen fanden. Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich einige repräsentative Kritiken der kommunistischen Errungenschaften erörtern, Kritiken, welche im amerikanischen Ethos aufgingen und von konservativen bis radikalen amerikanischen Wissenschaftlern weitergeführt wurden. Wegen des prototypischen Charakters dieser deutschen und vorwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) jüdischen Analysen ist ihr Inhalt selbst nach fünfzig Jahren von mehr als nur antiquarischem Interesse. Wer wie Leo Löwenthal nach den soziologischen Wurzeln totalitärer Kultur sucht, konnte schwerlich die simplen parteimarxistischen ,Erklärungen’ des Faschismus als eine Abart des Kapitalismus in seinen letzten Zügen und Kommunismus als eine neue Blüte der Menschheit teilen.24 Vielmehr hat Löwenthal bei solch prototypischen Romanautoren wie Hamsun und Dostoevskij die Keime der psychologischen Typen entdeckt, die von der antidemokratischen Tradition geprägt waren. Wie sehr sich auch die Formen faschistischer und kommunistischer totalitärer Mentalitäten voneinander unterschieden, war ihnen doch die allgemeine Tendenz gemeinsam, aufgrund abstrakter Merkmale wie Klasse, Rasse oder Religion Moralurtei-

51 le zu fällen. Die Verwendung solcher Hintergrundvariablen zur Entwicklung der Vorstellungen von Gut und Böse war für die Erben von Weimar beunruhigend; für sie war eine solche moralisierende Literatur nicht der Beginn eines ,Neumondes’* sondern das Ende einer humanistischen Tradition. Während also sozialistisch orientierte Wissenschaftler wie Löwenthal gerne an die Unterschiede zwischen nationalsozialistischen und kommunistischen Kulturformen geglaubt hatten, war es letztlich deren Gleichheit, die sowohl zur wissenschaftlichen Kritik als auch zu den persönlichen Entscheidungen beitrug, in einen demokratischen Westen auszuwandern. Es wäre völlig falsch, anzunehmen, deutsch-jüdische Wissenschaftler seien wegen der antisemitischen Politik der Sowjetregierung in den Westen statt in den Osten gegangen. Aber auch jene, die scharf zwischen Nazismus und Kommunismus unterschieden, wie etwa Franz Neumann, emigrierten in den Westen.25 Während also, mit anderen Worten, eine große Überzahl der vor dem Faschismus fliehenden Wissenschaftler Juden waren, hatten ihre Beweggründe, in die USA zu gehen, nur selten etwas damit zu tun, daß sie etwa an der sowjetischen Behandlung der nationalen Frage offene Zweifel gehabt hätten. Tatsächlich waren die späten zwanziger und die frühen dreißiger Jahre die Zeit .der großen Illusionen über das Verhältnis der Sowjetunion zur jüdischen Frage. Birobidžan war als jüdisches Heimatland vorgesehen worden; dort sollte jiddisch die offizielle Landessprache werden. Juden waren – wenn auch sotto voce – in den höchsten Rängen der kommunistischen Parteien sowohl Rußlands als auch Deutschlands anzutreffen, und in der Entwicklung des Marxismus-Leninismus hatten Juden in vielen Bereichen – von der Philosophie über die Literatur bis hin zu den Sozialwissenschaften – prominente Stellungen inne. Es gab einiges beunruhigende Grollen und sogar frühe Säuberungsaktionen im beruflichen Bereich. Aber, wie Aleksandr Solženitzyn später bemerkte, wurden diese als rituelle Säuberungsmaßnahmen gegen Bauern und Arbeiter abgetan. Erst als in den späten dreißiger Jahren die Schraube gegen die Intellektuellen angezogen wurde, wurde in Elitekreisen das sowjetische System ernsthaft in Frage gestellt.26 In gewissem Sinne wird dadurch die Emigration deutsch-jüdischer Wissenschaftler in die westlichen Demokra*

Anspielung auf das jüdische Neumondfest: ein periodischer Feiertag, der durch freudige Erwartung des nächsten Monats charakterisiert ist. (Anm. d. Hg.)

52 tien um so bemerkenswerter: Diese Entscheidung war eine individuelle und keine kollektive; sie richtete sich gegen das allgemeine Wesen des Totalitarismus – linker wie rechter Machart – und war viel weniger der Ausdruck einer emotionalen Reaktion auf besondere Merkmale sowjetischer Politik gegen das eigene jüdische Volk in der Sowjetunion oder gegen sowjetische Politik allgemein. Wenn ich die deutsch-jüdische Kritik am Sowjetkommunismus besonders betone, dann nicht, um die beinahe einstimmige Opposition deutschjüdischer Sozialwissenschaftler gegen faschistische und nazistische Doktrinen zu verzerren, und keinesfalls, um ihr Verständnis dessen, von wo die Hauptgefahren ihrer Autonomie und ihrer akademischen Existenz drohten, in Abrede zu stellen. Es ist klar, daß deutsche Juden quer durch das ganze ideologische Spektrum die faschistische Ideologie und Praxis ablehnten. Um das jedoch zu betonen, ist es notwendig, Offenkundiges zu wiederholen und Bekanntes zu bemühen. So behaupte ich, daß die Kritik am Sowjetkommunismus – da sie von Wissenschaftlern stammte, die ebenso häufig sozialistischer und radikaler Überzeugung waren wie liberaler oder konservativer – ,ideologieüberschreitend’ war. Man konnte sagen, daß das deutsch-jüdische intellektuelle Verhalten religiöse und ethnische Wurzeln hatte, die auf unterschiedlichen theoretischen Wegen zu ähnlichen Analysen führten. Dies hilft erklären, warum die Emigration beinahe ausnahmslos in den demokratischen Westen führte.

III Als Beispiel habe ich die von der Wiener Schule sozialistischer Wirtschaftswissenschaftler und von der Frankfurter Schule neomarxistischer Soziologen aufgestellten Kritiken ausgewählt. Gewiß lassen sich auch andere Autoren, Juden wie Nicht-Juden miteinander vergleichen, die gegenüber dem Sowjet-Marxismus ähnliche oder gleiche Ansichten vertraten. Aber durch die Betrachtung dieser beiden Gruppen tritt das Leitmotiv meines Aufsatzes besonders plastisch hervor.

53 Es sollte jedem außer dem Beschränktesten und Voreingenommensten klar sein, daß die Emigration deutsch-jüdischer Gelehrter nicht die Ursache, sondern die Folge des Zusammenbruchs der Sozialwissenschaft als eigenständiger kultureller Praxis in Deutschland gewesen ist. Selbst die Besten unter den Zurückgebliebenen gaben in Fragen des autonomen Charakters und der humanen Ziele der Sozialwissenschaft nach. Carl Schmitt betrachtete als entscheidende Frage das Verhältnis von Staat zu Politik, wobei für eine autonome Gesellschaft kaum Platz blieb.27 Werner Sombart modifizierte allmählich seine These über die Juden und den modernen Kapitalismus zu einer allgemeinen Theorie eines Staates, der außerhalb des Klassensystems sowie über allen Formen des religiösen Pluralismus stand.28 Hans Freyer verwandelte mit leichter Hand die Soziologie als einfaches historisches Phänomen, das im Gefühl der bürgerlichen Gesellschaft für die eigene Situation wurzelte, in ein spezifisch faschistisches Gefühl für Soziologie.29 Die Romantik des neunzehnten Jahrhunderts hauchte ihr Leben aus und verwandelte sich in konservativen antiromantischen Historizismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Ziele und Zwecke vermengten sich mit Wünschen und Eroberungsträumen. Der Webersche Gedanke einer Sozialwissenschaft als etwas von gesellschaftlichen Ideologien Verschiedenes löste sich rasch auf. Die großen Meister deutschen gesellschaftlichen Denkens wie Weber, Tönnies und Simmel waren tot. Ihr Erbe wurde von Lazarsfeld, Löwenthal, Cahnman, Bendix und unzähligen anderen ins Exil mitgenommen. Aber den Zurückgebliebenen mangelte es nicht an Talent. Sie hatten eben nur schwache Nerven. Sie wurden Teil der allgemeinen ,Malaise’ des Nazismus und, was schlimmer ist, sie trugen durch ihre Ermattung zu jener Malaise bei. Die Jungen zogen in den Krieg, während die Alten entweder Doktrinen aufzogen, die auf geschickte Weise den Geist des Revanchismus und des Rassismus rationalisierten, oder – was noch häufiger der Fall war – sie versanken in Schweigen. Die Austro-Marxisten wurden aus einer Reihe von Gründen als Beispiel ausgewählt. Sie stellen eine einheitliche Gruppe dar, die sich der Lösung von Problemen der marxistischen ökonomischen Theorie gewidmet hatte, und zwar ohne Kompromisse. Als Gruppe waren sie irgendwo zwischen Sozialdemokratie, und Bolschewismus angesiedelt. Sie waren jüdischer Herkunft oder teilten gar zionistische Überzeugungen. Sie wiesen ein ei-

54 gentümliches Emigrationsmuster auf, da die Österreichische Schule, deren Entstehung man gewöhnlich auf das Jahr 1904 datiert und die 1934 mit der Halbdiktatur Dolfuß ihr Ende fand, viele Leute umfaßte, die gestorben oder in den Ruhestand gegangen waren, noch bevor die nazistische Seuche ihren Kulminationspunkt erreichte. Einige aus dieser Gruppe suchten während der Weimarer Zeit in Europa nach einer freieren Atmosphäre, während andere tatsächlich in den Westen emigrierten. Aber unser Augenmerk liegt bei einer ernsthaften Betrachtung dieser Gruppe weniger auf dem Phänomen Exil als vielmehr auf der intellektuellen Grundlegung einer Kritik, die sie am Totalitarismus generell übten, nicht weniger am Faschismus auf der Rechten als am Bolschewismus auf der Linken. Damit soll nicht behauptet werden, die österreichischen Marxisten hätten ihre letzten Jahre in den Wiener Kaffeehäusern verbracht. Friedrich Adler starb in Zürich, einer Hochburg der Demokratie, verglichen mit Deutschland oder Österreich nach 1937. Otto Bauer floh nach Prag, und als jenes unglückliche Land von der nationalsozialistischen Wehrmacht bedroht wurde, suchte er in Paris Zuflucht. Und 1938, am Tage seines Todes, veröffentlichte die Londoner News Chronicle seinen Appell an das Gewissen der Welt, die 300 000 Juden Österreichs zu retten. Rudolf Hilferding, die vielleicht entscheidende Figur dieser Gruppe, floh ebenfalls nach Zürich, wo er von 1933 bis 1938 blieb. Dann ging er nach Paris ins Exil. Im Jahre 1941 wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes an die Nazis ausgeliefert. Es gibt widersprüchliche Angaben über die Umstände seines Todes. Manche behaupten, er habe sich im Gefängnis das Leben, genommen, andere, er sei von den Nazis ermordet worden. Erneut haben wir also eine Gruppe engagierter deutschsprachiger Gelehrter vor Augen, Juden und Sozialisten, die vor der Tyrannei in kapitalistische Demokratien flohen, wie sie vor der katastrophalen Zerstörung des Vorkriegseuropas existierten.30 Ich möchte noch einmal betonen, daß meine Äußerungen als Schilderung der spezifischen Reaktion einer deutsch-jüdischen Gruppe von Soziologen und Sozialwissenschaftlern auf das totalitäre Umfeld gedacht sind, wie es sich in einer kritischen Umbruchszeit in Mitteleuropa zwischen 1924 und 1934 bildete, und nicht, als erschöpfende Untersuchung der austromarxistischen Schule. In der Tat ist mit dem Erscheinen des Buches von Bottomore zu diesem Thema die Notwendigkeit einer ausgedehnten Einführung glücklicherweise aus dem Weg geräumt worden.31 Während frag-

55 lich sein mag, ob der Austro-Marxismus und die Frankfurter Schule tatsächlich – wie Bottomore behauptet – ,zwei extreme und sich widersprechende Formen marxistischen Denkens’ darstellen (erstere soziologischer und letztere philosophischer Prägung), ist es der gemeinsame ethnische und religiöse, Hintergrund der Beteiligten – ganz zu schweigen von den überlappenden Netzwerken und Kohorten –, der hier von Interesse sein soll. Denn es ist die Einheitlichkeit europäischen deutsch-jüdischen Vorkriegslebens, die schon frühzeitig zu einer erstaunlich ähnlichen Darstellung und Ablehnung der sowjetischen Gesellschaft durch diese beiden ,extremen und sich widersprechenden Formen des Marxismus’ führte. Lassen Sie mich unseren kurzen Ausflug mit einer flüchtigen Betrachtung der österreichischen Marxisten der zwanziger und dreißiger Jahre beginnen. Warum blieb der Austro-Marxismus Otto Bauers, Max Adlers, Rudolf Hilferdings und Karl Renners von anderen intellektuellen Strömungen überschattet und von derart kurzlebigem Einfluß? Die Antwort darf nicht in der Entwicklung des Kapitalismus als eines historischen Phänomens gesucht werden, sondern in der Entwicklung des Kommunismus als einer ideologischen Abweichung. Es war gerade der Nachdruck, den der AustroMarxismus auf politische Praxis legte, der seine Mitglieder frühzeitig die sowjetische politische Praxis erkennen ließ. Otto Bauer formulierte dies richtig und ohne Umschweife: „Die Diktatur des Proletariats ist freilich zu etwas ganz anderem geworden, als was sie von ihren Begründern ursprünglich gedacht war. Sie ist keine Diktatur freigewählter Sowjets. Sie ist nicht der von Lenin gedachte ,höhere Typus der Demokratie’ ohne Bürokratie, ohne Polizei, ohne stehendes Heer. Sie ist nicht die freie Selbstbestimmung der werktätigen Massen, die die Herrschaft über die ausbeutenden Klassen ausüben. Sie ist zur Diktatur einer allmächtigen Parteibürokratie geworden, die innerhalb der Partei selbst alle freie Meinungsäußerung und Willensbildung unterdrückt hat und mittels des gewaltigen Apparates der Staatsbürokratie und der Wirtschaftsbürokratie, der Polizei und des stehenden Heeres das Volk beherrscht. Diese Entwicklung war zwangsläufig ... Aber wenn nur diese bürokratische Diktatur den großen gesellschaftlichen Umwandlungsprozeß vollziehen konnte, so wird sie auf einer Entwicklungsstufe, der sich die Sowjetgesellschaft schnell nähert, zum Hindernis dieser Entwicklung ... Die Entwicklung der Diktatur hat die Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie zu Herren der Völker der Sowjetunion gemacht.“32

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Die österreichische Schule des Marxismus sah weit mehr als die deutsche Schule diese Bürokratisierung der sowjetischen Politik in deutlicher und klarer Weise. Man hörte ihnen jedoch nicht zu, und zwar nicht etwa wegen ihrer gefährlichen Realitätsnähe, sondern wegen ihrer vermeintlichen Realitätsferne. In einer Atmosphäre, in der sie von den Sowjets als ideologische Vorreiter des Revisionismus verunglimpft, von den angloamerikanischen Ökonomen ignoriert wurden, weil sie sich angeblich lieber mit ökonomischen Fossilien als mit der Konstruktion von Modellen der realen Welt beschäftigten, wurden die österreichischen Marxisten – so weitblickend sie auch waren – meist entweder vom Osten als Anti-Leninisten angeprangert oder vom Westen zu Anti-Keynesianern abgewertet. An beiden Kritikpunkten war etwas Wahres; sie dienten aber lediglich dazu, diese Gruppe an ihre Marginalität und gar an ihren jüdischen Kosmopolitismus zu erinnern. Die Feinde der Sozialisten hoben den jüdischen Charakter ihrer ideologischen Führung hervor. Dem konnten die Austro-Marxisten nichts weiter entgegenhalten als die Schibboleths ihrer ,Klassenanalyse’, ihren tief verwurzelten Glauben,. daß die jüdische Frage im Rahmen der nationalen Frage rasch gelöst werden würde. Diesem Ausweg setzte die Entwicklung, die der sowjetische Kommunismus nahm, bald ein Ende. Die Verstreuung durch Emigration war eine zwar traurige, aus intellektueller Sicht jedoch eher vorteilhafte Lösung. An spezifischen Beiträgen der Österreichischen Schule gab es viele: Sie deckte die Mechanismen der Umwandlung von Industriekapital in Bankkapital auf, das sodann Finanzkapital schuf. Sie machte als erste auf die Verschmelzung von Kapitalismus und Bourgeoisie mit dem Militär aufmerksam – eine Verschmelzung, die im Zusammenhang mit der staatskapitalistischen Lenkung der politischen Ökonomie den Nationalsozialismus überhaupt erst möglich machte. Sie zeigte, daß unter den Bedingungen des modernen staatlichen Dirigismus die Arbeiterklasse viel eher als das kapitalistische System zerbricht; und sie setzte dem deterministischen Mythos des proletarischen Triumphs als Resultat der Gesamtgeschichte ein Ende. Doch im Grunde war es ihr Mangel an Nerven, der dem Einfluß der Österreichischen Schule Grenzen setzte, ganz zu schweigen von den Begrenzungen ihrer Untersuchung des Kapitalismus als ,historisches Phänomen’.

57 Max Adler brachte diesen theologischen Hang im Austro-Marxismus, diese Flucht in neothomistische Formeln, auf den Punkt, als er den Zusammenbruch des Kommunismus qua Bewegung von der Erhaltung des Kommunismus qua Theorie unterschied.33 Illusionen wurden nicht aufgegeben – neue Wirklichkeit brach sich an den Sandbänken alter Theorien. Der Einfluß der Österreichischen Schule, dieser begabtesten Gruppe von Marxisten, die der Frankfurter Schule mindestens gleichkam oder diese gar übertraf und ihr jedenfalls im analytischen Können in nichts unterlegen war, löste sich einfach auf, so wie die ehemalige österreichisch-ungarische Monarchie sich auflöste, oder noch ärger: wie die österreichische Republik unter dem Nazi-Ansturm. Es ist interessant, daß die Austro-Marxisten in der Emigration nicht eine eigene Identität bewahrten. Zum einen gingen sie als politische Emigranten weg und nicht als einheitliche intellektuelle Gruppe. Ihre Rolle in den sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Österreichs, darunter ihre Rolle als Mittler zwischen allgemeinpolitischen Fragen und spezifischen Bemühungen um Verteidigung und Selbstorganisation der Juden, fanden mit dem Sieg der nationalsozialistischen Partei ein jähes Ende. Zum anderen verlor sie ihre Mitglieder schon sehr früh in der Nazizeit.34 Es kam nicht nur Rudolf Hilferding um – durch Selbstmord oder Mord in Paris –, sondern auch Persönlichkeiten wie Robert Danneberg, der im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht wurde. Letzten Endes waren dieser Gruppe ihre Hoffnungen und ihr unbeirrbarer Optimismus bezüglich eines sozialistischen Österreichs weniger dienlich als der Frankfurter Schule ihr Pessimismus und ihr begrenztes Vertrauen in den Aufbau und in die Erbauer von Nationen. Letzteren möchte ich mich jetzt zuwenden. Während viele Mitglieder der Frankfurter Schule jüdisch waren, teilten sie eine Auffassung des Judaismus, die eher von Karl Marx und Heinrich von Treitschke bestimmt war als von Buber oder Rosenzweig.35 Das heißt, sie setzten Judaismus mit dem Prozeß der Verbürgerlichung (sprich: Verseuchung) in der Gesellschaft der Weimarer Republik gleich. Selbst Max Horkheimer, der sensibelste der Frankfurter Gruppe, verfiel in eine bösartige, banale, auf Analogie gründende Argumentationsweise. Sogar noch 1941, aus einem idyllischen Exil in Morningside Heights schreibend, fühlte er sich veranlaßt, die moralischen Äquivalenzen von Judaismus und Nazismus zu diskutieren – nicht ihren fundamentalen Gegensatz. Der folgen-

58 de Abschnitt ist dafür nicht untypisch. Dieser Apostel sozialistischer Rationalität bemerkte, daß ,die Sprache der Marktplatzmentalität, jüdischer Slang, der Jargon von Kaufleuten und Händlern, die schon seit langer Zeit Erniedrigung erfahren, im Munde ihrer Unterdrücker überlebt’. Und in diesem Zeichen jüdischen Selbsthasses fährt Horkheimer fort: „Es ist die Sprache von Winken, hintertriebenen Andeutungen, betrügerischer Komplizenschaft. Die Nazis nennen Versagen ,Pleite’, einer, der nicht rechtzeitig achtgibt, wohin er tritt, sei ,meschugge’, und ein antisemitisches Lied sagt, Amerikaner hatten keine Ahnung, ,was sich tut’. Die Anstifter rechtfertigen ihr Pogrom, indem sie sagen, daß wieder einmal bei den Juden nicht alles ,koscher’ gewesen sei. Das heimliche Ideal ist, durchzukommen egal mit welchen Mitteln, und selbst die SA-Truppen beneiden die jüdischen Köpfe, auf die sie einprügeln. Sie stellen sich vor, die jüdische Klugheit, die sie nachzuahmen anstreben, reflektiere die Wahrheit, deren sie sich entsagen und die sie zerstören müssen. Wenn die Wahrheit auf immer verloren ist und die Menschen sich für integrale Anpassung entschieden haben, wenn die Vernunft aller Moralität enthoben worden ist – gleich, zu welchem Preis – und über alles andere triumphiert hat, dann darf keiner außerhalb bleiben und zusehen. Die Existenz. eines einzigen ,unvernünftigen’ Menschen beleuchtet die Schmach der gesamten Nation. Seine Existenz bezeugt die Relativität des Systems radikaler Selbsterhaltung, welches als absolut postuliert worden ist. Wenn sämtlicher Aberglaube abgeschafft worden ist in einem solchen Maße, daß nur noch Aberglaube überbleibt, dann darf kein eigensinniger Mensch frei herumlaufen und das Glück anderswo denn im unerbittlichen Fortschritt suchen. Der Judenhaß, ebenso wie die Lust, Geisteskranke zu ermorden, wird von dem unklaren Glauben jener an einen Gott, der sie auf allen Seiten verlassen hat, stimuliert, sowie von der bedingungslosen Starrheit des Prinzips, das sie – selbst unwissentlich – aufrechterhalten. Der Verdacht des Wahnsinns ist die unsterbliche Quelle der Verfolgung. Er entspringt dem Mißtrauen, das sie gegen die eigene pragmatische Vernunft he36 gen.“

Typisch für diese vorherrschende Haltung sind die kürzlich erschienen Überlegungen Lewis A. Cosers. In Beantwortung einer Frage über sein Erleben des Antisemitismus bemerkt er mit tiefgreifender Offenheit, daß er sich „sicher nicht mit dem Judentum identifiziert“ habe, „sondern immer mit dem Sozialismus, Marxismus, radikaler Politik“. Er fügt hinzu: „Ich erinnere mich an ein paar Typen, die der Hitlerjugend beitraten. Man

59 innere mich an ein paar Typen, die der Hitlerjugend beitraten. Man wußte, daß diese Schweinehunde Antisemiten waren, aber die Ursache unserer Konflikte war, daß wir links und sie rechts waren.“37 Diese Perspektive teilten ohne Zweifel jüngere und ältere deutsche Juden, die sich zum Sozialismus und zur Soziologie hingezogen fühlten. Wir reden von einem unbequemen, oftmals widerwilligen Exodus herausragender Eliten, nicht von einem Massenexodus von armseligen Unterdrückten. Ihnen war die Möglichkeit einer Wahl gegeben. Sie wählten Paris, Zürich, London und schließlich New York, nicht um mit ihren religiösen Glaubensgenossen ein gemeinsames Schicksal teilen zu können, sondern um als Sozialisten, Radikale und Soziologen (diese Kategorien betrachten viele als mehr oder weniger isomorph) zu überleben und zu gedeihen. Auch wenn die Frankfurter Schule in erster Linie den Faschismus bekämpfte, richtete sich ihre Kritik kaum weniger entschieden gegen den Kommunismus; in beiden sahen sie das Ende der Vernunft. Herbert Marcuse liefert das beste Beispiel für diesen Glauben an den doppelten Feind. Lange vor seiner Kritik in der Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus38 stellte er in abstrakter, neo-hegelianischer Manier die folgenden Betrachtungen zu Individualismus und Kollektivismus an: „Massen und Massenkultur sind Ausdruck von Mangel und Versagung; die autoritäre Durchsetzung allgemeiner Interessen ist nur eine andere Form der Herrschaft partikulärer Interessen über das Ganze. Der Trugschluß des Kollektivismus besteht darin, daß er das Ganze (die Gesellschaft) mit den traditionellen Eigenschaften des Individuums ausstattet. Der Kollektivismus schafft die freie Verfolgung konkurrierender Einzelinteressen ab, aber er hält fest an der Idee des Gemeinwohls als einer für sich seienden Wesenheit. Historisch ist die letztere jedoch das Gegenstück der ersteren. Die Menschen erfahren die Gesellschaft nur so lange als die objektive Verwirklichung der Kollektivität, als die individuellen Interessen einander widerstreiten und miteinander um ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum konkurrieren. Solchen Individuen erscheint Gesellschaft als ein objektives Wesen, das aus zahllosen Sachen, Institutionen und Agenturen: Fabriken und Betrieben, Geschäftsleben, Polizei und Gesetz, Regierung, Schulen und Kirchen, Gefängnissen und Krankenhäusern, Theatern und Organisationen usw. besteht. Gesellschaft ist so ziemlich alles, was das Individuum nicht ist, alles, was seine Verhaltensweisen, Gedanken und Verhaltensmuster

60 prägt, alles, was es von ,außen’ trifft. Demzufolge wird Gesellschaft wahrgenommen vor allem als Macht des Zwangs und der Kontrolle, die den Rahmen bereitstellt, in den die Ziele, Fähigkeiten und Sehnsüchte der Menschen integriert werden. Nur diese Macht behält der Kollektivismus in seinem Gesellschaftsbild zurück und verlängert so die Herrschaft der Sachen und der Menschen über Menschen.“39

Wissenschaftler deutsch-jüdischer Herkunft wie Marcuse distanzierten sich von beiden dem Faschismus opponierenden Hauptströmungen von der kapitalistischen Demokratie und vom totalitären Sozialismus, ohne jedoch Alternativen anzubieten außer Utopismus oder eine vage chiliastische Vision – die Zwillingspole der jüdischen Sehnsucht nach einer Welt vollkommener Gerechtigkeit – aber ohne jüdische Praxis, das heißt, ohne Sinn für eine Gemeinschaft, der man verpflichtet ist. Es war Otto Kirchheimer, der als erster den Gedanken äußerte, daß Faschismus und Kommunismus strukturell gleich seien. Das Schlüsselelement, das die beiden verbinde, sei die Verwandlung von Staatsgewalt in Staatsterror.40 Terrorismus werde durch polizeiliche bzw. quasipolizeiliche, von spezialisierten militärischen Einheiten ausgeübte Gewalt zur staatlichen Handlungsweise. Insoweit brach er mit Franz Neumann und den anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule, die weiterhin daran festhielten, Unterschiede zwischen Nazismus und Kommunismus zu sehen. Der Zweite Weltkrieg trug zur Erhaltung des Glaubens an diese Verschiedenheit bei, während danach der Kalte Krieg eben diese analytischen Fragen wieder aufflackern ließ.41 Einige Jahre vor seiner ersten Verbindung mit dem Institut untersuchte Kirchheimer die Folgen sowohl des übertriebenen Utopismus als auch des Irrtums von parteiorientierter Realpolitik für die demokratischen Sowjets oder Räte. Selbstkritisch gegen seine frühere, positivere Einschätzung sowjetischer Politik gewandt, kritisierte er in seinem Aufsatz „Marxismus, Diktatur und die Organisation des Proletariats“ sowohl die „primitiven demokratischen Träume“ in Lenins Staat und Revolution als auch die autoritären Tendenzen der bolschewistischen Organisation. Vor allem letztere, so Kirchheimer, führten zu einer Gleichsetzung von Partei und bürokratischem Staatsapparat, die sowohl die innerparteiliche Demokratie als auch die früher vorhandenen dynamischen Verbindungen zur Bevölkerung zer-

61 störe.42 Für eine zentralistische und zentralisierende Partei, die die Kontrolle über den bürokratischen Staat innehat, könne der Kontaktverlust zu ihrer Massenbasis einzig zum Terror führen. Das war eine schöpferische (wiewohl nur implizite) Anwendung der Marxschen Analyse des Jakobinertums auf die Sowjetunion, überzeugender als das unsichere Jonglieren Trotzkis mit Schlagwörtern wie „Thermidor“ oder „Bonapartismus“ oder als Deutschers Bemühungen, derart wacklige Analogien und Metaphern zu retten. In Anbetracht dieser Entwicklungsrichtung wird die Frage, wohin deutschjüdische Sozialwissenschaftler dieser Überzeugung gehen konnten, um ihre Fähigkeiten ausüben zu können, müßig: Wir haben es mit einer Frage der Marginalität bzw. einer Vielzahl von Marginalitäten zu tun: Judentum, Sozialismus, Sozialdemokratie, Soziologie selber. Sie alle brauchten eine relativ offene Umgebung, keine statischen Verhältnisse: einen Ort, wo Arbeit möglich, wenn schon nicht einfach war. Eben dieser Gedanke lag, dem „neuen Kapitalismus“ zugrunde, den die Vereinigten Staaten von Amerika archetypisch verkörperten, und nicht zufällig war es dieses Land, in das ungezählte Minderheiten, Revolutionäre und Unzufriedene vorher und seither gingen. Das Problem des Kapitalismus ist eigentlich eine Frage des Sozialismus oder vielmehr eine Frage der ontologischen Festlegung auf die unvermeidliche Transformation des einen in den anderen. Die bitteren und heftigen Dispute in Deutschland über den Sozialismus im zurückgebliebenen Rußland, über den Feudalismus im China der mittleren Periode, über das gewerkschaftliche Bewußtsein im fortschrittlichen Frankreich usw. drehten sich – und zwar nicht nur vordergründig – um die moralische Redlichkeit von Systemen und Nationen. Mit dem Auftreten des Faschismus in Italien, des Nazismus in Deutschland und des Militarismus in Japan verschärften sich die Diskussionen um die kapitalistische Transformation. Denn wenn der Nationalsozialismus, wie Neumann behauptete, das letzte verzweifelte Aufbäumen eines sterbenden Systems war, hatte die Gesellschaft eine Reihe von Problemen zu bekämpfen. Wenn aber Nazismus vielmehr, wie Horkheimer behauptete, als Folge grausam pervertierter staatlichdirigistischer Macht anzusehen war, dann hatte sich die Gesellschaft auf ein ganz anderes Szenario einzustellen. Aber obgleich es in der Frankfurter

62 Schule eine ideologische Spaltung gab, fiel sie nicht strukturell auseinander, dafür sorgte das gemeinsame Exil in Amerika. Auch wenn der Schauplatz aufgrund der intellektuellen Emigration von Deutschland nach Amerika verlegt worden war, verschwanden die Probleme nicht, sondern gewannen an Intensität; denn wenn der Kapitalismus nur fähig war, Faschismus hervorzubringen, dann wurde sein eigener moralischer Wert in höchstem Maße zweifelhaft. Wenn aber der Faschismus ein durch die Demokratie ausmerzbarer Auswurf war, dann war eine andere Sichtweise gültig. Ja, es traten sogar zahlreiche weitere deutsch-jüdische – in zwischen amerikanisch geprägte – Gelehrte unter dem Einfluß von Horkheimer, Neumann und Marcuse in die Debatte ein. Einige, wie etwa Hannah Arendt, verstanden den Faschismus als Blutsbruder des Kommunismus – als einen vulgären Biologismus, der einem vulgären Historizismus entsprach. In einem solchen Szenario spielte der demokratische Inhalt des Westens eine größere Rolle als die kapitalistische Form. Diese Spaltung in der Weimarer Ideologie, die aus ihrem deutschen intellektuellen Umfeld in die amerikanische Kapitalismusdiskussion der Nachkriegszeit verpflanzt worden war, blieb für das europäische Nachkriegsdenken von entscheidender Bedeutung. Der Riß, der die Frankfurter Schule durchzog, war kein geringerer als der zwischen antikapitalistischer und antitotalitärer Gesinnung; dieser Streit wütet ungemindert bis zum heutigen Tage. Die Suche nach historischen Präzedenzfallen, funktionalen Äquivalenzen und analytischen Parallelen ist bei näherer Betrachtung nicht nur ein reflexiver, sondern auch ein projektiver Prozeß. Die Auslassungen sind dabei ebenso wichtig wie die Erinnerungen. Der Ruhm derer, die sich um Empirismus oder Positivismus schlugen, verblaßte schon auf dem Höhepunkt ihrer Popularität. Im breiten Mittelfeld geriet die altmodische deutsche und österreichische Gelehrsamkeit schärfer in den Blick. Für jüngere Wissenschaftler, oft ebenfalls jüdischer Herkunft, stellten die deutsch-jüdischen Emigranten die Schlüsselfragen. des Kampfes zwischen Ost und West bzw. zwischen dem, was ich an anderer Stelle einmal die Erste Welt und die Zweite Welt genannt habe. Durch diese intellektuellen Vorläufer wurde eine amerikanische Theorie möglich, die in der Schuld der deutsch-jüdischen Gesellschaftstheorie stand und zugleich gegen sie rebellierte. Von links und von rechts tauchten die amerikanischen Polaritäten auf: Autorität und Gemeinschaft bei Nis-

63 bet43, Gleichheit gegen Freiheit bei Jaffa44, Terror gegen Widerstand bei Walter45, Klassizismus gegen Modernismus bei Strauß46, Masse und Individuum bei Mosse47. Aber die Dramaturgie versagte schließlich. Die reichhaltige Ader begann weniger Goldklumpen zu erbringen. Messungen zwischen den Polen und nicht mehr nur Aussagen über die Pole nahmen eine zentrale Rolle ein. Warum rebelliert der Mensch? Wie mißt man Autorität und Gemeinschaft? Unter welchen Bedingungen finden Gleichheit und Freiheit bei verschiedenen Teilen ein und derselben Gesellschaft Anklang? Man könnte behaupten, daß selbst da sehr viel der Exilgemeinschaft zu verdanken sei. Schließlich war es Paul F. Lazarsfeld, der schon zu einem frühen Zeitpunkt betonte, Bedeutung könne nur durch Messung festgestellt werden.48 Aber in Wirklichkeit war es nicht so sehr der Angriff von außen als vielmehr der innere Zusammenbruch, der die beschriebenen Netzwerke kennzeichnete. Die Emigrationserfahrung konnte die deutsch-jüdische Tradition erhalten, ja sie sogar bereichern. Aber letzten Endes wurde sie das Opfer ihrer eigenen Unentschlossenheit und Unbesonnenheiten. Aus ihrem besonderen Blickwinkel konnte sie die Frage von Faschismus und Kommunismus erörtern und tat es auch, ebenso wie die Fragen von Demokratie und Diktatur, Ordnung und Freiheit; sie konnte jedoch nicht über ihre eigenen vorgefaßten .Meinungen hinausgehen. Die Polaritäten, die Dialektik, nahmen nach der Emigrationserfahrung die gleiche vorherrschende Stellung ein wie vorher. Deutschland bleibt nach wie vor am Kreuzwege der beiden Kulturen von Ost und West. Aus diesem Grunde ist deutsche Wissenschaft selber an dem Riff zwischen antikapitalistischen und antitotalitären Traditionen aufgelaufen. Theoretisch traten die Intellektuellen der westlichen Gesellschaft nach zwei Weltkriegen ein doppeltes Erbe an. Praktisch lastet das gleiche doppelte Erbe auf der deutschen Gesellschaft selbst. Aus diesem Grunde ist die Frage des deutsch-jüdischen Erbteils an Amerika jetzt zu einer Frage nach dem amerikanischen Einfluß auf eine im wesentlichen von ihren jüdischen Bestandteilen ,gesäuberte’ deutsche intellektuelle Welt geworden. Das Aufkommen quantitativer Analyse ging auf diesen amerikanischen Stil zurück. Der Stellenwert qualitativer Forschung und synthetischer Analyse hat jedoch dazu beigetragen, diesen Stil zu verwandeln und ihn größeren, kontextuellen Fragen der amerikanischen Zivilisation zugänglich zu machen.

