Sophie Isler verlobt sich: Aus dem Leben der jüdisch-deutschen Minderheit im 19. Jahrhundert 9783412502157, 9783412501570

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Sophie Isler verlobt sich: Aus dem Leben der jüdisch-deutschen Minderheit im 19. Jahrhundert
 9783412502157, 9783412501570

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Martina G. Herrmann

Sophie Isler verlobt sich Aus dem Leben der jüdisch-deutschen Minderheit im 19. Jahrhundert

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: /  / portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Getrocknete Blumen aus dem Garten von Emma Islers Elternhaus, Fürstenstraße 4a in Dessau, von Sophie in ihr Album für die Silberne Hochzeit der Eltern 1864 eingeklebt. Quelle: Album P23-125: Familienarchiv Isler/Magnus/Lilien – P23, in: The Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem/Israel (CAHJIP).

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Rebecca Wache, Bochum Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50157-0

INHALT 9 Vorwort 11

Der Briefwechsel

15

Sophie Isler verlobt sich

21

Wozu eine Verlobung gut ist

30

Die Rolle der Familie

34

Fragen der Schicklichkeit

41

Wie Ehen zustande kommen

49

Überlegungen über einen gemeinsamen Alltag

57

Ausflüge in die Natur

61

Mögliche Differenzen

66

Vorbereitungen auf ein ganz anderes Leben

70

Die Aussteuer

77 Hochzeitsgeschenke 80

Die türkische Decke

85

Die Bilder

90

Die Wohnung

99

Die Gasbeleuchtung

106

Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert 111

Emma Isler

128

Sophies Erziehung

140

Sophie findet ihre Rolle in Braunschweig

Inhalt  |

5

147

Sophies Schulzeit als Beispiel bürgerlicher Mädchenbildung

156

Das „verbotene Thema von der Bestimmung der Frau“

172

Von Geburt an für nichts als die „Wirtschaft“ bestimmt?

180

Zur „unerledigten Frage wie man Töchter erziehen soll“

188

Die Hochzeit der Töchter als Katastrophe im Leben der Mütter

191

Die Heirat als Bedrohung der Herkunftsfamilie

199

Pläne zu einer Hochzeitsreise

206

Der „kleine Advokat“

218

Der „rote“ Lehrer

222

Der Prozess der Akkulturation 223

Die Öffnung der jüdischen Nation

227

Folgen der Öffnung

236

Emma und Meyer Islers religiöse Haltung

244

Sophies und Ottos Frömmigkeit

252

Judentum als Belastung und aufkommender Antisemitismus

263

Bürgerliche Bildung: Goethe, Schiller und die Nation

279

Vom Sinn der bürgerlichen Ehe

292

Das Jahrhundert der Modernisierung

317

292

Die Beschleunigung

303

Alltag im Wandel

Die Hochzeit

330 Anhang 330

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen

347

Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus

358

Stammbaum Sophie Isler und Otto Magnus

360 Stammbaum der Familie Ehrenberg-Rosenzweig-Isler 362

Auszug aus dem Stammbaum der Familie Samson

364

Meyer Islers Artikel zum Unterrichtsgesetz

367

Nachruf auf Siegmund Meyer

368 Abbildungsnachweis 369 Bibliographie

6 |  Inhalt

HANNAH PETERS

1911 – 2009 gewidmet

VORWORT Ursprüng­lich hatte ich an eine schlichte Veröffent­lichung von Briefen gedacht, mit Einleitung und Anmerkungsapparat, die Briefe im Wesent­lichen sich selbst erklärend. Schnell erwies sich diese Absicht als nicht realisierbar. Die Verfasserinnen und Verfasser der Briefe waren unbekannt, sie selbst und ihre Lebensumstände bedurften der Erklärung und die wiede­rum musste in den historisch-­kulturellen Hintergrund eingeordnet werden. Gravie­ render aber: Die Briefe erschienen beim ersten Lesen wenig ergiebig – so viel Alltag, ­Quisquilien, Banalitäten. Erst dem wiederholten Lesen, Nachschlagen, immer gründ­ licheren Recherchieren öffneten sie sich allmäh­lich: An der Oberfläche bedeutungslose Sätze enthielten Anspielungen, die ich nach und nach zuordnen konnte, hinter H ­ albsätzen entdeckte ich immer häufiger komplexe Sachverhalte. Zugleich wuchs die Vertrautheit mit Personen, Städten, Umständen und führte mich tiefer in eine unbekannt-­bekannte Vergangenheit, als ich mir anfangs hätte vorstellen können. Aus ­diesem Netzwerk von Erkenntnis erschloss sich eine ganze Welt. Dafür war ein anderes Format nötig. So ist am Ende eine Erzählung entstanden, in die Briefe und Briefausschnitte in großem Umfang eingeflochten sind, als Teil der Erzählung oder als Beleg. Von Anfang an hat mich die Direktheit der Schreibenden angezogen, die Vielfalt ihrer ­Themen, die Lebendigkeit ihrer Sprache, ja, auch das sozusagen Moderne, sich ohne Umschweife, sach­lich und anschau­lich zugleich auszudrücken. Davon wollte ich viel sichtbar machen und sie so oft wie mög­lich zu Wort kommen lassen. Das hat Auswirkungen auf mein Erzählen und verlangt von meinen Leserinnen und Lesern Zeit; Sophie Islers Verlobungsgeschichte lässt sich nicht auf die Schnelle herunterlesen. Erhalten habe ich diese Familienbriefe in Kopenhagen, von einer entfernten Kusine meines Mannes, der Ärztin Hannah Peters. Als ich sie kennenlernte, war sie knapp 94-­jährig, aber alles andere als alt: wach, interessiert und hochbeschäftigt. Täg­lich arbeitete sie am ­Computer, übertrug Briefe ihrer Urgroßeltern und Großeltern aus der Kurrentschrift in allgemein lesbare Maschinenschrift, für Kinder und Enkel und als Material für wissenschaft­liche ­Zwecke. Jahrgang für Jahrgang gebunden, standen die „fertigen“ Briefe im Regal. Schließ­lich durfte ich einen Teil davon mitnehmen; ich sollte mich an die Arbeit machen: 20 Bände, geschrieben ­zwischen 1827 und 1888, ca. 4000 Briefe – dass es mit der Veröffent­lichung so lange dauern würde, war für uns beide nicht vorauszusehen. Hannah Peters hätte sie gern noch erlebt. Ihr widme ich das Buch. Vorwort  |

9

* Mein Dank gilt zuerst und vor allem Susan Peters und Tom Peters, die mir die Briefbände so lange überließen und vielfach im Nachlass ihrer ­Mutter nach Jugendbildern von Sophie und Otto gesucht haben. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Kirsten Heinsohn und dem Briefkolloquium am Insti­tut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, die mich nach Lektüre des Manus­kriptanfangs ermunterten, den Text wie geplant weiterzuschreiben und zu veröffent­ lichen. Dank auch an Dr. Hermann Simon vom Centrum Judaicum Berlin für seine Unterstützung und Dank an die Ursula Lachnit-Fixson Stiftung, die die Veröffentlichung mit einem Betrag fördert. Und dann die Archivarinnen und Archivare! Ob in Wolfenbüttel, Braunschweig, Hamburg, Düsseldorf oder Jerusalem – stets kundig und hilfsbereit, zogen sie ohne Aufhebens Vergessenes und Unbekanntes ans Licht. Vielen Dank ihnen allen! Im Februar 2015 Martina G. Herrmann Anmerkung der Autorin

Grundlage sind die von Hannah Peters transkribierten Briefe ihrer Vorfahren. Ich habe die Zuverlässigkeit der Übertragung an einzelnen Stellen überprüft. Eine Kopie der von mir benutzten Transkrip­tion befindet sich im Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, die handschrift­lichen Originale liegen im Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem. Beim Zitieren habe ich mich pein­lich an die Schreibweise der Transkrip­tion gehalten, weil ich wusste, dass die Wissenschaftlerin Hannah Peters auf die exakte Übertragung achtete. Bilder der Personen aus der Zeit des hier behandelten Briefwechsels fehlen, dafür sind die Handschriften der Beteiligten abgebildet. Leider gab es keine aus der Verlobungszeit 1867. Die frühesten in den Briefbänden eingehefteten Handschriften von Sophie und Otto Magnus stammen von 1870, Briefe der Eheleute also, die sich oft einen kreisrunden Kuss mitschickten. Die anderen Autographen stammen aus unterschied­lichen Jahren und sollen die Handschriften Emmas, Meyers und der Großeltern Isler veranschau­lichen. In meinem Text mit * gekennzeichnete Namen finden sich im Personenverzeichnis, mit ° versehene unter den Frauenbiographien.

10 |  Vorwort

DER BRIEF WECHSEL …in alten Briefen […] ist [es] gerade so, als ob die Zeiten wieder aufständen und man wie in einem Guckkasten Alles sähe was damals geschehen ist. (Sophie, Braunschweig, 21. 3. 1887)

Vom Brautstand der Sophie Isler soll hier erzählt werden. Auf den ersten Blick eine Allerweltsgeschichte von Verlobung, Brautzeit und Verheiratung, wie sie von vielen Frauen im 19. Jahrhundert gelebt wurde. Aber zugleich doch eine ganz besondere Geschichte, erzählt anhand des Briefwechsels, den Sophie mit ihrem Bräutigam Otto geführt hat. Sie selbst wird in ihren Briefen darlegen, wie eine junge Hamburgerin 1867 sich auf das Wagnis Ehe vorbereitet und eindring­lich und offen auf den Mann zugeht, für den sie ihr bisheriges Leben verlassen muss, um zu ihm in eine fremde Stadt, unter fremde Menschen und in unbekannte, provinzielle Verhältnisse zu ziehen. Vorsichtig, sensibel und doch sehr direkt breitet sie vor ihm ihre ganze Existenz aus und begegnet in seinen Briefen einem ebenso einfühlsamen, achtungsvollen und um Wahrheit bemühten Gegenüber. Wichtig für Sophie ist, dass sie sich dabei auf Augenhöhe begegnen: Sie will eine gleichberechtigte Partnerin in dieser Ehe sein. Erklärend und ergänzend wird sich meine Stimme als die einer Briefeleserin und Chronistin in den Dialog des Paares einmischen, Vergangenem nachspüren, Entwicklungen verfolgen und dabei auch Sophies Eltern und Großeltern zu Wort kommen lassen. Im Zentrum aber wird die Suche des Brautpaars nach tragfähiger Gemeinsamkeit für ein ganzes Leben stehen. Der Vorschuss an Vertrauen, den beide in diese Beziehung investieren, zeigt Menschen von hohem Verantwortungsgefühl und großer Sicherheit, die aus der familialen Liebe und dem engen Zusammenhalt jüdischer Familien im Jahrhundert ihrer Integra­tion erwachsen. 1840, am 30. Juli, wird Sophie Isler in Hamburg geboren. Ihre ­Mutter Emma (geborene Meyer) ist zu ­diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt und seit einem Jahr verheiratet. Sophie ist das erste Kind und wird das einzige bleiben. Emma stammt aus Dessau, ist also Neu-­Hamburgerin, denn ihre Familie zog erst 1834 nach Hamburg. Ihre zahlreichen Geschwister werden auch in Sophies Leben eine große Rolle spielen. Als sie geboren wird, heißen sie Heinrich, M ­ artin, Ludwig, Moritz, Ferdinand, Siegmund und Henriette – eine typisch deutsche Familie. Nur Der Briefwechsel   |

11

bei Sophies Vater könnte man stutzig werden: Meyer ist sein Vorname 1, Dr. Meyer Isler, in Hamburg geboren und Bibliothekar an der renommierten Stadtbibliothek. Seine wissenschaft­ liche Tätigkeit könnte ihm den Weg an Gymnasium oder Universität öffnen, aber für die Professur müsste er sich taufen lassen. Das tut er nicht. Seine Familie lebt bereits in der zweiten Genera­tion in Hamburg und er gehört, genau wie seine Frau, zu den Reformjuden. Emma Isler ist ungewöhn­lich gebildet und verfolgt philosophische, kulturelle und politische Entwicklungen zeitlebens mit wachem Blick. Wer von dieser Familie erzählen will, muss im Auge behalten, dass es sich um jüdische Bildungsbürger handelt. Wann immer Islers sich trennen, sei es, dass Meyer ins Studium geht, Emma Verwandte besucht, ­seien es Kuraufenthalte oder Reisen – ja, und erst recht, als Sophie nach Braunschweig heiratet, immer schreiben sie Briefe und alle werden aufgehoben. Du wunderst Dich, dass ich Stadt und Jahreszahl schreibe, aber ich bin dabei alte Briefe zu ordnen und bin gar nicht sehr erbaut, dass die meinigen etwas mangelhaft datiert sind. Weißt Du eigent­lich, was ­später einmal aus all den Briefen werden soll? Aber ich konnte mich nicht entschließen, sie zu verbrennen. Ich ordne sie nach Jahrgängen und schreibe darauf ­zwischen wem und aus ­welchen Städten sie gewechselt sind. Ich finde es etwas trostlos eine ordent­liche Schlumpe zu sein (Emma, Hamburg, 12.5.[1868], 9 Uhr abends!). So Emma, und ihre Tochter antwortet salopp: Dass Du alle Briefe aufbewahrst versteht sich von selbst: was einmal am Ende aller Tage daraus wird ist ja ganz einerlei (Sophie, Braunschweig, 14. 5. 1868, 3 Uhr). Keine besondere Absicht also war mit dem Aufheben verbunden, uns aber gestatten sie den Blick in eine fremde Vergangenheit, deutsch zwar, nach Einschätzung ihrer VerfasserInnen, und doch voller Spuren jüdischer Kultur. Diese Briefe haben anderthalb Jahrhunderte überdauert, ihre VerfasserInnen, die Häuser, in denen sie gelebt, gesellschaft­liche und politische Umbrüche: den Deutschen Bund und das Kaiserreich, die Republik von Weimar und wunderbarerweise sogar die Diktatur des Na­tionalsozialismus, weil sie rechtzeitig außer Landes geschickt wurden. Sophies Enkelin Hannah hat alle aus der alten deutschen Kurrentschrift in heute lesbare Schreibmaschinenseiten übertragen – da sind sie nun und breiten ein buntes Bild des 19. Jahrhunderts vor uns aus, aus der Sicht von Bildungsbürgern, die jüdischer Abstammung waren. Der Anfang des Briefwechsels liegt weit zurück: Meyer Islers Reise von Hamburg nach Bonn, 1827, zum Studium. Israel Abraham*, der Vater, sah das nicht gern, sollte doch der kluge und gebildete Sohn in die eigene Knabenschule als Lehrer eintreten; dazu war kein Universitätsstudium nötig. Der Vater leitete die 1793 gegründete Schule, die M ­ utter stand dem Pensionat vor, denn die Jungen sollten (neben religiösem Wissen) nicht nur das nötige Allgemeinwissen erwerben und korrektes Deutsch schreiben und sprechen, sondern sich

1

Der von Juden gern benutzte Vorname Meyer hat allerdings etymolo­gisch nichts zu tun mit dem mhd. Meier = Hausverwalter, sondern leitet sich aus dem Hebräischen her von Me’ir = Licht. So in: Bein, Ewiges Haus, 2004, S. 41. Vollständige Titel der Forschungsliteratur im Anhang.

