Sozial- und Gesellschaftspolitik - grundlagenbezogen diskutiert [1 ed.] 9783428503537, 9783428103539

Dem Verfasser geht es um die Weiterführung und den Ausbau einer spezifisch deutschen Linie wirtschafts- und sozialwissen

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Sozial- und Gesellschaftspolitik - grundlagenbezogen diskutiert [1 ed.]
 9783428503537, 9783428103539

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WERNER W. ENGELHARDT

und Gesellschaftspolitik grundlagenbezogen diskutiert

Sozial~

Sozialpolitische Schriften Heft 82

Sozial- und Gesellschaftspolitikgrundlagenbezogen diskutiert Von Wemer W. Engelhardt

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Engelhardt, Werner Wilhelm: Sozial- und Gesellschaftspolitik - grundlagenbezogen diskutiert I von Wemer W. Engelhardt. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Sozialpolitische Schriften ; H. 82) ISBN 3-428-10353-X

Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 2001

ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-10353-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Die nach Anregungen von Kollegen und verständnisvollen Diskussionen mit dem Verleger, Herrn Professor Dr. jur. h.c. Norbert Simon, hier in einem Band vorgelegte Wiederveröffentlichung bereits früher, hauptsächlich bei Duncker & Humblot, publizierter Texte dient vor allem der Ermöglichung eines erleichterten Zugangs und des vervollständigten Überblicks zu nichtüberholten Teilen meines recht verzweigten Oeuvres auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung der Sozial- und Gesellschaftspolitik, einschließlich deren ökonomischer und philosophisch-anthropologischer Grundlagen. Die Abhandlungen werden hier mit Ausnahme des abschließenden Teils in nur wenig veränderter Form und Gestaltung publiziert. Der als Einleitung wiederabgedruckte, hier mit Zwischenüberschriften versehene Artikel "Einige Grundfragen einer Sozialpolitik für mündige Bürger" ist allerdings den ,Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik" entnommen (vgl. Bd. 209, 1992, S. 343-355). Für die Gestattung des Wiederabdrucks sei den Herausgebern der Zeitschrift und dem Verlag Lucius & Lucius vielmals gedankt. Die als abschließender Teil gebrachte Abhandlung zur Forschung über Gustav von Schmoller ist eine gekürzte, teilweise auch umgearbeitete und ebenfalls neu mit Zwischenüberschriften versehene Arbeit, die unter dem Titel "Gustav von Schmollers Verständnis der Sozialpolitik und die Probleme von heute" zuerst in der verlagseigenen Zeitschrift "Sozialer Fortschritt" erschienen ist (siehe 45. Jg., 1996, S. 7279)1. Sie stellt den Zusammenhang zahlreicher Beiträge des Verfassers zum "Verein für Socialpolitik. Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" her, dem er seit vielen Jahren als Mitglied angehört. Trotz gravierender Veränderungen der wissenschaftlichen Schwerpunkte der Vereinigung in den letzten Jahrzehnten ist er ihr nach wie vor verbunden. Der Band ist in seinen Hauptteilen wie folgt gegliedert: Die erste Abhandlung des Teils A zum Thema "Alte und neue soziale Fragen - zu ihren begrifflichen, historischen, zeitanalytischen und systematischen 1 Zum Schmoller-Schriftturn des Verlags siehe auch das bemerkenswerte zweisprachige Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Band 5: "Gustav Schmoller e il suo tempo: Ia nascita delle scienze sociali in Gerrnania e in ltalia/Gustav Schmoller in seiner Zeit: die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien", a cura di/hrsg. von Pierangelo Schiera und Friedrich Tenbruck, Societa editrice il Mulino Bologna/Duncker & Humblot Berlin 1989.

6

Vorwort

Zusammenhängen" wurde zuerst 1978 in dem von Hans-Peter Widmaier herausgegebenen Sammelband ,,Zur Neuen Sozialen Frage" veröffentlicht (Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Bd. 95, S. 33-55). Die zweite Abhandlung dieses Teils unter der Überschrift "Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der Sicherheit, Subsidiarität und Sozialpolitik" entstammt der 1995 erschienenen Festschrift für den früher an den Universitäten Köln und Augsburg lehrenden Kollegen Heinz Lampert "Soziale Gestaltung der Marktwirtschaft", herausgegeben von Gerhard Kleinhenz (Sozialpolitische Schriften, Heft 65, S. 3-28). Die einzige, aber ungewöhnlich lange Abhandlung des Teils B "Einleitung in eine ,Entwicklungstheorie' der Sozialpolitik. Institutionelle und Lebenslage-Analysen als Grundlagen der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre" erschien erstmals 1991 in dem von Theo Thiemeyer herausgegebenen Sammelband "Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik II" (Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Bd. 205, S. 9-122). Die erste Abhandlung des Teils C unter dem Titel "Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohlkonzeption. Das ,Denken in Ordnungen', bezogen auf Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und den Sozialbereich, eine noch immer unvollkommen gelöste Aufgabe" wurde zuerst 1995 in der Gedenkschrift für meinen engen, aus Köln kommenden Kollegen Theo Thiemeyer "Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft" publiziert, herausgegeben von Lotbar F. Neumann und Frank Schulz-Nieswandt (Schriften zum Genossenschaftswesen und zur öffentlichen Wirtschaft, Bd. 34, S. 75-113). Die zweite Abhandlung dieses Teils, betitelt "Ökonomische Denktraditionen, Ökonomismus versus Ethik und die kulturellen Aufgaben der Zukunft", erschien erstmals 1998 in der Festschrift für den seine Laufbahn ebenfalls in Köln begonnenen Kollegen Siegfried Katterle. Der Band trägt die Überschrift "Ökonomie in gesellschaftlicher Verantwortung. Sozialökonomik und Gesellschaftsrefonn heute" und wurde von Wolfram Elsner, Wemer Glastetter und dem Verfasser herausgegeben (Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 481, S. 19-43). Da die praktische Sozial- und Gesellschaftspolitik und die daran anknüpfende wissenschaftliche Sozial- und Gesellschaftspolitiklehre besonders in den letzten Jahrzehnten teilweise scharf kritisiert und in Einzelfällen sogar herabgewürdigt worden ist, hat Verfasser die Hoffnung, daß die vorliegende Schrift zu einer wieder herzustellenden Versachlichung der Diskussionen beitragen möge. In Anbetracht der gegenwärtig besonders heftigen Diskussionen von Problemen der staatlichen Sozialpolitik - in gewissem Unterschied zur praktischen Sozialpolitik durch freie Träger, d.h. Betriebe, Genossenschaften, Sozialverbände usw. - mag es dabei von Vorteil sein, wenn hier der Versuch unternommen wird, Probleme dieser verschiedenen Träger von Sozial- und Gesellschaftspolitik in erster Linie grundlagenorien-

Vorwort

7

tiert und nicht, wie es berechtigterweise heute zumeist geschieht, problemund anwendungsorientiert zu erörtern. Verfasser legt seinen Argumentationen in der Regel einen sozialökonomisch-sozialkulturellen Ansatz zugrunde, den er im Rahmen einer vor allem kritizistisch und morphologisch fundierten empirisch-theoretischen Wissenschaftsposition seit langem verfolgt. Er sieht sich dabei - ungeachtet verschiedener Besonderheiten - Gerhard Weisser, Alfred Müller-Annack und dem kritisch-rationalistischen Standpunkt der Wissenschaftstheoretiker Karl R. Popper und Hans Albert nahestehend, die anstelle eines rein theoretischen, d. h. mehr entscheidungs-logischen Theorieverständnisses bekanntlich vehement für den Ausbau empirisch-theoretischer Aussagen eingetreten sind. Die Anfänge dieses Theorieverständnisses in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften liegen - soweit auch die Sozial- und Gesellschaftspolitik betroffen ist - nach dem hier zugrundegelegten dogmengeschichtlichen Verständnis bei Adam Smith, mehr aber noch bei Johann Heinrich von Thünen2 , Gustav von Schmoller, Max Weber und anderen Vertretern des deutschen Historismus, amerikanischen Institutionalismus, der personalen Anthropologie und bestimmter Teile der modernen Soziologie. Soweit in den Abhandlungen normative Standpunkte darstellend berührt oder direkt eingenommen werden, bezieht sich Verfasser trotz Einbeziehung selektierter Utopien ausschließlich auf einen "antiplatonischen Normativismus" (H. Albert), wie ihn vor allem Gerhard Weisser und sein Kreis, z. B. aber auch Reimut Jochimsen, entwickelt haben. Im Rahmen des sozialökonomisch-sozialkulturellen Ansatzes ist entgegen den Lehren der vor allem neoklassisch geprägten Mainstream-Ökonomie auch unter den Bedingungen der Globalisierung in postindustrialisierten Marktwirtschaften Raum genug sowohl für die ausgedehnte Beibehaltung und Institutionalisierung praktischer Sozial- und Gesellschaftspolitik durch den Staat und freie Träger als auch für den weiteren Ausbau einer auf dieser Praxis gründenden wissenschaftlichen Sozial- und Gesellschaftspolitiklehre. Ganz im Gegenteil läßt sich sogar sagen, daß eine solche Gesellschaftsformation nach einer solchen Politik und deren wissenschaftlicher Bearbeitung zwecks spezifischer Regulierung des Wettbewerbs und der Märkte als Voraussetzung für möglichst störungsfreie dauerhafte Abläufe marktwirtschaftliehen Handeins geradezu dringend verlangt. Verfasser war, ausgestattet mit derveniafür Wirtschaftliche Staatswissenschaften, von 1970-1990 einer der Fachvertreter für Sozialpolitik in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. 2 Vgl. dazu zuletzt Wemer Wilhelm Engelhardt, Beiträge zur Thünen-Forschung, Regensburg 2000; ders., von Thünen und die soziale Frage, 2., unveränderte Aufl., Regensburg 2000.

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Vorwort

Seit 1974 war er auch als Dozent für Sozialpolitik an der Wirtschafts- und Verwaltungsakademie Köln tätig. Das Fach Sozialpolitik ist seit der Wiederbegründung der Kölner Universität nach dem Ersten Weltkrieg durch Konrad Adenauer und der Besetzung seiner Lehrstühle durch Gelehrte vom Range eines Benedikt Schmittmann, Gerhard Weisser, Wilfrid Schreiber und Heinz Lampert im In- und Ausland keineswegs zufällig sehr angesehen. Ebenso wie das benachbarte Seminar für Genossenschaftswesen unterlag allerdings seine Arbeit in der NS-Zeit erheblichen Beeinträchtigungen und endete das Leben Schmittmanns bekanntlich 1939 im KZ Oranienburg3. Erwähnt sei auch, daß Verfasser bis zu seiner Emeritierung in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät zugleich das Fach Genassenschaftswesen vertreten hat, zuletzt neben Jürgen Zerehe und Philipp HerderDomeich. Dieses Fach ist dabei besonders den heute von vielen Praktikern der Sozialpolitik bevorzugten Problemlösungen durch freie Träger, d. h. durch eine "Sozialpolitik von unten" gewidmet. Soweit es um genossenschaftliche oder doch genossenschaftsähnliche Selbsthilfekonzepte geht, siehe vom Verfasser dazu im Verlagsprogramm von Duncker & Humblot bereits die vor drei Jahrzehnten erschienene Schrift "Der Funktionswandel der Genossenschaften in industrialisierten Marktwirtschaften" (Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 163, 1971). Vor allem siehe aber auch die oben schon erwähnte, zusammen mit Theo Thiemeyer initiierte Reihe "Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft", in der von 1980 bis zum Jahre 2000 insgesamt 36 Bände erschienen sind. Die Reihe wird inzwischen zusammen mit dem Betriebswirt Dietrich Budäus (Harnburg), den Soziologen Friedrich Fürstenberg (Bonn) und Robert Heulage (Regensburg) sowie jetzt auch dem Sozialökonomen Frank Schulz-Nieswandt (Köln) fortgeführt.

W. W. Engelhardt

3 Siehe dazu Alfred Kuhlmann, Benedikt Schmittmann (1872-1939). Leben und Werk, in: Phitipp Herder-Dorneich, Jürgen Zerehe und Werner Wilhelm Engelhardt (Hrsg.), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992, S. 21-42.

Inhaltsübersicht Einleitung Einige Grundfragen einer Sozialpolitik für mündige Bürger

17

Teil A: Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik Alte und neue soziale Fragen - Zu ihren begrifflichen, historischen, zeitanalytischen und systematischen Zusammenhängen................. . ... . 33 Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der Sicherheit, Subsidiarität und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik - Institutionelle und Lebenslage-Analysen als Grundlagen der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre... . .................. .. ...................................... . 83

Teil C: Philosophisch-Anthropologische Grundlagen der Sozial- und Gesellschaftspolitik Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohlkonzeption - Das ,,Denken in Ordnungen", bezogen auf Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und den Sozialbereich, eine noch immer unvollkommen gelöste Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Ökonomische Denktraditionen, Ökonomismus versus Ethik und die kulturellen Aufgaben der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Abschließender Teil Gustav von Schmollers Verständnis der Sozialpolitik und die Probleme von heute .......... .. ... . ..... ... . .................. .. ................. 268

Inhaltsverzeichnis Einleitung Einige Grundfragen einer Sozialpolitik für mündige Bürger . . . . . . . . . . . . . .

17

I.

Roland Vaubels politische Refonninitiati ve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II.

Sein Eintreten gegen patemalistisch-obrigkeitsstaatliche praktische und wissenschaftliche Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

III. Übersicht über wesentliche Elemente der Initiative und was dagegen eingewandt werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 IV. Normative Allgemeinverbindlichkeit des Konzepts ist wissenschaftlich nicht nachweisbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 V.

Mängel einer ausschließlichen Orientierung am Pareta-Kriterium . . . . . . . . 21

VI. Begründungsmöglichkeiten nichtökonomischer Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . 23 VII. Einschränkungen selbstverantwortlichen personalen Handeins . . . . . . . . . . . 24 VIII. Die Rolle von Führungselementen und Informationsdefiziten . . . . . . . . . . . . 25 IX. Der demokratische Rechts- und Sozialstaat als Regulator von Markt und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 X.

Gefahren des Ökonomismus in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Teil A

Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik Alte und neue soziale Fragen. Zu ihren begrifflichen, historischen, zeitanalytischen und systematischen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I.

Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zum Begriff der sozialen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Soziale Fragen in der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erneute Problematisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 36 38

II.

Akzente der neuen sozialen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I. Wilfrid Schreiber als Vorläufer .. .. .. . .. .. . .. .. . .. .. .. .. . . .. .. .. . . 40

12

Inhaltsverzeichnis 2. Heiner Geißlers Sozialengagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Umfunktionalisierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

III. Würdigungen gegenwärtiger Sozialprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grenzen individualistischer Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozial Schwache und Gefcihrdete heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu den Entstehungsbedingungen neuer sozialer Fragen . . . . . . . . . . . . . .

47 47 50 52

Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der Sicherheit, Subsidiarität und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I.

Wahrnehmungen und Mutmaßungen zum Risiko- und Sicherheitsproblem . . 56

II.

Enges und weites Verständnis der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

III. Ein Begriff der Sozialpolitik und seine Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 IV. Plädoyer für eine kritizistische Gemeinwohlkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 V.

Bemerkungen zur bisherigen Institutionalisierung der Sozialpolitik . . . . . . 72

VI. Zur künftigen Bedeutung der Sozialpolitik und der Sozialpolitiklehre . . . . 76

Teil B

Eine Theorie der Sozialpolitik Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik. Institutionelle und Lebenslage-Analysen als Grundlagen der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 I.

II.

Zum Ziel des Entwurfs und den Grenzen bisheriger Forschungen . . . . . . . . 1. Für eine empirische Institutionentheorie der Sozialpolitik dynamischer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die fünf grundsätzlich einzubeziehenden Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Abgrenzung gegenüber neoklassisch orientierten Theorien . . . . . . . 4. Von modernen Institutionenkonzepten zurück zur Einbeziehung des ursprünglichen Institutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bemerkungen zu einigen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Langfristige institutionelle Entwicklungen nach Schmoller ...........

86

103 107

Lebenslageforschungen und ihr empirisch-theoretischer Bezug . .. .. .. .. . 1. Soziale Fragen und der Lebenslagebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Etappen zur Klärung des Lebenslagebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialindikatoren zur gesellschaftspolitischen Berichterstattung .......

114 114 118 121

86 90 95 99

Inhaltsverzeichnis

13

4. Sozialpolitiklehre als Querschnittswissenschaft unter dem Lebenslageaspekt .................................... . ............. ... .. .. 124 5. Zur künftigen Relevanz der Lebenslageforschung ............. ... ... 128 6. Einige Armutsdaten aus unterschiedlichen Epochen und Ländern ... . . 130 III. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte unter dem Einfluß von Sozialpolitik ..................... .. . ................ . ... . ................ . . 1. Ein neuer umfassender Erklärungsversuch und seine Grenzen . . . . . . . . 2. Zur Sozialpolitik in Traditionellen Gesellschaften . ................ . . 3. Industriezeitliche Phasenentwicklung der Wirtschaft in Beziehung zur Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre .... . ....... . .. . .. . ........ ... . 4. Grundsätzliche und aktuelle Auswirkungen bisheriger Wirtschafts- und Sozialpolitik ............................ . ..................... . . 5. Zur Frage der prinzipiellen und pragmatischen Gegensteuerungsmöglichkeiten zu Trends der Ökonomisierung und des Ökonomismus . . . . . 6. ,.Postindustrielle" Entwicklungstrends und Ausblick auf die zukünftige Sozial- und Gesellschaftpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 135 142 152 162 169 177

Literaturverzeichnis ...... . . . . . ..... .. . ..... ... . . .. . . . . . . . ............... 181 Teil C

Philosophisch-Anthropologische Grundlagen der Sozial- und Gesellschaftspolitik Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohlkonzeption. Das ,.Denken in Ordnungen", bezogen auf Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und den Sozialbereich, eine noch immer unvollkommen gelöste Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

II.

Zu einigen Ansatzpunkten bei Autoren des Weisser-Kreises ...... ..... . . 1. Theo Thiemeyers elementare Motivlehre im Sinne einer personalen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lothar F. Neumanns Auseinandersetzung mit der "kritischen Philosophie" (dem "Kritizismus") und deren ,.regulativen Prinzipien" . .. . ... . 3. Gerhard Weissers Position bezüglich des "Denkens in Ordnungen" . . . . Einige grundsätzliche Ansichten zu Problemen der personalen Anthropologie, kritizistischen Gemeinwohlkonzeption und Ordnungstheorie im Vergleich . .. .. .... .. . ..... ........ . . . ............. . .. . ............... I. Zu den Anfangen der einbezogenen Positionen bei Immanuel Kant ... 2. Helmut Plessners Urteil bezüglich der Natur des Psychischen und Geistigen .... ............ . ......................................... 3. Das personalanthropologische Schaffen von Alfred Müller-Annack ... 4. Walter Euckens morphologisch fundiertes "Denken in Ordnungen" und Heinz Lamperts Ergänzungen bezüglich der "Sozialordnung" ........ 5. Zu Friedrich A. von Hayeks Ordnungstheorie und deren Fundamenten . .

206 206 208 210

212 212 216 218 219 224

14

Inhaltsverzeichnis 6. Fazit einiger Vergleiche der bisher vorgeführten Positionen . . . . . . . . . . 226 7. Christian Graf von Krockows Ansichten zur Politik und zur menschlichen Natur ........... . ............... .. ............... . ... . . . . 230

III. Schritte zur Ausgestaltung und Verwirklichung kritizistischer politischer Konzeptionen vom Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erneutes Plädoyer für die Anknüpfung an kleine Fortschritts- oder Gegenutopien, die sich von Ideologien unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politik in Demokratien und Politik in Diktaturen auf der Grundlage rein individualistischer Utopien im Lichte von Politik gemäß kritizistisch begrenzten individualistischen Leitvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu einer neokorporativistisch ausgebauten kritizistischen Gemeinwohlkonzeption, demonstriert an der Sozial- und Gesellschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232 232 236 239

IV. Für Ordnungspolitik jenseits von Fundamentalismus und bloßem Inkrementalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Ökonomische Denktraditionen, Ökonomismus versus Ethik und die kulturellen Aufgaben der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 245 I.

Zum ökonomismuskritischen "sozialökonornisch-sozialkulturellen" Ansatz Siegfried Katteries und der exemplarischen Bedeutung seiner Arbeiten . . . 245

II.

Die "ökonomische Tradition", im Sinne des kritischen Rationalismus von Hans Albert interpretiert, und die divergierende klassische Position Johann Heinrich von Thünens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

III. Institutionen jenseits von Angebot und Nachfrage in der Marktwirtschaft zur Bekämpfung eines Übermaßes an "Ökonornismus" . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Der "ethische Kognitivismus" des Kritizismus und John Rawls überlappende Konsensvorstellungen als weiterführende Konzeptionen . . . . . . . . . . 258 V.

Eintreten für eine erneuerte ,,kooperative Organisationskultur", unter Einbeziehung ideeller Sinngehalte der Genossenschaften und des gesamten "Dritten" bzw. "Nonprofit"-Sektors ........ . . . . . . . . . ........... ...... 263

Abschließender Teil Gustav von Schmollers Verständnis der Sozialpolitik und die Probleme von heute . . ........... . ...... .. .. .. ............ . .. .. . .... . .. ..... . ..... .. . 268 I.

Über eine Neuerscheinung in der auf Schmoller bezogenen Literatur . . . . . 268

II.

Aspekte des Schmollersehen Wissenschaftsprogramms im Anschluß an die Darstellung von Jürgen G. Backhaus ........ ... . . ................. 269 1. Verständnis des Staates und gegengewichtiger Formen der Selbsthilfe . 269 2. Analysen der Ämter und Rechtsformen der Staatsverwaltung . . . . . . . . . 270

Inhaltsverzeichnis

15

3. Interdisziplinäre Forschungsansätze und ihr Bezug auf die Volkswirtschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Rolle der Institutionen in der Wirtschaft und Gesellschaft . . . . . . . . 5. Bestandteile einer induktiven und vergleichenden Methodologie ...... 6. Technologischer Wandel als Auslöser wirtschaftlicher Entwicklung ...

271 272 273 274

III. Das wissenschaftstheoretisch und methodologisch Neuartige der sozialpolitischen Gedanken Schmollers laut Reginald Hansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Es ging um eine erfahrungswissenschaftliche Erklärung der gesamten Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eintreten für ein aktivistisches und fallibilistisches Wissenschaftsmodell jenseits des Naturrechts ............ , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bejahung der Konkurrenz und der Märkte, Ablehnung des Interventionsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Staatliche Beeinflussungen des Datenkranzes wirtschaftlichen Geschehens .................................................... .... ... IV. Unzulänglichkeiten und die trotzdem anhaltende Bedeutung von Schmollers sozialpolitischen Überlegungen . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . .. . . 1. Für einen weiten Begriff der Sozialpolitik ....... . .......... .. . .. . .. 2. Staatliche Interventionen werden nicht völlig verneint . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Interpretation von Moral und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Begründungsversuch einer Wissenschaft von der Sozialpolitik . . . . . . . . V.

275 276 277 278 279 280 281 282 283 284

Aktuelle Bezüge ...... . ... .. . .. .. .. ... ... ..... . ....... . ......... . .. 286

Einleitung Einige Grundfragen einer Sozialpolitik für mündige Bürger I. Roland Vaubels politische Reforminitiative Mit dem hier im Rahmen einer Literaturabhandlung vorzustellenden Buch 1 versucht sein Autor in knapper, aber um System bemühter und gut lesbarer Form aufzuzeigen, wie die deutsche Sozialpolitik durch Verwirklichung von "Reformvorschlägen" (S. 10) freiheitlicher, effizienter und innovativer werden kann. Roland Vaubel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, hat aber hier im Auftrag der Forschungsstelle für gesellschaftliche Entwicklungen an der Universität Mannheim zweifellos "ein politisches, kein wissenschaftliches Buch" vorgelegt, wie Hans D. Barbier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Recht dargelegt hat2 • II. Sein Eintreten gegen paternalistisch-obrigkeitsstaatliche praktische und wissenschaftliche Sozialpolitik Der Autor geht davon aus, daß es in der praktischen Sozialpolitik ursprünglich um den Schutz der Schwachen vor materieller Not ging, was er für den Anfang trotz des damaligen Obrigkeitsstaates und der patemalistischen Verhältnisse der Bismarckzeit anscheinend auch gutheißt, ungeachtet der am Patemalismus grundsätzlich geübten Kritik3 • Inzwischen werde der Begriff der Sozialpolitik aber unter voller Beibehaltung patemalistischobrigkeitsstaatlicher Züge zunehmend auf "alle" Formen staatlicher Umverteilung von den Besser- zu den Schlechterverdienenden ausgeweitet. Wenn dabei zur Begründung von Regulierungen gesagt werde, der Staat müsse die schwächeren Marktpartner vor den stärkeren schützen, stelle sich die 1 Rezension von Vaubel, Roland, Sozialpolitik für mündige Bürger: Optionen für eine Reform, Studie erstellt im Auftrag der Forschungsstelle für gesellschaftliche Entwicklungen (FGE) an der Universität Mannheim, hrsg. v. R. Wildenmann u. M. E. Streit, Baden-Baden 1990, 94 Seiten. 2 Barbier, Hans D., Und führe uns nicht in Versuchung, FAZ Nr. 246 v. 22.10.1990, s. 16. 3 Vgl. auch Vaubel, Roland, Der Mißbrauch der Sozialpolitik in Deutschland. Historischer Überblick und Politisch-Ökonomische Erklärung, in: Hamburger Jb. f. W. u. GP, 34. Jahr, 1989, S. 39--64, hier S. 41 ff. 2 Engelhanll

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Einleitung

Frage, was unter einem "schwachen Marktpartner" zu verstehen sei. Gemeint könne "nur" sein, daß es auf einem bestimmten Markt an Wettbewerb mangele (u. a. S. 9 u. 52). Zur Begründung von Umverteilungspolitik würden wissenschaftlich nicht überprüfbare religiöse Glaubenssätze, Gerechtigkeitsvorstellungen und utilitaristische Vermutungen über kollektive Nutzenmaximierung herangezogen. Der Wissenschaftler könne "daraus" abgeleitete (Um-)Verteilungsziele indes nur zur Kenntnis nehmen und fragen, ob sie auf einem breiten, nachprüfbaren und nachgeprüften "Konsens" beruhen, d. h. durch Übereinstimmung unter den Empfangern und Zahlern von Leistungen legitimiert und empirisch begründet seien4 • 111. Übersicht über wesentliche Elemente der Initiative und was dagegen eingewandt werden kann

Wenn Vaubel behauptet, daß sich Verteilungsziele letztlich "nur" aus den subjektiven Präferenzen der einzelnen Bürger ableiten lassen - worin ihm der Rezensent grundsätzlich zustimmen möchte - so bleibt freilich die lnstitutionalisierung von Sinn und damit Objektivierung von Sozialnormen, z. B. in der Verfassung unseres Staates und in vielen Sozial- und auch Wirtschaftsgesetzen, unbeachtet. Gerade auf diese Institutionalisierungs- und Objektivierungsprozesse hat aber die wissenschaftliche Sozialpolitik seit ihren Anfangen großen Wert gelegt5 • Entgegen den grundlegenden sozialwissenschaftliehen und sozialphilosophischen Klärungen von Gunnar Myrdal aus dem Jahre 1933, die in der Feststellung gipfeln, "daß nicht nur ,Zwecke' Gegenstand von Wertsetzungen sind, sondern auch ,Mittel'", d. h. daß die Mittel "nicht wertmäßig indifferent" sind6 , werden ferner von Vaubel an Ziele und Instrumente offenbar unterschiedliche Maßstäbe angelegt. Sozialpolitische Mittel bzw. Instrumente, wie z. B. 1. die Versicherungspflicht (in den verschiedenen Sozialversicherungen und im Sozialplanrecht), 4 Zu den Details einer auf Pareto und Wicksell zurückgeführten Konsens-Lösung siehe Vaubel, Roland, Der Mißbrauch, a.a.O., S. 40 u. 57. 5 Vgl. dazu zuletzt Weisser, Gerhard, Wirtschaft. Mit einer Einführung von Thiemeyer, Theo, Göttingen 1989, S. 42 ff. u. 72 ff.; Lampen, Heinz, Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Konzept der sozialen Marktwirtschaft, in: Bottke, Wilfried u. Rauscher, Anton (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, St. Ottilien 1990, S. 115-136, hier S. 121 ff. 6 Vgl. Myrdal, Gunnar, Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1965, S. 217. Siehe auch die Einführung zu dieser Ausgabe des Buches von Paul Streeten, S. 13-42, hier S. 22 ff.

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2. regulierende Schutzbestimmungen (arn Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Farnilienpolitik usw.), oder 3. explicite staatliche Transfers (Sozialhilfe, Wohngeld, im Sozialen Wohnungsbau, in der Bildungspolitik usw.) lassen sich nach Ansicht des Autors vom Wissenschaftler daraufhin beurteilen, ob sie objektiv geeignet seien, die vorausgesetzten Verteilungsziele treffsicher und kostengünstig, letzteres auch unter Vermeidung von kostenverursachenden Nebenwirkungen des Mitteleinsatzes, zu erreichen. Dem Autor geht es gestützt auf sein zweifellos wertendes Reformanliegen vor allem um normative politisch-ökonomische Antworten auf drei Fragen: 1. Schränkt der Einsatz der sozialpolitischen Instrumente die Entschei-

dungsfreiheit der Bürger unnötig ein?

2. Bewirkt er Ineffizienz, d. h. Verschwendung? 3. Stellt er eine vermeidbare Innovationsbarriere dar? (S. I 0). Wenn diese drei "Wertmaßstäbe" - die gestellten Fragen werden also nicht im Sinne einer Positiven Politischen Ökonomie aufgefaßt und zu beantworten gesucht- konsensfähig seien, sollten es nach Vaubels Ansicht auch die von ihm geschlußfolgerten Reformoptionen sein. Unter solchen Optionen versteht er hauptsächlich wiederum drei: 1. Pflichtvorsorge für eine Grundsicherung, 2. Wettbewerb unter privatwirtschaftlich orientierten Versicherungsunternehmen, 3. Risikogemäße Prämienangebote. Es würde zu weit führen, hier die einzelnen Beispiele der von Vaubel sehr kritisch analysierten bisherigen Instrumente der Sozialpolitik detailliert wiederzugeben. Auch soll darauf verzichtet werden, die schließlich im Vergleich mit dem Ausland - insbesondere den als vorbildlich betrachteten sozialpolitischen Verhältnissen der Schweiz und der USA - entwickelten reformerischen Alternativen zur mehr oder weniger als "pervers" empfundenen inländischen Verteilungswirklichkeit (vgl. besond. S. 18 ff., 31 f. u. 44 f.) im einzelnen aufzuführen. Nur das Folgende sei zu diesem neuen Generalangriff auf die herkömmliche deutsche praktische Sozialpolitik und auch auf die wissenschaftliche Sozialpolitiklehre7 noch angeführt, bevor einige grundlegende Gegenargumente zu skizzieren sind: 7 Zu früheren Attacken und der durch sie ausgelösten Diskussion siehe z.B. Gutowski, Annin u. Merk/ein, Renate, Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftliehen Ordnung, in: Hamburger Jb. f. W. u. GP, 30. Jahr, 1985, S. 49--67; Lampert, Heinz u. Bossert, Albrecht, Die soziale Marktwirtschaft - eine theoretisch

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Weder seien die seit Bismarck in Gestalt der deutschen Sozialversicherungen eingeführten gesetzlichen Monopole freiheitlich, noch seien sie effizient oder hinreichend innovativ. Aber auch die auf Wilhelm II. und die Weimarer Republik zurückreichenden sozialpolitischen Regulierungen würden nicht zu einem weitgehenden Wettbewerb unter den bestehenden Kassen und Versicherungen sowie zwischen den Anbietern von Gesundheitsleistungen (Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Pharma-Unternehmen usw.) passen. Regulierungen ließen sich überhaupt nicht mit "mündigen" Bürgern vereinbaren, wie sie nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch die politische Demokratie voraussetze. Deshalb würden die Vorschriften der Sozialpolitik auch immer mehr mit dem zunehmenden Bedürfnis nach Flexibilisierung und Individualisierung in Konflikt geraten (S. 25 u. 52). Soweit aber sozialpolitische Verteilungsziele zu bejahen seien8 , sollten diese Ziele nicht im Rahmen staatlicher Versicherungsmonopole - zu denen auch das als ineffizient eingestufte staatliche System der "Beihilfen" gerechnet wird -, sondern ausschließlich über das Steuer- und Transfersystem realisiert werden. In diesem Sinne sollte auch die Vermögensbildungspolitik betrieben werden und die Förderung der privaten Wohltätigkeit erfolgen, wobei im letzteren Falle besonders nachdrücklich auf das Beispiel der USA verwiesen wird (S. 25 ff., 65, 77 ff. u. 83 ff.). IV. Normative Allgemeinverbindlichkeit des Konzepts ist wissenschaftlich nicht nachweisbar Der Rezensent behauptet nicht, daß die vorliegende Studie nicht Erhebliches zur Revision vorhandener Gesetzesnormen und Einzelvorschriften der deutschen praktischen Sozialpolitik und zugleich zur Reformismus-Debatte des seit den beiden Historischen Schulen, der Sozialrechtlichen Schule und auch des außerdeutschen Institutionalismus von Sozialpolitikwissenschaftlern diskutierten "Prinzips" der Sozialreform9 beizutragen vermag. Daß insunzulänglich fundierte ordnungspolitische Konzeption? ebd., 32. Jahr, 1987, S. 109130; Thiemeyer, Theo (Hrsg.), Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik, Berlin 1988. 8 Bei Vaubel gestützt auf Pareto und Buchanan, in Übereinstimmung aber z.B. auch mit Friedrich A. von Hayek; vgl. von letzterem z. B. das bedeutende Werk: Recht Gesetzgebung und Freiheit, insbesond. Bd. 2, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg 1981, vor allem S. 122 f. 9 Vgl. dazu z.B. Gehrig, Hans, Die Begründung des Prinzips der Sozialrefonn, Jena 1914; Hesse, Albert, Sozialrechtliche Schule, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 576578; Boettcher, Erik (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialrefonn, Tübingen 1957; Lindenlaub, Dieter, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik, II Teile, Wiesbaden 1967; Müßiggang, Albert, Die soziale Frage in der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Tübingen 1968; Pankoke, Eckart, Sociale Bewegung -

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besondere durch Neben- und Spätwirkungen manche Sozial- und auch Wirtschaftsgesetze teilweise "aus dem Ruder" gelaufen sind und daher selbst reformierungsbedürftig sind, ist unbestreitbar. Wenn jetzt gleichwohl einige weitere Einwendungen gegen das Vaubelsche Konzept vorgetragen werden, so gegen die erkennbare grundsätzliche Stoßrichtung, die nach Ansicht des Rezensenten zu wesentliche Anliegen der bisherigen praktischen Sozialpolitik und zu wichtige Ergebnisse der Sozialpolitik als Wissenschaft ausklammert. Das Konzept erscheint dem Rezensenten trotz eher verdeckender Formulierungen - daß es sich um "objektive" Feststellungen zur Eignung von Instrumenten handele, es auf die empirische "Nachprüfung" von Konsens-Leistungen ankomme, die "Erklärung" von Entwicklungen zu leisten sei, letztlich eine "Positive" Theorie der Sozialpolitik beabsichtigt werde usw. - in der Hauptsache als ein allgemeines Werturteil, das freilich in wissenschaftlicher Sprachverkleidung und gestützt auf die angeblich allgemeingültigen Ergebnisse der paretianischen Wohlfahrtsökonomie vorgetragen wird. Weil die "Pareto-Verbesserung" allen nutzt, scheint sich Vaubel berechtigt zu sehen, seinen eigenen Satz über die lediglich "subjektiven" Präferenzen der Zielbewertungen einzelner Bürger hintanzustellen und seine politischen Wertaussagen nicht bloß als subjektive "Primärwertungen" (Th. Geiger), persönliche "Bekenntnisse" (G. Weisser), "Geschmacksurteile" (K. E. Boulding) aufzufassen, sondern für sie schlechthin Allgemeinverbindlichkeit in Anspruch zu nehmen 10• V. Mängel einer ausschließlichen Orientierung am Pareto-Kriterium Die Forderung, daß immer dann von einer Steigerung der gesamten Wohlfahrt einer Gruppe gesprochen werden solle, wenn der Nutzen mindestens eines Mitglieds ansteigt, ohne daß gleichzeitig der Nutzen eines oder mehrerer anderer Mitglieder sinkt ("Pareto-Kriterium"), geht bekanntlich von einem individualistischen Leitbild aus. Zusammen mit dem "Selbstbestimmungskriterium", daß jeweils der Betroffene selbst darüber entscheiden solle, ob eine Veränderung der wirtschaftlichen Situation für ihn auch eine (positive oder negative) Veränderung seines Nutzenniveaus ausgelöst hat, Sociale Frage - Sociale Politik, Stuttgart 1970; von Krockow, Christian Graf, Reform als politisches Prinzip, München 1976; Stadler, Markus (u. a.), lnstitutionalismus heute, Frankfurt/New York 1983. Eichner, Alfred S., Toward a New Economics. Essays in Post-Keynesian and Institutionalist Theory, London/Basingstoke 1983. 10 Hingegen hat z. B. Emil Küng darauf aufmerksam gemacht, "daß damit eine Wertprämisse gesetzt oder übernommen wird, die durchaus nicht für alle verbindlich ist"; vgl. Küng. Emil. Wirtschaft und Gerechtigkeit, Tübingen 1967, S. 16.

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bildet es den Hauptinhalt einer spezifischen Utopie, die wie jede Art utopischer Gebilde keineswegs einen unumstößlichen, sondern lediglich subjektiven Ansatz impliziert, der freilich als auslösender Faktor von Gesellschaftsund Wirtschaftsgestaltungen von großer Wichtigkeit sein kann ll. Im Laufe der Geschichte wurde - wie Bernhard Külp und Eckhard Knappe bestätigen - die Wohlfahrt einer Gruppe oder Gesellschaft auch von ganz anderen "Größen" abhängig gesehen als von der Wohlfahrt der einzelnen Mitglieder. Und auch für die Gegenwart ist es keinesfalls selbstverständlich, daß die Wohlfahrt der einzelnen Personen die "einzige" Bestimmungsgröße für die Wohlfahrt einer "Gemeinschaft", d. h. einer Gesellschaft oder eines Staates, darstellen soll. Ähnliches gelte im übrigen für die Wertprämisse des Selbstbestimmungskriteriums. So werde durchaus die Meinung vertreten, daß andere Personen darüber entscheiden sollen, was dem einzelnen zum Vor- oder Nachteil gereicht 12• Kenneth E. Soulding geht sogar soweit zu behaupten, daß man sich kaum eine unzulänglichere Beschreibung als das Pareto-Optimum vorstellen könne. Es liege offen zutage, daß unser Leben durch genau diese "Interdependenz der Nutzenfunktionen" bestimmt werde, die das Pareto-Optimum verleugne, nämlich Mißgunst (Neid) oder Wohlwollen (Sympathie) 13 • Alles bisher Gesagte betrifft aber nur die eine Seite von Vaubels Anknüpfungen an Pareto. Auf der anderen Seite dürfte entgegen Vaubels Unterstellung von einer noch "zunehmenden" Tendenz nichtparetianisch gerichteter staatlicher Verteilungspolitik heute zumindest für Deutschland nicht mehr gesprochen werden können (ebensowenig wie von einem weiter "hypertrophierenden" Staatssektor; vgl. S. 18). Der Scheitelpunkt der staatlichen Umverteilungsmaßnahmen von den Besser- zu den Schlechterverdienenden ist vermutlich bei uns, aber wohl auch in den meisten anderen Ländern mit ausgebauter staatlicher Sozialpolitik längst überschritten. Dies gilt selbst für ein Land wie Schweden, wo die Sozialdemokraten in neuester Zeit erhebliche Anstrengungen zur Konsolidierung sozialpolitischer Maßnahmen unternommen haben.

11 Siehe dazu zuletzt Engelhardt, Wemer Wilhelm, Die Funktion von Utopien in der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen, in: Wagener, Hans Jürgen (Hrsg.), Zur Evolution von Wirtschaftsordnungen, Berlin 1991 , S. 139-171. Vgl. auch bereits Giersch, Herbert, Allgemeine Wirtschaftspolitik, I. Bd., Grundlagen, Wiesbaden 1961, 102 ff. 12 Vgl. Külp, Bemhard u. Knappe, Eckhard, Wohlfahrtsökonomik I. Die Wohlfahrtskriterien, Düsseldorf 1984, S. 1-22, hier S. 13. 13 Vgl. Boulding, Kenneth E.• Ökonomie als eine Moralwissenschaft, in: Vogt, Winfried (Hrsg.). Seminar: Politische Ökonomie, Frankfurt/M. 1973, S. 112 f.

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VI. Begründungsmöglichkeiten nichtökonomischer Aussagen Nach der hier vertretenen Ansicht unterschätzt Vaubel eindeutig einerseits die Begründungs- und auch Nachweisungsmöglichkeiten nichtökonomischer Gerechtigkeitsvorstellungen, religiöser Glaubenssätze und utilitaristischer Vermutungen, wie er andererseits diejenigen der ökonomischen paretianischen Wohlfahrtstheorie und des Wieksensehen Konsens-Prinzips überschätzt. Natürlich gibt es Begründungsmöglichkeiten auch für die ersteren drei Arten von Wertprämissen, wie z. B. die neuere Theorie der Gerechtigkeit eindrucksvoll gezeigt hat 14 - wenn auch eine letzte, allgemeine Verbindlichkeit nach Ansicht des Rezensenten (und im Widerspruch zu den in der Literatur zum Teil vertretenen Auffassungen) damit für keine dieser Positionen gegeben ist 15 • Zu beachten ist aber: Dies gilt eben auch für die normative Begründung des Paretokriteriums, des Selbstbestimmungskriteriums und des Wiekseilsehen Konsens-Prinzips. Dabei ist für diese Prinzipien und speziell das letztgenannte zusätzlich die empiristische Beweisführung zurückzuweisen; beim Konsens-Prinzip außerdem die unterschiedliche Festlegung qualifizierender und ausreichender kleiner Mehrheiten bezüglich entscheidungslogischer "Optimallösungen". Konkret bedeutet dies für die vorliegenden Vorschläge Vaubels: Für Konsens-Lösungen nach der Devise: "nur wenn nicht allein die Nettoempfänger, sondern auch die Nettozahler zustimmen, ist sichergestellt, daß die Umverteilung in den Augen aller Bürger eine Verbesserung bewirkt" (S. 10), dürfte in der Bevölkerung unseres Landes mindestens zur Zeit keine hohe qualifizierte Mehrheit vorliegen. Dies dürfte um so weniger der Fall sein, als auch sonst wirtschaftsliberale politische Positionen im Parteienspektrum für sich allein in der Regel nicht mehrheitsfaltig sind 16• Daß aber für die Rücknahme staatlicher Umverteilungsmaßnahmen schon eine ,,kleine Minderheit" abstimmender mündiger Bürger genügen sol1 17, ist unverständlich; die Institutionalisierung einer solchen Regel käme nach der hier vertretenen Ansicht reiner Willkür gleich.

14 Siehe dazu z. B. Koslowski, Peter, Prinzipien der Ethischen Ökonomie, Tübingen 1988. 15 In Übereinstimmung mit Albert, Hans, Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied u. Berlin 1967, S. 148 ff. 16 Vgl. dazu Albert Jens, Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/New York 1989, S. 256 ff. u. 30 ff. Zur internationalen Entwicklung siehe z. B. Schmidt, Manfred G., Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988, S. 164 ff. 17 So Vaubel, Roland, Der Mißbrauch, a.a.O., S. 40.

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VII. Einschränkungen selbstverantwortlichen personalen Handeins Es dürfte auch eine grundsätzliche Verkennung der in geschichtlichen Prozessen herausgebildeten Aufgaben der Sozialpolitik - und zwar sowohl der staatlichen als auch der mit Sicherheit viel älteren nichtstaatlichen 18 bedeuten, allein den "mündigen" Bürger und damit die politische Spielart des ökonomisch "souveränen" Konsumenten als Empfanger sozialpolitischer Leistungen anzusprechen. An dieser Bestimmung des Adressaten dieser Politik stört das ausschließliche Festmachen des Politikzweigs und der auf ihn gerichteten wissenschaftlichen Bemühungen am historischen Spätprodukt des aufgeklärten Bürgers, vor allem aber an dessen allgemein und voll erreichter Mündigkeit. Schon Karl Pribram hat in diesem Zusammenhange den Gesichtspunkt der "Beschränkung der Selbstverantwortlichkeit" sowohl für die Konstituierung der praktischen Sozialpolitik als auch für die Errichtung eines besonderen Wissensgebiets herausgestellt, das übrigens anderen sozialwissenschaftliehen Disziplinen (insbesondere der Soziologie) quasi "übergelagert" sei. Pribram hat sogar gemeint, daß den Arbeitern in ihrer Mehrheit die volle Selbstverantwortlichkeit gar nicht "zugemutet" werden könne, auch wenn sie grundsätzlich anerkannt sei und von effektiven politischen Bestrebungen zu ihrer Einschränkung einmal abgesehen werde 19• Eine teilweise mit dieser Position verwandte Einschätzung - die dem Rezensenten vertretbarer erscheint - hat im Anschluß an die neuere Lebenslageforschung des Weisser-Kreises Gerhard Kleinhenz entwickelt. Kleinhenz argumentiert: Schon für die Möglichkeit der Existenz von Sozialpolitik sei es geradezu erforderlich, daß die mit dieser Politik erstrebten Ziele nicht gleichsam automatisch durch das unbeeinflußte Handeln der grundsätzlich als Personen selbstverantwortlich handelnden Individuen, sondern "erst durch ergänzende Steuerung der Gesamtsituation durch die (staatliche W. W. E.) Politik" verwirklicht werden könnten. Das selbstverantwortliche Handeln der Individuen allein reiche nicht, "weil bei ·Personenmehrheiten bestimmte Voraussetzungen der Lebenslage nicht gegeben sind"20• 18 Vgl. dazu Engelhardt, Wemer Wilhelm, Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Theo (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik II, Berlin 1991, S. 9-122, hier S. 63 ff. (und in diesem Band). 19 Vgl. dazu besond. Pribram, Karl, Die Sozialpolitik als theoretische Disziplin, in: Arch. f. Sozialwiss. u. Sozialp., Bd. 55, 1926, S. 600 ff.; Ders., Begriff und Aufgaben der Sozialpolitik und die Soziologie, in: Soziale Praxis u. Arch. f. Volkswohlfahrt, 1925, Sp. 80 f. 2° Kleinhenz, Gerhard: Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, S. 76 f. Vgl. auch ebd. S. 42, 56 f., 62 f. u. 70 f., wegen der intensiven Auseinandersetzung des Autors mit der Position von Pribram. Zur

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Kleinhenz tritt, gestützt auch auf Giersch, für die Einbeziehung sehr unterschiedlicher Ausgangslagen und divergierender Interessen verschiedenster Menschentypen in die wissenschaftliche Sozialpolitik ein: Solle diese Wissenschaft "in dem Schisma vom sozialen Handeln nicht von vomherein auf eine reine Entscheidungslogik festgelegt werden, so darf eine Einschränkung des Handlungsbegriffes auf bestimmte Handlungstypen bzw. bestimmte Aspekte tatsächlicher Handlungen nicht erfolgen, er muß vielmehr mit Ausnahme von unbewußtem, nur reflexhaftem Verhalten alle Arten des bewußten und sinnhaften Verhaltens umfassen"21 . Vßl. Die Rolle von Führungselementen und Informationsdefiziten

Die soeben skizzierten Gesichtspunkte von den Aufgaben der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre lassen sich auch vom Auftreten von Führungsund Hierarchieelementen sowie von Informationsdefiziten her demonstrieren, von denen selbst die beste ("echteste") politische Demokratie nicht verschont bleibt; d. h. eine Demokratie, die sich vom Bismarckschen Obrigkeitsstaat geistig und institutionell meilenweit entfernt hat. Die Schwäche (oder Stärke) von Menschen kann selbst unter solchen Ordnungsvoraussetzungen, die seit dem Rechts- und Sozialstaat von Weimar in Deutschland schrittweise durchgesetzt wurden - unterbrochen allerdings durch die Jahre der NS-Herrschaft - kaum allein an Merkmalen ihrer Stellung im Markt und Wettbewerb festgemacht werden, wie Vaubel annimmt. Insbesondere aber der heutige ausgebaute Rechts- und Sozialstaat wird in seinen Strukturen und in seinen Möglichkeiten für die aktive Einzelperson und einsatzwillige Gruppe völlig verkannt, wenn er trotz des fortdauernden Angewiesenseins auf Führung, der dadurch bedingten Hierarchien und nicht zuletzt der untilgbaren Informationsdefizite (asymmetrischen Informationsverteilungen) dem Bismarckschen Obrigkeitsstaat gleichgesetzt wird. An der Sozialpolitik und hier gerade an dem Bereich, den Vaubel und viele andere gegenwärtig etwas einseitig in den Mittelpunkt stellen, nämlich dem Gesundheitswesen, lassen sich die Mängel der Mündigkeit bzw. Souveränität der Einzelnen sowie die damit in Zusammenhang stehenden ausgleichenPosition Weissers in der Lebenslageforschung siehe u. a. Weisser, Gerhard, Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 1978, S. 275 ff., 289 ff. u. 386 ff. Siehe auch Nahnsen, lngeborg, Der systematische Ort der Sozialpolitik in den Sozialwissenschaften, in: Külp, Bemhard u. Schreiber, Wilfrid (Hrsg.), Soziale Sicherheit, Köln u. Berlin 1971, S. 94 ff.; Andretta, Gabriele, Zur konzeptionellen Standortbestimmung von Sozialpolitik als Lebenslagenpolitik, Regensburg 1991. 21 Kleinhenz, Gerhard, Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung, a. a. 0., S. 62 f. u. 76 ff. Vgl. auch Giersch, Herbert, Allgemeine Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 62 ff. u. besond. S. 67 f.

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den Merkmale des Patemalismus und der Meritorik, der im Sinne einer "Lückenbüßertheorie" (Th. Thierneyer) wirkenden öffentlichen Wirtschaft und der freien Gemeinnützigkeit, aufzeigen22• Theo Thierneyer hat in diesem Zusammenhang im Anschluß an Gerhard Weisser und weithin durchaus wiederum im Einklang auch mit Herbert Giersch darauf hingewiesen, daß der "Paternalismus" bei Wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen vorn "öffentlichen Interesse" her eine viel größere Rolle spielt, als die Verfechter des arn reinen Individualismus orientierten rationalistischen Gemeinwohlkonzepts zuzugeben bereit sind. Dabei dürfte nicht nur an Randphänornene, wie das Alkohol- und Rauschgiftproblern - die seit geraumer Zeit freilich international ständig an Bedeutung gewinnen23 -, oder an die noch nicht mündigen jungen Menschen bzw. an die an Ausfallerscheinungen leidenden älteren Mitbürger gedacht werden. An diesen und an weiteren Fallgruppen orientiere sich die praktische Politik zwar prinzipiell an den Interessen der betreffenden Individuen, aber "in Abweichung von der individualistischen Norm" (H. Giersch) nur bedingt an deren faktischen Präferenzen. Entscheidend seien vielmehr die Interessen, welche die Individuen als Konsumenten entweder im Sinne idealistischer oder kritizistischer Gerneinwohlkonzeptionen zur Vermeidung "praktischer Irrtümer" (L. Nelson) beim Gesundheitsverhalten gemäß allgerneinen Wertaussagen bzw. -urteilen haben sollten. Oder aber es gehe doch von ebenfalls kritizistischen Gerneinwohlkonzeptionen her um Ausschließung "theoretischer Irrtümer" - etwa vorn Drogenkonsum gemäß neoklassischen Annahmen ,,rationaler Sucht" (G. S. Becker) -, die bei Wahrnehmung "wohlverstandener Interessen" (G. Weisser) die Konsumenten haben würden24• Was die Individuen als Anbie22 Siehe dazu die Bochumer Habilitationsschrift von Schulz-Nieswandt, Frank, Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik. Grundfragen einer kritizistischen Lehre meritorischer Wohlfahrtspolitik, Regensburg 1992; ferner Ders., Über das Verhältnis von Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik. Sozialpolitik im System der Sozialwissenschaften (Bochumer Antrittsvorlesung), in: Z. f. Sozialreform, Jg. 37, 1991, S. 531-548. 23 Siehe dazu früh Bellebaum, Alfred u. Braun, Hans, Reader Soziale Probleme, 2 Bde., Frankfurt/New York 1974, 1. Bd., S. 1 ff. u. 165-211; 2. Bd., S. 9 ff. u. 159-179; Andreano, Ralph u. Siegfried, lohn J. (ed.), The Economics of Crime, New York/London/Sidneyfforonto 1980, besond. S. 339 ff. 24 Vgl. Thiemeyer, Theo, Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, Berlin 1970, S. 144 f. u. 183 ff., hier im Anschluß an Weisser, Gerhard, Die Unternehmensmorphologie- nur Randgebiet? In: Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 8, 1966/67, S. 19 u. 35. Siehe auch Weisser, Gerhard, Jakob Friedrich Fries als Sozialpolitiker, in: Greiß, Franz u.a. (Hrsg.), Der Mensch im sozio-ökonomischen Prozeß, Berlin 1969, S. 49-60; Ders., Beiträge zur Gesellschaftspolitik, a.a.O.; Thiemeyer, Theo, Die Überwindung des wohlfahrtsökonomischen Formalismus bei Gerhard Weisser, in: Karrenberg, Friedrich u. Albert, Hans (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 131-149; Ders., Gesundheitswesen 1: Gesund-

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ter betrifft, ist die Abweichung von der individualistischen Norm deshalb eine Tatsache, weil insbesondere "der Arzt als ,Anbieter' nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Aufgabe hat, Art und Maß der ,Nachfrage' im wesentlichen selbst zu bestimmen" (W. Schreiber)25 • Zumindest alles effiziente politische Handeln scheint nach Thiemeyer "eines gerüttelten Maßes paternalistischer Anmaßung nicht entraten zu können". Dies gelte nicht zuletzt auch für den Bereich des intertemporären Wohlfahrtsausgleichs zwischen den Generationen im Zusammenhang mit langfristigen Infrastruktur-Investitionen, d. h. mit den sozialpolitischen "Sozialinvestitionen". Gerade hier liege ein Kernpunkt "gemeinnützigen Disponierens" der öffentlichen Wirtschaft, darüber hinaus - oder alternativ - aber auch aktiv meritorisch wirkender Privatinitiativen "freigemeinwirtschaftlicher" Art. Nach der im Anschluß an Albert Schäffle und Adolph Wagner entwickelten Ansicht Thiemeyers sollen aber gemäß der Lückenbüßertheorie, die weithin mit dem Subsidiaritätsprinzip konform geht, öffentliche und freigemeinwirtschaftliche Unternehmen (Staats- bzw. Kommunalbetriebe, Genossenschaften, andere Selbsthilfeeinrichtungen usw.) bei einer entsprechend vorherrschenden politischen Meinungsbildung im Parteienspektrum nur dann und insoweit tätig sein oder werden, als andere (privatwirtschaftliche) Unternehmen die gestellten Aufgaben nicht wenigstens ebensogut erfüllen26• Unter den aktuellen Gesichtspunkten der Wirtschafts- und Sozialpolitik im wieder größer gewordenen Deutschland dürfte den Ausführungen Thiemeyers hinzugefügt werden können, daß auch im Bereich des grundgesetzlieh gebotenen interräumlichen Wohlfahrtsausgleichs27 in den östlichen heitspolitik, in: HdWW, 3. Bd., 1981, S. 576-591; Katterle, Siegfried, Sozialwissenschaft und Sozialethik, Göttingen 1972, I. Teil; Neumann, Lothar F., Verteilungspolitik im Lichte der Sozialpolitik Leonard Nelsons, in: Rebe, B. u. a. (Hrsg.), Idee und Pragmatik in der politischen Entscheidung, Bonn 1974, S. 69-80. 25 Vgl. Schreiber, Wilfrid, Zum System sozialer Sicherung, Köln 1971, S. 194 ff. 26 Thiemeyer, Theo, Gemeinwirtschaftlichkeit, a.a. O., S. 24 ff. u. 183 ff. Vgl. auch ders., Das öffentliche Interesse in der ökonomischen Theorie, in: Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 12, 1980, S. 263-281 ; Katterle, Siegfried, Wohlfahrtsökonomik und Theorie der Staatswirtschaft, in: Finanzarchiv NF, Bd. 30, 1971, S. 14 ff.; Mackscheidt, Klaus, Zur Theorie des optimalen Budgets, Tübingen/Zürich 1973, S. 346 ff.; ders., Die Entfaltung von privater und kollektiver Initiative durch meritorische Güter, in: Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 13, 1981, S. 257-267; Gretschmann, Klaus, Steuerungsprobleme der Staatswirtschaft, Berlin 1981, S. 222 ff.; Oettle, Karl (Hrsg.), Öffentliche Güter und öffentliche Unternehmen, Baden-Baden 1984; Eichhorn, Siegtried u. Lampen, Heinz, Ziele und Aufgaben der freigemeinnützigen Krankenhäuser, Gerlingen 1988; Engelhardt, Wemer Wilhelm, Zu einer morphologischen Theorie des Wandels der Genossenschaften, in: Ders. u. Thiemeyer, Theo (Hrsg.), Genossenschaft- quo vadis? Baden-Baden 1988, S. 1-25.

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Ländern des Bundes gemeinnütziges Disponieren durch öffentliche und meritorisierende private Kräfte zugleich mit den Privatisierungs- und Stilllegungsmaßnahmen an Bedeutung gewinnen könnte. Dieser Ansicht neigt vielleicht auch Giersch zu, wenn er neuerdings darauf hinweist, daß es in wirtschaftlich offenen Regionalsystemen - wie denen in West- und Ostdeutschland - nicht schaden könne, "wenn die staatlichen und die nichtstaatlichen Instanzen, einschließlich der Tarifvertragspartner und der Kammern und Verbände, eng zusammenwirken, um Bedingungen herzustellen, die der Entwicklung förderlich sind (Regionale Konzertierte Aktionen)"28• IX. Der demokratische Rechts- und Sozialstaat als Regulator von Markt und Wettbewerb

Zusammenfassend wird gesagt werden können, daß keinesfalls nur Regulierungen durch den Markt und Wettbewerb, sondern auch solche durch den demokratischen Staat Und freie, d. h. selbständig disponierende gemeinnützige Unternehmen und Einrichtungen mit den Interessen von Konsumenten bzw. Bürgern in Deutschland im Einklang stehen. Genau so, wie es Überschätzungen des Staates - und sicherlich auch demokratischer Staatsstrukturen - möglichst zu vermeiden gilt, so im Rahmen pragmatisch-revisionistischer Politikkonzepte, die auf die Behauptung unangreifbarer Wertpositionen verzichten29, aber auch Unterschätzungen und Verketzerungen desselben, so als hätten wir in unserem Lande immer noch obrigkeitsstaatliehe Verhältnisse und wären seit langem z. B. nicht auch verbliebene Staatsunternehmen bereit, sich voll in die Bedingungen der Markt- und Wettbewerbswirtschaft einzufügen und sich ihren Anforderungen zu stellen30. Von einer "Hypertrophie des Staatssektors" sind wir jedenfalls in Deutschland inzwischen ebenso entfernt wie von einer ständig "zunehmenden" staatlichen Umverteilung von den Besser- zu den Schlechterverdienen27 Nach Art. 72 Abs. II GG, der das Ziel der "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" festhält; vgl. auch Lampert, Heinz. Die Bedeutung der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 122. 28 Giersch, Herbert, Risiken und Chancen für Ostdeutschland, in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung, 30. Jhrg., 4/1991. Siehe auch Budäus, Dietrich (Federf.), Öffentliche Unternehmen und soziale Marktwirtschaft Aktueller Handlungsbedarf im Umstrukturierungsprozeß der DDR, Berlin 1990. 29 Vgl. dazu im Anschluß an Karl R. Popper und Hans Albert z. B. Aldrup, Dieter, Das Rationalitätsproblem in der Politischen Ökonomie. Methodenkritische Lösungsansätze, Tübingen 1971, S. 93 f. 30 Dies trifft also nicht nur etwa für Renault und Volvo zu, sondern z. B. auch für die deutschen öffentlich-rechtlichen Banken. Vgl. Kirchhoff, Ulrich, Zielwandel bei öffentlichen Unternehmen, aufgezeigt am Beispiel der Banken des Bundes, Berlin 1987; Brede, Helmut (Hrsg.), Privatisierung und die Zukunft der öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden 1988.

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den; eher trifft seit geraumer Zeit das Gegenteil zu31 • Auch die Wiedervereinigung Deutschlands dürfte trotz einer zeitweisen Zunahme staatlicher Unternehmensstrukturen und steuerlicher Belastungen selbst der Besserverdienenden keine grundsätzliche Veränderung der vorherrschenden Entwicklungstendenzen erwarten lassen. Was aber die Einschätzung der Regulatoren Markt und Wettbewerb betrifft, so ist auch auf sie bezogen sowohl vor einer Unterschätzung als auch vor einer Überschätzung zu warnen. Dabei dürfte in Anbetracht teilweise euphorischer Erwartungen über die Leistungsmöglichkeiten von Markt und Wettbewerb in den neuen Bundesländern mittlerweile auch oder gerade - den Stimmen Beachtung gebühren, die die Grenzen dieser Institutionen und Instrumente betonen. Im Bereich der Sozialpolitik in den alten Bundesländern bestehen solche Grenzen nicht zuletzt in dem von Vaubel in den Mittelpunkt seiner Reformvorschläge gerückten Gesundheitsund Versicherungsbereich. Von einem "weitgehenden" Wettbewerb unter den Kassen und Versicherungen sowie den anderen Anbietern von Gesundheitsleistungen, wie den Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und PharrnaUnternehmen (S. 25), kann bislang jedenfalls nur teilweise die Rede sein. Dabei sei hier nur kurz auf die Verhältnisse bei den Kassen und den Versicherungsunternehmen eingegangen: Daß eine Privatisierung von Gesundheitskosten in jedem Falle zu mehr Effektivität und Effizienz im Gesundheitswesen beiträgt, muß laut Jens Alber in Anbetracht der Tatsache unwahrscheinlich erscheinen, daß zumindest zeitweilig der Kostenanstieg der privaten Krankenkassen über dem der gesetzlichen Krankenversicherungen lag32• Und wenn man Hans Dieter Meyer in seiner fundamentalen, freilich massiven Kritik des deutschen Versicherungswesens, insbesondere aber seiner Würdigung der undifferenzierten Prämiengestaltung der großen VersicherungsAGs und der unzulänglichen bundesaufsichtsamtliehen Überwachung dieser Unternehmen, folgen darf, so funktionieren der Markt und Wettbewerb, aber auch die Aufsicht, in dieser Branche - bisher jedenfalls besonders unzuverlässig33 •

31 Vgl. dazu z. B. Pfeiffer, Doris, Schoofs, Angela, Schütz. Joachim, Sozialstaat und Wirtschaftskrise, Köln 1985; Adamy, Wilhelm u. Steifen, Johannes, Finanzierungsprobleme des Sozialstaates in der Beschäftigungskrise, Regensburg 1990. 32 Alber, Jens, Der Sozialstaat, a. a. 0., S. 229. 33 Meyer führt diese Unzuverlässigkeit vor allem darauf zurück, daß Versicherung als letztendlich genossenschaftsartige "gegenseitige Hilfe" einer Versichertengruppe grundsätzlich nichts mit Marktwirtschaft und Wettbewerb zu tun haben könne. Anders verhalte es sich hingegen mit den Kapitalsparprozessen und den Dienstleistungen der Versicherungsuntemehmen. Vgl. Meyer, Hans Dieter, Das Versicherungs(un)wesen. Eine Branche jenseits von Recht und Wettbewerb, München 1990, S. 20 ff., 56 ff., 299 ff. u. 322 ff.