64 Große intellektuelle Wanderungen verschwinden nicht einfach. Sie werden aufgesogen, wieder abgestoßen, manchmal befruchtet. Ja, sie bringen sogar auch verlorene Söhne wieder nach Hause zurück. Der Fall Theodor Adornos mag zeigen, daß eine Heimat fern der Heimat intellektuell nicht notwendigerweise von Dauer ist.49 Das Verlangen, nach Deutschland zurückzukehren, zeigt die beachtliche Anziehung eines von den Zwillingsbrüdern Krieg und Zerstörung befreiten Vaterlandes. Aber im großen und ganzen stellt der deutsch-jüdische Einfluß auf die westliche Kultur, über seine natürlichen Begrenzungen und seine zeitweilige Kurzsichtigkeit hinaus, ein gutes Zeugnis für die von der westlichen Demokratie gebotene persönliche Sicherheit aus. Demzufolge sind die deutsch-jüdischen Traditionen ein unbeabsichtigter Beleg für die Tatsache, daß allen totalitären Systemen ein Hang zum Antisemitismus innewohnt. Gesellschaftsformen, welche auf irrationalen Grundsätzen aufgebaut sind, werden, wenn sie sich bedroht fühlen, irrational handeln. Und diese spezielle Linie, die wir deutsches Judentum nennen, erfaßte schon sehr frühzeitig, wenn auch nur ruckweise, was heute als Allgemeinplatz in der Diskussion über Bürgerrechte gilt: daß die physische Sicherheit ebenso wie die geistige Freiheit bedrohter Minderheiten nur in einer offenen Gesellschaft geschützt werden können.50 Erlauben Sie mir, an dieser Stelle die Worte des Schweizer Philosophen und Politologen Hans Barth aus dem Jahre 1945 ins Gedächtnis zu rufen: „Die verhängnisvolle Tragweite der Ideologienlehre läßt sich ermessen, wenn man erkennt, daß sie in ihrer radikalen Fassung die Beschaffenheit und den Aufbau des menschlichen Geistes in Frage stellt. Die Verfälschung, durch welche die geistigen Funktionen für Prozesse der organischen Natur ausgegeben werden und wonach sie dann als bloße Instrumente im Lebenskampf gelten, richtet sich nicht nur gegen jenes Wesensmerkmal, das den Menschen zum Menschen macht, sondern sie bedeutet zugleich einen Angriff auf die Voraussetzungen, welche die unumgängliche Grundlage aller sozialen Beziehungen und Gebilde darstellen ... Das Wort stiftet Verbindung zwischen den Menschen. Es schafft Übereinstimmung. Ihr Wesen besteht in der Idee der Wahrheit, die den emotionellen Ausdruck ebenso bestimmt wie eine Übereinkunft zu rationalen Zwecken oder eine wissenschaftliche Aussage über Sachverhalte der Natur und über Ereignisse der Geschichte. Wenn man nun aber die Idee der Wahrheit und der Gerechtigkeit selbst als Ideologie denunziert, dann werden die Bedin-

65 gungen des sozialen Daseins überhaupt erschüttert ... Es gibt dann nur – um noch einmal die Sprache Nietzsches zu verwenden – ,individuelle Willensquanta’, die selbstherrlich, eben aufgrund und nach Maßgabe ihres faktischen Besitzes an Macht, festsetzen, was als wahr und gerecht zu gelten hat.“51

Es bedurfte der bitteren Asche des Zweiten Weltkrieges, um solchen einfachen, aber leicht zu übersehenden Worten ihre Bedeutung und ihre Würde wieder zu verleihen.

Anmerkungen 1

König, R., Über das vermeintliche Ende der deutschen Soziologie vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1984) I. S. 1-42. 2 Ein typischer Vertreter dieser Tendenz der Vergangenheit, die „jüdische Frage“ zu minimieren, ist Jay, M., Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt 1976, S. 174. Glücklicherweise hat er sich inzwischen von dieser früheren Position distanziert in dem Aufsatz „The Jews and the Frankfurt School“, New German Critique 19 (Winter 1980), S. 137-140. 3 Siehe dazu Kehr, E., Economic Interest, Militarism and Foreign Policy, Berkeley und London 1977, besonders S. 164-173. 4 Wittfogel, K. A., Das erwachende China: Ein Abriß der Geschichte der gegenwärtigen Probleme Chinas, Wien 1926. Der Höhepunkt dieser Argumentation ist zu finden in Die orientalische Despotie, Frankfurt/Berlin/Wien 1977. Für eine umfassende Übersicht über die monumentalen Leistungen Wittfogels siehe G. L. Ulmen, The Science of Society: Toward an Understanding of the Life and Work of Karl August Wittfogel, Den Haag 1978. 5 Die eine bemerkenswerte und einzigartige Ausnahme in dieser sonst kurzsichtigen Betrachtungsweise der Emigration findet sich in der klassischen Studie von Arendt, H., Elemente und Ursprunge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1986. 6 Schumpeter, J. A., Geschichte der ökonomischen Analyse, Göttingen 1965, S.14051408, und Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 5. Aufl., Bern 1980. Der beste allgemeine Kommentar zu Schumpeter, den ich gefunden habe, ist die neue Einleitung von J. E. Elliott zu The Theory of Economic Development, New Brunswick und London 1982. 7 Lukacs, J., „Two-Faced Germany“, in: The American Spectator 17, (1984) 7 , S. 2123.

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Marcuse, H., Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied 1963, und Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied 1964. 9 Pachter, H., The Fall and Rise of Europe. A Political, Social, and Cultural History of the Twentieth Century, New York 1975. Für ein Werk mit ähnlicher Gesinnung, aber eines anderen Genres, siehe Laqueur, W., Out of the Ruins of Europe, New York 1971. 10 Morgenthau, H. J., Politics among Nations, New York 1948; In Defense of the National Interest, New York 1951. 11 Morgenthau, H. J., Interview mit Bernard Johnson, und „Fragment of an Intellectual Autobiography: 1904-1932“, in: Thompson, K. und R. J. Myers (Hg.), Truth and Tragedy, New Brunswick/London 1984, S. 1-17, S. 33-386. Coser, L.A., Interview mit Bernard Rosenberg, in: Powell, W. W. und R. Robbins (Hg.), Conflict and Consensus, New York/London 1984, S. 27-52; Bendix, R., Von Berlin nach Berkeley. Deutschjüdische Identitäten, Frankfurt 1984. Lazarsfeld, P. F., „An Episode in the History of Social Research. A Memoir“, in: Fleming D. und B. Bailyn (Hg.), The Intellectual Migration. Europe and America 1930-1960, Cambridge, Mass. 1969, S. 270-337. 12 Abel, T., Systematic Sociology in Germany: A Critical Analysis of Some Attempts to Establish Sociology as an Independent Science, New York 1965 (Neuauflage der Auflage von 1929), S. 116-159. 13 Gerth, H. H. und C. W. Mills, Character and Social Structure: The Psychology of Social Institutions, New York 1953. 14 Bendix, R., Work and Authority in Industry, New York 1956. 15 Rosenzweig, F., Hegel und der Staat, 2 Bände, München/Berlin 1920; siehe Glatzer, N. N., Franz Rosenzweig. His Life and Thought, New York 1953. 16 Buber, M. Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee, München 1968; ders., „Der Jude in der Welt“, in: ders., Der Jude und sein Judentum, Köln 1963, S. 216-220. 17 Cohen, H., Reason and Hope, New York 1971; ders. Religion of Reason, New York 1972. 18 Brym, R. J., Intellectuals and Politics, London 1980, S. 64-65. 19 Berghahn, M., German-Jewish Refugees in England. The Ambiguities of Assimilation, New York 1984, S.250-253. 20 Bottomore, T., The Frankfurt School, Chichester/New York 1984, S. 20-21. 21 Es ist erstaunlich, welchen Grad die Verneinung der jüdischen Komponente in der Frankfurter Schule erreicht, wenn man bedenkt, daß Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigen, häufig neomarxistischer Gesinnung sind und es daher anzunehmen wäre, sie würden ,Hintergrundvariablen’ wie Religion und Ethnizität ebenso wie soziale Klasse und Ökonomie eher überbetonen als verneinen. Zum Beispiel fühlt sich Martin Jay in seinem über 400 Seiten starken Werk angehalten, auf lediglich drei Seiten den jüdischen Hintergrund der Frankfurter Sozialwissenschaftler flüchtig zu behandeln. Siehe Jay, M., Dialektische Phantasie: Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, 1923-1950, a. a. O., S. 51-54. 22 Eine vorzügliche neuere Studie dazu ist Ehrhard Bahr, „The Anti-Semitism Studies of the Frankfurt School: The Failure of Critical Theory“ in: Marcus, J. und Z. Tar,

67 Foundations of the Frankfurt School of Social Research, New Brunswick/London 1984, S. 311-321. 23 Eine kürzlich erschienene Monographie zum allgemeinen Thema des gegenseitigen Einflusses deutscher und amerikanischer Bildung hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Gelehrten, die tatsächlich in die amerikanischen Hochschulen während der Nazi-Ära eingedrungen sind, an Begabung zwar hervorragend, an Zahl aber nur gering waren. Des weiteren ist es keinesfalls so, daß emigrierte Wissenschaftler durchgängig so radikal waren wie etwa die Frankfurter Schule. Die meisten Wissenschaftler, die an amerikanischen Hochschulen angestellt wurden, waren Naturwissenschaftler, während die meisten Sozialwissenschaftler, die tatsächlich auch angestellt wurden, eine konservative Haltung vertraten. Siehe Goldschmidt, D., „Trans-Atlantic Influences: History of Mutual Interactions between American and German Education“, in: Between Elite and Mass Education: Education in the Federal Republik of Germany, Albany 1983, S. 1-65. 24 Löwenthal, L., Literatur und Massenkultur. Schriften, Bd. I, Frankfurt 1980. 25 Neumann, F., Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt 1984. Siehe auch den Aufsatz von Hughes, H. S., „Franz Neumann: Between Marxism and Liberal Democracy“, in: Fleming, D. und B. Bailyn (Hg.), The Intellectual Migration: Europe and America, 1930-1960, Cambridge, Mass. 1969, S. 446-462. 26 Solschenizyn, A., Der Archipel Gulag, 3 Bände, München 1974/1976. Solženizyn verweist das ganze Buch hindurch mit Bitterkeit auf ,la trahison des clercs’, auf ihre einmütige Nicht-Beachtung des stalinistischen Terrors, bis er die Intellektuellen selber zu treffen begann. Siehe Horowitz, I. L., „Revolution, Retribution, and Redemption”, in: Winners and Losers. Social and Political Polarities in America, Durham, N. C. 1984, S. 177-191. 27 Schmitt, C., Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 20-78. Siehe auch den Aufsatz von L. Strauß über Schmitt in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 67 (1932) 6, S. 732-749. 28 Sombart, W., A New Social Philosophy, Princeton 1937. Man könnte sogar mit einiger Überzeugungskraft die Behauptung vertreten, daß Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, kein antisemitisches Werk sei, aber selbst die heftigsten Verteidiger Sombarts leugnen nicht, daß er ein Hauptvertreter des Deutschen Sozialismus, des Hitlerismus, wurde. Siehe Samuel Z. Klausners ausgezeichnete neue „Einleitung“ zu The Jews and Modern Capitalism, New Brunswick/London 1982, S. cii-cv. 29 Freyer, H., Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936; und Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, 3. Auflage, Leipzig 1934. Eine recht gute Zusammenfassung des Werkes von Freyer in englischer Sprache ist zu finden in: Becker, H. und A. Boskoff (Hg.), Modern Sociological Theory, New York 1957, S. 660-665. 30 Vgl. Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, Bd. II, S. 282-283; Bd. IV, S. 331; Bd. VIII, S. 479. 31 Bottomore, T. (Hg.), Austro-Marxism, Oxford 1978. 32 Bauer, O., Zwischen Zwei Weltkriegen?, Bratislava 1936, S. 163-164.

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Adler, M., „Wandlung der Arbeiterklasse?“ (1933), in: Bottomore, T. (Hg.), AustroMarxism, Oxford 1978, S. 217-252. 34 Eine kürzlich erschienene empirische Studie hat nicht nur recht deutlich gemacht, wie zentral die Rolle der Österreichischen Schule der politischen Ökonomie in der Entwicklung des Marxismus gewesen ist, sondern auch, wie entscheidend – in praktischer Hinsicht – deren Anführer an der Bildung Roter Kommunen in Wien beteiligt gewesen sind. Von daher wird das fast lautlose Dahinscheiden der Österreichischen Schule und ihre Unfähigkeit, sich neu zu vereinen, etwas verständlicher. Denn die Österreicher waren paradoxerweise weit mehr mit der Parteipolitik der Linken verbunden als ihre deutschen Kollegen in Frankfurt. Siehe Frei, A. G:, Rotes Wien: Austromarxismus und Arbeiterkultur. Sozialdemokratische Wohnungs- und Kommunalpolitik 1919-1934, Berlin 1984; siehe besonders die Analyse von Otto Bauer, S. 35-48. 35 Marx, K., „Zur Judenfrage“ (1844), in: MEW, Bd. I, Berlin 1956, S. 347-377, und Treitschke, H. V., „Ein Wort über unser Judentum“ (1879), in: Oomen, H. G. (Hg.); Vorurteile gegen Minderheiten, Stuttgart 1978. 36 Max Horkheimer, „The End of Reason“, in: Studies in Philosophy and Social Sciences IX (1941), nachgedruckt in: Arato, A. und E. Gebhardt (Hg.), The Essential Frankfurt School Reader, New York 1978, S. 45. 37 Coser, L. A., Interview mit Bernard Rosenberg, in: Powell, W. W. und R. Robbins (Hg.), Conflict and Consensus, a. a. O., S. 27-32. 38 Marcuse, H., Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, a. a. O. 39 Marcuse, H., „Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie“ (1941), in: Schriften Bd.3, Frankfurt 1974, S. 314f. 40 Kirchheimer, O., „Strukturwandel des politischen Kompromisses“ (1941), in: Horkheimer, M. und andere, Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt 1981. 41 Die Differenzen zwischen Kirchheimer und Neumann, die bereits vor dem Aufstieg Hitlers begonnen hatten, setzten sich nach dem Krieg in der Zeit des Wiederaufbaus fort: eine Zeit, in der sie beide intensiv an der Wiedereinführung demokratischer Regeln im Adenauer-Deutschland beteiligt waren. Vgl. Söllner, A., Emigrantenblöcke. Westdeutschland im Urteil von Franz Neumann und Otto Kirchheimer (vervielfältigtes Typoskript). 42 Arato, A., „Introduction“, in: The Essential Frankfurt School Reader, New York 1978, S. 18-19. 43 Nisbet, R. A., Tradition and Revolt, New York 1968; und etwas später, Twilight of Authority, New York 1975. 44 Jaffa, H. V., Equality and Liberty, New York 1965. 45 Walter, E. V., Terror and Resistance. A Study of Political Violence, New York 1969. 46 Strauß, L., What is Political Philosophy? and Other Studies, Glencoe, Ill. 1959. 47 Mosse, G. L., Masses and Man: Nationalist and Fascist Perceptions of Reality, New York 1980. Die Arbeit Mosses sticht hervor durch die Analyse und kritische Vertrautheit mit den Schlagwörtern und Polaritäten, welche andere als selbstverständlich hinnahmen.

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Lazarsfeld, P. F., „Notes on the History of Quantification in Sociology. Trends, Sources and Problems“, in: Woolf, H. (Hg.), Quantification. A History of the Meaning of Measurement in the Natural and Social Sciences, Indianapolis/New York 1961, S. 147-203. 49 Adorno, Th. W., „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10/2, Frankfurt 1977, S. 702-738. 50 Ich habe dies erstmals in einer Kritik des von Isaac Deutscher verwendeten Begriffs des „nicht-jüdischen“ Juden herauszustellen versucht. Siehe „Liquidation or Liberation: The Jewish Question as Liberal Catharsis“, in: Israeli Ecstasies/Jewish Agonies, New York 1974, S. 192-204. Der gleiche Gedanke ist kürzlich in sehr viel klarerer Form von meinem christlichen Freund Paul Johnson dargestellt worden in seinem Aufsatz „Marxismus vs. the Jews“, in: Commentary 77 (1984) 4, S. 28-34. 51 Barth, H., Wahrheit und Ideologie (1945), 2.Auflage Zurich 1961, S. 290. „Between the Charybdis of Capitalism and the Scylla of Communism: The Emigration of German Social Scientists 1933-1945.“ Übersetzt von Mara Luckmann.

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Rasse, Klasse und Ethnizität

Die Anschauungen und das Verhalten, das die amerikanischen Arbeiter, manchmal als „ethnics“* bezeichnet, in jüngster Zeit an den Tag gelegt haben, haben viele scharfe Beobachter der Szene geschockt und bestürzt. Die Rückkehr zur militanten Selbstidentifikation, die man voraussetzt, verleitete einen Radikalen zu der Behauptung, daß sich „der weiße Arbeiter gegenwärtig gegen die Steuern, die triste Arbeit, den doppelten Maßstab und das schwache Gedächtnis der Berufspolitiker, gegen die Hypokrisie und gegen die Entwürdigung des amerikanischen Traumes, wie er es nennt, stellt“ (Hamill, 1969). Dieses Schauspiel, wo die Arbeiter in ihrem Verhalten auf Stärke pochen, verleitete einen gleich radikalen Kritiker zu der Versicherung, daß sich die Gewerkschafter für die „Schutzhelm“-Berufe, die sich nicht nur auf das Baugewerbe beschränken, mit der Militärelite und deren politische Sprecher zusammengeschlossen haben. Das erweckt den Eindruck, als ob durch den Aufstieg einer proto-faschistischen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten Gefahr drohte. Unabhängig davon, mit welchen gesellschaftlichen und kulturellen Kräften man auch immer diese Entwicklung zu erklären versucht, wird sie bereits in verschiedenen Formen manifest. Die „rassistischen Schwerarbeiter (hard-hats) in vielen Gewerkschaften sind die potentiellen Straßenkämpfer des amerikanischen Faschismus“ (Hill, 1971). Aufgrund der vorhergehenden Behauptungen kann man kaum erkennen, wer eine Depolarisierung nötiger hat – die Arbeiterklasse oder ihr intellektueller Widerpart.

Wer ist ein ethnic? Der wirkliche Beweis, den wir besitzen; ist unbeschreibbar und um einiges verschwommener als die Vorstellung entweder eines ethnisch aufgebauten *

In diesem Text wird die englische Bezeichnung ethnic beibehalten, weil kein deutscher Ausdruck (,ethnisch’ ist nicht gleichbedeutend) in ähnlich prägnanter Weise dem englischen korrespondiert. [Anm. d. Übers.]

72 Faschismus oder einer ethnisch aufgebauten neuen Politik. Auf der Ebene der Ansichten und Einstellungen sind gewisse Fakten klar: (1) Es hat den Anschein, als ob die ethnischen Gruppen innerhalb der Arbeiterklasse gegen die schwarze Gemeinschaft meistens nicht mehr und nicht weniger voreingenommen sind als die wohlhabenderen Klassen (Hamilton, 1971, S.135). (2) Es hat auch den Anschein, als ob noch immer das klassische Streben nach Mobilität nach oben und geographischer Ortsveränderung, das sich mehr an klassenbedingten als an ethnischen Richtlinien orientiert, die Wünsche der Arbeiterklasse beherrscht (Campbell, 1971, S.43-44). (3) Die traditionellen Beziehungen der Klassen zum Parteiensystem bleiben im wesentlichen genauso fließend oder starr. wie für andere Klassen (Reiter, 1971, S. 101-128). Man hat sich darüber hinaus auch gefragt, ob sich das Gefühl der Entfremdung und Anomie auf die Arbeiterklasse stärker als auf andere Sektoren der Gesellschaft ausgewirkt hat. Die Arbeiterklasse unterstützt weiterhin das Wohlfahrts- und Einkommensstabilisierungsprogramm der Regierung – vor allem, wenn besonders sie betroffen sind (Greeley, 1969, S. 45-55). In einer Diskussion, die in letzter Zeit stattgefunden, und großes Echo gefunden hat, wurde versichert, daß jede eindeutige Definition der Arbeiterklasse schwindet und man auf der Ebene der Statistik eindeutig feststellen kann, daß auf der Arbeiterklasse ein besonderer wirtschaftlicher Druck lastet. Dadurch erhärtet sich der Zweifel, daß es überhaupt so etwas wie ein spezifisches Problem für die Arbeiter oder die weißen ethnics gibt. Die Probleme scheinen universal sowohl für die Arbeiter als auch die Angestellten, sowohl für die ethnics als auch für die Schwarzen, sowohl für die verschiedenen Nationalitäten als auch religiöse Gruppen zu gelten. Kurz und gut, die Probleme sind in den Vereinigten Staaten verwurzelt und die verschiedenen klassenbedingten und ethnischen Aspekte dieser Probleme sind nur einfach Ausdrucksformen dieses allgemeinen Dilemmas (Levitan, 1971, S. XIII-XX). Ob die hier gebotene Interpretation richtig ist oder nicht, das Aufkommen einer neuen Literatur über die Arbeiter-ethnics markiert einen Wendepunkt in den Sozialwissenschaften. Zumindest wurden die Analysen, die auf dem Ziel der Klasseninteressen, Klassenideologien und der Klassenpolitik aufgebaut waren, zu einer Sache der Erinnerung oder nur so am Rand erwähnt, um schließlich durch die rein verbale Lobpreisung ethnischer Inte-

73 ressen, ethnischer Ideologien und einer ethnischen Politik verdrängt zu werden. Jeder Versuch einer Definition von Ethnizität wirft drei soziologische Probleme auf: (1) Wer ist ein ethnic? (2) Wie kann man Ethnizität von anderen sozialen Variablen und Wesensmerkmalen unterscheiden, und (3) was kann man anhand von Ethnizität voraussagen – wie wirkt sie sich auf das Verhalten aus? Bevor wir uns mit der ideologischen und politischen Anwendung von Ethnizität, wie sie heute gängig ist, auseinandersetzen, müssen wir auf die ideologischen Wurzeln eingehen, warum heute Ethnizität so hoch geschätzt wird. Man kann die allgemeine Charakterisierung der ethnics in der sozialwissenschaftlichen Literatur von einem negativen und einem positiven Standpunkt aus betrachten. 1. Man behauptet oft, daß die ethnics weder besonders reich noch besonders arm sind und man identifiziert sie oft entweder mit der eigentlichen blue-collar-Arbeiterklasse (das ist die Schicht der manuellen Arbeiter) oder mit der unteren Mittelklasse. 2. Die Literatur der Gegenwart verfügt über eine Auswahl von Definitionen über Ethnizität. Man schließt die Juden und Japaner aufgrund ihrer intellektuellen Anlagen aus der ethnischen Kategorie aus, und begründet das mit ihrer Zugehörigkeit zur Mittel- oder oberen Mittelklasse und mit ihrer aufgrund ihrer Bildung aufwärts gerichteten Mobilität. 3. Man schließt auch die Ethnizität innerhalb von Gruppen aus der unteren Klasse oder innerhalb rassischer Gruppen aus der Diskussion aus. Im Zusammenhang mit der Definition oder der Anwendung des Terminus „Ethnizität“ taucht beispielsweise selten eine Unterscheidung zwischen den Schwarzen aus Ostafrika und den Schwarz en aus Jamaica auf. 4. Man neigt sehr stark dazu, die ethnics im Sinne von Weißen zudefinieren, die innerhalb eines Stadtgebietes oder direkt in der Innenstadt leben, und stellt sie Weißen gegenüber, die in Vororten oder in Gebieten außerhalb der Stadt wohnen. 5. Man unterscheidet oft zwischen Nativisten und ethnics, das heißt zwischen Menschen, die aus einem protestantischen und englischsprechenden Kontext kommen und solchen, die in einem katholischen und nicht englischsprechenden Hintergrund wurzeln, obwohl man in manchen

74 Fällen (zum Beispiel bei den Iren) die ethnics nur anhand ihrer Religionszugehörigkeit identifizieren kann. 6. Die ethnics richten ihr berufliches Interesse allgemein auf Bildung im Gegensatz zu den freien Künsten oder klassisch-humanen Bildung aus. Sie sind gewöhnlich nicht akademisch, antiintellektuell und äußerst pragmatisch orientiert. Es ist interessant, daß die Schwarzen allgemein nicht der Kategorie der ethnics zugeordnet werden, obwohl sie vielleicht das beste Beispiel für eine beruflich orientierte Subkultur sind. 7. Man behauptet gewöhnlich von den ethnics, daß sie besondere Merkmale und Haltungen besitzen, die auch für die politische Rechte gelten: eine streng patriotische Haltung, ein religiöser Fundamentalismus, ein autoritäres Familiensystem und so weiter. Die Beschreibungen für Ethnizität und Konservativismus überschneiden sich an so entscheidenden Punkten, daß sich der einzige Unterschied scheinbar aus der gegenwärtig positiven Einstellung einem solchen Verhalten gegenüber seitens der wissenschaftlichen Beobachter ergibt (siehe beispielsweise Coles, 1971). Um zusammenzufassen, so hat die Bestimmung, wer ein ethnic ist, mehr mit der gefühlsmäßigen Einstellung der Soziologen als mit der Wissenschaft der Soziologie zu tun. Der Begriff ist eine Definition der neuen und positiven Einstellung jenen Personen gegenüber, die diesem Modell entsprechen. Heute hört man von „ihnen“, daß man über sie als die Mittelklasse, untere Mittelklasse oder Arbeiterklasse im Unterschied zur unteren Klasse spricht. Sie sollen ein Teil jener neuen Welle sein, die einerseits gegen Opulenz und andererseits gegen Wohlfahrt kämpft. Der Begriff der Ethnizität steht als solcher in der Mitte. Er schätzt weder den nationalen Konsens zu hoch ein noch akzeptierter die Vorstellung vom Klassenkampf. Seine ideologischen Anhänger betrachten die ethnics eher als Interessengruppe und nicht als Gesellschaftsklasse. In diesem Sinne schließt die Ideologie der Ethnizität ein so seltsames Element wie den klassischen Liberalismus mit ein. Er rückt eher den Pluralismus der Kulturen und die unterschiedlichen Kulturen als den sozialen Wandel und die soziale Aktion als Problem in den Vordergrund. Damit kann man vielleicht auch erklären, warum engagierte Verfechter der Bürgerrechte und -freiheiten ihre Aufmerksamkeit und ihre Neigung von der schwarzen Unterklasse ab- und der

75 weißen ethnischen Klasse zugewendet haben (Coles, 1971; Novak, 1971, Cottle, 1971a; und Friedman, 1967). Dieser Versuch einer Definition deutet auch an, daß wir es vor allem mit Gefühlen und nicht mit Organisationsformen zu tun haben. Was früher im verborgenen gehalten wurde, tritt heute offen zutage. Die versteckten und verdeckten Äußerungen von Rassismus und Antisemitismus werden nicht mehr nur geflüstert, sondern offen gepriesen oder zumindest offen als ehrenhaft und moralisch neutral präsentiert (Novak, 1971, S. 44-50).

Die Ideologie der Ethnizität Ethnizität meint eine Summe kultureller Faktoren, die mehr das Soziogramm einer Person und nicht ihre rassischen oder Klassenbeziehungen erklären. Sie definiert die bindende Kraft des sprachlichen Ursprungs, des geographischen Hintergrundes, des kulturellen und kulinarischen Geschmacks und der religiösen Homogenität. Der Begriff der Ethnizität unterscheidet sich daher nicht nur von der Klasse, sondern stellt in gewisser Hinsicht ihr operationales Gegenstück dazu dar. Er schafft die kulturellen und theologischen Verbindungen, die über die Klassenschranken hinwegreichen und aus denen neue Spannungen entstehen und aufgrund dessen man die Beziehung der Zugehörigkeit und des Ausschlusses in einer amerikanischen Gesellschaft neu definieren kann, die einer von der Klasse geprägten Perspektive für die gesellschaftliche Wirklichkeit müde geworden ist. Die neuerliche Betonung der Ethnizität kennzeichnet das Ende der Leistungsgesellschaft und die Rückkehr zur Zuordnungsgesellschaft (asriptive society). Der Erfolg einer Generation läßt sich nicht mehr länger mit beruflicher Leistung oder Befriedigung durch eine Karriere messen. Man sucht deshalb nach neuen Definitionen für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, um den Stolz zu wecken. Diese Suche nimmt oft die Gestalt einer Überbewertung des ethnischen Ursprungs an und bestärkt das Gefühl, daß eine solche Herkunft für die Gruppenkohäsion mehr Bedeutung als die Klasse besitzt.