12 |  Sophie Isler verlobt sich

auch zu benehmen wissen, damit sie den Sprung an die Realschule oder – wie Meyer – ans Gymnasium schafften. Sie sollten nicht nur im Unterricht mithalten können, sondern auch in ihrem Verhalten und ihrer Sprache nicht auffallen.2 Aber der junge Isler hatte wenig Lust, Lehrer zu werden; er wollte studieren. Und als ein Stipendium den Weg an die Universität öffnete, durfte er tatsäch­lich zum Studium nach Bonn und ­später nach Berlin. Der lebhafte Briefwechsel, der nun ­zwischen dem Studenten Meyer und seiner Familie anhebt, ist für Meyer ziem­lich zeitraubend, denn an ihn schreibt nicht nur der Vater Israel Abraham Isler* (streng-­liebevoll), sondern auch die Schwester Malchen (munter plaudernd) und die ­Mutter (besorgt) – sie übrigens immer mit hebräischen Buchstaben, weil sie, anders als ihre Brüder, die deutschen Buchstaben nicht erlernte.

Abb. 1  Brief Jette Islers an ihren Sohn Meyer, deutsch in hebräischen Buchstaben, 1827.

Jette Islers* Briefe wären heute schwer­lich zu verstehen, wenn nicht Sophies Tochter Helene* sie übertragen hätte.3 Meyer antwortet allen, sodass er oft mehrere Briefe gleichzeitig ­schicken muss, was angesichts seiner schmalen Finanzen nicht einfach für ihn ist. Ähn­lich lebhaft ist der Briefwechsel, den eine Genera­tion ­später Sophie auslöst, als sie beginnt das Elternhaus zu verlassen, nicht zum Studium, sondern ganz frauentradi­tionell, um zu heiraten. Denn obwohl Sophie Isler ein hochgebildetes Mädchen ist, das Latein und

2

Solche jüdischen Knabenschulen gab es seit den 90er-­Jahren des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Städten. Berühmt waren vor allem die Samsonschule in Wolfenbüttel, die Jacobsonschule in Seesen, die Franzschule in Dessau, die Wilhelmschule in Breslau und das Philanthropin in Frankfurt am Main.

3

Zum besseren Verständnis hier die Genera­tionenfolge der im Text erwähnten Frauen der Familie Isler-­ Magnus-­Lilien: 1. Henriette = Jette (= Gittchen bzw. Gütchen) Isler, geb. Meyer (ihre Brüder wählten 1809, also Jahre nach Jettes Verheiratung, den Familiennamen Ehrenberg), 2. ihre Schwiegertochter Emma Isler, geb. Meyer, 3. deren Tochter Sophie Magnus, geb. Isler, 4. deren Tochter Helene Lilien, geb. Magnus, 5. deren Tochter Hannah Peters, geb. Lilien. Stammbaum im Anhang.

Der Briefwechsel   |

13

neue Sprachen beherrscht und sich für alles Naturwissenschaft­liche, Kultur und Politik interessiert, war für sie weder an Gymnasialbesuch noch an Studium zu denken. Das wird in Deutschland für Frauen erst ab 1900 mög­lich – und es werden Jüdinnen sein, die diese Chance bald besonders häufig ­nutzen. Einen Beruf hat Sophie natür­lich auch nicht, doch von sinnvollen Tätigkeiten für Frauen ist viel die Rede. Sophie ist hauptsäch­lich „Tochter“, hilft der ­Mutter im Haushalt und dem Vater bei der Korrektur seiner wissenschaft­lichen Veröffent­lichungen, ist für beide Gesprächspartnerin und Begleiterin und denkt nicht ans Heiraten, sodass sie die Annäherungsversuche eines jungen Juristen in Braunschweig erst einmal übersieht. Kommt hinzu, dass Sophies M ­ utter Emma versucht hat, die Tochter auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten und darüber immer wieder gesprochen wird. ­Mutter und Tochter verfolgen die Debatten um Frauenemanzipa­tion mit lebhaftem Interesse und Islers sprechen in diesen Fragen mit. Meyer Isler gehört zum Vorstand einer jüdischen Mädchenschule und auch er ist überzeugt, dass Frauen eine sinnvolle Tätigkeit brauchen und gegebenenfalls ihren Lebensunterhalt verdienen können müssen. Das ändert sich mit Sophies Verlobung – zumindest für Sophie.4 Wie heiratet man denn vor hundertvierzig Jahren? Zuallererst verlobt man sich. Danach ist Zeit zu prüfen, ob und wie gut man zueinander passt. Vor allem muss sich nun für Sophie herausstellen, ob er so ganz der Richtige ist. Aber wie muss er denn sein? Zuverlässig, ernst, hilfsbereit, sich necken lassen, ohne verletzt zu sein, und vor allem den Schwiegereltern ein guter Sohn. Er darf nicht leichtsinnig sein, muss nach Höherem streben und seine kleine Frau verwöhnen. Er darf nicht geizig sein, aber auch das Geld nicht zum Fenster hinauswerfen. Den Gästen einen Stuhl anbieten, sie unterhalten und sie am Ende höf­lich zur Tür geleiten. Er muss fleißig arbeiten, aber viel Zeit für seine Frau haben, allen Bewunderung abnötigen und auch gut aussehen. Ja, er sollte schon etwas vermögend sein, sodass man vom gesellschaft­lichen Leben nicht ausgeschlossen wäre, dass man einladen könnte und eingeladen würde, Theater und Konzerte besuchen könnte, dass Haushaltshilfen vorhanden wären und eine finanzielle Absicherung, falls er zu früh stürbe. Er sollte zuhören können, einen Standpunkt haben, aber auch andere gelten lassen, Rücksicht nehmen und sensibel erkennen, was andere verletzen könnte. Ein zukünftiger Mann für Sophie Isler muss schon ziem­lich vollkommen sein. Das alles findet sich in ihren Briefen der Brautzeit, ausdrück­lich oder ­zwischen den Zeilen und am Ende eines intensiven halbjährigen Briefwechsels wird erkennbar: der Bräutigam – o Wunder – entspricht dem Bild. Der Weg, der zu dieser Erkenntnis führt, ist weit und verzweigt, die Vorbereitungen auf die Ehe glück­licherweise gründ­lich, wir erführen sonst nicht so viele Details aus der deutschen und auch aus der jüdischen Vergangenheit.

4

Siehe Kapitel „Das ‚verbotene Thema von der Bestimmung der Frau‘“.

14 |  Sophie Isler verlobt sich

SOPHIE ISLER VERLOBT SICH März 1867, Sophie Isler hält sich besuchsweise in Braunschweig auf und lernt dabei Dr. Otto Magnus kennen, einen jungen Juristen und niedergelassenen Advokaten. Anfang April kommt Meyer Isler nach Braunschweig, um seine Tochter auf der Rückreise zu begleiten. Im beinahe letzten Moment „funkt“ es z­ wischen den jungen Leuten und Otto fragt, ob Sophie ihn heiraten wolle. Aber die bittet sich Bedenkzeit aus und reist nach Hamburg zurück. Von hier aus schreibt sie am 6. April: Lieber Freund! Ich habe Ihnen gestern das Versprechen gegeben, dass Sie die Antwort auf Ihre Frage von mir selbst haben sollen und ich glaube, ich wusste schon in dem Moment, wie sie ausfallen würde, daher konnte ich es Ihnen geben. Wenn ich Sie dennoch ohne Bescheid von mir gehen liess, so zürnen Sie mir nicht; an der Ruhe, die über mich gekommen ist, seit ich mit meinen geliebten Eltern zusammen bin, glaube ich zu sehen, dass sie nicht unrecht war. Sie haben mir so viel zu vergeben, dass Sie dies schon auch noch hinnehmen müssen, und ich glaube ich brauche nicht bange zu sein. Und nun will ich nichts weiter sagen als: Kommen Sie zu Ihrer Sophie (Sophie, 6. 4. 1867). Otto erhält diesen Brief am 7. April und eilt stehenden Fußes nach Hamburg. Als er am 15. April wieder abreist, sind Sophie und Otto schon eine Woche verlobt. Und nun beginnt ein halbes Jahr, in dem sich beide täg­lich schreiben, manchmal sogar zweimal an einem Tag, denn die Post wird morgens und nachmittags ausgetragen. Als die Hochzeit schließ­lich am 6. Oktober stattfindet, sind es fast zweihundert Briefe, die sie gewechselt haben,5 Briefe, in denen sie sich einander vorstellen, ihren Charakter erläutern, ihre Fehler ausbreiten, Vergangenes erzählen, Wertvorstellungen und Geschmacksurteile austauschen, über Bildungs- und Rollenprobleme sprechen, religiöse und politische Fragen durchgehen. Wenn die Gemeinsamkeit gelingen soll, ist Offenheit auf beiden Seiten die Bedingung und das grundsätz­liche Vertrauen, dass man dem oder der in so vielem noch Unbekannten mit solcher Offenheit gegenübertreten kann, ohne sich etwas zu vergeben und ohne zu verletzen. Zartheit und 5

Bei Sophies Pfingstbesuch in Braunschweig wurde eine neue Regelung getroffen: Von nun an wurde nur jeden zweiten Tag geschrieben, aber beide fingen häufig ihren Brief bereits am „brieflosen“ Tag an und schrieben nach Erhalt des Gegenbriefes mit neuem Datum weiter, sodass nach dem 14. Juni 1867 beim Zitieren oft zwei Daten auftauchen: Brief vom … im Brief vom … Bei der Anzahl der Briefe ist auch zu bedenken, dass Sophie und Otto sich sechsmal trafen und in diesen Tagen/Wochen natür­ lich keine Briefe wechselten.

Sophie Isler verlobt sich   |

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Sensibilität sind nötig, wenn man das Gegenüber verstehen will. Um d­ ieses Verstehenwollen und Verstehenkönnen geht es immer wieder, um Einsicht und „Verständigkeit“. Am Ende zieht Sophie in die Fremde, aber wenigstens der Mann, mit dem sie dort leben wird, ist ihr inzwischen ganz vertraut. * Bis zu d ­ iesem Zeitpunkt hat Sophie in einem liebevollen Elternhaus gelebt, von Anfang an als „schönes Kind“ gepriesen und verwöhnt. Sie ist eine gute Tochter, die ihren Eltern die Erziehung leicht gemacht hat und die mit wachen Sinnen lernt und liest, was immer an sie herangetragen wird. Die Eltern haben ein „offenes Haus“: nicht nur die zahlreichen Verwandten gehen ein und aus, auch Freunde und Bekannte in reicher Zahl kommen, plaudern und diskutieren mit Emma und Sophie; Meyer nimmt an vielen Gesprächen nicht teil, seine Arbeit lässt ihm nur am Wochenende, genauer: am Sonntag, Zeit und selten am Abend. Natür­lich gibt es auch viele junge Frauen, mit denen Sophie verkehrt. Morgens vor sieben schon ist sie unterwegs, trifft Kusinen und Freundinnen, macht Besuche, erledigt Besorgungen und berichtet zurückgekehrt anschau­lich von all ihren Unternehmungen. In d ­ iesem lebendigen Kreis, von allen geliebt, hat sie nahezu 27 Jahre verbracht und ist damit eigent­lich ein „altes Mädchen“ geworden, als sie Otto Magnus kennenlernt. Dass bei der Begegnung ein wenig nachgeholfen wurde, liegt auf der Hand und war gerade in jüdischen Familien durchaus üb­lich  6; dass daraus eine große und dauer­hafte Liebe wird, ist nicht vorauszusehen, ist aber eine Entwicklung, die man in den Briefen nachvollziehen kann. Noch während Otto am 15. April gegen Abend zum Bahnhof fährt, um nach Braunschweig zurückzukehren, schreibt Sophie ihren ersten Brief als Braut an Otto: Mein Geliebter! Noch bist Du nah, noch hätte ich bei Dir sein können, wenn ich Dich begleitet hätte, wenn wir nicht den heiligen Abschied, den wir genommen auch im Heiligthum der Häuser hätten nehmen wollen. Dein Kuss hat meine Lippen noch nicht verlassen, und darum, mein Lieber, will ich auch phy­sisch Dir nahe sein, und meine Hand auf das Blatt legen, das morgen zu Dir kommen und Dir den ersten schrift­lichen Liebesgruß von Deiner Braut bringen soll (Sophie, 15. 4. 1867). Auch Otto greift sofort zur Feder, am Morgen nach seiner nächt­lichen Ankunft in Braunschweig, bevor er Sophies ersten Brief erhalten hat: Mein geliebtes herzensmädchen! Wenn wir auch körper­lich getrennt sind, geistig bleiben wir vereint und werden stets vereint bleiben. Wenn ich wache und wenn ich schlafe umschwebt mich Dein liebes Bild und immer schaue ich in Deine treuen blauen Augen, und lese darin Deine schöne Seele, und ich möchte immer laut aufjubeln: Sie liebt mich! Sie liebt mich! (Otto, 16. 4. 1867).

6

Tante Jeannette [Aronheim], Sophies mütter­liche Freundin, hatte das Paar aufeinander aufmerksam gemacht. „Fast immer wurden die Ehen von beruf­lichen Heiratsvermittlern oder von Verwandten gestiftet, was bei der begrenzten Auswahl an geeigneten Partnern eine Notwendigkeit war.“ Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, 1976, S. 55.