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Einleitung

X. Gefahren des Ökonomismus in der Gegenwart Wenn trotzdem an der These von der uneingeschränkten Überlegenheit der Institutionen und Regulatoren Markt und Wettbewerb festgehalten werden sollte, so läge nach der vom Rezensenten vertretenen Meinung die Vermutung des "Ökonomismus" nahe - d. h. eines Phänomens, das es wohl verdienen würde, erneut ernster genommen zu werden als es allgemein geschieht. Ökonomismus kann dabei im Anschluß an Gerhard Weisser in seiner Entstehungsweise als Steigerungsform von Ökonomisierung verstanden werden, die ihrerseits auf nichts anderem als der konsequenten Anwendung des ökonomischen Prinzips beruht. Bei systematischer Betrachtung stellt es sich freilich als etwas Selbständiges heraus, das sich seit dem vorigen Jahrhundert zu einer besonders wirksamen Ideologie und Quasi-Ontologie entwickelt hat. Im einzelnen gibt es laut Weisser groben, verfeinerten, unbewußten und durch die Wissenschaft, insbesondere die Volks- und Betriebswirtschaftslehre, geförderten Ökonomismus, der schließlich sogar die Sozialpolitik erreicht (H. Achinger: Tendenz zur "Monetarisierung")34. Was die Förderung des Ökonomismus durch die Wirtschaftswissenschaften betrifft, hat Kenneth E. Boulding bekanntlich am Beispiel von Anthony Downs ökonomischer Theorie der Demokratie vom "ökonomischen Imperialismus" gesprochen, d. h. dem Versuch der Ökonomie, "alle anderen sozialwissenschaftliehen Disziplinen zu vereinnahmen" 35 • Der Rezensent hat den Eindruck, daß auch die vorliegende Studie Vaubels einer solchen Zielsetzung zumindest nahekommt Der Autor scheint die Zeit für gekommen zu betrachten, die Sozialpolitiklehre ebenso wie die praktische Sozialpolitik rein individualistischen ökonomischen Kriterien normativ und explikativ unterzuordnen. Allerdings würde eine solche Position den von Klassikern der Nationalökonomie, ebenso von den Institutionalisten und Historisten sowie einigen Vertretern des Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft gleichermaßen betonten außerökonomischen Voraussetzungen der Wirtschaftswissenschaften nicht gerecht werden. Von den Ökonomen, die in diesem Zusammenhang Beachtung verdienen, seien hier genannt: Adam Smith, Johann Heinrich von Thünen, John Stuart Mill, Gustav von Schmoller, 34 V gl. Weisser, Gerhard, Beiträge zur Gesellschaftspolitik, a. a. 0., S. 542--601; von Ferber, Christian, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Harnburg 1967, S. 16 ff.; Widmaier, Hans Peter, Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976, S. 35 ff.; Kleinhenz, Gerhard, Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, in: Winterstein, Helmut (Hrsg.), Sozialpolitik in der Beschäftigungskrise I, Berlin 1986, S. 5181; Engelhardt, Wemer Wilhelm, Einleitung, a.a.O., S. 89 ff. 35 Boulding, Kenneth, E., Ökonomie als eine Moralwissenschaft, a. a. 0., S. 118.

Einige Grundfragen einer Sozialpolitik für mündige Bürger

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Thorstein Veblen, John R. Commons, John Maurice Clark, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack36• Richtig ist an der Ökonomistischen Sicht der Dinge nach Artbur Rieb "zweifelsohne, daß jede Bemühung, ethisch auf die Gestaltung der Wirtschaft und des Verhaltens der in ihr tätigen Menschen einzuwirken, das ökonomisch Sachgemäße zu beachten hat. Es kann im wirtschaftlichen Geschehen ethisch nie vertretbar sein, was dem Sachgemäßen schlechthin widerspricht. Allein, das besagt noch lange nicht, daß sich das zu Sollende in der Wirtschaft, welches sich in deren Zweck- oder Sinnbestimmung artikuliert, aus dem empirisch faßbaren So-Sein, metaphorisch gesprochen aus ihrer ,Natur', abzuleiten wäre. Das käme einem naturalistischen Fehlschluß gleich, der logisch widersinnig ist. Wo immer dergleichen versucht wird, da wird nämlich keineswegs , voraussetzungslos' gedacht, da werden vielmehr unter der Hand wert-, und damit sollensbestimmende Voraussetzungen eingeführt, die freilich dadurch den Anschein des Sachgemäßen erhalten, daß man sie mit dem Vernünftig-Natürlichen als dem Allgemeingültigen und Notwendigen in eins setzt'.37. "Wo immer es um das , wahre' Verständnis des wirklichen Menschen in seinen konkreten gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlichen Verhältnissen geht, sind" - schreibt Rieb des weiteren - "immer auch Interessen mit im Spiel, ist das, was sich als Objektiv-Vernünftiges präsentiert, nie absolut, nie losgelöst von interessierten und das heißt eben subjektiv engagierten 36 Aus der neueren Literatur vgl. etwa Lampert, Heinz, lohn Stuart Mill im Lichte seiner Entwicklungstheorie, in: Jahrb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. 175, 1963, S. 301-318; ders., ,,Denken in Ordnungen" als ungelöste Aufgabe, ebd., Bd. 206, 1989, 5. 446-456 (und in diesem Band); Hansen, Reginald, Der Methodenstreit in den Sozialwissenschaften zwischen Gustav Schmoller und Kar! Menger, in: Diemer, Alfred (Hrsg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, Meisenheim/Gl. 1968, S. 140 ff.; ders., Gustav Schmollerund die Sozialpolitik heute, in: Backhaus, Jürgen (Hrsg.), Gustav von Schmollers Verständnis der Sozialpolitik und die Probleme von heute, in: Sozialer Fortschritt, 45. Jg., 1996, S. 7279 (und in diesem Band); Tuchtfeldt, Egon, Die Philosophischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. Gedanken zur Weiterentwicklung der sozialen Irenik Alfred Müller-Arrnacks, in: Z. f. Wirtschaftspol., 31. Jg., 1982, S. 7-26; Kaufmann, Franz-Xaver u. Krüsselberg, Hans-Günter (Hrsg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt/New York 1974; Elsner, Wolfgang, Ökonomische Institutionenanalyse, Berlin 1986; Engelhardt, Wemer Wilhelm, Aspekte des Ausgleichs und der Relativität bei Johann Heinrich von Thünen, in: Jb. f. Sozialwiss., Bd. 37, 1986, S. 1-18; Katterle, Siegfried, Der Beitrag der institutionalistischen Ökonomik zur Wirtschaftsethik, in: Ulrich, Peter (Hrsg.), Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik, Bem 1990, S. 121-144; ders., Methodologischer Individualismus and Beyond, in: Biervert, Bemd u. Held, Martin (Hrsg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Frankfurt/New York 1991, S. 132-152. 37 Rich, Arthur, Wirtschaftsethik, Bd. II, Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Güterstob 1990, S. 15 ff., hier S. 16.

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Einleitung

Wertentscheidungen, seien es nun solche von Personen, Gruppen, Klassen usw. So kann ich es wohl als wirtschaftlich vernünftig und insofern der Natur des Menschen als angemessen betrachten, wenn im wirtschaftlichen Verhalten, wie das zumeist auch tatsächlich zutrifft, ein jeder seinen eigenen Nutzen wahren will. Nur muß ich mir darüber ganz im klaren sein, daß ich damit zugleich eine Wertentscheidung getroffen habe, die das Eigeninteresse über das Allgemeininteresse stellt, vielleicht aus der Erwartung liberaler Überzeugung heraus, daß diesem am besten gedient sei, wenn jeder seinen eigenen Vorteil suche. Und fairerweise muß ich dann auch zugestehen, daß die umgekehrte Wahl, nämlich die Präferenz des Allgemeininteresses vor dem Eigeninteresse, etwa aus der sozialistischen Überzeugung, mit der Bevorzugung des Allgemeininteresses in der Wirtschaft werde das Interesse eines jeden einzelnen am sichersten wahrgenommen, nicht als dem Prinzip der Rationalität widersprechend abgetan werden kann, nur weil es sich da offenkundig um eine Wertentscheidung handelt. Schließlich geht es in beiden Fällen um Wertungen, also um primär ethische, dann sekundär allerdings rationalisierte und mehr oder minder auch rationalisierbare Grundentscheidungen"38.

38 Rich, Anhur, Wirtschaftsethik, a. a. 0., S. 18. Welcher dieser beiden Grundentscheidungen ethisch das größere Recht zukommt, ist damit nach der zutreffenden Ansicht des Autors noch nicht ausgemacht. Dies gilt besonders dann, wenn die zahlreichen Spielarten des Sozialismus in Betracht gezogen werden. Auch nach dem Scheitern des ,,real existierenden Sozialismus" planwirtschaftlich-kommunistischer Prägung dürften ethisch und faktisch nicht zugleich ethisch begründete Varianten "demokratischen" bzw. "freiheitlichen Sozialismus" mit erledigt sein, besonders wenn sie im Sinne sozialdemokratischer Politik die soziale Marktwirtschaft anerkennen. Vgl. dazu Rich, Anhur, ebd., S. 285 ff.; Alben, Hans, Freiheit und Ordnung, Tübingen 1986, S. 68 ff. u. 97 ff.; Engelhardt, Wemer Wilhelm, Die Funktion von Utopien, a. a. 0 ., besond. S. 157 ff; Neumann, Lothar F., Marktwirtschaft von links und rechts, in: Henkel, Heinrich A. (Hrsg.), Symposium '90 Markt und Kultur, Regensburg 1991 , S. 93-104.

Teil A

Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik Alte und neue soziale Fragen Zu ihren begrifflichen, historischen, zeitanalytischen und systematischen Zusammenhängen I. Ehütihrung in die Thematik 1. Zum BegritT der sozialen Frage

Nach einer Definition des Begriffs der "sozialen Frage" aus dem vorigen Jahrhundert handelt es sich bei ihr um "den zum Bewußtsein gekommenen Widerspruch der volkswirtschaftlichen Entwicklung mit dem als Ideal vorschwebenden und im politischen Leben sich verwirklichenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß der Freiheit und Gleichheit" 1. Im Festhalten am Singular des Begriffs, der als terminus technicus "question sociale" zuerst im Französischen auftrat, und in der Akzeptierung des platonischen Ansatzes einer Orientierung an "idealer Gesellschaft" heißt es noch neuerdings, die soziale Frage sei "das Ergebnis der Nichtübereinstimmung von sozialer Idee und vorgefundener Wirklichkeit"2 oder doch "eine bedeutende Diskrepanz zwischen sozialen Standards und sozialen Abläufen"3 , die sich letztlich aus einer subjektiven Wertung und einer objektiven Feststellung erklärt4 • H. v. Scheel, Die Theorie der sozialen Frage, Jena 1871, S. 16. A. Müßiggang, Die soziale Frage in der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Tübingen 1968, S. 4. 3 So Bellebaum und Braun im Anschluß an Merton. Vgl. R. X. Merton, Social Problems and Sociological Theory, in: R. K. Merton/R. A. Nisbet (ed.), Contemporary Social Problems, 3. Aufl., New York 1971, S. 799; A. Bellebaum!H.. Braun, Soziale Probleme: Ansätze einer sozialwissenschaftliehen Perspektive, in: dies. (Hrsg.), Reader Soziale Probleme I: Empirische Befunde, Frankfurt/M. u. New York 1974, S. 1. 4 Die Zusammensetzung jedes sozialen Problems aus einem objektiven Zustand und einer subjektiven Definition betonen zuerst R. Fuller u. R. R. Myers, The Natural History of a Social Problem, in: American Sociological Review, 6. Bd. 1941, S. 320. Vgl. dazu und zu sehr unterschiedlichen Erklärungsversuchen des Explanan1

2

3 Engelhardt

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Teil A: Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik

An solchen Begriffsbestimmungen ist - ungeachtet vorhandener Mängel fruchtbar die bewußte Anknüpfung an den Einzelzielen und Mittelrelationen vorausgehende Vorverständnisse des politischen Lebens und insbesondere an Ideen, Wertvorstellungen, Utopien5, die stärker verbreitet waren und sind als es oft zunächst den Anschein hat. Nicht nur heutige "aktive" Sozialpolitik (Widmaier), sondern auch bereits die "reaktive" Sozialpolitik (Sanmann) des vorigen Jahrhunderts ist durch derartige Vorverständnisse geleitet6 . Fruchtbar ist die Anknüpfung sozialer Fragen an Vorverständnisse dabei nicht zuletzt wegen der Fruchtbarkeit utopischer Einfälle für die Praxis und deren schrittweise Veränderung. "Es ist die delikate Balance zwischen konservativem Realitätsbewußtsein und der Fähigkeit zu utopischem Denken und Handeln, die eine politische Organisation fähig macht zu überleben. Ein Defizit auf einem der beiden Pole verurteilt sie früher oder später zur Machtlosigkeit"7 • Die Ideen, Wertvorstellungen, Utopien usw. dürfen freilich, um fruchtbar zu sein, nicht im Sinne von Platons Ideenlehre oder ähnlicher Philosopheme als unverrückbare und unerreichbare Anknüpfungspunkte philosophisch letzter Art8 , sondern sie müssen als zumindest teilrealisierbare historisch letzte Gegebenheiten von Einzelpersonen interpretiert werden. Für sie gilt aber zusätzlich, daß sie meist auch Wirkungen unbeabsichtigter Art auslösen - darunter Neben- und Spätwirkungen -, die oft gleichrangig mit den Intentionen über Ziele und Mittel beachtenswert sind. In solcher Weise gebildete Begriffe erscheinen dem Verfasser zweckmäßiger als solche, die tunliehst unter Ausklammerung sozialpolitischer Handdums "soziale Probleme" in der Soziologie seither, d.h. darüber, was zu einem Zeitpunkt als soziales Problem gilt, G. Albrecht, Vorüberlegungen zu einer "Theorie sozialer Probleme", in: Ch. v. Ferber u. F.-X. Kaufmann (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik, Sonderheft l9/l977 der Kötner Z. f. Soziol. u. Sozialpsych., S. 143185 u. hier S. 146. 5 Vgl. dazu zuletzt W. W. Engelhardt, Politische Ökonomie und Utopie, in: G. Lührs u. a. (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie Il, Berlin u. Bonn/Bad Godesberg 1976, S. 201-233; U. Hommes: Brauchen wir die Utopie? Plädoyer für einen in Mißkredit geratenen Begriff, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 20177 v. 21.5.1977, S. 317. 6 Zur vorstehend angeführten Unterscheidung vgl. H. P. Widmaier, Aspekte einer aktiven Sozialpolitik. Zur politischen Ökonomie der Sozialinvestitionen, in: H. Sanmann (Hrsg.), Zur Problematik der Sozialinvestitionen, Berlin 1970, S. 9 ff.; H. Sanmann, Art. Sozialpolitik, in: W. Ehrlicher u.a. (Hrsg.), Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, 4. Aufl., Göttingen 1975, S. 201 ff. 7 R. Ch. Bartholomäi, Welche Informationen braucht die Gesellschaftspolitik? In: Transfer 1, Gleiche Chancen im Sozialstaat? Opladen 1975, S. 17. 8 Vgl. dazu etwa K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, Der Zauber Platons, Bern 1957, besond. S. 43-63.

Alte und neue soziale Fragen

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Iungen allein durch Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse oder auch nur durch Aufzeigen von Diskrepanzen zwischen technischen Standards und faktischen Abläufen gebildet werden. Entscheidend für diese Beurteilung ist dabei die Tatsache, daß zahlreiche demokratische, sozialistische und technische .,Utopien von damals" als Ausgangspunkte sozialer Fragestellungen .,Realitäten von heute" geworden sind9 . Aus diesem Grunde dürfte die Ank:nüpfung der Forschung an die sachlichen und wertenden Impulse solcher Gebilde im Prinzip zweckmäßig sein, wenn nur - von dem bereits erwähnten Verzicht auf Unverrückbares und Unerreichbares abgesehen von der Mehrzahl sozialer Fragen und der Vielzahl konstituierender Standpunkte als den spezifischen Utopien der Metaebenen der Forschung 10 ausgegangen wird. Derartige Verbindungen mit Wertrelationen machen Untersuchungen auch keineswegs notwendig selbst zu solchen normativer Art 11 • Soziale Fragen sollten im Bereich der Wissenschaft nach dem hier bevorzugten Aspekt demnach bewußt vom Subjektiv-Individuellen und vom Gruppenhaft-Objektiven her aufgerollt werden, d. h. von .,unten" und .,sozialer Bewegung", nicht vom Staat und staatlicher Sozialpolitik aus. Dies vor allem aus dem Grunde, weil sich diese Fragen in der Tat in erheblichem Umfange so gebildet haben und nicht durch staatliche Aktionen von oben her. Sozialpolitik ist auch systematisch - analog etwa der Verbraucherpolitik - nach einem vermutlich erheblich weiterführenden Begriff dieser Politik keineswegs immer staatliche (oder künftig auch überstaatliche) Politik, sondern nicht selten .,ex ante" Politik sich entwickelnder freier Träger 12• Speziell in Deutschland war der Staat zunächst gar nicht der 9 So Th. Schieder, Erneuerung des Geschichtsbewußtseins, in: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 195 f. 10 Sanmann und Ortlieb sprechen statt von unterschiedlichen Utopien nicht sehr zweckmäßig - weil zu wenig differenzierend - ausschließlich von "Leitbildern", zu denen letzterer neben "Visionen" auch die wissenschaftlichen "Ordnungsmodelle" rechnet. Diesen Modellen dürften freilich noch Aspekte (Standpunkte, Optiken usw.) als spezifische Utopien des Wissenschaftsbereichs genetisch vorgeordnet sein. An den Ausführungen des Autors ist außerdem kritisierbar, daß Leitbilder keineswegs notwendigerweise auf "optimale" Gesellschaftsordnungen gerichtet sein müssen, daß diese Ordnungen nicht unbedingt "wesentlich" vom Wirtschaftssystem determiniert sind, den Wirtschaftsordnungskonzeptionen auch nicht zwingend Züge der "Idealisierung" und der "sozialphilosophisch-ideologischen Begründung" inhärent sind. Vgl. H. Sanmann, Leitbilder und Zielsysteme der praktischen Sozialpolitik als Problem der wissenschaftlichen Sozialpolitik, in: ders. (Hrsg.), Leitbilder und Zielsysteme der Sozialpolitik, Berlin 1973, S. 61-75 u. besond. S. 65 f.; H.-D. Ortlieb, Sozialismus II, Sozialismus als Leitbild der Wirtschaftsordnung, in: HdWW, 5.16. Lieferung, 1977, S. 28 f. 11 Zu dieser Auffassung und zur These von der Mehrzahl sozialer Fragen siehe W. Fischer, Der Wandel der sozialen Frage in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in: B. Külp und H.-D. Haas, Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, 1. Halbbd., Berlin 1977, S. 36 ff.

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Teil A: Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik

aktive Teil an der Stellung und Behandlung der "Mittelstands- und Arbeiterfrage", und er ist es auch heute nicht allein 13 . 2. Soziale Fragen in der Vergangenheit

"Vorgänge" in der Natur stellen als solche keine sozialen Probleme dar, ebensowenig übrigens wie solche in der Gesellschaft. Wohl aber können die Auswirkungen von Naturkatastrophen geschichtliche Verhältnisse herbeiführen, die zunächst von einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt von Utopien genommen und schließlich von vielen Personen in sozialen Bewegungen nach mehr oder weniger ausgearbeiteten Konzeptionen bewußt erlebt werden 14• Die Herausbildung sozialer Probleme in der Praxis und ihre Erarbeitung dann auch in der Wissenschaft steht dabei auch in Abhängigkeit von Prozessen gesellschaftlichen Wandels und der Differenzierung von Gesellschaften. Sie erfolgt dergestalt, daß "Prozesse des beschleunigten sozialen Wandels" -etwa im Zuge der Nationalstaatsbildung und der Industrialisierung - "zu Zuständen (führen), hinter denen die Entwicklung adäquater sozialer Standards meist zurückbleiben muß" 15 • Von einer vollen Determinierung der Probleme und vor allem der Inhalte ihrer Lösungen durch die gesellschaftlichen Prozesse kann freilich nicht die Rede sein. Was die Geschichte der Menschheit betrifft, so hat es Not durch Mißernten, Seuchen und Kriege bisher immer gegeben, und deshalb ist auch das Aufkommen, die Reflexion und das mehr oder weniger entschiedene Aufwerfen sozialer Fragen verständlich. In der neueren Geschichte ist dabei zunächst die "Bauemfrage" zu nennen, die nach Schmoller die "große soziale Frage der Zeit von 1500-1850" in Europa darstellt 16• Diese Frage 12 Zur staatlichen Sozialpolitik und zu verschiedenen Untergliederungen derselben siehe H. Lampen, Sozialpolitik 1: staatliche, in: HdWW, a.a.O., S. 60-76. Zur Sozialpolitik freier Träger vgl. z. B. G. Weisser, Selbsthilfeuntemehmen, in: HdSW, Bd. 9, 1956, S. 396 ff. Zum Begriff der ex-ante-Politik angewandt auf Verbraucherfragen siehe B. Bierven, Ex-ante-Verbraucherpolitik, in: ders. u.a. (Hrsg.), Verbrauchergerechte Verbraucherforschung und -politik, Manuskript, Wuppertal 1976, s. 195 ff. 13 Zum ersten Teil dieser Feststellung vgl. H. Henning, Sozialpolitik III: Geschichte, in: HdWW, a.a.O., S. 85-110, besond. S. 86 ff. u. 93 ff. 14 Vgl. dazu den Überblick bei W. W. Engelhardt, Soziale Bewegung und ihr Verhältnis zum Staat, in: Kölner Z. f. Soziol. u. Sozialpsych., 20. Jg., 1968, S. 734748. 15 A. Bellebaum u. H. Braun, Soziale Probleme .. ., a. a. 0., S. 2. Siehe auch G. Albrecht, Vorüberlegungen ... , a. a.O., S. 145 f. 16 G. Schmo/ler, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. l, Leipzig 1900, S. 558. Lampert spricht statt von Bauernfrage von der "sozialen Frage der vorindustriellen Feudalgesellschaft"; vgl. H. Lampen, Sozialpolitik I ..., a. a. 0., s. 62.

Alte und neue soziale Fragen

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steht noch am Anfang des neuzeitlichen ländlichen Genossenschaftswesens, das ursprünglich Hunger, bäuerliche Unselbständigkeit und ökonomische Unrationalität auf dem Lande gleichennaßen zu bekämpfen versucht 17 • Die Bauernfrage berührt sich in den Vor- und Frühphasen der Industrialisierung mit dem "Pauperismus" nicht nur der ländlichen, sondern auch der städtischen Unterschichten, d. h. der Armut bettelnder Land-, Eigentums- und Arbeitsloser schlechthin, die im Schrifttum unterschiedlich zugeordnet worden sind 18• Bauernfrage und Pauperismus münden dann in die lange Zeit als soziale Frage par excellence angesehene "Arbeiterfrage" mit ihren verschiedenen Teilproblemen. Von ihnen ist die "Wohnungsfrage" oftmals besonders herausgestellt worden und ebenso wiederum die genossenschaftlichen bzw. gemeinnützigen Lösungen, die in ihrem Zusammenhange diskutiert und schrittweise praktisch eingeleitet wurden 19 • Die Arbeiterfrage ist dabei im vorigen Jahrhundert zunächst nur teilweise eine solche der Industriearbeiter; zumindest ist sie jedenfalls auch eine solche der Handwerker, anderer mittelständischer Gruppen sowie der Heimarbeiter. Ihre Lösung ist sowohl nach Marx und Engels - die die Bezeichnung "soziale Frage" nicht besonders goutieren - als später auch nach Heimann an die Bedingungen des "Kapitalismus" geknüpft. Damit sind nach Meinung der erstgenannten Autoren erst nach Ablösung dieser Gesellschaftsfonnation, nach Auffassung des letztgenannten freilich schon durch "Sozialpolitik im Kapitalismus" weiterführende Lösungen bzw. Antworten angesprochen. Allerdings ist nach Heimann die Sozialpolitik dem Wesen des Kapitalismus zuwider, denn sie "baut den Kapitalismus stückweise ab", wenn sie auch "seinen jeweils verbleibenden Rest (dadurch rettet)" 20•

17 Vgl. dazu das klassische Werk von F. W. Raiffeisen, Die Darlehnskassenvereine (1866), 8. Aufl. nach der 5.-7. Aufl. des Originalwerks, Neuwied/Rh. 1966. 18 Vgl. dazu u.a. F. Seidel, Die soziale Frage in der deutschen Geschichte, Wiesbaden 1964, besond. S. 2 ff. u. 258-275; A. Müßiggang, Die soziale Frage ... , a. a. 0., S. 56 ff. u. 239 ff. ; K. Marx u. F. Engels, Das Kapital, 1. Bd., MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 670 ff. 19 Zu den klassischen Ansatzpunkten vgl. K. Munding (Hrsg.), V. A. Hubers ausgewählte Schriften über Sozialreform und Genossenschaftswesen, Berlin 1894. 20 E. Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Tübingen 1929, S. 122. Zur Interpretation der Auffassungen Heimanns vgl. K.-M. Kodalle, Politische Solidarität und ökonomisches Interesse. Der Begriff des Sozialismus nach Eduard Heimann, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 26175 v. 28.6.1975, besond. S. 29 ff. Zu Beimanns "produktionspolitischer" Rechtfertigung der Sozialpolitik im Kapitalismus vgl. neuerdings H. P. Widmaier, Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976, passim u. besond. S. 47 ff.

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Teil A: Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik

3. Erneute Problematisierungen

Schon in den vergangeneo Jahren ist nun beispielsweise von Müßiggang hervorgehoben worden, daß diese soziale Frage des vorigen und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelöst sei, "zumindest unter ihrem wirtschaftlichen Aspekt" 21 • Wenn auch Gegensätze im Bereich der Wirtschaft und Gesellschaft verblieben und insbesondere die Arbeiterschaft in ihrer Sicherheit durch Wirtschaftskrisen weiterhin bedroht sei, so kündigt wie Eucken bereits vor mehr als dreißig Jahren ausgeführt hat - "die zunehmende Vermachtung der Industrie in Konzernen und Syndikaten bereits die neue soziale Frage an"22 • Andere Wissenschaftler haben die Lösung der Arbeiterfrage hingegen energisch bestritten und etwaige neue soziale Fragen mit der Nichtbewältigung der alten in Verbindung gebracht. Das gilt besonders für sozialistische und kommunistische Autoren, die im übrigen hierin Marx und Engels folgend - die Bezeichnung "soziale Frage" oft als eine Untertreibung der tatsächlich vorliegenden komplexen wirtschaftlichgesellschaftlich-politischen Problematik empfanden. Was im einzelnen zu den tatsächlich oder angeblich neuen sozialen Fragen der Gegenwart gehört, wie sie differenziert werden können und zu den früheren Problemen stehen, wodurch sie ausgelöst wurden und mit welchen Mitteln sie zu bewältigen sind, gehört zu den zentralen Problemkreisen nicht nur der zeitgenössischen Praxis, sondern zugleich der Wissenschaft. Von dieser auch hier vertretenen Auffassung aus wird an diesem Problemkreis von Metaebenen der Sozialpolitiklehre und anderer Teildisziplinen der Politischen Ökonomie aus heranzugehen versucht. Dabei sollen vor allem neuerdings erfolgte Problematisierungen sozialer Fragen darstellend und würdigend aufgenommen werden. Um zunächst noch einmal auf Eucken zurückzukommen, so bestand für ihn die neue soziale Frage, zu deren Entstehung die frühere Sozialpolitik beigetragen habe, in der "außerordentlichen Gefährdung menschlicher Freiheit". Der Autor sah solche Gefährdungen in sämtlichen Berufsschichten insbesondere durch die zunehmende Abhängigkeit der Menschen vom Staat, d. h. durch "die Umwandlung des Menschen in das Teilstück einer großen Maschine". Zugleich betonte Eucken aber auch, daß die soziale Frage des neunzehnten Jahrhunderts bisher keineswegs ganz gelöst wurde23 • Was Müßiggang betrifft, so nahm er bereits zahlreiche spätere Auffassungen - wie sie in der Gegenwart z. B. von Liberalen und Konservativen bzw. Liberalkonservativen wie Dahrendorf, Molitor, Schelsky und Watrin geäuSo urteilt A. Müßiggang, Die soziale Frage ... , a. a. 0., Vorwort u. S. 236. W. Eucken, Die soziale Frage, in: E. Satin (Hrsg.), Synopsis. Festgabe für Alfred Weber in Honour, Heidelberg 1948, S. 115. 23 W. Eucken, Die soziale Frage, a.a.O., S. 115 ff. 21

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Alte und neue soziale Fragen

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ßert wurden - vorweg. Er führte aus, die Sozialpolitik werde sich .,auch in der pluralistischen Gesellschaft mehr des schwachen Individuums annehmen als ganzen Gesellschaftsgruppen Hilfe leisten müssen, wenn ihr nicht selbst in einer Gesellschaft des Überflusses die Mittel ausgehen sollen, ohne daß irgendein anderer Erfolg als bloße Beschwichtigung erreicht wird"24• Solche Erwägungen orientieren sich offensichtlich betont an Knappheitsgesichtspunkten und einem extrem individualistischen Freiheitsverständnis. Sie unterschätzen hingegen die - in den vergangenen Jahren beispielsweise durch Freiheitliche Sozialisten wie Weisser, Christlich-Soziale wie Blüm und die Regierungserklärungen seit 1969 hervorgehobenen - Möglichkeiten, durch solidarisches Gruppenhandeln freigesellschaftlicher oder staatlicher Art im Zuge permanenter Sozialreform auch heute wenigstens gemeinsame Freiheiten als Ersatz für individuelle Freiheiten zu erreichen oder diese auf solche Weise zu stärken. Derartige Bestrebungen könnten sich im Falle des Erfolgs durchaus als eine Vorbedingung auch künftiger Gewährleistung individueller Freiheiten als wichtiger Errungenschaften des liberalen Zeitalters erweisen25 • Eine vertragstheoretische Interpretation des Sozialstaats - wie sie z.B. Watrin befürwortet26 - setzt deshalb, wenn sie es mit allen Postulaten bezüglich freier, gleicher und selbstinteressierter Personen ernst meint, erst die Herstellung annähernder Chancengleichheit aller Gruppen und ihrer Angehörigen voraus, und diese Gleichheit ist auch heute nicht gegeben27 • In der Gegenwart glaubt auch Fischer nicht, daß die alte soziale Frage schon ganz gelöst sei. Bei allen Schwerpunktverlagerungen, die es gebe, haben sich seiner Ansicht nach die gesellschaftlichen Grundprobleme nicht völlig verwandelt, freilich die Zielgruppen ständig verändert. Der Problemwandel, wie er durch das Auftreten von Problemen der Kriegsgeschädigten, Flüchtlinge, Vertriebenen, Randgruppen oder auch solchen der Alten, strukturell Arbeitslosen, ausländischen Arbeitnehmern und inländischen Jugendlichen sichtbar geworden sei, .,scheint stärker in unser Bewußtsein gedrungen A. Müßiggang, Die soziale Frage. .. , a.a.O., S. 243. Vgl. dazu G. Weisser, Für oder gegen Marktwirtschaft - eine falsche Frage, Köln 1953, besond. S. 15 ff.; N. Blüm, Reaktion oder Reform. Wohin geht die CDU? Reinbek 1972, S. 66 f.; S. Katterle, Ökonomische und politische Aspekte zunehmender Staatstätigkeit, in: WSI-Mitteilungen, 28. Jg., 1975, S. 225. 26 Vgl. Ch. Watrin, Ordnungspolitische Aspekte des Sozialstaates, in: B. Külp u. H.-D. Haas (Hrsg.), Soziale Probleme ... , 2. Halbbd., Berlin 1977, S. 963-985, besond. S. 968 ff. 27 Ungleichheit behaupten z. B. C. Böhret u. a. (Hrsg.), Gleiche Chancen im Sozialstaat? transfer 1, Opladen 1975; L. Böckels, B. Scharf, H. P. Widmaier, Machtverteilung im Sozialstaat, München 1976; W. Zapf (Hrsg.), Lebensbedingungen in der Bundesrepublik, Frankfurt/New York 1977. 24 25

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Teil A: Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik

zu sein als die Beständigkeit". Langfristig könne sich nach Meinung des Autors als neue soziale Frage am ehesten "eine Frage der Balance zwischen den Generationen stellen". Hingegen habe sich die klassische soziale Frage als Problem der Balance zwischen den sozialen Massen zugunsten einer Problematik der schwierigen Einebnungsprozesse ethnischer, sprachlicher und konfessioneller Minderheiten verschoben, die nach den USA nunmehr auch für europäische Einwanderungsländer an Bedeutung gewinne28 .

U. Akzente der neuen sozialen Frage 1. Wilfrid Schreiber als Vorläufer

Vermutlich nicht unbeeinflußt durch Eucken hat in der jüngeren Vergangenheit bereits Schreiber betont, daß die "Sozialpolitik alten Stils" unbrauchbar geworden sei. Sie läuft - nach seinen Worten - "Gefahr, mehr Schaden als Nutzen zu stiften, weil ihre Voraussetzungen nicht mehr zutreffen: (l) Der Arbeitnehmer ist nicht mehr funktionell arm.

(2) Der Arbeitnehmer ist nicht mehr Minderheit ... (3) Ein grundsätzliches Mißtrauen in die Verteilungsgerechtigkeit des

Marktes ist nicht mehr gerechtfertigt"29•

In seinem Plädoyer für einen "neuen Stil der Sozialpolitik" trat der Autor der verbreiteten, aber seiner Ansicht nach unzutreffenden Auffassung entgegen, Sozialpolitik sei ein beschönigendes Synonym für "Wohltätigkeit zugunsten der Armen auf Kosten der Reichen". Der neue Stil werde sich nicht zuletzt in der Ehrlichkeit und Durchsichtigkeit ihrer Kostenrechungen erweisen müssen. Soziale Sicherheit und ein stabiles soziales Gleichgewicht könne der Arbeitnehmer nur sich selber spenden. Er könne es nicht mehr "als Geschenk von Seiten Stärkerer erwarten", weil diese - angeblich nicht mehr existieren. Allerdings verbleibe dem Staat eine fundamentale sozialpolitische Aufgabe: "die Sorge um einen ungestörten Ablauf des Wirtschaftsprozesses, für die Vermeidung von Krisen und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit"30.

Vgl. W. Fischer, Der Wandel ..., a.a.O., S. 44 f., 58 ff. u. 65 ff. W. Schreiber, Sozialpolitik in einer freien Welt, Osnabiiick 1961, S. 83 f. In ähnlichen Formulierungen haben sich später auch andere liberalkonservative Autoren geäußert, so bezüglich des Wegfalls funktioneller Armut B. Külp, Verteilungspolitik, in: J. Wemer u. B. Külp, Wachstumspolitik. Verteilungspolitik, Stuttgart 1971, s. 120. 30 W. Schreiber, Sozialpolitik..., a. a. 0 ., S. 86 ff. u. 90 ff. 28 29

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Der Autor versteht in diesen Zusammenhängen unter "Sozialpolitik" nicht mehr die Summe der Palliativmittel zur Linderung von Schäden des Wirtschaftsprozesses. In konstruktiver Neuakzentuierung des Begriffs wenn auch unter Vermengung verschiedener Sprachstufen der Praxis und der Wissenschaft - faßt er darunter die Lehre von der "Bewirtschaftung aller Lebensgüter". Er interpretiert die Lehre als pragmatische Vorstufe einer allgemeinen Sozialtheorie, die auch die Lehre von der Befriedigung der Gemeinbedürfnisse mit umfasse und letztlich in einer umfassenden "Gesellschaftspolitik" als Oberbegriff aller Politikdisziplinen und Aktionsbereiche ausmünde31 . 2. Reiner Geißlers Sozialengagement

Nach Geißler, der sich als christlich-sozialer Politiker und Autor wohl am engagiertesten mit verschiedenen Aspekten der "Neuen Sozialen Frage" beschäftigt hat32, ist diese ,,keine Frage der Technik, sondern zuerst eine Frage des geänderten Bewußtseins und des politischen Mutes". "Unser Leitbild ist der sozial engagierte und motivierte Bürger, der über den eigenen Interessen nicht die Bedürfnisse seiner Mitbürger und des Gemeinwesens vergißt" 33 • Allerdings geht Geißler zweifellos wie auch andere ChristlichSoziale und Liberal-Konservative von einer absoluten und zeitlosen Setzung bezüglich pflichtgebundenen Handeins gemäß einer absoluten Gerechtigkeitsnorm aus34• Der Politiker setzt dabei nicht voraus, daß die "Alte Soziale Frage" verkürzt dargestellt als Konflikt zwischen "Kapital und Arbeit" - bereits gelöst sei. Er führt jedoch aus, daß diese Auseinandersetzung zur Ignorierung von anderen Konfliktbereichen geführt habe, welche außerhalb der Produktion liegen und die dort agierenden Minderheiten betreffen35 • Die W. Schreiber, Sozialpolitik ... , a. a. 0 ., S. 93 f. Nach Bispinck muß allerdings H. Baier als einer der ,,Erfinder" der Neuen Sozialen Frage gelten; vgl. R. Bispinck, Sozialpolitische Forschung - auf dem Wege zur Sozialtechnologie? In: Soziale Sicherheit, 25. Jg., 1976, S. 358. Vgl. aber schon N. Blüm, Reaktion oder Reform ... , a. a. 0., Teil II. 33 H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, Freiburg/Br. 1976, S. 11 u. 158. 34 Schreiber sprach in seinen Vorlesungen gelegentlich davon, daß .,die absoluten Sollenssätze unseres Leitbildes ... die Normen des Sittengesetzes (sind), das sich dem Menschen im Gewissen offenbart". Vgl. auch B. Külp, Zur Zielproblematik in der Lehre von der Gesellschaftspolitik, in: F. Greiß u.a. (Hrsg.), Der Mensch im sozio-ökonomischen Prozeß, Festschrift für W. Schreiber, Berlin 1969, besond. s. 92. 35 Auch Lampen sieht offensichtlich neue soziale Fragen, etwa im Hinblick auf die Frauen, Jugendlichen, Alten, Nichterwerbsflihigen und andere Randgruppen; vgl. H. Lampert, Sozialpolitik 1: staatliche, a. a. 0., S. 74. 31

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lgnorierungsthese dürfte freilich nicht für die explikative Lebenslageforschung bezüglich Randgruppen in der Weissernachfolge - besonders bei Blume, Lange, Naegele und anderen Mitarbeitern des ersteren - und auch nicht für die normative Sozial- und Gesellschaftspolitiklehre dieser Schule zutreffen36• Geißler unterscheidet im einzelnen die Unterprivilegierung der "Nichtorganisierten" von der Unterprivilegierung der "Nichtproduzenten". Zu den erstgenannten Gruppen gehören die gewerkschaftlich nichtorganisierten Arbeitnehmer, ferner nicht durch Verbände erfaßte Konsumenten, Frauen, Schwerstbehinderte. Zu den unterprivilegierten Nichtproduzenten werden die Kinder und Jugendlichen einerseits und andererseits die Angehörigen der nicht mehr erwerbstätigen Generationen als Geschädigte von Generationen- und Geschlechterkonflikten gerechnee7 • Den empirischen Beweis für das Bestehen einer Neuen Sozialen Frage gewinnt der Autor durch das zahlenmäßige Konstatieren einer großen, wenn auch von den Betroffenen weithin verschwiegenen privaten Armut absoluter Art, die es selbst in der Bundesrepublik Deutschland heute gebe. Da die Stichhaltigkeit der genannten Ziffern und die Zweckmäßigkeit der augewandten Methoden zu ihrer Berechnung in anderen Beiträgen dieses Bandes untersucht worden sind38, soll hier auf diese Aspekte nicht eingegangen werden. Betont sei jedoch, daß Armut nach dem Lebenslagekonzept zweckmäßigerweise nicht allein an der Einkommenshöhe gemessen wird, wie es bei Geißler geschehen ise9 • Als mögliche Auswirkungen der konstatierten Situation unterscheidet der Autor im Anschluß an ein breites Schrifttum zunächst Deprivationen und Frustrationen bei den Armen selbst, sodann sozialrevolutionäre Aufbrüche oder doch Legitimationskrisen. Sie können bei Nichtaufhebung der als "Teufelskreis" begriffenen Entwicklungen entweder zu "elitärem Technokratismus" (Klages) oder zu Zusammenbrüchen größten Ausmaßes hinfüh36 Sie gilt auch nicht für Nahnsen und deren Göttinger Schülerkreis, die ebenfalls stark durch Weisser beeinflußt sind und von dessen Lebenslagekonzept ausgehen. Analoges trifft weithin für Soziologen wie v. Ferber, Kaufmann und Matthes sowie für Politologen wie Badura und 0./fe zu. 37 Vgl. H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, a.a.O., S. 17 ff. u. 20 ff. 38 Siehe besonders die Beiträge von F. Klanberg, Die empirischen Grundlagen der Neuen Sozialen Frage, und von H. Schert, Absolute Armut in der Bundesrepublik Deutschland: Messung, Vorkommen und Ursachen, in: H. P. Widmaier (Hrsg.), Zur Neuen Sozialen Frage, Berlin 1978, S. 127-147 und S. 79-126. 39 Vgl. H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, a.a.O., S. 26 ff. Zur Kritik an Geißler unter diesem Gesichtspunkt und verwandten Aspekten siehe E. Standfest, Die "neue soziale Frage" und gewerkschaftliche Sozialpolitik, in: Soziale Sicherheit, 25. Jg., 1976, S. 257 ff.; B. Scharf, Eine Neue Soziale Frage? In: Soziale Sicherheit, 26. Jg., 1977, besond. S. 47 ff.

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ren. Eigene Lösungsvorschläge, die der Autor unterbreitet, werden aber nicht nur von diesen Gefahren, sondern auch von ökonomischen Gesichtspunkten der Mittelknappheit sowie von Sozialismusgegnerschaft bestimmt. Insbesondere geht Geißler von der These eines "falschen Gegensatz(es)" von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit aus. Damit wird gemeint, daß Maßnahmen nur bis zu einer bestimmten Grenze sozial wirken, weshalb sie jenseits dieser Grenze zu ändern seien.40 Eine "Sozialpolitik bei knappen Kassen", wie sie gegenwärtig nötig sei, zeichne sich dadurch aus, (1) daß sie zur Gewährleistung von "mehr Gerechtigkeit" umstrukturiert werden müsse; (2) daß sie die sozialen Leistungen "gezielt den wirklich Bedürftigen" zugutekommen lasse; (3) daß sie "persönliches soziales Engagement" ermutige; (4) daß sie "humaner und wirtschaftlicher" zugleich organisiert werde; (5) daß Planungen "auf besondere Situationen und individuelle Wünsche" Rücksicht nehmen4 1• Die Verbindung ökonomischer Gesichtspunkte mit sozial richtigen Zielen macht die Sozialpolitik - nach Meinung Geißlers - "auch sozial effizienter". Aber nicht "Sparen um des Sparens willen", sondern "Sparen, um andere Ziele besser zu erreichen", sei Ziel dieser Politik, die einerseits mit einer Sensibilisierungsstrategie zur Veränderung des Denkens leistungsfähiger Bürger und andererseits mit energischer Sozialismuskritik verbunden wird. Den Bürgern müsse konkret begreifbar gemacht werden, warum und wofür Einschränkungen notwendig seien, was nur gelingen könne, ..wenn der leistungsfähige Bürger für die Probleme nicht so leistungsfähiger Bürger sensibilisiert wird". Gemeint dürfte hier sein ein partielles Zurückdrängen ökonomistischer Denkweisen durch moralische Einwirkung, was gerade in partieller Weise anderen Autoren als unerreichbar erscheint42• In Ansätzen einer systematischen Sozialismuskritik werden freiheitliche und andere sozialistische Positionen pauschal zusammenerörtert und gemeinsam dogmatischer ideologisch-klassenkämpferischer Positionen verdächtigt. Daß christlich-soziale Positionen selbst stark ideologisch fundiert und dogmatisch vertreten sein können - wie nicht nur, aber besonders bei 40 Siehe H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, a. a. 0 ., S. 30 f., 32 ff., 36 f. u. 38 ff. Berührungspunkte finden sich besonders bei N. Blüm, Fortschritt in der Sackgasse, in: Die Zeit, Nr. 47 v. 14.11.1975, und in früheren Veröffentlichungen dieses Autors. Vgl. besond. N. Blüm, Reaktion oder Reform . . ., a.a.O., passim. 41 H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, a. a. 0., S. 38. Siehe auch die Akzentuierung der "Neuen Sozialen Frage" als Programm bei E. Standfest, Die ,,neue soziale Frage" ... , a.a.O., S. 259. 42 Siehe etwa H. P. Widmaier, Sozialpolitik ... , a. a. 0 ., S. 35 ff. u. 167 ff.

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der Erörterung des "Schutzes des ungeborenen Lebens" deutlich hervortritt43 - wird hingegen ebenso verschwiegen wie das Bestreben der freiheitlichen Sozialisten, die sich gleichermaßen gegen Verabsolutierungen wirtschaftlicher wie sozialer Leitbilder und Aspekte wenden und zum Teil selbst schon eine Sozialreform aus "Prinzip" als ideologische Aussage ablehnen44. 3. Umfunktionalisierungstendenzen

Zum Denken der Verfechter einer Neuen Sozialen Frage gehören auch Ansätze, in denen weniger als bei Geißler und anderen Anhängern christlich-sozialer Ideen ein Ausgleich wirtschaftlicher mit sozialen Zielsetzungen und Wirkungen erstrebt wird. Es sind Darlegungen bei Angehörigen der beiden christlichen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, der F.D.P. - mit Ausnahme sozialliberaler Kreise - und der di~sen Parteien zuneigenden zahlreichen liberal-konservativen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. In diesen Erörterungen werden vielmehr ökonomische anstelle sozialer Ziele und Effekte als die jedenfalls für die nähere Zukunft entscheidenden angesehen und dienen soziale Aspekte, sofern sie überhaupt beachtet werden, eher als Etikett bzw. Feigenblatt45 . Äußerungen wie diese: Der Sozialstaat, ja der Staat überhaupt müsse zurückgeschraubt, die private Leistungsfähigkeit wieder stärker in Anspruch genommen werden, um die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wieder "freizuschaufeln" (Todenhöfer), zeigen diese Richtung deutlich an. In der Diskussion um ein CDU-Grundsatzprograrnm und im sich zur Zeit und möglicherweise bis 1980 ständig verschärfenden Machtkampf um die Kanzlerkandidatur innerhalb der CDU/CSU dürfte sie in den nächsten Jahren laufend mehr an Konturen gewinnen46 . Aber auch Äußerungen eher um Vgl. H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, a.a.O., S. 72 ff. Zur Entwicklung dieser Position und zu ihrem Inhalt siehe H. Gehrig, Die Begründung des Prinzips der Sozialreform, Jena 1914, passim; A. Müßiggang, Die soziale Frage .. ., a. a. 0., S. 6 ff. u. 137 ff.; Ch. Graf v. Krockow, Reform als politisches Prinzip, München 1976, S. 11 ff. u. 119 ff. 45 In der SPD hingegen scheint für die kommenden Jahre zwar eine Umorientierung geplant zu sein, und zwar von einer nachträglich ausgleichenden zu einer vorbeugenden Sozialpolitik. Sozialpolitische Ziele, zu denen verstärkt solche gesellschaftspolitischer Art hinzutreten sollen, dürften indessen - wenn man die Verhandlungen des Hamburger Parteitags ernst nehmen will - auch künftig eine wesentliche Rolle spielen. Vgl. dazu das Grundsatzpapier: Theorie und Grundwerte. Grundwerte in einer gefahrdeten Welt, vorgelegt von der Grundwerte-Kommission beim SPDParteivorstand, Bonn 1977, S. 24 ff. 46 Ich beziehe mich hier vor allem auf ein Fernsehinterview vom Sommer 1977 mit dem Abgeordneten Jürgen Todenhöfer, die Presseberichterstattung vor und nach dem Grundsatzforum der CDU in Berlin im Herbst 1977 und den im gleichen Zeitraum wieder aufgeflammten Streit um die künftige Kanzlerkandidatur. Zum Grund43

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Ausgewogenheit bemühter Führungspersönlichkeiten wie solcheR. v. Weizsäckers und Biedenkopfs, sind für lnterpretierungsversuche deutlich genug ausgefallen. v. Weizsäcker hat seit längerem - teilweise bereits vor dem vorletzten Bundestagswahlkampf - für eine "humane Leistungsgesellschaft" plädiert. Er ist dabei aber auch für das Ernstnehmen des Umweltschutzes und nicht zuletzt auch der sozialen Dienste eingetreten47 • Vor dem letzten Bundestagswahlkampf hat der Politiker nun allerdings geäußert, Sozialpolitik könne heute beispielsweise im Gesundheitsbereich im Grunde nur noch durch einen Ausgleich der verschiedenen Gruppen untereinander und nicht durch den Staat finanziert werden. Wenn die eine Gruppe etwas Zusätzliches bekommen solle, müsse sich die andere im gleichen Umfange beschränken. Der Staat könne das Bestreben der Gruppen in der Hauptsache lediglich anleiten, nicht aber mehr subventionieren. Es bestehe von hier aus die. Notwendigkeit einer längerfristigen Veränderung des gesamten Systems der sozialen Sicherung mit dem Ziel, wieder mehr Solidarität unter den Mitgliedern der Gesellschaft entstehen zu lassen. Durch eine Reduzierung von Erwartungen bezüglich des Angebots gesundheitspolitischer Leistungen, die der Politiker für erforderlich hält, würden die Kosten im Gesundheitsbereich gemindert werden. Dieses Ziel könne freilich "nur eine in großem Stil und mit allem politischen Nachdruck der Regierung und der Volksvertretung getragene Bewußtseinsbildung" erreichen48 . Eiedenkopf hat ebenfalls vor dem letzten Bundestagswahlkampf schriftlich und mündlich Äußerungen getan, die bei ihm ökonomische Prioritäten erkennen oder doch vermuten lassen. Er unterschied drei Bestandteile der Neuen Sozialen Frage, die sich vordergründig allerdings durch soziale Besorgnis auszeichnen: (1) Die "Verbesserung des Systems" der sozialen Sicherheit.

(2) Die "Verbesserung der Stellung und Rolle" der nichtorganisierten Bevölkerungsteile in einer Gesellschaft, in der Verteilungskämpfe seit sätzlichen vgl. auch W. W. Engelhardt, Zum Verhältnis von Sozialpolitik und Ordnungspolitik. Am Beispiel der Politik sozialer Sicherung erörtert, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 26, 1977, besond. S. 230. 47 Vgl. R. v. Weizsäcker, Gleichheit - das Ende der Freiheit und Solidarität, in: Die Zeit, Nr. 43 v. 27. 10. 1972, S. 4/5. Siehe auch: Das Berliner Programm der CDU. Mit Beschlüssen des Hamburger Parteitages 1973. Verabschiedet 25.27.1.1971. Das Engagement v. Weizsäckers und anderer Autoren für die sozialen Dienste mag das Mißverständnis Schelskys erklären, in der Neuen Sozialen Frage werde "nur die ganz alte soziale Frage karitativer Fürsorge wiederbelebt". Siehe H. Schelsky, Die große Lücke in der Sozialpolitik, in: FAZ v. 1.6.1977, S. li. 48 Siehe das Zeit-Gespräch von R. v. Weizsäcker über "Den Sozialstaat sichern" in: Die Zeit Nr. 28 v. 4. 7.1975, S. 18.

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langem im wesentlichen durch Organisationen der Wirtschaft, d. h. Wirtschaftsverbände, ausgetragen werden. (3) Die "Wiederherstellung der Sozialpflichtigkeit" der durch Selbstorganisation entstandenen Verbände, wie z.B. der Gewerkschaften (des Ruhrgebiets)49. Bei der letztgenannten Frage handelt es sich nach Meinung des Politikers um ein "Folgeproblem", das sich aus der Lösung der alten sozialen Frage ergeben habe. Hier knüpft Biedenkopf vermutlich an Eucken an, wenn er als Konsequenzen früherer Probleme die heutige Ordnungsproblematik der sozialen Großeinrichtungen und deren Überforderung nennt. Nur wählt er freilich anders als Eucken seine Beispiele nicht aus dem wirtschaftlichen Bereich, was eine bemerkenswerte Abänderung der ursprünglichen ordobzw. neoliberalen Intentionen bezüglich einer Neuen Sozialen Frage impliziert. Kritisch sei generell zu den hier ausgewählten Äußerungen aus der praktischen Politik angemerkt, daß der Staat offenbar einerseits "zurückgeschraubt" werden soll, obwohl zumindest Hilfe zur Selbsthilfe für die nichtorganisierten Gruppen doch wohl nur durch ihn veranlaßt werden kann. Andererseits wird jedoch dem Staat - abweichend beispielsweise von den Interpretationen Bundespräsident Reinemanns und anderer Persönlichkeiten - eine "geistig-politische Darstellung" empfohlen50, ja er soll sogar "langfristige Sinn- und Zielvorgaben" bieten51 • Zumindest Letzteres aber könnte schließlich - auch gegen ursprüngliche Absichten - auf einen antipluralistischen Weltanschauungsstaat gemäßigt diktatorischer Art hinauslaufen, der unter Umständen linksextremen Diktaturen den Weg bereitet52 . Ist in den Darlegungen von Geißler Besorgnis vor elitärem Technokratismus unverkennbar, so sind innerhalb der Unionsparteien mittlerweile auch Wissenschaftler am Werk, die zusammen mit der Planungsgruppe der CDUBundesgeschäftsstelle möglicherweise eine über alle bisherigen Umfunktionalisierungstendenzen hinausreichende Neuorientierung eingeleitet haben. Sie dürfte darauf hinauslaufen, die zunächst zweifellos akzentuiert sozial engagierte Befürwortung einer Neuen Sozialen Frage bei christlich-sozialen Autoren durch eine mit Hilfe der Ökonomischen Theorie der Politik nun49 Vgl. das Zeit-Gespräch mit K. Diedenkopf über "Nicht mehr Staat, sondern weniger - und besser" in Nr. 38 v. 10. 9. 1976, S. 3/4. Zum geistigen Hintergrund des politischen Denkens dieses Autors siehe K. Biedenkopf, Fortschritt in Freiheit, München/Zürich 1974. so So R. v. Weizsäcker, Gleichheit. . ., a. a. 0., S. 5. st So K. Riedenkopf in dem Zeit-Gespräch, S. 4. Vgl. auch ders., Fortschritt in Freiheit, a. a. 0., S. 56 ff. 52 Siehe dazu kritisch W. W. Engelhardt, Zum Verhältnis von Sozialpolitik ... , a.a.O., S. 154 f. Vgl. auch N. Blüm, Reaktion oder Reform ..., a.a.O., S. 90 ff.

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mehr primär an wirtschaftlichen Knappheitserwägungen festgemachte Problembehandlung weithin zu ersetzen, in derem Mittelpunkt Steuerungsprobleme und vor allem Steuerungsinstrumente stehen53 . Ideologisch abgesichert wird dieser Versuch teils mittels der herkömmlichen neoliberalen Ordnungstheorie, die sich als Variante des Essentialismus nach Hinzufügung des Attributs "sozial" als "soziale Ordnungstheorie" für noch mehr Rechtfertigungsfunktionell als früher schon zu eignen scheint54• Zum anderen Teil wird die neu entdeckte klassische Vertragstheorie naturrechtlich begründeter Art angewandt, die nach gewissen Ergänzungen ebenso faire wie demokratische Lösungen nunmehr auch im Bereich der Sozialpolitik wohl allzu leichthin verbürgen soll55 • III. Würdigungen gegenwärtiger Sozialprobleme 1. Grenzen individualistischer Positionen

Nach der subjektiven - aber begründbaren - Meinung des Verfassers zeigt die Rede von einer "Neuen Sozialen Frage" und die von ihr ausgelöste Diskussion an, daß zumindest heute in unserer Gesellschaft kein voller Konsensus über die alte soziale Frage im Sinne der "Arbeiterfrage" besteht. Zugleich gibt es aber bezüglich der heutigen Armut trotz unterschiedlicher Auffassungen über ihre Größe bzw. die Größenverhältnisse derselben beachtliche grundsätzliche Übereinstimmungen zwischen politischen und wissenschaftlichen Positionen unterschiedlicher Art, die es freilich auch früher schon bei der Arbeiterfrage gab, wenn auch in schwächerer Form56• Nach Schreiber beruhen sie heute auf einer deutlich konvergierenden Tendenz der Leitbild-Vorstellungen aller wichtigen Parteien der Bundesrepublik auf eine gemeinsame Mitte hin. Die Neuakzentuierung der sozialen Problematik in einer "Frage" - treffender in einem "Fragenkomplex" - scheint mir ungeachtet des Umstands zweckmäßig zu sein, daß die alte soziale Frage zumindest in Teilaspekten ungelöst ist. Die heute von Autoren unterschiedlicher Einstellung und Schu53 Vgl. dazu W. Dettling u.a., Die Neue Soziale Frage und die Zukunft der Demokratie, Bonn 1976, passim. 54 Siehe zu den ordnungstheoretischen Aspekten W. Dettling u. a., Die Neue Soziale Frage ... , a.a. O., besond. S. 91 ff., 125 ff. Vgl. auch Ph. Herder-Domeich, Wirtschaftsordnungen, Berlin 1974, besond. S. 121 ff. 55 Vgl. zu den vertragstheoretischen Perspektiven Ch. Watrin, Ordnungspolitische Aspekte ... , a. a. 0. Watrin bezieht sich zentral auf J. M. Buchanan, The Limits of Liberty, Chicago/London 1974; J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Neuwied 1975; R. Nozick, Anarchie, Staat, Utopie, München. 1976. 56 Im politischen Bereich etwa zwischen rechten SPD-Mitgliedem und ZentrumsAngehörigen bzw. vielen Wählern dieser Parteien.

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lenzugehörigkeit beschriebenen Armutsphänomene lediglich als Bündel heterogener individueller Schicksale anzusehen, deren äußeres Kennzeichen die Tatsache ist, daß die Betreffenden bestimmte Einkommenshöhen nicht erreichen57 , wäre lediglich die Konsequenz einer bestimmten, nicht die gesamte Lebenslage der Betreffenden würdigenden Armutserfassung. Sie würde ihren Schicksalen zu wenig gerecht werden und auch nicht ihre politischen Handlungsmöglichkeiten erkennen lassen. Derartige Darlegungen politisch-wertender Art - oder doch erfahrungswissenschaftlicher Art mit politischer Relevanz - die die Bedeutung klassen- oder gruppenmäßiger Merkmale sozialen Zusammenhalts oft vorschnell verneinen, weisen nach meiner Auffassung deshalb nicht zuletzt auf die Zweckmäßigkeit erweiterter, nicht auf das Einkommen beschränkter Lebenslagenanalysen hin. Nicht nur verschiedene Verfechter von Argumenten einer Neuen Sozialen Frage, sondern auch liberal-konservative Kritiker dieser Problematisierung gehören zu denjenigen, die offensichtlich Armut auf ihre ökonomische Dimension verkürzen. "Die in den Strukturen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung begründeten Ursachen der Armut als einem Problem gesellschaftlicher Ungleichheit werden ausgeblendet und die Wirkungsweise der vorherrschenden gesellschaftlichen Verteilungsmechanismen nicht problematisiert58. Das ,drastische Ausmaß von Armut' versteckt sich hinter Zahlen, die sich jeweils aus einer gerade aktuellen Definition des Existenzminimums ergeben. Schließlich wird durch dieses Vorgehen Armut zur Einzelfallarmut und zu einer individuell zu tragenden Bürde"59 . Die für unsere Sozialordnung grundlegende Problematik kann jedoch im Anschluß an Offe und Kleinhenz in der Zunahme horizontaler Ungleichheiten innerhalb von gleichen Statusgruppen - z. B. nach Geschlecht, Alter, Religion, Lebensbereichen - gesehen werden. Sie wurde bei der Konzentration unserer Sozialdebatten auf die vertikalen Aspekte der sozialen Ungleichheit bislang zu wenig berücksichtigt60• Hinsichtlich eines weiteren Ausbaus der 1957 begonnenen Ausrichtung des Systems der sozialen Sicherung einerseits an einer am Äquivalenzprinzip orientierten Lebensstandardsicherung und andererseits an einem an Mindestbedarfsvorstellungen orientierten Prinzip des sozialen Ausgleichs kann So urteilt Ch. Watrin, Ordnungspolitische Aspekte . .. , a. a. 0., S. 971. Vgl. dazu B. Badura u. P. Gross, Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen, München 1976, S. 198 ff. u. besond. S. 202 f. 59 So urteilt treffend B. Scharf, Eine Neue Soziale Frage, a.a.O., S. 47. 60 Vgl. C. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: G. Kress u. D. Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft, Frankfurt/M. 1972, S. 135 ff. u. besond. S. 154; G. Kleinhenz, Entwicklungstendenzen und Aufgaben bei der Ausgestaltung unserer Sozialordnung, Vortrag im Walberberger System-Symposion 1976, S. 13. 57

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daher folgendes angenommen werden: "Solange es nicht gelingt, die Voraussetzungen für die Benachteiligungen am Arbeitsmarkt und bei den Arbeitseinkommen, z. B. für Frauen, für nichtqualifizierte Arbeitnehmer, für wegen Alter oder schlechter Gesundheit weniger leistungsfähige Arbeitnehmer, durch berufliche Bildungsmaßnahmen oder durch Maßnahmen der ... strukturell differenzierten Beschäftigungspolitik zu beseitigen, wird die Verbindung der beiden ambivalenten Ausrichtungen der sozialen Sicherung auf Mindestbedarfs- bzw. Lebensstandardsicherung über abwechselnde Anpassungs- und Differenzierungsbestrebungen eine Tendenz zur Ausweitung des Umfangs der kollektiven sozialen Sicherung begründen"61 • Der individualistische Ansatz wird vollends dann "vom Kopf auf die Füße gestellt" (Widmaier), wenn erstens auch der beträchtlich zunehmende Bedarf an "meritorischen" Gütern und Diensten für Randgruppen, aber auch breiteste Schichten beachtet wird. Zweitens sind dann die heute beachtlichen Selbstentfaltungsmöglichkeiten der einzelnen und Personenmehrheiten mittels "politischer" Güter im Rahmen sozial- und gesellschaftspolitischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse demokratischer bzw. partizipativer Art zu berücksichtigen. Im ersteren Falle wird- bedingt durch Prozesse der Urbanisierung und veränderter Wohnkultur, oder z. B. hervorgerufen durch Wandlungen des regenerativen Verhaltens, höhere Lebenserwartungen und zunehmende Berufstätigkeit von Frauen -größerer gesellschaftlich zu befriedigender Bedarf als früher nicht nur bekundet, sondern auch tatsächlich zunehmend auf gemeinsame Weise befriedigt62 . Im zweiten Falle geht es womöglich um die größte Herausforderung unserer Zeit überhaupt. Sie besteht nach der subjektiven Auffassung des Verfassers darin, daß auch in prinzipiell freiheitlich strukturierten Ordnungen über zunehmende Ökonomisierungs- und Ökonomismusprozesse idealistisch oder materialistisch verbrämte Technokratien Besitz von uns ergreifen können, sofern vorhandene Handlungsspielräume nicht genutzt werden63 • Gegensteuerung muß, wenn sie erfolgreich sein will, bald einsetzen und gezielt erfolgen. "Durch die Vermittlung öffentlicher Tugenden wie Solidarität, Kooperation, Hilfsbereitschaft könnte eine der Zerstörerischen Tendenz der Durchsetzung der ökonomischen Rationalität gegenläufige Tendenz über Sozialisationsprozesse durchgesetzt und vermittelt werden." "Diese Umkehr freilich hat einen Preis: Sie bedeutet eine systematische G. Kleinhenz, Entwicklungstendenzen ... , a. a. 0., S. 15. SoG. Kleinhenz, Entwicklungstendenzen ..., a.a. O., S. 16 ff. 63 Vgl. dazu W. W. Engelhardt, Grundsätzliche Bemerkungen zur Ökonomisierung und zum Ökonomismus, in: wisu, 5. Jg., 1976, S. 13-17 u. 61-65; ders. , Zum Verhältnis von sozialen Utopien und politischen Konzeptionen, in: Sozialer Fortschritt, 29. Jg., 1980, S. 1 ff., 41 ff. und 66 ff. 61

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Substitution des Eigeninteresses durch Perspektiven in Richtung gesellschaftlicher, genuin sozialer Interessen"64. 2. Sozial Schwache und Gefährdete heute

Als besonders gravierende soziale Probleme der Gegenwart empfindet der Verfasser solche der Entwicklungsländer und hier insbesondere diejenigen der "vierten Welt". Nord-Süd-Probleme haben in der Politik die in den letzten Jahrzehnten zweifellos dominierenden Ost-West-Probleme zunehmend in den Schatten gestellt. Sie bilden nach Auffassung des Vorsitzenden der neugegründeten internationalen Entwicklungskommission, des ehemaligen Bundeskanzlers Brandt, heute die "eigentliche soziale Frage", deren Lösung für den Ausgang dieses Jahrhunderts und die Art und Weise des Übergangs zu einem neuen Jahrtausend entscheidend sein könnte. In den industriell mehr oder weniger entwickelten Ländern des "Westens" und "Ostens" erscheinen als sozial schwerwiegende Fragen neben den im letzten Abschnitt behandelten zugegebenermaßen nicht zuletzt diejenigen, die aus unbeabsichtigten Wirkungen bisheriger Politik entstanden sind. Dabei ist zur Vermeidung von Problemverkürzungen aber keineswegs nur an solche der bisherigen Sozial- und Gesellschaftspolitik zu denken. Gleichermaßen gilt es auch, die bisherige Wirtschaftspolitik als Anknüpfungspunkt kritisch heranzuziehen. Während wir es in den heutigen Entwicklungsländern von vomherein mit großen oder sehr großen Bevölkerungsteilen zu tun haben, die von unterschiedlichen Kriterien her als "sozial schwach" in dem Sinne bezeichnet werden können, daß ihre Lebenslagen nach öffentlich vorherrschender Meinung unzumutbar sind und daher sozial- oder gesellschaftspolitische Aktivitäten erfordem65, gewinnen in den Industriestaaten mit besonders raschen strukturellen und funktionellen Wandlungen solche Gruppierungen an Bedeutung, die infolge der Wandlungen und der durch sie hervorgerufenen Unsicherheit als ihrer "auffälligsten Eigentümlichkeit"66, "sozial gefährdet" sind. Als sozial gefährdete Gruppen bzw. Personenmehrheiten lassen sich dabei jene Bevölkerungsteile zusammenfassen, deren Lebenslage durch 64 H. P. Widmaier, Sozialpolitik ... , a.a.O., passim u. hier S. 168. Vgl. auch H. Hinz, Zu einer Theorie der Gewerkschaften, in: Sozialer Fortschritt, 24. Jg., 1975, besond. S. 206 ff. 65 In Anlehnung an G. Weisser, Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre, unveröff. Manuskript für den Hörergebrauch, zuletzt Köln 1966. Vgl. auch ders., Art. Sozialpolitik, in: W. Bemsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Auf!., Stuttgart 1969, S. 1041 f.; G. Kleinhenz, Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, S. 68 ff.; W. W. Engelhardt, Theorie der Sozialpolitik, in: W. Glastetter u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft, Wiesbaden 1978, Sp. 1188 ff.