76 Der Begriff der Ethnizität ist wie andere Barometer, die eine Abneigung anzeigen, ein Indikator für Probleme der Selbstbestimmung. Die Amerikaner waren lange Zeit dafür bekannt, daß ihre Klassenidentifikationen sehr unklar sind. Die meisten Untersuchungen haben ergeben, daß die Identifikation als Klasse deswegen ungenau ist, weil der Klassenkonflikt in der amerikanischen Gesellschaft als ein fremdes Element wirkt. Jeder behauptet von sich, dem Mittelstand anzugehören. Nur wenige ordnen sich selbst entweder an dem einen oder am anderen Ende der Klassenskala ein. Infolgedessen ist die Klasse als Mittel zur Statusunterscheidung ein strenger, als Mittel ökonomischer Mobilisierung ein schwacher Maßstab. Der Begriff der Ethnizität verdrängt gewissermaßen die Vorstellung von der Rasse. Die Rasse beruht im Gegensatz zur Klasse mehr auf Zuordnung als auf Leistung. Die Ethnizität bezeichnet eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Sprache, Religion und Rasse. Wenn sie schon nicht gemeinsame Aufgaben impliziert, dann zumindest gemeinsame Geschmacksrichtungen. Die Polen und Italiener weisen gemeinsame religiöse Züge, aber keine ethnische Identität auf. Die Kirche hat lange Zeit stärker die Ethnizität auf der Basis der sprachlichen und nationalen Herkunft anerkannt als einfach den universalen seelsorgerischen Anspruch des Katholizismus. Bei der Bestimmung, welche Folgen die Ethnizität im Verhalten hervorruft, taucht ein Problem auf. Es ist die Schwierigkeit, festzustellen, ob allen nationalen und linguistischen Minderheiten politische Forderungen oder ökonomische Verhältnisse gemeinsam sind. Abgesehen von der Tatsache, daß sich die meisten Angehörigen einer ethnischen Gruppe der Parteipolitik der Demokraten anschließen, gibt es wenig Beweise dafür, daß sie wirklich gemeinsame politische Ziele verfolgen. Die Kluft zwischen Iren und Polen erster und zweiter Generation scheint größer zu sein als zwischen Iren und Polen aus derselben Generation (Greeley, 1969, S. 46-48). Man muß daher die tatsächliche Wirksamkeit der Ethnizität als erklärende Variable sorgfältig abwägen. Wir müssen uns mit der Tatsache vertraut machen, daß sich in der gegenwärtigen Ära eine Schwerpunktverlagerung abzeichnet. Der Zusammenbruch des Föderalismus, die Belastung des amerikanischen Nationalsystems und die damit verbundene Ablöse der Ideologie vom „Schmelztiegel“ Amerika haben zu einer Situation geführt, wo die Ethnizität gewisserma-

77 ßen den Durst nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft stillt – eine Gemeinschaft von bescheidener Größe, wo dem Schein nach die Werte des ländlichen Amerika und des ländlichen Europa in einer postindustriellen Welt erhalten werden könnten, wo jedoch die Kritik durch die Radikalen und Jugendbewegungen ausbleibt. Die Enttäuschung über das amerikanische Wertsystem und die Unfähigkeit Amerikas, eine Reihe universaler Ziele aufrechtzuerhalten, ist zum Teil mit ein Grund, warum wieder parochiale und partikularistische Lehren, die sich auf ein Gemeinwesen konzentrieren, entstanden sind. Die positive Reaktion der amerikanischen Nation auf historische Ungerechtigkeiten gegen die Schwarzen weckte tatsächlich den Anschein, daß die Ethnizität unter Anwendung eines ähnlichen Modells gesellschaftlichen Protests die gleichen Resultate erzielen könnte. Die verschiedenen Einstellungen haben sich auf ideologischer Ebene auffallend verschoben. Was früher ein Minderheitenproblem zu sein schien, womit das Streben nach Integration in das amerikanische System verbunden war, wurde jetzt zu einem ethnischen Problem, womit das Streben nach Selbstbestimmung und Trennung vom Hauptstrom des amerikanischen Lebens verbunden ist. Um es genauer auszudrücken, – dieser Hauptstrom wurde durch verschiedene Kräfte angegriffen. Nachdem es zwanzig bis dreißig Millionen Italo-Amerikaner erster und zweiter Generation gibt, neun Millionen spanisch sprechender Amerikaner, etwa dreizehn Millionen Amerikaner irischer Herkunft (die sich oft mit achtundvierzig Millionen Katholiken überschneiden), und diese wiederum ein Land mit sechs Millionen Juden und dreiundzwanzig Millionen Schwarzen teilen, hat man an der Vorstellung eines Mehrheitsstatus des protestantischen weißen Amerika gerüttelt. Der Begriff des WASP dient der Identifizierung einer herrschenden Wirtschaftsgruppe, bezeichnet aber keine politische oder kulturelle Gruppe mehr, die einzigartig talentiert oder vom Schicksal zur Herrschaft auserwählt ist. Die Ethnizität war daher als Ausdruck einer genuinen Pluralität von Interessen nützlich, ohne notwendigerweise eine Revolution im Lebensstil oder in der Lebenshaltung auszulösen. Die Egalität wird zunehmend zum Recht, anders zu sein und diese Unterschiede in Sprache, Gewohnheiten und Haltungen auszudrücken, und meint nicht mehr die Zugehörigkeit zum weißen angelsächsischen protestantischen E-

78 thos, das die Vereinigten Staaten bis und über das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Zeit des Kalten Krieges hinaus beherrschte. Die Ethnizität ist darüber hinaus äußeres Zeichen des Entstehens neuer Nationen überall in der Dritten Welt – afrikanische und asiatische Nationen, lateinamerikanische sozialistische Staaten, Israel als eine neue Heimat der Juden, das Wiederaufflackern des irischen Nationalismus. Kurz, der allgemeine Trend in der Welt zu einer Aufsplitterung der Machtbasen hat auf den Status der Minderheiten in den Vereinigten Staaten zurückgewirkt. Diese Verstärkung, die die innerstaatlichen Minderheiten von außen erfahren haben, hat das Bild verändert, das sie sich von sich selbst gemacht haben. Die neuen ethnics sind die alten Minderheiten in einer Zeit des Postkolonialismus, und, des Imperialismus, der zumindest als ein kulturelles Ideal, wenn nicht als eine wirtschaftliche Realität sich in Verteidigungsstellung befindet. Unabhängig davon, ob die Ethnizität im innenpolitischen Bereich revolutionäre oder reaktionäre Formen annimmt, ist ihr Aufstieg zu begrifflicher und ideologischer Vorherrschaft eindeutig eine Funktion des Zusammenbruchs der alten Ordnung, wo die angloamerikanische Vorherrschaft bis auf die bolschewistische Bedrohung unbestritten blieb.

Rasse, Religion und Ethnizität Der Begriff der Ethnizität will nicht nur die Strategie der Schwarzen nachahmen, die im Kampf die Gleichstellung erringen wollen, er will auch die Haupttaktik der Juden nachvollziehen, die durch Erziehung gleichgestellt werden wollen. Der Erfolg einer solchen Simulation oder Nachahmung hängt davon ab, ob Ethnizität ein alles beherrschender Begriff oder einfach ein Wort ist, womit alle tiefergehenden Unterschiede zwischen sprachlichen und religiösen Gruppen überdeckt werden sollen. Die Tatsache, Ire zu sein, kann einen bindenden Wert haben, aber die Tatsache, protestantischer oder katholischer Ire zu sein, würde an Bedeutung die ethnische Einheit überragen. Ukrainer zu sein, kann auf ähnliche Weise sich bindend auswirken, solange die Ukrainer nicht ausschließlich als Gruppe im religiösen Sinn definiert werden.. Trotz des gemeinsamen geographischen und sprachlichen Hintergrundeswerden sich die Juden in der Ukraine nicht die-

79 selben ethnischen Ziele setzen. Der Begriff der Ethnizität kann daher nur wenig am Verhalten erklären, wenn man nicht beweisen kann, daß sie die Basis sozialer Solidarität und politischer Aktion bildet und nicht nur einfach eine Residualkategorie darstellt. Es kann sehr leicht dazu kommen, daß man die Betonung, die man neuerdings auf Ethnizität legt, von der alten Bedeutung der Minderheitengruppen in den Vereinigten Staaten unterscheiden muß, vor allem weil sich darin eine Entwicklung abzeichnet, daß das, was früher als Mehrheit bekannt war, nicht mehr vorhanden ist. Man kann außerordentlich schwer die Minderheit als solche in einer Welt untersuchen, wo der Impuls seitens einer Mehrheit schwach oder nicht gegeben ist oder wo die Mehrheit als neue Minderheit definiert wird. Die Tatsache, daß die Ethnizität zu einem neuen Sammelpunkt geworden ist, scheint umgekehrt proportional zum Abstieg des weißen angelsächsischen Protestantismus als einer Definition der Mehrheit zu sein. Auch diese Gruppe ist ethnisch geworden. Die Ethnizität ist statt zu einem untergeordneten zu einem relativen Begriff geworden. Alle Modelle haben ihre Grenzen. Der Ruf nach „ethnischer Macht“ richtet sich nach dem Modell, wonach im vergangenen Jahrzehnt um die Bürgerrechte gekämpft worden ist, und ist damit die beste Illustration für diese Tatsache. Er will die besonderen Verhältnisse der Schwarzen in den Vereinigten Staaten zu Bewußtsein bringen. Es kommt nicht von ungefähr, daß man sich wieder in Erinnerung ruft, daß die Schwarzen im großen und ganzen unfreiwillig in die Vereinigten Staaten gekommen sind, während die ethnische Minderheit weitestgehend freiwillig hergekommen ist. Die Erfahrung der Schwarzen in Amerika war darüber hinaus mit der Plantage als einer totalen Institution verbunden und hängt mit ihrer Degradierung als Volk zusammen. Die weiße (ethnische) Immigration bedeutet zugleich Mitwirkung am Aufbau Amerikas und besonders am Aufbau des Industriesystems. Während also Modelle für den ethnischen Separatismus als Prämisse auf die schwarze Bewegung übertragen werden, zeigen sie zugleich, daß sie, sich der anders, gearteten Umstände einer Partizipation der Schwarzen an den Problemen Amerikas während der letzten hundert Jahre kaum bewußt sind. Einige zweifeln daran oder wagen sogar zu leugnen, daß die gegenwärtigen Appelle an die Ethnizität sich direkt auf die große weiße Hoffnung beziehen, auf das Streben der ethnics, zu verhindern, daß die Schwarzen in

80 den Städten Amerikas einen entscheidenden Machtblock bilden. Die Ethnizität wird als solche nicht gerade zu einer Reaktion auf die Spannungen, die gegenwärtig die amerikanische Gesellschaft belasten, sondern zu einer Reaktion auf die Überordnung, die zur Zeit die Haltung der herrschenden amerikanischen Sektoren prägt. Ethnizität wird zur Begeisterung im Kampf gegen das Verbrechen auf der Straße und im Kampf, die größeren Städtezentren als Stützpunkte der Weißen zu erhalten. Wenn die, Forderungen der Ethnizität unterstützt werden, so ist das auch nur eine Reaktion auf die Flucht weiter Teile des Mittelstandes in die Vorstädte Amerikas, wobei sie es den weißen Angehörigen ethnischer Gruppen überlassen, den Druck der militanten Schwarzen und schwarzen Organisationen, in den amerikanischen Städten zu absorbieren. Die lobende Betonung der Ethnizität ist nicht in dem Maß eine Anerkennung des besonderen Beitrages der Europäer in Amerika, sondern die Formulierung und Ausgestaltung eines neuen Mythos, des Mythos einer organisierten Gruppe der weißen Angehörigen der amerikanischen Arbeiterklasse, die sich um die Bewahrung ihrer Klassenposition bemühen. Als solche wird die Ethnizität zu einer weiteren Hürde für die amerikanischen Schwarzen, die sie überspringen müssen, wollen sie in dieser Gesellschaft Gleichheit erringen. Der offene Kampf zwischen Weißen und Schwarzen ist vom geistigen Standpunkt aus abgeschmackt und uninteressant. In diesem Zusammenhang taucht die Ethnizität auf, um die rassischen Spannungen zu entschärfen, indem sie den Kampf auf die höhere Ebene der unterdrückten Schwarzen und geachteten Angehörigen von ethnischen Gruppen verlegt. Die Überbetonung der Ethnizität hat auf einer ganz anderen Ebene zu neuen und seltsamen Allianzen oder zum Potential für neue Koalitionen geführt. In diesem Zusammenhang erhält das neuerliche Bemühen der jüdischen Gemeinschaft um eine Abmachung mit der ethnischen Führung ein ganz anderes Gewicht. Der informale Pakt zwischen der Jewish Defense League und dem italo-amerikanischen Club beleuchtet Tendenzen im gegenwärtigen jüdisch-amerikanischen Leben, die das zur Zeit geltende Wertsystem in Amerika übernehmen und die Forderungen nach nationaler oder rassischer Trennung zurückweisen wollen. Nach Jahren des Kampfes zur Unterstützung des schwarzen Egalitarismus und im besonderen der höheren Bildungsinstitutionen der Schwarzen wer-

81 den die Juden heute von ihren schwarzen Kollegen so wie nie zuvor kritisiert. Wo immer der schwarze Nationalismus verwurzelt sein mag, sein erster Kontakt brachte ihn mit dem Juden als Landbesitzer, Geschäftsmann und Grundstücksmakler in Verbindung. Ob die jüdische Gemeinschaft ihre Probleme damit lösen kann, daß sie sich den ethnics zuwendet, läßt sich schwer feststellen. Was in Wirklichkeit gefährdet ist, ist das besondere philanthropische Verhältnis, das zwischen der schwarzen und der jüdischen Gemeinde während des zwanzigsten Jahrhunderts bestanden hat und das sich vielleicht in so etablierten schwarzen Führern wie dem verstorbenen Martin Luther King und ähnlichen jüdischen Führern wie dem verstorbenen Rabbi Stephen Wise verkörpert. Der kleinbürgerliche Charakter der Allianz zwischen den Schwarzen und den Juden war lange Zeit auf Verständnis gestoßen. Er konzentrierte sich auf die Bildung als dem wesentlichen Mittel, um nach oben zu gelangen, und schaltete damit a priori die Möglichkeit einer Revolution aus. Die schwarze Jugend bewegt sich immer bewußter auf revolutionäre Ziele zu, während eine ältere Generation von Juden mit gleicher Schnelligkeit sich auf reformistische Ziele hinbewegt, daher ist die historische Allianz zwischen diesen beiden Völkern ernsthaft gefährdet. Das jüdische Modell hat sich für die Schwarzen nach dem Krieg als weniger wirksam erwiesen, wie man zuvor gedacht hatte; die Schwarzen griffen daher das Modell der Dritten Welt auf – dieses Modell wird besonders durch die algerische Revolution und deren kulturellen Führer Franz Fanon geprägt. Wie es auch immer ist, die Tatsache, daß die jüdische Gemeinde oder ihre selbsternannten Repräsentanten ihre Hilfe den ethnischen weißen Arbeiterklassen in den Städten zusagen, besitzt mehr als rein symbolischen Charakter. Die Klassenschranken zwischen den Völkern beweisen weiterhin größere Dauer als die durch die Rasse bedingte Gemeinsamkeit. Die verschiedenen organisatorischen Bemühungen zur Sensibilisierung und Depolarisierung sind zwar intellektuell aufrichtig gemeint und verfolgen gute Absichten, gehen aber von einer grundsätzlich irreführenden Prämisse aus, nämlich daß die entscheidende Polarität gegenwärtig das schwarze Amerika vom ethnischen Amerika trennt (Levine und Herman, 1971, S. 3-4). Eine solche Formulierung räumt verschiedenen Organisationen, vor allem jüdischen Organisationen aus dem Mittelstand, die Möglichkeit ein, ihre historische Rolle als ehrenhafte Vermittlerin und Freunde

82 beider Parteien zu spielen. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß die Probleme der Polen und Schwarzen in solchen Städten wie Detroit oder Gary trotz ihrer unterschiedlichen Ausdifferenzierung einen gemeinsamen Ursprung haben – fehlende sichere Arbeitsplätze, schlechte Aufstiegsmöglichkeiten, das Fehlen sinnvoller Weiterbildungsprogramme und der Verfall der Städte – alle diese Erscheinungen sollten (wenn man die richtige Schlußfolgerung zieht) die Basis für die Solidarität der Klassen und eigentlich nicht für die ethnische Trennung aufgrund rassischer oder religiöser Schranken schaffen. Man kann leicht verstehen, warum die jüdische Gemeinde eine Annäherung an die ethnischen Gruppen sucht. Nachdem allerdings die ethnics selbst oft die Juden als außerhalb irgendeiner Volksgruppe stehend bezeichnen und die Klassenformationen weiterhin mit unverminderter Wirksamkeit das ethnische vom jüdischen Amerika trennen, liegt die Möglichkeit einer Allianz in weiter Ferne und sie würde, sollte sie zustandekommen, sehr schwach sein. Sie kann in einer spezifischen Gemeinschaft, wo die Interaktion zwischen Juden und ethnischen Gruppen sehr stark ist, die Gestalt eines taktischen Verfahrens annehmen, aber nicht mehr.

Die politische Anwendung von Ethnizität Die besonderen taktischen Beziehungen zwischen den Schwarzen, Juden und ethnischen Gruppen ist tatsächlich die Crux für die Zukunft der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten. Nachdem die Vereinigten Staaten zu einer sogenannten dreigeteilten Nation geworden sind, identifiziert man die Schwarzen mit jener Gruppe, die entweder auf der Lohnliste der Regierung steht oder von ihr die Armenunterstützung empfängt. Die Juden gelten als die Stütze des amerikanischen Unternehmertums und die ethnics werden als die wahren Erben des Geistes der Arbeiterklasse betrachtet oder sehen sich auch selbst so. Die Neigung der kommunistischen Parteien der ganzen Welt, unrechtmäßige antisemitische Anschauungen zu akzeptieren, wenn nicht sogar zu übernehmen, ist eine ganz reale Antwort auf ihre Wähler innerhalb der Arbeiterklasse und auf ihre schwarzen Anhänger – die Juden

83 erscheinen eher als Ausbeuter und nicht als Ausgebeutete und solche Elemente, die an der amerikanischen Lebensart nicht partizipieren wollen, weil sie sich angeblich aus zwei Gründen an Israel gebunden fühlen. In der Literatur über die Ethnizität geht man überwiegend automatisch von der Annahme aus, daß Ethnizität und Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse axiomatisch sind, während die Schwarzen mit der unteren Klasse identifiziert oder außerhalb des Systems der Arbeiterklasse gestellt werden. Die Soziologen haben gewissermaßen die Vorstellung zu stark verbreitet und damit ausverkauft, daß sich nämlich die Kultur der unteren Klasse und die Kultur der Arbeiterklasse unterscheiden (Rainwater, 1966, S. 172-216; 1970, S. 361-397). Dazu kommt noch, daß die tatsächliche Verteilung der Schwarzen auf die amerikanische Gesellschaft gründlich mißverstanden worden ist – wenn sie auch über eine eigene Kultur verfügen, so stellen sie trotzdem einen wesentlichen Anteil an der mensch1ichen Arbeitskraft in den Vereinigten Staaten, besonders in der Dienstleistungsindustrie, bei der Regierungsarbeit und Hochleistungsberufen. Sie stellen zwischen fünfzehn und sechzehn Prozent der Arbeitskraft im Gegensatz zu elf Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung. Sie schließen sich rascher in Gewerkschaften zusammen als ihre weißen ethnischen Kollegen (Brooks, 1970, S. 169-170; Rustin, 1971, S. 73-74). Sie sind auch für die Fließbandarbeit wie in der Stahl- und Automobilindustrie ein entscheidender Faktor. Nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zur niedrigen Klasse, während die weißen Angehörigen von ethnischen Gruppen zur Arbeiterklasse gehören, stehen sie abseits, sondern weil die Mehrzahl der schwarzen Arbeiter (aufgrund ihrer historischen Marginalität und ihrer nichttechnologischen Merkmale) nicht in Gewerkschaften zusammengeschlossen sind, während der größere Prozentsatz der weißen ethnischen Arbeiterschaft (ebenfalls aus historischen Gründen, aufgrund ihrer syndikalistischen Erfahrung als Emigranten und der spezialisierten handwerklichen Formen der Arbeit) weitgehend schon seit einiger Zeit gewerkschaftlich organisiert ist. Betont man mit besonderem Nachdruck diese Kluft zwischen der schwarzen Kultur der unteren Klasse und der weißen Ethnizität der Arbeiterklasse, wiegt die falsche Deutung der Wirklichkeit außerordentlich schwer und gefährlich – sie verschleiert die akute Verantwortung der Arbeiterschaft der Vereinigten Staaten, die ziemlich genau in ein Viertel zerfällt, das gut organisiert ist, und in drei Viertel, die im Gegensatz dazu kaum, wenn überhaupt organisiert sind.

84 Dieser Begriff von ethnischen Organisationen ist eine Vorbedingung für die Klassensolidarität und als solche Gegenstand von vielen Kommentaren. Richard Krickus (1971, S. 30) hat dieser Meinung mit besonderer Deutlichkeit Ausdruck verliehen: „Mit wachsendem Selbstbewußtsein, dem Auftreten einer starken Führungsschicht und der Evolution von organisatorischen Strukturen entsprechen viele schwarze Gemeinschaften den Minimalerfordernissen, die für eine Koalition notwendig sind. Weil in den meisten weißen ethnischen Gemeinschaften noch keine ähnlichen Strukturen gegeben sind, ist eine Koalition mit den Schwarzen nicht wirklich durchführbar. Bevor die weißen ethnics aufgrund verstärkter Gruppenidentität keine neuen Führer hervorbringen und neue organisatorische Gruppen entwickeln, wird sich die Vorbedingung für die Arbeit einer Koalition in ihren Gemeinschaften nicht erfüllen.“

Der Verfasser dieser Äußerungen macht auch deutlich, daß der Zweck eines solchen organisatorischen Pluralismus umfangreicher ist. „Wenn die weißen ethnics mit ihren nichtweißen Nachbarn zusammenarbeiten sollen und sie gemeinsame Ziele verfolgen wollen, müssen sie auch die Mittel finden, um ihre Forderungen wirksamer zu artikulieren. Im Verlauf dieses Artikulationsprozesses wird sich an der Oberfläche ein klares Bild von ihrem Eigeninteresse abzeichnen. Dieser Schritt ist wiederum eine Vorbedingung ihrer Zusammenarbeit mit anderen Gruppen, die mit ihnen viele Probleme gemeinsam haben.“ (Krickus, 1971, S. 30)

So übergreifende Klassenidentitäten können sehr leicht durch unmittelbare ethnische Pluralitäten verwischt werden. Wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß sowohl die schwarzen als auch die ethnischen Gruppierungen eigener Organisationen bedürfen, kann sich dadurch die Rhetorik des rassischen und ethnischen Antagonismus eher verschärfen als sich abschwächen. Wenn man die Spannungen zwischen den ethnics und den Schwarzen definiert, ohne ihre Klasseninteressen, die einander ähneln, gegenseitig eindeutig abzugrenzen, womit auch eine Identität in ihrer Klassenfeindlichkeit zusammenhängen kann, verschärft man sie dadurch eher als daß man sie beseitigt. Man sollte davon ausgehen, daß in der Zusammensetzung der Klassen in der amerikanischen Gesellschaft immer die

85 spezialisierten Interessengruppen und momentane taktische Überlegungen über langfristige Tendenzen und Strömungen die Priorität bewahren müssen. Man sollte auch davon ausgehen, daß die Juden als ethnische Typen einander so ähneln, daß sie auch von der Lösung betroffen sind, die sich auf die Ethnizität bezieht. Auch die Juden können sehr leicht in ihren eigenen Reihen aufgrund von Überlegungen über Rasse und Klasse einen starken Antagonismus erzeugen. Sowohl der Klasse als auch dem Beruf nach besteht unter den Juden eine beachtliche Streuung, und eine vielleicht noch strengere Disparität zwischen orthodoxen, reformierten und konservativen Juden, Rekonstruktionisten und anderen Varianten der jüdischen Religionspraxis. Aufgrund ihres nationalen und ethnischen Hintergrundes brechen darüber hinaus zwischen den Juden aus Osteuropa und Asien oder aus dem Mittleren Osten ungeheure Disparitäten auf. Darüber hinaus ergeben sich auch Differenzen politischer Natur, zwischen den Zionisten, NichtZionisten und sogar Anti-Zionisten. Betrachtet man die Juden also als eine einheitliche Phalanx, schreibt man ihnen eine weit tiefere Einigkeit zu als sie tatsächlich besitzen und setzt dabei noch voraus, daß die Welt der Juden oder jeder anderen ethnischen Gruppierung notwendigerweise durch die Drohmechanismen von Gruppen außerhalb ihrer eigenen Welt zu einer Einheit verschmolzen werden. Die Welt der Ethnizität ist voll von Prämissen und Strategien, die auf weitestgehend von anderen Gruppen übernommenen Modellen aufbauen. Die selektive und subjektive Methode zur Bestimmung der Mitgliedschaft in einer ethnischen Gruppe macht es möglich, daß dieser Begriff auf jede beliebige Zahl von politischen Kontexturen Anwendung findet. Selbst wenn der Begriff der Ethnizität auf der theoretischen Ebene sehr ungenau ist, kann er doch jene Gruppen unter sich sammeln, die durch den Zusammenbruch der ethnischen Gemeinschaften in der amerikanischen Gesellschaft in Schrecken und Verwirrung versetzt wurden. Man weist vor allem die Juden zurecht, weil sie als erste die Stadt verlassen und in die Vorstadt ziehen. Warum aber notgedrungen die Ethnizität eher die urbane als die suburbane Gestalt annehmen muß, wird selten überprüft und noch weniger kritisch untersucht. Innerhalb des politischen Rahmens der Massengesellschaft kann die Ethnizität sehr wohl als eine Manifestation des rechten Flügels fungieren, um den Verfall des Gemeinwesens abzuwehren. Der Substanz, nicht aber der

86 Form nach, ist dieses Verhalten den radikalen und rassischen nationalistischen Gruppen des linken Flügels, die gleichfalls zu kommunaler Geschlossenheit neigen und aus rassischen und religiösen Bemühungen heraus strenge Beziehungen der Zugehörigkeit und des Ausgeschlossenseins herstellen, sehr ähnlich. In allen Sektoren der amerikanischen Gesellschaft kamen verschiedene Verhaltensweisen der Ablehnung zum Ausdruck. Wer sich mit der Vergangenheit identifiziert, hat mit dem gegenwärtigen System des Überflusses ähnliche Schwierigkeiten wie jene Menschen, die nur der Zukunft vertrauen. Nur vertreten sie eindeutig verschiedene Lösungen. Es ist klar, daß ein sozialer Wandel in den Vereinigten Staaten genauso schmerzvoll sein wird als anderswo. Ein solcher Wandel bringt Koalitionen und Konsolidierungen mit sich, die auf ihre Weise auf die Dauer gesehen zu rassischer Harmonie und Einheit der Klassen führen. Am wahrscheinlichsten wird sich direkt ein starkes ethnisches Gefühl herausbilden, das die Bemühungen um eine Vereinheitlichung und nationale Integration stark verringern und dämpfen würde. Einige Menschen erwarten den großen Tag, wo es zwischen den Schwarzen der unteren Klasse und den Weißen aus der Arbeiterklasse zum Zusammenschluß kommt. Selbst wenn man von der Erfahrung und von einer politischen Koalition ausgeht, scheint ein Zusammenschluß noch in weiter Ferne zu liegen. In der Tatsache, daß der Begriff der Ethnizität wieder einmal in der zweihundertjährigen Geschichte der amerikanischen Gesellschaft als Strömung eine solche Tiefe und Verbreitung gefunden hat, spiegelt sich die Katastrophe separatistischer Politik und der Industriewirtschaft wider. Die eigentliche Frucht der Rassenpolitik war eine Politik der Ethnizität. Beide bedrohen das Gesellschaftssystem und scheinen doch für alle anderen Bewohner der Vereinigten Staaten keine Alternative darzustellen. Neben Klasse und Rasse muß man jetzt auch die Ethnizität als einen Maßstab für die soziopolitische Kohäsion in Amerika betrachten. Unabhängig davon, wie ungenau diese Variable auch ist, ist die Tatsache, daß sie aus den soziologischen Texten in die Nachbardisziplinen verschwunden ist, ein Indikator für den tragischen Bruch innerhalb einer Nation, die mit dem Verfall des Föderalismus im eigenen Land und mit dem schrumpfenden Imperialismus außerhalb der eigenen Grenzen nicht zurande kommt.

87 Die Ethnizität ist als Begriff der Summe und der Substanz nach ein Surrogat, Ausdruck der Desintegration und Verschlechterung des nationalen Wirtschaftssystems und der nationalen gesellschaftlichen Prioritäten. Wie bei anderen Begriffen partikularistischer Natur mißt sich ihre Bedeutung daran, was und wer ausgeschlossen wird und nicht daran, wer und was inbegriffen ist. Die Ethnizität ist eine Antwort auf eine kollektive Anomie, auf eine Zeit, wo die friedlichen Tage in weite Ferne gerückt sind, in denen man zuversichtlich die nationalen Prioritäten gesetzt und eine arrogante nationale Zielsetzung verfolgt hat. Die Repräsentativregierung erwies sich als nicht repräsentativ, und die Regulierungsmechanismen entwickelten sich oppressiv und bürokratisch. Das Management großer Fabriken und die Gewerkschaftsbewegung innerhalb großer Fabriken haben in sich so große Kräfte vereinigt, daß sie den gewöhnlichen Arbeiter in eine Struktur ohne Verantwortung pressen. Der Zug zur wirtschaftlichen Rationalisierung hat die multinationale Zusammenarbeit und die internationale Kartellbildung beschleunigt. Dieser geballte Druck und die engen Zusammenschlüsse kehren nur die wirtschaftliche Ohnmacht des normalen Bürgers hervor. Parallel zu diesem Wiederaufblühen der Ethnizität als eines Werts der Arbeiterklasse verläuft gewissermaßen eine neue Bewegung des Mittelstandes der solche Werte wie Rasse, Sex, Eigentum und andere Definitionen wieder aufgreift, um damit die Leere und Schalheit des kapitalistischen Lebens in der postindustriellen Zeit zu überwinden. Wie schwach die Erfolgsethik und die Leistungsorientierung tatsächlich ist, offenbart sich in der Jugend der Mittelklasse, die wieder auf die Ländlichkeit, den Fundamentalismus, den Psychologismus und andere Formen der Schicksalsgemeinschaft als Werte zurückkehrt, die man mit der alten Welt und ihren feudalen Verhältnissen zurücklassen wollte. Jene Gruppen, die sich mit einer gewissen Melancholie in Amerika identifizieren (Berger, 1971), sind mit dem Fortschritt in dieser Nation genauso unzufrieden wie jene Gruppen, die beim Aufbruch und Aufblühen Amerikas mitgewirkt haben (siehe Reich, 1971 ). Daß sich die Unzufriedenheit bei den verschiedenen Klassen jeweils verschieden äußert, ist bisher sicherlich nicht ohne Beispiel, es überrascht lediglich die Einförmigkeit des Verlangens, den gegenwärtigen Zustand zu überwinden, und das weitverbreitete Gefühl, worin sich klar abzeichnet, daß der alte soziologische Konsensus und die alten politischen Einrichtungen zur wechselseitigen Kontrolle als Mechanismen gegen die

88 Ablehnung, die sich unter weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft breit macht, ihre Wirksamkeit verloren haben. Selbst wenn die Ethnizität als Begriff nur ein Surrogat darstellt, muß man trotzdem näher erklären, wofür sie ein Surrogat ist. Politisch gesehen stellt sie eine Forderung nach stärkerer Partizipation an der Bundesbürokratie dar, wirtschaftlich gesehen ist sie die Forderung nach besser bezahlter Anerkennung der körperlichen „Hand“-Arbeit auf Kosten der geistigen „Kopf“-Arbeit. Kulturell betrachtet behauptet sie das Recht der Gruppen auf einen je eigenen Lebensstil. Über diese Forderungen hinaus gelten auch historische Dimensionen: Insofern die Rückkehr zur Ethnizität mehr als nur ein intellektueller Dunst ist, ist sie auch eine Rückkehr zu einer vergangenen Ära im amerikanischen Leben, bevor die „SchmelztiegelIdeologie“ mit einer seltsamen Mischung aus äußerlichem Druck und internalisierter Schuld die Unterschiede und Ungereimtheiten in der Immigrantengeneration ausgemerzt hat. In diesem Sinn ist die Rückkehr zur Ethnizität mehr als die neuerliche Betonung von askriptiven Werten; sie greift auf eine Zeit zurück, wo Familienbande, die patriarchalische Autorität, die Fremdsprachen und die Bedeutung der Arbeit selbst über die berufliche und die monetäre Leistung eine gewisse Priorität besaßen. An dieser Stelle kann es keine Diskussion über das primäre Ziel geben: nämlich die Schwarzen, die das Wohlfahrtsmodell angewendet haben, um damit einen Maßstab für Einfluß und sogar Selbstachtung zugewinnen, und die Juden, vor allem aus zweiter und dritter Generation, die dem Bildungsmodell folgten, um sich damit eine Basis für die Mobilität nach oben zu schaffen. Das Problem besteht darin, daß die ethnischen Gruppen Schwierigkeiten haben, sich mit dem ersten Modell zu identifizieren, es ihnen aber auch nicht leichter fallen wird, mit Hilfe des zweiten Modells Zugang zu gewinnen. Mittels extensiver Interpretation kann man die berechtigte Behauptung aufstellen, daß die Juden den Begriff der Gesellschaftsklasse weitestgehend dazu verwendet haben, um damit bequem sowohl das amerikanische System als auch das Leben in diesem System erklären zu können. Die Schwarzen haben im allgemeinen einen Begriff von rassischer Kaste verwendet, um zu erklären, warum sie trotz des Anscheins von Wohlstand von den Vorteilen des Klassensystems ausgeschlossen worden sind. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, daß der Aufbruch eines ethnischen Be-

89 wußtseins nach einer Erklärung suchen läßt, warum so viele Menschen katholischen Glaubens, polnisch-italienisch-irischer-ukrainischer Herkunft und. als Angehörige der Arbeiterklasse mit dem amerikanischen System an seinen unteren, wenn auch nicht untersten Punkten so untrennbar verflochten schienen. Die Ethnizität bietet dieselbe Erklärung, aber ohne zu versuchen, bei einer konservativen Gruppe von Arbeitern mit einer Analyse der Arbeiterklasse oder bei einer Gruppe von Weißen mit einer Rassenanalyse (zumindest gedanklich) hausieren zu gehen. Die Ethnizität ist daher eigentlich eine Formel, womit man Menschen und Klassen miteinander verbinden kann, die ansonsten in Fragen der Religion, des Ursprungslandes und sprachlicher Gebundenheit eher uneinig waren, als daß sie eine Einheit bildeten. Ob die Ethnizität in Wirklichkeit im operationalen Sinn ein ebenso gewichtiger Faktor wie Klasse oder Rasse sein kann, scheint gewissermaßen weniger bedeutend als die Tatsache, daß die Gemeinschaft der amerikanischen Sozialwissenschaft ihre alten Formeln von Klasse, Status und Macht hinter sich gelassen und neue Formulierungen für Klasse, Rasse und Ethnizität gewonnen hat – in diesem Kontext werden Fragen von Status und Macht die „abhängigen Variablen“ einer umfassenderen Matrix von primären menschlichen Vereinigungen. Als eine Art von Gegenkultur sammeln sich Tendenzen in Richtung auf Individualisierung und Privatisierung: auf der Linken die Studenten, die Schwarzen, die Chinesen, auf der Rechten die ethnischen Gruppen, die Polen, die Katholiken, die Tagelöhner und alle Weißen, die sich in das „System“ entweder nicht einzufügen vermochten oder es nicht auszunutzen verstanden. Ob die Reaktion nun nach links oder nach rechts tendiert, wichtiger ist der Impuls, der davon ausgeht, und den Umklammerungen, die den „kleinen Mann“ fesseln wollen, Widerstand leistet – die Öffentlichkeit entwickelte ein ethnisches Bewußtsein verbunden mit einem missionarischen Rachegefühl. Der Zusammenschluß der neuen Minoritäten, sei es nun das Fabrikarbeiterproletariat oder das Studentenproletariat, ist trotzdem der Hinweis auf den ungeheuren Wandel, der sich innerhalb der Vereinigten Staaten vollzogen hat, weil sie von einer Nation von Arbeitern zu einer Nation von Dienstleistungspersonal geworden sind. Die Antwort, ob man sie nun in die Sprache der Rassenpolitik oder der ethnischen Politik kleidet, ist gewissermaßen eine Forderung nach realer Politik, nach einer hierarchischen Politik, wo man einem Gemeinwesen mit Verantwor-

90 tungsbewußtsein die Möglichkeit einräumt, den Entscheidungsprozeß und den Prozeß politischer Entscheidungsbildung zu kontrollieren. Dieser Impuls für eine Kontrolle durch das Gemeinwesen ist möglicherweise eine Quelle für das erneuerte Bemühen um eine Koalition, ob sie nun unter dem Namen des Populismus oder der Wohlfahrtsbemühungen läuft, und berechtigt vielleicht zur Hoffnung auf eine neu gestärkte Politik. Die Entwicklung der Ethnizität zu einem Grundanliegen und zu einem fundamentalen Begriff sollte weder übergangen noch überbetont werden. Man muß die Ethnizität aber genau erfassen und schließlich auch kanalisieren können, wenn der Fortbestand dieser Nation als Republik und Demokratie gesichert sein soll.