16 |  Sophie Isler verlobt sich

Das ist ein seltsam hoher Ton, den Sophie in ihrem ersten Brief anschlägt, und eine erstaunende Begriff­lichkeit: von „heiligem Abschied“ ist die Rede und vom „Heiligthum der Häuser“. Ob diese Formulierungen ihrer kulturellen Herkunft geschuldet sind? Einer christ­ lichen Braut wäre das „Heiligthum der Häuser“ wohl kaum in die Feder geflossen. Jüdischen Familien aber ist die Wohnung „heilig“, hier wird der Sabbat gefeiert und hier erinnert der Tisch an den Altar im Tempel.7 Die Verlobung als geheiligte Verbindung – demgegenüber klingt Otto in seinem ersten Brief vergleichsweise normal, auch wenn er von der „schönen Seele“ seiner Braut spricht, und damit auf eine andere kulturelle Wurzel verweist: den deutschen Idealismus. Sophie schwenkt schnell auf Ottos „normalen“ Stil ein und beide verabreden, sich in ihren Briefen nicht groß um korrekte Schreibweise und Zeichensetzung zu kümmern – lieber viel schreiben, als richtig!8 Die Frage aber nach dem Judentum, nach den kulturellen Wurzeln, wird sich immer wieder stellen, weil d ­ ieses Brautpaar eine historische Phase der Akkultura­tion des Judentums markiert. Otto ist in der Nacht heimgekommen und gleich am nächsten Morgen zu seinen Eltern geeilt, um sich ihnen als glück­licher Bräutigam zu präsentieren, dann macht er einige Besuche und guckt sich schon mal nach Wohnungen um. Und nun geht es im Handumdrehen: Schon am nächsten Tag meldet Otto, dass er eine Wohnung GEMIETET habe!9 Ich sende Dir den Plan mit und habe darin angegeben, wie ich mir denke, dass wir die Zimmer benutzen wollen. Natür­lich kannst Du daran ändern, was Du willst. Es ist so gut wie gewiss, dass die Wohnung, die diesen Sommer ganz umgebaut und neu eingerichtet, auch mit Gas- und Wasserleitung versehen wird, zum 1. September bezogen werden kann. […] Es wird sich auf die eine oder andere Weise einrichten lassen, dass wir an Deinem Geburtstag Hochzeit haben. Hurrah!!! (Otto, 17. 4. 1867). Tja, Otto ist schnell und will gleich alles unter Dach und Fach bringen! Wo man ­zwischen Hochzeit und Einzug wohnen könnte – da hat er auch schon eine Idee: bei Tante Jeanette [Helfft*] natür­lich! Aber so schnell geht es nicht. Bis zu Sophies Geburtstag am 30. Juli ist bei aller Liebe keine Aussteuer zu beschaffen und keine Wohnung einzurichten. Außerdem haben auch die beiderseitigen Eltern in allen Fragen ein gewichtiges Wort mitzureden. Und besonders Sophies ­Mutter findet zwar die Verlobung schön und den Bräutigam recht, dass aber die geliebte Tochter und Gefährtin langer Jahre nach Braunschweig ziehen soll, ist für sie so furchtbar, dass sie den Termin so weit wie mög­ lich hinausschieben will und die Hochzeit erst einmal verdrängt. Über die Verlobung aber sind offensicht­lich alle Seiten froh, die Eltern in Hamburg und die in Braunschweig, Ottos jüngere Geschwister Carl* und Anna* und Sophies Tanten und 7

So bei Paul Spiegel, Was ist koscher? Jüdischer Glaube – jüdisches Leben, 2005, S. 45.

8

Ich habe in den Briefzitaten die Schreibweise penibel übernommen.

9

Braunschweig, Zentrum: Damm 18. So in: Magnus, Sophie, geb. Isler [1840 – 1920], Kindheitserinnerungen [angeschlossen: Jugenderinnerungen (geschrieben 1919 in ihrem 80. Jahr mit vielen Wiederholungen der Kindheitserinnerungen)], unveröffent­lichtes Schreibmaschinenmanuskript [im Folgenden: Sophies Kindheitserinnerungen], S. 46.

Sophie Isler verlobt sich   |

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Abb. 2  Ausschnitt aus einem Brief von Sophie Magnus an Otto anläss­lich eines Besuchs bei den Eltern in Hamburg 1870

18 |  Sophie Isler verlobt sich

Onkel, ja auch die engsten Freunde beider Familien. Sie alle nehmen teil an dem jungen Glück. Kaum heimgekehrt schreibt Otto, […] dass der Papa Dir eine[n] Sammetpaletot schenkt, die ich mitbringen werde. Anna [Ottos Schwester] sagt, er sei neu­lich bei Tante Jeanette* gerührt im Zimmer umher gelaufen und habe end­lich mit Tränen in den Augen gesagt: ich muss dem Kinde etwas schenken, und sei ganz von selbst auf den Paletot gekommen (Otto, 17. 4. 1867). Die Anmietung der Wohnung geschah nicht ohne das mütter­liche Plazet: Die Mama hat die Wohnung besehen ehe ich sie gemietet habe. Und sie hatte Otto versichert, Zug käme […] nicht vor, denn dieselbe ist vollkommen abgeschlossen und die Fenster nach der Strassenseite s­ eien Doppelfenster. Zur Wohnung gehören auch das Recht Waschhaus, Zeug­ rolle und Trockenplatz zu benützen. Die Mama meint aber, wir sollten vorläufig ausser dem hause waschen lassen (ebd.). Natür­lich sind derart praktische Hilfestellungen jedem jungen Paar auch heute noch erwünscht und nichts Ungewöhn­liches, aber es fällt doch auf, wie sehr Sophie trotz ihrer knapp 27 Jahre in Braunschweig als „Kind“ und in jeder Beziehung als unerfahren verstanden wurde. In Hamburg freut sich Sophie über den schnellen Entschluss, zu mieten, aber ­Mutter hatte als ich es ihr sagte einen solchen Schreck, als trete ihr der Gedanke, mich ziehen zu lassen zum ersten Mal entgegen (18. 4. 1867). Die besonders enge Beziehung ­zwischen ­Mutter und Tochter spielt in den Briefen eine herausragende Rolle, je näher der Heiratstermin rückt – sie wird ­später ausführ­licher behandelt. Wichtiger ist hier, dass Sophie offensicht­ lich in Verhältnisse hineinheiratet, in denen man nicht jeden Pfennig umdrehen muss. Bist Du nicht ein furchtbarer verschwender, mein geliebter Junge, dass Du eine ­solche Prachtwohnung nimmst? Nun ich will mir das Raisonieren aufsparen bis Du wieder da bist. Sie scheint aber sehr schön zu sein. Ich habe natür­lich sehr viel zu fragen, damit muss ich mich gedulden. Sieh nur zu, dass wir ganz helle Tapeten bekommen, oder viel mehr, lass uns nicht vergessen das alles zu besprechen (Sophie, 18. 4. 1867). Nur leicht mahnt Sophie an, dass sie bei allen Entscheidungen mitreden möchte. Und Otto reagiert sensibel darauf: so schnell und ohne vorherige Rückkopplung handelt er kein zweites Mal. Viele Entscheidungen werden von nun an hin und her gewälzt und führen manchmal erst nach langer Zeit zu einem gemeinsamen Beschluss. Das kann beim Lesen amüsant, aber auch mühsam wirken. Bedenkt man jedoch, dass Otto am liebsten sofort entscheidet, kommt diesen langwierigen Prozessen eine besondere Bedeutung zu, weil sich in ihnen am deut­lichsten Ottos Respekt vor Sophies Meinung offenbart. Schon am 19. April reist Otto erneut nach Hamburg, um die Ostertage bei seiner Braut zu verbringen und die vielen Antrittsbesuche zu machen. Denn Sophie muss sich in dem großen Lebenskreis ihrer Eltern als Braut präsentieren und den Bräutigam vorführen. Sie schreibt: Bis jetzt haben wir noch keine weiteren Einladungen für die Ostertage, vielleicht haben die Leute ein Einsehen und lassen uns in Ruhe und Frieden geniessen. Unsere Besuche können wir erst Montag machen, denn Sonnabend und Sonntag sind jüdische Feiertage und da würde es sich für uns nicht s­chicken zu fahren. Wenn uns nur der Himmel etwas Sophie Isler verlobt sich   |

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lächeln würde, heute wechselten Orkan und Wolkenbrüche mit flüchtigen Sonnenblicken ab (Sophie, undatiert, vermut­lich 17. 4. 1867). Dass Otto der „erste nette Bräutigam“ sei, hat Sophie schon gehört. Jetzt kommen andere Kommentare dazu. Jugendfreund Albert Wolffson* z. B.ist ganz entzückt von Dir und sagt in der ersten Minute, als Du ihm einen Stuhl angeboten, sei es ihm gewesen, als kenne er Dich von jeher (26. 4. 1867). Das ist bezeichnend: Selbst wenn man sich nicht persön­lich kennt, man bleibt in der gleichen Schicht, hier des jüdischen Bildungsbürgertums, unter „seinen Leuten“, da sind Verhaltensweisen und Ansichten ähn­lich und verständ­lich – deshalb erkennt man fremde Menschen als vertraute gleichsam wieder. Sophie berichtet auch: Vor wenigen Minuten gingen Udenwalds fort […]. Ihr Mann sagte, Du habest ihm solch angenehmen Eindruck gemacht, Du sähest so gut und treuherzig aus, und Julchen [Udewald*] erzählte, dass sie am Tage meiner Verlobung mit wahrer Herzensangst zu uns gekommen wäre und sich sehr vor dem fremden Bräutigam gefürchtet habe, dass es aber vorbei war, sobald sie Dich gesehen und 3 Worte mit Dir gesprochen habe (Sophie, 17. 5. 1867, abends, 8 h.). Der Braunschweiger Otto Magnus, der in Hamburg der „fremde Bräutigam“ ist, entpuppt sich als einer, der „passt“, der nicht einschüchtert, sondern Vertrauen herstellt durch sein Aussehen und sein Verhalten. Es ist vor allem seine herzgewinnende Freund­lichkeit, die auf alle […] einen so unend­lich angenehmen Eindruck macht (Sophie, 30.5.[1867], abends). Besonders schwer aber wiegt Folgendes: Bei mir laufen noch immer Glückwünsche ein. Gestern von Dr. Zunz* und Madame Riesser*10, die Deine Familie kennt. Alle wissen sie Gutes über Dich, es kommt also heraus, dass Du schon ein sehr berühmter Mann bist (Sophie, 28. 4. 1867). Die Namen Zunz und Riesser haben im 19. Jahrhundert überall in jüdischen Kreisen einen besonderen Klang. Wenn Otto ihren Trägern bekannt ist und von ihnen positiv erwähnt wird, kann Sophie also nur richtig gewählt haben!

10 Nicht näher identifizierbar, ebenso wenig wie eine mög­liche Verbindung zu Gabriel Riesser* (gest. 1863). Meyer Isler verkehrte mit Riessers Verwandten und beschäftigte sich 1867 mit der Herausgabe von Riessers Briefen.

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WOZU EINE VERLOBUNG GUT IST Dass Otto der Richtige ist, wird jedenfalls in Hamburg nicht bezweifelt, aber passt er wirk­ lich in jeder Beziehung? So schnell entschieden die Verlobung zustande gekommen war, jetzt müssen sich die beiden erst einmal wirk­lich kennenlernen und dazu muss ein weiter Raum in den Briefen abgeschritten werden: Gestern erzählte Vater lachend, es habe ihn jemand auf der Bibliothek gefragt: nun können Sie sich schon mit ihrem Schwiegersohn stellen? Wie urkomisch erschien mir das, und doch kennen wir Fälle und zwar in unserer Nähe, wo eine ­solche Frage nur in zweifelhaftem Tone hätte beantwortet werden können. Gottlob, dass Du ihm ein Sohn bist, dass sie Dir ihr Kind mit vollem Vertrauen geben und wissen, dass es ihm [ihnen] nicht fremd wird sondern dass sie zwei statt eines haben. Ich danke Gott dafür (Sophie, 16. 4. 1867). Vor allem spielt demnach Ottos Verhältnis zu Sophies Eltern, deren „ein und alles“ sie ist, eine große Rolle. Diese Bindung darf ergänzt, nicht aber zerstört werden. Wenn das nicht sicher ist, kann aus der Verlobung keine Ehe werden. Ein Zweites fällt auf: Sophie mischt in ihre Briefe Feststellungen über Ottos Charakter und Verhalten, die eigent­lich Wünsche sind, wie der Bräutigam jetzt und in Zukunft sein soll. Kannst Du Dir denken worüber wir sprachen? Ausgehend von praktischen Fragen der Aussteuer und Einrichtung wurde unser künftiges Leben ausgemalt und vor allen dingen mein lieber, lieber Mann gepriesen. Und die Beiden [Sophies M ­ utter und Tante Minna Leppoc*], die mich so lieben und ich, wir wurden froh, wenn wir überdachten, wie nach menschlichem Ermess und mit Gottes Hilfe, ein schönes uns Glück und anderen Segen bringendes Leben vor uns liegt. Und als Tante von anderen Ehen und Verlobungen sprach, wo im Charakter des Mannes durch Leichtsinn und nachlässigkeit nicht die Bürgschaft künftigen Glückes liegt, da dankte ich meinem Schöpfer von herzen, dass ich [in] dieser Hinsicht so sicher und vertrauensvoll in die Zukunft blicken kann (Sophie, 25. 4. 1867). Wenn Otto alle diese schreck­lichen Fehler nicht hat, dann kann es nach Sophies Meinung nur an ihr liegen, wenn die Ehe nicht glückt: Da sind es immer nur meine eigenen Fehler die ich fürchte. […] Gewöhne Dich an den Gedanken, dass Dein kleines verwöhntes Mädchen auch manchmal das Leben ein wenig sauer machen wird (Sophie, 25. 4. 1867). Verwöhnt war Sophie als Einzelkind sicher, so scherzhaft sie das Bekenntnis hier ablegt, aber wichtiger als eine Beichte ihrer Fehler ist ihr allerdings ein anderes Thema, das sie schon am 17. April anschneidet: die Rolle der Frau. Bisher hatte mich immer ein Gefühl des Neides und der Unzufriedenheit mit mir selbst beschlichen, wenn ich von der Befriedigung die sie [Helene Magnus*, Wozu eine Verlobung gut ist   |

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Sängerin und Kindheitsfreundin] in ihrer Künstlerlaufbahn findet, von der Art und Weise wie sie sich das leben gestaltet und es beherrscht, hörte. Gestern aber dachte ich mit innigem Dank­gefühl, dass auch ich jetzt meinen lebenszweck gefunden, und sah wohl mit bewunderung aber ohne das gefühl der Unbefriedigtheit bei der Vergleichung zu ­diesem glänzenden, rauschenden Lebensschicksal […]. Früher ärgerte ich mich immer, wenn die bestimmung der Frau allein in der Ehe gesucht wurde, und noch neu­lich als Du etwas ähn­liches sagtest, opponierte sich mein Gefühl weib­licher Würde dagegen. Von Tag zu Tag aber sehe ich mehr ein, dass ich nicht zu den Frauen gehöre, die geschaffen sind, sich selbst neue lebenswege zu bahnen und Glück finden können in selbstlosem Schaffen und Wirken für Andere, wie es z. B. Anna Wohlwill° [die Lehrerin]11 in so tollem Masse tut. Und nun wechselt Sophie unvermittelt von der Frauenfrage zur Rollenproblematik in der Ehe: Nein, dein kleines Mädchen braucht der Hilfe und Stütze, und wie sie bisher ihren Halt im Elternhaus fand, so muss sie sich künftig auch Deiner anlehnen und in Gemeinschaft mit Dir ihre Pflicht im Leben zu erfüllen streben. Und meine geliebte M ­ utter, deren Ziel es immer gewesen mich so zu erziehen, dass ich das Alleinstehen nicht ganz hilflos finden möge, die hat jetzt, da sie mich in sicherem Hafen weiss, das Gefühl wie jener Reiter der ohne es zu wissen über den Bodensee geritten ist, sie schaudert jetzt vor dem, was sie bisher als ein ganz schönes und richtiges Land betrachtet hat (Sophie, 17. 4. 1867). Der Übersprung ist verblüffend: Sophie, die eben noch in Frauen ein Vorbild sah, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen, wandelt sich vor unseren Augen zum „kleinen Mädchen“, das schon immer und auch in Zukunft nicht allein zurechtkommt. Dieser Wandel ist symptomatisch für das Bild und Selbstbild junger (Ehe-)Frauen im 19. Jahrhundert. Dass ausgerechnet die „kluge“ Sophie Isler ihn hier vollzieht, zeigt, wie prägend er in der bürger­ lichen Gesellschaft war. Allerdings: Eine gewisse Selbständigkeit in der Ehe will Sophie sich doch bewahren, sie will Gleichberechtigung, Mitsprache und Gemeinsamkeit des Handelns, um so in Gemeinschaft mit Dir [Otto] ihre Pflicht im Leben zu erfüllen (ebd.). Nach dieser Absage an ein eigenständiges Leben und der freiwilligen Anpassung an Ottos erahnte Wünsche steckt Sophie, auch hierin ganz rollengerecht, ihren Ehrgeiz nun in die Karriere des Mannes. In einem undatierten folgenden Blatt formuliert sie halb scherzhaft das Ziel: […] denn Du weisst doch, dass ich bestimmt erwarte Dich als den ersten Advokaten in Braunschweig zu sehen. Was wir mit Dr. Aronheim*12 anfangen weiss ich noch nicht, vielleicht lassen wir ihn zu einer recht hohen Stelle wählen, und dann nimmt mein Otto seinen Platz ein, nicht wahr? (ebd.). Ottos Antwort erfolgt prompt und zeigt, wie sehr Sophie seinen Wünschen entgegengekommen ist, denn Otto hält wirk­lich nichts von selbständigen Frauen. Innig habe ich mich über das gefreut, was Du über Helene magnus* schreibst. Nach meiner Ansicht ist

11 Mehr dazu im Kapitel „Das ‚verbotene Thema von der Bestimmung der Frau‘“ und unter „Frauen­ biograpien“ im Anhang. 12 Dr. jur. Adolf Aronheim vertrat Ottos Schriftsätze vor Gericht, solange der nur Advokat war.