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bereits eingetretene oder voraussehbare Ereignisse bedroht ist, ohne Sozialoder Gesellschaftspolitik unter das nach vorherrschender öffentlicher Meinung gerade noch als zurnutbar angesehene kulturelle bzw. soziale Existenzminimum abzusinken67 . Im einzelnen trifft zu, daß in den Entwicklungsländern auch heute selbst Hunger und Seuchen bekanntlich nicht überwunden sind und es damit an grundlegenden sozialen Voraussetzungen für ökonomische Leistungsfähigkeit der Bevölkerungen außerhalb von schmalen Ober- und Mittelschichten fehlt. In viel stärkerem Ausmaße als in entwickelten Ländern gibt es in den Entwicklungsländern eine Tendenz zur Vernachlässigung von Koordinierungsaufgaben sozialer und wirtschaftlicher Aspekte68 . Zu den Mängeln, die sich nach Auffassung des UN-Sozial- und Wirtschaftsrats als Kernprobleme der siebziger Jahre erweisen, zählen die Unfähigkeit, für einen entscheidenden Teil der potentiellen Arbeitskräfte produktive und lohnende Arbeitsplätze zu schaffen; das Unvermögen. zu einer die Massenarmut reduzierenden Verteilung der Wachstumszuwächse zu gelangen; die Unfähigkeit, die Bevölkerungen an den entwicklungsrelevanten Entscheidungen zu beteiligen. Ferner werden aufgezählt die soziale Unruhe und das Anwachsen verschiedenartigster Formen der Gewalt, die Verletzung der Menschenrechte der breiten Bevölkerungsschichten durch herrschende Gruppen, die Verschwendung unersetzlicher Naturressourcen und Beeinträchtigungen der Umwelt, schließlich unkoutrolliertes Bevölkerungswachstum und die Bevölkerungskonzentration in den Städten69 . Auch in den westlichen und östlichen Industrienationen wurden bekanntlich in großem Umfange nicht vorhergesehene, geschweige denn genügend mitbedachte Umwelteffekte ausgelöst. Abgesehen von den Bildungsfragen und den früher herausgearbeiteten grundsätzlichen Fragen bilden sie den Ausgangspunkt für das vermutlich komplexeste gesellschaftspolitische Problem der Zeit. Entgegen Fischer, der die ökologischen Probleme nicht als neue soziale Frage einstuft70, wird hier jedenfalls für eine derartige Klassifizierung eingetreten. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil - entgegen den Vermutungen von Bellebaum und Braun71 -offenbar auch unter Bedingun66 Sie konstatierte allerdings bereits L. v. Stein und K. Marx. Vgl. dazu D. Schäfer, Die Rolle der Fürsorge im System sozialer Sicherung, Frankfurt/M. 1966,

S. 54 ff. u. besond. S. 58. 67 Vgl. dazu G. Weisser, Einige Grundbegriffe ... , a.a.O. Siehe auch H. Flohr, Rationalität und Politik, Bd. 2, Neuwied u. Berlin 1975, S. 107. 68 Dies konstatierten die Vereinten Nationen in ihrem Bericht über die soziale Lage der Welt im Jahre 1970. Vgl. D. Nohlen u. F. Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. I, Harnburg 1974, S. 45. 69 Vgl. D. Nohlen u. F. Nuscheler (Hrsg.), Handbuch ..., a.a.O., S. 81 f. 70 Siehe W. Fischer, Der Wandel der sozialen Frage ... , a.a.O., S. 62 f.

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Teil A: Zu einigen Aspekten der Sozialpolitik

gen spät- bzw. postindustrieller Gesellschaften die Lösung sozialer Fragen durch die unmittelbar Betroffenen nicht bloß selten spontan eingeleitet wird. Die Volksbewegung der ,.Bürgerinitiativen", die in der Bundesrepublik zusammen mit anderen Selbsthilfebestrebungen gemeinsamer Art nach Schätzungen etwa zwei Millionen Mitglieder und Interessierte umfaßt, dürfte es belegen72 . Zu den ,.alten" sozialen Problemen, die vielfach fortdauern, treten aber auch außerhalb des Umweltproblems und der Bildungsfrage viele ,.neue" hinzu, oder sie erhalten als alte Probleme neue Dimensionen, wie für die Bundesrepublik neben Blume und Mitarbeitern im Ansatz gerade Bellebaum und Braun herausgearbeitet haben. Es sind nicht nur solche der Armut im Sinne einer ,.auffällige(n) Disparität der Lebensbereiche und eine(r) deutliche(n) Ungleichheit der Lebenschance(n)", die früher unter gleichgearteten Armen vielfach nicht bestand und welche vor allem die Bereiche Gesundheit, Bildung, Wohnung und Verkehr betrifft. Auch der Alkoholismus, die Obdachlosigkeit und Nichtseßhaftigkeit, körperliche Behinderungen und psychische Krankheiten, Drogenkonsum und Medikamentenmißbrauch, die Heimerziehung - im Zusammenhang mit strukturellen Wandlungen der Familien -, nicht zuletzt schließlich das Altem und das Alter bei einer zunehmenden Personenzahl sowie die Gastarbeiterfrage bilden alte und neue Probleme zugleich73 • 3. Zu den Entstehungsbedingungen neuer sozialer Fragen

Sieht man einmal von den sozialen Fragen in Entwicklungsländern ab, so gilt offenbar, daß im Industriezeitalter viele zunächst halbwegs befriedigend gelöste Fragen die ,.fatale Eigenschaft" (Cassel) offenbaren, neue - bis 71 Vgl. A. Bellebaum/H. Braun (Hrsg.), Reader Soziale Probleme I, a.a.O., S. 5 ff. Siehe auch G. Albrecht, Vorüberlegungen .. ., a.a.O., S. 155 ff. In anderer Akzentuierung äußert sich H. Braun im Reader Soziale Probleme II, Initiativen und Maßnahmen, Frankfurt/M. u. New York 1974, S. 9 ff. 72 Vgl. R. Zundel, Anschlag auf die Parteien oder Ventil der Verdrossenheit? In: Die Zeit, Nr. 33 v. 5. 8. 77, S. 3. Allerdings scheint sich die Zahl der Zusammengeschlossenen und Sympathisanten im Herbst 1977 schnell zu reduzieren. 73 Vgl. A. Bellebaum/H. Braun (Hrsg.), Reader Soziale Probleme I und II, a. a. 0., passim. Von den bekannteren Untergliederungen der sozialen Frage können weder diejenigen der älteren Sozialpolitiklehre, die sich allein an der ,.Arbeiterfrage" orientieren, noch solche der Soziologie, die nach Kriterien ,.sozialer Desorganisation" und ,.abweichendem Verhalten" differenzieren, befriedigend genannt werden. Letztere insbesondere deshalb nicht, weil in den industriellen Gesellschaften - aber auch in Entwicklungsländern - Desorganisation nicht vorliegen muß. Als abweichendes Verhalten wird oft der Fall der ,.aberrants" und derjenige der ,.nonconformists" unzweckmäßig zusammengefaßt, obwohl nur die letzteren zu Schlüsselfiguren der Entstehung von Utopien und sozialer Bewegung werden können.

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dahin unbekannte oder in ihren Ausmaßen und Details neu dimensionierte -Probleme zu schaffen. Nach Auffassung von Autoren der Frankfurter Kritischen Theorie verläuft die Aufklärung als dialektischer Prozeß74, der solche und andere "Resultate" geradezu zwingend auszulösen scheint. Sozialpolitische Bedürfnisse entstehen, so gesehen, nicht nur bei der Schaffung von Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung und in ihrem unmittelbaren Gefolge, sondern - abgesehen von Naturkatastrophen, Kriegen, Völkerwanderungen usw. als weiteren Auslösern - nicht zuletzt auch als langfristige Auswirkungen der mit den ,,kapitalistischen" Institutionen verbundenen Herrschaftsverhältnisse75 • Es kommt schließlich geradezu zum "Immobilismus" (Achinger) der Sozialpolitik gegenüber dem fließenden Charakter der Gesellschaftsentwicklung, wie er sich besonders in Verrechtlichungs-, Monetarisierungs- und Zentralisierungserscheinungen und in einer Tendenz zur Perpetuierung der sozialen Tatbestände ausdrückt76• Die neuen Probleme reichen von den kaum übersehbaren Wirkungen der auf Länderebene bezogenen und der übernationalen Mobilität der Menschen in Beruf und Verkehr, über die mehr oder weniger "unwirtlichen" (Mitscherlich) Konsequenzen der Urbanisierung77 , die gesellschaftlichen Verdinglichungs-, Entfremdungs-, Vermachtungs- und Sozialpflichtigkeitsprozesse infolge des Entstehens von Großorganisationen, bis hin zu den "selbstgeschaffenen Risiken" (Molitor) der sozialen Sicherung78 und anderer Sozialpolitik, Risiken aber natürlich auch des mehr oder weniger inflationär gestalteten Wachstums und anderer Teile der Wirtschaftspolitik. Sie alle zusammen rufen zusätzlichen Bedarf an privaten und öffentlichen Gütern, nicht zuletzt auch den früher erörterten Bedarf an meritorischen und politischen Gütern hervor und stellen herkömmliche Einteilungen und Lösungen sozialer Probleme infrage79 •

74 Vgl. vor allem M. Horkheimer/Th. W. Adomo, Dialektik der Aufklärung, Neuausgabe, Frankfurt/M. 1969. 7S So Ch. v. Ferber, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Harnburg 1967, besond. S. 33 ff. Zur Entstehung sozialpolitischer Bedürfnisse siehe neuerdings vor allem H. P. Widmaier, Sozialpolitik . .., a. a. 0., Kap. II, 3. Abschn. 76 Vgl. H. Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Neuauflage, Frankfurt 1971, S. 88; E. Liefmann-Keil, Sozialinvestitionen und Sozialpolitik- Zur Perpetuierung der Sozialpolitik, in: Gewerksch. Monatsh.• 23. Jg., 1972, S. 24 ff.; H. P. Widmaier, Sozialpolitik ..., a. a. 0., S. 38 ff. 77 Vgl. A. Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/M. 1965; G. Kleinhenz. Die Verstädterung als sozialpolitisches Problem, in: 8. Külp u. H.-D. Haas, Soziale Probleme . .. , 1. Hbbd., S. 339-373. 78 Als einer Ursache der Kostenexplosion in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Siehe dazu B. Molitor, Sozialpolitik auf dem Prüfstand, Harnburg 1976, S.19ff.

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Neue soziale Probleme können also zweifellos durch ausgebaute Richtungen und neue Dimensionierungen bisheriger Sozialpolitik entstehen oder auch durch die praktizierte Verteilungspolitik, die ihrerseits von sozialpolitischen Zielen geleitet sein kann. Letzteres läßt sich am Beispiel der Versorgungsdefizite von Beziehern fester Einkommen infolge zunehmender inflationärer Tendenzen zeigen, die durch expansive bzw. nichtproduktivitätsorientierte Lohnpolitik ausgelöst werden können. Sie lassen sich ebenso aber auch durch primär wirtschaftspolitische Maßnahmen und nach produktionspolitischen Erwägungen simultan getroffenen einkommenspolitischen Verhaltensweisen initiieren, die in rationaler Hinsicht zunächst "ohne Fehl und Tadel" zu sein scheinen, weil sie streng produktions- bzw. produktivitätsorientiert sind. Das eine wie das andere kann etwa an der zunehmenden gesellschaftliehen Isolierung und anderen außerwirtschaftlichen Effekten bei alten Menschen gezeigt werden, die heute oft - keineswegs aber immer - lediglich in ökonomischer Hinsicht versorgt sind. Andere Beispiele sind der Drogenmißbrauch bei Jugendlichen - die vielfach aus begüterten Schichten kommen -; Alkohol- und Medikamentenmißbrauch80; schließlich oft wachsende Anfalligkeit für ökonomistische Ideologie gerade bei erfolgreichem Wirtschaften, die etwa in Form des "free rider"-Verhaltens die sozial Schwachen keinesfalls sehr früh, sondern eher historisch zuletzt erreicht81 • In diesem Zusammenhange mittels der Logik der invisible band bzw. geleitet von der Idee der unbeabsichtigten Konsequenzen menschlichen Handeins allein Funktionsmängel des Sozialstaats und nicht solche des individuellen Handeins schlechthin sehen zu wollen und außerdem gegen die auf vielen Gebieten zweifellos zunehmenden Erwartungshaltungen bezüglich der Erfüllung bestimmter neuer Bedürfnisse82 vorwiegend zu polemisieren, würde zumindest sehr einseitig sein. Bei dem erreichten Stande und 79 Eine auch nur annähernd vollständige Aufzählung war hier nicht beabsichtigt. Zu weiteren Problemen siehe B. Badura u. P. Gross, Sozialpolitische Perspektiven, a. a. 0.; Ch. v. Ferber u. F.-X. Kaufmann, Soziologie und Sozialpolitik, a. a. 0.; B. Külp u. H.-D. Haas, Soziale Probleme ..., a.a.O. 80 Siehe dazu I. lllich, Die Enteignung der Gesundheit, Reinbek 1975. 81 Zuerst wird zweifellos bei Unternehmern "Kapital ... auf Kapital getürmt, weil das Geschäft wächst" (Sombart) und werden vorhandene Gesetze, z. B. Steuergesetze, in einer vom Gesetzgeber vielfach nicht beabsichtigten Weise genutzt. Vgl. zu den Erscheinungsformen des Ökonomismus W. Sombart, Der Bourgeois, München/ Leipzig 1923, S. 217 ff.; G. Katona, Das Verhalten der Verbraucher und Unternehmer, S. 236 u. 242 ff.; R. Koehne, Das Selbstbild deutscher Unternehmer, Berlin 1976, s. 116 ff.• 163 f. u. 204 ff. 82 Vgl. dazu G. Scherhom, Verbraucherinteresse und Verbraucherpolitik, Göttingen 1975, S. 5 ff.; G. Kirsch, Die politische Realisierbarkeil gesellschaftspolitischer Ziele - ein Beitrag der Ökonomischen Theorie der Politik, in: B. Külp u. H.-D. Haas, Soziale Probleme ... , 2. Hlbbd., a. a. 0., S. 888 ff.

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der Differenziertheil industriestaatlicher Entwicklungen wäre eine solche ordnungspolitische Position inadäquat. Natürlich kann aber auch eine Dogmatisierung der eingetretenen und der realmöglichen Entwicklungen zu Gesetzlichkeilen nicht ausreichend begründet werden und ist eine Überschätzung der dialektischen Methode, die ihr mehr als beschreibende Leistungen zubilligt, zu vermeiden83 • Was speziell die Logik der invisible hand betrifft, so verführt sie überdies zu einer heutigen Gegebenheiten gegenüber möglicherweise unangemessenen, weil rein individualistischen Interpretation des Sozialstaats, so instruktiv Einzelbeobachtungen über Wirkungen bisherigen Handeins im Rahmen sozialer Sicherungsmaßnahmen auch sein mögen. Der heutige Staat, der Sozialstaat sein will und sich entsprechende Verfassungsnormen und Institutionen schafft, kann trotz vorliegender ökonomischer und politischer Restriktionen durchaus .,gestaltend, stabilisierend und ausgleichend ... wirken"84, was neben Marxisten-Leninisten wohllediglich extreme Liberale konservativer Prägung bestreiten85 .

83 Die letztere Kritik meint nicht nur die oben zitierte Kritische Theorie, sondern ebenso die Hegel-v. Steinsehe Staatstheorie. Siehe zu deren Interpretation E. R. Huber, Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz v. Steins, in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, München 1972, S. 140-163. 84 So auch E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, Allgemeiner Teil, 10. Auf!., München 1961, S. 4. 85 So etwa Ch. Watrin, Ordnungspolitische Aspekte ... , a.a.O. Vgl. auch ders., Art. Marktwirtschaft, in: W. Glastetter u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft, a.a. O., Sp. 818 ff.

Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der Sicherheit, Subsidiarität und Sozialpolitik I. Wahrnehmungen und Mutmaßungen zum Risiko· und Sicherheitsproblem 1. Begriffe wie "Risiko", "Ungewißheit", "Unsicherheit", "Wahrscheinlichkeit", ,,Erwartung", "Vision", "Sicherheit", "soziale Sicherheit" sind weithin komplementär. Sie umschließen Themen bzw. Probleme der nur teilweise wissenschaftlich betreibbaren "Futurologie". Die durch diese und ähnliche Begriffe ausgedrückte persönliche und gesellschaftliche Problematik läßt sich unzweifelhaft durch Wettbewerb, der "als angewandtes Subsidiaritätsprinzip im wirtschaftlichen Bereich" 1 und weit darüber hinaus verstanden werden kann, erheblich beeinflussen, d. h. entweder steigern oder aber - im Gegenteil - reduzieren.

Im heute feststellbaren Sicherheitsverlangen vieler Menschen spiegeln sich zwar nicht notwendig objektiv gewachsene, wahrscheinlich gewordene Lebensrisiken und größere Schadenshäufigkeiten. Viele Indikatoren für größere Lebenssicherheit, wie etwa die durchschnittliche Lebenserwartung Geborener, sprechen - im Vergleich zu früheren Jahrhunderten - gegen eine solche These. Wohl aber zeugt das vorhandene Sicherheitsverlangen nach Ansicht des Sozialphilosophen Hermann Lübbe für wachsende Ungewißheiten, entsprechend unsichere Erwartungen und stark zunehmende Risikoempfindlichkeiten. 2

1 So Lampert, H., Wettbewerb und Subsidiarität, in: Entwicklung und Subsidiarität. Deutsch-polnisches Gespräch über Wirtschaft und Gesellschaft im Lichte der christlichen Sozialethik, Meile 1986, S. 156-163, hier S. 159 ff. Siehe auch ders., Freiheit als Ziel der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Freiheit als Grundwert demokratischer Gesellschaften, St. Ottilien 1992, S. 19-48, hier S. 41 ff. 2 Vgl. zu den folgenden Darlegungen Lübbe, H., Sicherheit, Risikowahrnehmung und Zivilisationsprozeß, in: Bayerische Rückversicherung AG (Hrsg.), Risiko ist ein Konstrukt. Wahrnehmungen zur Risikowahmehmung, München 1993. Zu den berührten Grundsatzfragen siehe vorher z. B. auch Weisser, G., Soziale Sicherheit, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 396-412; Braun, H., Soziale Sicherung. System und Funktion, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972, Engelhardt, W. W., Zum Verhältnis von Sozialpolitik und Ordnungspolitik, am Beispiel der Politik sozialer Sicherung erörtert, in: Sozialer Fortschritt, H. 7-1011977.

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Erfahrungen der Unsicherheit nehmen offenbar mit abnehmender Vorhersehbarkeit der Zukunft zu. "Noch nie hat eine kulturelle Gegenwart über die Zukunft, die ihr bevorsteht, weniger gewußt als unsere eigene", behauptet Lübbe. Dies nicht zuletzt infolge der aus grundsätzlichen Erwägungen unabsehbaren Wissensentwicklung, je länger wissenschaftliche und technische Fortschritte anhalten. Nach Ansicht des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Karl R. Popper können wir bekanntlich "nicht heute das vorwegnehmen, was wir erst morgen wissen werden"3 . In der Literaturszene und Utopistik entspricht dem die wachsende Präferenz für gegenutopische Schreckensthemen, statt für religiöse Heils- oder laizistische Fortschrittsutopien.4 2. Zu den wesentlichen Ursachen intensiverer Risikoerfahrungen und größerer Risikoempfindlichkeiten, die zu einer sinkenden Bereitschaft zur "klaglosen Hinnahme von Lebensrisiken" führen, rechnet Lübbe u. a. die "Zunahme des relativen Anteils derjenigen Lebensvoraussetzungen, die zugleich unsere eigenen Hervorbringungen sind". Was die Betroffenen früher als ein Ereignis aus Vorgängen unverfügbarer Natur mehr oder weniger "ereilte" - "die rationale Form, sich zu ihnen in Beziehung zu setzen, war Religion" - habe jetzt den Charakter einer Handlungsnebenfolge, für die sich die Frage ihrer Verantwortung stellt. Risikoerfahrungen intensivieren sich auch mit der Zunahme der "Eingriffstiefe unseres Handelns" sowie mit den Projektionen und Vermutungen darüber, was dabei unbeabsichtigt als Nebenfolge oder Spätwirkung "angerichtet" wird. Mit der Eingriffstiefe nimmt zugleich unsere wechselseitige Abhängigkeit vom Handeln anderer zu, was Autarkieverluste von Individuen und kleinen Gruppen zur Folge habe. "Entsprechend expandiert in der modernen Gesellschaft mit der Reichweite unserer realen Abhängigkeit von Handlungen anderer unser an die Adresse dieser anderen sich richtender Anspruch auf Gewährleistung unserer Sicherheit in dieser Abhängigkeit". Die allgemeine Risikoempfindlichkeit nimmt offenbar aber auch mit der sinkenden Bedeutung direkter sozialer Abhängigkeiten und Kontrollen sowie mit den dazu wachsenden indirekten Abhängigkeitsverhältnissen und dem steigenden Sicherheitsaufwand zu. "Das Sicherheitsverlangen wächst mit der Höhe des technischen und sozialen Sicherheitsniveaus". Vielleicht sei es in dieser Frage - vermutet Lübbe - ähnlich wie bei den Befindlichkeiten der Teilnehmer einer Autofahrt, wo oft auch mit der Nähe zum Ziel Popper, K. R., Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. XII. Zu den unterschiedenen Utopiearten siehe z. B. Engelhardt, W. W., Über Leitbilder in der Sozialpolitik und zur Utopienproblematik in der Sozialpolitiklehre, in: Herder-Domeich, Ph./Zerche, J./Engelhardt, W. W. (Hrsg.), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992, S. 55-77, hier S. 67 ff. 3

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die Ungeduld wachse. Dabei wäre es .,ein zivilisationskritisches Mißverständnis anzunehmen, daß sich in wachsenden Sicherheitsansprüchen eine wachsende Dekadenz unserer Selbstbestimmungsfähigkeit spiegele. Insoweit verhält sich die Sache genau umgekehrt. Kraft Wohlfahrt und disponibler, nämlich notwendigkeitsentlasteter Lebenszeit war das Ausmaß der Möglichkeiten zu selbstbestimmter Lebensverbringung nie größer als heute, und diese Möglichkeiten werden genutzt". 3. Jederman wisse, .,daß die geschätzten und überwiegend genutzten Freiheiten moderner Lebensverbringung gerade nicht auf der sozialen Autarkie der Individuen und kleinen Gruppen beruhen, vielmehr auf den sozialen Sicherheiten, wie sie einzig die moderne Gesellschaft über ihre politischen Institutionen zu gewähren vermag, und eben deshalb wachsen die Ansprüche ans System unserer sozialen Sicherheiten nicht trotz der Freiheitsansprüche moderner Bürger, vielmehr ihretwegen". In komplexen Gesellschaften sei die seit langem zunehmende Individualisierung gerade an weiter ausgebaute Systeme staatlich garantierter Sicherheiten gebunden. Sie würden als zuverlässige Rahmenbedingungen ihres Handeins nicht zuletzt von vielen innovationsfähigen Personen geschätzt. Denn die Lust der Neugier gestatte sich im Regelfalle nur, wer hinreichende Sicherheiten im Rücken habe. Soziale Sicherung .,ermutigt die einzelnen", schreibt auch der Wirtschafts- und Unternehmensethiker Karl Homann, .,langfristige und risikoreiche Investitionen in Sach- und vor allem in Humankapital vorzunehmen, da sie im Falle des Scheiteros aufgefangen werden und eine neue Chance erhalten"5 • Der ideologische Gegensatz von Verstaatlichung und Privatisierung erscheint von hier aus aber nicht nur Sozialphilosophen, sondern auch empirisch forschenden Soziologen überholt. .,Sowohl steigende Individualisierung als auch steigende Sicherheitsbedürfnisse sind tiefliegende Trends der Modemisierung, die über bloß hedonistische Idiosynkrasien der Bürger hinausreichen" 6 • s Homann, K./Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Untemehmensethik, Göttingen 1992, S. 60. Nach Benrand de Jouvenel (.,Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums", Freiburg/Br. 1972, S. 404) ist Freiheit .,nur ein sekundäres Bedürfnis im Vergleich zum Primärbedürfnis der Sicherheit"; hier zit. nach Albert, H., Freiheit und Ordnung, Tübingen 1989, S. 99. Zu einer insgesamt eher kritischen Würdigung von Sozialpolitik und Sozialstaat vgl. hingegen z. B. Molitor, B., Sozialpolitik auf dem Prüfstand, Harnburg 1976; Koslowski, P./Kreuzer, Ph./ Löw, R. (Hrsg.), Chancen und Grenzen des Sozialstaats, Tübingen 1983. 6 So Zapf, W., Individualisierung und Sicherheit- Einige Anmerkungen aus soziologischer Sicht, in: Rolf, G./Spahn, P. B./Wagner, G. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, Frankfurt/New York 1988, S. 371-380, hier S. 374. Vgl. auch Alber, J., Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950-1983, Frankfurt/New York 1989, S. 165 f. Auch bei Privatisierung behält übrigens der Staat, wie Wolfram Elsner

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4. Es sind möglicherweise nicht nur die Wettbewerbserfordernisse, sondern auch die charakterisierten - oder weitere - Risikoempfindlichkeiten, die zur Gewährleistung eines hohen Maßes individueller und sozialer Sicherheit subsidiär orientiertes politisches Handeln nahelegen. Dies gälte zumindest in dem Falle, wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit bei möglichst vielen Personen erhalten bleiben und auch zugunsten von Innovationsfähigkeit und entsprechender Motivation sogar noch gestärkt werden soll. Eine solche Strategie könnte sich dabei nicht nur aus nationalen, d. h. binnenwirtschaftlichen, entsprechenden sozialpolitischen und anderen auf Deutschland bezogenen politischen Erwägungen, sondern auch im Hinblick auf die Fortführung der Europäischen Integration empfehlen. Handeln nach entsprechenden Leitbildern und Entscheidungskriterien hält jedenfalls Verfasser in persönlicher Wertung als deutscher Staatsbürger heute für geboten. Dem stehen allerdings seit längerem auch Bedenken gegen die weitere uneingeschränkte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gegenüber. FranzXaver Kaufmann hat z. B. bereits vor zwei Jahrzehnten aus den schon damals erkennbaren Sachverhalten und Trends die Schlußfolgerung gezogen, daß das dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegende Denkmodell "konzentrisch ineinandergelagerter Lebenskreise" nicht mehr wirklichkeitsgerecht ist und deshalb nicht überschätzt werden darf. 7 Andere Autoren gehen besonders in den letzten Jahren noch viel weiter und zeihen Verfechtern der Subsidiarität, besonders soweit sie Wege der Reprivatisierung und Entstaatlichung bejahen, im Grunde der Absicht oder doch der Hinnahme von Wirkungen der Gesellschaftsspaltung durch Förderung oder Duldung von Umverteilungen von unten nach oben.8 "Wer gut verdient", schreibt der Journalist Wolfgang Hoffmann zur aktuellen gesundheitspolitischen Debatte, wie sie derzeit z. B. durch das "Gesundheitskonzept 2000" der FDP ausgelöst wird, ,,kann sich eine bessere Behandlung leisten, wer auf Zuschuß angewiesen ist, muß mit dem zufrieden sein, was der Fiskus bereit ist zu subventionieren. Rationierung durch die Hintertür".9

jüngst zu Recht betont hat, oft ein .,diffuses Restrisiko"; vgl. Elsner, W., Über das tiefgehende Schiff .,Privatisierung", in: Bremer Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 3/ 1993. 7 Vgl. Kaufmann, F.-X., Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970, S. 267. 8 Siehe dazu z. B. Wegner, B., Subsidiarität und .,Neue Subsidiarität" in der Sozialpolitik und Wohnungspolitik, Regensburg 1989, S. 70 ff. u. 89 ff. 9 Hoffmann, W., Rationalisierung des Gesundheitswesens ja, Rationierung nein, in: Die Zeit. Nr. 49 v. 3.12. 1993, S. 26.

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II. Enges und weites Verständnis der Subsidiarität 1. Das Handeln nach dem Prinzip Subsidiarität sollte nach hier vertretener persönlicher Wertung nicht unbedingt nur beim einzelnen oder bei der kleinen Gruppe von Personen ansetzen (= enges Verständnis des Prinzips). Bei dem an sich uralten Grundsatz kommt auch empirisch gesehen bereits relativ früh die "Anerkenntnis" hinzu, daß zunächst ein großes oder "gesteigertes Maß" staatlicher Fremdhilfen und Interventionen "notwendig und damit rechtmäßig geworden ist" 10 (= weites Verständnis des Prinzips). Dieses weite Verständnis lag z. B. bei Abraham Lincoln oder im 20. Jahrhundert bei Franklin D. Roosevelt vor und ist heute vermutlich bei Präsident Bill Clinton und dessen gesundheitspolitisch sehr aktiver Frau gegeben. 11 Dieses Maß ist - wie Oswald von Nell-Breuning als führender Vertreter der Katholischen Soziallehre in dem zitierten Brief näher ausgeführt hat - naturrechtlich sogar oftmals geboten, weil der Mensch erst auf diese Weise anfangen kann, allein oder in kleinen Gruppen seine eigenen Kräfte zu regen. 2. Systematisch betrachtet gibt es demnach mindestens zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Verständnisses von Subsidiarität: a) den sachlichen Vorrang individueller Selbsthilfen oder gemeinsamer Selbsthilfen im kleinen Kreise, von dem b) der zeitliche Vorrang gesellschaftlicher Selbsthilfen durch frei gebildete Großorganisationen oder staatliche Fremdhilfen zu unterscheiden ist, an deren "Hilfen zur Selbsthilfe" sich individuelle Selbsthilfen oder gemeinsame Selbsthilfen im kleinen Kreise erst anschließen. 12 Das Subsidiaritätsprinzip besagt also nicht unbedingt, daß die einzelnen und die kleinen Verbände vorzuleisten und daß erst bei Erschöpfung ihrer Kräfte die Gesellschaft und der Staat einzuspringen haben. Vielmehr verhält es sich unter Umständen nahezu umgekehrt. Wer anderes sagt, mißversteht das Prinzip laut Nell-Breuning u. U. "gründlich". Denn: "bevor der Mensch anfangen kann, seine eigenen Kräfte zu regen, muß die Gesell10 So über die weite Fassung Oswald von Nell-Breuning SJ im Jahre 1973 in einem m.E. bislang unveröffentlichten Brief an Prof. Dr. Burkhardt Röper (die Einsicht in diesen Brief verdanke ich Prof. Dr. Wolf-Dieter Becker, Wachtberg). 11 Zu Lincolns Position vgl. auch Lampert, H., Wettbewerb und Subsidiarität, a. a. 0., S. 156. Zur gegenwärtigen Reform des amerikanischen Gesundheitswesens siehe z. B. Reinhardt, V. E., Kontrollierter Wettbewerb im Rahmen der Reform des amerikanischen Gesundheitswesens, in: Informationsdienst der Gesellschaft für Versicherungswissenschart und -gestaltung e. V., Nr. 238, Februar 1994. 12 So Engelhardt, W. W., Selbstverantwortung, Solidarität, Subsidiarität und andere Sinnstrukturen der industriellen Gesellschaft, in: Herder-Domeich, Ph. (Hrsg.), Dynamische Theorie der Sozialpolitik, Berlin 1981, S. 55-78, hier S. 61 ff.

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schaft bereits eine Menge von Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen haben, ohne die er entweder überhaupt nicht dazu käme, seine Kräfte zu regen, oder doch seine Anstrengungen zu keinerlei Erfolg führen könnten"13. Nach der Interpretation Nell-Breunings in dem oben angegebenen Brief ist das Prinzip eben kein unwandelbares normatives "Gesetz der Sittenlehre", sondern lediglich eine Zuordnungsregel im Sinne einer analytischen Wahrheit, die an anthropologische Einsichten metaphysischer Art anknüpft: "Nur die Hilfe, bei der derjenige, dem geholfen werden soll, eine Förderung im Sinne seiner Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG) erfahrt" - von wo aus immer dies geschieht - "ist wahre Hilfe". Das Prinzip sollte trotz der Breite seiner Anwendungsmöglichkeit freilich auch nicht als bloße "Leerformel" verstanden werden. 14 3. In der Gegenwart scheint nun das Subsidiaritätsprinzip sogar im Sinne eines Schlüsselbegriffs bzw. einer Hauptnorm bei den Diskussionen über die Weiterführung der Europäischen Integration benutzt zu werden. Dabei geht freilich insbesondere das vorherrschende englische Verständnis des Prinzips - lediglich in Anlehnung an "subsidiär-abgeleitet bzw. aushilfsweise"15 statt, wie in der Sozialenzyklika "Quadragesima anno", an "Subsidium afferre-echte Hilfe fordernde" - völlig in die Irre. Allerdings heißt es dem Wortlaut nach auch in Ziffer 79 der Enzyklika: "Jede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen"16.

Als zentral gilt jedoch zumindest bei Sozialpolitikern und Wissenschaftlern der Sozialpolitik laut Gerhard Kleinhenz weiterhin ein doppelter Sinn der ZuordnungsregeL Danach soll das Gemeinwesen gegenüber dem Indivi13 von Nell-Breuning, 0., Solidarität und Subsidiarität im Raume von Sozialpolitik und Sozialreform, in: Boettcher, E. (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, S. 213-226, hier S. 219 ff. Vgl. auch Weisser, G., Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 1978, S. 300 ff.; Lampert, H., Freiheit als Ziel der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik . .. , a. a. 0., S. 41 . 14 Vgl. dazu Wegner, B., Subsidiarität und ,.Neue Subsidiarität" ..., a.a.O., S. 32 im Anschluß an Lompe, K., Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1960, s. 26. 15 So bereits z. B. Schäffle, A., Bau und Leben des sozialen Körpers, 2. Auf!., 2. Bd., Specielle Soziologie, Tübingen 1896, S. 520 f.; Nach dem Zweiten Weltkriege vgl. z. B. Küchenhoff, G., Staatsverfassung und Subsidiarität, in: Utz, A. F. (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, Heidelberg 1953, S. 75. 16 Hier zitiert nach Lampert, G., Wettbewerb und Subsidiarität, a. a. 0., S. 156. Zu den philologischen Mißverständnissen im Zusammenhang des Subsidiaritätsprinzips siehe Preller, L., Sozialpolitik. Theoretische Ortung, Tübingen/Zürich 1962, s. 219 ff.

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duum zur "vorleistenden" Hilfe bei der freien Entfaltung und Selbstverantwortlichkeit ("Hilfe zur Selbsthilfe") und zugleich zur "nachrangigen" Hilfe bei erschöpfter Selbstverantwortlichkeit verpflichtet sein. Analoges gelte für das Verhältnis gesellschaftlicher Gebilde unterschiedlichen Umfangs zueinander.17 Allerdings ist nach Ansicht des Autors mit dem Subsidiaritätsprinzip und mit der bei der Europäischen Integration neuerdings erfolgten Betonung der Gleichrangigkeil von wirtschaftlicher und sozialer Dimension weder schon eine klare Grundlage geschaffen worden noch gar ein Konsens für eine widerspruchsfreie Strategie unter den Mitgliedstaaten vorhanden. Ungeachtet der rein sprachlichen Sinnunterschiede sei mit dieser Verankerung des Subsidiaritätsprinzips nämlich "noch keine Lösung der hier erörterten Probleme durch einen klaren Rechtsgrundsatz für die Aufteilung der sozialpolitischen Handlungskompetenz erreicht. Die Verträge von Maastricht schaffen damit aber doch eine unmittelbare Grundlage, die soziale Integration in Europa zu untersuchen". Mit der Kompromissformel nach Art. 3 b der Europäischen Verträge von Maastricht als Teil der allgemeinen "politischen Grundsätze" sei auch die Möglichkeit eines strategischen Spiels eröffnet worden. Danach darf die Gemeinschaft bzw. Union im sozialen Bereich nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig werden, "sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden ( ...) und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". In diesem Spiel könne die EG-Kommission als Initiativorgan der Gemeinschaft mit dem Anspruch der im Sinne der Subsidiarität "besseren" Erfüllung der Ziele Aufgaben an sich ziehen 18, während die Mitgliedsländer, die sich ihrerseits auf das Prinzip berufen, dann die Verantwortung auf sich nehmen müssen, den europäischen lntegrationsprozeß aufzuhalten. Die möglich gewordene Gegenwehr des Föderalismus und Kommunalismus gegen den Zentralismus in Europa, der auf Initiative einiger deutscher Bundesländer zustande kam, ist zumindest bemerkenswert. Nach Gerhard Himmelmann "wird es in Zukunft sehr auf den Druck ankommen, den die deutschen Bundesländer gemäß ihrer innerstaatlich gewonnenen Machtpositionen auf den Bund als Verhandlungspartner in Europa ausüben können". Auch dieser Autor räumt ein: "Die Wahrung regionaler Interessen bedarf 17 Vgl. dazu und zum folgenden Kleinhenz. G., Subsidiaritätsprinzip und soziale Integration in Europa, in: ders. (Hrsg.), Soziale Integration in Europa II, Berlin 1994. 18 Zu dieser "eurozentralistischen" Perspektive siehe z.B. Rupp, H.-H., Maastricht- eine neue Verfassung? In: Z. f. Rechtspolitik, H. 6/1993, S. 211-213.

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neuer institutioneller Strukturen. Vielleicht ist dann das Konzept des Europas der Regionen die neue Idee, die einer solchen Reform den nötigen Schwung verleihen kann" 19.

m.

Ein BegritT der Sozialpolitik und seine lmplikationen

1. Der Begriff Sozialpolitik läßt sich unter Bezug auf den hier vertretenen Sinn von Subsidiarität im Sinne einer knappen - für theoretische und andere wissenschaftliche Zwecke allerdings ergänzungsbedürftigen Arbeitsdefinition bestimmen: Als Sozialpolitik kann dann im Anschluß an Gerhard Weisser gelten der "Inbegriff derjenigen Maßnahmen, die bestimmt sind, die Lebenslage von sozial schwachen oder gefährdeten Bevölkerungsschichten", aber auch von sozial entsprechend einzuschätzenden Einzelpersonen, "zu verbessern"20• Die Maßnahmen sollen sein "Hilfen zur Selbsthilfe", d. h. sie sollen entweder durch staatliche Hilfen von oben her oder aber durch gesellschaftliche Hilfen vornehmlich von unten aus zur individuellen (farnilialen) oder aber gemeinsamen bzw. solidarischen Selbsthilfe beitragen. 2. "Sozial schwachen Schichten" gehören nach der zugrundegelegten Definition der Sozialpolitik solche Gesellschaftsmitglieder an, "deren Lebenslage von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zurnutbar angesehen wird", d.h. die im Sinne der "in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele" (H. Lampert) zu verbessern sind. Gemeint sind dabei zumindest die "absolut Armen", die nicht über die Mittel für ein soziales (soziokulturelles) Existenzminimum verfügen. Das 19 Himmelmann, G. Perspektiven der Europäischen Gemeinschaft - unter dem Blickwinkel des Subsidiaritätsprinzips, in: Eichhorn, P. (Hrsg.), Perspektiven öffentlicher Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung der Europäischen Union, Baden-Baden 1994. Zu Grundsatzfragen des Föderalismus im Lichte des Subsidiaritätsprinzips vgl. Wegner, B., Subsidiarität und ,,Neue Subsidiarität" . .., a. a. 0., s. 14 ff. 20 Weisser, G., Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre, Neue Fassg. 1957 d. vervielf. Manuskr. v. 1952, S. 3. Zu anspruchsvolleren Begriffen in dieser Tradition, die Begriffe und Aufgaben der praktischen und der wissenschaftlichen, insbesondere theoretischen Sozialpolitik klarer unterscheiden, siehe vor allem Kleinhenz, G., Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, besond. S. 58 ff.; Engelhardt, W. W., Möglichkeiten einer Wissenschaft von der Sozialpolitik, in: ZfgSt., 130. Bd., 1974, S. 545-564, hier S. 549 ff.; Lampert, H., Sozialpolitik, Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 3-24; ders., Notwendigkeit, Aufgaben und Grundzüge einer Theorie der Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik, Berlin 1990, S. 9-71.

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soziale Existenzminimum ist im Unterschied zum physischen Existenzminimum die sich im historischen Ablauf der Gesellschaft und des persönlichen Lebens verändernde Güter- und Dienstleistungsmenge, die jeweils zur Fristung des Lebens als unentbehrlich angesehen wird. Zu denken ist beim Begriff der sozial schwachen Schichten aber auch an die jeweils "relativ Armen", welche einen geringeren Lebensstandard als die Personen (Familien) von Vergleichsgruppen oder des gesellschaftlichen Durchschnitts haben. 21 Nach neueren Untersuchungen der Nationalen Armutskonferenz leben derzeit in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 10 Millionen Menschen in Armut. Vor allem Obdachlose, Arbeitslose, Alleinerziehende und andere Sozialhilfeempfänger sind davon betroffen. Aufgrund von Massenentlassungen wird die Armut trotz anspringender Konjunktur auch in diesem Jahre weiter zunehmen. Über eine Million Kinder leben 1994 bereits von Sozialhilfe. 3. "Sozial gefährdeten Schichten", d.h. Personenmehrheiten mit "existenzgefährdenden Risiken" (H. Lampert), gehören hingegen nach der zugrundegelegten Sozialpolitikdefinition solche Mitglieder der Gesellschaft an, "deren Lebenslage durch bereits eingetretene oder voraussehbare Ereignisse bedroht ist, unter das nach vorherrschender Meinung noch zurnutbare Niveau abzusinken". Hierher gehören besonders in Zeiten großer struktureller und funktioneller Wandlungen von Wirtschaft und Gesellschaft relativ viele Menschen sowohl der Arbeiter- und Angestelltenschaft als auch des traditionellen Mittelstands und u. U. weit darüber hinaus. Heute geht es dabei offenbar nicht zuletzt um solche Gefährdungslagen, die aus "Modernisierungsrisiken" erwachsen können, wie sie etwa Ulrich Beck herausgearbeitet hat. Beck schreibt: "Während in der Industriegesellschaft die ,Logik' der Reichtumsproduktion die ,Logik' der Risikoproduktion dominiert, schlägt in der ,Risikogesellschaft' dieses Verhältnis um". Modernisierungsrisiken und -folgen würden sich in "irreversiblen Gefährdungen des Lebens von Pflanze, Tier und Mensch niederschlagen. Diese können nicht mehr - wie betriebliche und berufliche Risiken im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - lokal und gruppenspezifisch begrenzt werden, sondern enthalten eine Globalisierungstendenz, die Produktion und Reproduktion ebenso übergreift, wie nationalstaatliche Grenzen unterläuft und in diesem Sinne übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungen mit neuartiger sozialer und politischer Dynamik entstehen läßt". 21 Vgl. dazu z.B. Scher/, H., Absolute Annut in der Bundesrepublik Deutschland: Messung, Vorkommen und Ursachen, in: Widmaier, H. P. (Hrsg.), Zur Neuen Sozialen Frage, Berlin 1978, S. 79-126.

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Mit Modemisierungs- bzw. Zivilisationsrisiken werde die Wirtschaft gewissermaßen "selbstreferentiell" (N. Luhmann). "Das aber heißt: die Industriegesellschaft produziert mit der wirtschaftlichen Ausschlachtung der durch sie freigesetzten Risiken die Gefährdungslagen und das politische Potential der Risikogesellschaft". "Modemisierungsrisiken sind big business. Sie sind die von den Ökonomen gesuchten unabschließbaren Bedürfnisse. Hunger kann man stillen, Bedürfnisse befriedigen. Zivilisationsrisiken sind ein Faß ohne Boden, unabschließbar, unendlich, selbstherstellbar"22 . Allerdings entstehen in den globalen Gefährdungslagen - zu deren Bewältigung in der Regel eher umfassende Gesellschaftspolitik als gezielte Sozialpolitik gefragt sein dürfte - neben den auch hier nicht ausgeschlossenen persönlichen Risiken zweifellos selbst neue dazwischenliegende Gruppen- und Schichtrisiken. Gefährdungsrisiken "erwischen" zwar früher oder später auch diejenigen, die sie verantwortlich produzieren oder von ihnen sogar profitieren - beispielsweise in Form von Gesundheitsgefährdungen. Gleichzeitig produzieren sie aber auch neue Ungleichheiten, einerseits zwischen Industrieländern oder diesen und den Staaten der Dritten Welt, andererseits zwischen den Schichten in den Industrieländem. Deshalb hat Beck recht, wenn er schreibt: "Dieselben Schadstoffe (können) je nach Alter, Geschlecht, Emährungsgewohnheiten, Art der Arbeit, Information, Bildung usw. für verschiedene Menschen ganz verschiedene Bedeutung haben'm. 4. Richard Hauser hat für ein Modell einer geschlossenen stationären Wirtschaft mit stationärer heterogener Bevölkerung insgesamt folgende Arten von Unsicherheitsfaktoren unterschieden, anschließend auch mit Erwartungen bezüglich des Eintretens, des Zeitpunkts und Ausmaßes der unsicheren Ereignisse sowie der Beeinflußbarkeit und Versicherbarkeit der Faktoren verknüpft: a) Sozialpolitische Unsicherheitsfaktoren im engeren Sinne (wie Morbidität, Unfall, Pflegebedürftigkeit, geburtsbedingte Behinderungen, Erwerbsminderung oder Erwerbsunfähigkeit, Überschreiten der Altersgrenze, Kinderzahl, Arbeitslosigkeit usw.); 22 Beck, U., Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt/ M. 1986, S. 17 f. u. 30. Nach Ansicht von Arthur Rich darf aber keine Ökonomie, sofern sie nicht ökonomistisch entarten will, "von der Realität des Menschen in seinen Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen usw. als der unabdingbaren Voraussetzung alles Wirtschaftens absehen"; vgl. Rich, A., Wirtschaftsethik, Bd. II, Gütersloh 1990, s. 17. 23 Beck, U., Risikogesellschaft ... , a.a.O., S. 34 u. detailliert S. 46 f. Vgl. auch ders., Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M. 1988, S. 22 ff. Siehe ferner Neumann, L. F., Rechtssicherheit, soziale Sicherheit, ökonomische Sicherheit. Sozialökonomische Lösungsversuche des Problems nicht beabsichtigter Folgen sozialen Handelns, Hannover 1983. S Engelhardt

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b) konjunktur- und wachstumsbedingte Unsicherheitsfaktoren; c) demographische Unsicherheitsfaktoren (Heirats-, Scheidungshäufigkeit usw.); d) außerordentliche natürliche und gesellschaftliche Unsicherheitsfaktoren; e) auslandsbedingte Unsicherheitsfaktoren; f) gesellschaftliche Katastrophen. 24

In Wohlfahrtssurveys, von denen Wolfgang Zapf berichtet, wurden in den Jahren 1978, 1980 und 1984 repräsentative Querschnitte der bundesdeutschen Bevölkerung dazu befragt, wer für insgesamt 15 im einzelnen genannte sozial- bzw. gesellschaftspolitische Aufgaben (wie finanzielle Absieherungen verschiedener Art, medizinische Versorgung, Beschaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, öffentliche Verkehrsmittel, angemessener Wohnraum, Rundfunk und Fernsehen, Umweltschutz usw.) in erster Linie zuständig sein solle: a) der Staat (in Bund, Ländern und Gemeinden: die Regierung, der Gesetzgeber, staatlich kontrollierte Einrichtungen, Ämter und Behörden); b) die gesellschaftlichen Gruppen (dazu wurden gezählt z.B. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Bürgerinitiativen, Kirchen, aber auch Massenmedien); c) private Kräfte (z. B. die Marktwirtschaft, private Unternehmen, Privatkreise, jeder selbst). Das Ergebnis war eindeutig: In 12 von den 15 Aufgabenbereichen schrieben 1984 die Mehrheit der Befragten dem Staat die Zuständigkeit zu; in 10 von 15 Aufgabenbereichen sind es sogar zwei Drittel und mehr der Befragten. Lediglich die Betreuung und Hilfe für alte Menschen, Rundfunk und Fernsehen sowie - besonders deutlich - die Vorführung "moralischer Leitbilder" galten als Aufgaben, die nicht mehrheitlich dem Staat überantwortet wurden. 25

IV. Plädoyer für eine kritizistische Gemeinwohlkonzeption 1. Die Definition der praktischen und der wissenschaftlichen Sozialpolitik mündet entweder in realistisch-naturrechtliche oder aber kritizistischrelativistische Konzeptionen vom "Gemeinwohl", wobei aber auch die letzteren nicht als willkürlich-beliebig verzeichnet werden dürfen. Konzeptio24 Hauser, R., Zum Problem der staatlichen Produktion von Verläßlichkeit bei langen Zeiträumen, in: Rolf, G./Spahn, P. B./Wagner, G. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a.a.O., S. 147-193, hier S. 155 ff. 25 Vgl. Zapf, W., Individualisierung und Sicherheit . .. , a.a.O., S. 371 ff.

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nen beider Arten - sie werden beide oft auch als idealistisch-erfahrungsgebunden bezeichnet - halten zur Ergänzung der über Märkte und Wettbewerb zweifellos erreichbaren positiven Resultate rationalistischer Gemeinwohlkonzeptionen aktive Sozialpolitik für erforderlich - und zwar vornehmlich tiefenorientierte Strukturpolitik statt bloß oberflächenhafter Abhilfenpolitik. 26 Das Gemeinwohl und das diesen Begriff repräsentierende spezifische Verhältnis von "Freiheit" und "Ordnung" gilt dabei als durch "keine unsichtbare Hand und keine transzendentale Vernunft garantiert; es kann nur als einer differenzierten komplexen Gesellschaft angemessenes Leitbild postuliert werden, dessen Realisierung möglich, aber nicht gesichert ist"27 . Das Gemeinwohl gilt auch nicht als allein auf rationale Weise mittels Marktmechanismen und Marktregeln durch vielerlei Wettbewerb erreichbar. Es erfordert vielmehr auch zielgerichtete sozialpolitische Anstrengungen nach eigenen Prinzipien, die dabei mit gesellschafts- und kulturpolitischen Bemühungen zu koordinieren sind. Obwohl Gemeinwohl nicht als volkswirtschaftlicher Gesamtnutzen im Sinne einer "gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion" bestimmbar bzw. amalgamierbar ist, d. h. weder gemessen noch durch topologische Bestimmungen verglichen werden kann28, bleibt die Vorstellung gleichwohl politisch unverzichtbar und zumindest im Sinne verpflichtend vorgegebener "Verfahrensprinzipien" für Rahmenpakte relevant, "nach denen sich eine überprüfbare Konkretisierung dessen zu vollziehen hat, was jeweils als gemeinwohlentsprechend gelten könnte"29 • Auch derart zurückgenommene Positionsbestimmungen schließen freilich nicht aus, daß sie im Tageskampf durch rechts- oder linksextreme Kräfte mißbraucht werden können und 26 Zu den Unterscheidungen verschiedenartiger Gemeinwohlkonzeptionen vgl. als grundlegende neuere Werke u. a. Schubert, G., The Public Interest, Glencoe/Ill. 1960 und Thiemeyer, Th., Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, Berlin 1970. Zur Unterscheidung der genannten und weiterer Arten von Sozialpolitik siehe Engelhardt, W. W;, Art. Sozialpolitik, Theorie der, in: Glastetter, W./Mändle, E./ Müller, U./Rettig, R. (Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft, 2. Aufl., Wiesbaden 1980, Sp. 1183. 27 So Kaufmann, F.-X., Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem a. a. 0., S. 251. Zu den berührten Leitbild- und Utopieproblemen siehe die in Fußnote 4 genannte Quelle sowie Engelhardt, W. W., Die Funktion von Utopien in der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen, in: Wagener, H.-J. (Hrsg.), Anpassung durch Wandel, Berlin 1991, S. 139-171. 28 Vgl. dazu z. B. Watrin, Chr., Gesellschaftliche Wohlfahrt. Zur volkswirtschaftlichen Sicht der Gemeinwohlproblematik, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Selbstinteresse und Gemeinwohl, Berlin 1985, S. 461-493, hier S. 480. 29 So urteilt treffend Rösner, H. J., Grundlagen der marktwirtschaftliehen Orientierung in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Bedeutung für Sozialpartnerschaft und Gemeinwohlbindung, Berlin 1990, S. 303.

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besonders in Rechtsdiktaturen in der Vergangenheit auch vielfach mißbraucht worden sind. 2. Zur Realisierung realistisch-naturrechtlicher oder kritizistisch-relativistisch orientierter Gemeinwohlkonzeptionen bedarf es - sollen sie in demokratischen Gemeinwesen verwirklicht werden - moralisch intendierter flexibler Institutionen der Selbstorganisation, entsprechender Institutionen zwischen Markt und Staat sowie im Staat selbst. Sie bilden eine mehr oder weniger korporatistische bzw. neokorporatistisch auch mit Hilfe des Staates gebundene Organisationsstruktur. 30 In ihnen handeln Personen, deren Selbstverständnis zumindest teilweise Grenzen des Ego sprengt, d. h. die fähig zu "Sympathie" (,,Empathie") und zu reziprokem Verhalten sind oder werden. "Diese Fähigkeit wird durch soziales Lernen in zwischenmenschlicher Kommunikation erworben und verinnerlicht"31 • Das bloße Setzen auf individuelle Tugenden reicht nicht aus. Die handelnde Person ist dabei laut Helmut Plessner in den utopischen "Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz hineingezogen, ohne ihm entfliehen zu können noch je zu wollen"32 . "So vermag der Mensch durch die Findung und Erfindung sozialer Gebilde sein Zusammenleben in eine bestimmte Form zu bringen", schreibt dazu Alfred MüllerArmack. "Dieser Prozeß der Gestaltung seiner Sozialwelt ist nicht ein einfaches ins Blaue-Konstruieren neuer Formen, nicht ein Hinausgehen in reine Transzendenz, sondern ein Erfahrungsprozeß, indem der Wille zum Erfinden und Neugestalten sich jeweils nur dann zu realisieren vermag, 30 Zum Für und Wider korporatistischer bzw. neokorporatistischer Gestaltungen für die Bundesrepublik siehe z. B. Himmelmann, G., Öffentliche Bindung durch neokorporatistische Verhandlungssysteme, in: Thiemeyer, Th. mit Böhret, C. u. Himmelmann, G. (Hrsg.), Öffentliche Bindung von Unternehmen, Baden-Baden 1983, S. 55-72; Heinze. R. G./Olk, Th., Sozialpolitische Steuerung: Von der Subsidiarität zum Korporatismus, in: Glasgow, M. (Hrsg.), Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, Bietefeld 1984, S. 162-194; Katterle, S., Alternativen zur neoliberalen Wende, Bochum 1989, bes. S. 87-105; ders., Grenzen staatlichen Handeins in der Wirtschafts- und Strukturpolitik, in: Jablonowski, R./Simons, R. (Hrsg.), Strukturpolitik in Ost und West, Köln 1993, S. 73-92; Rösner, H. J., GrundJagen der marktwirtschaftliehen Orientierung ... , a. a. 0. 31 So Siegfried Kauerle im Anschluß an die neue Rekonstruktion des Gesamtwerks von Adam Smith durch Wolfram Elsner. Vgl. Elsner, W., Ökonomische Institutionenanalyse, Berlin 1986; Katterle, S., Der Beitrag der institutionalistischen Ökonomik zur Wirtschaftsethik, in: Ulrich, P. (Hrsg.), Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik, Bem/Stuttgart 1990; ders. , Gemeinwohl - Gemeinsame Verpflichtung von Kirche und Wirtschaft aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaft, in: Studienkreis Kirche Wirtschaft NRW (Hrsg.), Sozialethisches Kolloqium 1990, S. 41-65, hier S. 47. 32 So urteilte der auch kritizistisch geprägte Kölner Anthropologe, der Alfred MülJer-Armack beeinflußt hat, bereits 1924. Vgl. die Neuauflage seines Werks "Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus", Bonn 1972, S. 62.

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wenn er in diesem Vorstoß etwas findet, d.h. wenn die realen Möglichkeiten, auf die der menschliche Wille trifft, von der Objektivität her seine Intentionen bestätigen". 33 Frank Schulz-Nieswandt hat diese Prozesse der Utopie-, Präferenz- und Zielbildung, die offenbar weitgehend durch den jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Kontext bestimmt werden, ausdrücklich als "kritizistisch" bezeichnet. Sie seien kritizistisch, "da die Ziele nicht apriori , wahr' sind, sondern nur als , wahrhaftig' im Diskurs bestätigt werden können"34. Die Personen handeln menschen- bzw. leitbildorientiert - d. h. nicht sittlich beliebig, sondern gemäß den skizzierten realen anthropologischen Möglichkeiten - nach Prinzipien der Selbsthilfe bzw. Eigenverantwortung und Versicherung, aber auch nach solchen des Altruismus bzw. der Sozialhilfe und Versorgung. Auf diese Weise konstituieren sie das System der sozialen Sicherung in Aktion, d. h. als integralen Bestandteil einer mehr und mehr "aktiven Gesellschaft" (A. Etzioni) mit flexiblen intennediären Institutionen zwischen Markt und Staat. SolchennaBen eingestellt und motiviert, lassen sich die beteiligten Personen - anders gesagt - auf das keineswegs konfliktfreie Experiment einer "Partnerschaft für das Gemeinwohl" (u.s.-amerikanische Bischöfe in der Kommentierung von F. Hengsbach) ein, dessen Verwirklichung als lösbare Aufgabe empfunden wird35. 3. Als Empfänger der sozialpolitischen Leistungen kommen dabei freilich keineswegs allein oder auch nur in erster Linie voll "mündige Bürger" quasi die politische Entsprechung des "souveränen Konsumenten" - in Betracht. Viele ihrer Adressaten sind sehr junge, alte oder kranke Menschen, deren geistige oder körperliche Fähigkeiten noch unterentwickelt oder die (wieder) eingeschränkt sind. Sozialpolitik ist wie auch jedwede Wirtschaftspolitik von jeher - und sie bleibt auch künftig, sogar unabhängig von der Staatsfonn - mit patemalistischen Führungselementen verbunden36. Beide Politikzweige sind nicht in erster Linie auf die Bereitstellung 33 Müller-AmuJck, A., Gedanken zu einer sozialwissenschaftliehen Anthropologie, in: Karrenberg, F./ Albert, H. (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 3-16, hier S. 14. 34 Vgl. Schulz-Nieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik. Grundfragen einer kritizistischen Lehre meritorischer Wohlfahrtspolitik, Regensburg 1992, passim u. hier S. 8. 35 Siehe dazu Etzioni, A., Die aktive Gesellschaft, Opladen 1975; "Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft". Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA "Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle". Aus deutscher Sicht kommentiert von F. Hengsbach, Freiburg/Br. 1987, 4. Kap.; Katterle, S., Gemeinwohl- Gemeinsame Verpflichtung von Kirche und Wirtschaft .. ., a. a. 0., S. 58. 36 Vgl. dazu Engelhardt, W. W., Einige Grundfragen einer "Sozialpolitik für mündige Bürger", in: Jahrb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. (Vol.) 209/3-4, Stuttgart 1992, S. 343-355, hier S. 349 ff. (und in diesem Band).