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93

Wissenschaft, Modernität und autorisierter Terror

Um es bereits zu Beginn kurz voranzustellen: Aus der Perspektive einer politischen Soziologie sollte versucht werden, Genozid als eigenständiges soziales Phänomen zu verstehen und zu analysieren und weniger als Reflex auf Ökonomie und Technologie. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, Genozid von anderen Formen der Menschenvernichtung, wie zum Beispiel von Naturkatastrophen, willkürlichen Tötungen, Krieg und symbolischen oder kulturellen Gewaltakten, klar abzugrenzen. Das gemeinsame Merkmal von Genozid, die Verurteilung eines Opfers aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer Gruppe, einem Stamm, einer Rasse oder einer Religion, unterscheidet die Genozidhandlung von anderen sozialen Gewaltakten. Der Genozid widerspricht traditionellen westlichen Normen wie Vorstellungen von Gesetz und Moral, die die individuelle Verantwortung für Handlungen betonen und vor diesem Hintergrund spezifische Formen von Bestrafung für Überschreitungen vorsehen. In meinem früheren Werk Taking Lives: Genocide and State Power habe ich versucht, eine Typologie staatlicher Systeme zu entwickeln, die von freiheitlichen bis zu genozidalen Systemen reichte und in ihrer Bandbreite als wesentliche sozialpsychologische Charakteristika Fragen nach Schuld, Scham und Toleranz aufwarf.1 Für den vorliegenden Beitrag habe ich mir zur Aufgabe gestellt, eine Typologie repressiver staatlicher Systeme zu entwickeln, die das Töten von Leben zulassen, angefangen von sehr spezifischen Bedingungen, wie zum Beispiel der Todesstrafe, bis zum Töten in umfassendem Maße, wie im Fall des Genozids. Darüber hinaus gilt meine Anstrengung dem Nachweis, daß auch die für den Begriff des Genozids selbst festzumachenden tiefgreifenden Unterschiede in den Annäherungen an das Thema des staatlichen Terrors einer Untersuchung bedürfen. In der kalten, sogenannten wissenschaftlichen Analyse staatlich unterstützten Terrors oder der Massenvernichtung von Menschen gibt es nur wenige Faktoren, die so zwingend und zugleich so umstritten sind wie die nackten

94 Zahlen. Letztlich beruht ja auch die Beweisführung für das Vorliegen von Genozid auf der Zählung der Leichen der unzählbaren Opfer, deren Überreste die Tragödie beglaubigen, in die sie normalerweise unfreiwillig und oft ohne ihr Wissen verwickelt wurden. Die wissenschaftliche Untersuchung von Genozid ist eine Übung des Leichenzählens: hieraus folgende Einschätzungen sind auch als Fußnote zu meiner früheren Arbeit zu verstehen.2 In rein numerischen Aussagen läßt sich die Geschichte der Ursache des Mordens in diesem Jahrhundert wie folgt erzählen: Regierungen waren direkt verantwortlich für den Tod von ungefähr 120 Millionen Menschen, während Kriegshandlungen – sowohl zwischen Nationen als auch Bürgerkriege – für den Tod von 35 Millionen Menschen als Ursache festzuhalten sind. Mit anderen Worten, in diesem Jahrhundert, das heißt eigentlich in den letzten 45 Jahren, wurden dreieinhalbmal mehr Menschen von ihren eigenen Regierungen getötet als von feindlichen Staaten.3 Die weitere Aufschlüsselung zeigt, daß von den 120 Millionen, die von ihren eigenen Regierungen getötet wurden, über 95 Millionen in kommunistischen Staaten und weitere 20 Millionen in nicht-kommunistischen, autoritären Staaten gelebt hatten. Womit wir uns hier beschäftigen ist folglich nicht irgendein Nebenschauplatz dieses Jahrhunderts, sondern ein in der Häufigkeit zunehmendes Hauptereignis, und vielleicht auch das einzige Hauptereignis angesichts des wachsenden hohen Risikos konventioneller Kriegsführung in der derzeitigen postnuklearen Periode. Die Wichtigkeit des Leichenzählens ist dabei von den Tätern der systematischen Vernichtungshandlung mindestens ebenso erkannt worden wie von den Opfern, die moralische und historische Anerkennung suchen. So haben die verantwortlichen Regierungsautoritäten jedes größeren Genozids versucht, die Zahl der betroffenen Opfer anzufechten, um auf diese Weise ihre ungeheuerlichen Taten abzuschwächen. Während es auch grausig erscheinen mag, die qualitative Bedeutung von Genozid über quantitative Größen festzustellen, ist doch die Notwendigkeit offenkundig, diese Daten in ein sinnvolles theoretisches Gerüst einzubringen, welches dabei helfen soll, uns die grausamen Potentiale staatlich unterstützten Mordes bewußt zu machen. Im nachfolgenden möchte ich das gegenwärtige theoretische Interesse an staatlich unterstützter Verletzung von Menschenleben untersuchen und

95 aufzeigen, auf welche Weise bereits bekanntes Wissen über die Zahl der getöteten Menschen auch diese weitergehenden Überlegungen beeinflußen kann.4 Beschränken werde ich mich dabei auf die folgenden, hier paarweise zusammengestellten Konzepte: (1) naturverursachte Formen von Katastrophe im Unterschied zu sozial sanktionierten Tötungen; (2) systematische Vernichtung gegenüber „zufälligen“ oder „willkürlichen“ Tötungen; (3) Genozid im Unterschied zu Krieg; (4) staatlich sanktionierter Mord im Gegensatz zu außergesetzlichem Terror; und (5) tatsächlich nachweisbare Leichenzahlen im Unterschied zu symbolischen oder kulturellen Zwangsmaßnahmen. Im übrigen werde ich mich weder einem Manichäismus hingeben noch mich mit Gegenüberstellungen von Gut und Böse beschäftigen. Vielmehr wird es meine Aufgabe sein, signifikante Unterschiede herauszuarbeiten zwischen staatlichen Autoritätsformen, die von hellgrau bis pechschwarz reichen. Die angeführten fünf Konstrukte erschöpfen die Möglichkeiten zur Betrachtung von Genoziddaten in keinster Weise; doch eröffnen sie zusammengenommen allgemeine theoretische Leitlinien, die schon lange bestehende Probleme in der Entwicklung der Sozialforschung betreffen und diese letztlich auch zu lösen vermögen. Es mag dies als eine äußerst dürftige Antwort auf das von Millionen von Menschen getragene Unrecht erscheinen. Doch wenn es der Sozialforschung gelingt, eine Grundlage für Signale der Frühwarnung bereitzustellen oder einen Beitrag zu leisten, damit zukünftig Körperverletzung und Mord verhindert werden können, wird sie sich zuletzt doch wenigstens als ein wichtiger Ausgangspunkt erweisen können.5 Für den Versuch, die Untersuchung von Genozid als Teil des zentralen und nicht eines peripheren Forschungsinteresses in die politische Soziologie einzuordnen, verbleiben trotzdem ernstzunehmende Hindernisse. So können qualitative Probleme nicht einfach ignoriert werden. Wie unterscheidet man zum Beispiel zwischen staatlich unterstütztem Terror, quasiunterstütztem Terror durch private Armeen, wie im Fall der Ton Ton Macoutes auf Haiti, und anti-staatlichen Formen terroristischer Aktivitäten wie der Baader-Meinhoff-Gruppe in Deutschland, den Roten Brigaden in Italien und Japan und zahllosen anderen Gruppen und Individuen? Es operieren zur Zeit buchstäblich Tausende von Gruppen außerhalb des Gesetzes, und dies im Einklang mit moralischen Überzeugungen, die nichts we-

96 niger als die radikale Veränderung der Zivilisation zum Ziel haben sowie – im Falle eines Scheiterns – deren Zerstörung.6 Terrorismus scheint eine jedermann zugängliche und offensichtlich auch von jedermann angewandte Methode. Es gibt armenische Gruppen in Opposition zu türkischen Gruppen; antikommunistische Allianzen gegen radikal geführte Guerillas; afghanische Kollektive und jüdische Brigaden; prochinesische versus provietnamesische Splitterparteien innerhalb kommunistischer Gruppen; religiöse und säkulare Revolutionsgruppen innerhalb der Arabischen Welt. Im Unterschied zu den Bedingungen von Genozid wird im Terrorismus häufig eine seltsame Balance außerstaatlicher Kräfte wirksam; eine Balance, die „Endlösungen“ vorbeugt. Terrorismus wird zu einer Basisnorm, zu nichts Geringerem als zu einer spezifischen Form des politischen Kampfes, der sich militärischer Macht und außerhalb der Legalität stehender Mittel bedient. Hat man dies anerkannt, so wird die Pluralität der terroristischen Gruppen für die Sicherung einer recht seltsamen „Demokratie der rauchenden Colts“ stehen. Denn nicht zuletzt läßt ja dieser Pluralismus der Extreme den leichten Triumph einer einzelnen Gruppe unwahrscheinlich werden und es auch einem einzelnen Individuum unmöglich machen, einen Staat zu einer genozidalen Vernichtung zu mobilisieren. Damit unterscheidet sich die gegenwärtige Epoche, die Epoche nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, von früheren Perioden, in denen die Konzentration von Waffen wie gleichsam die Verschwörungen selbst in vergleichsweise wenigen Händen lagen.7 Terrorismus wird andererseits auch als Verteidigung des Bestehenden gerechtfertigt, das heißt als Terrorismus des Staates als solchem. Dieses Argument wird beispielsweise von Diplomaten der Türkei angeführt, die die Behauptung aufrechtzuerhalten suchen, daß es sich bei den Armeniern um gefährliche Sezessionisten handele. Als ein weiterer Vorbehalt gegen die rein numerische Betrachtung muß die fehlende Differenzierungsmöglichkeit thematisiert werden zwischen denen, die tatsächlich Opfer eines genozidalen Massakers wurden, und denen, die in der Folge kriegerischer Aktivitäten umkamen. Dies muß beispielsweise berücksichtigt werden in der Betrachtung der offiziellen nigerianischen Position in den Bürgerkriegen (mit Biafra) während der 60er Jahre oder des Krieges der ehemaligen Sowjetunion gegen Afghanistan in den 80er Jahren.

97 Das schlichte Bereitstellen rein quantitativer Daten löst keines der ausstehenden qualitativen Probleme. Dennoch werden über statistische Analysen von Genozid spezifische Antworten auf einige der schon lange bestehenden Fragen in der Unterscheidung von Demokratie und Diktatur möglich; Fragen, für die ein objektiver Indikator bereits lange erwartet worden war, um die Unterscheidung selbst als brauchbares heuristisches Instrument in die Forschung wie auch die Politik von Gemeinschaften einzubringen. Möglicherweise ist es vernünftig, über die speziellen Eigenschaften in gleicher Weise wie über die allgemeinen Charakteristika dieses neuesten Zugangs in die dunklen Bereiche der Gesellschaftswissenschaften nachzudenken. Anders zu verfahren wäre so, als ob wir uns den Luxus erlaubten, das Studium organisierten Mordens in Abstraktionen zu ertränken. Genozid wird über die Aussagen paarweiser Gegensätze oder wenigstens kontrastierender Nuancen sehr gut zu betrachten sein. Dies mag einer der besten Wege sein, die Schrecken des 20. Jahrhunderts in eine allgemeingültige Sprache der Sozialwissenschaften zu integrieren und auf diese Weise die Forschung über den Massenmord durch eine Staatsgewalt auch in die Bemühungen um ein Frühwarnsystem für derartig grausame Ereignisse einzubringen. Tatsächlich kann diese Suche nach antizipatorischen Erwiderungen auf Genozid das wichtigste Element im gegenwärtigen Stadium der Analysen sein.

Zur Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen Die erste und vielleicht allzu offensichtliche Feststellung, die sich für die Genozidforschung treffen läßt, ist ihre Differenz zur Epidemieforschung. Die Ausbreitung der Beulenpest oder der Schwarzen Pest im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts war nach jeglichem Ermessen katastrophisch. Man nimmt an, daß die Seuche zwischen 1346 und 1350 jenes Bevölkerungswachstum beendete, das die späte mittelalterliche Gesellschaft charakterisiert hatte. Während dieser über vier Jahre andauernden Periode hatte Europa um die 20 Millionen Menschen durch das „Große Sterben“ oder „Die Pestilenz“ verloren, die offensichtlich über Flohbisse übertragen und von Nagetieren in Europa und Asien verbreitet worden war.

98 Auch wenn die Ursachen der Seuche bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu unbekannt bleiben sollten, waren doch verschiedene pathologische Erklärungen vorgebracht worden. Diese waren um die Vermutung einer Bestrafung für Sünden und Überschreitungen konzentriert. Dabei hatten die natürlichen oder pathogenen Ursachen der Seuche eine fesselnde Wirkung auf die Bevölkerung ausüben können, insbesondere durch die verbreitete Ansicht, daß sich hier größere, mysteriöse Kräfte gegen die menschliche Rasse in ihrer Gesamtheit vereinigt hätten und diesen folglich mit einem abgestimmten Verhalten gleich welcher Art begegnet werden müsse. Reisende wurden unter Quarantäne gestellt, Fremde wurden verbannt und Schiffsreisende zu anderen Küsten geleitet. Doch hatte die natürliche oder übernatürliche Basis der Seuche keine Auseinandersetzungen zwischen Völkern hervorgerufen. Im Falle des Genozids – womit die Überlegungen noch einmal in der Gefahr stehen, etwas allzu Offensichtliches hervorzuheben – ist die Ursache des Massentodes als soziale Ursache festzuhalten, das heißt als Vernichtung von Menschen durch Menschen. Folglich stehen die gesellschaftsspaltenden Konsequenzen von Genozid in deutlichem Gegensatz zu dem vereinigenden Charakter der Beulenpest. In den Konzentrationslagern waren diejenigen, die sterben sollten, in diabolischer Weise denjenigen gegenübergestellt, die am Leben blieben. Genozid war selektiv und systematisch, nicht individuell und willkürlich. Die menschlichen Objekte, die zur Vernichtung erwählt wurden, waren, wie die Nationalsozialisten zu sagen pflegten, „anthropologisch“ aufgrund von Religion, Ethnizität und Rasse oder anderer zugeschriebener Merkmale zu dieser bestimmt. Damit liegt eine radikal andere und ausschließlich dem 20. Jahrhundert zugehörende Setzung vor, die in deutlichem Gegensatz zu den Seuchen steht, welche sich ja weniger als Ergebnis von Handlungen sondern vielmehr als Serie ungeplanter Katastrophen verwirklichten. Bevor ich diese Überlegungen zur Unterscheidung von natürlichen und sozialen Ursachen verlassen möchte, wird es nicht unwichtig sein, uns der Kontinuität von Leben zu versichern. Diese Rückbesinnung, so ausgezeichnet und ansprechend von der verstorbenen Loren Eiseley verdeutlicht,8 wird manchmal in einen mystischen, sich selbst widerlegenden Pantheismus degeneriert. Doch handelt es sich bei diesem Gedanken in seiner reinsten Form um ein Bewußtsein, daß alles Leben eine gemeinsame Basis

99 und einen gemeinsamen Ursprung habe und daher unseren Respekt verdient. Frühere Diskussionen über Stufen des Lebens und ihre Wertigkeit oder über die Frage, ob die menschliche Spezies die Vollendung anderer Formen von Leben sei, wie es Darwin glaubte, haben sich heute verändert. Die Entstehung der Soziobiologie ist in dieser Hinsicht sicherlich durchaus als ein wirkungsvolles Instrument einzuschätzen, den Menschen für seine Kontinuitäten mit der natürlichen Umwelt zu sensibilisieren. Der Gedanke der Kontinuität von Leben wird aber sicherlich nur als allgemeiner Vorbehalt in der Diskussion zu berücksichtigen sein. Diskontinuitäten zwischen dem Biologischen und dem Sozialen bleiben Grundlage für eine Unterscheidung zwischen naturbedingten Katastrophen und dem „artifiziellen“, das heißt vom Menschen gewollten Genozid.

Zur Unterscheidung des Holocaust von anderen Genoziden Eines der empfindlichsten und umstrittensten Probleme betrifft die Ansprüche auf den Holocaust-Status.9 Doch warum sollte dies überhaupt Thema einer analytischen Diskussion sein? Die Antwort ist möglicherweise darin zu suchen, daß auch innerhalb der Kategorie Genozid Stufen des Schreckens anerkannt werden müssen: Jede verfolgte Gruppe wünscht, letzte Ehre für sich selbst zu beanspruchen. Ein Blick auf die Situation Polens unter deutscher Besatzung mag ein wenig Licht auf die Unterscheidung zwischen Genozid und Holocaust werfen. Zwischen 1939 und 1945 wurden ungefähr drei Millionen nichtjüdischer Polen, etwa zehn Prozent der Bevölkerung, von den Nationalsozialisten ermordet. Während desselben Zeitraums wurden ebenfalls drei Millionen in Polen lebender Juden vernichtet, zwischen 90 und 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung Polens. Die Tatsache, daß beide Gruppen je drei Millionen Menschenleben verloren hatten, verbirgt den Aspekt, daß die Polen als Nation sowie 90 Prozent der polnischen Bevölkerung den Krieg überlebten. Die jüdische Gemeinschaft Polens hingegen war ausgelöscht. Und die kleine Anzahl der Juden, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, sollte den nachfolgenden Wellen der kommunistischen Verfolgung in Polen nicht entkommen können.

100 Vor allem Lucy Dawidowicz10 hat dieses einzeln stehende Beispiel, in dem der Holocaust und ein Genozid zur gleichen Zeit in einem Land stattfanden, kommentiert. Sie sprach die Problematik direkt an: wie schwer die Polen auch immer unter der deutschen Besatzung gelitten hatten, und sie hatten schwer gelitten, war ihre Situation dennoch nicht mit den jüdischen Gemeinschaften in Europa vergleichbar. Die Juden waren eine Minderheit von drei Millionen innerhalb Polens; die Polen waren die Mehrheit mit über 30 Millionen. Die Juden waren, bevor sie ermordet wurden, in Ghettos eingeschlossen und ihrer Bewegungsfreiheit beraubt worden; den Polen war ein Minimum an lokaler Selbstverwaltung und Mobilität innerhalb ihrer Wohnorte erlaubt gewesen. Die Juden wurden systematisch ausgehungert; die Polen waren unterernährt. Den Juden wurde jegliche medizinische Hilfe und Medikamente verweigert. Die Juden hatten keine militärische Ausrüstung; die im Untergrund operierende Polnische Heimatarmee hatte beträchtliche Materialreserven. Um es kurz zu fassen, das nationalsozialistische Deutschland hatte die Polen zu Unfreiheit und Sklaverei verurteilt, die Juden aber zur Vernichtung.11 Dies war keine Entscheidung vor dem Hintergrund einer neuen Technologie, sondern aufgrund ererbten Hasses gegen den Außenseiter, den Fremden, den Kosmopoliten, den mythologischen Zerstörer. Der nationalsozialistische Holocaust war von der entscheidenden Gegenwart rassistischen, vernichtenden Verhaltens geprägt, das sich spezifisch gegen die Juden richtete. Dieser Paria-Status war möglicherweise auch in einem so furchtbaren und umfassenden Genozid, wie dem, dem die Armenier zum Opfer fielen, nicht zu finden. Auch diese Überlegungen verweisen noch einmal auf die Notwendigkeit eines analytischen Ansatzes, der uns erlauben muß, alle Formen von Gewalt und Leid zu verurteilen, während gleichzeitig der Holocaust sorgfältig von Genozid unterschieden wird und umfassende Pogrome ebenso wie selektive Angriffe einer Mehrheit gegen eine Minderheit differenziert werden müssen von der kollektiven Vernichtung eines gesamten Volkes, also dem Genozid. Wir können keine hervortretenden Kontinuitäten nachzeichnen: Geschichte schreitet nicht in gerader Linie von Genozid zu Zivilität fort, von staatlich unterstütztem Mord zur Begrenzung staatlicher Macht durch seine Bürger. Statt dessen finden wir auch in den am höchsten entwickelten Nationen

101 Gegebenheiten vor, für deren Analyse eine Unterscheidung getroffen werden muß zwischen der kollektiven und totalen Ermordung einer Bevölkerung oder der selektiven und teilweisen Ermordung einer unterworfenen Bevölkerungsgruppe. So grausam diese Unterscheidung auch sein mag, das Versäumnis, sie zu treffen, hatte ebenso eine unverantwortbare Fehldarstellung des geschichtlichen Prozesses selbst zur Folge wie nicht weniger auch einen grundlegenden Fehler in der Analyse der sozialen Ursachen des Genozids. Zur Unterscheidung von Genozid und Krieg In zunehmendem Maße entwickelt sich ein Konsens darüber, daß sich – in kurzen Worten – Genozid zu Selbstmord verhält wie Krieg zu Mord: Genozid ist die Wunde, die der Staat selbst seinen eigenen Bürgern zufügt, Krieg hingegen die Verteidigung des Staates gegen äußere Angriffe, wobei er natürlich, wenn er offensiv gerührt wird, auch als Versuch zu sehen ist, äußere Feinde zu vernichten oder einen Vorteil durch ihre Niederlage zu erringen. Zugegeben, es gibt Bedingungen, unter welchen solch eindeutige Unterscheidungen nicht getroffen werden können, hier wäre zum Beispiel an die kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien oder Burundi zu erinnern. Doch bleibt die hier vorgestellte Unterscheidung aus operationalen Gesichtspunkten sinnvoll, auch wenn sie weder eine zentrale analytische Differenzierung vorstellt noch einen Beitrag leistet für juristische Entscheidungsprozesse innerhalb der postgenozidalen Bewertungen des zurückliegenden Fehlhandelns. Eine weitere Möglichkeit, den hier angesprochenen Themenaspekt zu diskutieren, besteht darin, Genozid als eine fortgeschrittene Form des Staatsterrorismus anzusehen, der in vorsätzlicher Weise von Eliten einer Gesellschaft angewandt wird, um Herrschaft über eine Zielgruppe derselben Gesellschaft, die als Bedrohung empfunden wird, zu bewahren oder auszuweiten. Gerade jene Staaten, die eine lange Geschichte innenpolitischer Repression aufweisen, tendierten in der Moderne nicht selten dazu, auch genozidale Formen zu entwickeln. Traditionen des zaristischen Rußland wurden in der Sowjetunion unter stalinistischer Herrschaft eher fort gesetzt und verfeinert als beendet; dasselbe kann, wenn auch in geringerem Maße, von den – in anderen gesellschaftlichen Bereichen durchaus tiefgreifenden

102 – Veränderungsprozessen des Osmanischen Reichs zur Türkischen Republik behauptet werden. Kriege werden von Nationen und Völkern gegen andere Nationen und Völker geführt. Demokratische und freiheitliche Staaten greifen in gleicher Weise zum Krieg als Instrument der Außenpolitik wie repressive oder totalitäre Staaten. Tatsächlich wurden während des gesamten 20. Jahrhunderts zwischen demokratischen und autoritären Staaten Kriege geführt. Und während es sich hier keineswegs um einfache Kämpfe von Gut und Böse handelte, muß in gleicher Weise berücksichtigt werden, daß Kriege in allen Formen sozialer Systeme vorgekommen sind. Genozid jedoch findet seine Anwendung in einem speziellen sozialen System, und zwar im totalitären. Bevölkerungskonflikte rufen bei Außenstehenden nicht selten moralische Ambiguitäten hervor. Häufig nehmen dabei Kämpfe, die räumlich auf eine einzige Nation begrenzt sind, solche Ausmaße an, daß Genozidvorwürfe wie auch Genozidansprüche erhoben werden. Hier kann auf den nigerianischen Bürgerkrieg verwiesen werden, der in der inneren Auseinandersetzung zwischen Hausa und Ibo auch Genozidmuster entwickelte. Es gibt Schätzungen, daß drei Millionen Menschen in diesen Auseinandersetzungen starben; für diese Toten werden nicht selten die Gleichgültigkeit der führenden Industrienationen und die Scheinheiligkeit der Vereinten Nationen verantwortlich gemacht.12 Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß sich hier ein Bürgerkrieg zu einem systematisch ausgeführten Versuch entwickelte, ein Volk zu vernichten. Der „Autogenozid“ unter der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, der sich im Namen einer nationalen Befreiung vollzog, kann möglicherweise einer ähnlichen Kategorie nationalen Schreckens zugeordnet werden. Kurz nach der Kapitulation Biafras im Jahre 1970 hatte ein bescheidenes Hilfsprogramm begonnen. Was sich den Helfern darbot, zeigte die äußersten Grenzen von Krieg und die Anfangsstadien eines Genozids: von den geschätzten 5,8 Millionen Ibo litten 970.000 unter Ödemen, Auszehrung oder Eiweißmangel. Annähernd ein Drittel der Kinder Biafras war von schwerer Unterernährung gezeichnet; für die schätzungsweise eine Million Ibo, die zum Teil auch aufgrund der von der nigerianischen Regierung während des Krieges verhängten Blockade humanitärer Hilfe gestorben waren, war es bereits zu spät. Die Situation zwischen den Völkern der Tussi und der Hut in Ruanda hat gegenwärtig das Stadium erreicht, in dem

103 man die Leichen zählt. Dabei ist jetzt bereits deutlich, daß dieses jüngere menschliche Blutbad dem des nigerianischen Bürgerkrieges gleichkommt oder es sogar übertrifft. In diesem besonderen Bürgerkrieg wird der Zusammenbruch auch der letzten Andeutung einer noch sicheren Zuflucht offensichtlich: denn die Kirchen, die während der Massaker der Vergangenheit dem Wahnsinn noch einen Moment des Innehaltens hatten abringen können, wurden hier zu zentrifugalen Kräften, durch welche die Morde gelenkt wurden – nicht selten mit der Hilfe von Priestern der kriegführenden Stämme. Wenn in weniger entwickelten Nationen Krieg ohne Regeln geführt wird, scheinen die Regeln der Kriegführung bei entwickelten Nationen durcheinander gebracht. Zeigen sich die sozialen und ökonomischen Entwicklungsstufen einer Nation auch in ihrem Umgang mit Konflikten? Wenn eine Gesellschaft gefestigte und eindeutige Regeln für kriegerische Auseinandersetzung besitzt, dann sind Differenzierungen zwischen dem Zivilen und dem Militärischen weitaus schärfer als in den Gegenden der Welt, in denen diese Standards für Konflikte nicht gelten.

Zur Unterscheidung staatlich unterstützten Mordens von allen anderen Formen staatlich getragener Gewalt und Menschenfeindlichkeit Die vielleicht problematischsten Kategorien, mit denen man in der wissenschaftlichen Analyse von Genozid konfrontiert ist, sind über Formen staatlich unterstützter Verfolgung zu bilden, die man nicht gänzlich als kollektiven Mord bezeichnen kann, die diesem aber dennoch nah sind. Ein Beispiel dafür sind Deportationen. Hier wären die jüngsten Erfahrungen der Kurden zu berücksichtigen, eines Volkes, das sowohl die Türkei und der Iran, als auch der Irak und Syrien zu assimilieren suchten – bisher ohne Erfolg. Während des vergangenen Jahrzehnts ist der Irak wohl am grausamsten vorgegangen: ungefähr 300.000 Kurden wurden gewaltsam aus den von ihnen besiedelten Gebirgsregionen deportiert und in die Wüsten im Süden des Landes umgesiedelt.13 Diese Politik der Arabisierung führte zur Aufteilung kurdischen Landbesitzes und schließlich zur restlosen Zerstörung kurdischer Dörfer.