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jede derartige Wirksamkeit einer Frau ­welche dieselbe ganz absorbiert nur eine Ausfüllung der Lücke, w ­ elche daraus entsteht, dass der richtige Wirkungskreis, näm­lich das Haus fehlt, und dabei will ich aber nicht etwa behaupten, dass eine Hausfrau nicht ausser der häus­ lichen Thätigkeit nicht auch noch ausserdem sich nütz­lich machen könnte und sollte. Ich bin fest überzeugt, dass auch Anna Wohlwill°, wenn sie erst den von Gott bestimmten Mann gefunden hat und in ihrem Hause schafft, darin mehr befriedigung finden wird, als in ihrer jetzigen Thätigkeit. Wenn Du meinst, dass diese meine Ansicht die Frauenwürde herabsetzt, so glaube ich, dass Du sehr im Irrtum bist. Kann man sich etwas Höheres denken als den Beruf der Frau, brave menschen zu erziehen, auf denen die Zukunft und die Vervollkommnung der Menschheit beruht!! (Otto, 18. 4. 1867). Aber so sicher sich Otto in der Frauenfrage ist und so auffallend er Sophies Anspruch auf „Gemeinsamkeit“ nicht ausdrück­lich bestätigt, so bescheiden verhält er sich gegenüber Sophies Karrierehoffnungen und Vertrauen: Aufs höchste hat mich beglückt, dass Du mir sagst, die liebe M ­ utter finde darin ihre Befriedigung, dass sie Dich in sicherem Hafen wisse. Wenn darin auch eine grosse überschätzung meiner Kräfte liegt, so finde ich, dass dieser Gedanke den guten Eltern den Schmerz der Trennung erträg­licher machen wird … Ich fürchte, dass Du mich überschätzt, wenn Du auch nur im Scherz sagst, ich solle der beste Advokat Braunschweig’s werden. Wenigstens werde ich nicht der schlechteste und sicher einer der gewissenhaftesten sein. Aber an Tüchtigkeit werden mich manche übertreffen (ebd.). In den Verlobungsbriefen taucht das Frauenthema nicht mehr oft auf – Sophie spricht an einer Stelle von dem verbotenen Thema (Sophie, 16. 5. 1867), dafür aber bleibt es in den Briefen ­zwischen Emma und Sophie ein Dauerthema 13. Denn Sophie wird sich in Braunschweig auch in Frauenbildungsfragen sehr engagieren, war die Frauenfrage 1867 hier doch noch relativ weit hinter Hamburg zurück. Aber einen Konflikt z­ wischen den Eheleuten wird es nicht geben. Sophie wird das Haus führen, die Dienstboten dirigieren, die Kinder erziehen und sich verwöhnen lassen, aber auch in Braunschweig wird sie, soweit mög­lich, wissenschaft­liche, philosophische und kulturhistorische Vorträge besuchen und in vielen Fragen mitsprechen. Ihre Tochter Helene wird schließ­lich bei den Eltern durchsetzen, dass sie wie der ältere ­Bruder studieren darf, nicht die Wissenschaften, aber doch die Künste, 1903 in Karlsruhe und ­später in München. Aber so weit sind wir noch nicht. In der Frage der Geschlechterrollen bleibt Sophie „am Ball“; schon bald greift sie verantwort­lich in Ottos Leben ein. Sanft drängt sie ihn, sich wieder verstärkt um sein Büro zu kümmern und nicht zu lange in Sehnsuchts- und Zukunftsträumereien zu versinken. Auch Ottos Vater, der Arzt Dr. Magnus*, ermahnt seinen Sohn, den Beruf nicht zu vernachlässigen, was dieser getreu­lich an Sophie berichtet. Sie antwortet: Übrigens findest Du augenschein­ lich selbst, dass er [Ottos Vater] nicht unrecht hat, da Du Dich in Deiner Thätig­keit so wohl fühlst. Das ist auch nicht anders mög­lich, denn es hat Dich doch gewiss halb unbewusst

13 Siehe das Kapitel „Das ‚verbotene Thema von der Bestimmung der Frau‘“.

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gedrückt, dass es vielleicht nicht recht wäre, den Beruf zu vernachlässigen. Ist es nicht so? Das sieht Dein Weib auch ganz gut ein, wenn sie auch dazwischen etwas jammert und sagt: bleib bei mir, oder: komm her! […] (Sophie, 27. 4. 1867). Und Otto antwortet aus einem anderen Zusammenhang: Dagegen ist es wohl mög­lich, dass wir uns über manche Punkte noch mehr und klar aussprechen können, als bisher geschehen; ich bin aber im ­Voraus gewiss, dass wir uns in jeder Beziehung verstehen und verständigen. So ist es z. B. der Fall mit dem, was Du über die Vernachlässigung meines Berufes sagst. Wir haben darüber noch nicht gesprochen, und Du hast mir ganz aus der Seele gesprochen und mir eigent­lich erst klar gemacht, was ich nur dunkel fühlte (Otto, 28. 4. 1867). Das ist eine Figur, der man in den Briefen häufig begegnet: Das Gegenüber erkennt die Mög­lichkeiten des anderen und fordert sie liebe- und verständnisvoll ein. Otto wird ­später sagen, sie hätten sich ganz ineinander eingelebt – ­dieses Einfühlen in den anderen ist sicher der Liebe geschuldet, aber nicht nur. Wäre da nicht die Achtung vor einem gleichberechtigten Gegenüber und das Vertrauen in die Verständigungsbereitschaft des anderen, bliebe die Antwort ohne Gewicht. Allerdings fällt schon am Anfang auf, dass Sophie eigene Standpunkte vertritt, Otto berät, erklärt, auch fordert, aber eine Führungsrolle will sie nicht, die überlässt sie ganz selbstverständ­lich Otto, der seinerseits gern und ebenso selbstverständ­lich Verantwortung übernimmt. Damit verhalten sich die Brautleute bei aller Gleichberechtigung im (Brief-)Gespräch geschlechterrollenkonform. Ein anderer Punkt ist das Thema Luxus, das von Sophie scherzhaft angeschnitten wird und auf das Otto sehr ernst, ja besorgt eingeht. Zwar sind die Braunschweiger in einer deut­ lich besseren finanziellen Situa­tion als die Hamburger, aber da gilt es doch, einiges klarzustellen. Ein Krösus ist Otto nicht, er tritt bescheiden auf und will nicht auffallen. Als Sophie davon erzählt, wie erstaunt ihre M ­ utter und Tante Bertha (Meyer*) darüber waren, welcher Luxus mit Aussteuer getrieben würde und dass sie im Scherz gesagt hätte, unter solchem Luxus mache es ihr Verlobter nicht, antwortet er: Was Du über Aussteuer schreibst hat mich, obgleich Du selbst Dich über den Luxus lustig machst, doch in Sorgen versetzt, dass Ihr die einfachen braunschweiger Verhältnisse nicht genug berücksichtigt. Ihr müsst bedenken, dass Braunschweig gegen hamburg eine kleine Stadt ist, und dass wir keine reichen kaufleute,14 sondern einfache Bürgersleute sind. Wenn Deine liebe ­Mutter an meine M ­ utter schreibt so wird diese schon alles Nähere erörtern (Otto, 28. 4. 1867). Auch bei den Überlegungen zum Möbelkauf spielt die Frage unangebrachter Protzerei eine Rolle. Wo soll man die Möbel für die gemeinsame Wohnung kaufen? In Hamburg? In Braunschweig? Oder doch lieber in Berlin, was den Vorteil hätte, dass beide Verlobten hinreisen müssten und sich wieder treffen könnten, an einem dritten Ort? Denn dass man die Möbel gemeinsam aussuchen muss, ist selbstverständ­lich, richtet man sich doch einmal für

14 Die Vorstellung von „reichen Kaufleuten“ prägte das Bild der Juden nach außen, war andererseits aber auch für das Bild „der Hamburger“ bezeichnend.

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immer und ewig ein. Hamburg schied schnell aus: Was die Möbel Frage anbelangt, so hatte ich mit meiner Anfrage, die Möbel in Hamburg zu bestellen bei Tante Jeanette [Helfft*] sehr schlechte Aufnahme gefunden, da sie sagt, dass die hiesigen Möbel für uns gut genug und viel billiger s­ eien. Ich glaube übrigens wirk­lich, dass sie recht hat, denn wenn man wieder hier ist, und die hiesigen, viel bescheideneren Einrichtungen sieht, so vergisst man schnell die Ansprüche, die man unter dem Eindruck der eleganten Häuser in Hamburg macht (Otto, 27. 4. 1867).15 Über den dann folgenden Satz stolpert die Leserin des 21. Jahrhunderts: Übrigens habe ich heute einen Brief von einem Berliner Möbelfabrikanten bekommen, der von unserer verlobung gehört hat und uns seine Dienste anbietet. Ist das nicht höchst komisch? (ebd.). Wer gab denn vor 140 Jahren schon Adressen weiter, bis nach Berlin sogar, damit Werbung ins Haus kommen konnte? So weit entwickelt waren demnach die Wege der Marktforschung und Kundenerfassung selbst in Deutschland, das in der industriellen Entwicklung bekannt­ lich nachhinkte, wenn es auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schnell aufholte! Aber Sophie hat doch den Ernst dieser Zeilen verstanden und antwortet beruhigend auf Ottos Worte. Liebes Herz, über meine Aussteuer muss ich Dich vollständig beruhigen. Sind wir dennoch nicht reiche Kaufleute, Du Närrchen und nicht vielmehr viel einfachere Bürgers­leute als die Deinigen? Das Leben in meinem Elternhaus ist immer ein sehr ­einfaches gewesen. Wenn ich nichts entbehrt habe an äusseren Lebensgenüssen, was meine reichen Freundinnen hatten, so ist das hauptsäch­lich gewesen, weil Onkel Ferdinand [Meyer*] mich immer mit Allem überschüttet hat, aber dass ich mir einen einfachen und soliden Sinn bewahrt habe, kannst Du mir glauben, und dass meine Aussteuer in d ­ iesem Sinn gemacht wird, glaube mir auch. Bist Du nun beruhigt, oder schreckt Dich der Stempel, den ich für 11 sh [ch]16 bestellt habe? Sei versichert ich will mit Deinem Geld gut haushalten und nicht überflüssiges ausgeben (Sophie, 29. 4. 1867). Was Sophie hier anspricht, muss Otto längst bekannt sein. Sie stammt aus einem Quasi­ beamtenhaushalt mit sehr begrenzten Mitteln. Vermögen, wie es Ottos Familie besitzt, ist nicht vorhanden. Meyer Isler ist ein sehr fleißiger Mann, der schon um 5 Uhr morgens aufsteht, die Stunden bis zum Dienstbeginn für seine wissenschaft­lichen Arbeiten nutzt und nach dem Biblio­theksdienst Privatstunden gibt, um die Finanzen aufzubessern. Er wird ­später an die Braunschweiger Kinder schreiben, dass er sein ganzes Leben für den Erwerb bedacht sein musste (Meyer, 10. 11. 1867). Erst im hohen Alter wird es ihm besser gehen, wenn er zum Direktor der Bibliothek aufsteigt und schließ­lich mit vollen Bezügen pensioniert wird. Andererseits gibt es Emmas unverheiratete Brüder Ferdinand und Moritz, die als Kaufmann und Bankier offensicht­ lich vermögend sind. Sie schenken der Schwester manche Badereise, laden sie in Konzerte und 15 Möbel bzw. Wohnung und Aussteuer haben eigene Kapitel und werden hier zunächst nur gestreift. 16 Bei Hannah Peters durchgehend als „ch“, vermut­lich aber „sh“ = Schilling. Zur Hamburger Währung: Als letzter der norddeutschen Staaten trat Hamburg 1871 dem Deutschen Reich bei. Als Konsequenz ­dieses Beitrittes wurde die alte Hamburger Währung – 12 Pfennige auf den Schilling, 16 Schilling auf die Mark Banco – durch die Dezimalwährung des Reiches ersetzt.