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privater Güter, sondern auf sowohl echte als auch unecht-meritorische öffentliche bzw. "politische Güter" (H. P. Widmaier) gerichtet"37 . Als meritorische Güter lassen sich letztlich solche verstehen, "deren soziale Wertschätzung hochgradig ausgebildet ist und daher die Bewertung der am Markt ausgebildeten Muster des Konsums dieser Güter nach sich zieht"38• Die Bereitstellung dieser Güter, z. B. in der staatlichen Gesundheitspolitik, orientiert sich in Anbetracht von teilweise unauthebbaren Unzulänglichkeiten der Souveränität und großen Informationsdefiziten - asymmetrischen Informationsverteilungen - primär an den "wohlverstandenen", jedenfalls nicht allein an den tatsächlich geäußerten Interessen der Empfanger. Deren Bedeutung schätzte bereits Alexis de Tocqueville außerordentlich hoch ein, wenn er schrieb: "Ich scheue mich nicht zu sagen, daß die Lehre vom wohlverstandenen Interesse von allen philosophischen Theorien mir die zu sein scheint, die den Bedürfnissen des heutigen Menschen am besten entspricht, und daß ich sie für die wirksamste Sicherung des Menschen vor sich selbst halte"39• Schultz-Nieswandt spricht in der Gegenwart von einem ,,kritizistischen Vorbehalt des Theorems der apriorischen Ungesichertheit der Deckungsgleichheit faktischer und wohlverstandener Interessen"40• Nur in Diktaturen treten an die Stelle beider Interessenarten die vom Diktator oder den ihm zuarbeitenden Philosophen für "wahr" (L. Nelson) gehaltenen Interessen41 • In Demokratien lassen sich die Souveränitäts- bzw. frei37 Siehe dazu Thiemeyer, Th., Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, a. a. 0., S. 143 ff. u . 183 ff.; ders., Das öffentliche Interesse in der ökonomischen Theorie, in: Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 12, Göttingen 1980, S. 263-281, hier S. 268 ff.; ders., Theorie der öffentlichen Güter als ökonom(ist)ische Staatstheorie, in: Oettle, K. (Hrsg.), Öffentliche Güter und öffentliche Unternehmen, Baden-Baden 1984, S. 73-89; WidfTUlier, H. P., Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976. 38 Schu/z-Nieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik, a. a. 0., S. 55. 39 de Tocqueville, A., Über die Demokratie in Amerika, Bd. II, hier zit. n. Graf von Krockow, Chr., Politik und menschliche Natur, Stuttgart 1987, S. 189. 40 Schulz-Nieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik, a. a. 0., S. 56 f. Zum Verhältnis privater und öffentlicher Güter in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und den dabei berührten Interessen siehe neuerdings z. B. auch Mackscheidt, K., Die Entfaltung von privater und kollektiver Initiative durch meritorische Güter, in: Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 13, Göttingen 1981, S. 257-267; Spahn, P. B./Kaiser, H., Soziale Sicherheit als Öffentliches Gut? In: Rolf, G./Spahn, P. B./Wagner, G. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a.a.O., S. 195-218; Berthold, N., Marktversagen, staatliche Intervention und Organisationsformen Sozialer Sicherung, ebd., s. 339-369. 41 Nach dem Urteil Lotbar F. Neumanns war "Nelsons Philosophie ( .. .) vielleicht der letzte ernst zu nehmende Versuch der Begründung eines apodiktischen Apriorismus sowohl in der spekulativen als auch in der praktischen Metaphysik". Diese Richtung der Weiterentwicklung der Kant/Fries'schen Philosophie sei aber nicht zwingend gewesen, denn "der Kritizismus stellt sich dem Rationalismus und Empi-

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heitlichen Teilhaberechte an der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwar besonders im Rahmen kritizistischer Gemeinwohlkonzeptionen erheblich vergrößern, nicht aber patriarchalische Führungselemente gänzlich vermeiden. 4. Durch konzeptionell entschieden als Strukturpolitik betriebene Sozialpolitik kann neben der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eine spezifische Teilordnung, genannt "Sozialordnung", resultieren. Entgegen Walter Euckens Darlegungen kann sie nicht als Element der Wirtschaftsordnung aufgefaßt werden, weil sie "der Verwirklichung von sozialen Zielen mit Eigenwert dient". 42 Die Umsetzung eines Konzepts in eine Realordnung erfordert bei den Beteiligten statt philosophischem Dogmatismus oder "subtheologischer Befangenheit" für die reine Marktlehre (A. Rüstow)43 unzweifelhaft pragmatisches Zupacken. Dabei handelt es sich freilich nicht um die Bejahung schlichten Durchwursteins im Sinne des Inkrementalismus, sondern um sinnorientierten Pragmatismus (im Anschluß an J. Dewey u. a.). Nach Jürgen Habermas lag die große Leistung des Pragmatismus darin, daß er gezeigt hat, daß der Einsatz von stetig vermehrten und verbesserten Techniken nicht an undiskutierte Wertorientierungen gebunden sein muß, sondern auch die tradierten Werte einer gleichsam pragmatischen Bewährungsprobe unterzogen werden können. "Es war die große Entdeckung des Pragmatismus, auf einer solchen Prüfung und somit rationalen Erörterungen der Beziehung zwischen verfügbaren Techniken und praktischen Entscheidungen, die in der dezisionistischen Betrachtung ganz ignoriert wird, zu bestehen"44• rismus zugleich entgegen, indem er von keinem constitutiven Gesetz ausgehen, sondern nur regulative Maximen zu Grunde legen will" (J. F. Fries). Vgl. Neumann, L. F., Rezension von Leonard Nelsons Gesammelte Schriften in neun Bänden, in: Ratio, 18. Bd., 1977, S. 152-163, hier S. 154. 42 Lampert, H., "Denken in Ordnungen" als ungelöste Aufgabe, in: Jahrb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. (Vol.) 206/4-5, Stuttgart 1989, S. 446-456, hier S. 452. 43 Hier zitiert nach Papcke, S., Freiheit über alles. Noch zu entdecken Leben und Werk des Soziologen Alexander Rüstow, in: Die Zeit v. 16.4.1993, S. 62. "Die Wahrheit ist eben", schrieb ein anderer großer Liberaler der ersten Hälfte des 20. Jh., "daß der Wettbewerb (... ) eine moralisch und sozial gefährliche Weise des Verhaltens bleibt, die nur in einer gewissen Maximaldosierung und mit Dämpfungen und Modeeierungen aller Art verteidigt werden kann"; vgl. Röpke, W., Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Aufl., Bem/Stuttgart 1979, S. 189. 44 Habennas, J., Wissenschaft und Politik, in: Offene Welt, 1964, zit. n. Lompe, K., Wissenschaftliche Beratung der Politik, a.a.O., S. 119-153, hier S. 120. Zum Für und Wider des Pragmatismus vgl. z. 8. auch Jochimsen, R., Strategie der wirtschaftspolitischen Entscheidung, in: Weltw. Arch., Bd. 99, 1967, S. 52-78, hier S. 61 ff.; Flohr, H., Parteiprogramme in der Demokratie, Göttingen 1968, besond. S. 60 ff.; Habennas, J., Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt/M. 1969, S. 120-145; Widmaier, H. P., Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, a.a.O., S. 117 ff. ; Schmitz, W., Ordnungsethik - Versuch einer Klärung ihres Gegenstandes und der Dimension ihres Anliegens, in: Z. f. Wirtschaftsp., Jg. 41, 1992, S. 213-

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Dafür bedarf es auch im sozialen Bereich des verstärkten individuellen Engagements auf der Basis einer letztlich "untemehmerischen Grundeinstellung"45. Für sich selbst und seinesgleichen, aber auch für die (Land-) Arbeiter hat eine solche Einstellung und eine entsprechende Motivation bereits der nationalökonomische Klassiker Johann Heinrich von Thünen teils in seinen theoretischen Modellen unterstellt oder abgeleitet, teils auch gefordert und in seinem eigenen Handeln verwirklicht. 46

V. Bemerkungen zur bisherigen Institutionalisierung der Sozialpolitik 1. Mit Hilfe der Sozialpolitik in ihren beiden Teilen, d. h. der staatlichen Sozialpolitik und der gemeinsamen Selbsthilfeorganisationen politischer, gewerkschaftlicher, karitativer und gemeinnützig/genossenschaftlicher Art, wurden in der über einhundertjährigen Geschichte des deutschen Sozialstaats und seiner Trägersysteme im ganzen und im einzelnen gesehen überaus effektive Instrumente und Institutionen geschaffen. Dies gilt nicht zuletzt für den wichtigen Bereich spezieller Maßnahmen der sozialen Sicherung. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, sei doch hervorgehoben, daß zu den wirkungsvollsten Instrumenten und Institutionen hier zweifellos einerseits die vorwiegend von Arbeitnehmern und Arbeitgebern beitragsfinanzierten, Iohnabhängigen Sozialversicherungen, andererseits die staatliche bzw. kommunale Sozialhilfe zu zählen sind. Die Sozialversicherungen - zu der die Gesetzlichen Renten-, Unfall- und Krankenversicherungen, streng genommen hingegen nicht die Arbeitslosenversicherung gehören - sind nach Dieter Famy "das bedeutendste Instrument im System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland". Durch diese Versicherungen sollte bei bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Befreiung von existentiellen Risiken bewirkt werden, wobei sowohl sozialpolitische Prinzipien - wie z. B. das Solidaritätsprinzip - als auch versicherungseigene Prinzipien verfolgt wurden. Dabei gelten als die wesentlichen Versicherungselemente das Streben nach kollektivem Risikoausgleich und in der Zeit sowie das Versicherungs230, hier S. 226 ff.; Reuter, N., Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg 1994, S. 72-91. 45 Wie sie neuerdings besonders für den wirtschaftlichen Bereich gefordert wird. Vgl. Bickenbach, F./Soltwedel, R.: Zur Ethik der sozialen Marktwirtschaft. Grundprinzipien und Herausforderungen -ein Überblick, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Ethik und Markt. Konferenzbericht, Gütersloh 1994. 46 Siehe dazu Engelhardt, W. W., Von Thünen und die soziale Frage, Regensburg 1993, besond. Kap. VI, S. 52-71, Vgl. auch Giersch, H., Arbeit, Lohn und Produktivität, in: Weltwirtsch. Arch., Bd. CXIX, 1983, S. 1-18, hier S. 17.

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technische Äquivalenzprinzip. Trotz der versicherungsfremden Elemente besonders bei der Leistungsgestaltung und der Finanzierung unter Heranziehung des Staates - können die Sozialversicherungen auch gegenwärtig noch, wenn auch mit Einschränkungen, als Versicherungen bezeichnet werden. 47 Auch der Sozialhilfe, früher "Fürsorge" genannt, kommt im System der sozialen Sicherung als "Letztnetz" außerordentliche Bedeutung zu. Gestaltungsprinzipien der Sozialhilfe sind im einzelnen das Subsidiaritätsprinzip und zwar sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne verstanden -, das Bedarfsdeckungsprinzip sowie der Grundsatz der Individualisierung der Hilfe. Subsidiarität bedeutet hier nach herrschender Meinung - wie sie Heinz Lampert zum Ausdruck bringt - ganz konkret, daß Selbsthilfe a) erhält, wer sich selbst nicht helfen kann, also bedürftig ist; b) wer die erforderliche Hilfe nicht von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägem anderer Sozialleistungen erhält (§ 2 BSHG). Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip soll die Sozialhilfe die Deckung eines soziokulturellen Minimums ermöglichen (§ 1, Abs. 2 BSHG). Individualisierung der Hilfe bedeutet, daß die Art, Form und das Ausmaß der Hilfe sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen richten(§ 3, Abs. 1 BSHG).48 2. Es entwickelte sich in Deutschland - auf die genannten und viele weitere Instrumente und Institutionen gestützt - schrittweise eine spezifische Sozialordnung, die zweifellos überwiegend nicht als Element der Wirtschaftsordnung aufgefaßt wurde und auch nicht so interpretiert werden kann. Dies deshalb nicht, weil sie tatsächlich "der Verwirklichung von sozialen Zielen mit Eigenwert" (H. Lampert) gedient hat und weiterhin dient. Zu diesen Zielen gehören die Sicherung der Menschenwürde, die freie Entfaltung der Person, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Verteilungsgerechtigkeit, nicht zuletzt auch der soziale Frieden. Die zentrale Bedeutung der sozialen Teilordnung lag und liegt dabei "in ihrem Beitrag zur Transformation der Rechtsnormen des freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates aus der Welt der geschriebenen Verfassung, der zugesicherten formalen Rechte in die Lebenswirklichkeit, in tatsächlich nutzbare materiale Rechte und Möglichkeiten. Es ist zum großen Teil der Sozialgesetzgebung zu danken, daß der freiheitliche Sozialstaat mit seinen Zielen 47 Famy, D., Art. Sozialversicherung, in: HdWW, 7. Bd., New York/Tübingen/ Zürich 1977, S. 160-169, besond. S. 165. 48 Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, 2., überarb. Aufl., Berlin/Heidelberg/ New York usw. 1991, S. 362.

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persönlicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu einer - freilich noch verbesserungsbedürftigen und verbesserungsfähigen- Wirklichkeit geworden ist" 49. "Freiheit und Sicherheit sowie Freiheit und Gleichheit sind - so gesehen - nicht, wie Friedrich A. von Hayek meint, konkurrierende, durch eine Konfliktbeziehung charakterisierte, sondern bis zur Erreichung bestimmter Lebensstandardminima für alle komplementäre Güter. Denn die Nutzung formaler, d. h. die materiale Freiheit für alle in einem Mindestumfang, ist gleichbedeutend mit der Verringerung materialer Ungleichheit und einem Mindestmaß an materieller Sicherheit für alle"50• Die Notwendigkeit und der Erfolg der sozialen Teilordnung wird heute weithin, freilich nicht ausnahmslos und uneingeschränkt anerkannt. Auch Christian Watrin hat in diesem Zusammenhang aufgrund der Erfahrungen von über hundert Jahren insbesondere staatlicher Sozialpolitik zugegeben: "Marktwirtschaftliche Ordnungsformen bedürfen (... ) der Ergänzung durch staatliche und soziale Ordnungen"51 • Die Philosophie des modernen Sozialstaates gehe, "auf eine kurze Formel gebracht, von der Überlegung aus, daß eine marktwirtschaftliche Ordnung zwar eine wirkungsvolle Veranstaltung zur Lösung wirtschaftlicher Allokationsaufgaben ist, daß sie jedoch der Ergänzung oder Korrektur durch staatliche Sozialmaßnahmen bedarf. Das ist, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung zwischen Vertretern der Sozialen Marktwirtschaft, des Freiheitlichen Sozialismus, aber auch des klassischen Liberalismus im Grundsatz kaum umstritten"52 • 49 Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, a.a.O., S. 427. Vgl. dazu auch die großen, die Lehrbuchdarstellungen vertiefenden Abhandlungen des Autors .,Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft", in: Bottke, W./Rauscher, A (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, St. Ottilien 1990, S. 115-136, und ,,Freiheit als Ziel der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland", a.a. O. so Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. 0 ., S. 134. Zu den über Deutschland hinausreichenden Ursachen und Wirkungen staatlicher Sozialpolitik vgl. ders., Französische Revolution und sozialer Rechtsstaat, in: Krauß, H. (Hrsg.), Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1989, S. 105-124. st Watrin, Chr., Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, in: Streißler, E./Watrin, Chr. (Hrsg.), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, Tübingen 1980, S. 476-501, hier S. 497 f. Einige Zeilen weiter fährt der Autor allerdings fort: "Ob es dazu des Ausbaus eines in seinen Dimensionen ständig wachsenden Sozialstaates mit den neuen Formen der Belehrung, Betreuung und Beplanung (Schelsky) bedarf, wird heute nicht ohne gute Gründe in Zweifel gezogen". 52 Watrin, Chr., Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, a.a.O., S. 481. Der Autor schließt hier unmittelbar an Würdigungen an, wie sie verdienstvollerweise z. B. schon Alfred Müller-Armack und Egon Tuchtfeldt vorgenommen haben. Weniger beachtet werden hingegen in der neueren Literatur nach wie vor die Verdienste der Vertreter der Historischen Schulen, des Institutionalismus und der diesen Richtungen nahestehenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Vgl. aller-

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3. Bei vertiefter gesellschaftlicher Analyse der ergriffenen Sicherungsmaßnahmen kann die gesamte soziale Sicherung als ein .,Sozialvertrag" im Sinne einer Versicherung auf Gegenseitigkeit verstanden werden, welche die Mitglieder einer Gesellschaft oder eines Staates nicht zuletzt im Blick auf die eingangs skizzierten großen Risiken der Modeme und der Marktwirtschaft eingegangen sind. Eine solche Sicht der Dinge knüpft letztlich an die .,Assekuranztheorie" des Staates und seines Steuersystems von Albert Schäffle an, der den .,socialen Körper" bereits im vorigen Jahrhundert als eine Institution zur Reduktion von Unsicherheit verstanden hat53 • Im Unterschied allerdings zur aktuellen Debatte - in welcher der Vertragsgedanke oft nur zur Stützung des Äquivalenzprinzips im Versicherungswesen Verwendung findet 54 - geht es hier aber um ein Vertragskonstrukt für den gesamten Bereich der individuellen und sozialen Sicherung. Dies bedeutet, daß nicht lediglich Grundbedarfe ohne Leistungsbezug mit Hilfe von Steuern abgesichert werden sollten - wie es heute von der Politik immer öfter verlangt wird -, sondern daß vor allem Leistungen von Sozialversicherungen über die Finanzierung durch Mitgliedschaftsbeiträge mit ihren mehr oder weniger korporativ/genossenschaftsartigen Zügen voll anerkannt werden. Eine ethisch fundierte Ordnung, die sich nicht nur im Sinne des Handlungs- oder Regelutilitarismus versteht und Gräben zwischen funktionell ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsystemen keinesfalls vertiefen, sondern eher abbauen möchte55 - dürfte auf gleichzeitige Beiträge und andere Leistungen unterschiedlicher Partner auch künftig nicht verzichten können. dings ebd., S. 478; H. IAmpert, ,.Denken in Ordnungen" als ungelöste Aufgabe, a. a. 0., S. 452 ff.; W. W. Engelhardt, Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik 11, Berlin 1991, S. 9-122, hier S. 31 ff. (und in diesem Band); Backhaus, J. G. (Hrsg.), Gustav von Schmoller und die Probleme von heute, Berlin 1993; Reuter, N., Der Institutionalismus, a.a.O. 53 Vgl. Schäffle, A., Bau und Leben des socialen Körpers, 4. Bd., Specielle Socialwissenschaft, 2. Hälfte, Tübingen 1878, S. 216 ff. u. 355 ff. Neuerdings siehe ähnlich z. B. Galbraith, J. K., Gesellschaft im Überfluß, München/Zürich 1963, S. 94; Rolf, G./Spahn, P. B./Wagner, G., Wirtschaftstheoretische und sozialpolitische Fundierung staatlicher Versicherungs- und Umverteilungspolitik, in: Dies. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a.a.O., S. 13-42, hier S. l3 ff. 54 Siehe dazu z. B. Eisen, R., ,.Versicherungsprinzip" und Umverteilung, in: Rolf, G./Spahn, P. B./Wagner, G. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a. a. 0 ., S. 117127, besond. S. 126. ss Zur funktionellen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme vgl. z. B. Homann, K.lBlome-Drees, F. Wirtschafts- und Untemehmensethik, a. a. 0 ., S. 10 ff. Zum Handlungs- und Regelutilitarismus und seinen Mängeln siehe u. a. IAmpert, H., Die soziale Dimension gesellschaftlichen Wirtschaftens, in: Kirche und Gesellschaft, Köln 1992, S. 14 f.

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Christian Watrin hat lange Zeit zu den entschiedensten Vertretern einer grundsätzlich vertragstheoretischen Interpretation des Sozialstaats gehört, wobei er sich weitgehend auf John Rawls liberale Beschreibung und Interpretation des Gesellschaftsvertrags gestützt hat, die nicht unwesentlich durch das Gedankengut Immanuel Kants beeinflußt wurde. Seine Argumentation verdient im Grundsatz auch weiterhin Beachtung, obwohl unter Aspekten durch Sozialpolitik erreichbarer materialer Gerechtigkeit auch Kritik an Rawls Position möglich erscheint.56 Watrin argumentierte folgendermaßen: "Da die vertikale Restribution (... ) zunehmend durch die horizontale ersetzt wird und die Versicherten durch komplizierte Transfersysteme sich selbst ihre Sicherheit zu schaffen suchen, beispielsweise dadurch, daß selbständig und unselbständig Erwerbstätige für nicht mehr aktiv am Wirtschaftsprozeß Beteiligte Zahlungen leisten, ist es sinnvoll, das Ordnungsproblem im Sozialstaat vertragstheoretisch zu sehen. Von hier aus wird der Sozialstaat dann nicht mehr länger als ein Instrument der sozialen Integration einer Klassengesellschaft aufgefaßt, sondern als ein Bereich, in dem die Beteiligten als freie, gleiche und selbstinteressierte Personen ihre Beziehungen auf der Basis von Fairneßprinzipien im Hinblick auf Vorsorge, Fürsorge, Versorgung, Not, Ausgleich und wechselseitige Förderung regeln wollen"57 .

VI. Zur künftigen Bedeutung der Sozialpolitik und der Sozialpolitiklehre 1. Es soll im Schlußabschnitt dieser Abhandlung im Anschluß an Horst Sanmann zunächst gefragt werden: Was würde passieren, wenn sich eine 56 Zur Beeinflussung Rawls durch Kant vgl. Rawls, J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, besond. S. 283 ff. Zur Kritik an Rawls siehe z. B. Billstein, Gerechtigkeit als gesellschaftsJ;>,olitisches Ziel, in: Soz. Fortschr., 30. Jg., 1981, S. 24-249; Enge/hardt, W. W., Offentliehe Bindung, Selbstbindung und Deregulierung in der Staatlichen Wohnungspolitik und Gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik, Berlin 1988, S. 139-198, hier S. 159 f. ; Bossen, A., Die Theorie der Gerechtigkeit bei John Rawls, in: Bottke, W./Rauscher, A. (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, a. a. 0., S. 75-96, hier besond. S. 94. 51 Watrin, Chr., Ordnungspolitische Aspekte des Sozialstaates, in: Külp, B./Haas, H.-D. (Hrsg.), Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, 2. Halbbd., Berlin 1977, S. 963-985, hier S. 971 f., im Anschluß an Rawls, J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, a.a.O., besond. S. 140 ff. Siehe auch Watrin, Chr., Eine liberale Interpretation der Idee der sozialen Gerechtigkeit, in: Hamburger Jb. f. Wirtsch. u. Gesellschaftsp., 21. Jahr, Harnburg 1976, S. 45-61; ders., Freiheitliche Wirtschaft und christliche Moral, in: FAZ, Nr. 221, v. 7.10.1978, S. 13. Zu Veränderungen der Rawlsschen Gerechtigkeitsposition seit Erscheinen seines Hauptwerks vgl. Rawls, J., Political Liberalism, New York 1993.

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lediglich "freie" Wirtschaft, die nicht mehr ausdrücklich "sozial" im humanistischen Sinne gestaltet sein würde, welche also nur noch in einem eher wertfreien Sinne "gesellschaftlich-sozial" wäre 58, durchsetzen könnte? "Würden dann die nach dem Wegfall der kommunistischen Bedrohung bei den Politikern noch vorhandenen Motivationen für Sozialpolitik - im Lichte ihrer bisherigen Entstehungs- und Wirkungsvoraussetzungen in drei ganz verschiedenen Perioden der deutschen Geschichte gesehen, nämlich im Bismarckreich, in der Weimarer Republik und in der bisherigen Bundesrepublik, in denen Motive der Abwendung von Umsturzdrohungen eine für die Sozialpolitik und deren Integrationserfolge gleichermaßen herausragende Rolle gespielt haben - "stark genug sein, rechtzeitig, d. h. vor dem Eintreten gesellschaftlicher Instabilisierung, ein hinreichendes Gegengewicht zustande zu bringen?" Oder "müßten wir" dann - wie Sanmann in einem Szenario herausstellt - "vielleicht in Jahrzehnten, gar mit einer Renaissance des Sozialismus rechnen?"59 Genügt es also, künftig lediglich auf eine funktionsfahige freie Wirtschaft zu setzen? Oder müssen wir Christian Watrin darin recht geben, wenn er im Anschluß an Anton Rauscher - und hier eindeutig im Unterschied zu Friedrich A. von Hayek - der Befürchtung Ausdruck gibt, "daß eine europäische Ordnung keinen Bestand hat, die als ungerecht empfunden wird"60. 2. Bei der Beurteilung der "Daseinsfürsorge" (E. Forsthoff) des bisherigen Sozialstaats und seiner "Korrektur von Konsumentenpräferenzen" (K. Mackscheidt) gilt es zweifellos Maß zu halten.61 Natürlich sollten in Anbetracht von zwei Diktaturen auf deutschem Boden im letzten halben Jahrhundert künftig Fälle bevormundender Aufdrängung lediglich von · Diktatoren 58 Vgl. dazu Geck, A., Über das Eindringen des Wortes "sozial" in die deutsche Sprache, Göttingen 1963, S. 47, und Watrin, Chr., Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, a. a. 0., S. 476 f. 59 Sanmann, H., Realsozialismus, Sozialpolitik und Katholische Soziallehre, in: Glatze!, N./Kleindienst, E. (Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1993, S. 401--410, hier S. 408 ff. Gemeint wird vom Autor natürlich der Kommunismus und dessen sog. "real existierender Sozialismus", nicht der freiheitliche Sozialismus. 60 Watrin, Chr., Europas ungeklärte Ordnungsfragen, ebd., S. 174. Zur Position Anton Rauschers siehe etwa die Abhandlung ,,Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht in der christlichen Denktradition", in: Bottke, W./Rauscher, A. (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, a.a.O., S. 9-20, hier besond. S. 15. 61 Vgl. zu diesen Positionen etwa Forsthoff, E., Der Staat der lndustriegesellschaft, München 1971, S. 71 ff.; Mackscheidt, K., Zur Theorie des optimalen Budgets, Tübingen/Zürich 1973, S. 346 ff.; Ders.!Steinhausen, J., Finanzpolitik II. Grundfragen versorgungspolitischer Eingriffe, Tübingen/Düsseldorf 1977, besond. s. 25 ff. u. 147 ff.

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oder ihren Helfershelfern für "wahr" gehaltener Interessen vermieden werden. Dies betrifft freilich nur die eine Seite der Sache. Andererseits darf der in der Bundesrepublik seit 1948 vorhanden gewesene Staat seiner Sozialpolitik wegen nicht als Obrigkeitsstaat verzeichnet werden. Und es sollten bei Befürwortung einer Sozialpolitik "mit anderen Vorzeichen" (H. Winterstein) etwa von einer künftigen "Versichertensouveränität" (H. G. Schlotter) eines sozialpolitischen "homo sapiens" (Th. Straubhaar) realistischerweise keine Wunder erwartet werden. Eine Neuorientierung am "Leitbild des zur sozialen Selbständigkeit fahigen Menschen" (H. Schelsky) kann nur graduelle Veränderungen bringen, die patriarchalen Führungselemente der Sozial- und Wirtschaftspolitik jedoch nicht voll beseitigen.62 Wird mit der Verwirklichung der "zweiten Phase der sozialen Marktwirtschaft", wie sie bereits Alfred Müller-Armack vorgeschwebt hat, ernstlich begonnen, so wird es jedenfalls nicht ohne neue meritorische Einflußnahmen durch den Staat gehen. "Die Situation, in der wir stehen" - schrieb Müller-Armack 1960 zu den schon damals absehbaren gesellschaftspolitischen Aufgaben der Umweltpolitik - "verlangt gebieterisch eine quantitative Steigerung all jener Aufwandposten, die die öffentliche Umwelt, in der wir leben, erst sinnvoll und harmonisch gestalten. Die weitergehende Expansion der Konsumversorgung dürfte für die meisten Menschen bald uninteressant werden, wenn nicht gleichzeitig aus öffentlichen Kräften, die dies allein vermögen, die Gesamtumweltsform verbessert wird, in der sich unser öffentliches Leben vollzieht"63 • Von Aktionen der Privatisierung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Unternehmen, d.h. dem Abbau öffentlicher Wirtschaft und Verwaltung, darf in diesem Zusammenhang nicht zuviel erwartet werden. 64 Auch bei Privatisierung behält der Staat - wie oben bereits bemerkt wurde - oft ein diffuses Restrisiko. "Diese Risiko-Zweiteilung zwischen Staat und Privaten kann 62 Zu der apostrophierten Literatur vgl. in chronologischer Reihenfolge Winterstein, H., Sozialpolitik mit anderen Voneichen, Berlin 1969; Schelsky, H., Die Arbeit tun die anderen, Opladen 1975; Schlotter, H.-G., Vom Untertan zum Souverän. Künftige Aufgaben einer Sozialpolitik mit neuem Menschenbild, in: Iwersen, A./ Tuchtfeldt, E. (Hrsg.), Sozialpolitik vor neuen Aufgaben, Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 63-79; Straubhaar, Tb., Leitbilder der Sozialpolitik, in: Hamburger Jb. f. Wirtsch. u. Gesellschaftsp., 38. Jahr, Harnburg 1993, S. 155-171, hier S. 166. 63 Müller-Armack, A., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg/Br. 1966, S. 267-291, hier S. 286 f. 64 Vgl. dazu Brede, H. (Hrsg.), Privatisierung und die Zukunft der öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden 1988; Gesellschaft für öffentliche Wirtschafte. V., Privatisierungsdogma widerspricht sozialer Marktwirtschaft, Berlin 1994; Eichhorn, P./Engelhardt, W. W. (Hrsg.), Standortbestimmung öffentlicher Unternehmen in der sozialen Marktwirtschaft, Baden-Baden 1994.

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im Zweifel volkswirtschaftlich teurer werden, als eine klare alleinige staatliche Aufgabenwahrnehmung". Die Privatisierung kann auch neue bzw. "mehr" Regulierung, als vorher bestand, hervorrufen. 65 3. Nach Wolfgang Zapf gibt es in der Bundesrepublik Deutschland institutionell keine Alternative zum Sozialstaatsprinzip und Subsidiaritätsprinzip. Es gibt nur die Kombination von Sozialstaats-, Subsidiaritäts-, Solidaritäts- und Eigenverantwortungsprinzip. Dies werde beispielsweise an der Verbindung von sozialer Sicherung und Familienpolitik deutlich. Diese Kombination gelte es bei Verzicht auf Nachahmungen anderer Beispiele weiterzuentwickeln. "Aber wiederum kann es sich hierbei nicht um eine Alternative (Familie versus Arbeitswelt) handeln, sondern - insbesondere für Frauen - nur um die Erweiterung von Flexibilität, Wahlmöglichkeiten und Kombinationsmöglichkeiten"66. Wo allerdings die mit Hilfe von Sozialpolitik geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen intermediarer Art inzwischen denaturiert sind - sei es durch Zuweisung staatlicher Aufgaben, durch Zuschüsse oder aus anderen Gründen - kommt es nach der hier vertretenen persönlichen Auffassung darauf an, sie wieder herzustellen und dies möglichst unverzüglich. In diesem Zusammenhang hat Kurt Eiedenkopf die These von der "Verstaatlichung der Nächstenliebe" diskutiert. Er führte aus, die heutige "Ausbeutung" der sozialen Systeme durch deren Mißbrauch sei letztlich eine Folge dieser Verstaatlichung, d.h. der "Verrechtlichung" und damit der "Bürokratisierung" der Wohlfahrtseinrichtungen. Die Verstaatlichung sei allerdings ihrerseits die Auswirkung der extremen Individualisierung der Gesellschaft. Der Bürokratisierung bzw. übermäßigen Verrechtlichung könne man nur Herr werden, indem man im Sinne des engen Verständnisses von Subsidiarität die "kleinen Lebenskreise" wieder stärker für soziale Kontrollen nutze, um z. B. unberechtigte Krankmeldungen zu verhindern. Nur dort, wo die kleinen Lebenskreise ihrerseits auf Unterstützung angewiesen seien, sollte Raum sein für die Entwicklung zunächst "grösserer nichtstaatlicher Organi65 Vgl. Elsner, W., Über das tiefgehende Schiff ,,Privatisierung", a. a. O., u.a. im Anschluß an Dick, G., Rationale Regulierung, Harnburg 1993, S. 104 ff. 66 Zapf, W., Individualisierung und Sicherheit, a.a. O., S. 380. Vgl. in grundsätzlich ähnlicher Argumentation Kaufmann, F.-X., Zukunft der Familie, München 1990; Lampert, H., Familienpolitik in Deutschland. Ein Beitrag zu einer familienpolitischen Konzeption im vereinten Deutschland, in: Kleinhenz, G. (Hrsg.), Sozialpolitik im vereinten Deutschland I, Berlin 1991, S. 115-139; Krüsselberg, H.-G.I Strätling, R., Familienpolitik und europäische Integration, in: Gröner, H./Schüller, A. (Hrsg.), Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, Stuttgart/ Jena/New York 1993, S. 397-442; Wingen, M., Familienpolitik in der Europäischen Gemeinschaft, in: Kleinhenz, G. (Hrsg.), Soziale Integration in Europa II, a. a. 0 .

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sationsformen auf privatwirtschaftlicher, kommunaler, kirchlicher oder Verbandsebene". Erst wenn diese dezentralen Strukturen die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hätten, sei Raum für die direkte staatliche Mitwirkung, wobei aber auch hier Abstufungen zu empfehlen seien.67 Wie immer man zu diesem Vorschlag steht - der u. U. an die Stelle objektiver Willkürrisiken durch Bürokratien zumindest Möglichkeiten der Bespitzelung setzt - gilt es zunächst einmal anzuerkennen, daß soziale Sicherung durch Sozialpolitik von oben oder unten, d. h. durch den Staat oder durch Selbsthilfeorganisationen, grundsätzlich nicht Effizienzverluste implizieren muß. Vielmehr verhilft sie der Marktwirtschaft als "Produktionsfaktor ersten Ranges" (K. Homann) in vielen Fällen erst zu ihrer vollen Leistungsfähigkeit.68 4. Die künftige Sozialpolitik sollte nach der hier vertretenen persönlichen Wertung des Verfassers zwar grundsätzlich auf das individualistische Menschenbild gestützt69 und in prinzipieller Anerkennung des heute maßgeblichen ökonomischen Paradigmas70 gleichwohl auch das sich in über hundert Jahren herausgebildete eigenständige Paradigma der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre voll berücksichtigen. Gerhard Kleinhenz spricht in diesem Zusammenhang von einer "neuen ökonomischen Theorie der Sozialpolitik", deren Essentials er in konditionaler Form wie folgt umschrieben hat: "Im Rahmen einer offenen Wettbewerbsgesellschaft mit Marktsteuerung erscheint eine kollektiv bereitgestellte, beitragsfinanzierte Lebensstandardsicherung auf der Grundlage einer subsidiären staatlichen Sicherung des 67 Biedenkopf, K., Verstaatlichung der Nächstenliebe, in: Die Zeit, Nr. 23, v. 4.6. 1993. 68 Vgl. dazu z.B. Kleinhenz, G., Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, in: Winterstein, H. (Hrsg.), Sozialpolitik in der Beschäftigungskrise I, Berlin 1986, S. 51-81; Homann, K./Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Unternehmensethik, a.a.O., S. 56 ff. 69 Trotz der ,.drei unheiligen Schwestern des Individualismus": Eigennutz, Neid und Vorurteil, von denen Gerhard Himmelmann zu Recht gesprochen hat; vgl. Frankfurter Rundschau, Nr. 38, v. 15.2.1993, S. 12. 70 Trotz beträchtlicher Unzulänglichkeiten und Ergänzungsbedürftigkeiten des methodologischen Individualismus und der rationalistischen Gemeinwohlkonzeption, wie sie besonders Siegfried Katterle herausgearbeitet hat; vgl. neben der früher angegebenen Literatur auch die Abhandlung ,.Methodologischer Individualismus and Beyond", in: Biervert, 8./Held, M. (Hrsg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Frankfurt/New York 1991, S. 132-152. Siehe auch bereits Kleinhenz, G., Zur Konzeption einer "Politischen Ökonomie" auf der Grundlage des kritischen Rationalismus, in: Lührs, G./Sarrazin, Th./Spreer, F./Tietzel, M. (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie II, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 173200.

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sozialkulturellen Mindestbedarfes (Sozialhilfe) nur dann gewährleistet werden zu können, wenn" (a) "tatsächlich in der Gesellschaft das Streben nach selbstverantwortlicher Selbstsicherung dominiert, wenn"; (b) "ein gewisses Maß an Solidarität und Gemeinschaftsverantwortung die Inanspruchnahme der Sozialen Sicherung durch die Versicherten kennzeichnet, und wenn"; (c) "die (gesellschaftlich organisierte) Lebenslagensicherung durch gegenseitige private Dienst- und Hilfsbereitschaft in nicht unerheblichem Umfange ergänzt werden"71 • 5. Es sollte sich von selbst verstehen, daß in Anknüpfung an Vergangenes auch die künftige Sozialpolitik nach moralischen, die Sozialpolitiklehre nach entsprechenden ethischen Aspekten gestaltet werden sollte. 72 Mit Heinz Lampert ist der Verfasser dabei der Ansicht, daß es normativ die Anliegen der politischen Praxis von denen der Wissenschaft im Sinne Max Webers und Hans Alberts, aber auch Gerhard Weissers, nach wie vor zu unterscheiden gilt. 73 Für die Sozialpolitiklehre verdienen die Aspekte des kritischen Rationalismus bzw. des methodologischen Individualismus trotz ihrer angedeuteten Unzulänglichkeiten weiterhin vorrangige Beachtung. Allerdings tritt der Verfasser für diesen und andere Wissenschaftsbereiche auch für die Entwicklung eines normativen Theorietyps - neben einem empirischen und einem entscheidungslogischen Theorietyp - ein, der nach seiner persönlichen Auffassung aber von nichtessentialistischer, d. h. "antiplatonischer Normativität" (H. Albert) sein sollte.74 In seinen Wertungen für den politischen Bereich gibt der Verfasser - was nach den wiederholt in die vorliegende Abhandlung eingestreuten Wertun71 Kleinhenz, G., Ökonomisches Paradigma und Sozialpolitik. Zur Relevanz einer neuen ökonomischen Theorie der Sozialpolitik, in: Glatze!, N./Kleindienst, E. (Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, a. a. 0., S. 381-399, hier S. 388 f. 72 Zu dieser Unterscheidung von Moral und Ethik (sowie Meta-Ethik) siehe Homann, K./Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Untemehmensethik, a.a.O., S. 16 f. 73 Vgl. dazu von Beckerath, E./Giersch, H. in Verb. mit I.Ampert, H. (Hrsg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Berlin 1963; lAmpert, H., Sozialpolitik, a.a.O., S. 3 ff. u. 8 ff.; Ders./Bossert, A., Die soziale Marktwirtschaft - eine theoretisch unzulänglich fundierte ordnungspolitische Konzeption? In: Hamburger Jb. f. Wirtsch. u. Gesellschaftsp., 32. Jahr, 1987, S. 109-130, hier besond. S. 122. Siehe auch Kleinhenz. G., Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung ... , a. a. 0., passim. 74 Vgl. dazu z. B. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied/ Berlin 1967, besond. S. 188 ff.; Katterle, S., Sozialwissenschaft und Sozialethik, Göttingen 1972.

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gen nicht mehr überraschen mag - kritizistischen Aspekten den Vorzug vor solchen der naturrechtlich fundierten christlichen Soziallehren, die er gleichwohl als verwandt betrachtet.75 Im einzelnen wendet sich der Verfasser in der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre (a) gegen Überschätzungen des ökonomischen Prinzips und aller utilitaristischen Positionen, da es sich nach seiner persönlichen Auffassung bei ethischen Fragen nicht nur um Probleme der Maximierung von Nettonutzen zur Herstellung des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Anzahl von Menschen handeln sollte76; (b) gegen als ausreichend betrachtete funktionalistische Anpassungen von MoraJen bzw. Ethiken durch ausschließliche Implementierung geeigneter Randbedingungen für die Prozesse des Subsystems Wirtschaft, da es nach seiner Meinung bei moralisch/ethischen Fragen nicht nur um die Wahl von geeigneten Restriktionen für die optimale Umgestaltung von Situationen gehen kann77 ; (c) gegen Universalistische naturrechtliche oder auch universalistische kritizistische Normen, da diese die Gegebenheiten des möglichst pragmatisch zu normierenden Einzelfalls nur unzulänglich treffen können78 ; (d) gegen ausschließlich empirische Begründungen persönlicher Wertungen, auch wenn normative Letztbegründungen entfallen müssen. Es genügt deshalb m. E. auch nicht der Rückzug auf die Ergebnisse kommunikativen Diskurses.79 75 Vgl. dazu z.B. Engellwrdt, W. W., Sozialwissenschaft und Sozialethik, in: ZfgSt., 130. Bd., 1974, S. 145-155. 76 Zum Für und Wider entsprechender Kritik siehe z. B. Lampert, H., Die soziale Dimension gesellschaftlichen Wirtschaftens, a.a.O., S. 14f.; Kleinhenz, G., Das Rationalprinzip in den Wirtschaftswissenschaften, in: Mückl, W. J./Ott, A. E. (Hrsg.), Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Passau 1981, S. 189-202; Rothschild, K. W., Ethik und Wirtschaftstheorie, Tübingen 1992, besond. S. 38 ff. 77 Zu einer funktionalistischen Position vgl. Homann, K.l Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Untemehmensethik, a.a.O., besond. S. 35 ff. 78 Zur Kritik entsprechender Positionen, siehe z. B. Rüthers, B., Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Defizite eines Begriffs, Zürich 1991, besond. S. 133 ff.; Walzer, M., Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, besond. s. 228 ff. 79 In diese Richtung dachte wohl auch bereits Gunnar Myrdal; vgl. besonders sein Werk "Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft" (Hannover 1965, besond. S. 99 ff.). Zur heute gängigen Bejahung empirischer Begründungen, die auf den demokratischen politischen Prozeß zurückverweisen, freilich von wissenschaftlicher Seite nicht normativ präjudiziert werden sollen, vgl. auch Lampert, H./Bossert, A., Die soziale Marktwirtschaft . . ., a.a.O., S. 120 ff.

Teil B

Eine Theorie der Sozialpolitik Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik Institutionelle und Lebenslage-Analysen als Grundlagen der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre "Es gehört nicht viel Instinkt dazu, die baldige Renaissance einer methodisch abgewandelten historischen Schule zu prophezeien" W. Schreibe/

Vorbemerkungen Der Beitrag beabsichtigt die Gewinnung einer vorläufigen Summe langjähriger Forschungstätigkeiten des Verfassers. Die Ausführungen sind vielleicht nur ganz verständlich, wenn man den speziellen Werdegang ihres Autors kennt, weshalb darüber zunächst kurz zu berichten ist. Nach relativ breit angelegten wirtschafts- und sozialwissenschaftliehen sowie philosophischen Studien an den Universitäten Halle-Saale und Köln wurde ich Diplom-Volkswirt in Halle, später Dr. rer. pol. und Privatdozent in Köln. Die venia legendi lautete zunächst auf Sozialpolitik und Genossenschaftswesen; sie wurde später auf Wirtschaftliche Staatswissenschaften erweitert. In meinen wissenschaftlichen Lehrmeinungen wurde ich ursprünglich, d. h. besonders während meiner ersten Studienjahre in Halle, von späten Vertretern der Historischen Schulen der Nationalökonomie beeinflußt. Ortsbedingt lernte ich in dem unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs in der damaligen sowjetischen Besatzungszone begonnenem Studium auch die marxistisch-leninistischen Dogmen des "wissenschaftlichen" Sozialismus kennen und begann mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Nach meiner Überwechselung an die Universität zu Köln erhielt ich während meiner weiteren Studienjahre und insbesondere als Assistent des Sozialpolitik- und Genossenschaftswissenschaftlers Gerhard Weisser wichtige Anregungen

* Schreiber, W.: Zur reinen Theorie des Kapitals und des Zinses, unveröff. Bonner Habilitationsschrift, Köln 1952, S. 37.

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

nicht nur in diesen Spezialdisziplinen, sondern vor allem in der Wissenschaftstheorie, der Erkenntniskritik und auch in der Anthropologie. Sie verbanden sich mit bereits vorhandenen Ansichten aus der Beschäftigung mit der Philosophie Immanuel Kants und den wissenschaftstheoretischen, gesellschaftswissenschaftliehen und religionssoziologischen Arbeiten Max Webers. Besonders in der letztgenannten Hinsicht beeinflußten mich auch Veröffentlichungen und Vorlesungen Alfred Müller-Armacks. In Köln vertiefte ich bald das Studium der Literatur des frühen bzw. "utopischen" Sozialismus, das bereits in Halle begonnen worden war und später zu ausgedehnten Forschungen zum Utopieproblem führen sollte. Als Hochschullehrer der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln befaßte ich mich außer mit den mir dienstlich übertragenen Gebieten unter anderem mit allgemeinen und speziellen Fragen der Verbindung von Theorie und Geschichte in Konzeptionen "geschichtlicher Theorie" und der lehrgeschichtlichen Entwicklung solcher Konzepte. Andere Forschungen galten in Verbindung mit der Utopienproblematik den Fragen gemischter ("dritter", "mittlerer") Wirtschaftsordnungen und der Neubelebung bzw. Weiterführung von Positionen des Institutionalismus in der Nationalökonomie und in anderen Sozialwissenschaften. In der hier vorgelegten Arbeit ging es mir als Verfasser zunächst einmal um einen weiteren Ausbau der Sozialpolitiklehre als einer Spezialdisziplin der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, vor allem durch Herausarbeitung der utopischen Dimension der praktischen Sozialpolitik und durch Akzentuierung der "von unten" her ansetzenden Sozialpolitik in theoretischen Konzepten. Zum andem ging es mir auch um eine Fortentwicklung der Genossenschaftslehre als einer weiteren jungen Spezialdisziplin, indem Zusammenhänge zwischen der von unten ansetzenden praktischen Sozialpolitik als solidarische Selbsthilfe bzw. Selbsthilfepolitik und dem lange Zeit strikt gemeinwirtschaftlich-gemeinwohlorientierten Genossenschaftswesen sichtbar gemacht werden sollten. Wenn hier auf die Utopiedimension und die sich von unten her entwickelnde Sozialpolitik und Genossenschaftsarbeit besonderer Wert gelegt wird, so bedeutet dies freilich nicht, daß andere Dimensionen der Sozialpolitik, wie z. B. die erreichte Wirkung, und die "von oben", vom Staat her initiierte Politik dieser Art als weniger der Beachtung wert eingeschätzt würden. Die letztlich erstrebte historisch-empirische Theorie, die von entscheidungslogischen und normativen Theoriekonzepten streng zu unterscheiden ist, bedarf selbstverständlich der Einbeziehung auch auf andere Dimensionen und den Staat bezogener Merkmale und Aspekte. Sie muß im übrigen den Zusammenhang von Objektbereichen der Politik und wissenschaftlichen Metabereichen ausreichend beachten, was konkret im vorliegenden Falle unter anderem bedeutet: Trotz Vorbehalten auf die später einzugehen ist - wird die in Aussicht genommene historischempirische Theorie, die sich treffender als empirische Institutionentheorie

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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dynamischer Art bzw. historische Institutionenwandlungstheorie bezeichnen läßt, auch "Entwicklungstheorie" genannt. Ich habe mich für diese Benennung entschieden, obwohl ich kein Vertreter eines absolut gesetzten Evolutionismus bin und keineswegs von der Möglichkeit von "Entwicklungsgesetzen" im Sinne von Karl Marx, John Stuart Mill und anderen Autoren ausgehe und also auch nicht an unbedingte Prognosen glaube. In Übereinstimmung mit Hans Gehrig, Eduard Heimann, Heinz Lampert und weiteren namhaften Fachvertretern werden allerdings persönliche Wertungen - auch im Sinne von konkreten Fortschrittsutopien bzw. sozialen Idealen - in reformerischen Konzepten nicht für ganz vermeidbar gehalten. Sie werden jedoch nicht als allgemeinverbindlich betrachtet, sondern lediglich als Bestandteile der subjektiven Basis der Theoriebildung eingeführt. Im übrigen bedarf die beabsichtigte Entwicklungstheorie der Sozialpolitik nicht nur der Bestimmungsstücke einer empirischen Institutionentheorie dynamischer Art, sondern gleicherweise der Elemente einer empirisch-theoretischen Lebenslageanalyse der sozial schwachen oder gefahrdeten Bevölkerungsgruppen, um ihre Erkenntnisziele zu erreichen. Institutionenforschung und Lebenslageanalysen zusammen können nach der hier vertretenen Lehrmeinung ein wesentliches Fundament einer modernen Sozialpolitiklehre bilden, die dann ihrerseits die praktische Sozialpolitik von unten oder oben her operierender Träger zu befruchten vermag. Eine solche Lehre kann dabei nur bedingt, d. h. streckenweise, dem New Institutional Approach der Gegenwart folgen, da dieser weiterhin zu stark Bahnen der neoklassischen Erkenntnisgewinnung folgt. Weil Verfasser von seiner wissenschaftstheoretisch und erkenntniskritisch fundierbaren Position überzeugt ist, erfolgt trotz partieller Übereinstimmungen mit historisch orientierten Neoinstitutionalisten eine Abgrenzung gegenüber neoklassisch orientierten Theorien (in I. 3.; vgl. auch I. 4. und 111. 1.). Dafür wird es für sinnvoll und weiterführend gehalten, sich auf wesentliche Traditionen des älteren Institutionalismus, insbesondere auch solche des deutschen Sprachraums, zurückzubesinnen (vgl. I. 4. und I. 6., II. 2. und III. 3.). Die Rekonstruktion des Lebenslagebegriffs ergab daneben zusätzlich, daß auch auf bestimmte Ergebnisse der Marxistischen Lehrtraditionen nicht ganz verzichtet werden kann. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, daß die Konstruktion von Sozialindikatoren sich inzwischen als absolute Notwendigkeit erwies, wenn wesentliche Schritte in Richtung überprüfbarer empirischer Aussagen in der Lebenslageforschung unternommen werden sollten (vgl. II. l.-3.). Insgesamt kann die heutige Sozialpolitiklehre, soweit sie einerseits die Lebenslage- und Sozialindikatorenforschung betrifft, als "Querschnittswissenschaft" im Sinne Gerhard Weissers begriffen werden, der in Anbetracht verbreiteter Armut in der Welt auf unabsehbare Zeit erhebliche Bedeutung zukommt (II. 4.-6.).

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

Soweit die Sozialpolitiklehre andererseits Institutionentheorie darstellt, die geschichtliche Entwicklungen im Objektbereich der Sozialpolitik unter Heranziehung von Evolutionen im wissenschaftlichen Metabereich zu erklären versucht, geht es zunächst in langen Zeiträumen bis hin zum beginnenden Merkantilismus um "negative" Sozialpolitik im Sinne von Robert Malthus. Neben entstehenden literarischen Utopien und Sozialphilosophemen interessiert aber hauptsächlich Sozialpolitik von unten her in kommunaler und genossenschaftlicher Trägerschaft (vgl. ITI. 2.). Erst im Zeitalter der Vorbereitung und des Beginns der Industriellen Revolution - sie wird heute von Douglass C. North als Zweite Wirtschaftliche Revolution bezeichnet, der vor rund 10000 Jahren die Landwirtschaftliche Revolution als Erste Wirtschaftliche Revolution vorausging - wird schließlich Sozialpolitik von oben, d. h. vom Staat her dominant, ungeachtet der Renaissance von unten her einsetzender genossenschaftlicher und sozialpolitischer Strömungen besonders im vorigen Jahrhundert und in der Gegenwart. Dabei verlagerten sich die entscheidenden "sozialstaatlichen" bzw. "wohlfahrtsstaatliehen" Initiativen, die gestützt auf utopisches Denken ursprünglich besonders von Großbritannien ausgingen, mehr und mehr auf den europäischen Kontinent und nicht zuletzt nach Deutschland. Es entstand jetzt auch die Sozialpolitiklehre als "erwachsene Tochter der Nationalökonomie", wie der Nationalökonom und Soziologe Leopold von Wiese sie früh charakterisiert hat. Freilich handelte es sich um eine Lehre, die lange Zeit betont in einem engeren Sinne sozialwissenschaftlich ausgerichtet war und der dann in neuerer Zeit rein wirtschaftswissenschaftliche Konzeptionen folgten (vgl. III. 3.). Daß die praktische industriezeitliche Sozialpolitik - sei sie vom Staat von oben her oder durch freie gesellschaftliche Kräfte von unten her getragen gewirkt hat und in der heutigen "postindustriellen" Entwicklungsphase auch begrenzte Gegensteuerungsmöglichkeiten zu vorherrschenden Trends bestehen, dürfte nicht mehr ernsthaft zu bestreiten sein (vgl. dazu III. 4.--6.).

I. Zum Ziel des Entwurfs und den Grenzen bisheriger Forschungen 1. Für eine empirische Institutionentheorie der Sozialpolitik dynamischer Art

Für erstrebenswert hält der Verfasser Ansätze empirischer Theorien der Sozialpolitik, die ihr Erfahrungs- bzw. Erkenntnisobjekt etwa in Anknüpfung an Überlegungen Otto von Zwiedineck-Südenhorsts als "Kategorie der Politik" 1 auffassen. Mit älteren und jüngeren Institutionalisten - wie z. B. einerseits Gustav von Schmoller, Adolph Wagner oder andererseits Jens 1

v. Zwiedineck-Südenhorst, 0 .: Sozialpolitik, Leipzig u. Berlin 1911, S. 36 ff.

Einleitung in eine .,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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Alber, Manfred G. Schmidt - läßt sich auch von einer Wiederaufnahme bestimmter Traditionen der Politischen Ökonomie bzw. der social oder political sciences sprechen, die im Sinne des letztgenannten Autors u. U. zur "policy analysis"2 erweitert werden mögen. Diese Theorien sollten jedoch, ohne übermäßig einer evolutionistischen Zeitströmung zu huldigen, in dynamischer Weise einen zentralen Ausschnitt der gesamten Humangeschichte sowohl in ihren evolutorischen als auch in ihren stationären Abschnitten zu erfassen versuchen. In auf die Gesellschaft und deren akut gewordene .,soziale Fragen" bezogenen Sätzen sollten gleichermaßen Gesetze bzw. gesetzesartige Regelmäßigkeiten - nicht freilich "Entwicklungsgesetze" typische und singuläre Tatsachen sowie angewandte Aussagen der verschiedenen bekannten Arten (Erklärungen, Prognosen, technologische Aussagen) interessieren. Dabei ist streng darauf zu achten - wie es auf der letztjährigen Tagung exemplarisch von Heinz Lampert und Ulrich Pagenstecher gezeigt worden ise -, immer die Entstehung und Entwicklung wirtschaftlicher Gegebenheiten und der Wirtschaftspolitik zugleich im Blick zu behalten. Entsprechendes gilt für die Bevölkerungsentwicklung und die Bevölkerungspolitik sowie andere Bereiche der Gesellschaftspolitik, auf die noch hinzuweisen sein wird. Bei der ins Auge gefaßten Ausschnittsanalyse von gleichwohl relativ umfassender Art handelt es sich um eine Selektion, die in erster Linie auf nicht rein private Maßnahmen bzw. Instrumente zugunsten relativ oder absolut Armer, auf die Auslöser solcher Mittel im Bereich grundlegender Intentionen und Einzelziele, das zur Verwirklichung der Auslöser praktizierte Verhalten und die durch sie hervorgerufenen Effekte bzw. Wirkungen abstellt. Es interessieren im einzelnen natürlich die bewirkenden und resultierenden Gemeinsamkeiten zwischen den evolutorischen und stationären Abschnitten der verschiedenen Epochen und Länder. Sie sind sowohl auf qualitative Strukturprinzipien als auch auf quantitative oder topalogisch vergleichende qualitative Sozialindikatoren zu beziehen. Ebenso aber müssen die auslösenden und sich einstellenden Unterschiede zwischen den einzelnen Geschiehtsahschnitten und Staaten in ihrer Merkmals- und Ausprägungsvielfalt beschäftigen, und diese könnten vielfach noch aufschlußreicher sein. Bei alledem stehen die - wie Lampert sagt - "Triebkräfte der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung" zunächst im Vordergrund des Interesses, d. h. die Bestimmungsgründe von Sozialpolitik, aber ebenso 2 Schmidt, M. G.: Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988, S. 5. Siehe dazu auch meine ausführ!. Besprechung in der zws lll, 1991, s. 124 ff. 3 Vgl. Lampert, H.: Notwendigkeit, Aufgaben und Grundzüge einer Theorie der Sozialpolitik, in: Thierneyer, Th. (Hrsg.): Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik, Berlin 1990; Pagenstecher, U.: Aufgaben und theoretische Grundlagen wissenschaftlicher Sozialpolitik, ebd.

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

dann auch die Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse4 , allerdings nicht nur diejenigen der staatlichen Sozialpolitik und nicht allein die der in den Industrialisierungsprozeß eingetretenen Länder. Nicht zuletzt wäre zu untersuchen, wie die Übereinstimmungen und die Unterschiede zwischen den einzelnen Epochen und Ländern zu erklären sind, welche Rolle dabei ökonomische, gesellschaftliche, demographische und weitere Faktoren gehabt haben. M. G. Schmidt hat jüngst besonders die Bedeutung politischer Bedingungen und teilweise auch weltanschaulicher Grundlagen hervorgehoben, indem er fragte: .,Welche Rolle spielen beispielsweise die Kräfteverhältnisse zwischen konkurrierenden Parteien und zwischen organisierter Arbeiterschaft und Untemehmerschaft, und in welchem Ausmaß machen sich parteipolitische Zusammensetzung und ideologische Orientierung der Regierungen in der Sozialpolitik spürbar?"5 Es versteht sich, daß diese Problemstellung bei Einnahme einer entwicklungstheoretischen Perspektive auch .,Entwicklungsländer" und deren nichtstaatliche Sozialpolitik einbeziehen muß. Wie im Grundsatz bereits bemerkt wurde, sollten empirische Theorien der Sozialpolitik des empfohlenen Typs die Entstehung und Entwicklung der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik stets scharf im Auge behalten. Diese Maxime schließt ein sowohl die Beachtung der Erfüllung öffentlicher und kollektiver Interessen als auch die Einbeziehung der auf Kooperation und Wettbewerb gerichteten Strukturen und Tendenzen. Wesentliche Teile der Sozialpolitik, freilich keineswegs alle, sind zweifellos an funktionsfähige Gesamt- und Einzelwirtschaften gebunden. Jedoch reicht allein die Einbeziehung wirtschaftlicher Zusammenhänge nicht aus6 • Die hier bevorzugten Theorien der Sozialpolitik sollten daneben die von altersher als Determinante gesellschaftlichen .,Werdens"7 wichtige Bevölkerungsentwicklung und die mindestens seit dem Merkantilismus und Kameralismus zeit4 Lampert, H.: Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1985, S. 43 ff. u. 102 f. Vgl. auch bereits z.B. Schmoller, G.: Die sociale Frage und der preußische Staat, in: ders., Zur Social- und Gewerbepolitik in der Gegenwart, Leipzig 1890, S. 37-63, und gegenwärtig z.B. auch Tennstedt, F.: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen 1981; Zöllner, D.: Ein Jahrhunden Sozialversicherung in Deutschland, Berlin 1981. s Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 13. Vgl. auch schon Preller, L.: Sozialpolitik in der Weimarer Republik (1949), Kronberg, Düsseldorf 1978; ders., Sozialpolitik. Theoretische Ortung, Tübingen, Zürich 1962, S. 107 ff.; Engelhardt, W. W.: Möglichkeiten einer Wissenschaft von der Sozialpolitik, in: ZfgSt., 130. Bd., 1974, s. 554. 6 Es versteht sich von selbst, daß im Rahmen der Beachtung wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Zusammenhänge auch ganz andere als die soeben genannten Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen beachtet werden können. Es geht dem Verfasser nicht um "die", sondern um eine Entwicklungstheorie, und er hofft, daß sein Anstoß zu weiteren und möglichst detaillierteren Arbeiten beiträgt.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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weise ausdrücklich betriebene Bevölkerungspolitik beachten. Sie sollten schließlich aber auch andere Teile der Gesellschaftspolitik in ihre Untersuchungen einbeziehen. Diese gehen teilweise auf sehr alte Traditionen zurück, gewinnen aber erst heute an Bedeutung. Das gilt z. B. für die Gemeinwohlpolitik und die Kulturpolitik. Relativ neuen Ursprungs ist die Umweltpolitik, die sich ebenso für die soziale wie für die natürliche Umwelt interessieren kann. Nach v. Zwiedineck-Südenhorst stellt der Sprachgebrauch bezüglich Sozialpolitik auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weithin in Übereinstimmung mit dem Inhalt des Wortes, den es bei Aristoteles als Begründer der systematischen Politik gewonnen hat, wenn ersterer schreibt: "es ist immer die Beziehung zum Gemeinwesen, was das Wesentliche der Politik, sei es als Wissenschaft, sei es als praktische Betätigung und Kunstlehre, ausmacht". Dabei sei bei "Gemeinwesen" keineswegs nur an den Staat, sondern ganz allgemein an "die Betätigung im Kreise der öffentlichen Interessen" - etwa auch durch freie Gesellschaftsgruppen bzw. innerstaatliche Verbände - zu denken, der sich die Kulturmenschheit willentlich widme8 . Und im Blick auf gegenwärtig besonders akute gesellschaftliche Probleme der Umweltpolitik kann man mit Lynton K. Caldwell der Ansicht sein, daß "das Überleben menschlichen Lebens, von Spezies und Ökosystemen, und der Erhalt der Qualität natürlicher und künstlicher Umwelten (...) das grundsätzliche, umfassende Ziel der Politik" überhaupt sei oder doch zu sein habe9 .

7 Zum Ausdruck "Werden" siehe auch im Anschluß an Alfred Marshall bereits v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode (1893/1910), Frankfurt/M. 1949, S. 77. Neuerdings vgl. vor allem Prigogine, 1.: Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften (1979), 5. Auf!., München 1989. 8 v. Zwiedineck-Südenhorst, 0.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 37 f. Vgl. auch Wagner, A.: Grundlegung der politischen Ökonomie, I. Teil, Grundlagen der Volkswirtschaft, 1. Halbbd., 3. Auf!., Leipzig 1892, S. 349 ff., 770 ff. u. besond. 849-869; Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, Berlin 1970, besond. S. 21-36 (über die gesamte ,,klassische" Gemeinwirtschaftstheorie); ders., Wirtschaftslehre öffentlicher Betriebe, Reinbek 1975, S. 15 ff. und 32 ff. Zur kulturpolitischen Orientierung der Entwicklungsländerpolitik, der nach Willy Brandts Urteil die zentrale soziale Frage des 20. Jahrhunderts zur Lösung obliegt, siehe z. B. Heister, M.: Entwicklungshilfe als Kulturpolitik, Regensburg 1988. Zur kulturellen Seite heutiger Sozialpolitik überhaupt Badura, B./Gross, P.: Sozialpolitische Perspektiven, München 1976, S. 88 ff. 9 Caldwell, L. K.: Ökologische Elemente einer am Überleben orientierten Politik, in: Flohr, H./Tönnesmann, W. (Hrsg.): Politik und Biologie, Berlin, Harnburg 1983, S. 163-174, hier S. 173. Zu den Anfängen der Umweltpolitik siehe z. B. Elsässer, M.: Soziale Intentionen und Reformen des Robert Owen in der Frühzeit der Industrialisierung, Berlin 1984, S. 216 f. und 248 f.