104 Als der Versuch mißlang, die Kurden als Volk auseinanderzureißen, wurden rund 3.500 der 5.000 kurdischen Dörfer zerstört; dabei waren gegen die Menschen auch chemische Waffen eingesetzt worden. Schätzungsweise 100.000 Kurden wurden getötet, während 500.000 umgesiedelt worden waren. Die Gewalttaten gegen Kurden sind systematisch und brutal; sie umfassen neben dem Verlust vieler Menschenleben auch die gewaltsame Assimilation von Menschen innerhalb neuer Regionen und beinahe jeden Schrecken, den man sich nur vorstellen kann. Angesichts dieser überwältigenden Tragödie und der vorliegenden Beweise für Venichtungshandlungen ist es den Vereinten Nationen trotzdem nicht einmal gelungen, eine Resolution zur Illegitimität chemischer Kriegsführung zu verabschieden. Ohne ein moralisches Urteil darüber fällen zu wollen, wer mehr leidet, die Lebenden oder die Toten, bleibt dennoch die Tatsache bestehen, daß die Kurden als ein Volk überlebt haben. Es mag abscheulich und abstoßend erscheinen, wenn der Irak von einer „Amnestie“ für die Kurden spricht, doch zeigt das Eröffnen eines solchen Angebots das Fehlen eines Genozidprogrammes auf, das ein sich entwickelndes Volk in seiner Totalität vernichten will. In einer Arbeit über afrikanische Genozide wurde vor kurzem der Begriff eines „selektiven Genozids“ eingeführt, der speziell auf die Behandlung der Hutu durch die Tutsi in Burundi bezogen wurde.14 Im Jahre 1972, also lange vor den Vorfällen von 1992/93, waren nach einem Versuch, die Regierungsgewalt aus den Händen der Tutsi zu nehmen, schätzungsweise 100.000 Hutu in einer Vergeltungsaktion getötet worden. Als sich 1988 aus einer lokalen Auseinandersetzung zwischen den Tutsi und Hutu eines Dorfes ein weiterreichender Konflikt zu entwickeln drohte, war die burundische Armee einmarschiert und hatte jeden erkennbaren Hutu erschossen. Schätzungen über die Zahl der getöteten Hutu reichen von 5.000 bis zu 20.000 Opfer, dazu müssen 40.000 weitere Hutu gezählt werden, die ins benachbarte Ruanda geflohen waren; wiederum begleitet von dem ungeheuerlichen Schweigen der Weltorganisationen des Rechts und des Gesetzes. Die unvermeidliche Folgehandlung vollzog sich in den Jahren 1992/93: Offensivtruppen der Hutu, schätzungsweise 40.000 bis 50.000 Mann, sollten ungefähr fünf- bis zehnmal so viele Tutsi töten. Doch diese gegenseitigen Übergriffe von Hutu und Tutsi als Genozid zu bezeichnen, ist ebenso problematisch, wie den Begriff auf die Massaker an

105 den Kurden zu beziehen. Trotz der Brutalität und Grausamkeit haben Hutu und Tutsi als Volk überlebt; von dem jeweils herrschenden Regime wurde jeder systematische Versuch der Vernichtung des anderen Volkes in seiner Gesamtheit kategorisch verneint. In diesem Sinne wäre die Benutzung von Begriffen wie „selektiver Genozid“ oder „kultureller Genozid“ als emotionsgeleiteter Versuch anzusehen, die Aufmerksamkeit auf den speziellen Charakter dieses einen Massenmordes zu lenken, um darüber hinaus eine Sensibilisierung zu stärken für die Leiden vieler so häufig vernachlässigter Völker. Es mag erschreckend hart erscheinen, in chirurgischer Schärfe Unterscheidungen vorzunehmen zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen von Tod und Grausamkeit. Doch ist dies genau die Herausforderung, mit der sich die Sozialforschung in der Analyse von Genozid konfrontieren lassen muß. Jene sorgfältig verfolgten Differenzierungen suchen keine Definitionen für unterschiedliche Formen des Bösen, aber sie sollen abschätzen, welche Konsequenzen dieses Böse jeweils mit sich bringt. Wie bereits Goethe sagte, sind die Entscheidungen, die wir in der wirklichen Welt treffen, nicht Entscheidungen zwischen Gut und Böse, sondern allein zwischen unterschiedlichen Formen des Bösen. Das Studium dieser Formen jedoch zeigt, in welcher Weise sich der Tod, als letztgültige, äußerste Form der Gewalt, die weder eine Wiedergutmachung noch ein Ungeschehenmachen erlaubt, von allen anderen Formen der Opferwerdung unterscheidet; Formen, für welche – jedenfalls in der Theorie – ein Wiederanfang, wenn nicht sogar Vergeltung möglich ist. Über Konzepte wie diese, das heißt über die Klassifizierung von Genoziden wie ebenso über die Unterscheidung des Genozids von anderen Formen staatlicher Angriffe auf die menschliche Würde und den Frieden, wird es seriöse Meinungsverschiedenheiten und eine sicherlich andauernde Debatte geben. Möglicherweise aber kann gerade aus der Asche solcher Debatten und Diskussionen eine redliche Sozialwissenschaft entstehen, mit der Macht der quantitativen Analyse auf der einen Seite und der Kraft des moralischen Urteils auf der anderen. Dies ist jedenfalls das Versprechen der gegenwärtig in unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Kontexten verbreiteten Ansätze zu einer Genozidforschung.15 Der Gedanke, daß die Sozialwissenschaft Konzepte entwickelt, die das Messen von Toten vor dem Hintergrund der Formen von Vernichtung untersucht, ist natürlich

106 wenig tröstlich. Doch steht dieser nicht im Konflikt zur Verantwortung der Sozialwissenschaften, ihre Kräfte zusammenzuschließen, um einerseits die bedeutendsten der wertfreien Forschungstraditionen und andererseits wertende Ansätze zur Entwicklung von Handlungsmustern gegenüber Genozidpraktiken zu verbinden.

Zur Unterscheidung von tatsächlichem und symbolischen Genozid Für diejenigen, die über die Bedeutung von Holocaust und Genozid im allgemeinen in Kenntnis setzen wollen, ist es notwendig, zu vermeiden, daß dieses insgesamt tragische Thema dadurch herabgewürdigt wird, daß man auch Aspekte kultureller Unterdrückung einbezieht oder Formen der Bestrafung ausgewählter Individuen berücksichtigt, auch wenn sie symbolisch für eine gesamte Bevölkerungsgruppe stehen. Das Lynchen von Schwarzen nach dem amerikanischen Bürgerkrieg war furchtbar. Aber: während des schlimmsten Höhepunkts kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnten die Fälle in Hunderten pro Jahr gemessen werden. Der Großteil der schwarzen Bevölkerung wurde unterdrückt und diskriminiert, doch wurden die Schwarzen nicht unterschiedslos liquidiert. Hier ist ein entscheidender Unterschied zwischen den demokratischen Vereinigten Staaten und dem totalitären nationalsozialistischen Deutschland auszumachen. Desgleichen muß zwischen Kategorien wie Exil und Tod differenziert werden. Daß im vorigen Jahrzehnt schätzungsweise 125.000 Kubaner und vielleicht ein Drittel soviele Haitianer in Booten zu den amerikanischen Küsten flüchteten, waren tragische Episoden in der Geschichte Kubas und Haitis, doch hatten sie keine verheerenden Auswirkungen für das Überleben der Kubaner und Haitianer. Die nicht leichte moralische Unterscheidung zwischen Leiden und Tod ist wichtig, um unterschiedliche Konsequenzen der Verfolgung für die Zeit nach dem Exil erkennen zu können. So mag es auch in ähnlicher Weise zutreffend sein, daß die Koreaner während der japanischen Besatzung von 1910 bis 1945 als Sklaven benutzt und systematisch ihrer Kultur beraubt wurden. Aber auch dies war ein reversibler Prozeß und – letztlich – eine verfehlte Politik. Wir müssen daher in der

107 Betrachtung der weniger demokratischen Systeme ebenso deutliche Unterscheidungen treffen wie in der Betrachtung von Systemen politischer Herrschaft im allgemeinen. Die hier vorgestellten Überlegungen mögen emotional nur schwer zu akzeptieren sein, doch sind sie unter empirischen Gesichtspunkten um so bedeutsamer: tatsächliche Genozide verursachen reale Tote. Diese Toten können weder durch eine posthume Wiedereingliederung in die Gesellschaft noch durch Parteibeschlüsse oder kollektive Schuldeingeständnisse zurück zum Leben erweckt werden. Genozid ist ein Ereignis, das sowohl endgültig wie auch begrenzt ist. Der sogenannte symbolische oder kulturelle Genozid, sei er nun an den Iren, den Schwarzen oder den Koreanern begangen worden, ist hingegen „umkehrbar“. Im übrigen sucht ja auch die besondere Aufmerksamkeit, die das Thema Genozid selbst weckt, gegen Tendenzen der Verleugnung und der kulturellen Unterdrückung anzugehen. Festzuhalten ist, daß es sowohl gefährlich wäre als auch ein schlechter Dienst an dem Ernst des Themas, wenn man das spezifische Konzept Genozid in einem allgemeinen Diskurs über menschliches Fehlverhalten aufweichen würde. Dies würde die tragischen Verletzungen, die sich Menschen gegenseitig zufügen, in Kategorien von Epidemien und Dezimierung verwandeln. Kurz, die Moderne oder Modernität als solche zu verdammen, ist ebensowenig vernünftig, wie die Atomkraft als Ursache des Zweiten Weltkriegs anzuklagen. Der Welt, in der wir leben, mit Verachtung zu begegnen, bedeutet, Genozid zu trivialisieren und zu sentimentalisieren. Die meisten Formen von Ausbeutung und Dezimierung sind tragisch, aber auch begrenzt; es ist eine Frage der Zeit, wann moralische Korrekturen geleistet werden. Demgegenüber ist es gerade die Irreversibilität des staatlichen Mordes, die die einzigartige und ehrfurchtgebietende Dimension des Genozids ausmacht. Paradoxerweise gibt die Genozidforschung den Sozialwissenschaftlern ein Instrument für die Erforschung von Gesellschaften in ihrer Gesamtheit an die Hand, eines, das die Sozialwissenschaftler wieder in Verbindung mit allgemein gültigen Denkweisen bringt, nicht zu reden von den Menschen des Alltags, dem sie angeblich so oft dienen.

108 Zur Unterscheidung zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen Ein eindeutiges Schlüsselmerkmal von Genozid ist seine kollektive Natur. Diese bringt dann Probleme mit sich, wenn es darum geht, Verantwortungen zuzuordnen. Im Unterschied zur kriminellen Handlung und zur Bestrafung der Kriminellen sind im Genozid keine Individuen beteiligt, die aus ihrer eigenen Verantwortung heraus handeln und bestraft werden können. Denn Genozid trägt die Kraft des Gesetzes nicht weniger mit sich als die Macht des Staates. Den löblichen Bemühungen der Nürnberger Prozesse zum Trotz bleiben in der Frage nach dem Subjekt von Genozid Verwirrung und Ambiguitäten bestehen, da die Vernichtung von Menschen hier im Namen einer staatlichen Autorität und unter gesetzlicher Absicherung durchgeführt wird. Durch den offiziellen Charakter und die kollektive Natur von Genozid sind die Täter von jeglichem Gefühl eines Verstoßes oder einer Schuld befreit.16 Die Unrechtshandlung wird ausgeführt von unpersönlichen Kräften, von speziellen Milizen bis zu fachtechnischen Abteilungen. Die Unmöglichkeit der Identifizierung spezifischer Individuen, die die Verbrechen ausführen und für diese auch bestraft werden können, ist ein grundlegendes Charakteristikum des Genozid. Ein zusätzliches Problem ist das häufige Mißlingen, auch einzelne Opfer zu identifizieren – dies erklärt das Entkommen aus der Bestrafung wie aus der moralischen Verurteilung. In demokratischen Gesellschaften ist das Konzept der kollektiven Schuld kein Konzept, das leicht akzeptiert wird. Denn nicht zuletzt ist ja der Grundsatz individueller Bestrafung für spezielle Verbrechen das wahre Wesen liberaler Ordnungen. Die komplexen rechtlichen Fragen, die Genozid aufwirft, machen ferner deutlich, daß auch die Bestrafung von Kriegsverbrechern nicht mit der Beurteilung von Verantwortungen für einen Massenmord zu vergleichen ist. Die festzuhaltende Differenzierung zwischen Machthabenden einer Nation, der mittleren Ränge von Bürokraten, befehlsausführenden Technikern und der breiten, willfährigen Bevölkerung deutet auf die Notwendigkeit eines gesetzlichen Rahmens hin, der ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust noch immer aussteht. Die Untersuchung Raul Hilbergs über die Art und Weise, in der das deutsche Eisenbahnsystem für den Transport der Juden in den Tod verwandt wurde, ließ offenbar werden, daß sich der gesamte technische Apparat der

109 Eisenbahnarbeiter, der Büroangestellten und Zivilisten, die mit diesen Zügen fuhren, sehr wohl auch jener menschlichen Fracht bewußt gewesen sein mußten.17 Wie wird man all diejenigen bestrafen können, die in den Transport jener menschlichen, dem Tod geweihten Fracht verwickelt waren? Der umfassende Charakter dieser Operation läßt die Zahl der Schuldigen ebenso zu einem zentralen Anliegen der Analyse werden wie die Zahl der verursachten Opfer: einem Anliegen ohne einfaches Lösungsangebot. Die abendländische Rechtsprechung basiert auf dem Grundsatz individueller Bestrafung für spezielle Vergehen. Westliche Moralvorstellungen basieren in gleicher Weise auf individuell internalisierten Verhaltenscodes. Vielleicht mag meine Einschätzung zu stark vereinfachend sein, aber einer der interessantesten Aspekte der Genozidforschung (wenn man wagen darf, dies zu äußern) besteht in der Entdeckung, daß Menschen das Gesetz übertreten können und nicht nur der Bestrafung entkommen, sondern auch den Schuldgefühlen für das, was sie getan haben. Auf welche Weise sich das Verhältnis von individuellem Handeln und kollektivem Verhalten in der Planung ebenso wie in der Ausführung eines sanktionierten Mordes bestimmt, dies muß Mittelpunkt der sozialen und psychologischen Genozidforschung sein, wie sie sich in diesem Jahrhundert entwickelt hat. Mit dem Gedanken einer entscheidenden Übereinkunft menschlichen Verhaltens wurde ich unwillkürlich an Jane Goodalls Reflexionen über die historische Behandlung des Schimpansen erinnert; dieser Primat ist ja in genetischer Hinsicht dem Menschen ähnlicher als irgendein anderer im Königreich der Tiere. So schrieb sie in der Diskussion von Personen, die für die Benutzung von Schimpansen in Tierversuchen verantwortlich waren: „Sie sind Opfer eines Systems, das errichtet war, lange bevor die kognitiven Fähigkeiten und emotionalen Bedürfnisse der Schimpansen verstanden wurden. Neu eingestellte Mitarbeiter, die mit einem normalen Maß an Mitgefühl ausgestattet sind, werden leicht krank von dem, was sie sehen. Tatsächlich kündigen viele ihre Jobs, unfähig, das Leiden zu ertragen, das den Tieren zugefügt wird, sich machtlos fühlend, Hilfe zu leisten. Doch andere bleiben, während sie die Grausamkeit schrittweise in dem Glauben akzeptieren, daß es sich hier um einen unvermeidlichen Teil des Kampfes zur Reduzierung menschlichen Leidens han18 dele.“

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In ähnlicher Weise können Genozidhandlungen in dem Glauben ausgeführt werden, daß mit diesen Taten Staatsgegner beseitigt und die Gesellschaft „gereinigt“ würde. Ähnlich dem Leben selbst ist auch das Geschäft des Tötens ein Kontinuum. Die Täter sehen sich selbst nicht als Handelnde für ein personalisiertes Böses, sondern als Handelnde für das kollektiv Gute. Dies ist die letzte Lehre der über die jüdischen Opfer forschenden Ärzte im Nationalsozialismus. Auch wenn persönliche Zweifel aufkamen, wurden diese schnell durch den Glauben rationalisiert, daß sich ihre Handlungen für die Lebenden nützlich erweisen werde. Um das Band der Beziehung zwischen allen lebenden Wesen zu begreifen, müssen wir keineswegs in eine Debatte über Vivisektion eintreten. Ebensowenig ist es notwendig, die Schrecken der Moderne zu diskutieren, um die Verbindung zwischen dem Schenken und dem Nehmen von Leben zu verstehen. Die Unverhältnismäßigkeit von Mitteln und Zielen, jene zugunsten scheinbar edler Ziele einer anscheinend guten Gesellschaft verwirklichte Grausamkeit, der zur Anwendung gebrachten Folter, der Körperverletzung und des Mordes, dies ist die zentrale Wurzel des willkürlichen Tötens menschlichen Lebens. Die Mittel wie Wege sind vielgestaltig, einige von ihnen wurden hier auch besprochen. Doch bin ich fest davon überzeugt, daß die Ursachen wie die Ziele dieser spezifischen Gewalt singulär sind. Wenn dies tatsächlich so sein sollte, dann könnten wir uns einem sehr grundsätzlichen Verstehen menschlichen Verhaltens angenähert haben, welches Ziel der Sozialforschung seit ihren Anfängen war. Daß wir ein Jahrhundert der Genozide erleiden mußten, um diese Quelle einer integrierenden, allgemeinen Theorie festzumachen, ist ein tragischer und zugegeben schrecklicher Preis für ein Wissen.19 Möglicherweise aber ist dies die Lehre des sozialen Lebens selbst: der Kampf um Wissen vollzieht sich im Zentrum der Gewalttaten. Der Kampf um die Bewahrung und die Ausgestaltung von Leben lehrt uns, daß das Gute nicht immer das Angenehme ist. Die Genozidforschung wäre schmerzliche Bestätigung eines solchen Axioms. Aus der Asche der Verzweiflung mag die Hoffnung auf eine bessere Sozialwissenschaft entstehen und vielleicht auch auf eine bessere Gesellschaft.

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Anmerkungen 1

Horowitz, Irving Louis: Taking Lives: Genocide and State Power, New Brunswick u. a., 3. Aufl., 1980. 2 Ebd. 3 Rummel, R. .J.: „Deadlier than war“, in: Institute of Public Affairs Review 41,2, 1985, S. 24-30; ders.: Death by Government, New Brunswick u. a. 1994. 4 Obwohl es einen umfangreichen Bestand an Schriften zum Holocaust und zu Genozid generell in den Sozialwissenschaft gibt, ist vergleichsweise wenig zu der Frage geschrieben worden, wie sich die Struktur sozialwissenschaftlichen Vorgehens als Ergebnis solch fundamentaler Prozesse, wie sie genozidale Systeme in den technologischen Strukturen industrieller Gesellschaften verursachen, verändert. Eine solche Annäherung ist bei Zygmunt Bauman zu finden: „Sociology after the Holocaust“, in: British Journal of Sociology 39, 4, 1988, S. 469-97. 5 Lifton, Robert J.: The Nazi doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide, New York 1986, dt.: Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988. Zu einem weit detaillierteren und umfassenderen Ansatz siehe Burleigh, Michael: Death and Deliverance: “Euthanasia“ in Germany, 1900-1945, New York u. a. 1995. 6 Maculas, Edward F./Saddler, Toad/Murdock, Jean M.: International Terrorism in the 1980s: A Chronology of Events, Bd. 1: 1980-1983, Ames 1989. 7 Horowitz, Irving Louis: „The texture of terrorism: socialization, routinization and integration“, in: Political Learning in Adulthood: Sourcebook of Theory and Research, hrsg. von Roberta Sigal, Chicago 1989, S. 286-314. 8 „Silent bones and fallen kingdoms”, in: The Lost Notebooks of Loren Eiseley, hrsg. Von Kenneth Heuer, Boston 1987, S. 20-23. 9 Eine politische Variante der modernistischen Hypothese zum Holocaust besagt, daß er „ein fester Bestandteil einer synkretistischen Ideologie war, die die Grundsätze von Konservatismus, Reaktion und Faschismus verband“. Während diese Sicht, die vielleicht am deutlichsten ausgearbeitet vorliegt bei Arno Mayer in: Why Did the Heavens not Darken: “The Final Solution“ in History, New York 1988 (siehe im besonderen S. 449), dem ersten Anschein nach sehr attraktiv ist, tendiert sie dazu, die spezifische Rolle der Juden in der Geschichte, lange bevor es eine Endlösung gab, undeutlich werden zu lassen. Die Verwirklichung von Antisemitismus und Rassismus durch kommunistische nicht weniger als durch faschistische Regimes und schließlich die Existenz von faschistischen Regimes, die sich nicht an der Endlösung beteiligten, diese Aspekte werden in meiner oben angeführten Arbeit (Anm. 1) behandelt. 10 Dawidowicz, Lucy S.: The War against the Jews: 1933-1945, New York 1975, S. 150-166. 11 Zarecka, Iwona Irwin: Neutralizing Memory: The Jew in Contemporary Poland, New Brunswick u. a. 1988; Hass, Aaron: The Aftermath: Living with the Holocaust, New York u. a. 1995.

112 12

Jacobs, Dan: The Brutality of Nations, New York 1987. Seedopour, Vera B.: „Iraq attacks to destroy the Kurds“, in: The Institute for the Study of Genocide, Newsletter 1, 2, 1988, S. 2-11. 14 Lemarchand, Rene: Selective Genocide in Burundi, London 1974. Als jüngeren und nicht weniger prägnanten Standpunkt siehe Destexhe, Alain: „The Third Genocide“, in: Foreign Policy 97, 4, 1994-1995, S. 3-17. 15 Harff, Barbara/Gurr, Ted Robert: „Genocides and politicides since 1945: Evidence and anticipation“, in: Internet on the Holocaust and Genocide. Sonderausgabe 13, 1987. 16 Gurr, Ted Robert: „Persisting patterns of repression and rebellion: foundations for a general theory of political coercion“, in: Persistent Patterns and Emergent Structures in a Waning Century, hrsg. von Margaret P. Karns, New York 1988, S. 149-68. 17 Hilberg, Raul: „German railroads/Jewish souls“, in: Society 14,2, 1976, S. 60-74. 18 Goodall, Jane: „A plea for chimps“, in: The New York Times Magazine vom 17. Mai 1987, S. 108-120; siehe auch ihre Arbeit: The Chimpanzees of Gombe, Cambridge/Mass. 1986. 19 Bauman, Zygmunt: Modernity and the Holocaust, London u.a. 1990; und als eine Zusammenfassung der Argumentation seines Buches siehe: „Assimilation and Enlightenment“, in: Society 27, 6,1990, S. 71-81. 13

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Demozid der befohlene Tod: Massenmorde im 20. Jahrhundert

Koryphäen wie Kritiker der Sozialwissenschaften haben sich oft und nicht zu Unrecht darüber beklagt, daß diese im Gegensatz zu den Naturwissenschaften so unbeweglich seien. Ich nehme an, damit ist gemeint, daß es ihnen an Universalität mangelt, welche es einem Beobachter an einem Ort der Welt erlauben würde, die Parameter der Forschung und Resultate ohne weiteres irgendwo auf der anderen Seite der Erde zu identifizieren. Wenn tatsächlich eine solche Beschränktheit des Denkens in der Natur der Sozialwissenschaften virulent ist, muß allerdings der Begriff von Wissenschaft als sozial selbst in Frage gestellt werden. Es gibt indes von dieser Klage eine große und löbliche Ausnahme (ich sollte diese Aussage dahingehend spezifizieren, daß es durchaus noch ein paar andere geben mag, wie z. B. die Arbeit, die auf dem Gebiet der Experimentalpsychologie geleistet wird) in der Domäne der makroanalytischen Untersuchungen ganzer Gesellschaften: die Studien über Leben und Tod und, damit verbunden, die Formen von Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen. Denn durch das Ausloten des Potentials, Menschenleben zu fordern, stoßen wir auf eine universelle, völkerverbindende Eigenart von Staaten, Gesellschaften und menschlichen Gemeinschaften. In dem kleinen Universum von Forschern, die sich auf die Untersuchung der willkürlichen Vernichtung menschlichen Lebens spezialisiert haben, scheinen sich nationale Grenzen und sprachliche Barrieren zwischen den Sozialwissenschaftlern auf geradezu magische Weise in Luft aufzulösen. Als da wären: der Sozialhistoriker Alex P. Schmid aus den Niederlanden und seine Arbeit über die Politik von Schmerz und Strafe („pain and punishment“), der berühmte Psychologe Herbert C. Kelman aus den Vereinigten Staaten und seine Arbeiten über Verbrechen durch Gehorsam und Autorität, Mika Haritos-Fatouros, ebenfalls Psychologe, der in Griechenland über die Psychologie der Folter arbeitet, Israel W. Charny, der in Israel zur Vergleichbarkeit von Völkermorden mit besonderem Schwerpunkt

114 auf dem Holocaust an Juden und Armeniern arbeitet und zu diesem Zweck aus der ganzen Welt Untersuchungen zusammenträgt. Ein kleines Universum, wie gesagt, in dem Informationen ausgetauscht werden über die schrecklichen Aspekte des anderen, großen Universums. Die genannten Namen sind beispielhaft zu verstehen; eine erschöpfende Aufzählung ist dies gewiß nicht. Man könnte Wissenschaftler gleichen Ranges ebensogut in Kanada, Japan, England, Frankreich und Deutschland finden, Gelehrte, die nicht minder engagiert zu ähnlichen und verwandten Themen arbeiten. Worauf es ankommt, sind nicht die disziplinären oder nationalen Grenzen, sondern daß der Mensch als lebendes Wesen im Mittelpunkt steht – das Auslöschen von Leben, das Verstümmeln von Leben, das Verunstalten von Leben –, nicht im Rahmen einer morbiden Betätigung, sondern eines Mechanismus, durch den die Sozialwissenschaft sich den reinen und angewandten Gebieten von Wissenschaft und Medizin anschließen kann, um zu heilen und zu reparieren und danach einfach wieder allein zu lassen. Denn diejenigen, die auf diesem Gebiet arbeiten, verbindet die gemeinsame Erkenntnis, daß Leben und Tod für die Sozialforschung die entscheidenden Kriterien und daß die Verlängerung des Lebens und das Hinauszögern des Todes die gemeinsame Basis sind nicht nur für Menschen, die guten Willens sind, sondern auch für Forscher, denen es um gute Forschung geht. In diesem Universum der Spezialisten, in dem die dunkle Seite des zwanzigsten Jahrhunderts tiefgreifend und mit einer Schmerzlichkeit erforscht wird, für die sich oft keine Worte mehr finden, die aber niemals den Zahlen entkommt, ragt niemand mehr heraus als R. J. Rummel, Politikwissenschaftler an der Universität von Hawaii. Er hat das Studium des Völkermordes um ein Quantum an Daten und Zahlen bereichert, das in jeder Hinsicht und im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend ist, sowie ferner um die qualitative Bedeutung dieser vielen Daten im Rahmen der Forschungsarbeit zur vergleichenden Bewertung von Zivilisationen. Die besondere Leistung dieses Buches, die es von allen anderen abhebt, besteht in dem begrifflichen Raster, das Rummel liefert, um zukünftige Untersuchungen zu vereinfachen. Er hat, auf Fakten basierend, eine präzise Unterscheidung zwischen Rechts- und Unrechtsstaaten, zwischen Genozid

115 und Demozid sowie zwischen demokratischen und autoritären Systemen vorgenommen – alles fest verankert auf der Grundlage von Zahlen. Gerade auf Zahlen kommt es nämlich an. Alle Gesellschaften sind von Natur aus unvollkommene Gebilde. Aber diejenigen unter ihnen, die die Unantastbarkeit der Person als höchstes Gut erachten, unterscheiden sich in ihrer Natur und Essenz von denen, die sich mit letzter Autorität berufen fühlen, Gehorsam und sonst die Bestrafung der Gesetzesübertreter zu erwirken. Die Art der Daten, die Rummel bereitgestellt, und der Unterscheidungen, die er vorgenommen hat, bildet gleichsam den Treibstoff, der das leichte Vorwärtskommen verschiedenster Typen von Sozialforschern, die sich alle mit dem Problem Leben und Tod befassen, erst ermöglicht. Tatsächlich kann niemand weiterhin auf dem Gebiet arbeiten, ohne sich auf diese enorme, ja beispiellose Leistung zu beziehen. Kurz vor der Veröffentlichung der Originalausgabe von Demozid – Der befohlene Tod schrieb ich an Professor Rummel, um ihm meine Anerkennung für seine Leistung auszudrücken, und merkte an, daß weitere Auflagen meiner eigenen Arbeiten auf diesem Gebiet aus den 70er Jahren, zusammengefaßt in Taking Lives, unnötig seien – hauptsächlich, dank seiner außergewöhnlichen Leistung. Es dürfte wohl ein ebenso seltenes wie erhebendes Gefühl sein, mit den Worten Webers zu verkünden: „Was ich nicht schaffe, das werden andere vollbringen!“ und dann zu sehen, wie selbiges noch zu Lebzeiten wahr wird. Tatsächlich war es der Geist von Rummels Arbeit, der es mir in meiner jüngsten Arbeit, „Counting Bodies“, einem Essay, gestattete, sowohl die Ursprünge des Nationalsozialismus als auch die Quelle jüdischen Überlebens besser zu verstehen. Rummels Arbeit spricht für sich. Aber ich möchte auf einen entscheidenden Punkt aufmerksam machen, der besonders heraussticht: Die Art und Weise, wie wir die Greuel einschätzen, die kommunistische Regimes an ganz einfachen Menschen verübt haben, muß überdacht werden. Die Zahlen hier sind so grotesk hoch, daß wir praktisch gezwungen sind, unseren Sinn und unsere Empfindlichkeiten im Hinblick auf vergleichende Studien zum Totalitarismus in seinen Formen und Ausprägungen zu hinterfragen, damit wir zur Kenntnis nehmen können, daß von den beiden herausragenden Schreckenssystemen dieses Jahrhunderts die kommunistischen Regimes die faschistischen in ihrem Hang zum Morden meßbar übertreffen. Denn inmitten des gebündelten Datenmaterials über die totalitären Todes-

116 mühlen ruht einerseits die schreckliche Einsicht, daß Kommunismus nicht „links“ ist und Faschismus nicht „rechts“ – beide sind nacktes Grauen –, und zum andern, daß ersterer dank eines unheimlichen zerstörerischen Potentials in der Vernichtung von Menschenleben, von Bürgern des eigenen Staates, gegenüber letzterem einen unrühmlichen „Vorsprung“ hält. Man könnte ins Feld führen, daß die Faschisten mehr Gespür für Vernichtungstechnologie hatten, doch dafür haben die Kommunisten die naturbedingten Nöte der menschlichen Existenz besser genutzt, um die individuellen Überlebensmöglichkeiten zu sabotieren. Und so bleiben die Nazis die schlimmsten Verbrecher für all jene, die die Technologie des Todes in den Mittelpunkt stellen, während diejenigen, für die ein ausgefeiltes Gefängnissystem entscheidend ist, wie es für allezeit mit Solschenizyns Gulag assoziiert bleiben wird, die Kommunisten als schlimmste Übeltäter ansehen werden. Doch drängt uns Rummel weise ab von diesem Kurs, auf dem ein doch sehr fragwürdiger Sieger gekürt wird, auf einen anderen, der unser Verständnis für die Verbindungen wachruft, die zwischen totalitären Systemen und dem mörderischen Eifer um wertloser Ziele willen bestehen. Professor Rummel spricht selten von Moral und Tugend. Sein Anliegen läßt sich nicht festmachen an dem „normativen“ Interesse hinsichtlich Gleichheit und Freiheit oder den ungleichen Rängen der Menschen in einer Gesellschaft. Er bespricht nicht die Unvollkommenheit von Demokratien oder die Schwächen des westlichen Liberalismus. Dafür sagt er implizit, daß Gesellschaften, in denen Debatte und Diskussion nicht zu Tod und Dezimierung führen, sich schon zu schützen wissen werden. So gesehen, stellt seine Trilogie, bestehend aus den Werken Lethal Politics, Democide und Death by Government (Demozid – Der befohlene Tod), im weiteren Sinne eine Untersuchung zu den Formen der Demokratie, der Mittel und Wege dar, wie Systeme sich erhalten, ohne Opposition zu zerschlagen. Dieser Aspekt wurde in China’s Bloody Century, mit dem sich Rummel einem Spezialthema widmete, besonders deutlich. Vielleicht werden positive Begriffe wie Freiheit und Demokratie immer schwammig und schwer definierbar bleiben. Aber es ist auch möglich, daß wir die positiven Seiten gesellschaftlicher Systeme besser orten, sobald wir uns auf Daten stützen, die es uns ermöglichen, ein Gespür zu entwickeln, welche Gesellschaften wahrhaft als moralisch bezeichnet werden können. Nicht alle Fragen werden geklärt: Uns wird nicht gesagt, ob zentralisierte

117 oder dezentralisierte Gesellschaften die besseren sind, ob Impulse für diese oder jene Gesellschaftsform von externen Machtfaktoren oder von inneren Autoritätsströmen ausgehen, ob eine Demokratie besser in kleinen oder in großen Staaten funktioniert oder ob rechtliche oder ethische Diversifikation der Herrschaft besser ist. Doch all diese Überlegungen sind zwar wichtig, aber zumindest insofern zweitrangig, als sie eine Umgebung voraussetzen, in der das Töten eingestellt ist und ein positives Verhältnis zum Leben weitgehend zur Norm geworden ist. Wir stehen alle ein wenig höher, wenn wir uns auf das Podest von Rummels Arbeit begeben. Er hat es geschafft, den höchsten Zielen gerecht zu werden, die die Begründer der Sozialwissenschaft sich gesetzt haben, und trotzdem den neuesten Techniken der formalen Analyse treu zu bleiben. Es ist ein Vergnügen, als Kollege in den ertragreichen Gefilden der Sozialforschung diese Worte zu Papier zu bringen. Nicht minder ist es ein Privileg, hinzufügen zu dürfen, daß ich in meiner Eigenschaft als Präsident von Transaction das besondere Vorrecht genossen habe, nahezu alle bedeutenden Werke von Professor Rummel zu verlegen. Allein seine Arbeiten herauszubringen wäre für einen sozialwissenschaftlichen Verlag wie Transaction Existenzberechtigung genug. Ich kann mir kaum eine bessere Möglichkeit vorstellen, diesen herausragenden Wissenschaftler zu würdigen – ihn und seine Forschung zum menschlichen Zusammenleben.

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Wissenschaftliche Gemeinschaft und politisches System: Beziehungskonflikte zwischen Sozialwissenschaftlern und politischen Praktikern

[...] Wir beginnen [...] mit der Frage, welche Vorstellungen Akademiker von Politikern und umgekehrt Politiker von Akademikern haben. Das Problem besteht darin, festzustellen, ob die bei Interaktionen zwischen Wissenschaftlern und Politikern wirksamen Orientierungsmuster sich wechselseitig ergänzen oder ob sie unvereinbar sind. Die Untersuchung kann nur befriedigen, wenn wir uns auf Problemfelder konzentrieren, die für beide Gruppen von zentraler Bedeutung sind. Zunächst untersuchen wir, wie die Sozialwissenschaftler ihre Interaktionen mit politischen Praktikern beurteilen; in einem zweiten Schritt stellen wir die dabei von den Praktikern wahrgenommenen Probleme dar. Abgesehen von der Interaktion selbst gibt es noch den recht undurchsichtigen Bereich von Auswirkungen und Empfehlungen, wie er sich unmittelbar aus den Beziehungen ergibt und auf sie zurückwirkt. Sozialwissenschaftler und Politiker interagieren nicht nur miteinander, sondern beeinflussen durch die berufsständischen Ideologien, die sie ausbilden, und die Normen, die sie aufstellen auch gegenwärtige und zukünftige Interaktionen. [...]