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Theateraufführungen ein und sorgen dafür, dass Emmas Tochter Sophie all das bekommt, was die Eltern für vertretbar halten. Auf den Braunschweiger Otto müssen der islersche Haushalt, die relativ große Wohnung – Onkel Moritz (Meyer*) bewohnt zwei Zimmer, die von Islers mitbenutzt werden, weil er selten anwesend ist – und die „moderne“ Einrichtung den Eindruck des Großstädtischen und Gutsituierten gemacht haben, kannte er doch den Hintergrund nicht: Drei Jahre zuvor, 1864, hatten die Brüder Moritz, Ludwig, Ferdinand und Siegmund ihrer Schwester Emma eine neue Einrichtung für die Wohnstube zur Silbernen Hochzeit geschenkt, samt türkischem Teppich und hohen Spiegeln, um den einfachen Gelehrtenhaushalt […] zu schmücken, die Geschenke anderer Verwandten und Freunde waren dazugekommen, Kunstgegenstände, Geschirr und Silbersachen, ein Reichtum wie bei einer grünen Hochzeit, sodass die Räume plötz­lich elegant wirkten.17 Mög­lich, dass dieser sichtbare Lebenszuschnitt Otto beunruhigt. Hinzu kommt der bildungs- und besitzbürger­liche Freundeskreis in Hamburg. Wen lernt Otto denn bei Islers kennen? Da sind zunächst Emmas Verwandte, unter denen es neben reichen Kaufmännern und Bankiers auch in der politischen Öffent­lichkeit agierende Leute gibt. Onkel Ludwig (Meyer*) war im Handel mit Staatspapieren, Wechsel- und Kommissions­ geschäften vermögend geworden, sein Schwiegersohn, der Jurist Dr. Hermann May*, Anna Mays* Mann, sitzt 1867 ebenso in der Hamburger Bürgerschaft 18 wie Onkel Siegmund (Meyer*), der erfolgreiche Kaufmann. Zu den engen Freunden des Hauses zählt Dr. Isaac Wolffson*, der sich als jüdischer Anwalt nicht nur ein Vermögen erarbeitete, sondern sich schon 1848 politisch engagiert hatte und in die „Konstituante“ gewählt worden war.19 Gegenwärtig ist auch er ein Mitglied der Bürgerschaft, einige Jahre zuvor sogar deren Präsident, und damit der erste Jude, dem das in einem Länderparlament gelang. Nach der Reichsgründung sollte er im Reichstag als Abgeordneter Hamburgs zehn Jahre lang eine wichtige Rolle spielen. Auch Dr. Moritz Adolph Unna*, Hausarzt bei Islers und Freund der Familie, hat in der Hamburger politischen Öffent­lichkeit einen Namen, auch er ehemals Mitglied der „Konsti­tuante“. Seine Tochter Julie lässt sich zur Künstlerin ausbilden und wird s­ päter als Julie de Boor° Meyer Isler (und viele bekannte Hamburgerinnen und Hamburger) porträtieren. Sein Sohn Paul* wird sich als Dermatologe einen Namen machen. Da sind die Wohlwills: die Witwe Immanuel Wohlwills* und ihre Tochter Anna, Lehrerin und s­ päter Schulleiterin°; die Söhne Emil* und Adolph Wohlwill*, die als Wissenschaftler bekannt werden. Nicht zu vergessen: Pius Warburg*, Bankier und Kunstmäzen, der so gern zu Gesprächen ins Haus kommt. Natür­lich verkehren Islers auch mit den berühmten (Reform-)Predigern des „Tempels“, Dr. Frankfurter und Dr. Salomon*, und deren Familien. Das alles sind Hamburger Juden, die in der Öffent­lichkeit der Hansestadt eine Rolle spielen 20 und natür­lich in der Judenheit bekannt sind, auch dann, wenn 17 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 42 f. 18 Parlament der Hansestadt. 19 Die Hamburger Konstituante war eine Art Vorparlament, das einen Verfassungsentwurf erarbeitete und 1850 wieder aufgelöst wurde. 20 Krohn, Juden in Hamburg, 1974, S. 24 f.

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Abb. 3  Brief von Otto Magnus an Sophie, um sie bei ihrer Ankunft in Hamburg mit Gruß und Kuss zu empfangen, 1870

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sie sich ausdrück­lich von der jüdischen Religion und damit von der Judenheit getrennt haben wie etwa Emil Wohlwill*.21 Zählt man Gabriel Riesser* und den Altonaer Arzt Steinheim* dazu, deren Namen über die Grenzen Hamburgs bekannt geworden und die inzwischen verstorben sind, und Persön­lichkeiten wie den badischen Abgeordneten Welcker*, der die jungen Eheleute Isler besuchte, ergibt sich ein anspruchsvoller Bekanntenkreis, dessen Namen auch heute noch in Hamburg und z. T. über Hamburg hinaus einen guten Klang haben. Kein Wunder, dass sich Otto der Hamburger Braut gegenüber als Kleinstädter fühlt. Einen derartigen Bekanntenkreis hat er, haben seine Eltern in Braunschweig nicht. Es gibt die Familie und einige Verwandte, die (akademischen) Kegelfreunde und Aronheims*. Von daher ist die Hochzeit auch für ihn ein gewagter Schritt. Hamburg und seine BewohnerInnen geben sich weltmännisch und unabhängig – Otto wirft ihnen mangelndes Na­tionalgefühl vor. Der Zuschnitt ist gewiss ein anderer als in dem herzog­lichen Braunschweig, das noch dazu inzwischen von Preußen „geschluckt“ worden war 22, also seine Selbständigkeit verloren hatte.23 Das betrifft nicht nur Fragen des Lebensstandards, sondern auch Verhaltensweisen und gesellschaft­liche Gepflogenheiten. Die gebildete Hamburger Braut ist zwar für Otto ein Objekt des Stolzes, aber durchaus etwas riskant. Denn auffallen soll sie nicht, genauso wenig wie die Wohnung. Andererseits: Wird sich die Großstädterin in die kleinstädtischen Verhältnisse so einfach s­chicken? In Braunschweig besucht man sich nur, wenn man eingeladen wird, ein „offenes Haus“ wie in Hamburg, wo sich spontan anregende Gespräche ergeben, ist nicht üb­lich und kann auch nicht einfach initiiert werden. Nicht üb­lich ist auch, dass Damen „Vorlesungen“ besuchen und darüber diskutieren, das ist Sache der Herren, während die Damen sich gegenseitig zum Tee auffordern. Bei Einladungen, sollte Sophie ­später mit Erstaunen feststellen, trennen sich Damen und Herren oder Jung und Alt nach dem Essen. Unter Herren und Alten spricht man von Politik und Wirtschaft oder findet sich zu einem Spiel zusammen, bei den Damen wird geplaudert oder gespielt und unter den Jungen werden lustige Begebenheiten und Witze erzählt und viel gelacht. Das alles ist tiefste Provinz und von daher kaum zu beheben. Otto und Sophie werden die Einladungen anders handhaben, aber es wird lange Jahre dauern, bis sie einen etwas anspruchsvolleren Gesprächskreis um sich gesammelt haben, doch an den Hamburger kommt er nicht heran. In der ersten Zeit wird Sophie nicht einmal interessante Gesprächspartnerinnen finden und schon gar keine Freundin. Diese Schwierigkeit muss Otto geahnt und sich deshalb auch in Fragen des gesellschaft­lichen Umgangs als „Provinzler“ gefühlt haben. 21 Er beantragte 1863 das Bürgerrecht und verweigerte ausdrück­lich die Angabe einer Religionszugehörigkeit. Ebd., S. 57. 22 Mehr dazu im Personenverzeichnis unter: Wilhelm*, Herzog von Braunschweig-­Wolfenbüttel. 23 Braunschweig zählte zwar größenmäßig zu den Mittelstädten, aber im Vergleich schnitt es nicht so gut ab: Hamburg hatte schon vor 1871 knapp 300.000 Einwohner, Braunschweig 1867 wenig mehr als 50.000; die Stadt bewahrte ihr „altdeutsches“ Aussehen, während Hamburg nach dem großen Brand 1842 und dem Wiederaufbau durch seine zentrale Wasserversorgung und Abwasseranlagen „glänzte“.

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Abb. 4  Stadtplan von Hamburg 1904

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DIE ROLLE DER FA MILIE Längst ist im bisher Gesagten deut­lich geworden, dass die Eltern der Verlobten unmittelbar dazu gehören. Was sie sagen, was sie raten, wird meist angenommen oder doch sehr ausführ­ lich bedacht und abgewogen. Ganz selbstverständ­lich wird Otto als Sohn in die Familie Isler aufgenommen wie Sophie als weiteres „Kind“ im Hause Magnus willkommen ist. Grenzen setzt die „Schick­lichkeit“. Vor der Verheiratung etwa darf Otto nicht bei Islers wohnen. Er braucht immer ein Hotelzimmer, während Sophie, wenn sie mit der M ­ utter nach Braunschweig kommt, bei den künftigen Schwiegereltern logiert. Denn Otto lebt in seiner eigenen Wohnung und kommt nur zum Essen „nach Hause“. Vor den Eltern gibt es keinerlei Geheimnisse. Alle Briefe werden vorgelesen, übrigens auch gern bei nahen Verwandten und Freunden. Aus der Hand geben Sophie oder Otto die Briefe jedoch nicht: sie lesen vor und lassen manchmal etwas weg. Die Mütter verstehen das, die Väter sind eher etwas erstaunt, dass nicht jedes Wort mitgeteilt wird. Meine geliebten Alten sind ganz glück­lich über alles was ich ihnen aus Deinen Briefen mittheile und Vater besonders hat gar keine Idee dass etwas drin stehe was ich nicht zeigen möchte. Sind es denn Geheimnisse fragte er ganz naiv (Sophie, 27. 4. 1867).

Das klingt heute seltsam und nach Verletzung der Intimsphäre, wird aber offensicht­lich von allen Beteiligten als ganz natür­lich angesehen. Da die Brautleute sich auch den gegenseitigen Familien bekannt machen müssen, bleibt eigent­lich kein anderer Weg, als eben aus diesen Briefen vorzulesen oder zu referieren, denn Zeit, in diesen Wochen noch an andere Personen zu schreiben, ist nicht übrig: Ich freue mich, dass Du zu Hause auch aus meinen Briefen vorliest. Du kannst Dir garnicht denken, was für ein böses Gewissen ich Deiner ­Mutter und Anna gegenüber habe; ich finde keinen Ausdruck arg genug dafür, dass ich ihnen nicht schreibe. Und doch kann ich nicht dazu kommen, da ich den besten Theil des Tages so schon an der Schreibmappe zubringe (Sophie, 1. 5. 1867, abends, 10 Uhr). Trotz der vielen und langen Briefe leiden beide darunter, dass sie sich nicht öfter sehen können. Während aber Sophie in Hamburg auf viel mitfühlende Sympathie trifft, verlangen die Braunschweiger von ihrem Sohn mehr Härte. Mir wird unsere Trennung in einer Weise leichter gemacht als Dir: ich finde bei den Meinigen die vollste Sympathie und Theilnahme für meine Sehnsucht. Die beiden Eltern theilen sie so mit mir, dass ich mich nie allein fühle und in jedem Augenblick von Dir sprechen kann. ­Mutter spricht ihr Verlangen Dich hier zu haben in jedem Moment aus, und ich fühle mich nie in der

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Opposi­tion, die jedes Gefühl schärfer und bitterer fühlen lässt. Wenn Du ihnen das zu Hause erzählst vielleicht machen sie es Dir dann auch etwas leichter, Du mein liebes kleines Thier. Wir wollen immer Sympathie füreinander haben in kleinen und in großen Dingen, nicht wahr? (Sophie, 1. 5. 1867). Sophies Vorschlag, von Otto begrüßt, führt aber leider nicht zu mehr Mitgefühl, fürchten die Eltern doch, dass der Sohn zuviel Zeit in die Brautschaft investiert. Bezeichnend ist, ­welche Konstruk­tionen Otto entwickeln muss, um Sophie noch vor ihrem in Aussicht gestellten Braunschweig-­Besuch seinerseits in Hamburg wiederzusehen. Als näm­lich seine Freunde einen Wochenendausflug „nach dem Burgberg“ planen, will er nicht mitfahren, sondern lieber zu Sophie nach Hamburg reisen: Da werde ich meinen strengen Eltern vorstellen, dass wenn ich nicht verlobt wäre, ich natür­lich an dieser Expedi­tion Theil nehmen und auf dasselbe Zeit und geld verthun würde, dass ich aber nun statt dessen lieber am Sonnabend nach Hamburg zu meinem Mädchen reisen und bis Montag dort bleiben will. Ich hoffe, dass sie d ­ iesem Plan nicht zu grossen Widerstand entgegensetzen werden und dass ich sie durch die Ausführung nicht gar zu böse mache (Otto, 5. 5. 1867, 9 Uhr). Und noch im selben Brief teilt Otto das Ergebnis seiner Anfrage mit: Nach Tisch Ich habe meinen reiseplan den Eltern vorgetragen und die Genehmigung, frei­lich nur bedingungsweise erhalten. Ich darf näm­lich zu Dir kommen, wenn 1.) Ihr feier­lich versprecht Pfingsten zu uns zu kommen. 2.) ich mich verpflichte ausserdem nur noch einmal vor der Hochzeit, näm­lich in den gerichtsferien nach Hamburg zu reisen. Die mich betreffende Bedingung habe ich acceptiert, und es fragt sich nur ob Du Deine lieben Eltern dafür bewegen kannst die unter 1) genannte Bedingung zu bewilligen. – […] Wenn Ihr Pfingsten nicht herkommen könnt, soll ich deshalb nicht jetzt schon zu Euch kommen, weil sonst der Zwischenraum bis zu den Gerichtsferien zu lang wird […] (Otto, 5. 5. 1867). Ja, das liest man richtig: Der 30-jährige Otto, niedergelassener Advokat, mit eigener Wohnung, Büro und Angestellten, fragt seine „strengen Eltern“ um Erlaubnis, ob er seine Braut besuchen darf. Auch ihm selbst fällt seine Formulierung auf und deshalb erklärt er Sophie: Ich schreibe „darf“ nicht in des Wortes strenger bedeutung, denn es versteht sich von selbst, dass ich mein eigener Herr bin und thun und lassen kann, was ich will. Du kennst mich aber zu gut, um [nicht] zu wissen, dass ich eine s­ olche Reise nur unternehmen würde, wenn meine Eltern damit einverstanden sind (Otto, 5. 5. 1867). Das ist das Besondere der familialen Beziehung: Trotz aller Selbständigkeit bleibt Otto Kind im Haus seiner Eltern. Das bedeutet, dass er die Wünsche der Eltern respektiert, ihr Urteil anerkennt und sich in der Regel ihren Vorstellungen unterwirft. Denn der Wunsch der Eltern erfolgt ja nicht willkür­lich, sondern begründet, und damit für Otto einsehbar. Dass er damit bei seiner Braut auf Verständnis rechnen kann, weiß er. Denn für vernünftige Begründungen sind Sophie und Otto immer offen. Beider Eltern, selbst durch die Ideen der Aufklärung geprägt, hatten einen Erziehungsstil praktiziert, der an Einsicht appellierte und die Kinder zur Zustimmung aufforderte. Dass es außerdem im Hause Magnus auch durchaus „handfest“ zugegangen war, soll nicht verschwiegen werden, während Islers strikte Gegner der Prügelstrafe waren und sind. Die Rolle der Familie   |