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik 2. Die fünf grundsätzlich einzubeziehenden Dimensionen

Der Verfasser verfolgt seit langem einen Ansatz systematischer Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre, der nicht zuletzt zu Zwecken einer empirischen Theorie der Sozialpolitik dynamischer Art hauptsächlich fünf Dimensionen dieses Gebiets und der darauf bezogenen Lehre unterscheidet. Dabei handelt es sich um die Dimensionen (das Wort im Sinne von Schwerpunkten verstanden) (l) der Träger von Sozialpolitik, (2) der sozialen Utopien, (3) der Einzelziele, (4) der Mittel bzw. Instrumente und Maßnahmen, (5) der Wirkungen bzw. Effekte (siehe dazu Schema 1).10 Gelegentlich empfiehlt es sich, abweichend von dieser Schwerpunktbildung nach subjektiven Sinneigenschaften des Handelns, objektiven Umständen der Lebenslagen der aktiv oder passiv am Handeln Beteiligten, institutionellen Sinngebungen des Handelns, dem Verhalten der aktiv oder passiv Beteiligten und den gewollt oder ungewollt eingetretenen Verhaltensauswirkungen zu unterscheiden. Sozialpolitische Theorie dieser Art ist morphologische Sinn- und Wirkungsanalyse zugleich, d.h. sie bringt Merkmale bzw. Relationen der Sinngebilde-, Einzelziel- und Maßnahmeebenen mit solchen des Verhaltens und der erreichten Wirkungsgefüge (Systeme, Ordnungen) in Verbindung, wobei besonders die Wandlungen der berücksichtigten Merkmale bzw. Relationen interessieren können 11 • Bislang standen im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Erörterungen der Theorien von der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik zweifellos Fragen der Mitteleinsatzweisen und der Einzelzielkomplexe, in den letzten Jahren freilich zunehmend ergänzt durch Untersuchungen der Wirkungszusammenhänge. Etwas zu kurz kamen demgegenüber Analysen der Gesamtheit von Trägerschatten und besonders solche der letzten oder vorletzten weltanschaulichen Grundlagen der Sozialpolitik, die hier unter dem Stichwort "Utopien" zusammengefaSt werden. Was zunächst die Träger betrifft, so geht es nach hier vertretener Lehrauffassung keineswegs allein - und auch nicht immer vorzugsweise - um den Staat (einschließlich seiner Organe, Verwaltungen und Betriebe). Dieser findet samt seiner trotz Demokratisierung und gemeindlicher Selbstverwaltung letztlich jeweils "von oben her" initiierenden, dekretierenden und kontrollierenden Sozialpolitik vielfach zu 10 Vgl. dazu und zum folgenden Engelhardt, W. W.: Ansatzpunkte systematischer Sozialpolitiklehre, in: Z.f. Sozialreform, 24. Jg., 1978, S. 193-209. 11 Zu diesem veränderten Ansatz, der sich auch für Zwecke der Genossenschaftstheorie eignet, vgl. Engelhardt, W. W., Genossenschaftstheorie, in: Mändle, E.; Winter, H.-W. (Hrsg.): Handwörterbuch des Genossenschaftswesens, Wiesbaden 1980, Sp. 815 ff.; ders., Gemeinwirtschaftliche Genossenschaften - ein möglicher Widmungstyp von Genossenschaften unter sechsen, in: ZögU, Bd. 6, 1983, S. 32 ff.; ders., Allgemeine Ideengeschichte des Genossenschaftswesens, Darmstadt 1985, s. 55 ff.

Entwurfsbereich

z. 8. Gerechtigk.eit Freiheit, Solidarität, Beschäftigungsziele

Einbeziehung auch von Vorzielen anderer Art

übernationale nationale (staatliche, verbandliehe, usw.)

I

außerwirtschaftliehe

1\

Mittel

z.B. rechtspolitisehe, finanzpolitisehe

I

unbeabsichtigt erreicht

/~

Wirkungen

Datensetzuns zur Produktionsbeeinflussung, Verteilungskorrekturen, Beeinflussung der Konsumsphäre

gewollt eingetreten

System- bzw. Ordnungsbereich

z.B. Beratung, Erziehung, Pflege

organi- pädagosatori- gisehe sehe

Konzeptionsbereich

z. B. Einkommensziele, Vermögensziele, Beschäftigungsziele

I

wirtSChaftliehe

/\

Einzelziele

Welt- Leit- Iiterabilder bilder rische Utopien

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----subjektive Primärwertungen

allgemeine Werturteile

begriffliche und entschei.kati . dungslogische Aussagen l exp 1 ve Aussagen - - - - - - - - - beschreibende und empirisch theoretische A~gen

normative Aussagen

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Utopien

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Schema 1: Ansatzpunkte systematischer Sozialpolitik und systematischer Sozialpolitiklehre

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

ausschließlich Beachtung. Zumindest sollte auch die zunächst jeweils "von unten her" ansetzende und operierende Sozialpolitik, die von Einzelpersonen samt ihren Gruppen und Betrieben (Verbänden, Gewerkschaften, Parteien, nichtstaatlichen Betrieben, Genossenschaften, sonstigen Organisationen) ausgeht, gebührende Beachtung finden, wie in der Gegenwart zunehmend anerkannt wird. Solche Sozialpolitik wurde, überblickt man die Geschichte, als Wohltätigkeit und Wohlfahrtspflege vermutlich seit Urzeiten betrieben. In bestimmter, durch aktive solidarische Selbsthilfe geprägter Gestalt nahm sie seit dem 19. Jahrhundert einen besonders steilen Aufstieg, und sie erlebt in dieser Form bekanntlich in der Gegenwart eine vielbeachtete Renaissance. Sozialpolitik dieser Art deckt bzw. überschneidet sich weithin mit der Genossenschaftspolitik und anderen Zweigen der Gemeinwohlpolitik und kann zu einer Entlastung der öffentlichen Hand bzw. des Staates führen 12• Soweit Einzelpersonen Träger von Sozialpolitik sind, kommt es vielfach zunächst zur Ausbildung von Utopien, die als weltanschauliche Ausgangspunkte der Bestrebungen angesehen werden können. Aus diesen Gebilden mit Entwurfscharakter können sich später vollständigere Konzeptionen mit schrittweise präzisierten Zielebündeln und Einzelzielen entwickeln, die Kriterien der Rationalität genügen 13 • Wichtig ist, daß die als subjektive Vorziele zu betrachtenden Utopien - bei positiver Akzentuierung werden sie heute in Anknüpfung an religiösen Sprachgebrauch oftmals "Visionen" genannt, im übrigen oft falschlieh "Motiven" gleichgesetzt 14 - tatsächlich 12 Wie im Anschluß an die klassische Gemeinwirtschaftstheorie nach dem Zweiten Weltkriege zunächst besonders Gerhard Weisser hervorgehoben hat. Vgl. etwa Weisser, G.: Form und Wesen der Einzelwirtschaften, I. Bd., 2. Autl., Göttingen 1949, S. 69 ff. Zuvor siehe z.B. v. Wiese, L.: Einführung in die Sozialpolitik, 2., neubearb. Aufl., Leipzig 1921, S. 210 ff., und später ähnlich Albrecht, G.: Sozialpolitik, Göttingen 1955, S. 37 ff. u. 48-94; ders., Die soziale Funktion des Genossenschaftswesens, Berlin 1965; Fürstenberg, F.: Die Genossenschaft als sozialer Integrationsfaktor, in: Jb. f. Sozialwiss., Bd. 15, 1964, S. 243-255; Ritschl, H.: Gemeinwirtschaft, in: HdSW, 4. Bd., 1965, S. 331 ff. Auch Friedeich A. von Hayek hat für diese Art von "Bemühungen von um das Gemeinwohl besorgten Individuen oder Gruppen" Verständnis; vgl. v. Hayek, F. A.: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, Landsberg a. L. 1981, S. 76 ff. 13 Vgl. dazu z.B. Flohr, H.: Parteiprogramme in der Demokratie, Göttingen 1968; ders., Über den möglichen Beitrag der Wissenschaft zur Rationalität der Politik, in: Maier, H./Ritter, K./Matz, U. (Hrsg.): Politik und Wissenschaft, München 1975, S. 139-166; Bank, H.-P.: Rationale Sozialpolitik, Bcrlin 1975. 14 Zur Kritik dieser Gleichsetzung siehe Molitor, B.: Was ist Sozialpolitik? In: H. Jb. f. Wirtsch. u. Gesellsch.p., 17. Jahr, 1972, S. 196 f.; Sanmann, H.: Sozialpolitik, in: Ehrlicher, W./Esenwein-Rothe, 1./Jürgensen, H./Rose, K. (Hrsg.): Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, 3. neu bearb. Aufl., Göttingen 1972, S. 191, ders., Leitbilder und Zielsysteme der praktischen Sozialpolitik, in: ders. (Hrsg.): Leitbilder und Zielsysteme der Sozialpolitik, Berlin 1973, S. 66 f.

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als Ausgangspunkte Objektivität erheischender und Legitimität vermittelnder "politischer Konzeptionen", aber auch wissenschaftlicher Aussagensysteme und rechtlicher Normierungen, beispielsweise im Bereich der Sozialpolitik, fungieren. Nicht selten dienen sie aber auch, weit über mehr oder weniger pragmatische Zielsetzungen hinaus, als Medien verabsolutierender "Ideologien" und "Gegenideologien" beliebiger Träger von Sozialpolitik. Nach der hier vertretenen Ansicht gilt es möglichst eine ganze Fülle der Arten und Erscheinungsformen sozialer Utopien (siehe dazu Schema 2) 15 so unvoreingenommen und vollständig wie möglich in empirischen Theorien der Sozialpolitik des befürworteten dynamischen Typs zu berücksichtigen, weil Entstehungs- und Entwicklungs(Wandlungs-)vorgänge nicht zuletzt von ihnen abhängig sein dürften. Die frühe Klage Robert von Mahls, "die zünftige Wissenschaft pflegt sich zu wenig zu kümmern um die zahlreichen Versuche, eine Lehre im Gewande darzustellen" und die Schilderung "erdichteter Ideale" kaum in die Forschungen einzubeziehen 16, ist jedenfalls für die Wirtschafts- und Sozialpolitiklehren noch immer in gewissem Maße berechtigt 17• Nur wenn jedoch bis auf die letzten Sinnintentionen der Handelnden in der Geschichte zurückgegangen wird - und diese sind entgegen Friedrich A. Hayeks Vermutung möglicherweise doch nicht überpersönlichkollektive Kräfte, sondern entweder ganzheitliche Utopien oder aber selektionierend-konstruktivistische Entwürfe liefemde persönlich-subjektive Kräfte, die außerhalb der biologischen Evolutionen des Tierreichs und der 15 Vgl. dazu zuletzt Engelhardt, W. W.: Über Leitbilder in der Sozialpolitik und zur Utopienproblematik in der Sozialpolitiklehre, in: Herder-Dorneich, Ph./Zerche, J./ Engelhardt, W. W. (Hrsg.): Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992. Zur gesamten Utopieproblematik siehe im letzten Jahrzehnt vor allem die mehrbändige Veröffentlichung von Voßkamp, W. (Hrsg.): Utopieforschung: Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde., Stuttgart 1982. Siehe auch Habermas, J.: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders. , Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 141-163. 16 v. Mohl, R.: Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Erlangen 1855, S. 167. Dabei geht es in der heutigen Utopieforschung keineswegs nur oder in erster Linie um literarische Utopien oder utopische Projektionen "idealisierter" Art, den idealtypischen Utopien im Sinne Max Webers; vgl. Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., Tübingen 1973, S. 191 f. 17 Trotz Darlegungen z. B. bei Heimann, E.: Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik (1929), Frankfurt/M. 1980, besond. S. 14 ff. u. 158 ff.; Schumpeter, J. A.: Geschichte der Ökonomischen Analyse, 2 Teilbde., Göttingen 1965, S. 271 ff. u. 1087 ff.; ders. , Wissenschaft und Ideologie, in: 11. Jb. f. W. u. GP., 3. Jahr, 1958, S. 11- 24; Boulding, K.: Die neuen Leitbilder, Düsseldorf 1958, Polak, F. L.: The Image of the Future, 2 Bde., Leyden, New York 1961; Preller, L.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 6 ff.; Nozick, R.: Anarchie, Staat, Utopia, München o. J.; v. Hayek, F. A.: Regeln und Ordnung, München 1980, S. 92 ff.; Frerich, J.: Sozialpolitik, München, Wien 1987, S. 19 ff.; Brück, G. W.: Von der Utopie zur Weltanschauung, Köln 1989; Ward, B.: Die Idealwelten der Ökonomen. Liberale, Radikale, Konservative, Frankfurt/M., New York 1981.

religiöser Herkunft

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z.B. progressive Staatsromane

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menschlichen Stammesgeschichte die kulturellen und sozioökonomischen Evolutionen der Menschheit zunächst zu steuern versuchen 18 - dürfte Grund zu der Annahme bestehen, schließlich ausreichende Erklärungen des im Laufe langer Zeiträume aufgetretenen sozialen und sozialpolitischen Tuns und Unterlassens bieten zu können. 3. Zur Abgrenzung gegenüber neoklassisch orientierten Theorien

Eine sozialpolitische Theorie, die wie die skizzierte aufgebaut wird, kommt nicht daran vorbei, unterschiedlichste Lehrgebäude der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften implicite oder explicite zu kritisieren, zumindest aber erheblich zu ergänzen. Dies wurde am Beispiel des Verhältnisses zweier Spielarten des kritischen Rationalismus - des evolutionistischen und des konstruktivistischen Rationalismus - andeutungsweise bereits deutlich. Es läßt sich auch an Lehrgebäuden des Institutionalismus demonstrieren, die für die beabsichtigte Theorie besondere Relevanz besitzen. Unter denjenigen Vertretern eines "New Institutional Approach" in der Gegenwart, die hier zu den "erweiterten" Institutionalisten im Sinne M. G. Schmidts gerechnet werden sollen, 19 hat dies besonders Douglass C. North verdeutlicht. Dieser Autor betont gleichermaßen Fehler und Lücken der klassischen und der marxistischen Lehrgebäude der Politischen Ökonomie. Obwohl er ursprünglich selbst stark neoklassisch geprägt wurde, sieht er aber darüber hinaus besonders Mängel innerhalb der mehr oder weniger reinen Ökonomie neoklassischer Autoren. Sie fallen seiner Ansicht nach vor allem dann ins Gewicht, wenn Entwicklungsprobleme durch eine Theorie erklärt 18 Vgl. dazu z.B. v. Hayek, F. A.: Regeln, a.a.O., S. 59 f., 68 f. u. besond. 78 f.; Witt, U.: Bemerkungen zu Hayeks Theorie sozioökonomischer Evolution, in: Wirtschaftsp. BI., 36. Jg., 1989, S. 140-148. 19 Sie haben laut Schmidt von den älteren sozioökonomischen und makrosoziologischen Ansätzen ebenso gelernt wie von neomarxistischen und ModernisierungsTheorien- was freilich im Einzelfall zu bezweifeln ist; vgl. Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 17 f. u. 140 ff. Einen Überblick über die verschiedenen Strömungen des Institutionalismus bieten Stadler, M. (u. a.), Institutionalismus heute. Kritische Auseinandersetzung mit einer unorthodoxen wirtschaftswissenschaftlichen Bewegung, Frankfurt/M. u. New York 1983; Schüller, A. (Hrsg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983; Kaufmann, F.-X./KrUsselberg, H.-G. (Hrsg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt/New York 1984; Elsner, W.: Ökonomische Institutionenanalyse, Berlin 1986. Zur Würdigung und Kritik siehe neuerdings auch Biervert, B./Held, M. (Hrsg.): Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie. Eigentum, Verträge, Institutionen, Frankfurt/M./New York 1989; Katterle, S.: Der Beitrag der institutionalistischen Ökonomik zur Wirtschaftsethik, in: Ulrich, P. (Hrsg.): Auf der Suche nach einer neuen Wirtschaftspolitik, Bern 1990, s. 121-144.

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werden sollen, die die Zeitdimension ausdrücklich einbezieht: In diesem Zusammenhang führt er aus: .,Es ist einfach so, daß eine dynamische Theorie institutionellen Wandels, die sich in streng neoklassischer Manier ausschließlich auf individuelle rationale, zweckgerichtete Tätigkeit beschränkt, uns nie erlauben würde, den größten Teil säkularen Wandels zu erklären von den hartnäckigen Kämpfen der Juden in biblischer Zeit bis zur Verabschiedung des US-amerikanischen Sozialversicherungsgesetzes 1935. Säkularer wirtschaftlicher Wandel trat nicht nur infolge der Verschiebung der relativen Preise ein, wie die neoklassischen Modelle betonen, sondern auch durch Veränderungen weltanschaulicher Standpunkte, die einzelne oder ganze Gruppen bewogen, gegensätzliche Ansichten über die Billigkeit ihrer jeweiligen Situation zu entwickeln und diesen Ansichten gemäß zu handeln".20 Demnach ist es vom Standpunkt dieser neo-institutionalistischen Position notwendig, auf Weltanschauliches - Utopien bzw. Ideen und Ideologien sowie auf Handeln nichtindividueller und nichtzweckrational-egoistischer Art einzugehen, wenn die Versäumnisse bestimmter Richtungen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aufgeholt werden sollen. Es gilt nunmehr auf sehr unterschiedliches und auch gegensätzliches Verhalten abzustellen, wie es morphologisch orientierte Forscher immer gefordert und realisiert haben21 ; in der soziologisch orientierten Sozialpolitikforschung nach dem Zweiten Weltkriege übrigens früh Franz-Xaver Kaufmann. 22 North meint dazu jetzt, auf unterschiedliche Ideologien und deren Interpretationen akzentuierend: .,Wenn die herrschende Ideologie die Leute dazu bewegen soll, zu glauben, Gerechtigkeit sei mit den geltenden Regeln gleichzusetzen, die daher aus einem Moralgefühl heraus zu befolgen seien, so ist das Ziel einer erfolgreichen Gegenideologie, die Leute nicht nur davon zu über20 North, D. C.: Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1988, S. 60. Vgl. dazu und zum Folgenden auch meinen Besprechungsaufsatz: Zu den Kooperationsund Gemeinwohlaspekten einer Theorie des institutionellen Wandels, in: ZfgG., Bd. 39, 1989, S. 175-186. Siehe zu allen weiteren Darlegungen ferner Engelhardt, W. W.: Bemerkungen zu einigen Iebens- und gesellschaftsbezogenen Grundfragen des Wandels und zu ihrer bisherigen Erkenntnis, in: Wirtschaft und Wissenschaft im Wandel. Festschrift für Dr. Carl Zimmerer, Frankfurt/M. 1986, S. 105-119. Zur Würdigung der Klassiker, der Marxistischen Politischen Ökonomen und der Neoklassiker siehe neuerdings Kregel, J. A.: Die Erneuerung der Politischen Ökonomie, Marburg 1988, S. 32--45. 21 Aus dem Nachkriegsschrifttum s. z. B. Haller, H.: Typus und Gesetz in der Nationalökonomie, Stuttgart, Köln 1950; Mackenroth, G.: Sinn und Ausdruck in der Sozialen Formenwelt, Meisenheim/GI. 1952. 22 Vgl. Kaufmann, F.-X.: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970. Siehe auch ders., Wirtschaftssoziologie I, Allgemeines, in: HdWW, 9. Bd., 1982, S. 239 ff.; ders., Christentum und Wohlfahrtsstaat, in: Z. f. Sozialreform, 34. Jg., 1988, S. 65-89.

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zeugen, daß beobachtete Ungerechtigkeiten ein vorgegebener Fehler des gegenwärtigen Systems sind, sondern auch, daß ein gerechtes System nur durch aktive Mitwirkung des einzelnen an der Veränderung des Systems herbeigeführt werden könne. Um Erfolg zu haben, müssen Gegenideologien nicht nur eine überzeugende Verbindung zwischen den spezifischen Ungerechtigkeiten, die von verschiedenen Gruppen wahrgenommen werden, und dem größeren System, das die Ideologiestrategen verändert haben wollen, herstellen, sondern auch eine Utopie, die von derlei Ungerechtigkeiten frei ist, anbieten und dazu eine Handlungsanleitung - einen Wegweiser, wie der einzelne durch entsprechendes Handeln diese Utopie verwirklichen kann". 23 Die neoklassische Theorie - zu der nach hier vertretener Lehrauffassung auch weite Teile der Neuen Politischen Ökonomie gehören24 - kann laut North nur das persönliche Eigeninteresse hinsichtlich seiner möglichen Auswirkungen erklären. Sie beziehe jedoch nicht die "Kehrseite" der Erscheinungen ein, "nämlich jenes Verhalten, dessen Triebkraft nicht das berechnete Eigeninteresse ist", wie z. B. altruistisches Verhalten25 oder die Mitarbeit in freiwilligen Organisationen, "deren Vorteile für den einzelnen gering oder völlig unerheblich sind". 26 Ebensowenig vermöge die neoklassische 23 North, D. C.: Theorie, a. a. 0 ., S. 55. Für eine positive Einbeziehung von Ideologien, allerdings unter Zurückweisung von Pragmatismus, plädiert v. Hayek, F. A.: Regeln, a. a. 0 ., S. 84 ff. Zur Berücksichtigung von Ideologien bei der Behandlung sozialpolitischer Probleme siehe z. B. v. Zwiedineck-Südenhorst, 0.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 44 ff.; Gehrig, H.: Die Begründung des Prinzips der Sozialreform, Jena 1914; Wilensky, H. L.: The Welfare State and Equality; Berkeley 1975; Lampert, H.: Notwendigkeit, a.a.O. Zur Verbindung utopischen und aktivitätsorientierten Denkens und Forschens, auf die zurückzukommen sein wird, siehe vorerst Arbeitskreis für Kooperation und Partizipation e. V. (Hrsg.), Das Zentrum für Kooperation und Partizipation, Baden-Baden 1987, und speziell Engelhardt, W. W.: Zur grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung im ,,Zentrum für Kooperation und Partizipation", ebd., S. 35-48. 24 Vgl. dazu u. a. Engelhardt, W. W.: Leitbilder und Zielsysteme in der Politik: Grundsätzliche Aspekte, in: Sanmann, H. (Hrsg.): Leitbilder und Zielsysteme der Sozialpolitik, Berlin 1973, S. 26 ff.; ders., Entscheidungslogische und empirischtheoretische Kooperationsanalyse, in: WiSt, 7. Jg., 1978, S. 104 ff.; ders., Einige grundsätzliche Aspekte des Vergleichs Marxistischer und Neuer Politischer Ökonomie, in: Hedtkamp, G. (Hrsg.), Zur Marxistischen und Neuen Politischen Ökonomie, Berlin 1981, S. 74 ff. 25 Obwohl oft genug altruistisches Verhalten als Unterfall egoistischen Handeins begriffen wird, wobei die Erweiterung der Gewinnfunktion zur Unternehmerischen Nutzenfunktion den Weg zu dieser verkürzten Sinninterpretation ebnet. Vgl. dazu Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit, a.a.O., S. 100 ff. 26 North, D. C.: a. a. 0 ., S. II. Zu den verschiedenen Sinnstrukturen industrialisierter Gesellschaften unter Berücksichtigung freiwilliger Organisationen vgl. im Anschluß an die klassische Gemeinwirtschaftstheorie und andere Strömungen Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit, a.a.O., passim; Engelhardt, W. W.: Allgemeine Ideengeschichte, a.a.O., S. 116-145; Engelhardt, W. W./Thiemeyer, Th. 7 Engelhardr

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

Theorie "Stabilität" zu erklären, wozu es offensichtlich mehr als individueller Kosten-Nutzen-Kalküle bedürfe. "Der einzelne mag ein solches Kalkül außer acht lassen, wenn er aus einer tiefreichenden weltanschaulichen Überzeugung von der Ungerechtigkeit der herrschenden Ordnung deren Struktur zu ändern versucht. Ebenso kann er einzelnen Gewohnheiten, Regeln und Gesetzen gehorchen, weil er genau so tiefreichend von deren Legitimität überzeugt ist. Wandel und Stabilität in der Geschichte bedürfen einer Theorie der Weltanschauung, welche diese Abweichungen vom individuellen Rationalkalkül der neoklassischen Theorie erklären kann". 27 North tritt auch entschieden und ohne Scheu vor Voluntarismusvorwürfen für eine Beschäftigung mit den "Protagonisten der Veränderung", d. h. den Pionieren und deren Vorläufern, im Rahmen einer Theorie des Institutionenwandels ein. Ideologien könnten sich zwar ohne geistige Führer - als "intellektuellen Unternehmern der ldeologiebranche" - entwickeln. Aber wie die Geschichte der US-amerikanischen Gewerkschaft "International Workers of the World" zeige, geschehe dies doch nur ausnahmsweise. Der Regelfall sei, daß solche Pioniere auftreten würden, "wann immer individuell verschiedene Erfahrungen gegensätzliche Weltanschauungen entstehen lassen". Dabei waren Protagonisten der Veränderung keinesfalls nur "Prinzipale", wie Kaiser und Könige, oder ihre "Agenten"; "zu ihnen zählten Leute wie der Rabbi Akiba ben Joseph und dessen Schüler Rabbi Meir, der mit der Kodifizierung der mosaischen Gesetze begann, Jesus von Nazareth, Saul von Tarsus, der für die Verbreitung des Christentums wohl die entscheidende Rolle spielte, und im siebten Jahrhundert n. Chr. Mohammed". 28 Damit wurden Persönlichkeiten genannt, denen zweifellos auch soziale Pioniertaten zugeschrieben werden können. Freilich dürften eigentliche sozial- und kooperationspolitische Initiativen von oben oder unten her mit mehr oder minder viel ausdrücklicher Gemeinwohl- bzw. ordnungspolitischer Gemeinwirtschafts-Orientie(Hrsg.), Genossenschaft - quo vadis? Eine neue Anthologie, Beiheft 11 d. ZögU, 1988. 27 North, D. C.: a. a. 0., S. 11 f. Zu den Instrumenten zur Erklärung dieser Abweichungen siehe zuletzt Engelhardt, W. W.: Zur Relevanz morphologisch-typologischer Theorieaspekte für die Genossenschaftslehre, in: Zerche, J./Herder-Dorneich, Ph./Engelhardt, W. W. (Hrsg.): Genossenschaften und genossenschaftswissenschaftliche Forschung, Regensburg 1989, S. 35-48. Auch die v. Hayeksche Position, die im Rahmen der Bejahung "spontaner Ordnungen" über individuelles zweckorientiertes Verhalten weit hinausführt, reicht jedenfalls für Zwecke einer Theorie der Sozialpolitik nicht aus. Vgl. dazu z.B. v. Hayek, F. A.: Regeln, a.a.O., S. 5790. 28 North, D. C.: a. a. 0., S. 52 u. 125. Zur sozialen Rolle von Jesus s. in Anlehnung an Albert Schweitzer und Artbur Rieb z. B. auch Katterle, S.: Sozialwissenschaft und Sozialethik, Göttingen 1972, S. 164 ff. Neuerdings vgl. Alt, F.: Jesus der erste neue Mann, München 1989.

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rung dann erst eine Angelegenheit viel späterer Zeiten, insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts sein. 29 4. Von modernen Institutionenkonzepten zurück zur Einbeziehung des ursprünglichen InstitutionaUsmus

Wurde vorstehend zur Kennzeichnung von Grenzen bisheriger Forschungen bewußt vom Ansatz eines Autors des New lnstitutional Approach der Gegenwart ausgegangen - einem Ansatz, der in seiner Gesamtheit freilich weniger kritisch zur Neoklassik steht und auf dem Boden der Ökonomischen Theorie der Verfügungsrechte vor allem entscheidungslogische Beiträge zur Verringerung der ständig gestiegenen Transaktionskosten formuliert30 - so ist nun jedoch zu betonen, daß ein solcher Ansatz unter sozialpolitik- und auch kooperationswissenschaftlichen Aspekten zu wenig spezifisch ist und deshalb zumindest der Ergänzung bedarf. In meiner oben (in Fußnote 20) erwähnten Rezension des Northbuches wurde deshalb auf die genossenschaftliche und gemeinwohlorientierte Tatbestände weithin aussparende Vorgehensweise des Buches, die einer Jahrtausende prägenden Entwicklung nicht gerecht wird, eingehend hingewiesen. 31 Was die hier zentral interessierenden Gesichtspunkte der Sozialpolitiklehre betrifft, so ist vor allem festzustellen, daß die Aspekte der Verteilung gegenüber denen 29 Vgl. dazu auch Rauscher, A. (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, München, Wien 1981. Aus dem vorigen Jahrhundert seien hier im übrigen nur Robert Owen sowie Hermann Schulze-Delitzsch genannt. Aus dem umfangreichen Schrifttum über diese Autoren vgl. z. B. Elsässer, M.: Soziale Intentionen, a. a. 0., ders., Die Rochdaler Pioniere, Berlin 1982, besond. S. 90 ff.; Deutscher Genossenschaftsverband (Schu1ze-Delitzsch) e. V. i. L. (Hrsg.), Schulze-Delitzsch. Ein Lebenswerk für Generationen, Wiesbaden 1987; Zerche, J.: Hermann Schulze-Delitzsch als Sozialpolitiker, in: Zerehe, J./Herder-Domeich, Ph./Engelhardt, W. W. (Hrsg.): Genossenschaften, a. a. 0., S. 79-90. Zum Gesamtkomplex s. auch Winterstein, H. (Hrsg.), Selbstverwaltung als ordnungspolitisches Problem des Sozialstaates, Bd. I u. II, Berlin 1983 u. 1984; Fürstenberg, F./Hei:der-Domeich, Ph./K.lages, H. (Hrsg.), Selbsthilfe als ordnungspolitische Aufgabe, Baden-Baden 1984. 30 Siehe dazu Coase, R. H.: The Nature of the Firm, in: Economica 4, 1937, S. 386-405; Williamson, 0 . E.: Markets and Hierarchies, New York, London 1975; ders. , The Economic Institutions of Capitalism, New York 1985; Bösmann, E.: Volkswirtschaftliche Probleme der Transaktionskosten, in: ZfgSt., Jg. 138, 1982, S. 664-679; Schneider, D.: Die Unhaltbarkeit des Transaktionskostenansatzes für die "Markt- oder Untemehmung"-Diskussion, in: ZfB., 55. Jg., 1985, S. 1237-1254; Leipold, H.: Ordnungspolitische lmplikationen der Transaktionskostenökonomie, in: Ordo, Bd. 36, 1985, S, 31-49. 31 Vgl. dazu auch Engelhardt, W. W.: Allgemeine Ideengeschichte, a.a.O., S. 75101; ders., Zu einer morphologischen Theorie des Wandels der Genossenschaften, in: Engelhardt, W. W./Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Genossenschaft quo vadis?, a. a. 0 ., s. 1-25.

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der Produktion entschieden zu kurz kommen. Obwohl sie - und in ihrem Zusammenhang bestimmte soziale und sozialpolitische Handlungsmöglichkeiten - in die Property Rights-Theorie durchaus einbeziehbar sind,32 dürfte wegen ihres bisherigen weitgehenden Fehlens unter dem Aspekt einer Sozialpolitiktheorie des hier präferierten Typs, d. h. bei Konzentration auf Institutionen und deren Wandlungen, noch immer den Lehren der jüngeren Historischen Schule und der damit verbundenen klassischen Gemeinwirtschaftstheorie und Sozialrechtsschule, die neben sozialliberalen Strömungen entscheidend in den ursprünglichen Verein für Socialpolitik hineinwirkten, 33 der Vorzug zu geben sein. Beschränkt man sich bei der Aufarbeitung des sozialpolitikwissenschaftlich für die hier zu bearbeitende theoretische Frage relevanten Schrifttums34 zunächst hauptsächlich auf einige der großen ursprünglichen institutionalistischen Ansätze und deren Vergleich einerseits mit der Neuen Institutionen-Ökonomie und andererseits mit dem erweiterten sozialwissenschaftliehen Institutionalismus, so stellt sich die Situation in Kurzform wie folgt dar: Den Autoren des New lnstitutional Approach geht es um die "Erklärung" der Wahl alternativer Institutionen - wie Eigentumsformen, Märkten, Unternehmen - sowohl unter statischen Bedingungen als auch unter Einbeziehung institutioneller Evolutionen bzw. Transformationen im dynamischen Prozeß. Beide Erklärungsziele werden dabei freilich auf eine mehr 32 Siehe dazu Backhaus, J./Nutzinger, H. G. (Hrsg.), Eigentumsrechte und Partizipation, Frankfurt/M. 1982; Schanz. G.: Unternehmensverfassungen in verfügungsrechtlicher Perspektive, in: DBW, 43. Jg., 1983, S. 259-270; Gotthold, J.: PropertyRights-Theorie, Theorie der Unternehmung und Mitbestimmung, in: WSI-Mitt., H. 10, 1983, S. 616--629. Siehe auch Bonus, H.: Illegitime Transaktionen, Abhängigkeit und institutioneller Schutz, Vervielf., Münster 1987. 33 Vgl. Gehrig, H.: Die Begründung, a.a.O.; Boese, F.: Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872-1932, Berlin 1939; Hesse, A.: Sozialrechtliche Schule, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 576 ff., Müßiggang, A.: Die soziale Frage in der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Tübingen 1968; Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit, a.a.O.; Schmölders, G.: Historische Schule, in: HdWW, 4. Bd., 1978, S. 69 ff. 34 Naturgemäß kann an dieser Stelle nur ein Teil des an sich heranziehenswerten Schrifttums speziell gesichtet und ausgewertet werden. Zu dem nicht zentral herangezogenen Schrifttum siehe u. a. Überblicke bei Herder-Domeich, Ph.: Von der ,,klassischen" Sozialpolitik zur ,.Sozialen Ordnungspolitik", in: Herder-Dorneich, Ph./Zerche, J./Engelhardt, W. (Hrsg.), Sozialpolitiklehre, a. a. 0 .; Lampert, H.: Leistungen und Grenzen der ,.Ökonomischen Theorie der Sozialpolitik", ebd. Vgl. auch die Literaturübersichten bei Kleinhenz. G.: Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970; Ehling, M.: Theoretische Ansätze in der Sozialpolitik, Frankfurt/M. 1982; Behrens, J./Leibfried, St.: Sozialpolitische Forschung, in: Z.f. Sozialreform, 33. Jg., 1987, S. 1-19; Groser, M.: Bestimmungsfaktoren der qualitativen und quantitativen Entwicklung des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland, in: Sozialwiss. Inform., 18. Jg., 1989, S. 20 ff.

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oder weniger rein ökonomische Weise anband gesetzter Modellannahmen zu bewältigen gesucht. Private Verfügungsrechte über sehr unterschiedliche Ressourcen werden nämlich fast ausschließlich durch rationale Ableitung ökonomischer Beiträge einzelner - hauptsächlich auf ihren Vorteil bedachte Wirtschaftssubjekte, die zur Senkung der Transaktionskosten beitragen "erklärt" und uno actu mehr oder weniger gerechtfertigt.35 In diesem Punkt, d. h. der Anknüpfung an den uneingeschränkt und ausschließlich wirtschaftlich handelnd gedachten "homo oeconomicus" - der jedoch lediglich ein Konstrukt darstellt, auch wo er zum ,,ressourceful, evaluative, maximizing man" erweitert wird, 36 der über Privateigentum im Sinne eines bestimmten Verständnisses vom Rechtsstaat intensiv verfügt - liegt der wesentlichste Unterschied sowohl zu herkömmlichen Ansätzen institutionengerichteter Politischer Ökonomie und Morphologie, wie sie etwa die Arbeiten eines A. Wagner, eines Schmoller oder auch eines Lujo von Brentano auszeichnet, aber ebenso auch diejenigen neuerer sozialwissenschaftlicher Schriften z. B. von Alber, M. G. Schmidt und anderen Autoren speziell zu Fragen des Sozialstaats und der Sozialpolitik. Wird der generellen Eigennützigkeit in der Property Rights-Theorie und Transaktionsküsten-Ökonomie durch Unterstellung opportunistisch agierender Handlungssubjekte zentrale Bedeutung zugemessen, wobei der vertraglich begründete Staat ineffiziente gemeinwirtschaftliche Eigentumsrechte zunehmend zugunsten des Privateigentums beseitigt, so konnte sich Schmoller mit einer "bloß wirtschaftlichen" Betrachtungsweise nach seinen geschichtlichen Studien niemals anfreunden und war ihm die Lehre vom Egoismus in Anbetracht von Modifikationen psychologischer Grundtriebe durch Sitte und Recht im Laufe einer langen Entwicklung eine "bodenlose Oberflächlichkeit". 37 Bei allen Unterschieden im einzelnen, die es zwischen v. Schmoller, Wagner und v. Brentano gab, dachten die beiden letztgenannten im Prinzip ebenso, besonders was die Einschätzung der Bedeutung sozialrechtlicher Aspekte in der frühen Geschichte und damaligen Gegenwart sowie die Qualifizierung der Staatsaufgaben betrifft. Bekanntlich hat Vgl. dazu Gotthold, J.: Property-Rights-Theorie, a. a. 0 ., S. 622. Vgl. z. B. EschenburQ_. R.: Mikroökonomische Aspekte von Property Rights, in: Schenk, K.-E. (Hrsg.), Okonomische Verfügungsrechte und Allokationsmechanismen in Wirtschaftssystemen, Berlin 1978, S. 11 ff. 37 v. Schmoller, G.: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft, 2. Aufl., Jena 1875, S. 36 f. Vgl. auch ders., Die sociale Frage, a.a.O., S. 42 ff.; ders., Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, II. Teil, 1.-6. Aufl., Leipzig 1904, z. B. S. 652 ff. Karl R. Poppers Begriff des "altruistisch eingeschränkten Individualismus" zielt in die gleiche Richtung; vgl. Popper, K. R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Der Zauber Platons, Bem 1957, S. 143 ff. Differenzierende Sichten erhalten neuerdings auch Unterstützung von spieltheoretischer Seite; vgl. z. B. Axelrod, R.: Die Evolution der Kooperation, München 1988. 3S

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besonders A. Wagner es dabei als ,,Ziel des modernen Kulturstaats der europäischen Zivilisation" gesehen, die allgemeinen Bedingungen für die Entwicklung des selbsttätigen Individuums zu erfüllen, um damit einen immer größeren Teil der Bevölkerung "zum Mitgenuß an den Kulturgütern" zu verhelfen. Der Staat "fortschreitender kulturfahiger Völker", höre immer mehr auf, einseitig Rechtsstaat zu sein und werde immer mehr "Kultur- und Wohlfahrtsstaat, in dem Sinne, daß gerade seine Leistungen auf dem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszwecks sich beständig mehr ausdehnen und einen reicheren und mannigfaltigeren Inhalt gewinnen". 38 Die heute erweiterte Positionen des Institutionalismus vertretenden Autoren der Soziologie und Politischen Wissenschaft halten trotz der freilich zunehmenden Ökonomisierungsprozesse und auftretender Ökonomismustendenzen - auf die später (in III. 5.) einzugehen sein wird - im Unterschied zu eher skeptischen und derartige ,,Entwicklungsgesetze" negativ bewertenden Finanzwissenschaftlern39 uneingeschränkt an verpflichtenden Gemeinwohlzielen und zur Erfüllung aufgegebenen öffentlichen Interessen des Wohlfahrts- bzw. Sozialstaats fest. Wie Alber jüngst aufgrund empirisch-theoretisch gesicherter Befunde dargelegt hat, werden sich Anhänger wie Gegner des westlichen Wohlfahrtsstaates "wohl damit abfinden müssen, daß der

38 Wagner, A.: Grundlegung, I. T., 2. Hlbbd., 3. Aufl., Leipzig 1893, S. 883 ff. Zum Gesamtkomplex siehe auch ders., Grundlegung, I. T., 1. Hlbbd., a. a. 0., S. 58 ff.; ders., Grundlegung, II. T., Volkswirtschaft und Recht, besonders Vermögensrecht, 3. Aufl., Leipzig 1894; v. Schmoller, G.: Grundriß, a.a.O., S. 339 ff.; v. Brentano, L.: Konkrete Grundbedingungen der Volkswirtschaft, München 1924, s. 2 ff., 13 ff. u. 18 ff. 39 Vgl. u.a. Hansmeyer, K.-H.: Der Weg zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt/M. 1957; Mackscheidt, K./Steinhausen, 1.: Finanzpolitik II, Tübingen, Düsseldorf 1977, S. 16 ff.; Albers, W.: Ursachen, Wirkungen und Begrenzungsmöglichkeiten einer wachsenden Staatsquote - die Lage in der Bundesrepublik Deutschland, in: Rühle, H./Veen, H.-J. (Hrsg.), Wachsende Staatshaushalte, Stuttgart 1979, S. 19-50. Siehe natürlich immer auch Friedrich A. von Hayek, vgl. z. B. v. Hayek, F. A.: Regeln, a. a. 0., S. 83 ff. u. 94 ff.; ders.• Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsbergt L. 1981; ders., Die Verfassung, a. a. 0., S. 65-93. Eine positivere Würdigung künftig für möglich gehaltener wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen gibt der Finanzwissenschaftler Egon Matzner; vgl. MatUier, E.: Der Wohlfahrtsstaat von morgen, Frankfurt/M., New York 1982. Siehe zuvor auch Gretschmann, K.: Steuerungsprobleme der Staatswirtschaft, Berlin 1980. Zur Geschichte des Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaates samt seiner theoretischen Analysen und kritischen Bewertungen gibt es ein fast unübersehbar großes Schrifttum, von dem hier nur noch wenige weitere Titel genannt werden sollen: Myrdal, G.: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1958, S. 49 ff., Koslowski, P.!Kreuzer, Ph./Löw, R.: Chancen und Grenzen des Sozialstaats. Staatstheorie - Politische Ökonomie - Politik, Tübingen 1983; Spieker, M.: Legitimitätsprobleme des Sozialstaats, Bern, Stuttgart 1986; Galbraith, J. K.: Die Entmythologisierung der Wirtschaft, Wien, Darmstadt 1988, S. 251 ff.; Backhaus. J. G.: Die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats, Maastricht 1989.

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Sozialstaat ein tragendes und dauerhaftes Strukturelement unserer modernen Gesellschaft geworden ist". 40 5. Bemerkungen zu einigen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragen

Die mittels einer Entwicklungstheorie zu erlangenden "Kenntnisse über" und "Einsichten in" Verlauf, Ursachen und Änderungen der langfristigen sozialen und sozialpolitischen Entwicklungsprozesse und Entwicklungslinien können - wie Lampert zu Recht bemerkt hat - mit einer ökonomischen Analyse nicht gewonnen werden, obwohl sie wie diese für die praktische Sozialpolitik durchaus relevant sind.41 Da es sich bei den zu erzielenden Aussagen keineswegs ausschließlich um Erkenntnisse wissenschaftlich bereits gesicherter Art handelt - eben um bloße Kenntnisse und Einsichten - wurde hier das im Titel verwendete Wort "Entwicklungstheorie" in Anführungsstriche gesetzt und bei verifizierten bzw. falsifizierbaren Aussagen im allgemeinen auf den Terminus der empirischen Institutionentheorie dynamischer Art bzw. Institutionenwandlungstheorie zurückgegriffen. Aber man muß sich darüber im klaren sein, daß selbst diese - oder andere theoretischen Aussagen dabei innerhalb der Aussagengefüge in der Regel nicht völlig ohne Wertungen auskommen werden, so sehr auch allgemeine Werturteile zurückgedrängt sein mögen42 und obwohl es in der gesamten Abhandlung nicht um bedingte Prognosen überschreitende ,,Entwicklungsgesetze" gehen kann und gelten sol1. 43 Eine rein personenbezogene, subjektiv-wertende Anknüpfung an die Portschrittsutopie bzw. -idee und das zur sozialpolitischen Konzeption par excellence stilisierte "Prinzip der Sozialreform" ist meines Erachtens nicht zu umgehen und soll deshalb hier für den Verfasser auch nicht geleugnet 40 Alber, J.: Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950-1983, Frankfurt, New York 1989, S. 327; vgl. auch ebd. S. 68-77. 41 Vgl. Lampert, H.: Leistungen und Grenzen, a. a. 0 . 42 Zu den verschiedenen Aspekten des Werturteilsproblems siehe vor allem Albert, H.: Das Werturteilsproblem im Lichte der logischen Analyse, in: ZfdgSt., 112. Bd., 1956, S. 410-439, wiederabgedruckt in ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied/Rh. Berlin 1967, S. 410 ff. Siehe ferner Weisser, G.: Politik als System aus normativen Urteilen, Göttingen 1951; v. Beckerath, E./Giersch, H./ Lampert, H. (Hrsg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Berlin 1963; Albert, H./Topitsch, E. (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1979. 43 Zur Problematik dieser Gesetze vgl. z. B. Haller, G. H.: Typus, a. a. 0., S. 93 ff.; Popper, K. R.: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, besond. S. 100; Albert, H.: Der Gesetzesbegriff im ökonomischen Denken, in: Schneider, H. K./Watrin, Chr. (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz, 1. Hlbbd., Berlin 1973, s. 129-161.

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werden. Die Realisierung dieser Utopie bzw. dieses Prinzips hat in Deutschland bzw. der späteren Bundesrepublik Deutschland zur Beschreitung eines Mittelwegs zwischen rein marktorientiert-liberaler und egalitär-versorgungsstaatlicher Politik geführt, der an dieser Stelle aber nicht allein seines Erfolgs wegen ohne Allgemeingültigkeitsanspruch persönlich vertreten wird. 44 Was die "Entwicklungsgesetze" betrifft, so folgt Verfasser letztlich noch Schmoller, der im Anschluß an Marshall, vor allem aber Heinrich Rickert und Max Weber sich 1910 für weitestgehende Beobachtung, Klassifizierung und Erklärung des Seins und des sich aktuell vollziehenden Werdens aussprach, ohne von einer restlosen Erfassung der Ursachen auszugehen und sich Illusionen über die genannte angebliche Gesetzesart zu machen. "Bei dem, was man neuerdings volkswirtschaftliche Entwicklungsgesetze genannt hat" - schreibt er - "handelt es sich um die im Laufe der Jahrhunderte sich entwickelnden Formen und Gestaltungen, die Institutionen des wirtschaftlichen Lebens", die in ihren sachlichen, räumlichen und nicht zuletzt zeitlichen Dimensionen wissenschaftlich nicht vollständig erklärt werden können. ,,Je komplizierter die geistigen, die sozialen, die wirtschaftlichen Prozesse werden, desto weniger gelingt es, die Erscheinungen restlos kausal zu erklären, sie auf Gesetze, psychologische oder andere, zurückzuführen, sie überhaupt in ihrer Totalität und allen Einzelheiten wissenschaftlich zu fassen. Wir können von ihnen nur in einem Ausleseverfahren das Wichtigere erfassen. Und das geschieht (.. .) durch Beziehung des Wichtigen auf Kulturwerte, auf sittliche Werte; es geschieht durch Herausfinden des lange oder dauernd Fortwirkenden, des durch seine Einzigartigkeit Hervorragenden". 45

44 Vgl. dazu u. a. Gehrig, H.: Die Begründung, a. a. 0 .; Boettcher, E. (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, besond. Kap. I , 5 u. 6; v. Krockow, Chr.: Reform als politisches Prinzip, München 1976; Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a. a. O., S. 97. Vom Verfasser siehe dazu besonders Engelhardt, W. W.: Die Problematik "mittlerer Ordnungen" und "dritter Wege" der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik inderneueren Diskussion, in: Die Mitarbeit, 24. Jg., 1975, S. 97-124; ders., Von deutschen Utopien und ihrer Analyse, in: ders./Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Gesellschaft, Wirtschaft, Wohnungswirtschaft. Festschrift für Helmut Jenk.is, Berlin 1987, S. 3 ff., 27 ff. u. 30 ff. Siehe auch die Zeit-Serie über Wirtschaft und Ethik, April/ Mai 1989 u. besond. die Ausführungen von Krüsselberg, H.-G.: Die Idee der sozialen Marktwirtschaft haben viele noch immer nicht begriffen, in: Die Zeit, Nr. 19 v. 5. 5. 1989, s. 42 f. 45 v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a.a.O., S. 30, 77 u. 100 f. Vgl. auch ders., Grundriß, Il. T., a. a. 0., S. 653 ff. Zu einer empirisch-theoretischen Interpretation des Schmollersehen Gesamtwerks siehe Hansen, R.: Der Methodenstreit in den Sozialwissenschaften zwischen Gustav Schmoller und Kar! Menger. Seine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Bedeutung, in: Diemer, A. (Hrsg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, Meisenheim/Gl. 1968, besond. S. 140-160.

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Eine inhaltlich-wertende Verbindung mit der sozialreformerischen Portschrittsidee und der Mittlere Wege- bzw. Dritte Ordnungs-Realisierung in speziellen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialsystemen knüpft durchaus auch an verschiedene neuere Forschungsintentionen Karl R. Poppers, von Hayeks und Hans Alberts an, wenn sie ihnen auch nicht zur Gänze folgt. Dies trifft z. B. auf den Verzicht auf ganzheitliche Forschung zugunsten von Selektionen, auf kombinierte Bemühungen um soziale Bewegungen und Situationslogik, auf erstrebte idealisierte Erklärungen mittels Modellen, eventuell erforderlich werdende strukturelle Relativierungen allgemeiner Gesetze und die Bejahung von möglichst viel spontaner Ordnung zu. Entgegen Popper darf der gewiß notwendige Verzicht auf die völlig uneingeschränkte Vertretung ganzheitlicher Utopien nicht zugleich die Bejahung selektiver Utopien und die Analyse ihrer logischen Konsequenzen und realen Auswirkungen behindern.46 Diese Analysen erfordern es im übrigen, die Erforschung sozialer Bewegungen mindestens eben so wichtig zu nehmen, wie die Untersuchung situationslogischer Fragen, die sowohl bei Popper als auch bei v. Hayek (und innerhalb der gesamten Neuen Politischen Ökonomie) im Vordergrund des Interesses stehen. Die auch durch v. Hayek und Albert als Erklärung "im Prinzip" bzw. durch "Skizzen" bejahte idealisierte Erklärung mittels Modellen47 ist nicht ohne weiteres identisch mit der von M. Weber und dem späten Schmoller befürworteten Erklärung mittels Anknüpfung an Kulturwerte, die im übrigen - auch nach des letzteren Meinung - auf "Einzigartiges" Bezug nehmen kann, neben Gerechtigkeitsvorstellungen verbreiteter Art z. B. auch herausragende utopische Projektionen (vgl. Fußnote 16) auswählen kann. Auf alle Fälle aber müssen die Selektionen auf Entwürfen bzw. Suppositionen beruhen, will man die Position des v. Hayek wohl nicht zu Unrecht unterstellten "modifizierten Sozialdarwinismus" vermeiden.48 Die erreichten Resultate in Gesetzesform, die also auch bei scheinbar induktivem Vorgehen durch die Entwürfe deduktiv vorgeprägt sind,49 lassen sich im Sinne von Albert gewiß strukturell relativieren, "also explizit auf bestimmte Sozialstrukturen (...) beziehen, bei 46 Vgl. Popper, K. R.: Das Elend, a.a.O., besond. S. 61 ff., 115 ff. u. 119 ff. Zur Kritik s. Enge/hardt, W. W.: Utopien als Problem der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in: ZfdgSt., 125. Bd., 1969, S. 671 ff. 47 Vgl. z. B. v. Hayek, F. A.: Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen 1972; Albert, A.: Der Gesetzesbegriff, a. a. 0., S. 154 ff. S. auch Tietzel, M.: Idealisierte Erklärungen, in: Z. f. allg. Wissenschaftsth., Bd. XVII/2, 1986, S. 315-321. 48 Siehe dazu hier nur Witt, U.: Bemerkungen, a.a.O., S. 145. Anders urteilt aber von Hayeck selbst; vgl. z. B. v. Hayek, F. A.: The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, London 1988, S. 23 ff. 49 Aus diesem Grunde sind eigentlich "induktionistische Aushilfen" der theoretischen Sozialpolitik, denen Pagenstecher zu Recht nur relativ geringe Bedeutung beimißt, ziemlich selten, "Induktive Verallgemeinerungen sind nicht selten ,Theorien in statu nascendi "'; vgl. Pagenstecher, U .: Aufgaben, a. a. 0. Zur nur angeblich

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denen nicht nur ihre Konstanz, sondern auch ihre besondere Beschaffenheit interessiert".50 Von einer Notwendigkeit, methodologisch nur das eine oder das andere oder immer beides zusammen zu tun, kann meines Erachtens aber nicht die Rede sein. Freilich dürfte die Relativierung zur Ausleuchtung dessen zweckmäßig sein, was v. Hayek "spontane Ordnung" nennt. Dieser zweifellos wichtige Begriff ist für den Theoretiker der Sozialpolitiklehre allerdings keineswegs durch die Theoretiker der Wirtschaftspolitiklehre bereits ausreichend geklärt, zumal sich v. Hayek speziell mit Hilfe dieses Relationalbegriffs eines Wirkungssystems nach wie vor vehement gegen sozialpolitische und andere ,,Eingriffe oder Interventionen in die Marktordnung" stemmt.51 Entgegen der dabei eingenommenen Position sind derartige gewachsene Ordnungen aber aufgrund ihrer Entwurfsabhängigkeit lediglich anfangs in hohem Maße spontan, später hingegen in Anbetracht der notwendigen Mitwirkung des Staates bei der Ausgestaltung der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialordnungen mit Sicherheit nicht mehr. Der an sozialem Fortschritt durch Sozialreformen interessierte Sozialpolitiker und Sozialpolitikwissenschaftler kann auf zweckmäßige Ordnungselemente unterschiedlicher Träger im Sinne eigener Rahmenbedingungen und Prinzipien (Regeln) nicht verzichten, obwohl auch er an funktionierenden Märkten interessiert bleibt.52

schlicht induktiven Ableitungsweise Schmollcrs siehe Hansen, R.: Der Methodenstreit, a.a.O., S. 147 ff. so Albert, H.: Marktsoziologie und Entscheidungslogik: Objektbereich und Problemstellung der theoretischen Nationalökonomie, in: ZfdgSt., 114. Bd. 1958, S. 269-296, hier S. 274. Von der Nutzung der aufgezeigten Möglichkeiten für eine Theorie der Sozialpolitik hat Hans Albert leider Abstand genommen. Er hält sogar eine solche Theorie für völlig unmöglich. Vgl. ders., Politische Ökonomie und Sozialpolitik, in: Recht der Arbeit, 1958, S. 130-134. (Beide genannten Aufsätze sind wieder abgedruckt in ders., Marktsoziologie, a.a.O., S. 175 ff. u. 245 ff.). ~• Vgl. z.B. v. Hayek, F. A.: Regeln, a.a.O., S. 57-79 und besond. S. 75. Zu einer Kritik dieser und verwandter Positionen am Beispiel der sozialen Wohnungspolitik siehe Engelhardt, W. W.: Öffentliche Bindung, Selbstbindung und Deregulierung in der Staatlichen Wohnungspolitik und Gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik, Berlin 1988, S. 139-198 u. besond. S. 156 ff. ~2 Zu dieser Position siehe z. B. Lampen, H.: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., München, Wien 1985; Neumann, L. F./ Schaper, K.: Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 3., akt. Aufl. Bonn 1984; Schönwitz, D./Wünsche, H. F.: Was ist "sozial" an der Sozialen Marktwirtschaft? In: Fischer, W. (Hrsg.), Währungsreform und Soziale Marktwirtschaft, Berlin 1989.

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6. Langfristige institutionelle Entwicklungen nach Schmoller

Bezogen auf die Frage langfristig tatsächlich für möglich oder wahrscheinlich gehaltener gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischer Entwicklungen hat sich Schmoller mehrfach in - wie Hansen es ausdrückt "aktivistischer Erkenntnishaltung" geäußert, der "seine aktivistische politische Zielsetzung" in dem von ihm maßgeblich initiierten "Verein für Socialpolitik" entsprach.53 Diese Haltung und Zielsetzung dürften auf eine synergistische Position hinauslaufen, die sich sowohl von reduktionistischen als auch von holistischen Auffassungen der klassischen und marxistischen Vorgänger und Zeitgenossen klar unterscheiden läßt und im Grunde wohl bereits eine "aktive Gesellschaft" im Sinne Amitai Etzionis im Blickfeld hat.54 Allerdings ist dies in seinem Verständnis eine Gesellschaft, die wie bei A. Wagner und anderen sog. "Kathedersozialisten" eines mitwirkenden Staates weder entbehren kann noch dies soll. In Schmollers berühmter Rede zur ,,Eröffnung der Besprechung über die sociale Frage" in Eisenach vom 6. Oktober 1872 - der Gründungsversammlung des Vereins für Socialpolitik - heißt es, daß die durch die Industrialisierung entstandene "sociale Frage (... ) am allerwenigsten geeignet war, nur mit (dem Prinzip der Nichtintervention des Staates, nur mit dem Dogma, den Egoismus walten zu lassen, gelöst zu werden". Die Gründer, die die öffentliche Meinung und die Gesetzgebung zugleich zu beeinflussen hoffen, ,,kommen überein in einer Auffassung des Staates, die gleich weit von der naturrechtliehen Verherrlichung des Individuums und seiner Willkür, wie von der absolutistischen Theorie einer alles verschlingenden Staatsgewalt ist (... ); immer ist ihnen der Staat das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschengeschlechts". Die Handhabung der "Freiheit" solle soweit als möglich "durch die Öffentlichkeit kontrolliert" werden, und wo diese fehlt, müsse der Staat für sie eintreten.55 In seinem Grundriß heißt es: "Wir sahen, daß aus genos53 Hansen, R.: Der Methodenstreit, a.a.O., S. 159. Zur Würdigung Schmollers im amerikanischen Schrifttum siehe z.B. Mitchell, W. C.: Types of Economic Theory, Vol. li, New York 1969, S. 523-597. 54 Vgl. Etzioni, A.: Die aktive Gesellschaft, Opladen 1975; Engelhardt, W. W.: Bemerkungen, a.a.O., S. 108 ff. ss v. Schmoller, G.: Rede zur Eröffnung, in: ders., Zur Sozial- und Gewerbepolitik, a.a.O., S. 1-13, hier besond. S. 6 f. u. 9 ff. An den Gedanken öffentlicher Kontrolle knüpft heute, freilich wohl eher unbewußt, die Theorie des selbstorganisierten kommunikativen Handeins an; vgl. z. B. Habertnas, J.: Die Krise, a. a. 0 ., S. 156 ff. Zu einer ausdrücklichen Anknüpfung siehe z. B. Eichhorn, P.: Das öffentliche Interesse an der Unternehmensverfassung, in: ders. (Hrsg.), Unternehmensverfassung in der privaten und öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden 1989, S. 15 ff. (und weitere Beiträge in diesem Band). Zuvor vgl. besonders Weisser, G.: Wirtschaft (1956), Göttingen 1989, mit einer Einführung von Theo Thiemeyer, S. 12 ff. u. 79 ff.

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senschaftliehen herrschaftliche Wirtschaftsgebilde, gebietskörperschaftliche Organisationen entstehen, daß an ihrer Spitze öffentliche Haushalte sich bilden. (... ) Wir sahen, daß die Ausbildung der Volkswirtschaft, der öffentlichen Haushalte und der staatlichen Wirtschaftsinstitutionen nur Glieder eines und desselben großen Prozesses sind. (...)Nur mit (ihren höheren Formen, W. W. E.) erhielt die Gesamtheit die Kraft, alle sozialen Kämpfe immer wieder zu schlichten; die öffentlichen Haushalte sind nicht der einzige, aber der wichtigste Ausdruck der steigenden Vergesellschaftung der Völker; sie allein geben den führenden Kräften die Möglichkeit, die großen Gesamt- und die idealen Interessen zu vertreten; sie geben freilich diesen führenden Kräften auch die Möglichkeit ungeheurer Mißbräuche".56 Gegenüber John Stuart Mill bemerkt der Autor, daß es vielleicht etwas schablonenhaft und einseitig sei, wenn dieser formuliert habe, die Produktion der Volkswirtschaft hänge von den natürlichen, die Verteilung von den moralischen Ursachen ab; ,jedenfalls ist auch die Produktion von den ethischen Faktoren des Fleißes, der Arbeitsamkeit, der Unternehmungslust, von dem Fortschritt unserer Kenntnisse und ähnlichem abhängig. Ich möchte daher lieber sagen, je höher die Kultur steigt, desto wichtiger würden die psychisch-ethischen Ursachen". 57 Das "Übersehen dieses psychologischen Zusammenhanges zwischen den Organisationsformen der Volkswirtschaft und dem ganzen sittlichen Zustand einer Nation" sei - wie v. Schmoller schon 1872 in Eisenach bemerkt - "der Kernpunkt des Übels", von dem "die Reform auszugehen hat".58 Aber diese Ursachen werden seiner Ansicht nach nicht nur als normative Vorgaben, sondern auch tatsächlich immer wichtiger, wie sich beispielsweise an den neueren wirtschaftlichen 56 v. Schmoller, G.: Grundriß, I. T., 2. Aufl., München, Leipzig 1923, S. 339. Vgl. auch z.B. Wagner, A.: Grundlegung, I. T., 2. Halbbd., a.a.O., S. 871-924 u. II. T., a. a. 0., S. 5 ff. u. passim (über Grenzen des ,.Individualprincips" und der Freiheit sowie über die Ausdehnung des frei- und zwangsgemeinwirtschaftliehen Systems). 57 v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a.a.O., S. 57. Vgl. dazu Mill, J. St.: Grundsätze der politischen Ökonomie, 7. Aufl., Jena 1913, S. 300 ff. Mit diesen Ausführungen nimmt SchmollerAussagen Abraham H. Maslows vorweg. Vgl. Maslow, A. H.: Motivation und Persönlichkeit, 2. Aufl., Olten, Freiburg i. Br. 1978, S. 106 ff.; ders., Psychologie d. Seins, 2. Aufl., München 1981. S. 37 ff. 58 v. Schmoller, G.: Rede zur Eröffnung, a. a. 0., S.10. Zu dem damit angesprochenen, bis heute ungenügend gelösten Ökonomismusproblem siehe später Weisser, G.: Über die Unbestimmtheit des Postulats der Maximierung des Sozialprodukts (1953), in: ders., Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 1978, S. 542-572; ders., Die Überwindung des Ökonomismus in der Wirtschaftswissenschaft (1953), ebd., S. 573--601; Katterle, S.: Normative und explikative Betriebswirtschaftslehre, Göttingen 1964, S. 36 ff.; ders., Sozialwissenschaft, a. a. 0., S. 29 ff.; Rich, A.: Wirtschaftsethik, 2. Aufl., Gütersloh 1985, S. 95 ff. u. 220 f. Zur gegenwärtigen Diskussion ethischer Probleme siehe auch Schütz, 1.: Über die Notwendigkeit von Normen in der ökonomischen Theorie, Regensburg 1990.