120 Probleme aus der Sicht der Wissenschaftler Geld Sozialwissenschaftler machen ihre ersten und vielleicht unmittelbarsten Erfahrungen mit Politikern und anderen Verhandlungspartnern bei den verschiedenen für die Mittelzuweisung zuständigen Regierungsstellen. Zunächst sollte ein wichtiger Unterschied, der zwischen Auftragsforschung (contracts) und geförderter Forschung (grants) geklärt werden. Im Rahmen einer operationalen Definition können wir als Auftragsforschung diejenigen Vorhaben bezeichnen, zu denen sich die Sozialwissenschaftler auf Initiative aus der Regierungsbürokratie hin verpflichten. Forschungen über Thailand, Südostasien oder die Pax Americana sind meistens Auftragsforschungen. Bei geförderter Forschung geht dagegen die Initiative von den Sozialwissenschaftlern selbst aus. Gleichwohl sollte man nicht zu streng zwischen Auftragsforschung und geförderter Forschung unterscheiden, denn tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich, erfolgt auch der Anstoß zur Auftragsforschung häufig von Sozialwissenschaftlern. Ein Forschungsauftrag kann sehr weit gefaßt sein, um dem Forscher einen großen Spielraum einzuräumen, er kann auch sehr eng begrenzt sein, damit ein Vorhaben den „Bedürfnissen“ einer Regierungsstelle entspricht. Die unternehmerische Einstellung von Sozialwissenschaftlern, speziell derjeniger, die in nicht-akademischen Forschungseinrichtungen arbeiten, macht sie enorm erfinderisch, wenn es darum geht, herauszufinden, wofür Regierungsstellen zu zahlen bereit sind. Die Unterscheidung zwischen Auftragsforschung und geförderter Forschung ist also zwar de jure nützlich, hat aber de facto nur beschränkten Wert, weil man nicht genau weiß, von welcher Seite ein Vorschlag stammt, und wer wirklich bestimmt, wie das endgültige Projekt aussieht. Wichtiger als die formale Unterscheidung zwischen Auftrags- und geförderter Forschung ist vielleicht, in wie ungleichem Maße verschiedene Regierungsstellen Mittel für sozialwissenschaftliche Zwecke bereitstellen. Im Jahre 1967 gab das Department of Defense (Verteidigungsministerium) 21,7% seiner Forschungsmittel für sozialwissenschaftliche Untersuchungen aus, das Department of State (Außenministerium) dagegen nur 1,6% – und davon das meiste für die eigenständige Agency for International Development. Dieser Unterschied zeigt, daß das „moderne“ DOD sehr viel eher

121 bereit ist, von sozialwissenschaftlichen Ergebnissen Gebrauch zu machen, als das „traditionell orientierte“ Department of State. Damit zusammen hängt die Klage, daß die meisten Forschungsaufträge, im Gegensatz zur Forschungsförderung von Institutionen wie dem U.S. Department of Health, Education and Welfare (HEW) (Ministerium f. Gesundheit, Erziehung und Soziales) oder dem National Institute of Health (NIH) (Nationales Gesundheitsamt), nur sehr wenig Geld für die eigentliche Forschung zur Verfügung stellen. Die Mittel werden so gezielt eingesetzt und so sorgfältig verwaltet, daß, mit Ausnahme der Gelder, die eher vom Verwaltungspersonal als von Wissenschaftlern kontrolliert werden, kaum ein Spielraum für Untersuchungen bleibt, die zwar mit dem speziellen Forschungsauftrag zusammenhängen, aber nicht direkt mit den vorgegebenen Zielen verbunden sind. Dies ist bei Aufträgen an Physiker und sogar an Psychiater ganz anders, die häufig einen Teil der Forschungsmittel für innovative Zwecke abzweigen können. Selbst solche „halbstaatlichen“ Organisationen wie IDA (Institute of Defense Analysis), SDC (System Development Corporation) oder RAND (Rand Corporation) haben bei der Ausarbeitung ihrer Programme einen größeren Spielraum als der normale „freie“ Universitätsforscher. An der finanziellen Belohnung naturwissenschaftlicher Forschung und von Forschung, die sich gut umsetzen läßt, zeigt sich die Problematik der Unterstützung sozialwissenschaftlicher Forschung insgesamt. Sozialwissenschaftler behaupten oft, daß der Einsatz der Mittel für die Forschungsförderung irrational sei. Die Regierung stelle enorme Summen für die Großforschung zur Verfügung, dabei bleibe nur wenig für die wissenschaftlichen Anstrengungen Einzelner. [...] Man nimmt an, daß bedeutende Ideen nur mit Hilfe großer Ausgaben entwickelt werden können. Dies ist ein logischer Fehlschluß oder sogar ein schlichter Irrtum. Die Förderung von Großprojekten wird auch bevorzugt, weil sie die Opposition innerhalb der Regierungsbürokratie verringert und spezifische Verantwortlichkeit für fehlgeschlagene Forschungsvorhaben ausschließt. Gleichzeitig trägt diese Einstellung aber zur misslichen Lage dessen bei, der bescheiden über Einzelfragen forscht, die noch viel eingeschränkter sein können, als es der Projektantrag deutlich macht. Die gegenwärtige Förderungspraxis begünstigt diejenigen Wissenschaftler, die, um Forschungsmittel zu erhalten, ihre Projekte falsch darstellen. Ein sol-

122 ches Verfahren entspricht häufig nicht dem Ethos des einzelnen Forschers und verteuert die Produktion von Ideen und Plänen. Obgleich einzelne Förderungsstellen, besonders die National Science Foundation, Anstrengungen gegen diesen bürokratischen Trend unternommen haben, wird die Masse der Forschungsförderung immer noch weitgehend ohne Beachtung der tatsächlich in der Forschung tätigen Personen betrieben.

Geheimhaltung Die sozialwissenschaftliche Kritik an staatlichen Geheimhaltungsvorschriften hat zugenommen. Von ihrer professionellen Orientierung her sind Sozialwissenschaftler eher auf Publizität als auf Geheimhaltung eingestellt. Das begünstigt intensive .Konflikte zwischen Politikern und akademischen Sozialwissenschaftlern, denn beide stehen von daher unter klar entgegengesetzten Karrierebedingungen. Die Frage der Geheimhaltung ist sehr eng mit politischen Erwägungen verbunden, denn Politiker folgen (insbesondere im Bereich der Außenpolitik) der festen Regel, ihre Politik nicht gänzlich offenzulegen. Keine international aktive Regierung glaubt ihre Handlungen vollständig der öffentlichen Kritik aussetzen zu können; daher unterliegt anwendungsbezogene Forschung im Zusammenhang mit politischen Überlegungen gewöhnlich den in der Regierung üblichen Geheimhaltungsregeln. Während Sozialwissenschaftler besonderen Wert darauf legen, ihre Informationen zu veröffentlichen, teilweise weil dies ihrem beruflichen Fortkommen dient, teilweise aber auch ihres sozialen Selbstverständnisses wegen, besteht der Fetisch politischer Akteure darin, private Dokumente und Informationsvorsprünge zu schützen. Deshalb legen Politiker nicht nur auf die Beschaffung wichtiger Informationen größten Wert, sondern auch auf ihr Verschweigen. Aus diesen Verschiedenheiten in den jeweiligen Karrieremustern und Belohnungssystemen ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Einstellungen und Meinungen zwischen Wissenschaftlern und politischen Praktikern. Je entscheidungsrelevanter Informationen sind, um so ausgeprägter ist diese Tendenz.

123 Sozialwissenschaftler beklagen, daß die Geheimhaltungsvorschriften sie häufig dazu zwängen, wesentliche Voraussetzungen ihrer Arbeit aufzugeben. Erheblich bestärkt wird die – wenn auch widerwillige – Hinnahme der Geheimhaltungsvorschriften seitens der Sozialwissenschaftler durch den Umstand, daß ein Großteil der von der Regierung für Forschung ausgegebenen Mittel militärischen oder halbmilitärischen Zwecken dient. Eine Erhebung des U.S. Senats hat ergeben, daß annähernd 50 % der von der Regierung für Sozialforschung ausgegebenen Mittel mit irgendeiner Art von Zensur verbunden sind. Erstaunlich ist weniger das Bestehen von Restriktionen für die Verwendung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse, als vielmehr der Umstand, daß diese Ergebnisse im Grunde doch relativ leicht zugänglich sind. Die Einstufung des Materials geschieht so ungleichmäßig, daß Papiere, die von einer Stelle als vertraulich oder geheim eingestuft werden (wie etwa die Untersuchungen zur Pax Americana) häufig von einer anderen Stelle veröffentlicht werden. Manchmal können auch Unterlagen, die von der die Forschung finanzierenden Regierungsstelle als geheim eingestuft sind, ohne Schwierigkeit von dem privaten Forschungsinstitut bezogen werden, in dem sie erarbeitet wurden. Entscheidend ist jedoch, daß, indem man Geheimhaltungsvorschriften in enge Beziehung mit extremem Patriotismus bringt, zugleich auch eine Kritik der verwendeten Forschungsansätze sehr erschwert wird. Sozialwissenschaftler haben oft starke Bedenken, weil das Akzeptieren der ersten Prämisse – des Rechts der Regierung auf Geheimhaltung von Forschungsergebnissen – häufig die Annahme einer weiteren Prämisse notwendig macht, daß nämlich diejenigen Sozialwissenschaftler, die mit der politischen Verwendung ihrer Arbeiten nicht einverstanden sind, ebenfalls schweigen müssen. Am stärksten wirkt sich die Geheimhaltungsforderung auf die sozialwissenschaftliche Methodologie aus. Sozialwissenschaftler werden vermutlich deshalb beschäftigt, weil sie als Gruppe Objektivität und Ehrenhaftigkeit repräsentieren. Sozialwissenschaftler sehen sich gerne als Bollwerke der Wahrheit, an dem die Prämissen der Politiker abprallen. Sie neigen auch zu der Vorstellung, daß sie Informationen liefern, die man aus der öffentlichen Meinung so ohne weiteres nicht gewinnen kann. In gewissem Umfang glauben Sozialwissenschaftler, daß sie von Regierungsstellen in An-

124 spruch genommen werden, weil sie Dinge sagen, die zwar vielleicht unpopulär, gleichwohl aber bedeutsam sind. Dieselben Stellen, die wegen ihres Informationsbedürfnisses sozialwissenschaftliche Forschung unterstützen,. bestehen auf Geheimhaltungsvorschriften, die mit den Grundsätzen, an denen sich Sozialwissenschaftler zu orientieren suchen, kaum vereinbar sind. Forschungsziele und Arbeitsbedingungen fordern von Anfang an einen methodologischen Kompromiß. Der Sozialwissenschaftler befindet sich in einer kognitiven Abhängigkeit. Er wird konditioniert, nur wenig zu veröffentlichen, damit er nicht von der Regierungsstelle, die ihn beschäftigt, bestraft wird. Andererseits wird er ja gerade wegen der bei ihm vorausgesetzten Gründlichkeit, Unparteilichkeit und Offenheit beschäftigt. Der Sozialwissenschaftler, der im Dienste der Regierung überlebt, wird „hitzig“ oder lernt, sich. zu arrangieren. Sein Wert für die Sozialwissenschaft wird ernstlich gefährdet. Ebenso gefährdet wird umgekehrt sein Nutzen für den politischen Bereich, sollte er diese Überlegungen anstellen. Sozialwissenschaftler glauben, daß Offenheit mehr bedeutet als den formalen Anforderungen wissenschaftlicher Standards zu entsprechen; sie verlangt auch, daß Informationen allgemein zugänglich gemacht werden. Die Geheimhaltungsvorschriften begünstigen die selektive Veröffentlichung von Daten. In diesem Bereich vertritt der Sozialwissenschaftler andere Ansichten als der Politiker, weil sie einander widersprechende Vorstellungen von der Bedeutung von Daten und der grundsätzlichen Notwendigkeit ihrer „Überprüfung“ durch andere haben. Der Politiker, der die Forschungsergebnisse nicht jedermann gleichermaßen zugänglich machen will, sieht seinen Informationsvorsprung als normale Rendite des ursprünglich riskant eingesetzten Kapitals an. Der akademische Sozialwissenschaftler vertritt die Auffassung, daß kein einzelner Bereich durch seine Forschungsförderung berechtigt wird, übermäßig von den Ergebnissen zu profitieren; er glaubt, daß die Forschungsförderung durch Regierungsstellen die Verwertung der Ergebnisse nicht stärker begrenzen sollte, als dies bei privater oder universitärer Forschungsfinanzierung der Fall ist.

125 Loyalität Drittens werden die Sozialwissenschaftler erheblich durch ihre doppelte Treuepflicht belastet. Häufig beklagen sie, daß Regierungsaufträge so spezielle Erfordernisse und Zielorientierungen mit sich bringen, daß dadurch ihre Autonomie beschränkt werde. Der Sozialwissenschaftler ist gezwungen, sich zwischen voller Beteiligung an der Regierungsbürokratie oder einer Tätigkeit innerhalb der ihm vertrauteren akademischen Grenzen zu entscheiden. Er möchte jedoch nicht durch ersteres in letzterem beschränkt werden. Daher kritisiert er oft die mangelnde Bereitschaft der Regierungsbürokratie, seine Grundbedürfnisse zu akzeptieren: (a) das Bedürfnis zu lehren und sich seine volle akademische Identität zu bewahren, (b) das Bedürfnis zu publizieren und vor allem (c) das Bedürfnis, – im Falle einer Pflichtenkollision – wissenschaftliche Verantwortlichkeit über patriotische Verpflichtungen zu stellen. Kurz gesagt: er möchte nicht unter verschiedenen oder widerstreitenden Loyalitätspflichten stehen. Die Geheimhaltungsvorschriften verschärfen dieses Problem. Einerseits sind viele Sozialwissenschaftler, die Forschungsaufgaben für die Regierung übernehmen, von der Gelegenheit fasziniert, sich wichtigen Fragen zu widmen. Andererseits sehen sie sich aber Bürokratien gegenüber, die häufig ihre Leidenschaft, soziale Probleme zu lösen, nicht teilen. Zum Beispiel verpflichten bundespolitische Zwänge die Bürokratie, militärischen Problemen eine hohe Priorität einzuräumen und vielen idealistischen Fragen, an denen Sozialwissenschaftler gerade interessiert sind, eine geringe Bedeutung beizumessen. Diejenigen Sozialwissenschaftler, die der Regierung als Angestellte oder Berater verbunden sind, hängen von Regierungsstellen ab, deren Entscheidungsfreiheit wiederum von politischen Umständen außerhalb ihrer Kontrolle begrenzt wird. Eine Regierungsbürokratie muß mit schwerfälligen; aufgeblähten Komitees und mit datensammelnden Stellen fertig werden. Oft bewahren Regierungsstellen einen Status quo nur, um einigermaßen arbeitsfähig zu bleiben. Sie müssen die Akademiker in ihrer Mitte als einen normalen Angestellten mit bestimmten Aufstiegschancen innerhalb der Bürokratie ansehen. Regierungsstellen beschränken Neuerungsvorschläge schlicht auf das unmittelbar Nützliche. Sie tun dies nicht aus freier Wahl und sicherlich nicht, weil sie die Sozialwissenschaften ablehnen, sondern

126 aus einer als objektiv angesehenen Notwendigkeit heraus. Daraus ergibt sich, daß die Rolle des Sozialwissenschaftlers in der Regierung eher auf die eines Verbündeten oder Advokaten beschränkt wird und nicht die eines Erneuerers und Planers ist. Speziell Sozialwissenschaftler mit starker wissenschaftlicher Orientierung gewinnen zunehmend den Eindruck, daß ihr begeistertes Eintreten für raschen Wandel unrealistisch ist, wenn man bedenkt, wie wenig die Regierungsbürokratie verändern kann. Sie lehnen in zunehmendem Maße die ihnen von den „neuen Utopisten“ aufgedrängte Verstrickung in theorielose Praxis ab und geben gleichzeitig auch die Vorstellung auf, es sei wichtig, den Menschen mit der Vielfalt seiner Handlungsmöglichkeiten zu konfrontieren. Der Konflikt zwischen Autonomie und Beteiligung reicht auf seine Weise ebenso tief wie der zwischen Geheimhaltung und Publizität; denn er begrenzt die gut gemeinte Anmaßung technokratischer Steuerung sozialer Prozesse (human engeneering). Das Problem der einander widerstreitenden Loyalitätszwänge wird durch den Umstand nicht eben gemildert, daß viele hohe Regierungsbeamte, in deutlichem Gegensatz zu den Sozialwissenschaftlern, ausgeprägte nationalistische und konservative Ideologien vertreten. Wenn der Sozialwissenschaftler in die Hauptstadt kommt, dann glaubt er nicht nur an die Priorität der Wissenschaft vor Nationalismus, sondern er definiert Patriotismus auch weniger eng und in einer bewußt liberaleren Einstellung als die meisten Beamten. Er stellt daher häufig fest, daß der Konflikt nicht nur Forschungsansätze und soziale Anwendbarkeit betrifft, sondern vielmehr ein Ergebnis nicht zu vereinbarender Ideologien von Sozialwissenschaftlern und alteingesessenen Washingtoner Bürokraten ist. Er entwickelt Widerstand gegen das „Besitz“-denken des Bürokraten „seinen“ Verantwortlichkeiten gegenüber. Wahrscheinlich kommt er auch zu dem Schluß, daß seine sozialwissenschaftlichen Vormeinungen einen notwendigen Prell bock gegen die Regierungsbürokratie bilden.

Ideologie Eine Frage, die heute häufiger auftaucht, weil viele Sozialwissenschaftler an Forschungsprojekten arbeiten, die von der Regierung finanziert werden, betrifft die Beziehung zwischen dem heuristischen und wertenden Aspekt

127 der Arbeit. Einfach gefragt: Sollte der Sozialwissenschaftler nur operative Informationen darüber liefern, wie man etwas erreichen kann, oder sollte er auch bei der Bestimmung erstrebenswerter Ziele mithelfen? Hat er das Recht, die Ziele der sozialwissenschaftlichen Forschung zu diskutieren, zu prüfen und festzulegen? Es ist nicht so wichtig, ob Sozialwissenschaftler im Dienste der Regierung solche Fragen jemals stellen, sondern daß es Sozialwissenschaftler geben könnte, die deshalb jede Verbindung mit der Regierungsbürokratie ablehnen. Viele Sozialwissenschaftler, besonders diejenigen, die über andere Länder forschen, beklagen sich heftig darüber, daß Regierungspolitiker eine Sozialwissenschaft wollen, die sich auf Heuristik beschränkt, d. h. auf Produktion faktischer Informationen und einfacher Rezepte, und daß man von Sozialwissenschaftlern erwartet, Rechtfertigungen für militärische Unternehmungen zu liefern. Sozialwissenschaftler legen jedoch auch auf die normativen Aspekte ihrer Arbeit Wert auf ihre Erkenntnisse über die Prinzipien und Ziele von Außen- und Innenpolitik. Aber angesichts ihrer hohen Risiken müssen Politiker vor fehlerhaften Bewertungen auf der Hut sein. Deshalb spielen sozialwissenschaftliche Bewertungen großer Tragweite für sie keine Rolle und wird Empirizismus zur Hauptmaxime der Forschung. Tatsachenfeststellungen sind für den Politiker nicht nur „wertfrei“ sondern machen ihm auch den wenigsten „Ärger“ („trouble-free“). Es beruht dies weniger auf einer Entscheidung zwischen reiner oder angewandter Sozialwissenschaft, als auf unterschiedlichen Ansichten über die Art der Anwendung. Für das politische Establishment arbeitende Sozialwissenschaftler sind sich darüber im klaren, daß angewandte Forschung mit Sicherheit eine ständige Einrichtung bleiben wird. Sie geben zu, daß dies wahrscheinlich das neuartigste Element in der amerikanischen – im Gegensatz zur europäischen – Sozialwissenschaft ist. Aber Regierungsbeamte haben oft eine Vorstellung von angewandter Forschung, die keine theoretischen Überlegungen in der Forschung zuläßt. Die Fortschreibung heute bestehender Tatsachen in die Zukunft statt einer Analyse von Handlungs- und Interessentypen und ihrer gegenwärtigen Beziehungen, führt zu einem beschränkten Verwaltungsutopismus und vermittelt die Illusion, daß den Forderungen nach Theorie und offenem ideologischem Bekenntnis entsprochen wurde.

128 Die soziale Welt wird als Verhaltensbereich gesehen, dessen Dynamik und Steuerung dem Politiker reserviert ist, für den sie Zukünfte entwerfen. Aber Sozialwissenschaftler wissen, daß dieser Bereich von einander widerstreitenden Interessen und Werten bestimmt ist, und daß soziale Planung oft darin besteht, unter diesen Werten nach Maßgabe politischer Ziele zu wählen. Daher entstehen Spannungen zwischen den Sozialwissenschaftlern, die ihre Arbeit als hochpolitisch ansehen, und den Regierungsbeamten, die die Arbeit der Sozialwissenschaftler lieber als unpolitisch betrachten möchten. Tatsächlich bemühen sich Regierungsbeamte, ungesicherte Ergebnisse der Sozialforschung zu entpolitisieren, um sie auf diese Weise zu einer besseren Legitimation ihrer eigenen bürokratischen Aktivität verwenden zu können. Sozialwissenschaftler hegen den Verdacht, daß ihre Arbeit danach beurteilt wird, wie wirkungsvoll sie sich unmittelbar und in einer beschränkten- Situation anwenden läßt. Ihre Fähigkeit, sich großen strukturellen Problemen zu widmen, ist nicht gefragt. Belohnungen Regierungsbeamte beurteilen die Rentabilität sozialwissenschaftlicher Beratung der Politik nach ihren Erfolgen, die, nach vorherrschender Meinung, das Resultat von mit beträchtlichen Mitteln ausgestatteter Großforschung sind (wie das Model Cities-Programm). Außerdem schätzt man Personen mit hohem Status, die eher im Zentrum als an der Peripherie des politischen Entscheidungsprozesses stehen, und die die Möglichkeit haben, die Politik auf höchster Ebene zu beeinflussen, wertvolle Informationen zu erlangen und das Prestige der Projekte, an denen sie mitarbeiten, zu erhöhen. Und es sei hinzugefügt, daß viele Sozialwissenschaftler, die im Auftrag der Regierung forschen, gerade solch einen Machtgewinn erstreben. Selbst diejenigen Sozialwissenschaftler, die sehr eng mit der Regierung verbunden sind – als Angestellte, nicht mehr nur als gelegentliche Berater – haben dem Belohnungssystem gegenüber beträchtliche Bedenken. Erstens arbeiten Sozialwissenschaftler, wie schon gesagt, unter dem Druck verschiedener Geheimhaltungsvorschriften, durch die ihre Neigung zur Publikation ihrer Arbeiten unterdrückt wird. Nicht Sie, sondern Ihre Arbeitgeber erhalten die Lorbeeren ihrer Arbeit. Zweitens müssen Sozialwissenschaftler die Verantwortlichkeit für politische Fehler mittragen. Bei

129 schwierigen Problemen werden sie häufiger öffentlicher Kritik ausgesetzt, als daß sie gelobt werden, wenn sie ihre Pflichten gut erfüllen. Schließlich sind diejenigen Sozialwissenschaftler, die den politischen Stellen am nächsten stehen, auch am häufigsten Befragungen durch den Kongreß und im akademischen Bereich unüblichen Belästigungen und Nachforschungen ausgesetzt. Der im Dienste der Regierung stehende Sozialwissenschaftler geht Risiken ein, denen seine Kollegen an den Universitäten nicht unterworfen sind. Häufig beklagt er, daß diese Risiken von akademischen Kollegen nicht richtig gesehen und von Politikern nicht durch entsprechende Belohnungen aufgewogen würden (die Höhe des Gehalts z. B. entspricht zwar den für Regierungsbeamten üblichen Sätzen, liegt aber nicht nennenswert über den Gehältern im akademischen Bereich). Zusätzliche finanzielle Gewinne aus Publikationen werden den von der Regierung geförderten Sozialwissenschaftlern oft nicht gestattet. Die Frage des Publizierens ist auch noch aus anderen Gründen problematisch. Die Furcht der Sozialwissenschaftler ihr berufliches Ansehen und ihr Bekanntheitsgrad könnten leiden, scheint proportional mit ihrer Entfernung von der Universität anzusteigen. Nur wenige der im Dienste der Regierung stehenden Sozialwissenschaftler werden von ihren eigenen Berufsvereinigungen anerkannt und nur wenigen gelingt es, einflussreiche Positionen innerhalb dieser Organisationen zu erreichen. Die durch Arbeit für die Regierung bewirkte Isolation führt dazu, daß Wissenschaftler, die bereit sind, sich von der Regierung unterstützen zu lassen oder sogar als deren Berater zu arbeiten, gleichwohl nicht bereit sein werden, sich zu eng an eine Regierungsstelle zu binden. Aus diesem Grund gibt es nur wenige hervorragende Sozialwissenschaftler, die eine feste Anstellung in der Regierung suchen. Während Außenstehende staatlich geförderte Sozialwissenschaftler des „Ausverkaufs“ beschuldigen könnten, verteidigen sich diese mit dem Hinweis; daß sie Opfer bringen, um den sozialen Wandel positiv zu beeinflussen. Diese Selbstverteidigung wird jedoch von ihren akademischen Kollegen häufig skeptisch aufgenommen (ebenso wie auch von ihren Förderern in der Regierungsbürokratie), die solche übersensible Moralität verdächtig finden. Dieses „Belohnungs“-Problem führt also dazu, daß der aus der Nähe zu den Machtquellen sich ergebende Statusgewinn durch die Isolation

130 von den tatsächlichen Machthabern – den akademischen nicht weniger als den politischen – wieder aufgezehrt wird.

Von den Politikern als problematisch empfundene Bereiche Die Klagen der Sozialwissenschaftler über ihre Schwierigkeiten mit regierungsfinanzierter Forschung haben mehr Beachtung gefunden als die Klagen der Regierungsseite über die Sozialwissenschaftler. Dies war einfach schon deswegen der Fall, weil Sozialwissenschaftler eher dazu neigen, ihre Gefühle zu thematisieren und Klagen über ihre Arbeit zu artikulieren. Außerdem hat die Beziehung zwischen Sozialwissenschaftlern und Angehörigen der Verwaltungsbürokratie für den Sozialwissenschaftler eine größere Bedeutung. Es ist daher wenig verwunderlich, daß die Klagen der Regierurig über die Sozialwissenschaftler kaum verstanden wurden. Nach wie vor sind Regierungsstellen und ihre bürokratische Führung der angeblichen Notwendigkeit gegenüber skeptisch, sich bei ihrer Arbeit auf sozialwissenschaftliche Daten zu stützen. Für den traditionellen Beamten ist der örtliche Rechtsanwalt oder das aktive Parteimitglied der wichtigste Informationskanal zur politischen Leitungsebene. In vielen militärischen Bereichen stammt sachverständiger Rat überwiegend von Berufssoldaten in militärischer Funktion und erfordert keine sozialwissenschaftliche Bewertung von außen. Wie wir bei der Reaktion des Militärs auf die „Wunderknaben“ des Department of Defense sehen konnten, kann der Versuch, von außen beratend einzugreifen, als ungerechtfertigte Einmischung angesehen werden. Hohe Militärs (ebenso wie eine ganze Anzahl Politiker) empörten sich heftig über das Department of Defense und gaben in ihrer Kritik einer traditionellen Haltung Ausdruck, nach der militärische Intuition und Realitätsnähe einerseits mathematische Techniken und „Elfenbeinturm“-Orientierung andererseits als einander entgegengesetzt begriffen werden. Wenn Sozialwissenschaftler versuchen, solchen Argwohn und solche Zweifel dadurch zu zerstreuen, daß sie Memoranden und Dokumente verfassen; die die Nützlichkeit von Sozialwissenschaft für den direkten politischen und militärischen Gebrauch beweisen, dann bewirkt das eher eine verstärkte Skepsis gegenüber den Sozialwissenschaften statt eine Beseiti-

131 gung dieser Zweifel. Reagiert der akademische Bereich so auf die Politiker (wie er es in seinen Empfehlungen an das Defense Science Board getan hat),1 dann bestätigt er nur seinen Mangel an Autonomie oder sogar seine Unfähigkeit. Er kann seinen Wert nicht durch moralische Erklärungen und öffentliche Angebote an bürokratische Stellen beweisen. Ein im Gegensatz zur unabhängigen, „feudalen“, akademischen Orientierung stehendes Selbstverständnis der Sozialforschung als Produktionsstätte von Dienstleistungen führt dazu, daß der Erbringer solcher Dienstleistungen verachtet wird, und man seinen Ergebnissen nicht traut. Dieser Sachverhalt erleichtert das Verständnis für die Abneigung gegenüber sozialwissenschaftlicher Forschung wie sie vom Generalstab bis zum Senatsausschuß für auswärtige Angelegenheiten reicht. Anbieter intellektueller Leistungen werden gut bezahlt, wenn sie eine mächtige Gewerkschaft oder Berufsvereinigung hinter sich haben – wie dies bei vielen Sozialwissenschaften der Fall ist – aber in einer politischen Atmosphäre, in der es auf schnelle und billige Lösungen ankommt, genießen sie kaum besonderes Ansehen. Verschwendung In erster und vielleicht wichtigster Hinsicht richtet sich die Kritik der Regierungsbediensteten am akademischen Bereich dagegen, daß Sozialwissenschaftler zwar enorme Mittel und eine besondere Behandlung verlangen, dann aber an Projekten mit geringem taktischen Wert arbeiten. Daraus wird der Vorwurf der mangelnden praktischen Verwertbarkeit abgeleitet. Typisch hierfür ist die Kritik des General Accounting Office (Rechnungshofes) an dem von Herman Kahn geleiteten Hudson Institute. [...] Sozialwissenschaftler behaupten dagegen, daß der Zweck eines guten Berichtes mehr in der Produktion neuer Ideen als in der praktischen Bewältigung aller offenstehenden Fragen liege; Regierungsstellen sollten, ihrer Ansicht nach, nicht von jedem Forschungsprojekt große Erfolge erwarten. Ein Grund dafür, daß die oben skizzierte Kritik an den Sozialwissenschaften gleichwohl fortbesteht, liegt darin, daß die Forderung, Forschung müsse einen großen unmittelbaren Nutzen erbringen, kaum jemals ernsthaft bestritten wurde. Der fragwürdige Praxisbezug eines Großteils sozialwissenschaftlicher Forschung wird die Beziehungen zwischen Sozialwissen-

132 schaft und Politik solange belasten, bis die Sozialwissenschaftler selbst eine befriedigende Formel finden, nach der praktische Bedeutung anders zu beurteilen ist, als es von außen an die Sozialwissenschaftler herangetragene Forderungen unterstellen.