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Otto kann zu Recht darauf bauen, dass Sophie ihn versteht, wenn er dem Wunsch seiner Eltern nicht zuwider handelt. Denn auch sie protestiert nicht gegen elter­liche Entscheidungen, auch wenn sie ihren Wünschen entgegenstehen. Als näm­lich ihre ­Mutter die (Pfingst-) Reise nach Braunschweig nicht mehr für nötig hält,24 widerspricht sie nicht: […] nur zum Vergnügen reisen hält sie [die ­Mutter] in ­diesem Jahr, wo ohnehin schon so grosse Ausgaben sind, für unvernünftig. Vater weiss von alledem noch nichts, da er immer schon fort ist, wenn Dein brief kommt. Ich schreibe Dir also das Resultat unserer ersten gespräche. Und ich kann M ­ utter nur recht geben, und meine eigenen Wünsche geltend zu machen ist garnicht meine Art, wenn irgend w ­ elche Gründe, die mir einleuchten, dagegen sprechen. Denn ich bin immer ein „sehr verständiges Mädel“ gewesen (Sophie, 3. 5. 1867). Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, dass Otto nicht in Hierarchien gegenüber seiner Braut denkt. Von Anfang an spricht Otto zu einer gleichberechtigten Partnerin, weder freund­lich belehrend noch herablassend. Da ist auch kein Führungsanspruch in der Ehe, obwohl Sophie ihm diese Rolle eigent­lich mit der Unterordnung unter seinen Schutz anbietet – für ihn kommt nur Umsorgen infrage. Wir begegnen einem Paar, das miteinander spricht, Argumente anhört, abwägt und immer wieder zu gemeinsamen Entschlüssen kommt und schließ­lich eine partnerschaft­liche Ehe führt. Rücksichtnahme auf andere lernte man im Elternhaus. So ist Rücksicht auf die Wünsche der Eltern und Mitdenken ihrer Situa­tion selbstverständ­lich. Das zeigt sich auch in dem Moment, als Otto seiner Braut mitteilen muss, dass aus dem frühen Hochzeitstermin nichts werden kann. Es ist seine M ­ utter, auf die Rücksicht genommen werden muss. ­Mutter sagt, wenn sie auch bisher geglaubt hätte, dass Tante Jeanette [Helfft*] die Einrichtung besorgen würde, so sehe sie doch ein, dass dies vollauf auf ihre Schultern fallen werde, und sie könne damit nur fertig werden, nachdem die Wohnung ganz fertig sei. Ich halte es nun für meine Pflicht, meine M ­ utter in keiner Weise zu drängen, weil ich ihr so wenig wie mög­lich Angst und Sorgen machen möchte. Ich mag garnicht denken, dass wenn vielleicht einmal ein Rückfall von Mutters altem Leiden 25 eintreten sollte, dass ich mir den Vorwurf machen müsste dass ich aus egoistischen Motiven vielleicht dasselbe verursacht haben sollte. – Du brauchst durchaus nicht zu fürchten, dass ich wirk­lich an den Eintritt ­dieses Unglückes glaube, aber ich möchte auch für die entfernteste Mög­lichkeit nicht die geringste Schuld auf mich laden. Damit wirst Du sicher einverstanden sein. Ich habe auch aus d ­ iesem Grunde, als M ­ utter mir ihre Ansicht aussprach allerdings meinen Kummer kund gegeben, aber gleich hinzugefügt, dass man sich in das Unabänder­liche fügen müsse (Otto, 2. 5. 1867).

24 Die Reise findet dann doch statt. 25 Die verstreuten Anspielungen in den Briefen wecken die Vermutung, dass Minna Magnus eine schwere Depression hatte, die wohl damals noch als „Geisteskrankheit“ verstanden wurde; deshalb engagierte die Familie Helene Camphausen, die sich auf die Pflege von Geisteskranken verstand.

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Sophies Antwort zeigt, dass Otto seine Braut richtig eingeschätzt hat. Mein geliebter Mann! Deinen Brief mit seiner überraschenden Mittheilung habe ich vor 1/2 Stunde g­ elesen und seither gehörig überdacht. NACHDEM DAS ERSTE Gefühl, wie lang werden 6 Monate sein, wenn schon 8 Tage so endlos erscheinen, überwunden, wird mir die Sache von Minute zu Minute plausibler. Du schreibst ohne mich könne kein definitiver Entschluss gefasst w ­ erden, doch davon kann natür­lich keine Rede sein. So gut wie Dir schon im ersten Moment der großen Enttäuschung es einleuchtete, und Du das Gefühl hattest: so und nicht anders wird es werden, so auch bei mir, und ich brauche über die Ursache kein Wort zu verlieren (Sophie, 3. 5. 1867). Zum ersten Mal wählt Sophie die Anrede „Mein geliebter Mann“ und hebt ihre Antwort damit auf eine besondere Stufe. Dass der hohe Rang, den die Familie im Leben der Verlobten einnimmt, nicht nur ein allgemeines Zeitphänomen ist, sondern auch und vor allem etwas speziell Jüdisches, soll hier schon vorgreifend gesagt werden. Zu oft begegnet die Leserin in den Briefen der Überzeugung, dass die Familie, anders und mehr als im Christentum, der unzerstörbare und geheiligte Kern des Zusammenlebens ist, als dass sie hier ungenannt bleiben dürfte. Die Abgrenzung zum Christentum in dieser Frage, die Emma beispielsweise bis in ihre Lektüre des Neuen Testaments hinein zeigt, wird häufig beschworen und ist auch für unser heutiges Verständnis wichtig. Manches Verhalten der Brautleute findet hier seine Begründung.

Die Rolle der Familie   |

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FR AGEN DER SCHICKLICHKEIT Nicht immer lassen sich die Wünsche des Brautpaares realisieren. Das Zusammentreffen der Verlobten muss auch den Rahmen des Schick­lichen beachten. Das gilt für die Häufigkeit der Begegnungen so gut wie für das Verhalten in Gegenwart Dritter. Dass die Regeln des Anstands im 19. Jahrhundert eng gezogen waren, gehört heute zum Allgemeinwissen. Was das im Einzelnen bedeutete, zeigen die Brautbriefe. Zwar durften Otto und Sophie sich in Gegenwart der Familien mehrfach sehen, aber derartige Treffen mussten durch Notwendigkeiten legitimiert werden. Als Otto Anfang April (7. bis 15. April) zur Verlobung nach Hamburg kam und eine Woche blieb, war es selbstverständ­lich, diese Zeit nicht im Hause oder in der engsten Familie zu verbringen, sondern Antrittsbesuche bei den nächsten Verwandten und Freunden der Familie zu machen. Allerdings reichten die wenigen Tage nicht aus, deshalb spielten derartige Besuche auch während Ottos Osteraufenthalt (19. bis 25. April) eine wichtige Rolle. Als Otto zum dritten Mal nach Hamburg kommt (10. bis 13. Mai), um Sophie zu besuchen, während seine Freunde ihre „Harzreise“ machen, müssen die letzten Besuche durchgeführt werden. Dreimal war Otto also vor Pfingsten in Hamburg, jetzt muss er sich seiner Praxis widmen und stellt seinen nächsten Besuch erst für die sechswöchigen Gerichtsferien im Sommer in Aussicht.26 Als sich allerdings die Tage ­zwischen seinem verlängerten Wochenende in Hamburg und der Pfingstreise Sophies in Begleitung der M ­ utter nach Braunschweig zu sehr dehnen, bricht Otto aus der Bahn selbstverständ­licher Mäßigung aus. Am 20. Mai, abends, 10 Uhr, schreibt er einen „Brandbrief“ nach Hamburg: Ich kann die Trennung von Dir nicht mehr ertragen, ich muss wieder mein Weib an meine Brust drücken […]. Da ich nun wirk­lich nicht zu Dir kommen kann, […] so gibt es kein anderes Mittel, als dass Du so schnell wie mög­lich herkommst. – Ihr werdet vielleicht staunen, liebe Eltern wenn Ihr dies hört […] Ich sehe ja ein, das meine Bitte schreck­lich unverschämt ist, aber ich kann nun unsere Trennung nicht länger ertragen und flehe Euch an meine Qualen zu beenden. Überlegt es Euch, wie die Sache am besten einzurichten ist, ob Sophie allein kommen soll, ob Ihr Beide mitkommen könnt, ob ­Mutter allein mitkommen kann. Das aber müsst Ihr mir glauben, Sophie muss

26 Reisen der Verlobten: Otto in Hamburg (7.4.–15. 4. 1867; 19.4.–25. 4. 1867; 10.5.–13. 5. 1867), Sophie in Braunschweig (6.6.–14. 6. 1867), beide in Berlin (17.–7. 7. 1867), Otto in Hamburg (17.7.–5. 8. 1867).

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kommen! Und jetzt, wo er zu den eigent­lichen Adressaten spricht, wird Sophie zum Kind, zu „Zöpfchen“, wie sie bei den Eltern noch immer heißt, über das verhandelt wird: Wenn „Es“ allein kommt, so bringt der gute Papa „Es“ nach Harburg und ich hole es in Lehrte ab. Gegen Pfingsten kommt Ihr Beide dann her und seht Euer Kind wieder. Wenn Ihr wüsstet, wie es in meinem herzen aussieht, so würdet Ihr meine Bitte nicht abschlagen. Bitte, bitte erweist mir die Wohltat! […] Die Eltern gewähren ja so gern die Bitten der Kinder, wenn es ihnen auch noch so schwer wird, und ich bin doch jetzt auch Euer Kind (Otto, 20. 5. 1867, abends 10 Uhr). Noch mit dem Nachtzug geht der Brief nach Hamburg und Otto hofft bereits „übermorgen“ auf eine positive Antwort. Aber die Reak­tionen aus Hamburg sind einmütig entsetzt! Sophie, die ihren Brief an Otto am 20. Mai, abends, 11 Uhr, ganz im „normalen“ vernünftig-­liebevollen Ton begonnen hatte, fährt am nächsten Tag mittags fort: 1 Uhr. Noch zittert mir der Schreck von vorhin in allen Gliedern und ich habe mich an Deinen ersten Brief [19. 5. 1867, Sonntagmorgen, 8 Uhr] erholen müssen in dem das Licht Deiner Liebe so hell und rein leuchtet, dass seine Strahlen mir ins herz leuchten und jeden Winkel desselben erhellen. In Deinem zweiten aber flackert und spricht es unruhig, die Funken fliegen umher, sodass man sich fürchten muss daran verbrannt zu werden. Lass mich auch bald wieder an meiner schönen Flamme laben, die mir mein ganzes Leben bis in den Tod leuchten soll. Ich möchte unend­lich gern, mein geliebter, morgen eine Depesche von Dir bekommen, denn der Gedanke bis übermorgen in der Spannung zu bleiben, wie Deine Stimmung ist, ist mir schreck­lich. Denn Du kannst Dir wohl denken, dass mir weh ums Herz ist, wenn ich mir Deinen Seelenzustand denke, aus dem jener Brief hervorgegangen ist. Dein Brief morgen wird mir kein richtiges Bild geben, denn selbst wenn Du ganz so denkst wie ich hoffe, wirst Du erst unsere Antwort abwarten, ehe Du Deine Bitte zurücknehmen wirst. „Sei ewig glück­lich wie Du mich liebst“! (Sophie, 20. 5. 1867, 11 Uhr). Sophies Brief zeigt sie von einer neuen Seite: sie greift zu einer Lichtmetaphorik, um dem Liebsten seinen Fehlgriff zu veranschau­lichen: Das helle und reine Licht seiner früheren Briefe ist zum unruhigen Flackern, zum Funkenflug mit Verbrennungsgefahr geworden. Die „schöne Flamme“ soll ihr wieder ruhig leuchten, lebenslang. Und zugleich spricht sie vom Mitleiden, weil sie ahnt, nein: weiß, dass Otto sich an die Erfüllung seiner Bitte klammern wird, bis ihre Absage eingetroffen ist. Die Mitleidsgeste soll die Absage erträg­licher machen. Auch Emma Isler greift zur Feder, um dem künftigen Schwiegersohn ruhig, aber entschieden entgegenzutreten: Mein geliebter Sohn! Dein Brief hat mich unbeschreib­lich erschreckt. nicht dass ich nicht begreife dass Dich die Sehnsucht einmal übermannt hat und Du aufschreist „ich kann es nicht länger ertragen“; aber dass Du forderst, Sophie solle etwas tun, was gegen alle ­Sitten wäre ist was mich betrübt. Das rechte Lieben ist, lieber selbst leiden und tragen als den Anderen in eine Lage bringen in die er nicht gehört, und so wie ich von Sophie das in bezug auf Dich fordern würde, so auch von Dir für sie; denn Du bist mein lieber eigener Sohn der weder im Grossen noch im Kleinen das was Recht ist je aus den Augen verlieren soll. Mit weisen Bemerkungen über die kurze Zeit Eurer Trennung verschone ich Dich, denn jeder hat nur in sich das Maass wie schwer ein Tag Fragen der Schicklichkeit   |

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wiegen kann. Aber jeder muss auch in sich Kraft finden, das zu überwinden was ihm schwer erscheint. Ich kann nur Gott aus tiefster Seele bitten, er möge Dir nie härteres auferlegen. Dass Du längst vor Empfang dieser Zeilen Dein Gleichgewicht wieder gefunden hast und sie entbehren könntest, weiss ich und deshalb will ich Dir blos noch sagen, dass ich Dich von ganzem herzen liebe. Deine ­Mutter (ohne Datum, S. 117). Auch Emmas Argumenta­tion erreicht in dieser außerordent­lichen Situa­tion ein in den Briefen bisher nicht gekanntes Niveau und eine beeindruckende Komplexität. Auffallend ist, wie sowohl Sophie als auch Emma darauf bauen – und fordern –, dass Otto inzwischen von allein sein Gleichgewicht wiedergefunden und das Unsinnige, ja Skanda­ löse seiner Bitte eingesehen hat. In der Tat – Ottos Brief am Morgen nach der nächt­lichen Expedi­tion zum Braunschweiger Bahnhof, um den „Brandbrief“ noch an den Nachtzug zu bringen, berichtet, dass Otto die Erfüllung seiner Bitte bereits „geträumt“ habe. Allerdings ist der Tonfall deut­lich ruhiger und inhalt­lich geht es um Fragen der Einrichtung und um die Gasbeleuchtung. Und auch ein zweiter Brief vom 21. Mai bleibt getragen von der Hoffnung auf eine positive Antwort. Ottos Reak­tion auf die Absage aus Hamburg erfolgt am 22. Mai: Wie schäme ich mich jetzt, der ich doch die Pflicht habe von uns beiden am wenigsten mich von meinen gefühlen hinreissen zu lassen, so schwach gewesen bin. Diese Zeilen sind für Euch beide, für ­Mutter und Sophie, geschrieben. Ihr habt wohl recht, dass ich gestern Morgen schon ruhiger geworden war, und den Brief von vorgestern Abend nicht geschrieben haben würde, und dass ich nur meine Bitte nicht zurücknehmen wollte, weil ich erst Eure Antwort lesen wollte. Ihr habt auch recht in der Annahme, dass Niemand von meinem Begehren etwas gewusst hat. Nur als ich den Meinigen gestern davon sagte, schüttelten sie den Kopf und sagten mir Eure Antwort so voraus, wie sie eingetroffen ist. Es ist sonst immer mein Prinzip nie einen Entschluss zu fassen, ohne geschlafen zu haben. Warum bin ich ihm d ­ ieses Mal untreu geworden? Ich sehe wohl ein, dass mir das Herz mit dem Verstand davon­gelaufen ist. Dasselbe ist auch schon anderen Leuten passiert, ich hoffe aber, dass es nicht wieder vorkommen soll (22. 5. 1867, ­mittags, 11 1/2 Uhr). Und auf einem weiteren Blatt erklärt Otto seine Seelenlage, hervorgerufen durch „körper­liche“ Unbehag­lichkeit. Und nun ist er wieder ganz der rücksichtsvolle Sohn, der vor allem die künftigen Schwiegereltern nicht verletzen wollte: Ich bereue mein Begehren um so mehr, als Du liebe Mama, jüngst so leidend gewesen bist und diese Aufregung sicher­lich schäd­lich auf Dein befinden gewirkt hat. Auch muss ich Euch darin Recht geben, dass mög­licherweise darüber hätte geredet werden können, und dass man solches Gerede vermeiden muss. Dass übrigens die Sache selbst unpassend gewesen wäre, davon kann ich mich nicht überzeugen, bin aber wie schon gesagt mit Euch einverstanden, dass man auch der Ansicht der Welt Koncessionen machen muss. […] Ich kann Euch nun frei­lich nicht versprechen, dass ich nicht wieder so „unverständig“ sein will. Für Eure beiden Briefe sage ich Euch innigen Dank. […] Wenn Ihr mir noch nicht verziehen habt, was aber hoffent­lich schon geschehen ist, so bitte ich euch und den lieben Vater vielmals um vergebung (undatiertes Blatt, S. 118).