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Genossenschaften und darüber hinaus an der Verfassung großer Unternehmen schlechthin erkennen lasse. Bei den Genossenschaften teilt er den zeitgenössischen Optimismus Marshalls und anderer, wenn er schreibt: "Es ist ein überaus merkwürdiges, unser volkswirtschaftliches Leben und Treiben auf einen anderen Boden stellendes Prinzip", das sich im Genossenschaftsbereich .,durchringt".59 Was die großen Unternehmen in kapitalgesellschaftlieber Rechtsform betrifft - die beim damaligen Aktienrecht mehr als heute genossenschaftliche Elemente enthielten -, so .,bekommen" sie in großer Ausprägung .,etwas wie Stiftungen". .,Sie haben einen öffentlichen Charakter, weil sie überwiegend einer Produktion dienen, die weite Gebiete und zahlreiche Menschen versorgt, oft eine Ausfuhr ermöglichen, an der die Gesamtheit ein Interesse hat". .,Kurz, alle socialen und alle großen wirtschaftlichen Fragen treten unter ein anderes Licht, wenn man die großartige Neugestaltung unsrer großen Unternehmungen als das betrachtet, was sie schon halb sind, noch mehr werden: eine öffentliche oder halböffentliche, dem Staate untergeordnete und durch Staatsgesetz regulierte, aber ihm gegenüber doch wie die Kirche selbständige Organisation".60 Das .,Werden" dieser und anderer Organisationen bzw. Institutionen, nicht zuletzt rein sozialpolitischer, wie der Sozialversicherungen, ist v. 59 v. Schmoller, G.: Grundriß, I. T., a. a. 0., S. 529. Siehe auch Marshall, A.: Principles of Economics (1890), 9. Aufl., London 1961, S. 25; Hoppe, M.: Die klassische u. neoklassische Theorie der Genossenschaften, Berlin 1976, S. 125 ff.; Engelhardt, W, W.: Genossenschaftstheorie, in: HdG., Wiesbaden 1980, Sp. 824 ff. u. 835 ff. Erheblich skeptischer urteilen inzwischen z. B. Hettlage, R.: Genassenschaftstheorie und Partizipationsdiskussion, 2. Aufl., Göttingen 1987, Kück, M.; Betriebswirtschaft der Kooperative, Stuttgart 1989. 60 v. Schmoller, G.: Über Wesen und Verfassung der großen Unternehmungen, in: ders., Zur Social- und Gewerbepolitik, a. a. 0., S. 390 f. Während Albert Schäffle seit der 2. Aufl. seines "Gesellschaftlichen Systems" davon ausgeht, daß das privatwirtschaftliche System mehr und mehr fähig wird, frühere gemeinwirtschaftliche Funktionen zu übernehmen und A. Wagner umgekehrt von einer relativen Ausdehnung des frei- und insbesondere des zwangsgemeinwirtschaftliehen Bereichs spricht - wobei übrigens die Funktionen letztlich auf dem "wirtschaftlichen Selbstinteresse" der Beteiligten beruhen sollen (vgl. Wagner, A.: Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, I. T., Grundlegung, 2. Auf., Leipzig, Beideiberg 1879, S. 271) - geht Schmoller offenbar von einer dazwischenliegenden mittleren Position aus, die mehr auf innerer Transformation der Unternehmen in Richtung der Wahrnehmung von Gesamtinteressen durch Vergesellschaftung als durch staatliche Intervention oder Verstaatlichung beruht. Vgl. dazu Schäffle, A.: Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirtschaft, 2. Aufl., Tübingen 1867, S. 335; Wagner, A.: Finanzwissenschaft und Staatssozialismus, in: ZfdgSt., 43. Bd., 1887, S. 103; ders., Grundlegung, I. T., 2. Halbbd., a. a. 0., S. 892 ff.; Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit, a. a. 0., besond. S. 21 ff. Neuerdings wird in dieser Frage trotz gleicher oder ähnlicher Aussagen leider nicht mehr auf Schmoller Bezug genommen. Siehe z. B. Ulrich, P.: Die Großunternehmung als quasi-öffentliche Institution, Stuttgart 1977.

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Schmoller letztlich eine Gestaltungsaufgabe, für deren Verwirklichung es sich im Betrieb, im Verein für Socialpolitik, im Staat und wo auch immer sonst, "anknüpfend an das Bestehende, Schritt für Schritt es umbildend, reformierend", zu kämpfen lohnt.61 "Schmollers ganze Soziallehre ruhte" dabei - schreibt Reginald Hansen "auf seiner sozialpolitischen Zielsetzung einer Befriedung der inneren Spannungen der Gesellschaft. Dem Verein für Socialpolitik suchte er die Aufgabe zu stellen, in dieser Richtung aufklärend zu wirken und Verständnis bei den maßgeblichen politischen Kreisen zu erwirken". "Die Stelle des Eingriffs des Staates zur dauerhaften sozialen Steuerung der Abläufe war für ihn die Reform bestehender bzw. die Neuschaffung geeigneter Institutionen. G. v. Schmoller suchte mithin die Randbedingungen der wirtschaftlichen Abläufe flir die Verwirklichung seiner sozialpolitischen Zielvorgaben in geeigneter Weise als Problemlösungsmaschinerien zu konzipieren". 62 Nicht zuletzt jedoch erhoffte er sich - im Lichte geschichtlicher Erfahrungen - von Haltungsänderungen sowohl der Unternehmer als auch der Arbeiter Entscheidendes, und er nahm auf diese Möglichkeiten menschlichen Werdens ohne Ängste vor naturrechtliehen 61 v. Schmoller, G.: Die sociale Frage, a.a.O., S. 55. Allerdings wendet er sich an dieser und an anderen Stellen gegen "utopische Zukunftspläne", während er gegen "große Ideale", von einer "Weltanschauung, von einem individuellen Bilde" aus entworfene Reformen (vgl. ders., Die sociale Frage, a. a. 0., S. 55; ders., Rede zur Eröffnung, a. a. 0., S. 12; ders. , Die Volkswirtschaft, a. a. 0., S. 28 f.) nichts einzuwenden hat. Wie es noch heute in der Sozialpolitiklehre und anderen Wissenschaften häufig geschieht, wird damit zwischen ganzheitlichen und selektierenden Utopien (s. oben Schema 2) nicht unterschieden und weil man z. B. gegen sozialistische Plänemacher etwas einzuwenden hat, eine überaus wichtige Determinantengruppe des Handeins überhaupt unterbelichtet gelassen. Einfluß in Richtung dieser unbefriedigenden Situation haben freilich auch globale Verdammungen utopischen Denkens durch bedeutende Sozialphilosophen, wie z.B. Karl R. Popper. Vgl. besond. Popper, K. R.: Utopia und Violence, in: ders., Conjectures and Refutations, 3. Aufl., London 1969, S. 355-363. Siehe auch Albert, H.: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 161 ff. Zuletzt schien Popper gegenüber politischen Ideen für ,,konkrete Projekte" etwas nachsichtiger zu urteilen. Vgl. dazu Wehowsky, St.: Die Unwahrheit dunkler Rede. Karl Popper im Münchner Diskurs über Politik und falsche Propheten, in: Südd. Ztg. v. 6. 7.1989. 62 Hansen, R.: Der Methodenstreit, a.a. O., S. 158; ders., Gustav Schmollers Lebenswerk und die Sozialpolitik von heute, unveröff. Manuskript 1989 (und Abschließender Teil dieses Bandes). Zum Gesamtkomplex siehe auch Boese, F.: Geschichte, a. a. 0., Lindenlaub, D.: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik, 2 T., Wiesbaden 1967; Müßiggang, A.: Die soziale Frage, a.a.O., besond. S. 197 ff. Auch A. Wagner und L. Brentano traten nicht für Eing1iffe in die Marktprozesse ein; auch sie wollten primär die Randbedingungen durch geänderte oder neue wirtschaftliche und soziale Institutionen (gemeinnützige Unternehmen, karitative Organisationen, Gewerkschaften usw.) zugunsten des "selbstätigen Individuums" (A. Wagner) korrigiert oder vervollständigt wissen. Vgl. dazu z.B. Wagner, A.: Grundlegung, I. T., 2. Hlbbd., a. a. 0., S. 887; v. Brentano, L.: Konkrete Grundbedingungen, a.a. O.

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Immunisierungsstrategien des bloßen freiheitlichen .,Rechtsstaats" und des psycho-physischen .,Wesens" des Menschen intensiv sozialpädagogisch Einfluß.63 Dazu schreibt er z. B. dies: .,Das große Wort von der Rechtsgleichheit der Arbeitgeber und Arbeiter bedeutet im Augenblick der gesetzlichen Einführung doch nur ein zukünftiges Ideal, bedeutet gewisse gegenseitige Rechtsschranken, welche die schlimmsten Folgen der früheren Unfreiheit und Abhängigkeit beseitigen sollen; die Rechtsgleichheit hat weder die Menschen tatsächlich gleich gemacht, (... ) noch hat sie den Beteiligten einen Schlüssel in die Hand gegeben, um das Geheimnis einer guten und gerechten Organisation des Zusammenwirkens ohne weiteres zu finden. Es ist ein Geheimnis der sittlichen und intellektuellen Erziehung der Unternehmer, wie der Arbeiter; nur durch tastende Versuche der Sitte und des Rechts hindurch, nur nach langen Kämpfen und Reibungen kann man beim besten Willen aller Beteiligten dem schwierigen Problem näher kommen, neue Formen des Zusammenwirkens finden, wobei die Disziplin, die notwendige Unterordnung, das pünktlichste Ineinandergreifen von Hunderten von Menschen mit mäßiger Bildung, starken Leidenschaften und gewecktem Selbstgefühl sich verträgt mit der Achtung vor jeder Individualität, mit den Interessen der Dienenden, mit der persönlichen Freiheit des Arbeiters".64 Für bereits generell geltend - wenn eingestandenermaßen auch durch empirisch nicht beweisbare Suppositionen seines .,entwicklungsgeschichtlichen Standpunkts"65 und Ideale mitbestimmt - hält Schmoller bestimmte kooperative Grundzüge des Wirtschaftens, die letztlich nichtökonomischer Natur sein mögen. Er schreibt gegen Ende seines Grundrisses: .,Das Haupt63 In neueren Veröffentlichungen des Vereins für Socialpolitik - s. z. B. Enderle, G. (Hrsg,), Ethik und Wirtschaftswissenschaft, Berlin 1985 - sucht man vergeblich nach Stellen, die diese wesentliche Fragestellung bezogen auf v. Schmoller (oder Weisser) wieder aufnehmen. 64 v. Schmoller, G.: Über Wesen, a.a.O., S. 380 f.; ders., Über Gewinnbeteiligung, ebd., S. 441 ff. Vgl. dazu z.B. Lezius, M. (Hrsg.), Eigenkapitalbildung durch Mitarbeiterbeteiligung, Spardorf 1982; Hettlage, R.: Genossenschaftstheorie, a. a. 0. Laut Claus Offe gibt es überzeugende ,,Anhaltspunkte für die objektiv abnehmende Determinationskraft der Tatbestände von Arbeit, Produktion und Erwerb für die Gesellschaftsverfassung". Nach Jürgen Habermas, der daran anschließt, .,erschöpfen sich die Energien der arbeitsgesellschaftlichen Utopie" und ist die .,Sozialstaatsentwicklung ( . ..) in eine Sackgasse geraten". Davon konnte Verfasser weder von den bundesdeutschen noch von den schwedischen noch überhaupt von den westeuropäischen Erfahrungen her bisher überzeugt werden, ebensowenig wie z. B. J. Alber; M. G. Schmidt u. v. a. Vgl. Offe, C.: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie, in: ders., Arbeitsgesellschaft - Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt/ M. 1984, S. 20; Habermas, J.: Die Krise, a.a.O., S. 157. 65 Wie Hansen darlegt, sind diese .,Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung" sowohl durch Immanuel Kant als auch durch William Whewell beeinflußt worden. Vgl. Hansen, R.: Der Methodenstreit, a.a.O., S. 147 ff.

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Teil 8: Eine Theorie der Sozialpolitik

geheimnis alles wirtschaftlichen Fortschrittes liegt im Zusammenwirken mehrerer; die älteste Kooperation, später die Arbeitsteilung, die Entstehung der Betriebsformen, die sociale Klassenbildung, die staatliche Wirtschaft, sie sind nie bloß wirtschaftlich, sondern nur aus dem gesamten Seelen- und Gesellschaftsleben, aus allen natürlichen und geistig-moralischen Ursachen desselben zu erklären. Sie sind das Ergebnis von Sprache und Gemeinschaftsgefühlen, von Bluts- und Geschlechtszusammenhängen. Auch die höhere Technik ist nur verständlich im Zusammenhang der Ausbildung unseres ganzen Geisteslebens. Die wirtschaftlichen Tugenden sind nicht rein wirtschaftlich, sondern nur in Verbindung mit dem Wesen und Begriff der Tugend überhaupt erklärbar (... ). Geldwesen, Handel, größere Betriebe entstehen mit der Tätigkeit für den Markt, auf dem Markt spielen wirtschaftliche Größenverhältnisse eine Hauptrolle; aber der Markt entsteht nur als sozialrechtliche Einrichtung, und alle Marktvorgänge bewegen sich in gesellschaftlichen sittlich-rechtlichen Ordnungen, und diese wirken auch auf Angebot und Nachfrage maßgebend zurück. Kurz, wir kommen überall zu dem Satze, daß der volkswirtschaftliche Entwicklungsprozeß mit den Kategorien ,steigende Bedürfnisse, technischer Fortschritt, dichtere Bevölkerung, Mehrproduktion • nur von außen gefaßt sei; daß wir das Wesen desselben besser treffen, wenn wir sagen: er beruhe auf der Entwickelung des Menschen überhaupt und zwar speziell auf der Entwicklung nach der Seite größerer wirtschaftlicher Fähigkeiten und Tugenden und der Herstellung größerer und komplizierterer, immer besser eingerichteter sozialer Wirtschaftsorgane und -gemeinschaften".66 Wie in die sozialen und wirtschaftlichen Kämpfe "immer mehr soziale Ideale, Vorstellungen von Gerechtigkeit und Solidarität eindringen", sei das noch zu erklärende eigentliche Rätsel. 67 In diesem Zusammenhang geht 66 v. Schmal/er, G.: Grundriß, II. T., a. a. 0., S.653 ff. ,,Einäugigkeit" nach der wirtschaftlichen oder sozialen Seite hin läßt sich dem Autor nach diesen Ausführungen, die sowohl den Entwicklungshypothesen von Marx als auch denen von Hayek und der nicht sozialrechtlich, sondern privat- bzw. individualrechtlich orientierten Anhänger des heutigen Neuen Institutionalismus widersprechen, sicher nicht vorwerfen. Am ehesten sind sie vereinbar mit Auffassungen von Polanyi, K.: The Great Transformation (1957), Wien 1977, auf die später einzugehen sein wird. Mit der speziell wirtschaftlichen Entwicklungstheorie Joseph A. Schumpeters, der unter Entwicklung bekanntlich "Durchsetzung neuer Kombinationen" verstand, haben sie nichts zu tun. In vielen anderen spezifischen Theorien der Wirtschaftsentwicklung vom Merkantilismus bis zur Gegenwart werden sie kaum einmal genannt. Vgl. Schumpeter, J. A.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl., Berlin 1952, S. 100; Hofmann, W. (Bearb.), Theorie der Wirtschaftsentwicklung, 3. Aufl., Berlin 1979. 67 v. Schmal/er, G.: Grundriß, II. T., a. a.O., S. 654. Vgl. auch ders., Die Volkswirtschaft, a. a. 0., S. 56 f. Man beachte, daß nicht nur die Solidaristen - vgl. dazu z. B. Engelhardt, W. W.: Allgemeine Ideengeschichte, a. a. 0., S. 117 ff.; Brück, G.

Einleitung in eine .,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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der Autor von einer Annahme aus, die ihn zwar in die Nähe zu empiristischen Lehrmeinungen Jeremy Benthams und John Stuart Mills geraten läßt und auch Widersprüche zu den ja erst im Werden befindlichen Bemühungen von Unternehmern und Arbeitnehmern (siehe oben) unausgeräumt beläßt, die aber gleichwohl bemerkenswert für die Gemeinwohldiskussion war und nach hier vertretener Lehrauffassung noch heute ist. Er schrieb bereits lange vor der Niederschrift seines Grundrisses im Jahre 1893: "die fortschreitende psychologische Erkenntnis der Natur und der Geschichte haben die extremen Anschauungen" - von Krisensituationen abgesehen "beseitigt, haben die Ethik immer mehr zugleich zu einer Erfahrungswissenschaft des Seienden gemacht".68 Während Max Weber sage, die Weltanschauungen könnten niemals das Produkt fortschreitender Erfahrungswissenschaft sein und die Partei- und Klassenideale stünden meist nicht auf der Höhe der objektiven Wissenschaft, weil sie egoistische Tendenzen enthielten und nicht auf das Gemeinwohl abzielten, hält er zweierlei entgegen: "(... )je höher stehende Führer sie haben, je mehr sie in großen Zeiten sich zur Höhe des Gesamtinteresses erheben, desto mehr nähern auch die Klassen- und Parteiideale sich dem absolut ,Guten', desto mehr treten die Abweichungen von denen anderer Klassen und Parteien zurück. Und wir werden behaupten können, je höher die sittliche und intellektuelle Bildung eines Volkes überhaupt stehe, desto eher werde es möglich, daß die Parteien und Klassen sich nähern, so sehr der Tagesstreit sie immer wieder trennt. (... ) Die allgemeine Behauptung, die Menschen würden im Laufe der Geschichte immer individueller und subjektiver und das erzeuge eine wachsende Nichtübereinstimmung in allen sittlichen Urteilen, halte ich nur in ganz beschränktem Sinne für wahr; sie trifft nur für Zeiten starker gesellschaftlicher Umbildung oder allgemeiner Verhetzung, Verwilderung und Auflösung zu". 69 A.: Von der Utopie, a. a. 0., S. 348 ff. -, sondern auch Schrnoller und Brentano früh

die wachsende Bedeutung der Solidarität bzw. des Solidaritätsprinzips erkannt haben. Zur Bedeutung der Solidarität innerhalb der Klassik siehe neuerdings z. B. GretschrtUJnn, K.: Steuerungsproblerne der Staatswirtschaft, Berlin 1981, besond. S. 236 ff.; Kaufmann, F. X./Krüsselberg, H.-G.: Markt, Staat und Solidarität bei Adam Srnith, a. a. 0 . 68 v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a. a. 0., S. 24. Zu Fragen erfahrungswissenschaftlicher Interpretation ethischer Positionen vgl. z. B. Bohnen, A.: Die utilitaristische Ethik als Grundlage der neuen Wohlfahrtsökonornie, Göttingen 1964; Albert, H.: Marktsoziologie, a.a.O., S. 122 ff.; v. Hayek, F. A.: Die Illusion, a.a.O., s. 34 ff. 69 v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a. a. 0., S. 80 f. Im gleichen Sinne später z. B. Kraft, V.: Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Aufl., Wien 1951, S. 222 ff. Gerhard Weissers Position einer .,normativen Wissenschaft" dürfte zumindest ursprünglich ebenfalls von der Vermutung (oder doch der Erwartung) ausgegangen sein, daß sich die Parteiideale künftig mit dem absolut Guten bzw. Gerechten von Gesamtinteressen ganz oder doch weitgehend decken und des8 Engelhardt

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

II. Lebenslageforschungen und ihr empirisch-theoretischer Bezug 1. Soziale Fragen und der Lebenslagebegriff

Die unorthodoxe Erforschung "sozialer Fragen" im Sinne der skizzierten empirischen Institutionentheorie der Sozialpolitik dynamischer Art knüpft an explikative und teilweise auch normative Analysen von "Lebenslagen" sozial schwacher, zumindest aber sozial gefährdeter Gruppen und Einzelpersonen an. Meist zuerst in der Praxis aufgebrochene soziale Fragen betrafen - sieht man von den vorindustriellen Perioden der Menschheitsgeschichte zunächst einmal ab 70 - in der Zeit des sich entwickelnden "Kapitalismus" beispielsweise die Wohnungsfrage und die Beschäftigungs- bzw. Lohnfrage. In diesem Zusammenhange spricht man nicht selten von "alten" sozialen Fragen, zu denen auch die aus älterer Zeit überkommene Bauernfrage gehört. Im Zeichen der "neuen" sozialen Frage (oder Fragen), von der (denen) erst in den letzten zwei Jahrzehnten speziell in der Bundesrepublik Deutschland die Rede ist, sind z. B. Altenprobleme, Jugendprobleme und halb von einer parteilichen Position her ein neuer Versuch zu einer solchen Disziplin vorgetragen werden konnte. Teilweise massive Kritik an der Schmollersehen Position in der unveröffentlichten Dissertation kann m. E. darüber nicht hinwegtäuschen. Vgl. auch Weisser, G.: Wirtschaftspolitik, a.a. O., passim. Auch Friedrich A. v. Hayeks "sozialphilosophische" (und damit letztlich wertende Position) in den Fragen der Bedeutung abstrakter Regeln als Richtlinien in einer Welt, in der die meisten Einzelheiten unbekannt sind, weisen Analogien zur Schmollersehen Position auf. Z. B. dürfte dies dort der Fall sein, wo er erklärt, "daß das, was wir mit unseren Mitbürgern gemein haben" - und was als "Gemeinwohl" in einer Großen Gesellschaft (im Unterschied zu einer Stammesgesellschaft der kleinen Gruppe) "wirklich sozial" ist - "nicht so sehr ein Wissen von denselben Einzelheiten als vielmehr ein Wissen von einigen allgemeinen und oft sehr abstrakten Zügen einer Art der Umgebung ist". Keinerlei Übereinstimmung gibt es hingegen in der für v. Hayek spezielleren Frage der "sozialen Gerechtigkeit", die angeblich einen notwendig leeren, ja unsinnigen und zu einem totalitären System hinführenden Begriff betrifft. Vgl. v. Hayek, F. A.: Die Illusion, a.a.O., S. 20, 26 ff. u. 93-138. Heutige Soziologen und Sozialpsychologen gehen im Unterschied zu Schmoller, z. T. in Anlehnung an Emile Durkheims "Anomie"begriff, vielfach von immer weitergreifender Individualisierung und Subjektivierung aus. Vgl. Durkheim, E.: Die Regeln der soziologischen Methode (1895), 2. Aufl., Neuwied, Berlin 1965, S. 56 ff.; Fürstenberg, F.: Wirtschaftssoziologie, 2., neubearb. u. erg. Aufl., Berlin 1970, S. 28 f. u. 108 f., Wiswede, G.: Über die Entstehung von Präferenzen, in: Heinemann, K. (Hrsg.), Soziologie wirtschaftlichen Handelns, Opladen 1987, S. 40-53. Im Sinne einer differenzierenden "sowohl als auch"-Betrachtung vgl. Engelhardt, W. W.: Zu einer morphologischen Theorie, a. a. 0., S. 11 ff. (und die dort angegebene Literatur). 70 Siehe dazu den ausgezeichneten Überblick über die deutschen Entwicklungen in den letzten 1000 Jahren bei Henning, F. W.: Das Raster der sozialpolitischen Maßnahmen in Deutschand in der vorindustriellen Zeit, in: Kaufbold, H./Riemann, F. K. (Hrsg.), Theorie und Empirie in Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1984, S. 109- 125, auf den später zurückzukommen sein wird.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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andere Probleme vorzugsweise "Nichtorganisierter" hinzugekommen. 71 Lebenslageanalysen, die seit Friedrich Engels, Otto Neurath und Gerhard Weisser betrieben werden, dienen der Erforschung sozialer Fragen. Sie werden in dieser Abhandlung als wesentliches Element und Fundament der sozialpolitischen Theoriebildung betrachtet.72 Lebenslageanalysen der hier gemeinten Art arbeiten die absolute oder relative Armut von Personengruppen und Einzelpersonen mit Hilfe von Merkmalen und auf diese bezogenen Sozial- und Wirtschaftsindikatoren auf, wobei die absolute oder relative Größe der Armut im Verhältnis zum absoluten oder relativen Reichtum der Lebenslagen sozial starker oder im Wohlstand ungefährdeter Gruppen und Personen gesehen wird. 73 Im Mittelpunkt der Analysen stehen letztlich sozialstruktureile Tatbestände, die folgt man der Weisser' sehen Definition des Lebenslagebegriffs - für die 71 Vgl. dazu die Beiträge in: Widmaier, H. P. (Hrsg.), Zur Neuen Sozialen Frage, Berlin 1978, und insbesond. Engelhardt, W. W.: Alte und neue soziale Fragen- zu ihren begrifflichen, historischen, zeitanalytischen und systematischen Zusammenhängen, ebd., S. 33-55 (und im vorliegenden Band). Siehe auch Bellebaum, A.l Braun, H: Soziale Probleme: Ansätze einer sozialwissenschaftliehen Perspektive, in: dies., Reader Soziale Probleme, I. Bd. Empirische Befunde, Frankfurt, New York 1974, S. 1-17; Groser, M./Veiders, W.: Die Neue Soziale Frage, Meile, St. Augustin 1979; Becher, H. L (Hrsg.), Die Neue Soziale Frage. Zum soziologischen Gehalt eines sozialpolitischen Konzeptes, Opladen 1982. Aktualisierte Darlegungen finden sich u. a. bei Geißler, H.: Grenzen des Sozialstaates? In: Soziale Entwicklung und Politik, VerbraucherpoL Hefte d. Verbraucher-Zentrale NRW, Nr. 7, Düsseldorf 1988, S. 127 ff.; Fuchs, A.: Perspektiven des Sozialstaats, ebd., S. 141 ff. 72 Über diese Lehrmeinung dürfte Übereinstimmung mit vielen Wissenschaftlern der Sozialpolitiklehre bestehen, u. a. mit Theo Thiemeyer, Lothar F. Neumann, Gerhard Kleinhenz, Heinz Lampert, aber auch mit Richard Hauser und Bruno Molitor. Vgl. z. B. Thiemeyer, Th.: Die Überwindung des wohlfahrtsökonomischen Formalismus bei Gerhard Weisser, in: Karrenberg, F./Albert, H. (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 131 ff.; Neumann, L. F.!Schaper, K.: Die Sozialordnung, a. a. 0. S. 9 f.; Kleinheinz, G.: Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, S. 60 ff. u. 72 ff.; Lampen, H.: Sozialpolitik, Berlin, Heidelberg, New York 1990, S. 16 ff.; Hauser, R.!Cremer-Schäfer, H.!Nouvertne, U.: Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1981; Hauser, R./Engel, D. (Hrsg.), Soziale Sicherung und Einkommensverteilung, Frankfurt, New York 1985, S. 9 ff.; Molitor, B.: Bemerkungen zur sozialpolitischen Theorie, in: H. Jb. f. W. u. Gp., 33. Jahr, 1988, S. 175 ff. Einen abweichenden mikroökonomischen Lebensstandard-Ansatz vertreten im Rahmen ihrer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik Zerche, J.l Gründger, F.: Sozialpolitik, Düsseldorf 1982, S. 56 ff. Andererseits siehe Zerche, J.: Einkommen und Vermögen in der Bundesrepublik Deutschland, Vervielf., Köln 1988. 73 Zu unterschiedlichen Armutskonzepten vgl. z. B. v. Brentano, D.: Zur Problematik der Armutsforschung, Berlin 1978; Schert, H.: Absolute Armut in der Bundesrepublik Deutschland: Messung, Vorkommen und Ursachen, in: Widmaier, H. P. (Hrsg.): Zur Neuen Sozialen Frage, a.a.O., S. 79 ff.

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

einengende oder erweiternde Ausprägung menschlicher Interessen und für deren W ahmehrnung von zentraler Bedeutung sind. Der Begriff Weissers stellt nämlich den "Spielraum" - gerneint ist die Größe bzw. Weite des Handlungsfeldes - in den Mittelpunkt, den die "Umstände" einer Personengruppe oder einer Einzelperson für die Erfüllung ihrer "Interessen" bieten. Einbezogen werden vorn Autor dabei allerdings nicht in erster Linie irgendwelche tatsächlich von diesen Trägem vertretenen oder als objektiv gültig angesehenen Interessen, sondern vor allem diejenigen Interessen immaterieller oder materieller Art, die bei unbehinderter und gründlicher Selbstbestimmung der betreffenden, einzeln oder zusammen handelnden Personen als bestimmende Grundanliegen für den "Sinn" ihres Lebens angesehen werden können. 74 Dieser freilich stark interpretationsabhängige und -bedürftige Begriff läßt sich nach Ulrich Pagenstecher gleichwohl näherungsweise graphisch verdeutlichen, wofür sich eine die tatsächlichen Verhältnisse stark vereinfachende Anlehnung an die Mikroökonomik empfiehlt (siehe dazu Schema 3).15 Maßnahmen bzw. Mittel der Sozialpolitik- aber auch solche der Sozialpädagogik -, die im Sinne der Weisser' sehen Definition der Sozialpolitik eine Verbesserung der Situation "sozial schwacher" oder "sozial gefährdeter" Personen bezwecken, können an diesen Begriff anknüpfen, und dies geschieht in der Bundesrepublik seitens der praktischen Politik bewußt oder unbewußt seit langern. 76

74 Vgl. dazu z. B. Weisser, G.: Sozialpolitik, in: Aufgaben deutscher Forschung, Bd. 1: Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Köln, Opladen 1956, S. 410 ff.; ders., Distribution (II) Politik, in: HdSW, 2. Bd., 1959, S. 635. 75 Vgl. Pagenstecher, U.: Die sozialpolitische Bedeutung "allokativer" Arbeitsmarktpolitik, in: Lampert, H. (Hrsg.). Neue Dimensionen der Arbeitsmarktpolitik in der BRD, Berlin 1975, S. 61 ff. Zur Interpretation und Kritik s. u. a. Kleinhenz, G.: Probleme, a. a. 0., S. 72 ff.; Möller, R.: "Lebenslage" als Ziel der Politik, in: WSIMitt., 31. Jg. 1978, S. 553 ff. 76 Vgl. dazu in Auseinandersetzung mit der Literatur Weisser, G.: Beiträge, a. a. 0 ., S. 275 ff. Als Brücke zur Praxis dienten lange Zeit Arbeiten des Kollegen Otto Blume und des von ihm geleiteten Kötner "Instituts für Selbsthilfe und Sozialforschung" (späteres "Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik", heutiges "Otto Blume-Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik"). Siehe dazu z. B. Blume, 0.: Möglichkeiten und Grenzen der Altenhilfe, Tübingen 1968; Breuer, W.: Empirische Lebenslageforschung und "neue soziale Frage", in: Neumann, L. F. (Hrsg.), Sozialforschung und soziale Demokratie. Festschrift für 0. Blume, Bonn 1979, S. 149 ff. Vgl. auch das problemorientierte Lehrbuch der früheren BlumeMitarbeiter Bäcker, G./Bispinck, R./Hofemann, K.!Naegele, G.: Sozialpolitik und soziale Lage in der Bundesrepublik Deutschland ( 1980), 2. Bde., 3., grundl. überarb. u. erweit. Aufl., Köln 2000.

Aus der Gesamtheit der Interessen (Bedürfnisse) eines Einzelnen oder einer Personengruppe wurden hier lediglich zwei: x + y, herausgegriffen.

y

Interesse (Bedürfnis)

m

= Handlungsraum

~

= Handlungsraum L1

Interesse (Bedürfnis) x

~

Aus dem begrenzenden Insgesamt der Umstände (der Umwelt, des Milieus) wurde hier ein Ausschnitt herausgegriffen, wie er in der mikroökonomischen Theorie durch das wirtschaftliche Budget repräsentiert wird.

Schema 3: Veranschaulichung eines stark vereinfachten Lebenslagebegriffs

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118

Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

2. Etappen zur Klärung des Lebenslagebegriffs

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Lebenslageforschung ursprünglich entscheidend von der marxistischen Politischen Ökonomie inspiriert wurde - eine heute oft vergessene oder doch unterbetonte Tatsache. Karl Marx und zunächst Friedrich Engels beschäftigten im Rahmen ihrer umfassenden Kapitalismus-Arbeiten sowohl die Frage nach der Beschaffenheit der Lebenslage bzw. Lebensbedingungen des Proletariats, als auch das tiefer ansetzende Problem der Ursachen seiner Lage. Übergreifend untersuchten sie außerdem die zentrale Frage nach den Entstehungsund angeblichen Untergangsbedingungen des Kapitalismus, einschließlich der mit ihm verbundenen Lebenslageverteilung. 77 In seinem klassischen Werk von 1845 "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" sah Engels auch nach Ansicht der heutigen neoinstitutionellen Transaktionskosten-Ökonomie78 - deutlicher als andere Klassiker den sich damals teils schon vollziehenden, teils zumindest ankündigenden sozialen und ökonomischen Wandel. Er ging dabei freilich von einer lediglich idealisiert-idealtypisch erfaßten Lebenslage der Weber und anderer Handwerker vor Entstehung des kapitalistischen Fabriksystems aus. In seinem Buch heißt es dazu: Sie "vegetierten (... ) in einer ganz behaglichen Existenz und führten ein rechtschaffenes und gerobiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war (... )". Dieser Lebenslage, insbesondere der Weber, stellte Engels nun die Lebenslage des Fabrikproletariats gegenüber, dessen Lohn - nach seinen Worten - kaum hinreichte, "Leib und Seele zusammenzuhalten". Er berichtete von der Unzulänglichkeit der Nahrung, der Wohnung, der Kleidung usw. und faßte seine auf Beobachtung beruhenden Angaben in den Worten zusammen: "Man entzieht ihnen alle Genüsse außer dem Geschlechtsgenuß und dem Trunk. Und wenn sie das alles überstehen, so fallen sie der Trostlosigkeit einer Krisis zum Opfer".79 So Neurath, 0 .: Wirtschaftsplan und Naturalrechnung, Berlin 1925 S. 17 ff. Vgl. North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 165. 79 Marx, K.l Engels, F.: Werke, Bd. 2, Berlin 1970, S. 237 ff. u. 324 ff. Zu den Beiträgen von Marx vgl. besond. dies., Werke, Bd. 23, Berlin 1971. Zur neueren marxistischen Literatur zur Lebenslageforschung und zur Erforschung verwandter Begriffe (Lebensbedingungen, Lebensweisen usw.) siehe besond. das 38 Bde. umfassende Werk von Kuc:zynski, J.: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Berlin 1967 ff. sowie ders., Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Berlin 1980 ff. Vgl. auch zahlreiche Aufsätze in dem Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik, hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR. Institut für Soziologie und Sozialpolitik, Bd. 1 ff., Berlin 1980 ff.: siehe ferner teils kritisch 77 78

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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Nach Anton Amann gebührt erst dem Österreichischen Soziologen Otto Neurath das Verdienst, aufbauend auf der marxistischen Politischen Ökonomie und eigenen Arbeiten, insbesondere zur Kriegswirtschaftslehre, eine grundlegende Theorie der Lebenslage entworfen zu haben. Neurath habe sich dabei als "Gesellschaftstechniker" verstanden, der zwecks Erarbeitung von Fundamenten für eine Planungspolitik dem Begriff der Lebenslage sowie einigen weiteren Begriffen und Subbegriffen in seinem Umkreis große Bedeutung beimaß. Nach der Auffassung Amanns, die sich auf ausführliche Studien stützt, gehören zur Lebenslage im Sinne Neuraths ,.die quantitative und qualitative Ausstattung mit Lebensgütern und Lebenschancen, aber auch alle hinderlichen Bedingungen, die 0. Neurath in solcher Detailliertheit wie am Beispiel von Krankheitskeimen benennt. Ein ,Lebenslagenkataster' dokumentiert alle Lageveränderungen, die Verteilung aller Elemente. Je nach der ,Lebensstimmung', die bei gegebener Lebenslage entsteht, lassen sich die Lagen als mehr oder weniger wünschenswert vergleichen. Ein ,Lebensstimmungsrelief' läßt erkennen, welche Lebensstimmungen sich bei spezifischen Verteilungen von Arbeitslast und Gütern ergeben. Optimales Relief läßt sich allerdings keines errechnen, weil die Daten über Lebensstimmungen nur ordinalen Skalenwert haben, die statistischen Verfahren anspruchsvolleren Charakters für einen Vergleich der Reliefs also nicht in Frage kommen. Die Gesellschaft hat daher zu entscheiden, welche Lebensstimmungsreliefs zu bevorzugen sind; der , Wirtschaftsplan' beschreibt dann die Lebenslagegesamtheit, die ihrerseits Ergebnis der Wirtschaftsmaßnahmen ist".80 Gerhard Weissers Perspektive in der Lebenslageforschung unterscheidet sich von jener Neuraths trotz seines mit diesem übereinstimmenden Ausgangs von sozialstruktureilen Tatbeständen sowohl vom Bezugsrahmen her als auch vom Erkenntnisobjekt und besonders von der dem jeweiligen Ahlberg, R.: Das Proletariat, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974. Christliche Autoren haben für den Hochkapitalismus die Lebenslagebeschreibungen der marxistischen Klassiker nicht selten übernommen. Vgl. z. 8. Schreiber, W.: Sozialpolitik, in: Ehrlicher, W./Esenwein-Rothe, 1./Jürgensen, H./Rose, K. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 2, 2. Aufl., Köln, Opladen 1966, S. 271 ff. u. 278 f. 80 Amann, A.: Lebenslage und Sozialarbeit, Berlin 1983, S.l28 f. Vgl. dazu Neurath, 0.: Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft, München 1919; ders., Wirtschaftsplan, a. a. 0., besond. S. 32 ff. Zum Begriff der "Lebenschancen" siehe Dahrendorf, R.: Lebenschancen, Frankfurt/M. 1979. Zu den methodologischen Schwierigkeiten der Erfassung und Vergleichung von Lebenslagen, siehe Möller, R.: Lebenslage, a. a. 0.; ders., Interpersonelle Nutzen vergleiche, Göttingen 1983, besond. S. 213 ff. Zu einem teilweise anderen soziologischen Zugang zu sozialen Fragen und speziell zum gesellschaftlichen und individuellen Armenproblem siehe Simmel, G.: Soziologie - Untersuchungen über die Fonneo der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968, S. 345-374.

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

Handlungssubjekt eingeräumten Bedeutung aus wesentlich. "Der wissenschaftlich-politische Bezugsrahmen ist bei 0. Neurath" - wie Amann zu Recht betont - "die zentral gelenkte Naturalwirtschaft einer sozialistischen Gesellschaft, bei G. Weisser das Feld der ,Sozialpolitik' (allerdings in einem weiten Verständnis dieses Begriffs, der auch Fürsorge bzw. Sozialarbeit umfaßt)81 im Rahmen einer Marktwirtschaft. Erkenntnisgegenstand ist bei 0. Neurath die Gesamtheit der Bevölkerung, in der einzelne Gruppen unterschiedliche Lebenslagen aufweisen, bei G. Weisser ist es jener Teil der Bevölkerung, der als die ,sozial Schwachen und Gefährdeten' bezeichnet werden kann. Bei 0. Neurath spielt das Subjekt als Faktor mit Interpretationspotential in der Analyse eine korrektive Rolle, bei G. Weisser stellt es ein Kernstück dar". 82 Besonders deutlich wird Weissers Position in seiner leider unveröffentlicht gebliebenen Abhandlung "Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslage-Analysen", in der es unter anderem heißt: "Damit diese Analysen durchgeführt werden können, müssen elementare Betrachtungen anthropologischer Art angestellt werden. Sie betreffen im besonderen die Anliegen (Interessen), die bei den Menschen der betreffenden Gruppen auftreten bzw. auftreten können". Zu ihrer Erforschung versucht der Autor gewisse Vorgaben zu formulieren, indem er ,,Lebenslagemerkmale" in Form eines Interessenkatalogs zusammenstellt.83 Seine Begründung dafür lautet: "Wir können Lebenslagen nicht ermitteln, wenn wir nicht wissen, worauf es den betreffenden Menschen auf Grund ihrer Vorstellungen von dem, was den Sinn ihres Lebens ausmacht, bei hinreichender Besinnung auf sich selbst ankommt (... ). Aber die Menschen verhalten sich nicht so, daß sie einen Katalog verschiedener Grundanliegen vor Augen haben, die sie nun in bestimmter Reihenfolge befriedigen. Sie ( ... ) bewerten ihre Gesamtsituation. Nur im Bedarfsfall - bei Kon81 Zu wesentlichen Veränderungen der Begriffsinhalte von "Sozialpolitik" siehe in der Nachkriegszeit u.a. Weisser, G.: Sozialpolitik, in: Bemsdorf, W. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 1039-1048 (im Anschluß an Vorarbeiten Pagenstechers); Winterstein, H.: Sozialpolitik mit anderen Vorzeichen, Berlin 1969; Kleinhenz. G.: Probleme, a.a.O.; Leenen, W. R.: Tausendundeine Definition: Was ist Sozialpolitik? In: Soz. Fortschr., 27. Jg., 1978, S. 1 ff.; Nahnsen, 1.: Sozialpolitik im Spannungsfeld von Ungleichheit und Existenznot, in: Z. f. Sozialreform, 34. Jg., 1988, S. 643 ff. 82 Amann, A.: Lebenslage, a.a.O., S. 139. Nach Weisser, G.: Beiträge, a.a.O., S. 275, hat auch der Philosoph Kurt Grelling in seiner kantianischen Schaffensperiode das Lebenslagekonzept beeinflußt. 83 Vgl. dazu Thiemeyer, Th.: Die Überwindung, a.a.O., S. 139 ff.; Engelhardt, W. W.: Sozialpolitik, Theorie der, in: Glastetter, W./Mändle, E./Müller, U./Rettig, R. (Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft, 2. verb. Aufl., Wiesbaden 1980, Sp. 1191 f.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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flikten - wägen sie ab. Sie werden sich dann der Alternativen bewußt und entscheiden auf Grund von Bemühungen, ihre einzelnen Anliegen zu klären". Zunächst aber gelte - durchaus gemäß den früheren Darlegungen der vorliegenden Abhandlung über utopische Ausgangspunkte des Handeins -: ,,Die Menschen pflegen bewußt oder unbewußt ihrem Leben im ganzen einen bestimmten Sinn zu geben. Sie haben gefühlsmäßig ein Leitbild der Gestaltung ihres Lebens, nach dem sie ihr Verhalten einrichten".84

3. Sozialindikatoren zur gesellschaftspolitischen Berichterstattung

In der an die Arbeiten Weissers anschließenden Diskussion haben Thiemeyer und Kleinhenz zu Recht darauf hingewiesen, daß der Begriff der Lebenslage solange "nicht operational" - oder gar "Leerformel" - genannt werden kann, als nicht ganz bestimmte Interessen bzw. konkrete Bedürfnisse aus dem Interessen- oder Bedürfnisinsgesamt der Menschen als Merkmale möglichst präzise angegeben werden. 85 Es kommt hinzu, daß der Lebenslagebegriff zur Kategorie der lediglich indirekte empirische Bezüge ermöglichenden Begriffe gehört; einer Klasse, bei der die Sachverhalte nicht direkt, sondern nur über Umwege festgestellt werden können. Anders formuliert läßt sich sagen, daß Schwierigkeiten bestehen, direkt wahrnehmbare Phänomene zu finden, weshalb man zu "Sozialindikatoren" greifen muß, von derem Vorhandensein aus man auf das Vorliegen des durch den Begriff bezeichneten Tatbestands schließen kann. 86 Ein wesentlicher Teil der methodologischen Forschungsarbeiten im Rahmen der "empirischen Sozialforschung" der letzten Jahrzehnte war der Überwindung dieser und 84 Weisser, G.: Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslage-Analysen, Manuskript für den Gebrauch der Hörer 1956, letzte Fassung 1966. Zu Weissers Stellung zum Utopieproblem siehe Engelhardt, W. W.: Über Leitbilder, a.a.O. Zum Gesamtwerk und zur Persönlichkeit Gerhard Weissers vgl. Thiemeyer, Th.: Wirtschaftspolitik als Wissenschaft. Gerhard Weissers System der Politik aus normativen Grundentscheidungen, in: Soz. Fortschr., 37. Jg., 1988, S. 73-78; Henkel, H.: Mit Gerhard Weisser, in: Soz. Sicherheit, 38. Jg., 1989, S. 353-357; Prim, R.: Politik, Moral und Pädagogik. Sozialstrukturelle Bedingungen moralischer Haltungspflege, ebd., S. 357-365. 85 Vgl. Thiemeyer, Th.: Die Überwindung, a.a.O., S. 140; Kleinhenz, G.: Probleme, a.a.O., S. 72. Siehe auch Büscher, H.: Die Industriearbeiter in Afghanistan, Meisenheim/Gl. 1969, S. 42 ff.; Stelzig, Th.: Gerhard Weissers Konzept einer normativen Sozialwissenschaft, in: v. Ferber, Chr./Kaufmann, F.-X. (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik, Opladen 1977, S. 260-289; Kleinhenz, G.: Zur politischen Ökonomie des Konsums, Berlin 1978, S. 24. 86 Vgl. z. B. Mayntz, R./Holm, K./Hübner, P.: Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, 5. Aufl., Opladen 1978, S. 40 ff.

122

Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

ähnlicher Schwierigkeiten gewidmet. Dabei haben sich im Bereich der sowohl wirtschaftswissenschaftlich als auch soziologisch ausgerichteten Sozialpolitiklehre die Mitarbeiter des ursprünglichen SPES-Projekts und der daran anschließenden umfangreichen Forschungsarbeiten besondere Verdienste erworben. Die verteilungstheoretisch oder mikrosoziologisch ausgerichteten Forschungsvorhaben der daran beteiligten Kollegen - von denen hier besonders Hans-Jürgen Krupp und Wolfgang Zapf genannt seien folgen dabei allerdings eher einem umfassenderen gesellschaftspolitischen als einem engeren sozialpolitischen Abgrenzungsversuch,87 d. h. sie beziehen nicht nur sozial schwache oder gefahrdete Personen als Einzelne oder Gruppen in die Sozialberichterstattung ein.88 Die in jüngerer Zeit in großer Zahl erarbeiteten Sozialindikatoren stellen Kennziffern dar, die - zusammen mit Wirtschaftsindikatoren - zweifellos genauere Urteile über den Stand und die Veränderungen wichtiger gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitischer Bereiche erleichtern oder überhaupt erstmals ermöglichen. Nach Christian Leipert messen oder vergleichen sie mittels quantitativer oder topologisch-typologischer Bestimmungen sowohl "objektive Bedingungen", d.h. Umstände, als auch "subjektive Orientierungen" im Sinne von Interessen, Bedürfnissen und darauf gründenden Einzelzielen zur Förderung von ,,Lebensqualität".89 Solche Meßzahlen

87 Vgl. dazu z.B. Engelhardt, W. W.: Möglichkeiten, a.a.O., S. 549 ff.; ders., Sozialpolitik, a.a.O., Sp. 1181 ff. Umfassender diskutieren dieses Problem Lompe, K.: Gesellschaftspolitik und Planung, Freiburg/Br. 1971, S. 119 ff.; Flohr, H.: Rationalität und Politik, Bd. II, Neuwied, Berlin 1975, S. 105 ff. 88 Siehe dazu u. a. die folgende Auswahl von Arbeiten: Krupp, H.-J.: Sozialpolitisches Entscheidungs- und Indikatorensystem für die Bundesrepublik Deutschland (SPES), in: Allg. Stat. Arch., 57. Bd., 1973, S. 386-387; Zapf, W.: Soziale Indikatoren, in: Soziologie. Rene König zum 65. Geburtstag, Opladen 1973, S. 261-290; Krupp, H.-J./Zapf, W.: Sozialpolitik und Sozialberichterstattung, Frankfurt, New York 1977; Zapf, W. (Hrsg.), Lebensbedingungen in der Bundesrepublik. Sozialer Wandel und Wohlfahrtsentwicklung, Frankfurt, New York 1977; Glatzer, W./Zapf, W. (Hrsg.), Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt, New York 1984; Krupp, H.-J./Glatzer, W. (Hrsg.), Umverteilung im Sozialstaat. Empirische Einkommensanalysen für die Bundesrepublik, Frankfurt, New York 1978; Hauser, R./Engel, B. (Hrsg.), Soziale Sicherung, a.a.O.; Krupp, H.-J./Hanefeld, U.: Lebenslagen im Wandel, Analysen 1987, Frankfurt, New York 1987. S. auch Bartholomiii, R. Ch.: Welche Informationen braucht die Gesellschaftspolitik? In: Transfer l, Gleiche Chancen im Sozialstaat? Opladen 1975, S. 13-24. 89 Vgl. Leipert, Chr.: Gesellschaftliche Berichterstattung, Berlin, Heidelberg, New York 1978, passim. S. ebenf. Zapf, W. (Hrsg.), Soziale Indikatoren: Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt, New York 1974175. Zu den topologisch-typologischen Bestimmungen s. z. B. Engelhardt, W. W.: Grundprobleme der Einzelwirtschaftstypologie, in: Arch. f. ö. u. fr., U.• Bd. 6, 1962/63, S. 193-215.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

123

von der Art objektiver oder subjektiver Indikatoren können zweifellos zu einer wesentlichen Verbesserung des Informationsstandes über die Gesellschaft und den Staat, einschließlich ihrer Teilordnungen von der Wirtschaft und dem Sozialbereich, beitragen. Sie ersetzen freilich trotz dieser Leistungen zur politischen "Gestaltung"90 niemals die notwendigen Entscheidungen. Da es sich bei ihnen um bloße Hilfsgrößen handelt, können von ihnen positive Wirkungen zu den erstrebten sozialpolitischen und sozialpolitiktheoretischen Anwendungen ebenso ausgehen wie auch technokratische Gefährdungen der praktischen und theoretischen Politik.91 Willkürliche Setzungen der benötigten Begriffe und Manipulationen bei der Verwendung der Indikatoren sind durchaus möglich. Sie sollten jedoch die positiven Chancen zur Fundierung empirischer Theorien der Sozialpolitik und anderer Theorien im Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nicht übersehen lassen. Vor allem dürften solche Indices natürlich geeignet sein, die lediglich verbal-begrifflich argumentierende Sozialpolitiklehre, die noch systematisch gemessener oder zumindest streng verglichener Fundamente entbehrt, ein entscheidendes Stück voranzubringen. Der Versuch dazu ist wichtig, wenn es darum geht, den trotz einiger Ansätze zur Formulierung quasi- und allgemeintheoretischer Aussagen noch weithin ausstehenden Versuch einer Synchronisation von Entwürfen zur sozialpolitischen Institutionentheorie mit empirischen Lebenslageforschungen und darauf bezogenen mehrdimensionalen Sozialindikatorensystemen zur Messung von Lebensqualität zu untemehmen. 92

90 Siehe dazu den Überblicksartikel von Krupp, H.-J./Zapf, W.: Indikatoren II: soziale, in: HdWW, 4. Bd., 1978, S. 119 ff. Vgl. außerdem Elsner, W: Mehrdimensionale Bestimmung und Ermittlung von Wohlfahrt mit Hilfe von Sozialindikatorensystemen, Vervielf., Bielefeld 1978. 91 Vgl. dazu von einem pragmatischen Wissenschaftsverständnis her geurteilt Lompe, K.: Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1966, besond. S. 28 ff. u. 119 ff. S. auch Flohr, H.: Rationalität, Bd. I u. II, a.a.O.; Albert, H.: Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978. 92 Vgl. dazu Kleinhenz, G.: Probleme, a.a.O., S. 95 ff.; Engelhardt, W. W.: Thesenfolge zur Analyse alter und neuer sozialer Fragen, in: Soz. Fortschr., 27. Jg., 1978, S. 150 f.; ders., Sozialpolitik, a.a.O., Sp. I 194 f. Siehe auch den Überblick über bisherige Versuche bei Krupp, H.-W./Zapf, W.: Indikatoren, a.a.O., S. 216 ff.; Elsner, W.: Mehrdimensionale Bestimmung, a. a. 0 . Von der Wohlfahrtsökonomie herkommend argumentiert in die hier gemeinte Richtung Amartya Sen; vgl. z. B. Sen, A.: Ökonomische Ungleichheit, Frankfurt, New York 1975; ders., Poor, Relatively Speaking, Dublin 1983.

124

Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik 4. Sozialpolitiklehre als Querschnittswissenschaft unter dem Lebenslageaspekt

Es bleibt festzuhalten, daß nach hier vertretener Lehrmeinung eine pragmatisch-unorthodoxe Erforschung sozialer Fragen prinzipiell explikativer Lebenslageanalysen nicht entbehren kann. Sind dynamische "Entwicklungstheorien" der Sozialpolitik im Sinne der im 1. Abschnitt umschriebenen Aspekte beabsichtigt, so werden solche Forschungen sowohl zur Fundierung historischer Aussagen als auch zur Demonstration zukunftsgerichteter Ausblicke benötigt, wie im einzelnen noch zu zeigen sein wird. Im übrigen setzt natürlich eine solche Theorie wie überhaupt die Sozialpolitiklehre nicht beim wissenschaftlichen Nullpunkt neu an. Sie versteht sich vielmehr als mehr oder weniger integriertes Teilsystem von Aussagen mindestens aller Wissenschaften vom Menschen und des Zusammenlebens bzw. Zusammenwirkens derselben, deren vielseitige Erkenntnisse sie zu nutzen versucht. So wie die Wirtschaftswissenschaften laut Lyonel Robbins den Aspekt der Knappheit zur Stoffauswahl und Erkenntnisgewinnung legitimerweise einsetzen93 oder die Medizin die Biologie, Physiologie, Chemie, Physik und eine Anzahl weiterer Disziplinen und Hilfswissenschaften zu einem eigenständigen Forschungsbereich verbindet, so läßt sich für die Sozialpolitiklehre und zumindestens für deren nicht rein wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete Theorien der Gesichtspunkt der Lebenslage für Selektionen und anschließende Erkenntnissynthesen nutzen (siehe dazu Schema 4, in das bewußt auch grundlegende und angewandte Naturwissenschaften einbezogen wurden). Ingeborg Nahnsen hat die in diesem Zusammenhang berührte Frage nach dem "systematischen Ort der Sozialpolitiklehre in den Sozialwissenschaften" im Anschluß an Überlegungen Weissers zur Sozialpolitiklehre als "Aspektedisziplin" und "Querschnittswissenschaft"94 überzeugend klargestellt. Sie geht dabei von der Auffassung aus - die Verfasser teilt -, "daß die bei fortschreitender Spezialisierung sich mehr unwillkürlich als bewußt einschleichende Annahme der Möglichkeit ,rein soziologischer', ,rein öko93 Vgl. nach wie vor besond. Robbins, L.: An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2. ed., London 1949, Neudruck 1962. Siehe auch Albert, H.: Der Gesetzesbegriff, a.a.O., S. 154 ff. Zur Kritik einiger Konsequenzen dieser Position vgl. z. B. Widmaier, H. P.: Politik der Knappheit. Analyse politischer Entscheidungsprozesse zur Gewinnung eines theoretischen Rahmens für soziale Indikatoren, in: Zapf, W. (Hrsg.): Soziale Indikatoren, a.a.O., S. 102-125, Zur Bedeutung des Knappheitsaspekts für eine ökonomische Theorie der Sozialpolitik s. Zerehe, J./Gründger, F.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 2. 94 Vgl. dazu z.B. Weisser, G.: Beiträge, a.a. O., S. 279 ff.; Thiemeyer, Th.: Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 74 f. S. auch Schreiber, W.: Zur Frage des Standorts der Sozialpolitik-Lehre im Ganzen der Sozialwissenschaften, in: Karrenberg, F./ Albert, H. (Hrsg.): Sozialwissenschaft, a. a.O., S. 359 ff.; Lampert, H.: Leistungen, a.a. O.

diskussion

werte-

Grund-

z. B.

z. B. Triebe; Grundbedürfnisse

Biolo&ie

z.B. Leitbilder und andere

Anthropologie

z.B. Motive; Einstellungen

Psycholo&le

SozlalpoUdldehre ß Arbeitsökonomik (incl. Gewerkschaftswesen)

z. B. empir. Lebensllceforsclaona; Jnstitutionalisierune von Nonnen

Sozlolo&le, Sozlalpsycbolo&le

I

z. B. Trend zur Geseilschaftspolitik (lnnenpol.); Entwicklungsiänderfrogen (Außenpol.)

kungen auf Sozialversicherungen

Rückwir-

z.B. Überbevölkerung; Bevölkerungsschwund;

Bevölkernneswissenscboß

SozlalpoUtWehre W Soziale Sicherung (incl. Gesundheitspolitik)

z. B. betriebliche Sozialpolitik; Personalwesen

Verhält-

deutung;~

z. B. Knappheitsaspekle; ordnunptheoretisehe Be-

Betriebswlrtscbartslehre

z.B. finanzpolitische Mittel der Sozialpolitik; Steuerwirkunsen; Umweltpolitik

scbaft

wisseD-

FiDIDZ

/'l\ Volkswirtschaftslehre

Wirtschaftswissenschaften

SozlalpoUtWehre IV Verteilunpfragen (besonders institutioneile und personelle Verteiluns; Lebeaslqe als VerteU1111pproblem)

z.B. Entwicklungen sozialer Bewegungen

Gescblcbtswlssenscblft

~--------

z.B. sozialrechtliehe Gestai-

Rechtswissenscblft

1\

Sozialwissenschaften i.e.S.

PoUdsehe Wlsseascblfl

SozialpoUtWeilre An der Universität zu Köln

z.B. Bedingungen von Gesundheit und Krankheit; Sozialmedi-

HumaamediziD

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Sozial-

z. B. beerim. Froeen der Lebens-

"-._ II&•;

z. B. Wenurteilsproblern

Logik, Wissenschort•theorie

Sozialpoiltlklebre I Grundlagen (SPL als latepadoaswlsseascbaft uater dem Lebeasllceaspekt)

z.B. Staatsfonnen; Sozial-

I

Metaphysik, SoziaiWertpbilound Swtssophie philosophie

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Methodenlehre

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Naturwissenschaften

Philosophische Disziplinen

Schema 4: Einordnung der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre in das System der Wissenschaften

126

Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

nomischer', ,rein juristischer' und sonstiger ,reiner' Standpunkte logisch und sachlich unhaltbar ist und daher überwunden werden muß". Es komme auf den Versuch an, eine "gewissermaßen nachträgliche Zusammenschau" der von methodisch und sachlich autonom bleibenden Einzeldisziplinen erarbeiteten Ergebnisse zu ermöglichen. Dabei könne die Sozialpolitiklehre die Ergebnisse anderer Sozialwissenschaften nur unter einer "besonderen Fragestellung" zusammenfassen, eben der Fragestellung nach der Lebenslage von Menschen und nach der der Verbesserung ihrer Lage. Da nach Nahnsens Ansicht das Erfahrungsobjekt aller Sozialwissenschaften gleich ist - es handele sich immer um das gleiche "Gesellschaftsgefüge" - können sich die verschiedenen Bereiche der Politik nur durch spezielle Aufgabenstellung voneinander unterscheiden. "Ist es etwa Aufgabe der Kulturpolitik, ganz allgemein Bildung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen in der Gesellschaft zu fördern, ist es spezielle Aufgabe der Wirtschaftspolitik, den dauernden Einklang von Bedarf und Deckung zu sichern und die Entfaltung der produktiven Kräfte zu fördern, so ist es, wie schon gezeigt, die besondere Aufgabe der Sozialpolitik, die Lebenslage sozial gefahrdeter Schichten zu schützen und zu verbessern".95 Der Weisser'sche Begriff der Sozialpolitik, der im Sinne eines analytischen Dreier- oder Viererschritts von Normbzw. Zielfestlegungen, Lageklärungen und schließlich Mittel- bzw. Instrumentenbestimmungen diejenigen Mittel herauszuheben versucht, welche geeignet sind, die Lebenslage der herausgestellten Schichten und Einzelnen zu heben,96 steht mit dieser Aufgabenformulierung in unmittelbarem Zusammenhang. Von hier aus schlußfolgert Nahnsen aber nicht nur auf die für erstrebenswert und zweckmäßig gehaltene Ausrichtung der praktischen Sozialpolitik, sondern ebenso auf die wissenschaftliche - und hier zunächst die theoretische - Sozialpolitik, indem sie unter anderem feststellt: "Der Forschungsbereich der Sozialpolitik gewinnt so eine Besonderheit gegenüber der Gesamtheit der Gesellschaftswissenschaften durch seine Begrenzung auf eine ganz spezifische Art von gesellschaftlichen Krankheitserscheinungen und gegenüber den anderen Sozialwissenschaften durch die Einheit, zu der in ihm alle Aspekte der sozialen Existenz mittels ihrer Interdependenz im Begriff der ,Lebenslage' zusammengefaSt sind. Unter Benutzung des Interdependenzgedankens könnte eine Theorie der Sozialpolitik aufgebaut werden, deren 95 Nahnsen, 1.: Der systematische Ort der Sozialpolitik in den Sozialwissenschaften, in: Külp, 8./Schreiber, W. (Hrsg.), Soziale Sicherheit, Köln u. Berlin 1971, s. 94 ff. u 100 ff. 96 Verfasser hat in diesem Zusammenhang von einem "Operationsbegriff' der Sozialpolitik gesprochen; vgl. Engelhardt, W. W.: Sozialpolitik, a.a. O., Sp. 1189 ff. Zur grundsätzlichen logischen Struktur des Ansatzes siehe bereits Weisser, G.: Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, Stuttgart 1934, S. 28 ff. Vgl. auch Schreiber, W.: Zur Frage, a.a.O., S. 356 ff.; Molitor, B.: Bemerkungen, a.a.O., S. 175 ff.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

127

Kernstück ein System von Hypothesen über typische und regelmäßige Interdependenzbeziehungen zwischen den einzelnen konstitutionellen Elementen von Lebenslagen und über eine mögliche Gesetzmäßigkeit bei der Entstehung von Lebenslagetypen bilden würde (... )".97 Weisser hat zu diesen Themen in leider unveröffentlichten Arbeiten zahlreiche Aussagen geboten, die besonders die ,,Lebenslagetypen" betreffen. Kleinhenz hat darüber hinaus den Versuch einer Formulierung von allgemeinen Hypothesen im Anschluß an Weisser unternommen, in denen er weniger Entstehungszusammenhänge von typischen oder untypischen Lebenslagen als Beziehungen bereits existierender Lebensalgen zu den Möglichkeiten des Lernens und der Erschaffung von Kulturen thematisiert.98 Die derzeitige theoretische Sozialpolitik hat diese Bemühungen - soweit erkennbar ist - zunächst kaum fortgesetzt, gleichgültig, ob sie in der Soziologie und Politikwissenschaft oder in den Wirtschaftswissenschaften angesiedelt ist. Soweit es sich um Theoretiker der letzteren Art handelt, orientieren sie sich - wie z. B. Richard Hauser ausgeführt hat - trotz ihrer Einbeziehung von Armutsproblemen in ihrer Forschung oft am klassischen Ableitungsschema der wirtschaftspolitischen Theorie. Diese Theorien gehen von Zielhypothesen, diagnostizierten Ausgangslagen, entworfenen Handlungsalternativen bzw. Szenarien und bedingten Prognosen von Wirkungen aus und empfehlen politische Programme, die aber keineswegs nur sozial schwache oder gefährdete Gruppen und Einzelne fördern sollen.99 Betonter beziehen sich da schon Sozialwissenschaftler im engeren Sinne - und hier besonders Soziologen - auf defizitäre Elemente der Lebenslage spezifizierter Bevölkerungsteile als Zielgruppen. Erwähnt seien von Franz-Xaver Kaufmann initiierte Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen politischen, administrativen und wissenschaftlichen Bestrebungen zur Sozialpolitik, die zu erklären versucht werden. Zu deren Vorbereitung wird die Ausstattung dieser Gruppen mit "sozialpolitischen Gütern" - beispielsweise Rechten, Geldleistungen, infrastrukturellen Einrichtungen und Dienstleistungen - auf kommunaler und anderer Ebene festgestellt. 100 Nahnsen, 1.: Der systematische Ort. a.a.O., S. 106. Vgl. Kleinhenz, G.: Probleme, a. a. 0 ., S. 95 ff. Siehe auch Engelhardt, W. W.: Theorie, a.a.O., Sp. 1192-1195. 99 Hauser, R./Engel, B.: Soziale Sicherung und Einkommensverteilung- Einführung und Überblick, in: dies., Soziale Sicherung, a. a. 0., S. 9 ff. 100 Zu diesen Forschungen die bemerkenswerterweise also auch die tatsächliche Ausstattung mit Rechten einbeziehen (und damit einen Übergang zum New Institutional Approach der Gegenwart schaffen), siehe neben vieler weiterer Literatur besonders die grundlegende Abhandlung von Kaufmann, F.-X.: Sozialpolitisches Erkenntnisinteresse und Soziologie, in: v. Ferber, Chr./Kaufmann, F.-X. (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik, Sonderh. 1911977 d. Kölner Z.f. S. u. S., S. 35-75, hier S. 63 f. Vgl. auch ders. (Hrsg.), Bürgernahe Sozialpolitik, Frankfurt 1979, S. 217 ff. 97 98

128

Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik 5. Zur künftigen Relevanz der Lebenslageforschung

Eine ausgebaute Lebenslageforschung, die sowohl an zeitgemäße Theorien der Güter als auch an solche der Bedürfnisse (Interessen) und Umweltbeziehungen anknüpft, 101 dürfte für die praktische Sozial- und Gesellschaftspolitik der Zukunft von großer Bedeutung sein. Zwar hat die "Klasse" und die "Klassengesellschaft" an Bedeutung, die ihr etwa v. Schmoller, v. Zwiedineck-Südenhorst, v. Wiese und noch Weddigen für die Sozialpolitik beimaßen (und auch beimessen mußten), unzweifelhaft stark verloren. 102 An die Stelle der früheren Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihren ausgeprägt vertikalen Aspekten sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit sind jedoch seit längerem in erheblichem Umfange horizontale Ungleichheiten - z. B. nach Geschlecht, Alter, Religion, auch nach Lebensbereichen getreten, 103 oder aber bereits früher vorhandene Divergenzen in diesen Richtungen haben ihre Bedeutung eher verstärkt als eingebüßt. Neu hinzugekommen ist die Vermutung bzw. zumindest Behauptung einer "Zweiu. passim; ders. (Hrsg.), Staatliche Sozialpolitik und Familie, München, Wien 1982, S. 66 ff. u. passim. Siehe vorher und mit teilweise anderen Akzenten auch Fürstenberg, F.: Die Soziallage der Chemiearbeiter, Neuwied, Berlin 1969; ders., Einführung in die Arbeitssoziologie, Darmstadt 1977, S. 115 ff. 101 Siehe dazu im Bereich der Nachkriegsliteratur in der Sozialpolitik- und Genossenschaftslehre besond. v. Ferber, Chr.: Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Harnburg 1967; Hondrich, K.-0.: Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung, Reinbek 1975; Widmaier, H. P.: Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976; v. Brentano, D.: Grundsätzliche Aspekte der Entstehung von Genossenschaften, Berlin 1980; Weuster, A.: Theorie der Konsumgenossenschaftsentwicklung, Berlin 1980; Kleinhenz, G.: Zur politischen Ökonomie, a.a.O.; Lampert, H.: Lehrbuch, a. a. 0., S. 113 ff.; ders., Notwendigkeit, a. a. 0 . Die heutigen Leistungen auf den Gebieten dieser Theorien, die bis weit in die Finanzwissenschaft hineinreichen (Stichworte: "öffentliche Güter", "kollektive Güter" usw.), wären ohne bedeutsame Vorgängerarbeiten aus dem vorigen Jahrhundert kaum geschaffen worden, was heute oft vergessen wird. Erinnert sei hier nur an Alfred Marshalls Theorie der Bedürfnisse, in der bereits ein Zusammenhang zwischen der Vielfalt menschlicher Tätigkeiten und der Ausbildung von Bedürfnissen hergestellt wird. Oder es ist erneut auf Adolph Wagner hinzuweisen, der bereits in den ersten Auflagen seiner "Grundlegung" wichtige Ausführungen über die Gemeinbedürfnisse und Güterarten gebracht hat. deren Aufarbeitung noch heute lohnen dürfte. Vgl. Marshall, A.: Principles, a. a. 0., S. 87 ff. ; Wagner, A.: Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, a. a. 0., S. 12 ff. u. 252 ff. 102 Vgl. dazu Winterstein, H.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 32 ff. 103 Siehe zuerst Offe, C.: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Kress, G./Senghaas, D. (Hrsg.) Politikwissenschaft, Frankfurt 1972, S. 135 ff. Vgl. z.B. auch Krüger, J.: Soziale Ungleichheit, Sozialpolitik und Sozialwissenschaft, in: Krüger, J./Strasser, H. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik. Legitimation, Wirkung, Programmatik, Regensburg 1986, S. 13-40; Alber, J.: Der Sozialstaat, a.a.O., S. 126-158 (in Auseinandersetzung mit Offe, Wilensky, Lepsius und Popitz).

Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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Drittel-Gesellschaft" und "Zwei-Kulturen-Gesellschaft", die neue sozialund gesellschaftspolitische Aufgabenstellungen bewirken soll. 104 Wie immer dem sei: richtig ist auf alle Fälle die erhebliche Zunahme der mit modernen Hochleistungsgesellschaften schon aus technischen Gründen verbundenen vielfältigen Risiken für den einzelnen und zahlreiche gesellschaftliche Gruppen. Die in erster Linie gesellschaftspolitischen Risiken, aber die sozial Schwächsten erfahrungsgemäß oft genug doch besonders hart treffenden Defizite einer solchen Gesellschaft scheinen nach Ulrich Beck "organisierter Unverantwortlichkeit" zu entspringen. 105 Sie geben auf alle Fälle dem Weisserschen Begriff der .,sozialen Gefährdung" einen besonders aktuellen Bezug. Aus diesen und weiteren Gründen gibt es nach wie vor beträchtliche Größenordnungen relativer und absoluter Armut sowie immaterieller Verelendung. 106 Sie mögen, was Westeuropa betrifft, überraschen, weil sie im Zeichen der bald bevorstehenden Vollendung des EG-Binnenmarktes von vielen Menschen nicht für möglich gehalten werden. Gleichwohl gibt es sie, und sie haben nicht unbeträchtliche forschungspolitische Aktivitäten teilweise unter Beteiligung der Betroffenen - ausgelöst. 107 Auch die sich in 104 Vgl. u.a. Lompe, K.: Sozialstaat und Krise, Frankfurt/M. 1987, S. 290 ff.; Papcke, S.: Auf dem Weg in die Modeme. Tendenzen zunehmender Ungleichheit und Entsolidarisierung, in: Gewerksch. Monatsh., 39. Jg., 1988, S. 65-75; Huber, J.: Duale Sozialpolitik - Fremdversorgung und Eigenbeteiligung, in: Koslowski, P./ Kreuzer, Ph./Löw, R. (Hrsg.), Chancen und Grenzen des Sozialstaats, a. a. 0., S. 216-227; ders., Mondraketen gegen Mütterzentren, in: Die Zeit, Nr. 42 v. 14.10. 1988, s. 45. 105 Vgl. Beck, U.: Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt/M. 1986; ders., Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M. 1988. Siehe demgegenüber Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1979 ff.; ders., Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Frankfurt 1987. Trotz wachsender Subjektivität menschlicher Orientierung hält Jonas - ähnlich Schmoller und in vielem auch analog v. Hayek- an allgemeinen Prinzipien der Verantwortung und Verantwortbarkeit fest. 106 Siehe dazu z. B. Roth, J.: Annut in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1974; Neumann, L. F.!Schaper, K.: Die Sozia1ordnung, a.a.O., S. 64 u. 111 ff.; Bahlsen, W.!Nakielski, H.!Rössel, K.!Winkel, R.: Die neue Annut, Köln 1984; Lampe, K. (Hrsg.), Die Realität der neuen Annut, Regensburg 1987; ders., Sozialstaat, a. a. 0., S. 242 ff.; Alber, J.: Der Sozialstaat, a. a. 0., besond. S. 168198. 107 Zu den seit längerem eingeleiteten dynamischen ,,Aktionsforschungen" siehe z. B. Weaver, S. J. (ed.), Action, Action Research Projects. Short Descriptions involved in the second European Programme to Combat Poverty, Cologne 1987. Siehe auch Prim, R.: Aktionsforschung als Leitbild praxisverpflichteter Sozialwissenschaft, in: Neumann, L. F. (Hrsg.), Sozialforschung, a.a.O., S. 12 ff. Die Leitung der Forschungen des Zweiten - und inzwischen angelaufenen Dritten - Europäischen Programms obliegt dem oben erwähnten Otto Blume-Institut unter Leitung von Wilhelm Breuer. Zu den Grundlagen der Europäischen Sozialpolitik und den 9 Enge1hanlt

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

der Ära Michail Gorbatschows in den letzten Jahren anbahnende Annäherung zwischen westlichen Industrieländern marktwirtschaftlicher Prägung und lange Zeit kommunistisch orientierten Zentralverwaltungswirtschaften dürfte neue sozialpolitische Impulse hervorrufen. Verfasser sieht solche z. B. in der Möglichkeit zu künftig gemeinsamen Aktionen im Kampf gegen die Armut in der Welt, die im Zeichen der "Verwirklichung der Menschenrechte" nach der Helsinki-Deklaration geführt werden dürfte. Dabei werden vermutlich die westlichen Länder unter den teilnehmenden Staaten neben materiellen Beiträgen besonders die in ihnen prinzipiell eingeräumten individuellen Verfügungsrechte hervorheben und im Detail zu erfassen versuchen. Hingegen dürften die östlichen Staaten auch künftig ein Schwergewicht ihrer Bemühungen besonders auf kollektive Rechte und Versorgungsleistungen als Pluspunkt ihrer - zumindest in der DDR - weithin verwirklichten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" legen, in Zukunft allerdings wohl weniger auf die Sicherheit von Arbeitsplätzen. 108 Schließlich sei auf die Notwendigkeit ausgedehnter Lebenslageforschung im Bereich der heutigen Entwicklungsländer hingewiesen, die auch - aber nicht allein - aus Gründen der Beseitigung oder Abmilderung des NordSüd-Gef!illes unter den Staaten der Welt interessieren. Nach einem Wort von Willy Brandt bilden diese Länder das Terrain "der" großen sozialen Herausforderung unserer Zeit, vergleichbar der Brisanz der alten sozialen Frage im vorigen Jahrhundert. 109 6. Einige Armutsdaten aus unterschiedlichen Epochen und Ländern

Zur Illustrierung der vorstehenden Darlegungen über Lebenslageforschungen zur Erfassung von Armut und zur Überleitung auf den nachfolgenden Teil der Abhandlung seien jetzt einige konkrete Angaben über das Ausmaß verschiedenen Schritten ihrer Verwirklichung siehe z. B. Kleinhenz. G.: Leitbilder und Zielsysteme der Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaften, in: Sanmann, H. (Hrsg.), Leitbilder, a.a.O., S. 185-232: Elsner, W.: Die Sozialökonomische Lage und ihre Beeinflussung durch die Westeuropäische Integration, Berlin 1978; Berie, H.: Erfolg für den europäischen Sozialraum, in: Bundesarbeitsbl., 9/1988, S. 5 ff.; Ermer, P./Schulze, Th./Schulz-Nieswandt, F./Sesselmeier, W. (Hrsg.), Soziale Politik im EG-Binnenmarkt, Regensburg 1990. 108 Zu den angeschnittenen Fragen bis Ende der 80er Jahre kommunistischer Länder vgl. Lampert, H.: Sozialpolitik V: In der Deutschen Demokratischen Republik, in: HdWW, 7. Bd., 1977, S. 130 ff.; Winkler, G. (Hrsg.): Lexikon der Sozialpolitik, Berlin 1987, S. 134 f. u. 423 f. Zur Kritik der kommunistischen Sozialpolitik s. z.B. Leenen, W. R.: Zur Frage der Wachstumsorientierung der marxistisch-leninistischen Sozialpolitik in der DDR, Berlin 1977. 109 Vgl. Brandt, W. (Hrsg. u. Einltg.), Das Überleben sichern. Bericht der NordSüd-Kommission, Köln 1980, S. 11.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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und die Formen der Armut, bezogen auf unterschiedliche Zeitalter und Länder, gebracht. Dazu ist in grundsätzlicher Hinsicht zunächst festzustellen, daß Armut - wie immer sie definiert und bekämpft sein mag 110 - ein uraltes Phänomen ist. Die alte, "vorindustrielle Arrnut" 111 erreichte dabei ein so schrecklich großes und in ihrer Struktur so nachdrückliches und andauerndes Ausmaß, daß sie sich noch lange nach dem Einsetzen des Industriellen Zeitalters auswirkte - wie heute übrigens in Entwicklungsländern teilweise noch beobachtet werden kann. Die im 18. und 19. Jahrhundert entstehende soziale Frage kann nach Lampert von hier aus keineswegs allein als Wirkung des Industrialisierungsprozesses gesehen werden, auch wenn die Erste Industrielle Revolution "wirtschaftssystemspezifische Bedingungen" für neue, freilich trotz aller Schwere begrenztere Formen der Armut schuf. 112 Sodann ist ebenfalls in prinzipieller Hinsicht zu beachten, daß es Armut in offenen und versteckten Formen auch heutzutage selbst nach mehreren weiteren Industriellen Revolutionen - sie führten zur Einführung der Automation und der Elektronik - entgegen Johannes Frerichs Urteil noch immer als "Massenphänomen" gibt, und dies nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch im Wohlfahrtsstaat. 113 Bei verbreitetem Vorkommen - allein beispielsweise von Einkommensarmut im Alter dürfte es deshalb wenig Sinn machen, etwa mit Wilfrid Schreiber generalisierend davon auszugehen, "der" Arbeitnehmer sei nicht mehr "funktionell arm" und "Sozialpolitik alten Stils" sei völlig überholt. 114 Bezogen auf die Lebensverhältnisse in der europäischen Antike und zuvor in den alten Reichen Ägyptens bis Persiens hat North Armut und 110 Zu den ursprünglichen Zielen ihrer Bekämpfung s. Simmel, G.: Soziologie, a. a. 0. S. 348 ff. 111 Vgl. dazu Fischer, W.: Armut in der Geschichte, Göttingen 1982, u.a. im Anschluß an Abel, W.: Massenannut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg, Berlin 1974, der den vorindustriellen "Pauperismus" nachdrücklich betont; siehe besond. S. 302 ff. 11 2 Lampert, H.: Lehrbuch, a. a. 0., S. 26. 113 So Lampert, H.: Lehrbuch, a. a. 0., S. 284, im Anschluß an eine breit geführte Diskussion und im Unterschied zu Frerich, J.: Sozialpolitik, München, Berlin 1987, S. 424 ff. Aus der Literatur siehe etwa Geißler, H.: Die Neue Soziale Frage, Freiburg, Basel, Wien 1976; Klanberg, F.: Armut und ökonomische Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M., New York 1978; Scher/, H.: Absolute Armut a.a.O., S. 79-126; Hauser, R./Cremer-Schäfer, H./Nouvertne, U.: Armut, a.a.O., Blume, 0.: Sozialhilfe und Sozialhilfegesetz, in: HdWW, 6. Bd., 1981, S. 697 ff.; Hartmann, R. H.: Bedarfsannahmen der Sozialhilfe und tatsächliche Ausgaben- und Verbrauchsstrukturen der Hilfsempfänger - eine empirische Analyse -, Kölner Inaugurai-Diss. 1985. 114 Schreiber, W.: Sozialpolitik in einer freien Welt, Osnabrück 1961, S. 83 f. Eine ähnliche Position vertrat auch Herder-Domeich, Ph.: Von der ,,klassischen" Sozialpolitik, a. a. 0. Zur kritischen Würdigung der Schreibersehen Position siehe Engelhardt, W. W.: Alte und neue soziale Fragen, a. a. 0., S. 40 ff.

9•

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

"zunehmende Einkommensdifferentiale" zugleich bestätigt und transaktionskostentheoretisch gerechtfertigt. Zeitgenössische Beschreibungen würden in vielfältiger Weise speziell für das Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr., für Rhodos und für die ersten zwei Jahrhunderte des Römischen Reiches das "Vorhandensein blühender Wirtschaften" und das "höhere Lebenshaltungsniveau" erheblicher Teile der Bevölkerung belegen. "Natürlich gab es andere, zahlreiche Bevölkerungsgruppen, die kaum ihr Leben fristen konnten; aber deren Lebenshaltungsniveau wäre in der Jüngeren Steinzeit dasselbe gewesen. Um 550 v. Chr. tranken nur die Reichen Wein; um 200 v. Chr. war der Weinkonsum auch schon in untere Einkommensschichten vorgedrungen. Die Verwendung von Olivenöl breitete sich in ähnlicher Weise aus, und wir haben zeitgenössische Belege dafür, daß die Nahrung vielfältiger wurde und allmählich mehr Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse enthielt". Nach Ansicht des Autors ist sogar die weite Verbreitung der Sklaverei ein Zeichen dafür, daß "freie Arbeiter" über dem Existenzminimum lebten; "andernfalls hätte sich die Sklaverei als Institution gar nicht halten können". 115 Verlassen wir die Lebenslagen in den frühen Agrargesellschaften sowie bei den Jäger- und Sammlervölkern davor und wenden wir uns den Verhältnissen in der Industriegesellschaft heutiger westlicher Länder zu. 116 Nach M. G. Schmidt kann man für sie je nach Definition der "Armutslinie" zu dem Ergebnis kommen, daß in den europäischen Ländern zwischen 5% und 20% der Bevölkerung zu den Armen zählen, wobei die Unterschiede von Land zu Land freilich sehr erheblich sind. 117 Bernd Schulte hat sie in North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 114 f. Für die früheren kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas sind Angaben kaum bekannt. In Ungarn fristeten Mitte 1989 nach offiziellen Angaben mehrere hunderttausend Menschen eine Existenz an der Armutsgrenze, darunter 40 000 Arbeitslose. Vgl. Verfürth, H.: Ungarn 1989. Die schwierige Suche nach einer "sozialistischen Marktwirtschaft", in: Kölner Stadtanzeiger v. 23. 8. 1989, S. 4. Nach Prof. Jegiazarjan, Lomonossow-Universität Moskau, erhielten ebenfalls im Jahre 1989 in der Sowjetunion 40-50 Millionen Menschen weniger als 75 Rubel im Monat, bei einem Durchschnittslohn von 200 Rubel in der Industrie; zitiert nach Petzold, L.: "Gebt uns ruhig eure Probleme", Die Zeit, Nr. 43, v. 20. 10. 1989, S. 44. Der Dresdner Ökonomieprofessor Gielow schätzt, daß in der DDR bei einer Streichung der bislang erheblichen sozialpolitischen Subventionen des Staates von einem Tag auf den anderen 40% der Bevölkerung unter das Existenzminimum rutschen würden; vgl. Die Zeit, Nr. 48, v. 24. 11.1989, S. 26. 117 Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 197 f. Für die Bundesrepublik siehe die Angaben bei Alber, J.: Der Sozialstaat, a.a.O., S. 168 ff., die im wesentlichen die früheren Ergebnisse von Hauser, Cremer-Schäfer und Nouvertnc5 sowie von Helmut Hartmann wiedergeben und bestätigen. Nach neueren Schätzungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes war 1989 mindestens jeder 10. Bürger der Bundesrepublik Deutschland arm. Weit über 6 Millionen Menschen lebten "am unteren Rand unserer Gesellschaft"; zitiert nach Kölner Stadtanzeiger v. 10.11.1989. 115

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Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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einem internationalen Vergleich 1985 zusammenfassend wie folgt beschrieben: "Definiert man denjenigen als ,arm', der über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen nationalen Netto-Einkommens pro Kopf der Bevölkerung verfügt, dann sind in der gesamten EG etwa 10 Millionen (= rund 11,4%) Haushalte (= 30 Millionen Menschen) ann. Der Prozentsatz der Haushalte unter dieser Armutsschwelle (= unter 50% des Durchschnittseinkommens) ist in Irland (23,1 %) und Italien (21,8%) am größten, also dort, wo auch der Lebensstandard am niedrigsten ist. Unter den Ländern mit überdurchschnittlichem Lebensstandard liegt die Armutsquote in Dänemark (13,0%) und Frankreich (16,8%) über dem EG-Durchschnitt von 11,4%, während in Belgien (6,6%), der Bundesrepublik (6,6%) und den Niederlanden (4,8%) die Armutsquote weniger als halb so hoch wie im Durchschnitt der Gemeinschaft ist. Obwohl Großbritannien innerhalb der Gemeinschaft einen vergleichsweise niedrigen Lebensstandard hat, ist die Quote dort gleichfalls gering (6,3% ). Hier treten die Erfolge der sehr stark annuts(statt lohn-) orientierten britischen Sozialpolitik zutage" .118 Daß auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika - von der Sowjetunion als ihrem früheren weltpolitischen Gegenpart wegen Datenmangel zu schweigen - über ein großes Armutspotential verfügen, ist bekannt und in neuerer Zeit besonders durch die geschichtlich angelegte große Studie von Frances F. Piven und Richard A. Cloward belegt worden. 119 Zwar waren die USA das erste Land, das bereits um 1913 das Stadium des "Massenkonsums" im Sinne der Wirtschaftsstadientheorie Walt W. Rostows erreichte. Das Arbeitskräftepotential dieses Landes stieg in der Zeit zwischen 1900 und 1970 von 29 auf 80 Millionen Menschen. Die Zahl der Handarbeiter nahm dabei von 10 auf 29 Millionen, die der Angestellten von 5 auf 39 Millionen zu. 120 Aber die Armut hat auch unter den von der Demokratischen Partei gestellten Präsidenten der Vor- und Nachkriegszeit immer ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Mehr noch trifft dies zu für die Jahre der Präsidentschaft Ronald Reagans, obwohl dieser Präsident im Unterschied zu seinem Vorgänger die Zahl der Arbeitsplätze nicht unbeträchtlich steigern konnte. Nach der amtlichen "poverty line" zu urteilen, 118 Schulte, 8.: Politik der Armut. Internationale Perspektiven, in: Leibfried, St./ Tennstedt, F. (Hrsg.), Politik der Armut und die Spaltung des Sozialstaats, Frankfurt/M. 1985, S. 383-423, hier S. 389. Über die Verhältnisse in Großbritannien urteilt abweichend z.B. Wocker, H.: Die Briten und die nackte Not, in: Die Zeit v. 24. 7.1981, s. 45. 119 Vgl. Piven, F. F./Cloward, R. A.: Regulierung der Armut. Die Politik der öffentlichen Wohlfahrt (1971), aus dem Amerikanischen übersetzt von P. Tergeist, Frankfurt/M. 1977. Siehe auch Henkel, H. A.: Das wohlfahrtsstaatliche Paradoxon. Armutsbekämpfung in den USA und in Österreich, Göttingen 1981. 120 Vgl. dazu grundsätzlich Rostow, W. W.: Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen 1960, und konkret North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 181.

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

mußten nach den sehr wesentlichen Haushaltskürzungen der Mittel für Wohlfahrtszwecke in den ersten Jahren dieser Präsidentschaft bereits 1978 immerhin 24,5 Millionen OS-Amerikaner (= 11,4% der Gesamtbevölkerung) als arm bezeichnet werden. Nach Schätzungen von Heinrich A. Henkel dürfte sich die Zahl der im amtlichen Sinne Armen des Landes bis Ende 1981 auf 29 Millionen erhöht haben. 121 Die größte Armut ist aber in der Gegenwart zweifellos in den Entwicklungsländern zu verzeichnen. Dies gilt sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Beziehung mit ihren sich teilweise selbst verstärkenden Formen. "Alles trifft hier zusammen - Unterernährung, Analphabetismus, Krankheit, hohe Geburtenzahlen, Unterbeschäftigung und geringes Einkommen -, alles wirkt zusammen, um mögliche Auswege zu versperren" und sogenannte "Teufelskreise der Armut" zu erzeugen. 122 Dabei läßt sich "Unterentwicklung" nach dem Vorschlag des ehemaligen Weltbank-Präsidenten Robert McNamara bereits selbst als materielle und immaterielle Armut interpretieren: als ,,Zustand solch entwürdigender Lebensbedingungen wie Krankheit, Analphabetismus, Unterernährung und Verwahrlosung". Unterentwicklung bedeutet aber nach heute vorherrschender Ansicht nicht nur Mangel an lebensnotwendigen Gütern, sondern darüber hinaus unzureichende Befriedigung von menschlichen "Grundbedürfnissen". Zu solchen Bedürfnissen gehören neben Ernährung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Wohnung, Kleidung, neben Gesundheit und sozialer Sicherheit auch kulturelle Identität und Partizipation. 123 Wie viele Menschen genau oder wahrscheinlich es sind, die in der Dritten Welt unter Bedingungen der Armut leben, kann gegenwärtig niemand sagen. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzte die Zahl der absoluten Armen der 70er Jahre auf 700 Millionen. Spätere Schätzungen der Weltbank beliefen sich auf 800 Millionen 121 Henkel, H. A.: Führt Reagens ,,New Beginning" in den Sozialdarwinismus? In: Soz. Fortschr., Jg. 30, 1981, S. 285 ff. Siehe auch Windhoff-Heritier, A.: "Politik für die Bedürftigsten und ehrlichen Armen". Ziele und Folgen der Sparpolitik Reagans im Sozialsektor, in: Pol. Vierteljahresschr., 26. Bd., S. 107-128; Cometz., W.: Vorbild Amerika? Das Beschäftigungswunder in den Vereinigten Staaten hat einen hohen Preis, in: Die Zeit Nr. 49 v. 2.12.1988, S. 34. 122 So heißt es im Bericht der Nord-Süd-Kommission, hrsg. u. eingel. v. Brandt, W.: a.a.O., S. 66. Zum circulus vitiosus der Armut siehe früh z.B. Stucken, R.: Der ,Circulus vitiosus' der Armut in Entwicklungsländern, in: Besters, H./Boesch, E. E. (Hrsg.), Entwicklungspolitik, Berlin, Mainz 1966, S. 54-70; Bohnet, M. (Hrsg.), Das Nord-Süd-Problem, 2., bearb. Auf!., München 1971, S. SI; Knall, B.: EntwickJungstheorien, in: HdWW, 2. Bd., 1980, S. 430 f. 123 Vgl. dazu Noblen, D./Nuscheler, F. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Unterentwicklung und Entwicklung: Theorien - Strategien - Indikatoren, völlig überarb. u. erweit. 2. Auf!., Harnburg 1982, S. 25 ff. u. 60 ff. Siehe auch Büscher, H.: Handlungsorientierung, Bezugsgruppenerwartungen und Erkenntnisfortschritt in der Entwicklungstheorie, in: Kölner ZfSuS., 3 I. Jg., 1979, S. 40 ff.

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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Menschen. "Das bedeutet, daß fast 40% der Menschen im Süden nur eben überleben (... )". 124

ID. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte unter dem Einfluß von Sozialpolitik 1. Ein neuer umfassender Erklärungsversuch und seine Grenzen

In diesem Teil der Abhandlung versucht Verfasser einen ersten Einstieg und vorläufigen Umriß einer Entwicklungstheorie der Sozialpolitik, die den in I skizzierten Erkenntniszielen und Anforderungen entspricht und an die in II beschriebenen Analysen zur Lebenslage sozial schwacher oder gefahrdeter Personen anknüpft. Dabei ist der Leser zu allererst mit einigen sowohl historisch als auch theoretisch anspruchsvollen Ergebnissen neuer Institutionenforschung im Rahmen des New Institutional Approach (der Transaktionskostenökonomie) bekannt zu machen, um dann zu älteren theoretischen und historischen Ergebnissen der volkswirtschaftlichen Institutionenforschung zurückzukehren, denen hier nach wie vor beträchtliche Bedeutung beigemessen wird. Im Kern der nachfolgenden Darlegungen von Aussagen geht es um einen Erklärungsversuch der Bedeutung von Sozialpolitik in den einzelnen Phasen bzw. Stadien der industriezeitlichen Entwicklung, d. h. um eine Abschätzung der Relevanz der beibehaltenen vorindustriellen und der sich neu entwickelnden Politik zugunsten sozial schwacher Schichten und Einzelpersonen (siehe dazu Schema 5). Im Unterschied zu den älteren Stufentheorien werden dabei den einzelnen Phasen keine eindeutigen Zeitindices zugeordnet, 125 d. h. bestimmte Stadien, die in industriell hochentwickelten Ländern des Westens oder selbst des kommunistischen Ostens lange Vergangenheit sind, können sich in Entwicklungsländern unter Umständen erst gegenwärtig oder künftig ereignen. Es versteht sich im übrigen von selbst, daß im Laufe späterer Darlegungen aber auch auf Erkenntnisse durch Leistungen von Politikwissenschaftlern und Soziologen 124 Lt. Bericht der Nord-Süd-Kommission, hrsg. u. eingeleitet v. Brandt, W.: a. a. 0., S. 66. Zu den neueren Tendenzen siehe z. B. den Fünften Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung, März 1983; Nuscheler, F.: Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, völlig überarb. u. aktualis. Aufl., Bonn 1987, s. 29 ff. 125 Vgl. Haller, H.: Typus, a. a.O., S. 59 ff. Siehe auch v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a.a.O., besond. S. 47 f.; Rostow, W. W.: Stadien, a. a. O., S. 18 ff. Soweit die Verhältnisse eines Landes, z. B. Deutschlands, in Betracht gezogen werden, ist natürlich eine zeitliche Zuordnung erforderlich. Vgl. z.B. Henning, F.-W.: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, 6. Aufl., Paderbom/München/ Wien/Zürich 1984, S. 15 ff.

Massenkonsumstadien, Zweite Industrielle Revolution

-

..Postindustrielles" Zeitalter, Dritte Industrielle Revolution, Nachmodeme Gesellschaften

Soziale Sicherungspolitik des Staates als Ausgleichspolitik beginnt, betriebliche Sozialpolitik verstärkt, Genossenschafts- und Gewerkschaftspolitik, Gemeinnützige und soziale Wohnungspolitik, Sozialpolitik durch Tarifverträge beginnt

Reifestadien, intensive Phasen

-

,,Neue Soziale Fragen" aufgeworfen, aber auch Konsolidierung staatlicher Sozialpolitik und Renaissance von Selbsthilfelösungen, Sozialpolitik als .,Weltinnenpolitik" (R. v. Weizsäcker) zur Angleichung der Entwicklungsländer

Verstärkte Fortsetzung der Sozialen Schutz- und Sicherungspolitik (z.B. im Rahmen .,sozialer Marktwirtschaft"), z.T. beginnt auch Soziale Versorgungspolitik allgemeiner Art (z. B. in Schweden, Großbritannien), Trends zur Gesellschaftspolitik und Sozialen Ordnungspolitik, Abbautendenzen des Sozialstaats

Betriebliche Sozialpolitik patriarchalischer Art, programmatisch orientierte gemeinwirtschaftliche Lösungsansätze, Beginn staatlicher Schutzpolitik

Erste industriezeitliche Selbsthilfegruppen (Genossenschaften, Gewerkschaften), Verstärkung des privaten Wohlfahrtswesens und der staatlichen Armenpolitik

- Aufstiegsperioden

Anlaufperioden, Extensive Phasen

,,Alte Soziale Fragen" (im Grunde bereits vor dem Bauernkrieg entstanden) gewinnen Konturen, Sozialpolitik .,von unten" verstärkt sich, Sozialpolitik ..von oben" wird organisiert

lndustriezeitalter, Zweite Wirtschaftliche Revolution bzw. Erste Industrielle Revolution, Industriegesellschaften

-

Keine speziellen Lehren, aber literarische und philosophische Utopien, z. B. vom .,Garten Eden" und vom allumfassenden .,Staat", Antike und Mittelalterliche Philosopheme (z. B. vom gerechten Preis)

Gemeinwirtschaftliche (gemeinsame) neben individueller Selbsthilfe. Wohlfahrtswesen und erste Ansätze der Armenpolitik, Versorgungspolitik fllr Bevorrechtigte (Beamte u. a.), Bauernunruhen und erste Streiks

Jagd- und Landwirtschaftszeitalter, Erste Wirtschaftliche Revolution Traditionelle Gesellschaften

Verstärkte Bemühungen um Theorien der Sozialpolitik, auch als Antwort auf Herausforderungen der praktischen und theoretischen Wirtschaftspolitik und anderer Wirtschaftswissenschaften

Endgültige Konstituierung der Sozialpolitiklehre, teils eher sozialwissenschaftlich i.e.S. (Heimann, Preller, v. Neii-Breuning, Weisser, Achinger, u. a.) teils eher wirtschaftswissenschaftlieh ausgerichtet (Hicks, Kaldor, Liefmann-Keil, u. a.), verstärkt Entstehung von .,Gegenutopien"

Die Sozialpolitiklehre beginnt ,,als erwachsene Tochter der Nationalökonomie" (v. Wiese), aber mit stark sozialwissenschafdieher Ausrichtung, z. B. im .,Verein für Socialpolitik" (v. Schmoller, Wagner, Brentano u.a., kritisch z.B. M. Weber, Sombart) und in der ,,Fabian Society" (Webbs)

Noch keine speziellen Lehren, aber Bemühungen von Friihsozialisten, Spätklassikem, Marxisten u. a. (z. B. Owen, J. St. Mill, v. Thünen, Engels, Marx, Sismondi)

Seit der Renaissance, dem Humanismus und der Auflclärung •.Fortschriusutopien" (Morus, Campanella, Bacon u.a.)

Noch keine speziellen Lehren, aber verstärkte sozial gerichtete Bemühungen, z.B. im Rahmen christlicher und kameralistisch/merkantilistischer Lehren

Entwicklung der Sozialpolitiklehre

Entwicklung der Sozialpolitik/ Gesellschaftspolitik

Zeitalter, Perioden, Stadien der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung

Sche11Ul 5: Geschichte der Sozialpolitik und der Sozialpolitiklehre im Überblick

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Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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"erweiterter" Institutionentheorien (der am Anfang skizzierten Art) einzugehen sein wird, insbesondere bei Darlegung von Wirkungen bisheriger Sozial- und Wirtschaftspolitik beim Ausbau des Sozialstaats. Nach North ereigneten sich im Laufe der Menschheitsgeschichte "zwei große Brüche" in der Entwicklung des Verhältnisses von Bevölkerung und Subsistenzmitteln. Er nennt diese Brüche die "Erste" und die "Zweite Wirtschaftliche Revolution". Der erste dieser beiden Brüche bzw. Umstürze primär gekennzeichnet durch "Beschleunigungen der Innovationsraten" fand nach der begründeten Ansicht des Autors bereits ca. 8000 Jahre vor Christi Geburt statt. Er führte zur Seßhaftigkeit der lange Zeit vorher - vor etwa 2 bis 3 Millionen Jahren - im Evolutionsprozeß zuerst entstandenen Menschen durch Einführung der Landwirtschaft sowohl in Form des Landbaus als auch der Tierzucht. Die Zweite Wirtschaftliche Revolution ist nach North mit der nach seiner Lehrmeinung primär von Großbritannien (und Flandern) ausgehenden und vor etwa 250 Jahren begonnenen Ersten Industriellen Revolution identisch. 126 Dieser Umbruch ist sicherlich unter der zuletzt genannten Bezeichnung bekannter geworden. Sie deutet übrigens an, daß es noch weitere Industrielle Revolutionen gegeben hat: bis zur Gegenwart nach allgemeiner Auffassung noch zwei, um den Übergang von der Maschine zur Automation und von ihr zur Elektronik zu kennzeichnen. 127 Die Erste Industrielle Revolution hatte freilich entgegen Rostow und anderen Autoren zweifellos schon seit dem Hochmittelalter Vorläufer, etwa in Süddeutschland und Oberitalien, in deren Verläufen es auch bereits Arbeitskonflikte und Streikaktionen gab 128 • Sozialpolitisch und sozialpolitikwissenschaftlich besonders wichtig ist aber die weitere Feststellung von North, daß zwischen diesen Revolutionen bzw. Brüchen "Zeiten eines malthusianischen Bevölkerungsdrucks" lagen, d. h. Perioden einer trotz hemmender Faktoren - z. B. einer "negativen Sozialpolitik" (B. Seidel) - schnelleren Zunahme der Bevölkerung als des Wachstums der Nahrungsmittel. Ist dies alles seit langem zumindest im Grundsatz bekannt, so kann die transaktionstheoretisch geleitete SchlußfolVgl. North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 13 ff. Vgl. dazu z.B. Friedrichs, G. (Hrsg.), Automation und Technischer Fortschritt in Deutschland und in den USA, Frankfurt/M. 1962; Siegenthaler, H.: Industrielle Revolution, in: HdWW, 4. Bd., 1978, S. 142 ff.; Balkhausen, D.: Elektronik-Angst, 2. Auf!., Düsseldorf, Wien 1983. Jürgen Kuczynski unterscheidet gar vier technische Revolutionen, indem er die erste mit der Folge der "ursprünglichen Akkumulation" (K. Marx) bereits von 1540-1640 in Großbritannien durchgeführt sieht. Siehe dazu Marx, K./Engels, F.: Werke, Bd. 23, a.a.O., S. 741 ff., Kuczynski, J.: Vier Revolutionen der Produktivkräfte, Berlin 1975, S. 30. 128 Vgl. Seidel, B.: Sozialpolitik (I) Geschichte, in: HdSW. 9. Bd., 1956, S. 532. Zur Kritik des Ansatzes von North siehe Pollard, S.: Transaction Costs and Economic History, in: ZfgSt., 140 Bd., 1984, S. 18 f. l26

127

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Teil B: Eine Theorie der Sozialpolitik

gerung des Autors als teilweise neu gelten, daß diesem Druck "zuweilen durch physische bzw. soziale Reaktionen der Bevölkerung begegnet wurde, zu anderen Zeiten durch Veränderungen der Effizienz wirtschaftlicher Institutionen, die unmittelbar auf den Nahrungsmittelspielraum einwirkten" .129 Im Unterschied zu Karl Marx, aber auch völlig anders als in neuerer Zeit etwa bei Karl Polanyi oder Friedeich A. von Hayek werden die Effizienzveränderungen von North aber weder primär auf Produktivkräfteentwicklungen im Rahmen Technischen Fortschritts (wie bei Marx), noch auf letztlich außerwirtschaftliche Kulturfaktoren genossenschaftlicher bzw. kooperativer Gegenseitigkeitsförderung (wie bei Polanyi, in bewußter oder unbewußter Fortführung Schmollerscher Ansätze), noch auf die schrittweise Überwindung von Not durch ständig erneuerte Wissensproduktion und ,,Lernen durch Tun" (v. Hayek) 130 zurückgeführt. Entscheidend ist nach der von North und anderen Transaktionskostentheoretikern vertretenen Meinung vielmehr vorwiegend - und daher nach der in dieser Abhandlung vertretenen Position so nicht haltbar131 - die Entstehung produktionsorientierter wirtschaftlicher Institutionen und dabei besonders das Aufkommen von zwar zunächst gemeinschaftlich-gemeinsamen, später aber rein individuel129 North, D. C.: a.a.O., S. 15; vgl. auch ebd. S. 66 ff. u. 89 f.; Seidel, B.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 532. North knüpft offensichtlich an das klassische Werk von Malthus, R.: Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz (1798), in deutsch, 2 Bde., Jena 1924, an. Vgl. dazu und zum Neomalthusianismus z.B. Schumpeter, J. A.: Geschichte, a. a. 0., S. 322 ff. u. 1084 ff.; Blaug, M.: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie, Bd. 1, München 1971, S. 137 ff.; Bohnet, M. (Hrsg.), Das Nord-Süd-Problem, a. a. 0., S. 55 f. 130 Vgl. dazu u. a. Marx, K./Engels, F.: Werke, Bd. 20 u. 23-25, Berlin 1970171; Polanyi, K.: The Great Transformation, a. a. 0., besond. S. 65 ff.; ders., Reziprozität, Redistribution und Tausch, in: Schlicht, E. (Hrsg.): Einführung in die Verteilungstheorie, Reinbek 1976. S. 66-72; v. Hayek, F. A.: Individualismus und Wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach/Zürich 1952, S. 49 ff. u. 103 ff. 131 Zur kritischen Würdigung siehe die bereits im 1. Teil der Abhandlung genannte Literatur, insbesond. die Beiträge von Schneider, D.: Die Unhaltbarkeit, a.a.O.; Leipold, H.: Ordnungspolitische Implikationen, a.a.O. und mein eigener Rezensionsaufsatz (vgl. Fußn. 20 u. 136). Siehe ferner teils zustimmend, teils kritisch Borchardt, K.: Der Property Rights-Ansatz in der Wirtschaftsgeschichte - Zeichen für eine systematische Neuorientierung des Faches? In: Kocka, J. (Hrsg.), Theorien in der Praxis des Historikers, Sonderh. 3 v. Geschichte und Gesellschaft, Göttingen 1977, S. 140-160; Kaufmann, F.-X.: Wirtschaftssoziologie, a.a. O., S. 263; Backhaus, J./Nutziger, H. G. (Hrsg.), Eigentumsrechte und Partizipation, Frankfurt/M. 1982; Picot, A.: Transaktionskostenansatz in der Organisationstheorie: Stand der Diskussion und Aussagewert, in: DBW, 42. Jg., 1982, S. 267-284; Schneider, D.: Unternehmer und Unternehmung in der heutigen Wirtschaftstheorie und der deutschsprachigen Nationalökonomie der Spätklassik, in: Scherf, H. (Hrsg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie V, Berlin 1986, S. 29-79; Budäus, D./ Gerum, E./Zimmermann, G. (Hrsg.), Betriebswirtschaftslehre und Theorie der Verfügungsrechte, Wiesbaden 1988.

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len Eigentums- bzw. Verfügungsrechten. Einige der in diesem Zusammenhange zentralen Passagen des Northschen Werkes lauten: "Solange ( ... ) alle Naturschätze Gemeineigentum sind, werden verbesserte Techniken im weiteren Sinne (wie die Erfindung des Bogens in einer Welt von Jägern und Sammlern) nichts weiter als eine raschere Erschöpfung des vorhandenen Subsistenzmittelbestandes bewirken". Erst. "die Entwicklung exklusiver Gemeinschaftseigentumsrechte" während der Ersten Wirtschaftlichen Revolution "führte zu vermehrter Spezialisierung und Arbeitsteilung und der Entstehung einer besonderen Ordnungsform, nämlich des Staates, innerhalb welcher die Eigentumsrechte spezifiziert, durchgesetzt und zugesprochen werden konnten". Die Zweite Wirtschaftliche Revolution brachte dann den endgültigen Durchbruch individueller Eigentumsrechte; ein Prozeß, der starker Bevölkerungsvermehrung folgte und freilich bereits bei den entwickeltsten Staaten der Antike einsetzte. "Wenn Wanderung und Kolonisierung eine Auswirkung von bzw. Reaktion auf das Bevölkerungswachstum waren, so waren andere die Entwicklung exklusiver individueller Eigentumsrechte und der Kampf um die Aufteilung von Grund und Boden". 132 Unter "wirtschaftlichen (auch "politisch-wirtschaftlichen") Institutionen" versteht North hauptsächlich gebündelte leistungsbestimmende Strukturmerkmale der entstehenden Gesellschaftsformen. Sie werden von ihm als sich wandelnde Systeme von Regeln, als Zustimmungsverfahren oder als moralisch-ethische Verhaltensnormen umschrieben. Sie kulminieren in zahlreichen Verfassungs- und Eigentumsrechten, die der im Laufe der Entwicklung sich herausbildende "Staat" wirksam konstituiert. 133 Die Rechte der letzteren Art werden in der Hauptsache als entweder von staatlichen oder von privaten "Prinzipalen" und deren "Agenten" wahrgenommene Verfügungsrechte definiert, was auf eine Vernachlässigung zumindest bestimmter genossenschaftlicher Varianten hinausläuft. Dem steht nicht entgegen, daß sie sich grundsätzlich sowohl in Prinzipien des Wettbewerbs als auch in solchen der Kooperation manifestieren, wobei die ersteren im Laufe der Geschichte zweifellos wachsende Bedeutung gewinnen. Zu dem schon in der Frühzeit der Menschheit bekannten "persönlichen Tausch" tritt so später der unpersönliche "Tausch auf Märkten" hinzu. Vor allem aber ergibt sich unter dem Einfluß von Arbeitsteilung und Spezialisierung die Entste132

North, D. C.: Theorie, a. a.O., S. 65 f. u. 114. Vgl. auch ebd. S. 62 ff., 110 f.

u. 167 ff.

133 Vgl. North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 7 f., 21 ff., 207 u. 213 ff. Zu einer mehr theoretisch-entscheidungslogischen Behandlung dieser und angrenzender (staatlicher) Institutionenfragen siehe einführend z. 8 . Buchanan, J. M./Tul/ock, M: Eine allgemeine ökonomische Theorie der Verfassung, in: Widmaier, H. P. (Hrsg.): Politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. 1974, S. 67-87; Eschenburg, R.: Der ökonomische Ansatz zu einer Theorie der Verfassung, Tübingen 1977; Schenk, K.-E. (Hrsg.), Ökonomische Verfügungsrechte, a. a. 0.

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hung von "Unternehmen", durch die mannigfache Transaktionskosten entscheidend gesenkt werden konnten. Institutionen im Sinne des von North bejahten Begriffs finden ihren Niederschlag aber auch in den eingangs dieser Abhandlung (in I. 3.) erwähnten Ideologien und - späteren - Gegenideologien, die gleichfalls zur Senkung von Transaktionskosten wesentlich beitragen können und deshalb ökonomisch bejaht werden bzw. bejaht wurden. Mit Hilfe all dieser Institutionen, vor allem aber gestützt auf die individuellen Eigentumsrechte, gelang es nach dieser Theorie - um es zu wiederholen -, wiederkehrende historische Zeiten des Bevölkerungsdrucks nicht nur durch positive Einwirkungen auf den Nahrungsmittelspielraum zu meistem, sondern darüber hinaus einen insgesamt steigenden Wohlstand zu erzeugen. Zumindest langfristig gesehen und Rückschläge nicht gerechnet sei dies der Fall, wie nicht zuletzt das "beispiellos hohe Lebenshaltungsniveau der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts" zeige. 134 Von dieser - zweifellos vorhandenen - Leistung und Leistungsfähigkeit ökonomischer Institutionen der gekennzeichneten Art strahlt die nunmehr für unsere Zwecke ausreichend skizzierte Theorie den Optimismus aus, auch die Armut und das heutige starke Bevölkerungswachstum in den Ländern der Dritten Welt schließlich von den gleichen Institutionen und einer entsprechenden Wirtschaftspolitik der Förderung individueller Eigentumsrechte aus bewältigen zu können. Einer positiven Sozialpolitik bedarf es dazu - trotz des eingangs erwähnten Verständnisses von North insbesondere für einige sozial eingestellte Pioniere des religiösen Bereichs und ungeachtet seiner grundsätzlichen Einbeziehung von Gegenideologien (die ja nicht selten aus Anlaß der Entstehung sozialer Probleme der Verteilung entstehen und zu abweichenden Sichten der "Wirklichkeit" führen 135) -offensichtlich nicht. Falls diese Folgerung zutreffend ist, d. h. allein auf ein möglichst effizientes Produktionskonzept vertraut wird, ist es jedoch weder für den praktischen noch für den theoretischen Sozialpolitiker akzeptierbar, und es wird auch den institutionellen Möglichkeiten des eigenen Ansatzes nicht voll gerecht. Es ist schlicht eine historische Tatsache, daß es seit langer Zeit Sozialpolitik gibt, die - teilweise auf Gegenideologien gestützt - gewirkt hat, wobei diese Wirkung freilich im Detail noch erklärungsbedürftig ist. Und es ist eine weitere Tatsache, daß auch nichtindividuelle Verfügungsrechte historisch lange Zeit wirksam ausgeübt wurden und z. B. im Zusammenhang mit genossenschaftlicher Partizipation, Mitbestimmungslösungen oder öffentlicher Unternehmensführung effektiv rekonstruiert oder gar neu entworfen werden können. 136 Vgl. North, D. C.: Theorie, a. a. 0 ., S. 7 f., 21 ff., 207 u. 213 ff. Vgl. North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 52 ff., 124 f. u. 203 f. 136 Siehe dazu noch einmal Hettlage, R.: Genossenschaftstheorie, a. a. 0.; Backhaus, J./Nutzinger, H. G.: Eigentumsrechte, a.a.O., Vgl. außerdem Fürstenberg, F.: 134 135

Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik

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North folgt trotz seiner transaktionskostentheoretischen Neuerungen in seiner Außerachtlassung sozialpolitischer und genossenschaftlicher Handlungsströme der Geschichte im Grunde einer seit langem vorhandenen Linie von ,,Modemisierungstheorien", wie sie z.B. schon für Rostows Stadientheorie des wirtschaftlichen Wachstums kennzeichnend ist. Obwohl Rostows Theorie sich als Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie versteht, hat sie im Unterschied zu den Entwicklungsaussagen mindestens eines Teils der marxistischen Politischen Ökonomie fast ausschließlich auf Fortschritte im Produktionsbereich gesetzt und vertraut. 137 Wer aber die geschichtliche Entwicklung möglichst vollständig erklären will, darf neben dem Rückgriff auf die von Maltbus hervorgehobenen ,,repressiven" Faktoren und die "präventiven" Faktoren einer negativen Sozialpolitik - wie Kriege und Hungersnöte einerseits, moralisch-pädagogisch geleitete Enthaltung von Zeugungsvorgängen andererseits - auch die jeweilige positive Sozialpolitik nicht unberücksichtigt lassen. 138 Und neben den individuellen und individualistischen Interpretationen der Wirksamkeit vergangeuer Eigentumsrechte und zugehöriger Ideologien sind auch solche gemeinsamer bzw. kollektivistischer Art im Zusammenhang des Gemeinschafts- bzw. Genossenschaftseigentums der sich zahlreich ausbildenden Genossenschaften, genossenschaftsartigen und staatlichen Unternehmen sicherlich wichtig.139 Die "alten" Institutionalisten der Historischen Schulen der NationalProbleme der Mitgliederpartizipation auf verschiedenen genossenschaftlichen Entwicklungsstufen, in: Dülfer, E./Hamm, W. (Hrsg.): Die Genossenschaften zwischen Mitgliederpartizipation, Verbundbildung und Bürokratietendenz, Göttingen 1983, S. 104-116; Engelhardt, W. W.: Zur grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung im ,,zentrum für Kooperation und Partizipation" in: Arbeitskreis für Kooperation und Partizipation e. V. (Hrsg.), Das Zentrum für Kooperation und Partizipation, Baden-Baden 1987, S, 42 ff.; ders., Zu den Kooperations- und Gemeinwohlaspekten, a. a. 0.; ders., Der Beitrag der Theorie des institutionellen Wandels von D. C. North zu Theorien der öffentlichen Unternehmen und Genossenschaften. in: Friedrich, P. (Hrsg.), Beiträge zur Theorie öffentlicher Unternehmen, Baden-Baden 1992 s. 83-97. 137 Vgl. dazu Rostow, W. W.: Stadien, a.a.O., S. 33 ff. u. passim; Büscher, H.: Handlungsorientierung, a. a. 0., S. 30 ff. 138 Sie wurde und wird theoretisch teilweise unter dem Begriff "institutioneller Verteilungstheorie" aufgearbeitet. Außer Hofmann, W. (Bearb.) Einkommenstheorie, a.a.O., z.B. S. 267 ff. siehe schon Albert, H.: Macht und Zurechnung. Von der funktionellen zur institutionellen Verteilungstheorie (1955), in: Marktsoziologie, a.a.O., S. 429-461. 139 Vgl. dazu zwischen den beiden Weltkriegen besond. Vershofen, W.: Die Marktverbände, I. T., Nürnberg 1928; ders., Wirtschaft als Schicksal und Aufgabe (1930), Neudruck 1950. Zur Eigentumsdiskussion siehe auch Engelhardt, W. W.: Motivationsaktivierung und -steuerung bei Managern unter dem Einfluß alternativer Eigentumsformen in marktwirtschaftliehen und marktsozialistischen Ordnungen, in: Watrin, Chr. (Hrsg.), Information, Motivation und Entscheidung, Berlin 1973, besond. S. 205 ff.

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ökonomie sowie bedeutende Soziologen der ersten Generationen hatten im Rahmen ihrer sozialrechtlichen oder völkerkundlichen Ansätze dafür zweifellos viel Verständnis. 140 2. Zur Sozialpolitik in Traditionellen Gesellschaften

Betrachten wir nun die sozialen und ökonomischen Verhältnisse vor und nach Eintritt der Ersten Wirtschaftlichen Revolution - sie fand, um im Bilde von North zu bleiben, ca. 8000 Jahre vor Chr. Geburt statt - etwas genauer. Dabei wollen wir uns keineswegs allein auf diesen und andere neue bzw. erweiterte Institutionalisten stützen, sondern können auf vielfältiges politisch-ökonomisches, wirtschafts- und sozialgeschichtliches, soziologisches, völkerkundliches sowie rechtswissenschaftliches älteres Schrifttum verweisen. 141 Nicht zuletzt handelt es sich in jedem Falle um auch Sozialpolitik- und genossenschaftswissenschaftlich relevante Literatur, selbst wenn von eigenen Disziplinen dieser Art für die in Frage stehenden Zeiträume - sie erstrecken sich bis zum Beginn der Zweiten Wirtschaftlichen (oder Ersten Industriellen) Revolution vor etwa 250 Jahren, (letztere hat in manchen unterentwickelten Ländern allerdings noch kaum begonnen) natürlich noch nicht die Rede sein kann. Die ältesten und älteren Perioden der Menschheit - sie wurden früher zum Teil als .,wirtschaftlicher Urzustand" und als .,Wirtschaft der Naturvölker" umschrieben, denen dann im Entstehungsgang von Stadt- und Volkswirtschaften die ersten .,Kulturvölker des Altertums" folgten - sind zweifellos bereits sozialpolitisch und genossenschaftlich und damit auch sozialpolitik- und genossenschaftswissenschaftlich äußerst interessant. 142

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Siehe dazu das besonders v. Schmollerund Bücher hervorhebende Urteil von

Jahn, G.: Die historische Schule und ihr Ausklang, in: Stammer, 0./Thalheim, K. C. (Hrsg.), Festgabe für Friedrich Bülow, Berlin 1960, S. 139-150, hier S. 146 ff.

141 Es ist nicht zuletzt unter Utopieaspekten aufschlußreich, wie seit den Forschungen Alfred Dorens bekannt ist. Vgl. dazu Doren, A.: Wunschräume und Wunschzeiten (1924125), in: Neusüss, A.: Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied, Berlin 1968, S. 128 ff.; Jungk, R. (Hrsg.), Menschheitsträume, Düsseldorf 1969. Verfasser nimmt nicht für sich in Anspruch, das gesamte Schrifttum der angeführten Disziplinen zu kennen und ausgewertet zu haben; allerdings reicht sein Wissen nach eigener Einschätzung aus, die nachstehenden grundsätzlichen Zuordnungen vorzunehmen. 142 Vgl. etwa Bücher, K.: Die Entstehung der Volkwirtschaft I, 11. Aufl., Tübingen 1919, S. 3 ff., 41 ff. u. 85 ff.; v. Schrrwller, G.: Grundriß, I. T., a. a.O., S. 241 ff. u. 459 ff.; v. Zwiedineck-Südenhorst, 0.: Sozialpolitik, a.a.O., Faucherre, H.: Umrisse einer genossenschaftlichen Ideengeschichte, 1. T., Basel 1925; Faust, H.: Geschichte der Genossenschaftsbewegung, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1977; Engelhardt, W. W.: Allgemeine Ideengeschichte, a.a.O., S. 75 ff.

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Was speziell die Sozialpolitik betrifft, so stellte bereits v. ZwiedineckSüdenhorst fest, die Sozialpolitik sei "älter als die Vorstellung von der Notwendigkeit der Erhaltung der Gesellschaft für Kulturzwecke". Dieser Politikzweig knüpfe an eines der wichtigsten Grundprinzipien in der Entwicklung der Wirtschaft an: nämlich an das Prinzip der "Sozialisierung" im Sinne von Vergesellschaftung der Menschen. Sozialpolitik, die die Verwirklichung dieses Prinzips fördere, komme bereits bei den "natürlichen Genossenschaften" (Robert vorn Mohl) der Stämme, Rassen usw. vor; Gruppierungen, die ihre Bedeutung später fast vollständig eingebüßt haben. Aber auch dann, als im gesellschaftlichen Differenzierungsprozeß der Arbeitsteilung und dem Besitz sowie Einkommensunterschieden als Ursachen der Klassengegensätzlichkeit und treibenden Kräften der Entwicklung eine immer bedeutendere Rolle zuteil wurde - wie v. Schrnoller zu Recht betont habe - sei doch das Übereinstimmende unter den Menschen mindestens für einen Teil derselben dominant geblieben. "So sehr auch im Lebensprozeß der Individuen eine wechselseitige Anziehungskraft ungleichartiger Individuen zu beobachten ist, so ist im sozialen Leben eine Attraktionskraft der gleichartigen untereinander vorherrschend". 143 An genossenschaftlichen Strukturen der frühen Zeiten interessierte Volkswirte, Rechtshistoriker, Völkerkundler und Soziologen - wie neben Gustav von Schrnoller und Adolph Wagner z.B. Lujo von Brentano, Otto von Gierke, Ferdinand Tönnies, Alfred Vierkandt und nachfolgend Max Weber, Werner Sornbart, Wilhelrn Vershofen, Georg Weippert, Hans-Jürgen Seraphim u. v. a. - haben den Ursprung der Gesellschaft trotz der sicher relativ früh einsetzenden Individualisierungstendenzen gleich dem Politik- und Staatswissenschaftler v. Mohl in genossenschaftlichen bzw. genossenschaftsartigen Stammes- bzw. Sippen- und (Groß)farnilienstrukturen des Blutes begründet gesehen. In solchen Strukturen kamen im Rahmen von mehr oder weniger "geschlossenen Hauswirtschaften" und Hausgemeinschaften, die mindestens vorn Zeitpunkt der Seßhaftwerdung an realisiert wurden, neben wirtschaftlichen von Anfang an, auch soziale Aufgaben zur Geltung. In den Hauswirtschaften vollzog sich, wie Karl Bücher geschrieben hat, "der ganze Kreislauf der Wirtschaft von der Produktion bis zur Konsumtion". 144 Aber den mit ihr verbundenen Gruppen mit derern essentiellen Gemeinschaftsverständnis oblag eben auch die gesamte außerökono143 v. Zwiedineck-Südenhorst, 0 .: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 1 ff., 16 ff. u. 67. Trotz der Feststellung des Autors, daß die Sozialpolitik älter als die Vorstellung gesellschaftlicher Kulturzwecke sei, erstreckten sich seine eigenen Forschungen über frühe Zeiten fast ausschließlich auf die Kulturvölker der Antike; vgl. ebd. S. 67-78. Zur Position Schmollers siehe teilweise abweichend z. B. v. Schmoller, G.: Die soziale Frage, Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München, Leipzig 1918, besond. S. 149. Vgl. auch Simmel, G.: Uber soziale Differenzierung, Leipzig 1890; v. Wiese, L.: Einführung, a.a. O., S. 41 ff.

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mische Funktionserfüllung, bis hin zur Befriedigung religiös-kultischer Bedürfnisse. 145 Das Individuum, von dem die Physiokratie und besonders die Klassische Nationalökonomie als dem geschichtlich sofort und völlig souverän in Erscheinung tretenden Subjekt der Wirtschaft ausging, steht damit - wie v. Brentano richtig bemerkt hat - jedenfalls als vollendetes Wesen "nicht am Anfang, sondern (bestenfalls W. W. E.) am Ende der bisherigen Entwicklung", so früh der Emanzipierungsvorgang auch eingesetzt haben mag. 146 Die Menschen lebten lange Zeiträume hindurch mit einiger Wahrscheinlichkeit in produktivgenossenschaftsähnlichen Formen der "Arbeitsgenossenschaft", die unmittelbar aus den Gentilverbänden der Sippen und Stämme erwuchsen und in Form des "Artels" im alten Rußland und der ,,Zadruga" des Balkans selbst im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts noch auffindbar waren, von den Entwicklungsländern ganz abgesehen. Schmoller sieht ihre Bedeutung vor allem darin, daß sie die Teilnehmer in gemeinsamer Arbeit schulten, dabei aber noch keinen Übergang zur "Unternehmung" bildeten.147 In der Tat müssen sie wohl eher mit dem besonders frühen Stadium, wo für umherziehende ,,kleine Horden" und "fahrende Genossenschaften" noch keine volle Seßhaftigkeit erreicht war, als mit dem späteren Stadium des Übergangs zu fest strukturierten familiären Hauswirtschaften und den daraus - nochmals später - schrittweise erwachsenden Unternehmen in Verbindung gebracht werden. Die frühen Menschen lebten lange Zeit sicherlich ständig auf dem Sprunge, sich räumlich zu verändern. Sie mußten - wie North zutreffend bemerkt - immer bereit sein, weiterzuziehen, war das Nahrungsmittelangebot am jeweiligen Standort zusammengeschmolzen. Kleine Kinder und kranke alte Leute wurden dabei vielfach als Last empfunden und entsprechend "darwinistisch" behandelt, d. h. ausgesetzt oder zurückgelassen, was laut v. Hayek 144 Bücher, K.: Die Entstehung, a.a. O., S. 92. Vgl. auch v. Schmoller, G.: Grundriß, I. T., a. a. 0., S. 464 ff. Zu einer teilweise kritischen Position gegenüber Bücher und anderen Autoren siehe Brunner, 0.: Das "ganze Haus" und die alteuropäische "Ökonomik", in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte (1956), 3. Aufl., Göttingen 1980, S. 103-127, hier S. 121 ff. 145 Vgl. z.B. Tönnies, F.: Gemeinschaft und Gesellschaft, Nachdruck d. 8. Aufl., Darmstadt 1963; Vershofen, W.: Wirtschaft, a. a. 0 ., S. 14 ff.; Weippert, G.: Zur Soziologie des Genossenschaftswesens, in: ZfgG., Bd. 7, 1957, S. 120 ff.; Engelhardt, W. W.: Allgemeine Ideengeschichte, a. a.O., S. 125 ff. 146 Brentano, L.: Konkrete Grundbedingungen, a. a.O., S. 98. Vgl. auch Back, J. M.: Genossenschaftsgeschichte, in: HdB, 3. Aufl., 1958, Sp. 2193 ff. 147 v. Schmal/er, G.: Grundriß, I. T., a. a.O., S. 463 f. Vgl. auch Aereboe, F.: Allgemeine landwirtschaftliche Betriebslehre, 6. Aufl., Berlin 1923, S. 69 ff. u. besond. S. 79. Zur Bedeutung solcher Genossenschaften in den Entwicklungsländern der Nachkriegszeit s. z. B. Michalski, K.-J.: Landwirtschaftliche Genossenschaften in afro-asiatischen Entwicklungsländern, 2. Aufl., Berlin 1974, S. 13 ff.

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unter den Bedingungen der Moral kleiner Gruppen - in der jüngeren Vergangenheit etwa noch der Eskimos - durchaus richtig sein konnte. 148 Wurde das Nahrungsmittelangebot in einem bis dahin gegebenen Lebensraum völlig unzureichend, kam es zur Teilung der Horden bzw. Sippen und zum Weiterzug in neue Lebensräume; ein Vorgang, den Anthropologen als solchen des "offenen Spenders" bezeichnet haben. "In ökonomischer Sprache ausgedrückt war es eine Welt mit konstanten Skalenerträgen für ein wachsendes Arbeitskräfteangebot, so daß ein Bevölkerungswachstum eine proportionale Produktionssteigerung im Gefolge hatte. Diese Welt konstanter Skalenerträge hielt sich, solange unberührtes Land gleicher Ergiebigkeit vorhanden war, das eine wachsende Bevölkerung bewirtschaften konnte." 149 Solange solches Land in ausreichender Menge und Qualität vorhanden war, brauchte nach Ansieht des gleichen Autors niemand den Versuch zu unternehmen, ein "exklusives" - Dritte ausschließendes - Eigentum an Boden sowie an Pflanzen und Tieren zu begründen. Es fehlte, mit anderen Worten, die (für die Theorie der Verfügungsrechte und auch die Transaktionskosten-Ökonomie) zentrale, durch Knappheit bedingte ökonomische Notwendigkeit, von einem Gemeineigentum schlechthin bzw. freiem Land zunächst zu einem genossenschaftlichen Gemein- bzw. Gruppeneigentum und später zum mehr oder weniger uneingeschränkten Privateigentum an Produktionsmitteln überzugehen. Unter diesen Bedingungen ließ zunächst auch die Entstehung des "Staates" noch auf sich warten. Sie setzte erst ein (bekanntlich in den antiken Hochkulturen Mesopotamiens, in Ägypten, Persien, dem alten Israel, den griechischen Stadtstaaten, Rhodos, Rom als Republik und Kaiserreich usw.), als die Entwicklung einer Organisation bedurfte, "die einen komparativen Vorteil der Gewaltanwendung hat (...), 148 v. Hayek, F. A.: Die Illusion, a. a. 0., S. 45. Nach der vom Verfasser für problematisch gehaltenen Ansicht des Autors erfordert zumindest "der Übergang von der Kleinen Gruppe zur Großen oder Offenen Gesellschaft (... ) eine Einschränkung des Bereichs der Pflichten. die wir allen anderen schulden". "Gegenüber dem persönlich bekannten Mitglied der eigenen (kleinen, W. W. E.) Gruppe mag es sehr wohl eine anerkannte Pflicht gewesen sein, es zu unterstützen" - v. Hayek spricht an dieser Stelle sogar von einer Art "moralischem Sozialismus", der in der Kleingruppe möglich sei und einen tief verwurzelten Instinkt befriedige. Für die Großgruppe der marktwirtschaftlich orientierten Industriegesellschaft lehnt er demgegenüber nicht nur den Ausdruck "soziale Gerechtigkeit" ab, sondern problematisiert sogar die Begriffe "sozialer Rechtsstaat" und "soziale Marktwirtschaft". Vgl. v. Hayek, F. A.: Die Illusion, a.a.O., S. 113 u. 123 ff. 149 North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 89 f. Die Bedingung unberührten Landes traf im vorigen und dem jetzt zu Ende gegangenen Jahrhundert bekanntlich noch auf Teile der USA und Australien zu. Zu den Bevölkerungsaspekten siehe auch Mackenroth, G.: Bevölkerungslehre, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1953, besond. s. 357 ff. u. 421 ff.