Nutzlosigkeit Ein weiterer von Regierungsstellen vorgebrachter Einwand ergibt sich aus dem ersten. Der nämlich, daß man nicht sicher sein kann, ob die Forschungsergebnisse sich werden verwenden lassen. Es bestehe häufig eine Kluft zwischen Forschungsantrag und tatsächlich durchgeführter Forschung, und eine ähnliche Kluft bestehe auch zwischen den gewonnenen Resultaten und den Prozessen, die bei der praktischen Bewältigung von Problemen eine Rolle spielen. Hübsch aufgemachte und ansprechend verpackte Vorschläge führen oft zu enttäuschenden Ergebnissen. Zwar sind sich viele einsichtige Regierungsstellen [...] der Notwendigkeit bewußt, bei der Forschungsplanung einen großen Spielraum einzuräumen; die fester in naturwissenschaftlichen und technischen Traditionen verwurzelten Stellen stehen aber solchen Experimenten weniger tolerant gegenüber. Weiter wird kritisiert, daß an Regierungsforschung beteiligte Wissenschaftler ihre Ergebnisse übermäßig konservativ darstellen, um die Regierungsbürokratie zu besänftigen. Dieser Vorwurf wird u. U. gerade dann erhoben, wenn sich eine Regierungsstelle um die Durchsetzung liberaler politischer Maßnahmen bemüht. Die Arbeit einer Regierungsstelle wird sehr viel schwieriger, wenn sie sich nicht nur mit der bürokratischen Trägheit und den konservativen Neigungen hoher Beamter herumschlagen muß, sondern auch noch mit deren Bestärkung durch sozialwissenschaftliche Gutachten, von denen man liberalere Formulierungen erwartet hätte. Es gibt also nicht nur eine Kluft zwischen dem Forschungsantrag und dem schließlich durchgeführten Forschungsunternehmen, manche Gutachten können auch Programme, mit deren Durchführung die staatliche Bürokratie durch Kongreßausschüsse oder die Regierungsführung beauftragt wurde, in eine konservative Richtung lenken. Der Vorwurf der Nutzlosigkeit hängt häufig mit einem unterschiedlichen intellektuellen Stil oder einer unterschiedlichen intellektuellen Kultur zu-

133 sammen. Die Differenzen zwischen Regierung und akademischer Wissenschaft sind meist auch die Folge einer intellektuellen Spezialisierung, die es dem typischen Beamten sehr erschwert, sich mit einem typischen „modernen“ Verhaltenswissenschaftler zu verständigen. Die meisten Regierungsbeamte im Department of State z. B. haben entweder Geschichte oder eine normative politische Wissenschaft studiert. Die Lehre von den internationalen Beziehungen in der deskriptiven Tradition der zwanziger Jahre oder bestenfalls im Stil von Morgenthau oder Schuman sind weiterhin vorherrschend. Was für Schwierigkeiten auch immer zwischen Akademikern und Politikern in bezug auf ihre Rollen bestehen mögen, sie könnten am ehesten von denjenigen überwunden werden, die eine gemeinsame intellektuelle Grundlage haben. Häufig kommt es aber gar nicht erst zu einer Kommunikation mit empirisch orientierten Sozialwissenschaftlern, deren Vokabular, Methoden und sogar Konzepte esoterisch irrelevant, manchmal trivial und nicht selten hochstaplerisch erscheinen. Also liegt dem Vorwurf der Nutzlosigkeit auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Geisteshaltungen zugrunde, der die Beziehung zwischen den Akademikern und den Politikern negativ beeinflußt. Elitäre Einstellungen Regierungsbeamte weisen darauf hin, daß Akademiker häufig eine Behandlung verlangen, die von den für die übrigen Regierungsangestellten gültigen Normen abweicht. Sie beklagen, daß Sozialwissenschaftler ihre Rolle als Regierungsangestellte häufig nicht wirklich akzeptieren, sondern sich eher als nur vorübergehend oder am Rande mit der Regierung verbunden ansehen. Besonders im Bereich der auswärtigen Beziehungen möchte der Akademiker anscheinend die Vorteile umfassender Informiertheit, auch über vertrauliche Angelegenheiten, und der Beteiligung an der Entscheidungsfindung genießen, gleichzeitig aber die normale Verantwortung vermeiden, wie sie sonst von Regierungsangestellten akzeptiert wird. Die Regierungsbeamten argwöhnen hinter solchen Attitüden eine elitäre Einstellung, eine Haltung, die mit der Struktur sozialwissenschaftlichen Denkens zusammenhängt. Eher darauf vorbereitet, Probleme zu analysieren, als darauf, wichtige Entscheidungsträger zu überzeugen, verlieren Sozialwissenschaftler oft die Geduld mit den Schrullen der Politiker und ziehen die Herausforderung der politischen Programmentwicklung vor.

134 Gewählte Beamte führen als einen Grund für ihre Bevorzugung juristischer vor sozialwissenschaftliche Berater an, daß erstere über ein bei weitem tieferes Verständnis der Mechanismen des Beherrschens und Beherrschtwerdens verfügen. Die juristische Tradition bringt einen Respekt vor dem „Willen des Volkes“ hervor, der sich bei den Sozialwissenschaftlern, die für Regierungsstellen tätig sind, selten findet. Die Abneigung zahlreicher Gremien des Weißen Hauses und des Senats gegenüber Sozialwissenschaftlern aus dem Verteidigungsministerium und dem Außenministerium muß als Reaktion auf diese elitäre Einstellung der betreffenden Sozialwissenschaftler gesehen werden. Es ist dies die andere Seite der Diskussion über „Beteiligungs-Autonomie“. Die Regierung drängt auf vollkommene Beteiligung, während der Sozialwissenschaftler Autonomie und beschränkte Verantwortlichkeit bei Entscheidungen, die direkt die Politik betreffen, verlangt. Eine elitäre Grundhaltung erlaubt es dem Sozialwissenschaftler, gleichzeitig wichtige Dienste zu erbringen und den Anschein der Objektivität zu wahren. Zugang Obgleich Sozialwissenschaftler ihre Zusammenarbeit mit der Regierung nur als marginal ansehen, verlangen sie gleichzeitig Zugang zu Inhabern politischer Führungspositionen, um sicherzugehen, daß ihre Empfehlungen befolgt oder zumindest ernsthaft erwogen werden. Ein solcher Zugang bedeutet hier aber Übergehen des normalen Dienstweges, den andere Regierungsangestellte einhalten müssen. Die sozialwissenschaftliche Forderung nach Zugang zu Inhabern politischer Führungspositionen isoliert den Sozialwissenschaftler von anderen Regierungsangestellten, auch wenn sie angeblich aus guten Absichten heraus erhoben wird. Der Sozialwissenschaftler sieht sich selbst als beratenden Experten, nicht als Angestellten. Er hält sich für berufen, eine politische Rolle zu spielen, was die meisten anderen Regierungsangestellten nicht meinen. Die Regierungsbürokratie aber glaubt, der Sozialwissenschaftler sei nach Washington gekommen, um „die Welt mit seinen Ideen zu entzünden“, und hält diese Absicht für eine Anmaßung, weil sie die Flamme übersieht, die auch im Herzen des normalen Verwaltungsangestellten brennt.

135 Das Verlangen nach leichtem Zugang zu Führungspositionen beruht auf Vorstellungen von der überlegenen Weisheit des Sozialwissenschaftlers; genau dieser Anspruch ist es aber, den die Regierungsbeamten am heftigsten bestreiten. Regierungsbeamte drücken eine verbreitete Meinung aus, wenn sie sagen, daß man, wenn man den Sozialwissenschaftlern bereitwillig Zutritt in die Hallen der Macht gewährt, von einer Richtigkeit ihres politischen Urteils ausgeht, wie sie weder durch historische Beispiele belegt noch durch massenhafte Unterstützung aus dem Bereich der Öffentlichkeit bestätigt werde. Eine solche Privilegierung des Wissenschaftlers gegenüber dem Bürger dient auch dazu, die geringe Beteiligung des Bürgers am politischen Prozeß zu rechtfertigen. Der wissenschaftliche Ethos begründet den Zugang zur Macht unter Umgehung demokratischer Regeln. Genau deshalb glauben Regierungsangestellte, daß sie die Interessen der Bürger (und nicht zuletzt auch ihre eigenen) verteidigen, wenn sie die Beteiligung der Sozialwissenschaftler am Entscheidungsprozeß einschränken. Marginalität Wenn sich Sozialwissenschaftler darüber ärgern, daß sie während der Zeit ihrer Zusammenarbeit mit dem politischen System nur in eingeschränktem Umfang die Verbindung zum akademischen Leben aufrecht erhalten können, so sind die Regierungsbeamten umgekehrt gerade darüber verärgert, in welchem Ausmaß Sozialwissenschaftler Nebenbeschäftigungen anstreben und ausüben. In deutlichem Kontrast zu den übrigen Regierungsangestellten gelingt es den Sozialwissenschaftlern im Umkreis von Washington Nebenbeschäftigungen zu finden. Sie arbeiten als Lehrer und Professoren; sie schreiben nebenbei für Zeitungen und Magazine; sie geben Sammelbände und Monographien heraus; sie treten als fachmännische Berater auf und nutzen dabei ihre Zusammenarbeit mit der Regierung. Sie fördern sich selbst in einem Maße, das durch die Gründe ihrer Anstellung keineswegs gerechtfertigt ist. In der offener strukturierten akademischen Welt ist solche Selbstförderung nicht nur nicht anstößig, sondern so gar erforderlich. Autorenhonorare, Herausgebertätigkeiten, Honorare für die Mitwirkung bei Stipendienvergaben und bezahlte Vorlesungen. an amerikanischen Universitäten sind alles hoch angesehene Formen von „Nebentätigkeit“. Die Arbeit für die Regie-

136 rung aber erfordert 12 Monate pro Jahr und 24 Stunden pro Tag. Solche Anforderungen unterscheiden sich beträchtlich von den neun Monaten Lehrtätigkeit pro Jahr und der freieren Zeiteinteilung, die für die Beziehungen der Sozialwissenschaftler zu akademischen Organisationen meistens charakteristisch sind. Regierungsstellen kritisieren das mangelhafte Engagement der am politischen Leben beteiligten Akademiker. Und sie ärgern sich auch darüber, daß es keineswegs immer die besten Sozialwissenschaftler sind, die mit der Regierung zusammenarbeiten. Es stört sie besonders, daß die Sozialwissenschaftler an dem Statusgewinn sowohl der Universitäten als auch der Politik unverdient profitieren. [...]

Verbesserung der Interaktion In dieser Skizze wurden sowohl die Akademiker als auch die Regierungsangestellten typisierend dargestellt. Man darf sich nicht vorstellen, daß sich die beiden Gruppen ständig nur gegenseitig kritisieren, denn dann könnte sicherlich keine feste Beziehung, die sich zu behandeln lohnte, existieren. Die von beiden Seiten gespielten Rollen zeigen jedoch deutlich, daß wir uns in einer Zeit tiefgehender Neudefinition dieser Rollen befinden. Die Kritik, die Akademiker und Politiker gegen die jeweils andere Seite vorbringen, wirkt wie ein Spiegel: Jede Seite bildet die schlechtesten Eigenschaften der anderen Seite scharf ab. Es ist. bezeichnend, daß der politische Kontext und Inhalt ihrer Interaktion von beiden Seiten weitgehend unbewußt unterdrückt wurde. Die Akademiker haben es vorgezogen, ihre wissenschaftlichen Aktivitäten in objektiver und neutraler Sprache hervorzuheben, während die Politiker ihre Interessen mit organisatorischen und bürokratischen Begründungen verteidigten. Die befremdlichste Seite dieser Interaktion ist daher, daß im Bereich der Politik nichts peinlicher zu sein scheint, als politische Analyse und Synthese. Wie durch gegenseitige. Übereinkunft stimmen Sozialwissenschaftler und Politiker darin überein, daß sie ihre Beziehung lieber in einer Atmosphäre höflicher und wechselseitiger Verachtung als in einer Atmosphäre offener Konfrontation ansiedeln. Die Kluft zwischen den beiden Gruppen macht

137 eine politische Distanz notwendig, die in ihrer Bedeutung ungefähr der sozialen Distanz zwischen konkurrierenden Stammesangehörigen entspricht.

Der Stand der Beziehungen Es mag Gründe für die Befürchtung geben, daß Regierungsförderung sozialwissenschaftliche Ergebnisse verfälscht, weil sie teure Projekte bevorzugt, eine übermäßig praktische Orientierung begünstigt, die Verbreitung von Informationen einschränkt und nicht zugibt, daß Forschung potentiell subversiv sein könnte. Ironischerweise werden aber von der Regierung furchtsame oder opportunistische Sozialwissenschaftler nicht eingestellt. Meistens sucht der Sozialwissenschaftler um Regierungsförderung nach und verspricht dann unter dem Druck übertriebener Forderungen nach neuartigen Forschungsansätzen und hoher Nutzbarkeit der Ergebnisse zu viel. Die Hauptgefahr für den Akademiker, der von der Regierungsbürokratie bezüglich der Finanzierung seiner Forschung und den verschiedensten Karriereaussichten abhängig geworden ist, ist nicht finanzieller Art; sie besteht vielmehr darin, daß er selbst beginnt, Loyalitäten und Verhaltensweisen eines opportunistischen Bürokraten zu entwickeln. Die zahlreichen institutionalisierten Kontakte zwischen dem akademischen und dem politischen Bereich haben bisher nicht dazu beigetragen, daß die ständige Frage danach, wie eigentlich die Interaktion zwischen diesen Bereichen vernünftigerweise zu gestalten wäre, beantwortet wurde. Aus diesem Umstand muß geschlossen werden, daß eine klare Grenzziehung zwischen dem akademischen und dem politischen Bereich kaum möglich ist, und deshalb auch keine präzise Festsetzung dessen, wer genau welche Art von Forschung unter was für Bedingungen veranlassen sollte. Da es zunehmend deutlicher wird, daß die Initiativen von den Wissenschaftlern ausgehen, und die Angehörigen der Verwaltung in der Mehrzahl der Fälle nur auf diese reagieren, sollte sich die Kritik eher gegen die anwendungsorientierten Sozialwissenschaften richten als gegen die entsprechende Regierungspraxis. Um die Ursachen der Beziehungskonflikte zwischen Akademikern und Verwaltungsangestellten vollständig zu verstehen, ist es notwendig, sich die ganze Bandbreite der Einstellungen zu den Beziehungen zwischen Re-

138 gierung und Wissenschaft zu vergegenwärtigen, die von der Befürwortung vollständiger Integration der beiden Bereiche auf der einen Seite bis zur Forderung nach vollständiger Trennung zwischen ihnen auf der anderen Seite reicht. Ein Spektrum solcher Positionen sei hier geboten.

Der Policy-Science Ansatz [...] Nach dem Zweiten Weltkrieg und sogar schon früher in der Ära des New Deal überwog eine optimistische Befürwortung der Integration von Regierung und akademischer Wissenschaft. Diese Einstellung kam wohl am deutlichsten in dem häufig mit der Arbeit von Harold Lasswell (1951) assoziierten „policy-science“ Ansatz zum Ausdruck. Seiner Ansicht nach müßte die Beziehung zwischen akademischer Wissenschaft und politischem Bereich eine interne Angelegenheit sein, bei der Politiker ebenso oft und umfassend mit akademischen Fragen zu tun hätten, wie akademische Wissenschaftler mit politischen. Der policy-science Ansatz war ein nobler Versuch, zur Überwindung einer überkommenen Arbeitsteilung. Soziologie, politische Wissenschaft, Ökonomie und die anderen Sozialwissenschaften sollten in einer einheitlichen Politikwissenschaft aufgehen, die auf einer gemeinsamen methologischen Basis ruhen sollte. Wie Lasswell selbst in späteren Jahren zugab, liegt die Problematik seines Vorschlags darin, daß Regierungsbeamte in der Regel ebensowenig bereit sind, ihre Autorität zu teilen, wie Akademiker (selbst wenn sie zeitweilig im Dienste der Regierung stehen) fähig sind, die unterstellte Praxisferne ihres „Elfenbeinturmes“ aufzugeben. Der policy-science Ansatz hatte direkte politische Konsequenzen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den fünfziger Jahren konnte man die Entstehung neuer sozialwissenschaftlicher Institutionen beobachten. Aber es ging um mehr als um Probleme der Organisation. Aufgrund einer gewandelten Einstellung wurden disziplinäre Grenzen überschritten. An jeder größeren Universität wurden problemfeldorientierte Studien unternommen. Der Kommunismus wurde im Rahmen allgemeinerer Fragestellungen nach der Bedeutung von Ideologie für den sozialen Wandel untersucht. Zentren für Stadtforschungen (urban studies) und zur Erforschung der industriellen Arbeitswelt entstanden. Aber trotz dieser neuartigen Institutionalisierung

139 interdisziplinärer Forschung, erwies sich die disziplinäre Struktur an den Universitäten als erstaunlich dauerhaft, nicht nur in Form eines lebenden Fossils, sondern als expandierende Einflußsphäre. Bald stellte sich heraus, daß die Fachbereiche (departments) im Kampf um den akademischen Nachwuchs und um Stellen letztenendes die Oberhand behielten. Die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fachbereiche ermöglichten es ihren Disziplinen am Leben zu bleiben. Während der policyscience Ansatz noch gegen die überkommene Fächerteilung Sturm lief, nahm die fachliche Spezialisierung weiter zu. [...] Was dem policy-science Ansatz gelang, war eine aggressive und manchmal auch progressive Neuordnung verfügbarer Information; was ihm nicht gelangt, war die Einrichtung einer ihm entsprechenden Organisation. Und dies erwies sich als verhängnisvoll für seine Forderung nach einer Priorität für die Behandlung operativer Probleme. Der policy-science Ansatz wurde Anfang der fünfziger Jahre, durch eine Einstellung verdrängt, nach der die Wissenschaft eine „Dienerin“ sei, deren Aufgabe darin bestehe, die notwendigen Voraussetzungen für ein reibungsloses Funktionieren der politischen Welt zu schaffen. Die Grundüberlegung hierbei war, daß die Sozialwissenschaften in hervorragender Weise dazu geeignet wären, Widerstände gegenüber Regierungsentscheidungen mit Hilfe gesicherter Daten aus dem Wege zu räumen. Eine vollständige Integration beider Bereiche war dabei nicht beabsichtigt. Diese Vorstellung von der dienenden Funktion der Sozialwissenschaften erschien sowohl dem besonderen Charakter dieser Wissenschaften als auch dem praktisch-politischen Bedarf der Regierung angemessener und ging inhaltlich mit der wachsenden Wertschätzung angewandter Sozialforschung einher. Die neue Betonung von Anwendung und Großforschung bot die theoretische Grundlage für hausmeisterliche „Aufwisch“-Dienste. Angewandte Forschung sollte nach den großen Neuheiten suchen, nach dem lebenswichtigen Durchbruch; ein Eingehen auf diese feste, auf Konsens beruhende, Abmachung würde die Sozialwissenschaft nicht ihrer Freiheit berauben, sondern ihre Relevanz garantieren. Der „theorielose“ Dienstleistungsansatz wurde so aufs engste mit einer ganz bestimmten Handlungsorientierung verknüpft. Befürworter dieser Handlangerkonzeption wie Ithiel de Sola Pool (1967) setzten sich mit großer Energie für die Verpflichtung des Sozialwissen-

140 schaftlers zu produktiver Forschung für die Regierung ein. Man betonte, daß eine Organisation wie das Verteidigungsministerium der sozialwissenschaftlichen Analyse in vielfältiger Hinsicht bedürfe, um ihre Welt besser zu verstehen. Man wies darauf hin, daß der Intelligenztest seit dem Ersten Weltkrieg ein praktisches Instrument in der Personalplanung gewesen sei, und daß das Verteidigungsministerium und andere Regierungsstellen auf militärischem und in anderen schwierigen Gebieten sich in großem Umfang der Sozialpsychologie bedienten. Als die größte Institution der Welt für Ausbildung und Erziehung mußte sich die U.S. Regierung exaktes Wissen darüber verschaffen, wie man eine enorme Zahl von Menschen auswählt und ausbildet. Von gleicher Bedeutung war das Interesse der Bundesregierung an genauer Information über das Ausland. Dieser Wissensdurst bezüglich der besonderen kulturellen Werte sowie der sozialen und politischen Strukturen ausländischer Staaten steigerte sich noch mit der Aufteilung der Welt in potentielle Feinde und potentielle Verbündete der Vereinigten Staaten. Die Ironie dieses Eintretens für nützliche Forschung liegt darin, daß der Handlangeransatz zwar angeblich die Autonomie der Sozialwissenschaften intakt läßt, sie aber tatsächlich dadurch verringert, daß er eher administrative als sozialwissenschaftliche Kriterien für ihren „Nutzen“ aufstellt. Ob etwas ein ertragreiches Forschungsgebiet war, hing immer davon ab, was die Sozialwissenschaften für den politischen Bereich leisten konnten und nicht umgekehrt. Auch der den policy-science Ansatz verdrängende Handlangeransatz beruhte nicht auf einer wirklichen Gleichstellung von akademischem und politischem Bereich.

Der selektive Partizipationsansatz Von David B. Truman wurde (1968) ein neuer Ansatz formuliert, der sich sowohl vom policy-science als auch vom Handlangeransatz beträchtlich unterscheidet. Er ist theoretischer Ausdruck einer neuen Auffassung von der Gleichberechtigung von Sozialwissenschaftlern und Regierungsbeamten. Nach Trumans Vorstellung sollte es einen häufigen aber in der Regel nicht geplanten Austausch zwischen Positionen in der Regierungsbürokratie und an den Universitäten geben. Dieser Rollentausch wird sich seiner

141 Meinung nach als wertvoll erweisen und könnte vielleicht später auf systematischer Basis erforscht und begünstigt werden. Bis dahin treten die Befürworter dieses Ansatzes für eine möglichst geringe Formalisierung dieses Rotationsprozesses ein. Der wichtigste Aspekt des selektiven Partizipationsansatzes ist es, daß er auf einer Reziprozitätsnorm beruht. Ein teilweiser Personalaustausch ließe sich erst einmal mit Hilfe regelmäßiger Seminare und Konferenzen erzielen, die in jeweils sorgfältiger Auswahl gemeinsam von Sozialwissenschaftlern und Regierungsangehörigen in einem guten Mischungsverhältnis besucht würden. Eine andere Methode könnte die alternierende Darstellung wissenschaftlicher Entwicklungen und politischer Probleme bei diesen Zusammenkünften sein. Anders als bei der normalen Beratungsbeziehung im Dienstleistungsstil würde dies eine gewisse Gleichheit zwischen akademischem und politischem Bereich garantieren. Selektive Partizipation würde auch Stipendien und Regierungsförderung für interdisziplinäre akademische Teams einschließen, die über politische Probleme arbeiteten, anstelle der sonst üblichen direkten Beauftragung einzelner Sozialwissenschaftler oder Akademiker. Dadurch sollte ein flexibles Miteinander verschiedener Spezialgebiete zustande kommen, durch das die Kluft zwischen wissenschaftlichem Wissen und seinen Auswirkungen auf die Öffentlichkeit geschlossen werden sollte, ohne daß dies auf Kosten der Sozialwissenschaftler oder Politiker ginge. Praktisch bedeutete dies, daß von Regierungsstellen verwaltete Forschungsmittel in einem größeren Maße universitären Forschungseinrichtungen zufließen würden. Gegenüber dem policy-science Ansatz, der eine sehr viel engere räumliche und ideologische Verknüpfung vorsah, würde dies eine wesentliche Veränderung bedeuten.

Formen der Partizipationsverweigerung Problematisch ist an dem selektiven Partizipationsansatz, daß er implizit einen Austausch voraussetzt, bei dem zwischen Politikern und Akademikern Kräftegleichheit unterstellt wird. Ein Nachweis, daß diese Gleichheit zwischen Akademikern und Politikern tatsächlich bestehe, gelang indessen nicht. Während die einen die Finanzmittel kontrollieren, produzieren die

142 anderen Informationen. De facto bestimmt auch beim Ansatz selektiver Partizipation immer noch die Regierungsstelle über die Anstellung von Wissenschaftlern, und der Akademiker partizipiert in einer Weise am politischen Entscheidungsprozeß, von der er keinen allzu großen Nutzen für die sozialwissenschaftliche Theorie oder Methodologie erwarten darf. Dies hat zu dem zunehmend vertretenen Prinzip der „Partizipationsverweigerung“, wie man es nennen könnte, geführt. Nach wie vor schreiben und publizieren Sozialwissenschaftler über Entwicklungen im Ausland oder andere Fragen, die für die politische Auseinandersetzung von zentralem Interesse sind, aber sie tun dies nicht aufgrund eines Vertrages mit der Regierung oder in direktem Auftrag einer Regierungsstelle. Man kam zu der Ansicht, daß, wenn die Autonomie der Sozialwissenschaften irgend etwas bedeutet, korrekt ermittelte Anwendungsmöglichkeiten und Ergebnisse der Sozialwissenschaften auf jeden Fall in die Bundespolitik eingehen würden, ob nun Sozialwissenschaftler aktiv oder kritisch am politischen Entscheidungsprozeß teilnehmen oder nicht. Das Prinzip der Partizipationsverweigerung wurde sowohl von vielen konservativen als auch von radikalen Sozialwissenschaftlern vertreten, die in der Zunahme regierungsabhängiger Sozialwissenschaft eine Bedrohung der herkömmlichen Formen des Statuserwerbs in den akademischen Berufen und auch eine Entwicklung in Richtung auf angewandte Sozialplanung sahen, was ihren Vorstellungen einer umfassenden Sozialwissenschaft zuwiderlief. Aus organisatorischen und intellektuellen Gründen stellte das Prinzip der Partizipationsverweigerung eine wirkungsvolle Reaktion auf den policy-science Ansatz dar. Ihr liegt die Annahme zugrunde, daß die Regierung durch eine Interaktion mit den Sozialwissenschaftlern mehr zugewinnen hat als umgekehrt. Wenn auch nach diesem Prinzip noch Interaktionen zugelassen sind, wird doch die Prioritätensetzung so verändert, daß Sozialwissenschaftler sich nicht länger mühseligen Aufgaben unterziehen müssen, die anderen einen hohen, ihnen selbst aber nur geringen Nutzen bringen. Nach dem Prinzip der Partizipationsverweigerung war der Universitätsfachbereich nach wie vor die für die Organisation der Sozialwissenschaften zentrale Institution, nicht aber die Forschungsabteilung der Regierung. Nahm ein Anhänger dieses Prinzips an Regierungsprogrammen teil, so fand er sich häufig in der Rolle eines Kritikers bürokratischer Forschungs-

143 organisation, insbesondere jener Stellen, die den Universitäten angegliedert waren. Er wollte keine Kontrolle seiner Forschung durch politische Entscheidungsprozesse; und noch wichtiger, er wollte nicht, daß eine Regierungsstelle Entscheidungen an sich riß, die richtigerweise zu dem Aufgabenbereich des Fachbereichs gehörten. Gleichzeitig leitete das Prinzip der Partizipationsverweigerung zum Prinzip der aktiven Opposition über. Diese Opposition trat hauptsächlich bei jüngeren Wissenschaftlern in Fächern wie Geschichte und bei Doktoranden in den Sozialwissenschaften auf, d. h. bei denjenigen, die auch den Kern der studentischen Protestbewegung bildeten. Ihrer Ansicht nach konnte das Problem nicht nach dem letztenendes konservativen Grundsatz gelöst werden, daß sich die Regierung die ihr am besten geeigneten sozialwissenschaftlichen Ergebnisse auswählt. Man solle bewußt versuchen, Wissenschaft in den Dienst parteilicher oder revolutionärer Ziele zu stellen, die unter gar keinen Umständen von dem mit Regierungsstellen verbundenen Establishment benutzt werden konnten. Wie Hans Morgenthau sagte, bedeutete dies eine Abkehr von der Vorstellung, daß Sozialwissenschaftler und Bundespolitiker Angehörige grundsätzlich voneinander unabhängiger Institutionen seien, hin zu der Vorstellung, daß sie miteinander unverträgliche Positionen mit entgegengesetzten Zielen einnähmen, die Sozialwissenschaftler daher zu einer aktiven Opposition aufgefordert seien. In gewissem Sinne teilt die radikale Position mit dem policy-science Ansatz die Vorstellung, daß die politische Welt nach Mustern der Militärbürokratie verwaltet werde. Ihre Vertreter glauben aber nicht, daß dies dadurch geändert werden könne, daß die Sozialwissenschaften sich darum bemühen, die Regierung von ihren weltweiten Raubzügen abzubringen. Der policy-science Ansatz setzte voraus, daß in militärischen Kategorien denkende Politiker eines Besseren belehrt werden könnten. Der Ansatz der Partizipationsverweigerung geht vom Gegenteil aus, nämlich davon, daß es ein Leichtes sei, Sozialwissenschaftler für militärische und politische Ziele der Machthaber einzuspannen. Radikale Kritiker wie John McDermott versichern, daß wissenschaftliche und politische Ziele in der Praxis unvereinbar geworden seien. Darüberhinaus behaupten sie, daß sie auch in der Theorie entgegengesetzt sein müßten. Der Traum von wissenschaftlicher Handlungsorientierung wurde zum Alptraum regierungsabhängiger Forschung bei dem die Wissenschaft fak-

144 tisch zum Handlanger des politischen Establishments wurde. Der Traum akademischer Sozialwissenschaftler von hohen und angesehenen Positionen ist zum Teil dadurch verwirklicht worden, daß sie zu Männern der Tat wurden: Akademiker wurden zu den Hohepriestern des sozialen Wandels. Das Verlangen nach sozialem Wandel hat jedoch im Ergebnis die Ziele verschüttet, auf die sich dieser Wandel ursprünglich richten sollte. Die aktive Oppositionsbewegung stellt gleichermaßen eine Kritik der Universitätsstruktur wie auch der Regierungsstruktur dar. Wer gegen den Einfluß der Regierung war, wendete sich gleichzeitig auch gegen das Universitätssystem. Man glaubte, daß die Universitäten selbst als Nutznießer von Regierungsmitteln zur politischen Partei der Akademiker geworden seien. Studentische Angriffe gegen die Universitäten müssen, zumindest teilweise, als symbolische Angriffe auf die Forderung nach Integration von Politik und Wissenschaft angesehen werden.

Ersatzpolitik Zu häufig wird übersehen, welchen bedeutenden Einfluß das allgemeine politisch-ideologische Klima in unserer Gesellschaft auf die Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Gemeinschaft und Politik hat. Zwischen 1941 und 1945, als die Vereinigten Staaten an einem weltweiten Konflikt beteiligt waren, von dem die überwältigende Mehrheit der Bürger davon überzeugt war, daß es dabei um das nackte Überleben der Zivilisation gehe, gab es auf seiten der Studenten keinerlei ablehnende Äußerungen, wenn die Regierung Universitätsangehörige anwarb. Man hatte nichts dagegen, daß universitäre Forschungskapazitäten den Bedürfnissen militärischer Forschung, psychologischer Kriegsführung, der Propagandaforschung oder der Bombardierungsplanung nutzbar gemacht wurden. Bei wissenschaftlichen Kongressen gab es auch keine wissenschaftlichen Kommissionen, die die berufsständische Moral von Fachkollegen untersucht hätten, die Aufträge der Regierung Roosevelt im Office of War Information oder im Office of Strategic Services übernommen hatten. Heute gibt es dergleichen, wie etwa die Kommissionen, die über die Beziehungen zwischen Sozialwissenschaftlern und dem FBI oder dem CIA diskutieren.

145 Im Augenblick hat sich die Kontroverse über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik auf eine Reihe von Ersatzdiskussionen über die Legitimität des Vietnamkrieges, über das Selbstbestimmungsrecht in Lateinamerika oder den Aufruhr in amerikanischen Ghettos verlagert. Da die Sozialwissenschaftler nicht in der Lage sind, solche Fragen direkt anzugehen und auch gar nicht fähig sind, Pläne für zukünftige Entschärfung solcher weltweiten und nationalen Probleme zu entwerfen, überschätzen sie die Bedeutung organisationsinterner Auseinandersetzungen. Professionelle Vereinigungen beschäftigen sich mit geringem Risiko und wahrscheinlich ohne großen Nutzen damit, zentrale soziale Belange mimetisch zu reproduzieren. Ersatzpolitik ist ein Bestandteil der Innenpolitik. Das Problem der Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik ist in der Tat eine Frage der Ersatzpolitik. Untersuchungen über das Verhältnis von Sozialwissenschaftlern und Politikern wurden durch einen verbreiteten unterschwelligen moralischen Umschwung zugunsten professioneller Kleinkrämerei und Rücksichtslosigkeit erzwungen. Diese Untersuchungen hätten, trotz der Schwierigkeit der Situation, vor einem Vierteljahrhundert stattfinden sollen. Aber gerade wegen des damals herrschenden Konsensus über politische Fragen glaubte man, daß die jetzt diskutierten Probleme kein Thema für einen der Wahrheit verschriebenen Sozialwissenschaftler seien.

146 Anmerkungen 1

Im Report of the Panel of Defense Social and Behavioral Sciences wurden größere Anstrengungen und mehr Mittel zur Erforschung der menschlichen Arbeitskraft in all ihren verschiedenen Formen gefordert: mehr Mittel für Organisationsforschung, Entscheidungsforschung, zur Erforschung von Interventionen im Ausland und zur Erforschung des Menschen und seiner physikalischen Umwelt. Eine Analyse dieses Berichts findet sich bei I. L. Horowitz, „Social science yogis and military commisars“, in: Trans-Action 6 (May 1968), S. 29-38.

Literaturhinweise Lasswell, H. D. „The Policy Orientation“, in: H. D. Lasswell & D. Lerner (Hrsg.): The Policy Sciences. Stanford (Calif.) 1951, S. 3-15. Pool, I. de S.: „The Necessity for Social Scientists Doing Research for Governments“, in: I. L. Horowitz (Hrsg.): The Rise and Fall of Project Camelot: Studies in the Relationship Between Social Science and Practical Politics. Cambridge (Mass.) 1967, S. 267-280. Truman, D. B.: „The Social Sciences and Public Policy“, in: Science 160 (3827) (Mai 1968), S. 508-512.