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Zwei Dinge fallen auf: Ottos Bekenntnis zu seinen Gefühlen, und die Frage der Schick­ lichkeit. Gefühle und deren Ausdruck nach außen gestattete das Denken der Zeit am ­ehesten noch der Frau. Je höher sie allerdings in der gesellschaft­lichen Hierarchie stand, umso unerlaubter waren sie. Bürger­liche Erziehung bedeutete im 19. Jahrhundert, dass auch Frauen lernen mussten, ihre Gefühle zu beherrschen und nicht nach außen zu zeigen. Das einhellige Entsetzen bei Islers zeigt, wie hoch innerhalb bürger­licher Wertschätzung diese ­Familie anzusiedeln ist. Beherrschung und Mäßigung des Gefühls gehörten zum bürger­ lichen Pflichtenkanon, und auch deshalb wird Emma so grundsätz­lich. Sie ist bereit, Otto einen Ausbruch seiner Empfindungen und offene Worte einzuräumen, aber auf keinen Fall darf sich daraus ergeben, dass Otto den Rahmen des real Mög­lichen so völlig aus den Augen verliert. Diese Forderung würde Emma auch an Sophie erheben, aber während sie bei dieser ihrer Erziehung vertrauen durfte, die ein so „verständiges Mädel“ zum Ergebnis hatte, sieht sie zum ersten Mal bei Otto Veranlassung, grundsätz­licher zu werden. Wenn der künftige Schwiegersohn schon bei solch kleinen Problemen, wie sie eine mehrwöchige Trennung darstellt, die Haltung verliert, wie soll sie ihm dann die geliebte Tochter anvertrauen? Ob Otto erkannte, dass sein „Brandbrief“ den Vertrauensvorschuss, den ihm Islers entgegenbrachten, verringerte? Aus seinen Briefen geht das nicht hervor. Wichtiger erscheint mir, mit welcher Selbstverständ­lichkeit Otto als Mann Mitte des 19. Jahrhunderts Gefühle und deren offene Deklara­tion für sich beansprucht. Ja, er gibt sogar an, er könne nicht dafür gut sagen, dass seine Gefühle nicht erneut mit ihm durchgingen. Mög­licherweise war die Erziehung in ­jüdischen Familien eine offen liebevollere und weniger rigide als in christ­lichen und vor allem preußischen Familien Mitte des 19. Jahrhunderts, wo schon die ganz kleinen Jungen mit dem Holzgewehr spielten und auf Militärisches, Härte und Emo­tionslosigkeit erzogen wurden; sie hatten keinen größeren Wunsch, als ­später einmal Soldat zu werden. Dass dazu ein ganz bestimmter Männertyp erzogen werden musste, wissen wir heute. Schoben religiöse Vorbehalte und die Jahrhunderte dauernde Ausschließung jüdischer Männer vom Militärdienst hier der Erziehung zu harter Männ­lichkeit Riegel vor?27 Um auf die Frage der Schick­lichkeit zurückzukommen: Was war so verwerf­lich an einer Soloreise Sophies nach Braunschweig? War sie nicht erst kürz­lich wochenlang Gast von ­Jeannette Aronheim* gewesen? Jungen Damen der bürger­lichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war es zwar erlaubt, selbständig Reisen anzutreten, doch sie reisten in der Regel nicht allein, sondern wurden von Vater, Bruder oder Onkel begleitet oder wenigstens in den Zug gesetzt, und es wurde stets darauf gesehen, dass sie ein Damenabteil benutzten und/oder 27 Noch ist das Thema jüdischer Männ­lichkeit nicht abschließend erforscht. In dem Workshop „Jewish Masculinities in Germany“ 2005 an der University of California at San Diego wies Stefanie Schüler-­ Springorum auf die Distanzierung zu militärischen Aspekten hin und stellte dem „qualities like male beauty and gentleness“ im 19. Jahrhundert gegenüber und die Bevorzugung anderer männ­licher „charac­teristics like determina­tion, integrity and social and economic advancement“. Bei ihren Untersuchungen stützte sie sich auf die Autobiographie von Aron Liebeck, eines jüdischen Geschäftsmanns.

Fragen der Schicklichkeit   |

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eine ältere Dame im Abteil vorfanden, die während der Reise als weib­licher Schutz gelten konnte. Die Ankunft musste ebenso geregelt sein, dass ein männ­licher Begleiter zur Stelle war. Das galt vor allem für junge, unverheiratete Frauen. Sophie kam nicht in Schwierigkeiten, sie hatte ja auf jeden Fall „Onkel Panne“, Ferdinand Meyer*, der seine Nichte häufig eskortierte. Auf derart selbständige Weise war Sophie schon mehrfach gereist, sei es zu den Verwandten nach Wolfenbüttel 1863 – sie war zum ersten Mal allein „in der Fremde“ –, sei es zu einer Freundin nach Wiesbaden 1866 oder nach Braunschweig zu Jeannette Aronheim*. Aber ohne „Schutz“ reiste sie nicht. Wer sie 1867 auf dem Hinweg begleitete, erfahren wir nicht, auf dem Rückweg jedenfalls sollte es der eigene Vater sein, der genau deswegen Anfang April extra nach Braunschweig gekommen war. Ein zweiter Vorfall unterstützt diese Beobachtung. Es gibt den Plan, dass Ottos jüngere Schwester Anna für einige Zeit zu den künftigen Verwandten nach Hamburg reisen könnte, von Otto begleitet. Hier wäre sie dann im Schutz der Familie als quasi zweite Tochter im Haus und könnte sich mit Sophie gemeinsam amüsieren. Einen Sohn oder jüngeren Mann gab es in der islerschen Wohnung nicht, der das Unternehmen hätte konterkarieren können. Der Plan zerschlägt sich. Als aber Anna 1869 nach Paris reisen will, um ihren Bruder Carl Magnus* und dessen Frau Bertha* zu besuchen, ist ihr Bräutigam Felix Aronheim* außer sich, dass sie allein reisen wollte, so sehr, dass er nach Empfang der Nachricht noch an demselben Tage geantwortet hat, was ihm in seinem ganzen Leben noch niemals passiert ist (Otto, 15. 10. 1869). Natür­lich wird daraufhin ein Begleiter gefunden, wir erfahren, dass Anna zunächst im Damencoupé mit noch 4 anderen Damen gereist ist und erst in Köln den Begleiter trifft, der sie nach Paris eskortiert (Otto, 22. 10. 1869). Das waren sehr bürger­liche Regeln; mög­lich, dass sie für eine Dame „von Stande“, also aus alteingesessenem Patriziat oder Adel weniger strikt galten. Mög­lich auch, dass derartige Regeln im aufstiegswilligen Judentum besonders streng gehandhabt wurden. Bei Reisen einer Braut zum Bräutigam jedenfalls musste jede Zweideutigkeit unterbleiben. Weder darf Sophie also allein zu Otto reisen und ohne ihre M ­ utter im Haus seiner Eltern wohnen, weil der Bräutigam, obwohl er eine eigene Wohnung hat, dort zu Hause ist und ungeniert ein- und ausgehen kann. Noch ist offensicht­lich vorstellbar, dass Sophie ohne einen anderen Grund als den, ihren Bräutigam sehen und sprechen zu wollen, nach Braunschweig reist. Mög­lich ist nur eine Reise mit den Eltern oder wenigstens der ­Mutter, um sich in Fragen der Aussteuer, Wohnungseinrichtung und Hochzeit mit der Schwiegerfamilie abzustimmen. Dass sich an einen solchen Besuch „Kennenlernvisiten“ anzuschließen hatten, versteht sich von selbst, denn auch in Braunschweig muss natür­lich die Braut vorgezeigt und willkommen geheißen werden, bevor sie als junge Frau in die Stadt ihres Verlobten zieht. Der Wunsch Ottos, dass Sophie ausschließ­lich deshalb kommt, weil er die Trennung nicht mehr aushalten kann, fällt demnach völlig aus dem Rahmen. Er ist nach den hier geltenden Regeln nicht realisierbar. – Nur: Otto beharrt darauf, dass sein Wunsch realisierbar sein müsse. Er gibt in der Situa­tion nach, bleibt aber unüberzeugt, dass die Sache

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selbst unpassend gewesen wäre […] (s. o.). Das ist umso überraschender, als Otto sonst immer sehr darauf achtet, nicht aufzufallen oder Anstoß zu erregen. Auch und besonders, muss man an dieser Stelle sagen, achtet er als Jude auf äußerste Zurückhaltung. Er gehört gerade nicht zu denen, die sich in die Öffent­lichkeit drängen, weil Juden jetzt gleichberechtigter auftreten dürfen. Eine Rolle spielen in d­ iesem Zusammenhang die Zärt­lichkeiten, die unter den Brautleuten ausgetauscht werden. Zwar ist viel von den wechselseitigen Küssen die Rede, aber die durften nur in der islerschen Wohnung und im Beisein der Eltern getauscht werden. Im Vorfeld der Pfingstreise nach Braunschweig schreibt Sophie: Ich freue mich, dass Du einsiehst, dass wir in Braunschweig nicht für uns allein sein können. Lass uns nur ganz artig sein und nicht zu viel Anlass zu Meckereien geben! Nimm es Dir auch recht vor. Wenn Du nach Hamburg kommst sind wir dann wieder ungenierter unter den nachsichtigen Augen meiner guten Alten (Sophie, 21. 5. 1867, 1 Uhr). In Braunschweig gelten also strengere Regeln. Donnerstag vor Pfingsten sollen Sophie und Emma Isler dort eintreffen, und Otto hat schon Pläne gemacht, heim­lich, der Braut bis Lehrte entgegenzufahren. Hier müssen die Hamburger umsteigen und Otto will das letzte Stück gemeinsam mit M ­ utter und Tochter nach Braunschweig reisen. Aber dann kommt es doch anders, und wieder sind es die Regeln des Anstands, die darüber entscheiden. Gestern Abend habe ich einen Brief von Carl [Magnus*, Ottos jüngerer Bruder] gehabt, in welchem er schrieb, dass er auch am nächsten Donnerstag hier eintreffen wird. Es ist mög­lich, dass Ihr Euch schon in Lehrte treffen werdet. Es ist also mög­lich, dass Ihr die Strecke Lehrte-­Braunschweig zusammen verbringt. Um diese Strecke vor dem allgemeinen Empfang mit Euch zusammen zu sein, und weil ich es hübscher fand, dass wir uns auf dem lehrter Bahnhof als auf dem hiesigen begrüssen. Nun muss das aber unterbleiben, da wir ja doch nicht ungeniert sind, wenn Carl auch da ist, und den könnten wir doch nicht ignorieren. Also werden wir uns doch auf dem braunschweiger Bahnhof wiedersehen. Ob wir uns wohl küssen werden? ……. (Otto, 4. 6. 1867, 6 Uhr morgens). Auffallend ist, dass Sophies Eltern, besonders ihre ­Mutter, nachsichtiger sind. In ihrer Gegenwart kann sich das Paar „ungenierter“ benehmen. Gehört auch das zum Großstädtischen der Hamburger? Ottos Eltern, besonders sein Vater, erlauben keine Zärt­lichkeiten in der Öffent­lichkeit und heim­lich erst recht nicht. Und so antwortet Sophie auf Ottos merkwürdige Frage: Ob wir uns wohl küssen werden? – Sei doch nicht so bange wegen des Kusses auf dem bahnhof, ich gebe Dir ganz gewiss keinen. Freitag Morgen ist immer noch Zeit genug (Sophie, 5. 6. 1867). Im Folgenden wird dann allerdings deut­lich, dass Sophie und Otto die selbst auferlegte Zurückhaltung nicht durchgehalten haben und dass sie dabei wenig rücksichtsvoll waren und auch die Gefühle anderer – alles Verstöße gegen die Norm – nicht geachtet haben. Mein lieber kleiner Mann, schreibt Sophie nach dem Pfingstbesuch, noch habe ich das Gefühl Deiner Nähe nicht verloren. Weißt Du eigent­lich habe ich recht Reue, dass wir uns nicht besser benommen haben, es hat doch gewiss einen recht unangenehmen Eindruck gemacht. Die Eltern waren manchmal böse, Carl hat sich glaube ich unbeschreib­lich amüsiert, und am schlimmsten war es für helene [Camphausen*]. Seit ich Fragen der Schicklichkeit   |

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fort bin hab ich noch mehr das Gefühl wie sehr sie leidet und ich möchte sie so gern um Verzeihung bitten für das Herzweh, das ich ihr durch meine Gegenwart gemacht haben muss (Sophie, 15. 6. 1867). Dass sich unser Brautpaar überhaupt öffent­lich küsst, ist erwähnenswert. Denn von anderen Verlobten berichtet Sophie: Mathilde sagte, die ­Mutter habe noch nicht gesehen, dass sie sich einen Kuss gegeben: sind sie nicht viel artiger als wir? Sie gehen immer Arm in Arm, und sie sieht verklärt zu ihm auf, und er führt sie im Triumph umher (Sophie über Helene Seligmann, 29. 5. 1867). Andererseits lässt die Vorstellung, dass ein junges Paar sich nur in Gegenwart wohlmeinender Dritter küssen darf, auch keine rechte Freude aufkommen. Von Leidenschaft konnte da wohl schwer­lich die Rede sein, eher von kind­lich-­braven Küssen, wenn Sophie an Otto schreibt: ­Mutter, die auch noch auf ist und in der Wohnstube in ihrem Lehnstuhl sitzt um sich auszuruhen und abzukühlen, lässt Dir bestellen, so schöne Küsse wie ich, gäbe sonst kein Mensch, meine Lippen eigneten sich so gut dazu; und sie muss es wissen, denn wir haben es eben probiert (Sophie, 30. 5. 1867, abends). Und doch verraten gerade diese Sätze etwas von dem Flirrenden, das manchmal z­ wischen den Zeilen spürbar wird. Auch wenn Otto sich nach Sophies schönen, langen Küssen sehnt, wird erahnbar, dass sexuelles Begehren doch nicht völlig auszuschließen ist. Gab es keine Sprache dafür oder gab es sie nur verdeckt? Unserer Zeit bleibt dieser Komplex jedenfalls verborgen, weil wir eine andere Sprache und Offenheit gewöhnt sind.28

28 Dabei gibt es andererseits sehr offene Bemerkungen zum Intimbereich: Das Hausmädchen hat „Mädchen­bauch“, also ihre Tage, und Sophie verschiebt ihre Rückkehr nach Braunschweig, weil sie das Ende ihrer Periode abwarten will, wie sie von Fall zu Fall Otto mitteilt.