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Eigentumsrechte zu spezifizieren und durchzusetzen". 150 Nachdem Eigentumsrechte so einmal entstanden und gesichert waren - darunter lange Zeit und abgeschwächt bis heute auch staatliche - kam es nach diesen Theorien insonderheit durch neue Formen der Arbeitsteilung (die neben die zunächst bekannten der Geschlechter, der persönlichen Fähigkeiten und der durch unterschiedliche geographische Lagen hervorgerufenen traten) und durch zusätzlich entstehende Institutionen in Gestalt von "Ideologien" (die kostensparend möglicherweise von den Standortverschiedenheiten und ersten beruflichen Spezialisierungen ihren Ausgang nahmen und erstmalig auch unterschiedliche Erfahrungen und im Überbau darauf gründende divergierende weltanschauliche Deutungen der "Wirklichkeit" zur Folge hatten) 151 zur Schaffung erhebliche Zeitspannen anhaltenden "Wirtschaftswachstums". Unter einem solchen Wachstum ist eine Steigerung der Produktion zu verstehen, die laut North "rascher als das Bevölkerungswachstum ist" und erstmals für die Zeit zwischen den Anfängen des Ackerbaus im 8. Jahrtausend vor Chr. und der "Pax Romana" der beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderte anzunehmen ist. 152 Soviel Zutreffendes in solchen Aussagen einer kombiniert wirtschaftstheoretisch-wirtschaftsgeschichtlichen Argumentation zweifellos enthalten ist, so überzeugt doch nicht die primär wirtschaftliche, hingegen soziale und politische Bestimmungsgründe der Entwicklung weitgehend ausklammemde Betrachtungsweise. Verfasser verweist an dieser Stelle auf in dieser Abhandlung früher bereits Gesagtes, fügt aber jetzt noch einige Argumente hinzu, die nochmals auf Schmoller, vor allem aber auf Alfred Vierkandt, die ältere und neuere Gemeinwirtschaftstheorie und ganz besonders auf Karl Polanyi zurückverweisen. Während v. Schmoller die wirkenden Kräfte der Wirtschaftsgeschichte generell nicht in der Wirtschaft selbst sah, "sondern in der politischen Organisation des Volkes, in der sich das Wirtschafts150 North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 21. Zur Analyse der Entwicklungen vom Gemeingut zum Privateigentum siehe z. B. schon Wagner, A.: Grundlegung, Il. T., a.a.O. S. 409 ff. In neuester Zeit vgl. Backhaus, J. G.: Gemeineigentum: Eine Anmerkung, in: Backhaus, J. G./Nutzinger, H. 0. (Hrsg.): Eigentumsrechte, a. a. 0., S. 103 ff.; Meyer, W.: Entwicklung und Bedeutung des Property Rights-Ansatzes in der Nationalökonomie, in: Schüller, A. (Hrsg.), Property Rights, a. a.O., S. 1-44, hier S. 3 ff. 15 1 Vgl. North, D. C.: Theorie, a. a.O., S. 51 ff. u. 66 f. Die positive Ideologietheorie von North überzeugt mehr als die lange Zeit unter dem Einfluß von Theodor Geiger zu ausschließlich erkenntniskritisch geführte Diskussion von Ideologieaspekten. Siehe dazu z.B. Geiger, Th.: Ideologie und Wahrheit, Stuttgart, Wien 1953; ders., Demokratie ohne Dogma, München 1963; Albert, H./Topitsch, E. (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1979. 152 North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 21. Zu einer dynamischen Produktionstheorie siehe im Anschluß an Gunnar Myrdal u. a. auch Rostow, W. W.: Stadien, a. a. 0., S. 28 ff.

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leben abgespielt hat und durch die es geformt worden ist", 153 haben Vierkandt und andere völkerkundlich und anthropologisch versierte Soziologen für die im Augenblick interessierenden Zeiträume vor allem gesellschaftliche Determinanten als dominierend genannt. Sie haben von einer "genossenschaftlichen Gesellschaftsordnung" gesprochen, beruhend auf wesentlich gemeinwirtschaftliehen Verfügungsrechten sozialrechtlicher Natur und auf Ansätzen einer von unten her entwickelten Sozialpolitik negativer und positiver Art. 154 Nach Hermann Eiehier fand das vorhandene Gesamtrecht im Sinne eines Sozialrechts seinen sichtbarsten Ausdruck in der germanischbzw. deutschrechtlichen Allmende. .,In ihr spiegelt sich der Begriff des ,allen gemeinen Gutes' am klarsten und wirksamsten wider. Das wesentliche Merkmal der Allmende ist die enge Beziehung zur Gemeinde." 155 Nach Hans Ritschl handelte es sich um .,Gemeinwirtschaft im kleinen Kreise", die freilich essentielle- noch nicht (wie etwa ab dem 18. Jahrhundert) programmatisch gewollte - Gemeinwirtschaft war. Neben ihr gab es im Zuge der ersten großen Staatengründungen der Geschichte, z. B. in den alten ägyptischen Dynastien, bereits ausgedehnte ,,Zwangsgemeinwirtschaften" (A. Wagner), mit durch Agenten ausgedehnt wahrgenommenen Instrumentalfunktionen zugunsten der Prinzipale. 156 Auch insgesamt gesehen lief die Entwicklung von den genossenschaftlichen zu den herrschaftlichen Gesellschafts- und Staatsordnungen und bei den verschiedenartigen ISJ So Jahn, G.: Die historische Schule, a.a.O., S. 146. Im Unterschied zu Schmoller glaubte Bücher die treibende Kraft der Entwicklung hingegen "in der immer rationeller werdenden Gliederung und Differenzierung der Wirtschaft (...) erblicken zu dürfen"; vgl. ebd. 154 Vierkandt, A.: Die Gesellschaftsform der Naturvölker, in: ders. HdWb. d. Soziologie (1931). Neudruck 1959, S. 191 ff. Zu weiterer, auch neuerer und den Ansatz kritisierender Literatur vgl. z.B. Thumwald, R.: Die Gestaltung der Wirtschaftsentwicklung aus ihren Anflingen heraus, in: Palyi, M. (Hrsg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, I. Bd., München, Leipzig 1923, S. 271-333, besond. S. 292 ff. u. 317 ff. ; Brunner, 0.: Land und Herrschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956. S. 135 ff.; Hettlage, R.: Genossenschaftstheorie, a. a. 0., besond. S. 35 ff.; Scheuch, E. K.: Gesellschaftlicher Wandel und Genossenschaften, in: Genossenschafts-Verband Rheinland E. V. (Hrsg.), Partnerschaft im Wandel der Zeit, Köln 1989, S. 129 ff. Iss Eichler, H.: Wandlungen des Eigentumsbegriffes in der deutschen Rechtsauffassung und Gesetzgebung, Weimar 1938, S.lOO f. Vgl. auch v. Gierke, 0.: Das deutsche Genossenschaftsrecht, l. Bd., Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft (1868), Nachdruck Darmstadt 1954, S. 60 ff. ; Marx, K.!Engels, F.: Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 315 ff.; Siepmann, H.: Brüder und Genossen, Köln 1987, s. 3 ff. u. 8 ff. IS6 Vgl. Wagner, A.: Grundlegung, I. T., 1. Hlbbd., a. a. 0., S. 83 ff.; Ritschl, H.: Gemeinwirtschaft, in: HdSW, 4. Bd., 1965, S. 334 f.; Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit, a.a.O., z.B. S. 72 f. u. 217 ff.; Engelhardt, W. W.: Genossenschaft, a. a. 0., S. 1 ff.

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Formen menschlicher Herrschaftsverhältnisse speziell über "Vermögen" vom Gemeingut und Gemeingenuß, über das Gemeingut und den Privatgenuß, zum Privatgut und Privatgenuß (F. C. v. Savigny). 157 Bis ins Hochmittelalter und den Merkantilismus bzw. Kameralismus hinein behielten jedoch in den damals in der Welt führend gewordenen, nördlicher gelegenen europäischen Gebieten und Ländern die viel früher entstandenen genossenschaftlich-sozialpolitischen Institutionen weiterhin Bedeutung, wenn nun auch im Laufe der Zeit neue Instrumente und neue Träger der Sozialpolitik hinzukommen sollten. Wie insbesondere Polanyi ausführlich gezeigt hat, beherrschten bis lange nach dem Beginn der "großen Transformation" im 16. Jahrhundert in Richtung der Zweiten Wirtschaftlichen Revolution kooperativ-genossenschaftliche und sozialpolitische Verhaltensprinzipien der "Haushaltung" - eben der Produktion ganz überwiegend für den Eigenbedarf der Haushaltsangehörigen -, der "Reziprozität" und daneben der "Restribution" mit Hilfe vorstaatlicher oder staatlicher Instanzen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Szene. "Diese Prinzipien waren mit Hilfe gesellschaftlicher Organisationen institutionalisiert, die sich inter alia auch die Formen der Symmetrie, der Zentrizität und der Autarkie zunutze machten" 158 • Jede Großraumwirtschaft - die es dabei etwa in Gestalt des Königreichs Harnmurabis in Babylonien (1792-1750 v. Chr.) oder noch früher der altägyptischen Reiche durchaus schon gab - wurde speziell mit Hilfe der Restribution, die das Geben von heute durch das Nehmen von morgen zu kompensieren versucht, in Gang gehalten. Auch die griechisch-römischen Staaten stellen im Lichte dieser Untersuchung, entgegen North' Meinung, trotz ihres teilweise bereits hochentwickelten 157 Vgl. dazu v. d. Gablentz, 0.: Einführung in die Politische Wissenschaft, Köln, Opladen 1965, S. 57 u. 65 ff.; Wagner, A.: Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, a. a. 0., S. 690 ff.; ders., Grundlegung, Il. T., a. a. 0., S. 8. Während Wagner vor dem Ende des 19. Jahrhunderts erwartete, "daß die weitere Ausdehnung des gemein- bzw. des zwangsgemeinwirtschaftliehen Systems (einschließlich seiner herrschaftlichen Züge, W. W. E.), z. T auch auf das Gebiet der materiellen Produktion, ein Mittel ist, um gewisse Übelstände einer absolut gefaßten wirtschaftlichen Freiheit des Individuums zu beseitigen", glaubte v. d. Gablentz ein halbes Jahrhundert später, "die pluralistische Gesellschaft ermöglicht wieder eine stärker genossenschaftliche Verfassung, wird sie vielleicht sogar erzwingen". Zu den Ausprägungen der mit der letzteren Sicht verwandten "solidaristischen" Orientierung von ständischen Berufsgenossenschaften vgl. nach der vorletzten Jahrhundertwende Pesch, H.: Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Bd., Freiburg/Br. 1913, S. 52 ff. u. 476-562, hier besond. S. 551 ff. Den Schritt des Solidarismus von der berufsständischen Ordnung zur sozialen Partnerschaft beleuchtet Anton Rauscher in seiner Abhandlung: Solidarismus, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus, a.a.O., S. 34~368, hier S. 361 ff. Vgl. auch Weitzig, J. K.: Gesellschaftsorientierte Unternehmenspolitik und Untemehmensverfassung, Berlin, New York 1979, s. 83 ff. 158 Polanyi, K.: The Great Transformation, a.a.O., S. 69 ff. u. besond. S. 79.

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Handels keinen Bruch dar 159. Das Redistributionsprinzip bewährte sich dabei sogar noch unter feudalherrschaftliehen Bedingungen, zumindest in solchen, in denen die ursprünglich homogene Gruppen bildende Bevölkerung in Herrscher und Beherrschte aufgespalten wurde. Schon für die frühmittelalterlichen deutschen Verhältnisse ist in diesem Zusammenhange mit A. Wagner aber zu konstatieren, daß unter mangelndem staatlichen Rechtsschutz die ursprüngliche bäuerliche Freiheit unabhängiger Genossenschaften des alten Deutschen Rechts zunehmend verfällt; "die Grundherrlichkeit wird das Grab der dorfgenossenschaftlichen Freiheit" (G. L. v. Maurer). 160 Polanyi und v. Schmoller sowie auch neuere Historiker haben die Trägerschaftsrolle des Staates in der Sozialpolitik vor Beginn der Zweiten Wirtschaftlichen Revolution, d. h. während des Merkantilismus (in Großbritannien, Frankreich usw.) und Kameralismus (in deutschen Ländern, Österreich usw.) gewürdigt. Die ,.Einfriedungen" von Gemeindeland (Allmende) in Großbritannien durch Grundherren, die die früher erwähnte ursprüngliche Akkumulation von Kapital ermöglichten und deshalb wirtschaftspolitisch vielfach positiv bewertet werden, sind nach der sozialkritischen Sicht Polanyis zutreffend ,.als eine Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet worden". Der Wesenskern der Industriellen Revolution besteht nach Polanyis Sicht in der "geradezu an ein Wunder grenzende(n) Verbesserung der Produktionsmittel, begleitet von einer katastrophalen Erschütterung des Lebens des einfachen Volkes". England überstand ,.das Unheil" dieser Maßnahmen "nur deshalb ohne schwerwiegende Schäden, weil die Tudors und die ersten Stuarts die Macht der Krone ausnutzten, um den Prozeß der wirtschaftlichen Weiterentwicklung zu verlangsamen, wobei sie die Macht der Zentralregierung einsetzten, um den Opfern der Transformation zu helfen". Der schließlich doch zur vollen Entfaltung gekommene Merkantilismus befreite - sei es in Großbritannien, sei es in Frankreich - zwar Handel und Gewerbe vom örtlichen und regionalen Partikularismus bzw. Egoismus der Zünfte, Gemeinden und Städte, die sich nur noch scheinbar für das Gemeinwohl einsetzten. Er erweiterte aber gleichzeitig unter wohlfahrtsstaatlicher Zielsetzung den sozialen Interventionismus. ,.Das wirtschaftliche System war in den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen eingebettet; die Märkte waren bloß ein zusätzlicher Faktor eines institutionellen Rahmens, 159 Vgl. Polanyi, K.: The Great Transformation, a.a.O., S. 75 ff. Siehe auch ders., The Livelihood of Man, ed. by Pearson, H. P., New York, San Francisco 1977, s. 47-74. 160 Vgl. Polanyi, K.: The Great Transformation, a. a. O., S. 75 f.; Wagner, A.: Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, a. a. 0., S. 670. In neuerer Zeit äußern sich zu diesen Fragen u. a. Bader, K. S.: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde, Weimar 1962; Kuczynski, J.: Geschichte des Alltags, l. Bd., a. a. 0., s. 246 ff.

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der mehr denn je von der gesellschaftlichen Macht kontrolliert und reguliert wurde". 161 Ähnlich wie auf diese Weise Polanyi die Verlangsamung des Veränderungsprozesses durch das britische Königtum als die wahre revolutionäre Tat der Zeit ansieht - "ihr Anliegen galt der allgemeinen Wohlfahrt, verklärt durch die Macht und Größe des Souveräns"; das Tempo der Veränderung ergebe erst "im Vergleich mit dem Tempo der Anpassung (der Bevölkerung W. W. E.) den Nettoeffekt der Veränderung'" 62 - hat v. Schmoller 1874 das "soziale Königtum" schon der frühen Herrscher Preußens gewürdigt und als Trumpfkarte auch für die damalige Gegenwart Deutschlands samt seiner Zukunft verstanden. Die "soziale Bewegung", die in Frankreich die Revolution von 1789 herbeiführte, sei in Deutschland nicht eingetreten. "Und daß sie nicht eingetreten ist, verdankt man in erster Linie dem preußischen Staate und der sozialen Politik seiner großen Könige, die ihr Vorbild zwar in anderen Staaten, wie z. B. in der Politik der englischen Tudors und der besten französischen Könige und Staatsmänner hatte, aber tiefer griff und mehr leistete, als jene Vorbilder." Sie habe sowohl den deutschen Bauernstand vor Vertreibung von seiner Scholle geschützt - von der Jahrtausende währenden genossenschaftlichen Vergangenheit ist hier nicht die Rede -, als auch durch erste Anfange der Fabrikgesetzgebung, Schulenund Häuserbau zur sozialen, erzieherischen und technischen Hebung der städtischen Bevölkerung entscheidend beigetragen. Auch künftig müsse sich "das König- und Beamtentum" als der berufenste Vertreter des Staatsgedankens an die Spitze weiterer Reformgesetzgebung stellen - wie es dann ja unter Bismarck vor allem auf dem Gebiet der Sozialen Sicherungspolitik auch tatsächlich geschah. 163 161 Polanyi, K.: The Great Transformation, a. a:O., S. 53 ff. u. 80 ff. Aorian Tennstedt hat die merkantilistische Wirtschaftsregulierungspolitik unter sozialpolitischen Aspekten weniger enthusiastisch gefeiert. Wohl anerkennt er "existenzsichemde Maßnahmen" des absolutistischen Staates. Sie waren aber nach seinen Worten in der Arbeitsförderungs- und Bevölkerungspolitik "versteckt", waren durch wohlfahrtspolizeiliche Maßnahmen komplettiert und bildeten außerhalb den für Notfalle zuständigen Heimatgemeinden noch keine ausdifferenzierte Sozialpolitik. Vgl. Tennstedt. F.: Sozialgeschichte, a. a. 0., S. 13-24. Zu einer vorrangig wirtschaftspolitischen Argumentation siehe auch Abel, W.: Massenarmut, a. a. 0., S. 226 ff. u. 238 ff. Hingegen siehe Henning, F.-W.: Das Raster, a.a.O., S. 116 ff. u. 123 ff. 162 Polanyi, K.: The Great Transformation, a. a. 0., S. 59. 163 v. Schmoller, G.: Die sociale Frage und der preussische Staat, a. a. O., S. 47 ff. u. 62 f. Daß durch Schmoller die sozialen Einstellungen und Leistungen der Hohenzollem damit erheblich überschätzt, die mit der französischen Revolution angebahnten sozialen Errungenschaften - wie sie etwa die vor 200 Jahren von der Pariser Nationalversammlung verkündeten Menschenrechte vorsahen - mit Sicherheit bei weitem unterschätzt worden sind, dürfte heute allerdings als erwiesen gelten können. Zu einer positiven Bewertung der "von oben" betriebenen Sozialpolitik des deutschen Kaiserreichs siehe allerdings Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 39.

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Unter den in jüngerer Zeit vorgelegten Arbeiten zur Sozialpolitik der vorindustriellen Zeitalter verdient die bereits erwähnte Arbeit von F.-W. Henning zur Entfaltung des sozialpolitischen Gedankenguts vor dem 19. Jahrhundert - genau genommen, speziell bezogen auf Deutschland, eines Zeitraums von etwa 1000 Jahren -sowohl unter Aspekten der Trägerschaft von Sozialpolitik in diesem Zeitraum als auch unter zahlreichen weiteren Gesichtspunkten besondere Beachtung. Wie Wilhelm Abel knüpft auch Friedrich-Wilhelm Henning an Befunde über die globale Entwicklung der wirtschaftlichen Situation einzelner Bevölkerungsgruppen, vor allem der Bauern bzw. Landwirte und anderer Teile der Landbevölkerung an, unter Verwendung von Lebenslagedaten besonders über agrarkrisenbedingte Notlagen. Die Sozialpolitik läßt sich nach seinem Verständnis "insoweit als Antwort auf die Herausforderung der jeweiligen Zeit verstehen. Qualität und Quantität der Antworten standen in Abhängigkeit vom rechtlichen Gestaltungsrahmen und -vermögen, aber auch von der Art und der Menge der materiellen Hilfsmittel". Gerade diese Grundlinien des Verhältnisses zwischen Notsachverhalten und dem allgemeinen Entwicklungsstand sowohl der Wirtschaft als auch des öffentlichen Lebens seien bislang nicht herausgearbeitet worden, weil die "Soziale Frage" zu ausschließlich als Problem des Industriezeitalters gesehen wurde. Unter den zahlreichen Trägem der Sozialpolitik der vorindustriellen Zeitalter mißt Henning neben der individuellen Selbst-Vorsorge 164 der privaten Wohltätigkeit, anderen fremdbestimmten Maßnahmen auf örtlicher Ebene (wie beruflichen Zusammenschlüssen genossenschaftlicher Art, Kirchengemeinden, Politischen Gemeinden, Städten, auch feudalherrschaftliehen Gewalten), der "eigentlichen", d. h. staatlichen Ebene der Sozialpolitik (landesherrliche Maßnahmen und Regelungen) zunächst nur eine begrenzte Wirksamkeit zu. Seit der Entstehung der städtischen Wirtschaft sei als "Grundraster" der praktischen Sozialpolitik anzusehen: "(1) Private und öffentliche Armenfürsorge und (2) genossenschaftliche Vorsorge ergänzten (3) Familie und Nachbarschaft". Erst mit der Verfeinerung der Verwaltungen im 15. Jahrhundert kam es zu einer erheblichen Ausdehnung systematisch angelegter Hilfsmaßnahmen. Der Staat begann sich nunmehr gegenüber den Ständen durchzusetzen und verschaffte sich damit Handlungsfreiheit zum sozialpolitischen Gestalten.

Zu den Auswirkungen der französischen Revolution von 1789 siehe Lampen, H.: Französische Revolution und sozialer Rechtsstaat. Über Ursachen und Wirkungen staatlicher Sozialpolitik, in: Krauß, H. (Hrsg.), Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1989, S. 105 ff. 164 Dieser Fall der "Selbstvorsorge" - Henning spricht auch von "selbstverwalteten Maßnahmen individueller Art" - wurde in der vorliegenden Abhandlung im allgemeinen den rein privaten Initiativen zugerechnet, die nach meinem Vorschlag noch nicht als "Sozialpolitik" bezeichnet werden sollten (vgl. I. 1.).

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"Damit entstanden die Voraussetzungen dafür, daß eine systematische Unterstützung in Notsituationen geregelt werden konnte". 165 3. Industriezeitliche Phasenentwicklung der Wirtschaft in Beziehung zur Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre

Im Sinne der oben im Anschluß an North und Rostow getroffenen Festlegungen (siehe dazu Schema 5) handelt es sich in diesem Abschnitt der Abhandlung um eine Gedankenskizze zur "Zweiten Wirtschaftlichen Revolution" der Weltgeschichte. Der Umbruch hat sich in unterschiedlichen Ländern in ihren einzelnen Phasen, die hier unterschieden werden sollen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten ereignet (bzw. ereignet sich gerade erst oder künftig), und er kann unter mehr technisch-technologischen Gesichtspunkten selbst wieder in mehrere "Industrielle Revolutionen" untergliedert werden. 166 Neben phasentheoretischen Feststellungen einerseits zur Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, andererseits zur Gesellschaft und Sozialpolitik bzw. Gesellschaftspolitik sollen wissenschaftsgeschichtliche- "meta"theoretische Zuordnungen zum Bereich der sich schrittweise entwickelnden Sozialpolitiklehre wenigstens gestreift werden. Auch zu den grundsätzlichen und aktuellen Auswirkungen der industriezeitlichen Sozialpolitik, sei sie vom Staat oder anderen getragen, ist in Kurzform und schematisiert einiges zu sagen. Das gleiche trifft zu für die Frage der Gegensteuerungsmöglichkeiten zu gegenwärtigen Trends, seien sie prinzipieller oder pragmatischer Art. Ein Blick auf "postindustrielle" Entwicklungstrends und künftig für möglich gehaltene Entwicklungen, die auch Deutschland betreffen, soll die Ausführungen beschließen. 165 Henning, F.-W.: Das Raster, a.a.O., S. 109-125, hier besond. S. 110, 114, 116 ff. u. 122 ff. Auch wenn der Autor abschließend betont, "daß keine unmittelbare Beziehung zwischen der besonderen Häufung von Unterstützungssachverhalten und der Weiterentwicklung der sozialpolitischen Regelungen und Maßnahmen nachzuweisen ist" (ebd. S. 125), vermeidet er nicht völlig den Eindruck, daß sich die Nöte der Zeit und die zu ihrer Beseitigung ergriffenen Maßnahmen entsprachen, was aber sicherlich nicht immer der Fall war (und nicht stets der Fall sein konnte). - Bei Prof. W. Schreiber entstanden zu Fragen der Sozialpolitik traditioneller Gesellschaften u. a. folgende Arbeiten: Pfeffer, M. E.: Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike, Berlin 1969; Fröhlich, S.: Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, Berlin 1976. 166 Neben der früher genannten Literatur wurden zu den Phasenerörterungen für ausgewählte Länder vor allem herangezogen Boettcher, E.: Phasentheorie der wirtschaftlichen Entwicklung, in: H. Jb. f. W. u. Gp., 4. Jahr, 1959, S. 23-34; Fürstenberg, F.: lndustriesoziologie, a.a. O., S. 98-116; Borchardt, K.: Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 1972. Vgl. auch Engelhardt, W. W.: Der Funktionswandel der Genossenschaften in industrialisierten Marktwirtschaften, Berlin 1971; ders., Sozialpolitik, a. a. 0 ., Sp. 1195 ff.

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Unter Gesichtspunkten der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre (und der ihnen unter verschiedenen Aspekten zuzuordnenden Kooperationen, samt deren wissenschaftlichen Erörterungen) empfiehlt es sich jetzt durchaus, an die allgemeine Diskussion über den Begriff bzw. das Schlagwort vom "Kapitalismus" anzuknüpfen. Gemeint ist dabei insbesondere die These von Eduard Heimann von der "Doppelstellung der Sozialpolitik als Fremdkörper und zugleich als Bestandteil im kapitalistischen System", 167 die den Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik und darüber hinaus beider zur Gesellschafts- und Kulturpolitik klar zum Ausdruck bringt, nicht zuletzt auch - laut M. G. Schmidt - sich sowohl gegen die marxistische Auffassung von der ausschließlichen Stützung des kapitalistischen Systems durch Sozialpolitik als auch gegen die liberale Position wendend, daß Sozialpolitik nichts anderes als ein systemfremdes Element im freien Spiel der Marktkräfte sei. 168 Aber es dürfte zugleich erforderlich sein, sich die Diskussionen der alten Institutionalisten und insbesondere die These von A. Wagner über die aus kulturellen und sozialen Gründen eintretende zunehmende Staatstätigkeit - werde sie nun "gemeinwirtschaftstheoretisch" oder "ordnungstheoretisch" interpretiert169 - in Erinnerung zu rufen, die oben neu erörtert worden ist (vgl. I. 4.). Bezogen auf beide Diskussionen und deren Hauptthesen hat M. G. Schmidt - einen Zusammenhang herstellend zu Recht gemeint, Heimanns These sei "etwas widersprüchlich und obendrein zu pointiert: denn die Sozialpolitik ist mehr als Konservieren und zugleich weniger als Revolutionieren. Sie veränderte jedoch" (was A. Wagner offensichtlich vorwegnahm) "den wirtschaftlichen und politischen Ablauf einer kapitalistischen Wirtschaftsmaschinerie nachhaltig. Sie machte aus dem Kapitalismus einen Wohlfahrtsstaat auf marktwirtschaftlicher 167 Heimann, E.: Soziale Theorie des Kapitalismus, a.a.O., S. 167-172, hier S. 168. Zum Folgenden siehe aber auch die Anfänge geschichtlich-theoretischer Sozialpolitiklehre bei Lorenz von Stein. Vgl. besonders v. Stein, L.: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), 3 Bde., Hildesheim 1959; Huber, E. R.: Lorenz von Stein und die Grundlegung der Sozialwissenschaften, in: Bollnow, H. u. a. (Hrsg.), Aspekte sozialer Wirklichkeit, Berlin 1958, S. 55-70; Böckenförde, E.-W.: Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Historisches Seminar der Universität Harnburg (Hrsg.), Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 248-277; Pankoke, E.: Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik, Stuttgart 1970. 168 Vgl. Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 209. Vgl. z.B. auch Seidel, B.: Sozialpolitik (1), a. a. 0., S. 533 f.; Hofmann, W. (u. a.): Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, 6., erweiterte Aufl., Berlin 1979; Ehling, M.: Theoretische Ansätze der Sozialpolitik, Frankfurt/M. 1982, besond. s. 23 ff. 169 Über das Verhältnis dieser beiden Theorien siehe neuerdings auch Engelhardt, W. W.: Zu gemeinwohlorientierten Aspekten einer Betriebswirtschaftslehre der Kooperative, in: ZögU, Bd. 12, 1989, S. 90-99, besond. S. 99.

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Grundlage. Damit gingen dramatische Veränderungen im Verhältnis von Ökonomie und Politik einher". 170 Da sich zwischenzeitlich über mehrere Jahrzehnte hinweg - im Grunde seit der mexikanischen Revolution von 1911 -jedoch auch nichtkapitalistische Systeme entwickelter kommunistischer Art mit spezifischen Beziehungen zwischen einer mehr oder weniger planwirtschaftliehen Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik in einem (dem Anspruch nach) "realsozialistischen Weltsystem" herausgebildet haben, die freilich nicht zum Wohlfahrtsstaat geführt haben, ist auf diese Entwicklungen immer zugleich einzugehen. 171 Auch andere wichtige Verklammerungen mit bereits vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnissen theoretischer Sozialpolitiklehre sind nach der hier vertretenen Lehrmeinung spätestens für alle historischen Teilperioden nach Beendigung der Traditionellen Gesellschaften erforderlich; bei der Getzt nicht beabsichtigten) detaillierten Darstellung der Phasen bzw. Stadien auch im einzelnen. Ich denke dabei besonders an ihre Verknüpfung mit den jeweiligen ,,Entstehungsbedingungen" und "Entwicklungsbedingungen" staatlicher, aber auch nichtstaatlicher Sozialpolitik in ihren einzelnen Zweigen und Bereichen, wie sie speziell für die staatliche Sozialpolitik wiederum besonders von Lampert im Anschluß an die Vorarbeiten zahlreicher Autoren konzipiert worden ist. 172 Erst eine solche Verknüpfung dürfte die vielfach zunächst eher statisch - "als gegeben" - denn als dynamisch zeitbezogen abgegrenzten Einzelbedingungen - handele es sich einerseits um Bedürfnisse, Bedarfe, institutionelle und finanzielle Voraussetzungen, andererseits um Problemlösungsdringlichkeiten, -fahigkeiten, -bereitschaften oder weitere Bedingungen 173 - historisch konkretisieren und damit detail170 Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 209. Vgl. auch v. Stein, L.: Geschichte der sozialen Bewegung, 3. Bd., a.a.O., S. 206 f.; Flora, P./Alber, J./Kohl, J.: Zur Entwicklung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, in: Pol. Vierteljahresschr., 18. Jgg., 1977, S. 707-772; Flora, P.: Krisenbewältigung oder Krisenerzeugung? Der Wohlfahrtsstaat in historischer Perspektive, in: Matthes, J. (Hrsg.), Sozialer Wandel, a. a.O., S. 82-127; Alber, J.: Der Sozialstaat, a.a.O., S. 68-77 u. S. 297. 171 Wie überzeugend besonders Lampert gezeigt hat. Vgl. dazu Lampert, H.l Schubert, F.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 130 ff.; Lampert, H.: Theorie und Praxis der Sozialpolitik in der DDR, Marburg 1989. Vgl. auch Leenen, W. R.: Zur Frage, a.a.O.; Molitor, B.: Sozialpolitik im Sozialismus, in: Wirtschaftsdienst, IX/1977, S. 571-574; Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 168-182. 172 Vgl. besond. Lampert, H.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 170 ff.; ders., Lehrbuch, a.a.O., S. 113-121; ders., Notwendigkeit, a.a.O. Unter den Vorgängerarbeiten dürften einerseits die Forschungen Achingers, v. Ferbers und insbesondere Widmaiers, andererseits Arbeiten Zöllners und speziell Wilenskys die Konzeption Lamperts erheblich beeinflußt haben. Siehe etwa Achinger, H.: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Harnburg 1958; v. Ferber, Chr.: Sozialpolitik, a. a. 0.; Widmaier, H. P.: Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976; Zöllner, D.: Öffentliche Sozialleistungen und wirtschaftliche Entwicklung, Berlin 1963; Wilensky, H. L.: The Welfare State, a. a. 0 .

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liert erklärende Aussagen allgemein- oder quasitheoretischer Art zulassen. Ist eine solche Verknüpfung von Phasenanalysen mit den Analysen von Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen erfolgt und damit der geschichtliche Hintergrund dieser Bedingungen genügend erhellt, so lassen sich - wie Larnpert es beschreibt - "Entwicklungsunterschiede der Sozialpolitik zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen und Veränderungen der Sozialpolitik innerhalb eines Systems durch unterschiedliche Kombinationen bestimmter qualitativer Ausprägungen dieser (... ) Determinanten und durch die Veränderungen des Gewichtes der Determinanten erklären". 174 Auch theoretische Analysen von "Wirkungen" und "Grenzen" der Sozialpolitik, die sich bekanntlich historisch oft genug geändert haben, 175 dürften auf diese Weise ihre Bezugsbasis gewinnen, für die sie allein als zutreffend bzw. wahr in Anspruch genommen werden können. Was nun die ersten beiden Phasen der Industriellen Revolution betrifft, so werden sie heute allgemein als "Anlaufphase" (industrielles "take off') und als extensive "Aufstiegsperiode" bezeichnet. Sie begannen in Großbritannien spätestens Mitte des 18. und im frühen 19. Jahrhundert, in Deutschland angeblich erst ab Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts. 176 In diesen Perioden wurden wesentliche politisch-gesellschaftliche, wissenschaftlich-technische und auch gerneinwirtschaftlich-infrastrukturelle ökono173 Insbesondere "sekundäre Determinanten" wie Grad der Gefährdung der für die Sozialpolitik relevanten Ziele, das einer Gesellschaft zugrundeliegende Wertesystem, das Problembewußtsein gesellschaftlicher Gruppen in bezug auf die Änderungsbedürftigkeit und Änderungsmöglichkeit, das Problembewußtsein der Träger der Politik; vgl. Lampen, H.: Notwendigkeit, a.a.O., Ein Teil dieser Bedingungen dürfte, obwohl als sekundär klassifiziert, sowohl von besonderer Wichtigkeit in historischer Hinsicht als auch in der Erfaßbarkeit besonders schwierig sein. 174 Zu diesem interessanten Vorschlag, der an Eucken, W.: Grundlagen der Nationalökonomie 6. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York 1965, u. an dessen Theorie und Geschichte verbindende "morphologische" Verfahrensweise erinnert, vgl. Lampen, H.: Notwendigkeit, a. a. 0 . Demgegenüber zieht Schmidt für internationale Analysen ein rein "vergleichendes" Verfahren vor, dem Eucken bekanntlich reserviert gegenüberstand. Vgl. Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 115 f.; siehe auch v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a. a. 0., S. 44 f. 17s Dies gilt sowohl bezüglich der "Grenzen von Aussagen" als auch hinsichtlich der "Grenzen" der Sozialpolitik selber. Zu ihrer Einschätzung siehe im Anschluß an frühere Autoren bereits v. Zwiedineck-Südenhorst, 0 .: Sozialpolitik, a.a.O., S. 133150. In neuerer Zeit vgl. z. B. Berie, H.: Stößt die staatliche Umverteilung an die Grenzen der Belastbarkeit mit Steuern und Beiträgen? In: v. Weizsäcker, C. Chr. (Hrsg.), Staat und Wirtschaft, Berlin 1979, S. 529-551. 176 Vgl. Mottek, H.: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 2, Berlin 1978, besond. S. 85 f.; Rostow, W. W.: Stadien, a.a.O., S. 20 ff. u. 33-53. Siehe auch Nonh, D. C.: Theorie, a.a. O., S. 163-204; Kaufmann, F. X.: Christentum, a.a.O., S. 70 ff. Henning widerspricht allerdings zu Recht sowohl Rostow als auch Mottek; vgl. Henning, F.-W.: Die Industrialisierung, a. a. 0., S. 35 ff. u. lll ff.

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mische Voraussetzungen für den Industrialisierungsprozeß geschaffen, und dieser setzte in ersten Schlüsselindustrien (Kohlebergbau, Eisen- und Schwerindustrie, Eisenbahnbau, Textilindustrie) ein. Dies ist die Zeit, in der erste gesellschaftliche Spannungen bei den am Industrialisierungsprozeß aktiv beteiligten oder von ihm betroffenen Schichten und Gruppierungen auftraten, die sich nach und nach zu offenen sozialen und politischen Konflikten auswuchsen und "soziale Fragen" ebenso entstehen ließen wie mit dem Ausdruck "Sozialismus" neue Ideologien 177 • So wie es schon in der Antike und besonders in den entwickelten griechischen Stadtstaaten zur Ausbildung literarischer Utopien gekommen war, die teilweise bereits von hohem philosophischen oder künstlerischem Niveau waren, 178 so ist auch jetzt die erste Reaktion auf derartige Entwicklungen latenten oder offenen Konflikts zunächst eine utopische. Noch vor der Entstehung neuer Ideologien, die mit der ,,kapitalistischen" und althergebrachten weiteren Konzeptionen zu konkurrieren anfangen, beginnt der "utopische", teilweise religiös gefärbte Sozialismus. 179 Um 1800 wurde in Großbritannien die im Mittelalter und noch während des Merkantilismus meistens verbindliche und aus christlicher Gesinnung heraus für die von ihnen Beschäftigten zunächst einmal nicht selten auch befolgte soziale Verantwortlichkeit der einzelnen Arbeitgeber - darunter privater Verleger und staatlicher Manufakturen - weithin aufgegeben. Als Sozialpolitik verblieben vorerst lediglich das private Wohlfahrtswesen (aus unterschiedlicher karitativer Motivation heraus) und Reste staatlicher Armenpolitik. Zur gleichen Zeit kam es jedoch hier durch den sowohl ökonomisch als auch sozial fortschrittlichen Unternehmer Robert Owen zu ersten programmatischen und auch verhaltensmäßigen Neuansätzen der Sozialpolitik, nun teilweise aus sektiererischer oder auch nichtreligiöser Gesinnung heraus. Sie wurden sowohl "von unten" aus vorgetragen- als betriebliche Sozialpolitik, genossenschaftlich-gemeinwirtschaftliche und gewerkschaftliche Selbsthilfe-, ab 1819 aber auch bereits "von oben" her als staatliche Arbeitsschutzpolitik (Arbeitszeitpolitik) initiiert. 180 Auch die Sozial117 Begonnen haben die sozialen Konflikte freilich bereits lange Zeit vorher und zwar in Großbritannien mit der "Freisetzung" von Bauern im Zuge der "ursprünglichen Akkumulation" von Kapital. Vgl. Marx, K./Engels, F.: Werke, Bd. 23, 1971, a. a. 0.; siehe auch Polanyi, K.: The Great Transformation, a. a. 0., S. 54 ff.; Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 120. 178 Wie vor allem Platons ,,Staat" zeigt. Die ganzheitlichen Züge dieser Utopie wurden freilich durch Popper zu Recht entlarvt; vgl. Popper, K. R.: Die offene Gesellschaft, a. a. 0., Bd. l, Der Zauber Platons. 179 Aus dem umfangreichen Schrifttum siehe z. B. Buber, M.: Pfade in Utopia, Heidelberg 1950; Vosskamp, W.: Thomas Moros' Utopia: Zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps, in: ders. (Hrsg.), Utopieforschung, a. a. 0., S. 183-

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politiklehre erhielt von Robert Owen seit seinem Schlüsselwerk "A New View of Society" (1813116), das weit über die utopische Vorphase von Thomas Morus und anderen Autoren hinausgeht, wesentliche Anstöße. Sie wurden über die sog. "Linksricardianer" zunächst nur von einigen Spätklassikern und den marxistischen "wissenschaftlichen" Sozialisten aufgenommen und weiterentwickelt. 181 Waren daran nicht zuletzt deutsche Autoren beteiligt, so knüpften die eigenen deutschen sozialpolitischen Entwicklungen in Praxis und Wissenschaft - sei es in Preußen, Sachsen oder anderen deutschen Ländern -, die den industriellen Fortschritt suchten, zunächst kaum an diese neuen britischen Erfahrungen und deren Verarbeitung an. 182 In den folgenden intensiven Phasen der Industrialisierung Großbritanniens und anderer Länder Westeuropas (sowie nach Aufholung des späteren Beginns auch der USA), die Rostow als ,,Entwicklung zur Reife" und "Zeitalter des Massenkonsums" bezeichnet hat, 183 treten andere Schlüsselindustrien (Werkzeugindustrie, Chemische Industrie, Elektroindustrie) sowie 180 Wobei Owen auf beide Richtungen entscheidend einwirkt. Außer der oben (in Absch. I) genannten Literatur von Elsässer siehe dazu auch Müller-Armack, A.: Religion und Wirtschaft, Stuttgart 1959, S. 235 ff.; Pollard, S./Sa1t, J. (ed.), Robert Owen. Prophet of the Poor, London 1971; Engelhardt, W. W.: Robert Owen und die sozialen Reformbestrebungen seit Beginn der Industrialisierung, Bonn 1972. North wird in seinem Werk der Rolle der Sozialpolitik bei der Durchsetzung neuer Normen und der Einführung veränderter Ordnungsformen, z. B. von Arbeitsgruppen, nicht gerecht. Vgl. North, D. C.: Theorie, a.a.O., S. 172 ff. u. 183 ff. 181 Siehe dazu u. a. Engelhardt, W. W.: Robert Owen als früher freiheitlicher Sozialist, in: Flohr, H./Lompe, K./Neumann, L. F. (Hrsg.), Freiheitlicher Sozialismus - Beiträge zu seinem heutigen Selbstverständnis, Hannover 1973, S. 3-20; ders.: Aspekte des Ausgleichs und der Relativität bei Johann Heinrich von Thünen, in: Jb. f. Sozialwiss., Bd. 37, 1986, S. 1-18; Hoftrumn, W. (u.a.): Ideengeschichte, a.a.O., S. 34 ff. u. 92 ff. Vgl. auch Ramm, Th. (Hrsg. u. Einltg.): Der Frühsozialismus, Stuttgart 1956, S. 185-218; Lampert, H.: John Stuart Mill im Lichte seiner Entwicklungstheorie, in: Jb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. 175, 1963, S. 301 ff.; Hoppe, M.: Die klassische und neoklassische Theorie der Genossenschaften, a. a. 0., S. 23 ff. 182 Dies gilt auch für Frankreich. Von den produktivgenossenschaftlichen Varianten Owens und anderer Frühsozialisten wurde in Deutschland durch Thünen eher "gegenutopisch" abgeraten. Vgl. Engelhardt, W. W.: Elemente des Utopischen im Lebenswerk J. H. von Thünens, in: Z. f. Agrargesch. u. Agrarsoz., Sonderh. Johann Heinrich von Thünen, hrsg. v. Franz, G., 1958, S. 292-320; ders., Robert Owen, a. a. 0., S. 19 ff. Zu den Ursachen und Triebkräften der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung in Deutschland s. z. B. Lampert, H.: Lehrbuch, a. a. 0., S. 26 ff. u. 43 ff.; Tennstedt, F.: Sozialgeschichte, a.a.O., Henning, F.-W.: Die Industrialisierung, a.a.O., z.B. S. 105 ff., ll3 u. 192 ff. 183 Vgl. Rostow, W. W.: Stadien, a. a.O., S. 78 ff. u. 94 ff. Henning spricht statt von Reifephase vom "Ausbau der Industrie", den er für Deutschland für die Jahre 1873-1914 ansetzt, während er laut Rostow von England bereits um 1850 erreicht wurde (Frankreich um 1910, Schweden um 1930, Japan um 1940 und Kanada um 1950). Siehe Henning, F. W.: Die Industrialisierung, a.a.O., S. 203 ff.

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zunehmend auch der Handel in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Geschehens. In der Sozialpolitik entstehen bei Fortdauer und teilweiser Intensivierung der bereits vorhandenen Arten bzw. Zweige völlig neue Arten, wobei sich der Schwerpunkt der Aktivitäten von dem bis dahin - in Anbetracht der hier entstandenen Selbsthilfepolitiken - führenden Großbritannien trotz zahlreicher sozialer Bewegungen und dem Wirken der Fabier184 nach und nach auf das Festland und hier besonders nach Deutschland verlagert. Dem Überangebot an Arbeitskräften in den extensiven Phasen, resultierend aus alten und neuen Freisetzungen und der großen Bevölkerungswelle des 19. Jahrhunderts, entsprechen auch hier neben fortgesetzten oder neu aufgenommenen Bemühungen um das Armen- bzw. Fürsorgewesen und die staatliche Arbeitsschutzpolitik besonders Bestrebungen zur Organisierung solidarischer, gegenseitiger Selbsthilfe im Rahmen von Genossenschaften und Gewerkschaften, die allerdings auch grundsätzlich eingegrenzt und als nichtkonservative oder nichtliberale Teilbewegungen behindert werden. 185 Völlig neu ist, daß in der Reifephase bei zunehmender Knappheit von Arbeitskräften und erhöhtem Kapitaleinsatz die soziale Sicherungspolitik sowohl vorrangig als in den jetzt entstehenden Sozialversicherungsformen auch finanzierbar wird, weshalb es von nun an zum schrittweisen Aufbau spezieller Sozialordnungen im Rahmen von Sozialbzw. Wohlfahrtstaaten kam. 186 Staatliche Politik beginnt jetzt als eigendy184 Vgl. dazu z.B. Brentano, L.: Die Arbeitergilden der Gegenwart, 2 Bde. Leipzig 1871/72; Webb-Potter, B.: Die britische Genossenschaftsbewegung, Leipzig 1893; Webb, S. u. B.: Theorie und Praxis der Englischen Gewerkvereine, 2 Bde., Stuttgart 1898; dies.: Die Geschichte des Britischen Trade Unionismus, Stuttgart 1906; dies.: Die genossenschaftliche Gemeinwirtschaft, Halberstadt 1924; Hofmann, W. (u. a.): Ideengeschichte, a.a. O.; Gretschmann, K.: Zum Verhältnis von einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Allokation und Distribution in der rationalistischen Gemeinwohlkonzeption der Fabier, in: Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 13, 1981, S. 142-162. Zur Bedeutung der Fabier in kritischer Perspektive siehe z. B. Wittig, P.: Der englische Weg zum Sozialismus, Berlin 1982. 18~ Alber spricht sogar von einer Sperrung der "Entwicklung wirksamer genossenschaftlicher Formen der kollektiven Daseinsvorsorge", was mir übertrieben erscheint; vgl. Alber, J.: Der Sozialstaat, a. a.O., S. 5. Aus der neueren Literatur siehe z. B. Eickhof, N.: Eine Theorie der Gewerkschaftsentwicklung, Tübingen 1973; Beier, G.: Gewerkschaften (I) Geschichte, in: HdWW, 3. Bd., 1981, S. 641-659; Engelhardt, W. W.: Genossenschaften (II) Geschichte, in: HdWW, 3. Bd., 1981, S. 557571; Kluthe, K.: Genossenschaften und Staat in Deutschland, Berlin 1985. In ganz Westeuropa spielte bei der Organisierung von Genossenschaften und Gewerkschaften im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert das Trittbrettfahrerproblem eine geringere Rolle als in den USA. Vgl. dazu Olson jr., M.: Die Logik kollektiven Handelns, Tübingen 1968; Engelhardt, W. W.: Zur Theorie der Gewerkschaftsentwicklung, in: WSI-Mitteilungen, 27. Jg., 1974, S. 495 ff.; North, D. C.: Theorie, a.a.O., s. 10 f. u. 59. 186 Aus der umfangreichen Literatur zur Geschichte der sozialen Sicherung siehe z. B. Rimlinger, G. V.: Sozialpolitik und wirtschaftliche Entwicklung, in: Braun, R./

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namische, ,.intervenierende Variable" (M. G. Schmidt) zu wirken, das Verhalten weiter Bevölkerungsschichten zu beeinflussen und bei der Schaffung wesentlicher Elemente einer .,Dritten Gesamtordnung" von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik die Politik von unten her auf den zweiten Platz zu verdrängen. Dabei übernahm Deutschland eine Vorreiterrolle in progressiver Sozialpolitik, zunächst nicht zuletzt aus dem Interesse der herrschenden Schichten am Fortbestand einer konservativen monarchistischen Gesellschaftspolitik. 187 Nach der dennoch 1918 erfolgten Gründung der Republik wurden die verschiedenen vorhandenen Politikzweige weiter ausgebaut. Es kamen u. a. hinzu die soziale Wohnungspolitik und vor allem die nunmehr im Gegenmachtkampf seitens der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie durchgesetzte ,.Sozialpolitik durch Tarifpolitik" (G. Himmelmann).188 In der Phase des Massenkonsums nach dem Zweiten Weltkriege verstärkte sich der bereits zuvor - auch während der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus - entstandene Trend, sozialpolitische Leistungen für alle Schichten und Einzelpersonen bereitzustellen. Ausgleichspolitiken unterschiedlicher Art (z. B. Eigentumspolitik bzw. Vermögenspolitik, Jugendhilfe, Altenhilfe) - die die alte .,Mittelstandspolitik" teils ergänzt, teils abgelöst haben - verfolgten gesellschaftspolitische Intentionen, ohne Armut und Gefährdungen völlig beseitigen zu können oder zu wollen! 89 Fischer, W./Großkreuz, H./Volkrnann, H. (Hrsg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution, Köln 1973, S. 113-126; Tennstedt, F.: Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung, Bonn o. J.; Zöllner, D.: Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Deutschland, Berlin 1981; Alber, J.: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt, New York 1982; Lampert, H.: Lehrbuch, a. a. 0., S. 65 ff. Zu den Gründen der Akzentverlagerung in der praktischen Sozialpolitik s. auch Boettcher, E.: Phasentheorie, a. a. 0., S. 28 ff.; Schröder, D. (u. a.): Wachstum und Gesellschaftspolitik, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971. 187 Siehe dazu ausführlich mit zahlreichen Belegen Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a. a. 0., passim u. besond. S. 32 ff. Vgl. auch Tennstedt, F.: Sozialgeschichte, a. a. 0., S. 135 ff.; Alber, J.: Der Sozialstaat, a. a. 0., S. 45 ff. Schmidt geht so weit, politische Determinanten als .,zumeist wichtigere Erklärungsgrößen" als die sozialökonomischen zu bezeichnen (ebd. S. 144), womit ihre Bedeutung allerdings überschätzt sein dürfte. Hingegen dürfte die politisch-bürokratische Eigendynamik des institutionalisierten Systems der sozialen Sicherung zutreffend erfaßt sein (ebd. s. 104 u. 146 f.). 188 Womit der Einfluß einer Sozialpolitik von unten her besonders in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, wieder zunimmt. Im einzelnen siehe besond. Lampen, H.: Lehrbuch, a. a. 0., S. 77 ff. u. passim; Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a. a. 0., S. 40 ff. u. 117 ff. Siehe ferner Himmelmann, G.: Lohnbildung durch Tarifverhandlungen, Berlin 1971; Brander, S.: Wohnungspolitik als Sozialpolitik, Berlin 1984; Engelhardt, W. W.: Öffentliche Bindung, a.a.O. 189 Vgl. aus dem zahlreichen Schrifttum z.B. Achinger, H.: Sozialpolitik, a.a.O.; v. Ferber, Chr.: Sozialpolitik, a. a. 0 .; Hartwich, H.-H.: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, Köln/Opladen 1970; Kleinhenz, G./Lampert, H.: Zwei Jahrzehnte Sozialpolitik in der BRD. Eine kritische Analyse, in: Ordo, Jgg. 1972,

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Während der nunmehr ausreichend charakterisierten zwei Phasen - jedenfalls für die Zwecke der Einführung in die Entwicklungstheorie -, die von 1850 (in Großbritannien) bis in die 70er Jahre dieses Jahrhunderts (z.B. in der Bundesrepublik Deutschland) reichen, wurde die Sozialpolitiklehre als Wissenschaft endgültig konstituiert, allerdings im Laufe der Zeit in recht unterschiedlichen wirtschafts- und sozialwissenschaftliehen Richtungen. 190 Das Bemühen J. St. Mills, den ökonomischen Liberalismus im Anschluß an A. Smith, D. Ricardo und R. Maltbus "in sozialpolitische Bahnen zu lenken" (H. Gehrig), führte zwar über den "Munizipalsozialismus" der Fabier und den "Staatssozialismus" der Zweiten Historischen Schule und anderer "Kathedersozialisten" dazu, daß die Sozialpolitiklehre als "erwachsene Tochter der Nationalökonomie" (L. v. Wiese) entstand. 191 Aber die junge Disziplin begriff sich zunächst eindeutig sozialwissenschaftlich im engeren Sinne des Wortes - also sozioökonomisch-soziologisch oder politökonomisch-politologisch - und erst seit der Zwischenkriegszeit mehr durch Neoklassiker und Neue Politische Ökonomen beeinflußt stärker rein wirtschaftswissenschaftlich, d.h. als Sozialwissenschaft nur noch in einem weiteren (loseren) Sinne des Terminus. Die erste Richtung, die entweder empirisch-theoretisch angelegt war oder auf normative Aussagen abzielte, stellte dabei empirische Wirkungs- oder konzeptionelle Gestaltungszusammenhänge in den Mittelpunkt; die zweite eher die logisch-theoretische Abstimmung von Optimallösungen des Verhältnisses von Gesellschaftspolitik/Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik/Finanzpolitik192• Ohne hier auf EinS. 104-158; Widmaier, H. P.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 14 ff.; Henning, H.: Sozialpolitik (III) Geschichte, in: HdWW, 7. Bd., 1977, S. 85-110; Alber, J.: Der Wohlfahrtsstaat in der Krise? Eine Bilanz nach drei Jahrzehnten Sozialpolitik in der Bundesrepublik, in: Z. f. Soziol., Jgg. 9, 1980, S. 313-342; Lampert, H.: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Dritten Reich, in: Jahrb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. 202/2, 1985, S. 101-119; ders., Lehrbuch, a.a.O., S. 84 ff., 89 ff. u passim; Schmidt, M. G.: Sozialpolitik, a.a.O., S. 55 ff., 66 ff. u passim; Alber, J.: Der Sozialstaat, a. a. 0., S. 55 ff., 58 ff. u passim; Groser, M.: Bestimmungsfaktoren, a.a.O. 190 Siehe dazu die detaillierten Ausführungen bei Kleinhenz. G.: Probleme, a.a.O., besond. S. 40 ff. Vgl. ferner Ehling, M.: Theoretische Ansätze, a.a.O., Kaufmann, F.-X.: Sozialpolitik: Stand und Entwicklung der Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hesse, J. J. (Hrsg.), Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, Opladen 1982, S. 344-365; Tennstedt, F.: Sozialreform in Deutschland, in: Z. f. Sozialref., 32. Jg., 1986, S. 10-24. 191 Vgl. Gehrig, H.: Das Prinzip, a.a.O., S. 64 ff.; v. Wiese, L.: Einführung, a.a.O., S. 5. Schmoller wandte sich 1910 allerdings dagegen, Teilungsvorschläge der bisherigen Nationalökonomie zu machen, "deren Ausführung man nicht übernimmt". "Etwas ganz anderes und sehr Wünschenswertes ist es, daß man, wo Lehrer und Zuhörer dafür vorhanden sind, besondere Vorlesungen (...) halte, daß man aus der praktischen Nationalökonomie zu groß gewordene Teile, wie Sozialpolitik (...) zu besonderen Vorlesungen ausscheide". v. Schmoller, G.: Die Volkswirtschaft, a. a. 0., S. 75.

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zelheiten eingehen zu können - auch nicht auf die Beziehung der Sozialpolitiklehre zu den frühen Anfangen der Lehre im Mutterland der Industrialisierung: Großbritannien 193 - sei abschließend nur noch das Folgende bemerkt: Die ersten Generationen der endgültigen Begründer einer Sozialpolitik als Wissenschaft während der letzten hundert Jahre - bis hin zu Eduard Heimann, Goetz Briefs, Ludwig Preller, Oswald v. Nell-Breuning SJ., Gerhard Weisser, Hans Achinger u. v. a. - erarbeiteten wie schon Schmoller und weitere ältere Autoren institutionstheoretische Ansätze der Entwicklungs- bzw. Transformationsanalyse von Strukturen und Funktionen. Sie wiesen die Ansätze, die zunächst nur selten zu lehrbuchhaften Darstellungen führten, allerdings nicht - wie v. Schmoller selbst oder an ihn mehr oder weniger stark anknüpfende Entwicklungssoziologen und Sozialphilosophen es getan hatten 194 - deutlich genug als solche aus. Deshalb 192 Zur grundsätzlichen Aufarbeitung der ersten Richtung siehe u. a. Mackenroth, G.: Die Reform der Sozialpolitik durch eine deutsche Sozialrefonn, Berlin 1952; ders., Die Verflechtung der Sozialleistungen, Berlin 1954; Preller, L.: Sozialpolitik, a.a.O., passim; Müßiggang, A.: Die soziale Frage, a.a.O.; Thiemeyer, Th.: Gemeinwirtschaftlichkeit, a. a. 0., passim. Speziell zu Weisser vgl. auch ders., Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, a. a. 0., Speziell zu Preller siehe Döring, D.: Die Vorstellungen Ludwig Prellers zur Sozialpolitik und die Gründung der "Gesellschaft für Sozialen Fortschritt", in: Soz. Fortschr., 38. Jg., 1989, S. 79-85. Zur grundsätzlichen Aufarbeitung der zweiten Richtung - die in dieser Abhandlun~. nur zu Abgrenzungszwecken interessiert - vgl. besond. Liefmann-Keil, E.: Okonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1961. Siehe auch Thiemeyer, Th.: Grenzkostenpreise bei öffentlichen Unternehmen, Köln/Opladen 1964; Külp, B.: Lohnbildung im Wechselspiel zwischen politischen und wirtschaftlichen Kräften, Berlin 1965; ders., Wohlfahrtsökonomik I/11, 2 Bde., Düsseldorf 1975176. Zur kritischen Würdigung der wirtschaftswissenschaftlichen Richtung siehe z. B. Albert, H.: Macht und Zurechnung: Von der funktionellen zur institutionellen Verteilungstheorie, in: Schmollers Jb., 75. Jg., 1955, S. 57-85; ders., Modell-Platonismus. Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung, in: Karrenberg, F./Albert, H. (Hrsg.), Sozialwissenschaft, a.a.O., S. 45-76; ders., Nationalökonomie und Sozialphilosophie: Zur Kritik des Normativismus in den Sozialwissenschaften, in: The Critical Approach to Science and Philosophy, New York 1964, S. 385-409; (die drei Abhandlungen sind wiederabgedruckt in ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, a.a.O., S. 140 ff., 331 ff. u. 429 ff.); I.Ampert, H.: Leistungen und Grenzen, a. a. O. Zur Würdigung speziell der Leistungen Walter Euckens und seiner Anhänger siehe ders., "Denken in Ordnungen" als ungelöste Aufgabe, in: Jahrb.f. Nationalök. u. Stat., Bd. 206, 1989, S. 446-456. 193 Siehe dazu z. B. Krabbe, W. R.: Munizipalsozialismus und Interventionsstaat, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 30. Jg., 1979, S. 265 ff. Grundsätzlicher argumentiert Myrdal, G.: Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung (1932), Köln 1963, besond. S. 153 ff.; ders., Das Wertproblem, a. a.O., S. 49 ff. u 213 ff.; Galbraith, 1. K.: Die Entmythologisierung, a.a.O., s. 251 ff. 194 Da für sie meist ausschließlich M. Weber oder R. K. Merton als Anreger genannt werden, sei hier beispielsweise auf Wilhelm Wundts Begriff der "Heteronomie der Zwecke", Georg Simmels Vorstellung von der "Dialektik des Mittels" und II Engelhardt

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mag es halbwegs verständlich erscheinen, wenn neuere Institutionalisten so gut wie nie auf v. Schmollers und die anschließenden wesentlichen Traditionen sozialwissenschaftlicher Forschung hinweisen oder eingehen. Die derzeitigen verstärkten Bemühungen um Theorien der Sozialpolitik - auch als Antwort auf jüngste Herausforderungen der praktischen und theoretischen Wirtschaftspolitik und anderer Wirtschaftswissenschaften 195 - machen jedoch nach Ansicht des Verfassers eine Rückbesinnung zweckmäßig, ja erforderlich. 4. Grundsätzliche und aktuelle Auswirkungen bisheriger Wirtschafts- und Sozialpolitik

Sieht man von den kulturellen Auswirkungen bisheriger Wirtschafts- und Sozialpolitik einmal ab - sie wurden bislang kaum gründlich untersucht so lassen sich z. B. im Anschluß an Manfred G. Schmidt problembewältigende und problem(neu)erzeugende Wirkungen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Art unterscheiden (siehe zum folgenden Schema 6 über hauptsächlich vorgebrachte Argumente). Der Autor versucht vor allem die folgenden Fragen zu beantworten: "Was wurde mit dem Sozialstaat erreicht? In welchem Ausmaß trug er zur Stabilisierung politischer, sozialer und ökonomischer Verhältnisse bei, und in welchem Ausmaß hat er die Lebensbedingungen in den westlichen Ländern verbessert? Inwieweit hat der Sozialstaat neue Probleme geschaffen und zur Destabilisierung der westlichen Industrieländer beigetragen? Wie muß die Politik der sozialen Sicherung in einer Periode, die durch reduziertes Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, aussehen?" 196 Auf Grund eigener empirischer Untersuchungen im Sinne einer "Deskription in analytischer Hendrik de Mans Kategorie der "Motivverschiebung" hingewiesen, die m. E. sämtlich ohne Schmollers und anderer früher Institutionalisten wegbahnende Einsichten kaum denkbar gewesen wären. Vgl. in diesem Zusammenhang nochmals v. Schmoller, G.: Über Wesen und Verfassung, a. a. 0., S. 372-395. Zur Bedeutung dieser Begriffe bzw. Vorstellungen für die Analyse von Funktions- und Strukturwandlungen siehe Engelhardt, W. W.: Der Funktionswandel, a. a. 0., S. 48 ff.; ders., Aufgabenwandel bei gemeinwirtschaftliehen und anderen Genossenschaften, in: Eichhorn, P./ Münch, P. (Hrsg.), Aufgaben öffentlicher und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen im Wandel, Baden-Baden 1983, S. 236 ff. 195 Vgl. z. B. Gutowski, A./Merklein, R.: Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftliehen Ordnung, in: H. Jb. f. W. u. Sp., 30. Jg., 1985, S. 49 ff.; Lampert, H./Bossert, A.: Die soziale Marktwirtschaft - eine theoretisch unzulänglich fundierte ordnungstheoretische Konzeption? In: H. Jb. f. W. u. Gp., 33. Jg., 1987, S. 109 ff.; Vaubel, R.: Der Mißbrauch der Sozialpolitik in Deutschland: Historischer Überblick und Politisch-Ökonomische Erklärung, in: H. Jb. f. W. u. Sp., 34. Jg. 1989, S. 39 ff.; Kleinhenz, G.: Das Elend der Nationalökonomie mit der Sozialpolitik, in: Vobruba, G. (Hrsg.), Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin 1989, S. 91 ff.

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- Befllrdert verantwortunplosen Koakurrenzl