147

Gesellschaftliche Entfremdung und politische Systeme

Entfremdung in der Geschichte Trotz des unglaublichen Ausmaßes an Verwirrung über den Terminus Entfremdung – eine Verwirrung, die viele einflußreiche Wissenschaftler in Soziologie und Psychologie dazu veranlaßt hat, es überhaupt ohne diesen Ausdruck zu versuchen (zum Beispiel Berelson und Steiner, 1969; Asch, 1952; Merton u. a., 1959), setzt man sich auch einer Gefahr aus, wenn man diesen Begriff vorschnell aufgibt. Das sozialwissenschaftliche Vokabular besitzt wenig Worte, die mit ihren Implikationen für die ganze Klasse eine große Reichweite haben. Die eigentliche Verwirrung über den Ausdruck Entfremdung stellt gewissermaßen ein direktes, wenn auch schmerzliches Zeugnis für die begriffliche Komplikation dar, die als eine Folgeerscheinung der autonomen Entwick1ung der Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften aufgetreten ist. Das Schwergewicht, das auf solche Worte wie Anomie, Aggression, Intuition, Instinkt und jetzt Entfremdung gelegt wird, stellt eine Belastung dar, der man besser durch eine Klärung des Begriffes begegnet und nicht durch ein Drängen, diesen Begriff vorschnell fallenzulassen, entweder mit der Begründung, daß jedes Wort, auf das viele verschiedene Definitionen zutreffen, bedeutungslos ist, oder zu dem Zweck, die formale Symmetrie zu bewahren, was sich ebenso verkehrt auswirkt. Das Problem bei der Anwendung der Entfremdung besteht wie bei vielen anderen theoretischen Streitfragen in seiner Gebundenheit an die philosophischen Unklarheiten des deutschen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. Innerhalb der deutschen philosophischen Quellen waren die gegenwärtigen Schismen und die Polarisierung der Bedeutungen dieses Wortes angelegt. Hegel argumentierte damit, daß die wahre Bedeutung der Entfremdung in der Trennung des Gegenstands der Erkenntnis vom Träger des Bewußtseins, nämlich dem Menschen liegt. Das entscheidende Mittel zur Über-

148 windung der Entfremdung besteht für Hegel im philosophischen Verstehen, in der Umarmung der rationalen Welt. Als ob das Wissen von der Welt schon das Einssein mit ihr bedeutete, das ist, mit ihr identifiziert zu werden. Vernünftig zu sein ist für Hegel dasselbe wie im Frieden zu leben. Bei dieser Problemstellung war die Gleichsetzung von Wirklichkeit und Rationalität die Lösung des Problems der philosophischen Entfremdung, und so war die Reduzierung der Vernunft auf Vernünftigkeit die Lösung des Problems der praktischen Entfremdung. In der Philosophie von Ludwig Feuerbach taucht die Entfremdung als ein anthropologisches Problem auf. Das Wort Anthropologie wurde als Surrogat für Psychologie verwendet, da Feuerbach die Anthropologie in einem exakten empirischen Sinn weder kannte noch, wirklich zu schätzen wußte. Feuerbach betrachtete das Problem der Entfremdung als eine Trennung oder ein Abspalten vom menschlichen Bewußtsein – ein Teil des Menschen wird (eigentlich) in die materielle Welt und der andere Teil in die Welt Gottes verlegt, in die projizierte ideale Welt. Der Dualismus bei Feuerbach ist in Wirklichkeit platonischer Natur. Der elende und verkommene Zustand der materiellen Welt läßt eine Reihe von Projektionen über eine geistige Welt der Perfektion entstehen. Solange diese beiden Welten getrennt sind, kann es für das Problem der Entfremdung keine Lösung geben. Es wäre Marx schlecht damit gedient, würde man seinen Entfremdungsbegriff in einen streng philosophischen Rahmen pressen, weil Marx auf der Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen Lösung des Problems beharrte, das bisher als ein metaphysisches oder humanistisches Dilemma betrachtet worden war. Marx selbst führte den klaren und entschiedenen Bruch mit der philosophischen Tradition zur Erklärung der Entfremdung herbei. Die Entfremdung war von nun an keine Eigenschaft mehr des Menschen oder der Vernunft, sondern wurde zu einer spezifischen Eigenschaft auserwählter Klassen von Menschen, die unter den Bedingungen einer Fabrik leben und die als Folge dieser Bedingungen ihrer leeren universalen Anwendung beraubt wurden. Der Kontext der Arbeit, in den die Entfremdung damit gestellt wurde, ist selbst ein wissenschaftlicher Bruch mit der Romantik – dieser Bruch erhielt durch die politische Revolution von unten sein Fundament und seine Bestätigung. Das Wort Entfremdung meint eine tiefreichende Trennung – von den Objekten der Welt, von anderen Menschen und von Vorstellungen über die

149 Welt, wie sie von anderen Menschen vertreten werden. Man kann als Synonym für Entfremdung Separation einsetzen, während das genaue Antonym Integration hieße. Die Hauptschwierigkeit bei philosophischen Traditionen liegt in der Voraussetzung, daß jene Menschen, die als entfremdet gelten, einen Mangel besitzen und sie integriert werden sollten. Sowohl Hegel als auch Feuerbach schreiben der Entfremdung und der Integration einen therapeutischen Wert zu, zum eindeutigen Nachteil des ersten und klaren Vorteil des zweiten Begriffes. Auf diese Weise gewinnen wir die Phrase, wo der Ausdruck entfremdet von irgendwie dem Ausdruck integriert in gegenübergestellt wird. Dieser mystische Glaube an eine organische Verbindung fand unverändert Eingang in das Werk von Hegel und Feuerbach, wobei diese mystische, organische Einheit für Hegel der Mensch als Idee und für Feuerbach die Idee als Mensch ist. Im selben Ausmaß, wie man die Entfremdung als einen negativen Begriff beurteilte, betrachtete man die philosophische Methode, als abstrakt und von der Warte psychologischer und soziologischer Fakten aus als unzuverlässig und ungesichert. Der wirklich entscheidende Bruch hat sich daher mit Marx vollzogen und betrifft die moderne Verwendung des Begriffs Entfremdung, wo sich stark das entschlossene Bemühen herauskristallisiert hat, zwischen Therapie und Beschreibung und zwischen Empfehlungen und Aktionen zu unterscheiden. Ein Autor aus jüngerer Zeit, nämlich Istvan Meszaros (1970, S.63-64), hat diese Frage noch in einem etwas groben Raster, aber sehr treffend dargestellt: „Der entscheidende Zug an Marx’ Entfremdungstheorie ist die Versicherung der historisch notwendigen Überwindung des Kapitalismus durch einen Sozialismus, der von allen abstrakten moralischen Postulaten frei ist, die wir in den Schriften der unmittelbaren Vorläufer finden. Der eigentliche Grund dieser Versicherung war nicht einfach die Erkenntnis von den unerträglichen und dehumanisierenden Wirkungen der Entfremdung – obwohl diese Erkenntnis subjektiv in der Gestaltung seines Denkens bei Marx eine ganz bedeutende Rolle spielte – sondern das tiefe Verständnis für die objektiven ontologischen Grundlagen der Prozesse, wovon seine Vorgänger nicht den Schleier gelüftet haben ... Die historische Neuheit der von Marx vertretenen Entfremdungstheorie kann verglichen

150 mit den Konzeptionen seiner Vorgänger vorläufig folgendermaßen zusammengefaßt werden: (1) Die Bezugsgrößen seiner Theorie sind nicht die Kategorien des Sollens, sondern die Kategorien der Notwendigkeit (des Ist), die den objektiven ontologischen Grundlagen des menschlichen Lebens innewohnen; (2) sein Standpunkt ist nicht die Anschauung irgendeiner utopischen Partialität, sondern die Universalität des kritischen Standpunktes der Arbeiterschaft; (3) der Rahmen der Kritik wird nicht durch eine abstrakte (hegelianische) spekulative Totalität abgesteckt, sondern durch die konkrete Totalität einer dynamisch sich entwickelnden Gesellschaft von der materiellen Basis des Proletariats als einer notwendigerweise selbsttranszendendierenden (universalen) historischen Kraft aus betrachtet.“

Selbst wenn die Marxsche Entfremdungstheorie der Sprache und der Ausdrucksweise nach gezwungen und archaisch klingt, wirkt sie der Substanz nach doch ziemlich klar und sinnvoll. In der dialektischen Methode herrschte allgemein der Glaube, daß die Entfremdung zwar ontologisch und logisch gesehen nicht besser und nicht schlechter ist als die Integration (weil beide Lehren positiven oder negativen Zielen dienen können), im wirklichen Leben der Menschen aber eine Flamme für sozialen Wandel und politische Befreiung entzündet. Die Entfremdung ist eine Triebfeder der Revolution, die Integration ein vorübergehendes Gleichgewicht, woraus sich wieder in neuer Gestalt eine Trennung vom Hauptstrom vollzieht – das heißt neue Formen der Entfremdung entstehen.

Die Kategorien der Entfremdung Greifen wir jetzt drei Grundkategorien des Begriffes „Entfremdung“ heraus. An erster Stelle betrachten wir die psychologische Bedeutung der Entfremdung. Vielleicht die klassische Definition stammt von Fromm (1967, S. 109-110): „Mit Entfremdung ist eine Erlebnisweise gemeint, wodurch der Mensch sich selbst als Fremder empfindet. Er ist, so könnte man sagen, sich selbst entfremdet.“ Man muß hier die Tatsache vermerken, daß Fromm sehr stark den Marxschen Begriff modifiziert. Er stellt eine Definition auf, wo er „Produktionsweise“ einfach in eine „Erlebnisweise“ um-

151 kehrt, während der Arbeiterproletarier von Marx direkt in die abstrakte Person Hegels rückverwandelt wird. Aus seinem Werk geht klar hervor, daß er sich nicht um einen psychologischen Zugang zur Entfremdung bemüht, sondern auch die alten Kategorien der deutschen Romantik mit neuer Kraft beleben möchte. In der Literatur wird die Entfremdung oft als psychologisches Surrogat verwendet. Man nimmt sie nicht als ein Phänomen der Trennung, sondern stattdessen als ein Phänomen der Negation oder sogar als „-losigkeit“ – das heißt als ein Suffix, dem man solche Worte wie „Macht-Losigkeit“, „Norm-Losigkeit“ oder „Bedeutungs-Losigkeit“ voranstellt. Durch dieses Verfahren wird die Entfremdung entweder Teil eines größeren Sektors in der Literatur über die Anomie oder verdrängt umgekehrt die Anomie. Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese Definition der Entfremdung als Negation zwischen verschiedenen Formen der Negation keine Verbindung herstellt. Darüber hinaus neigt die Entfremdung als Anomie dazu, das Gesellschaftssystem unter der Voraussetzung der Rationalität zu beschreiben: Ein System mit, Macht, Normen und Sinngehalten im Gegensatz zum Persönlichkeitssystem oder einem System, das keinen Zustand der Rationalität darstellt (Seeman, 1964). Die psychologische Definition der Entfremdung wird dort, wo sie am intensivsten behandelt wird, mit Ideologie verbunden. Von da aus wird wiederum eine Verbindung zu der Art und Weise hergestellt, wie die Intellektuellen ihre Rolle in einer gesellschaftlichen Welt sehen. „Die Denker finden zum Großteil in der Gegenwart gerade bei jenen Ideologien einen Zustand der Entfremdung, die verkünden, daß sie mit hoher Zuverlässigkeit das Verhalten der Menschen voraussagen. Die Intellektuellen besonders sehen sich selbst in einer Welt des gesellschaftlichen Determinismus entfremdet. Sie sehnen sich nach einer Welt, wo der Grad gesellschaftlicher Voraussagbarkeit niedrig ist.“ Nach der Konzeption Feuers (1963) stellt sich die Entfremdung als wesentlich positiver heraus als in jeder anderen Theorie, wenn man ihre möglichen Auswirkungen betrachtet. Bei Feuer müßte jemand eigentlich eher die Integration und nicht die Entfremdung überwinden, um zur wissenschaftlichen Wahrheit zu gelangen. Die Integration soll in dieser Konzeption gerade diese Art von Normlosigkeit bedeuten, die für eine Identifikation von Entwurzelung und maschinengleichem Verhalten kennzeichnend ist. Feuer stellt daher einen Prototyp dafür

152 dar, was in der literarischen Tradition von Zamyatin, Huxley und Orwell als der entfremdete Mensch als Antiutopist erscheint – ein gesellschaftlicher Realist. Der wichtigste Beitrag der psychologischen Schule der Entfremdung war der Beweis der Universalität dieses Begriffes, seiner Zusammenhänge sowohl mit der Persönlichkeitsstruktur als auch mit der Gesellschaftsstruktur, weshalb er also in den sozialistischen Gesellschaften geradeso vorhanden ist wie kapitalistischen Gesellschaften (Schaff, 1964). Die psychologische Schule vertritt die Ansicht, daß die Grundlage, das Reservoir an Nichtpartizipation am Gesellschaftssystem (oder sogar die Weigerung, an diesem System mitzuwirken) sich konstruktiv und destruktiv auswirken kann. Die Entfremdung steht so betrachtet der Abweichung näher als der Desorganisation. Sie ist eigentlich nicht so sehr ein Synonym für Neurosen oder Psychosen, sondern mehr ein Begriff der Marginalität, der bewußt oder unbewußt vertreten wird. Das Problem der Entfremdung entspringt weniger einer aktiven Mißachtung der Normen, sondern mehr der Tatsache, daß diese Normen nicht genau und adäquat erfaßt werden. Die soziologische Tradition kann eine Folge dieser Unterscheidung zwischen psychischer und gesellschaftlicher Desorganisation sein. Man greift eine ganze Reihe neuer Variablen auf. Marx selbst gibt in dieser Richtung den Ton an, weil man die Entfremdung als die spezifische Antwort des Arbeiters auf die Äußerlichkeit des von ihm erzeugten Produkts betrachtete. Sie war in Wirklichkeit eine Erscheinung der Klasse. „Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, das heißt nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physik abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung. Endlich erscheint die Äußerlichkeit

153 der Arbeit für den Arbeiter darin, daß sie nicht sein eigen, sondern eines andern ist, daß sie ihm nicht gehört, daß er in ihr nicht sich selbst, sondern einem andern angehört. Wie in der Religion, die Selbsttätigkeit der menschlichen Phantasie, des menschlichen Hirns und des menschlichen Herzens unabhängig vom Individuum, d. h. als eine fremde, göttliche oder teuflische Tätigkeit, auf es wirkt, so ist die Tätigkeit des Arbeiters nicht seine Selbsttätigkeit. Sie gehört einem andren, sie ist der Verlust seiner selbst.“ (Marx, 1968, S. 514)

Hatte Marx einmal die Büchse der Pandora für die Ortung der Entfremdung im gesellschaftlichen Kontext und über alle Kulturen hinweg geöffnet, war es nur mehr eine Frage der Zeit, bis andere die Entfremdung in gesellschaftlichen Sektoren sehen, die sich von denen, womit sich Marx auseinandergesetzt hat, unterscheiden. Die Entfremdung wird daher in einer modernen Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich bei C. Wright Mills, als eine Erscheinung der unteren Mittelklasse verstanden, die sich auf Verkäuferinnen, Techniker und sogar Intellektuelle ähnlich verderblich auswirkt. Mills (1951, S. 182-188) stellt damit nicht nur die Verbindung zwischen den Klassen her, sondern ermöglicht damit, – und das ist wesentlich wichtiger, die Entfremdung als ein Problem für alle nichtherrschenden Klassen und nicht nur des in der Fabrik verwurzelten städtischen Proletariats zu betrachten. „Im gewohnten Ablauf ihrer Arbeit wird eine Verkäuferin sich selbst entfremdet, weil ihre Persönlichkeit zum Instrument eines fremden Zweckes verwendet wird. Die Menschen entfremden sich einander, weil jeder insgeheim aus dem anderen ein Instrument machen möchte, und mit der Zeit baut sich ein vollkommener Kreis auf: Ein Mensch macht aus sich selbst ein Instrument und entfremdet sich selbst davon“ (Mills, 1951, S. 220). In letzter Zeit erlebten wir die Entfremdung als ein spezifisch künstliches Problem, das mehr mit dem Vertrieb von Ideen als mit der Produktion von Waren zusammenhängt. Die Entfremdung wird in diesem Sinn mit verschiedenen funktionalen Voraussetzungen ausgestattet. Moravia (1965) hat klar zwischen der Entfremdung des Arbeiters und der Entfremdung des Künstlers unterschieden. Er liefert uns eine genaue Beschreibung der qualitativ unterschiedlichen Vorstellungen von Entfremdung, wie sie sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren entwickeln. Diese Methode versucht die Entfremdung mit den spezifischen Formen geleisteter Arbeit in

154 Verbindung zu bringen, wodurch eher der Begriff der Entfremdung und nicht der Begriff der Schichtung aufgesplittert wird. Die gängige Anschauung in der Soziologie sieht die Entfremdung als einen in sich geschlossenen Begriff und verlegt die Unterschiede in das Schichtungssystem. Bei Moravia finden wir im Gegenteil den einzigartigen Fall eines Schichtungssystems, woraus verschiedene Formen von Entfremdung hervorbrechen. Damit verfügen wir über eine soziologische Vorstellung von der Entfremdung, die weiter fortgeschritten ist als alle bisher erwähnten Konzeptionen: „Zwischen der Entfremdung des Arbeiters und der Entfremdung des Künstlers gibt es keine Beziehung. Der Arbeiter ist entfremdet, weil er in der Marktwirtschaft auch nur ein Stück Ware ist und als solches seines Mehrwerts beraubt ist oder jener Eigenschaft, die seinen Wert als Mensch vorstellt, während der Künstler ein Objekt hervorbringt, das keinen Markt besitzt (oder wenn ein Markt dafür vorhanden ist, untersteht er nicht den sonst für einen Markt üblichen Bedürfnissen und Nachfragen) und keinen wirklichen Preis in Geld – oder einen anderen Wert. Der Preis seiner Arbeit besteht für den Künstler im Schaffungsprozeß. Mit anderen Worten, wenn er sein Buch dem Verleger aushändigt, oder seine Musik dem Dirigenten oder sein Bild einem Kunsthändler, dann ist der Künstler bereits bezahlt worden und alles, was er danach erhält, ist eine Zulage. Die Entfremdung eines Künstlers besteht daher darin, daß er völlig oder zum Teil daran gehindert wird, sich auszudrücken oder darin, daß seine wahre Beziehung zur Gesellschaft unterdrückt wird.“ (Moravia, 1965, S. 66).

Die dritte allgemeine Variante der Entfremdungstheorie betrachtet grundsätzlich die Entfremdung als einen Teil des allgemeinen kulturellen Milieus. Innerhalb dieses Bezugsrahmens spricht man von der nationalen Prägung der Ideologie, das heißt, von der amerikanischen Ideologie, der Sowjetideologie und so fort. Marx hingegen hat in seiner Auseinandersetzung mit der deutschen Ideologie dieses Phänomen so verstanden, als ob es eine Widerspiegelung der herrschenden Klasse wäre und die Ideologie über die allgemeine Gesellschaft zu allen Zeiten verteilt ist. Der neuere pluralistische Ansatz betont vor allem die Massenkultur. Von Boorstin stammt eine besonders interessante Variante zu dieser Methode (1964, S. 10):

155 „Wir erwarten alles und nichts. Wir erwarten Unmögliches. Wir erwarten Wagen, die wenig Platz einnehmen, aber doch innen geräumig sind und Luxuswagen, die sich im Verbrauch als billig erweisen. Wir erwarten, reich und wohltätig, mächtig und barmherzig, aktiv und reflektiv, freundlich und kämpferisch, veranlagt zu sein. Wir erwarten, trotz mittelmäßiger Fähigkeiten zu etwas Besonderem inspiriert zu werden, und trotz mangelnden Wissensdurstes gebildet zu sein. Wir erwarten, alles essen zu können und doch schlank zu bleiben, ständig unterwegs und doch in vertrauter Umgebung zu sein, in eine ,Kirche unserer Wahl’ gehen zu können und doch eine schützende Macht über uns zu spüren, Gott zu verehren und selbst Gott zu sein. Niemals hat sich jedoch ein Volk so enttäuscht und betrogen gefühlt. Denn niemals hat ein Volk soviel mehr erwartet als die Welt bieten kann.“

Der kulturalistische Ansatz kritisiert die Entfremdung als einen Status ebenso heftig wie alle anderen Methoden. Auch an dem eben zitierten Absatz kann man erkennen, wie streng ihre Kritik ist. Besonders neu und interessant ist die Annahme, daß es so etwas wie einen „nationalen Charakter“ gibt, wovon sich der Begriff der Entfremdung herleitet. Die Schule der Massenkultur stellt auf ihrem Höhepunkt mit Leuten wie Dwight Macdonald und David Riesman (1964) eine interessante Verbindung zwischen psychologischen und soziologischen Methodenansätzen dar. Die Entfremdung wird zu einer Diskrepanz, ja einer meßbaren Diskrepanz zwischen Leistungen und Erwartungen. Auf der allgemeinen soziokulturellen Ebene ist sie eine Diskrepanz zwischen nationalen Forderungen oder nationalen Zielen und individuellen Forderungen nach einer Erweiterung von Autonomie und Pluralismus. Eine endgültige Fassung dieser kulturellen Denkrichtung ist die Tradition der Entfremdung als religiöses Phänomen, besonders die Entfremdung als eigenes Merkmal von religiösen Randgruppen. Diese Ansicht wird zum Beispiel von Karl Barth, Paul Tillich und Martin Buber vertreten und knüpft stark an Feuerbach an. Berichte über den gegenwärtigen Status der Juden in Amerika dienen zur Illustration. Isaac Rosenfeld drückte das einmal damit aus, daß „die Juden Spezialisten der Entfremdung“ sind. Sie sind einer Diaspora entfremdet, einem Erlösergott und dem Nationalismus als solchem entfremdet (Malin, 1964; als frühere Arbeit siehe Dubnow, 1961). Die Entfremdung als eine authentische religiöse Ausdrucksweise wurde natürlich in allen westlichen Religionen zu einem wichtigen Thema.

156 Diese Beurteilung der Entfremdung als eines Randphänomens hat sehr viel mit der soziologischen Betrachtungsweise gemeinsam. Man kann eine Synthese erahnen, die sich in den gegenwärtigen Erwartungen der Entfremdung abzeichnet: eine systematische Verbindung zwischen psychologischen Zuständen, soziologischen Klassen und Kulturformen. Es gibt noch eine vierte und abschließende Möglichkeit, den Entfremdungsbegriff zu fassen. Diese Anschauung hat nicht sehr viele Anhänger, bietet aber interessante Möglichkeiten, weil sie eine Verbindung zwischen den im wesentlichen persönlichen Definitionen dieses Begriffes und den umfassenderen makroskopischen politischen Interessen herstellt. Die Entfremdung steht als ein politischer Begriff mit einer Erweiterung oder einer Verringerung der Partizipation an der polis in Beziehung. Ist die Entfremdung weitverbreitet, so spiegelt sich diese Entwicklung im gesellschaftlichen und politischen Leben einer Gruppe wider, wenn ihnen die nationalen Ziele und kulturellen Symbole fremd werden, eben weil es keine Verfahren zur Partizipation gibt, die in ihnen das Verantwortungsgefühl oder die Verbundenheit mit wuchtigen Zielen der nationalen Politik weckten. Die Entfremdung ist dieser Bedeutung nach genauso ein Stück der alten griechischen und auch der romantischen deutschen Tradition. Der Abstand ist vielleicht nicht so groß wie er auf den ersten Blick erscheint, denn beide Traditionen gehen von der vollkommenen Unterwerfung der Masse unter ihre Führer und Symbole aus oder unter jene Phänomene, die außerhalb ihrer selbst liegen. Die weniger historizistische, sondern mehr empirische Richtung geht einfach von der Vermutung aus, daß die Entfremdung den Zusammenbruch der alten Gesellschaftsstrukturen darstellt, der von einer ineffizienten Gestaltung neuer Muster begleitet ist, die Unklarheit und Verwirrung stiften und in weiten Kreisen ein Gefühl der Verachtung und der Ablehnung nähren. Die Summe dieser neuen Strukturen wird dann als Entfremdung bezeichnet. Die politische Einordnung der Entfremdung verweist im allgemeinen auf die individualistischen Strömungen in der Geschichte – die eigentliche Bürde und Last, die einer Gruppe von Menschen auferlegt wird, die sich gerade aus dem Stammesdasein und dem Tutelarsystem oder der Sicherheit einer starren Klassenhierarchie, die unter dem Schutz des göttlichen Rechts steht, gelöst hat.

157 Die Entfremdung taucht dann in einer individualisierten Umwelt auf, sie ist die Folge eines politischen oder persönlichen Versagens, nämlich die Spannung zu lösen, die die Autonomie als Ideal erzeugt. Eine neue sinnvolle Identität wird daher mit einem verantwortungsbewußten Selbstmanagement, der privaten Sphäre des Menschen und der Autonomie der Staaten in Verbindung gebracht. Die Überwindung der Entfremdung in ihrem politischen Kontext kennzeichnet im Endeffekt eine freiheitliche Politik, die unter dem Schutz einer rationalen Regierung steht, unter deren Leitung die Menschen imstande sind, zumindest an der Gestaltung und Lenkung ihrer politischen Umwelt mitzuwirken. Die Entfremdung durchdringt das gesellschaftliche Denken, wenn individualistische Werte in die politische Kultur eindringen – in eine Kultur, wo die Idealisierung des freien Individuums in einer freien Nation und die praktischen Voraussetzungen für solche Verhältnisse durch ein politisches Organ frustriert werden, das vom ruhigen Verhalten der Bevölkerung abhängig ist und auch davon, daß dem Bürger die Verantwortung für die Gestaltung seines eigenen Lebens und seine Rechte für politische Mitarbeit genommen werden. Die Entfremdung verstärkt sich daher nur, wenn die Freiheit des Individuums zuerst idealisiert und darauf frustriert wird. Die Folgen, die auf die Entfremdung zutreffen sollen, fallen natürlich weg, wenn die individuelle Freiheit innerhalb der nationalen Politik verwirklicht wird. Der Standort des Problems hat sich jetzt ganz entschieden verlagert. Das Problem besteht jetzt nicht mehr in einer Vereinigung von psychologischen mit soziologischen kulturellen Techniken. Die Untersuchung der Entfremdung wird nun mit einer Unterscheidung zwischen zwei Verfahren der Analyse, einem formalen und einem deskriptiven, konfrontiert. Das formale System betont gewöhnlich die Grundkategorien, wie sie etwa Seeman in seiner Arbeit aufstellt, oder die operationalisierten Definitionen, die sich auch für Umfragen eignen, beispielsweise die von Nettler (1957) aufgestellten Definitionen. Die deskriptive Analyse betont mehr die Schwächen der psychologischen Methode, indem sie darauf verweist, daß die formalen Analyseverfahren unverändert ad hoc angewendet werden. Es findet sich bei Ihnen jedoch kaum ein Hinweis darauf, wie die Arten der Entfremdung und die aufgestellten Modelle untereinander zusammenhängen und warum man sie auf drei, vier oder fünf an der Zahl einschränken sollte. Die deskriptiven Verfahren stellen die Entfremdung meistens in den Kontext ei-

158 ner Problemlösung. Es bereitet ihnen große Schwierigkeiten, die Beziehung der Entfremdung zur Abweichung, Marginalität und Kreativität und so weiter herzustellen. Es kommt Ihnen aber zugute, daß sie mehr mit empirischen als mit logischen Modalitäten in Zusammenhang gebracht werden (Scott, 1964). Dieser Standpunkt kann leicht einfach die sozialwissenschaftliche Reaktion auf die aktuelle Debatte über die analytische und synthetische Art der Argumentation sein. Wie auch immer es ist, die Literatur über die Entfremdung hat sicherlich im Entstehen der modernen Sozialwissenschaft eine außerordentlich bedeutsame Frage aufgegriffen. Sobald man den Terminus Entfremdung angemessen seinen verschiedenen Bedeutungen und den Ebenen nach, auf denen er zur Anwendung kommt, versteht, können die Sozialwissenschaftler eher die Entfremdung als eine zentrale Variable verwenden, wenn sie über weitere charakteristische Züge an der Gesellschaftsstruktur und am Gesellschaftsprozeß diskutieren. Die Philosophie kann in diesem Sektor vielleicht klärend wirken, indem sie aufzeigt, daß die verschiedenen Verwendungen des Begriffes Entfremdung entweder synonym sind, sich überschneiden oder voneinander ganz verschieden sind. Der Philosoph kann über die Entfremdung eine Art logische oder Zeittafel entwickeln, darin besteht überhaupt die Aufgabe einer modernen Wissenschaftsphilosophie.

Asch, S. E. (1952): Social Psychology. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall. Berelson, B. und G. A. Steiner (Hrsg.): (1969): Menschliches Verhalten. Grundlegende Ergebnisse empirischer Forschung. Weinheim, u. a.: Beltz. Boorstin, D. J. (1964): Das Image oder Was wurde aus dem Amerikanischen Traum? Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Dubnow, S. (1961): Nationalism and History. New York: World. Feuer, L. (1963): „What is Alienation? The Career of a Concept.“ In: M. Stein und A. Vidich (Hrsg.): Sociology on Trial. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall. Fromm, E. (1967): Der moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische Untersuchung. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Malin, I. (1965): Jews and Americans. Carbondale, Ill.: Southern Illinois University Press. Marx, K. (1968): „Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus 1844.“ In: MarxEngels-Werke. Ergänzungsband. 1. Teil. Berlin: Dietz.

159 Merton, R. K. u. a. (Hrsg.) (1959): Sociology Today: Problems and Prospects. New York: Basic Books. Meszaros, I. (1973): Der Entfremdungsbegriff bei Marx. München: List. Mills, C. W. (1955): Menschen im Büro. Ein Beitrag zur Soziologie des Angestellten. Köln: Bund. Moravia, A. (1965): Man as an End. New York: Farrar, Straus & Giroux. Nettler, G. (1945): „A Test for the Sociology of Knowledge.“ In: American Sociological Review. Bd. 10, Nr. 3 (Juni), S. 393-399. Riesman, D. (1973): Wohlstand für wen? Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schaff, A. (1964): Marx oder Sartre. Versuch einer Philosophie des Menschen. WienStuttgart-Zürich: Europa. Scott, M. B. (1964): „The Social Sources of Alienation.“ In: I. L. Horowitz (Hrsg.): The New Sociology. New York: Oxford University Press. Seeman, M. (1964): „On the Meaning of Alienation.“ In: L. A. Coser und B. Rosenberg (Hrsg.): Sociological Theory. 2. Ausg. New York: Macmillan.

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Über den Autor aus: Who’ Who in America (Ausgabe 2005)

Irving Louis Horowitz ist Hannah Arendt-Professor emeritus der Soziologie und Politikwissenschaft von Rutgers, der Universität des Bundesstaates New Jersey, wo er seit 1969 tätig war. Er ist auch Vorsitzender des Board of Directors des Verlags Transcation-Aldine, der sich in Rutgers befindet. Davor war er von 1962 bis 1969 Professor für Soziologie an der Washington Universität in St. Louis. Er war auch Gastprofessor an den Universitäten Stanford, Wisconsin, der Queen’s University in Kanada und der Universität von Kalifornien. Er war Fulbright-Dozent in Argentinien, Israel und Indien. Einige seiner Veröffentlichungen sind: Philosophy, Science & the Sociology of Knowledge (1961, 1969); Foundations of Political Sociology (1972, 1997); Tributes: An Informal History of Social Science in the Twentieth Century (2003); Taking Lives: Genocide and State Power (2001), jetzt bereits in der fünften Auflage; und Behemoth: The History and Theory of Political Sociology (2000). Es wurde auch eine Festschrift ihm zu Ehren veröffentlicht, herausgegeben von Ray C. Rist, mit dem Titel The Democratic Imagination, erschienen 1994 zu seinem 65. Geburtstag. Er hat folgende Auszeichnungen erhalten: Distinguished Service Award for Peace and World order (Preis für ausgezeichnete Leistung für den Frieden und die Weltordnung) für The Idea of War & Peace in Contemporary Philosophy (Carnegie Corporation, 1956). Edward Bloustein Presidential Award for Distinguished Public Service (Rutgers University, 1985) (Edward Bloustein Präsidenschaftspreis für ausgezeichnete öffentlichen Dienst). Harold D. Lasswell Medal for Policy Research (Policy Studies Organization/APSA, 1995) (Harold D. Lasswell Medaille für Strategieforschung). Lifetime Achievement Award (InterUniversity Committee of Armed Forces and Society, 2000) (Preis für sein

162 Lebenswerk). The Gerhart Niemeyer Award for Distinguished Contribution to Scholarship (Intercollegiate Studies Institute, 2003) (Gerhart Niemeyer Preis für einen ausgezeichneten Beitrag zur Wissenschaft). International Academy of Humanism Award for Public Service and Science (Center for Inquiry, 2004) (Internationaler Preis der HumanismusAkademie für öffentlichen Dienst und Wissenschaft). The Thomas S. Szasz Award for Outstanding Contributions to Civil Liberties (Center for Independent Thought, 2004) (Thomas S. Szasz Preis für einen außergewöhnlichen Beitrag für die Bürgerrechte). Charles R. Lawrence Twelfth Annual Award for the Humanities (Ethyl R. Wolfe Institute, City University of New York, 2004) (12. jährlicher Charles R. Lawrence Preis der Geisteswissenschaften).