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WIE EHEN ZUSTANDE KOMMEN Wie junge Leute sich unter solch begrenzten Mög­lichkeiten überhaupt näherkommen konnten, bleibt für die Leserin des 21. Jahrhunderts ein Rätsel. Eine Verlobung ohne Vermittlung Dritter war demnach eher selten, aber es gab sie. Im Briefwechsel begegnen wir Ottos Schwester Anna und ihrem Liebsten Felix Aronheim*. Sie gelten in der Familie Magnus als „heim­liches“ Brautpaar und lieben sich seit Kindheitstagen. Ihre Beziehung darf 1867 noch nicht als offizielle Verlobung deklariert werden, weil Felix noch studiert und nach seinem Medizinexamen erst noch zwei Jahre Praxiserfahrungen absolvieren muss, bevor er sich nieder­lassen und heiraten darf.29 Sophie und Otto aber lernen sich in Braunschweig bei Aronheims* kennen, doch zu einer Erklärung Ottos kommt es zunächst nicht. Offensicht­lich gibt es auch keine Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen, und Sophie, ahnungslos, wie sie ist, räumt ihm auch keine Mög­lichkeit ein. Hätte nicht Jeannette Aronheim* Sophie auf Ottos Gefühle aufmerksam gemacht und andererseits ihm bedeutet, dass er sich schon erklären müsse, wäre Sophie wohl am Ende nach Hamburg zurückgereist, ohne Ottos Annäherung überhaupt bemerkt zu haben. So aber darf Otto Sophies Liebe „wach küssen“, wie er ­später sagen wird. Diese Art freundschaft­licher Vermittlung war nicht ungewöhn­lich. Sophie erwähnt sie im Hinblick auf ein Hamburger Brautpaar, das bald nach Sophies Verlobung bekannt wird – wir sind ihm schon begegnet: es ist das junge Paar, dass sich angeb­lich noch nie geküsst hat. Sophie schreibt: Sie sind alle überglück­lich. Mathilde Elkan, die ich gestern im Dampfschiff traf, konnte nicht genug erzählen, was er [Herr Nördlingen] für ein herr­licher Mann und wie glück­lich Helene [Seligmann] sei. […] Diese Verlobung war der heisseste Wunsch der ganzen Familie, Madame Seeligman inclusive. Mad. Behrend hat die Rolle von Tante ­Jeannette* [Aronheim] übernommen, da sie seine Vertraute war, und soll in ähn­licher Aufregung gewesen sein (Sophie, 29. 5. 1867). Aber es gab auch die offiziell arrangierten Ehen, sei es durch richtiggehende HeiratsvermittlerInnen oder die eigenen Eltern. Und da passierten noch 1867 „haarsträubende“ Dinge, dann näm­lich, wenn etwa das junge Mädchen vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Ein

29 Anna Magnus und Felix Aronheim heirateten 1870; Aronheim, den Sophie über Tante Minna [Leppoc] schon vor Otto kannte, war einer der Ärzte, die Sophie während der zweiten und dritten Schwangerschaft und Geburt begleiteten.

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solches Beispiel erzählt Sophie in ihrer Korrespondenz mit Otto: Das junge Mädchen hat sich mit einem Herrn Ashkenazy verlobt. Sie ist eine gute Bekannte von Agnes [Wolffson]° und Therese [Meyer, Sophies Kusine]. Die Schilderung die sie von der Art der Verlobung machen, ist wahrhaft haarsträubend. Ihr Vater ist nach Schlesien gereist, hat sich den Mann geholt und die Verlobung war fertig, ohne dass das Mädchen eine Ahnung davon hatte. Sie bat ihren Vater fussfällig wenigstens noch 8 tage zu warten, aber vergebens, es wurde gleich nach allen Seiten bekannt gemacht. Als die Freunde dann zu ihr kamen und fragten wie es gekommen sei, sagte sie: bitte fragt mich nicht, ich kenne ihn erst seit gestern. Agnes war so ausser sich, dass sie dort in Tränen ausbrach. Vater hat heute gehört, es wäre ein netter Mann aus einem gebildeten Hause. Vor 100 Jahren mag das unter Juden gegangen sein, aber heute kann ich mir denken, das ein Mädchen, das so behandelt wird sich ein Leid anthut. Ist das nicht eine schreck­liche geschichte? … (Sophie, 15. 6. 1867). Wie sehr dieser Fall einer „Zwangsverlobung“ zumindest in den Hamburger Kreisen besprochen und kritisiert wurde, zeigt Sophies und ihrer Freundinnen Reak­tion. Ein Einzel­ fall zwar, aber durchaus nicht der einzige, bei dem eine Ehe ohne Liebe zustande kam, allerdings der einzige, bei dem der jungen Frau kein Mitspracherecht eingeräumt wurde. So genannte Vernunftehen hingegen, die z­ wischen beiden Partnern mehr oder weniger offen als s­ olche verstanden wurden, waren der weitaus größere Teil der Verheiratungen, nicht nur in jüdischen Kreisen. Die Frage einer derartigen Konvenienzehe wird ­zwischen Otto und Sophie vielfach erörtert, ob und wann sie erlaubt sei, und beide grenzen ihre Geschichte als reine Liebesheirat dagegen ab. Mit Elise [Meyer*, Kusine Sophies] hatte ich ein langes Gespräch über Liebe und verheirathung. Obgleich sie schon zur Genüge bewiesen hat, dass sie nie das zweite ohne das erste thun würde, so spricht sie doch oft genug leichtsinnig aus: Ich nehme doch mal irgend einen, denn unverheiratet bleiben ist schreck­lich. (sie scheint sich also deiner Ansicht in der Sache zu neigen). Ich flehte sie dann an, mir zu versprechen, dass sie es nie so machen würde und erzählte ihr, dass wir Beide jetzt fragten [sagten?], es müsste das schreck­lichste Loos sein, was ein Mensch sich bereiten könnte. Als sie sagte, sie sei zu verwöhnt durch ihre Liebe zu Adolph [Meyer*, Bruder Elises] und es könnte sie auch nie jemand leiden mögen, musste ich lächeln, wie ich mich mit demselben Ausspruch blamiert hatte und sagte ihr, dass nun, wo mir ein solches Glück vom Himmel gefallen sei, sie gar kein recht mehr zu solchen Reden habe. Ist das nicht wahr, mein geliebter? (Sophie, 15. 5. 1867, nach Tisch).

Beglückt über die eigene Liebesbeziehung diskutiert Sophie das Thema Konvenienzheirat, oder besser: -verlobung, besonders gern, und beide tun es mit auffallender Ausführ­ lichkeit. Zusammen mit dem Thema Ehevermittlung bietet sich natür­lich auch viel Stoff. Vor allem geht es dabei darum, Ansichten zu diskutieren und zu erfahren, wie der/die andere reagiert und denkt, zugleich wird aber auch eine weib­liche Sicht der Dinge und eine männ­liche sichtbar. Das liegt auf der Hand: Heirat bzw. Ehe bedeutete ja für eine Frau auch, ja eigent­lich in erster Linie, materielle Versorgung, nicht vorrangig Liebesglück. Deshalb war die Frage, ob der ehewillige Mann eine Familie ernähren könne, die alles

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entscheidende. Jeder Vater oder Vormund musste sie stellen und erteilte erst dann sein Plazet, wenn ihn die Antwort überzeugte. War die Umworbene selbst vermögend, stellte sich die Frage anders, aber immer war sie zentraler Teil eheanbahnender Gespräche. Ob und wie sie in Sophies Fall geführt wurden, wird jetzt noch nicht verraten. Hier ist erst einmal festzuhalten, dass die Anbahnung einer Ehe durch Dritte, die alle Faktoren rechtzeitig überprüften, gar nichts so Absonder­liches war. Was aber, wenn alles „stimmte“ und die Neigung fehlte und sich trotz aller Bemühung nicht einstellen wollte? Was, wenn zwar die Neigung wuchs, aber die materiellen Verhältnisse sich verschlechterten? Musste eine junge Frau nicht die ungeliebte Ehe eingehen, im zweiten Fall aber die Verlobung lösen? Zählte nicht Versorgung doch am Ende mehr als das romantische „arm, aber glück­lich“? Sophie jedenfalls tendierte zu Letzterem! Mary Jane, die ganz lange bei uns war, war allerliebst und wir haben einige Male über ihre eng­lischen Anschauungen lachen müssen. Es war von deutschen und eng­lischen Verlobungen die Rede und sie fand die Weise ihrer Landsleute besser, dass es kein Mensch erfährt und es garnichts tut, eine Verlobung wieder zu lösen. Wenn nun ein Mann sein Vermögen verliert, fragte sie, was tut denn ein deutsches Mädchen? Sie war höchst erstaunt, als wir meinten, wenn sie ihn lieb hätte, würde sie das wohl nicht verhindern, ihn zu heiraten „But you cant live on love alone“, was ihr allerdings zugegeben wurde dass man aber mit einem mann Arbeit [Armut?] lieber theilt als ihn aufgibt schien ihr nicht einzuleuchten. Dass dies aber nicht allgemeine eng­lische Auffassung ist beweisen gerade die […] Heiraten, die dort geschlossen werden, wo sich die Männer oft schon mit 20 Frauen nehmen, was in Deutschland ziem­lich unerhört ist. Also wird wohl herauskommen, dass Liebe hier wie dort ihr Recht behält, dass aber Verlobungen, die geschlossen werden weil alle Verhältnisse gut passen dort leichter gelöst werden als bei uns, was wohl unzweifelhaft ein Vortheil ist. Wieviele gleichgültige Ehen werden wohl geschlossen wenn die Betheiligten nicht den Muth haben all das Aufsehen zu ertragen was eine lösung mit sich bringt, und ich muss sagen, ich denke mir es muss ein Heroismus dazu gehören, von dem ich nicht weiss, ob ich ihn hätte. Frei­lich gehört zum Aufrechterhalten eines Verhältnisses mit einem ungeliebten Menschen auch ziem­lich viel, weißt Du noch wie wir gestern darüber sprachen. O mein Lieber, wie können wir Gott danken für unsere schöne Liebe … (Sophie, 14. 5. 1867, um 3 Uhr). Sophie spricht von persön­lichem Mut, ja Heroismus, der dazu gehöre, eine einmal geschlossene und öffent­lich gemachte Verlobung wieder zu lösen. Sie spricht von dem Aufsehen, das ein solcher Schritt hervorrufe, von der Situa­tion, in die wohl besonders eine junge Frau gerät, die sich nach Prüfung ihrer Gefühle gegen eine nach allen äußeren Gegebenheiten vernünftige Heirat entscheidet, ohne finanziell abgesichert zu sein. Damit drückt sie zugleich aus, wie wichtig ihr die Liebe für eine Ehe ist und welches Glück sie empfindet, diese mit Otto gefunden zu haben. Sie spielt also ganz den Gefühlspart „romantisches Verhältnis“ und betont die weib­liche Scheu, in der Gesellschaft aufzufallen. Zugleich wird die Ehe ganz unhinterfragt als einziges Lebensziel einer Frau behandelt. Dass es für Frauen damals allerdings kaum eine Alternative gab, darf nicht vergessen werden. Wie Ehen zustande kommen   |

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Ganz anders Otto: Er zieht das Gespräch auf die Ebene der Moral. Ich glaube Du hast recht, dass grosser Muth dazu gehört um das Aufsehen der Auflösung einer Verlobung zu ertragen, aber dennoch glaube ich, dass ein Theil dem anderen unbedingte Wahrheit schuldig ist, und wenn er die Überzeugung gewinnt, dass er dasselbe nicht lieben kann, dies offen gestehen muss. Denke Dir, welch ödes und leeres Leben beiden bevorstehen würde, wenn sie zur Ehe schreiten und immer das Bewusstsein hätten, nicht nur, dass er den andern nicht lieben sondern auch dass er denselben täusche (Otto, 15. 5. 1867, nachmittags). Otto geht es allein um die Wahrhaftigkeit z­ wischen zwei Menschen, die ein gemeinsames Leben beginnen wollen, und um die Pflicht dem Partner gegenüber, die Wahrheit über die eigenen Gefühle unter allen Umständen zu sagen. Dieser unbedingte Anspruch wird von Sophie als zu idealistisch abgelehnt. Sie antwortet Otto sofort: Was Du über die Auflösung einer Verlobung schreibst scheint mir von einer ­falschen Voraussetzung auszugehen. Du sagst, man sei sich absolute Wahrheit schuldig, wenn man aber eine verlobung aus äusseren gründen schliesst (und von solchen ist doch wohl hier die Rede) so fängt man ja mit der Unwahrheit an, denn wenige Menschen werden wohl offenherzig sein wie Prof. Oppert in Paris, der einem Mädchen sagte: ich würde sie ja nicht nehmen, wenn sie kein Geld hätten! Man nimmt sich also vor, aus der Gleichgültigkeit die man für einander fühlt, sich aber nicht gesteht, in wärmere Gefühle zu kommen. In den meisten Fällen scheint es ja zu gehen, denn man sieht wirk­lich glück­liche Ehen daraus ­hervor gehen. Wo es aber nicht gelingt, kann ich mir gut denken, dass man sich sagt, es kommt vielleicht noch ­später, und dass man zu feige ist, um die Welt in seine Herzensgeheimnisse blicken zu lassen. Für Deine Ansicht, dass es Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen und den anderen entscheiden zu lassen, möchte ich Dich wohl beim Kopf nehmen und küssen, sie ist zu naiv. Denke Dir nur, dass der andere dann sagte, ja, ich will aber doch, dann wäre er mit seiner Wahrheit wieder so weit wie vorher. Siehst Du das ein, mein Engel? (Sophie, 16. 5. 1867). Sophie kennt einen derartigen Fall in der eigenen Familie. Die Ehe ihre Kusine Helene (Heymann*) begann problematisch wie oben skizziert: Sie war 18 und er 21 als sie sich nach einer k­ urzen Bekanntschaft verlobten, und als sie dann zu ihm nach Melbourne kam, fühlte sie, dass sie ihm gar nicht genügte, und dass er sie nicht liebte – so sehr, dass sie ihn einen Tag vor ihrer Trauung anflehte, sie wieder gehen zu lassen, […] sie schilderte mir die ersten jahre ihrer Ehe als eine Kette von Qualen durch seine Schroffheit und ihre Unerfahrenheit (Sophie, 25. 6. 1867, 12 Uhr abends). Im Laufe der Zeit allerdings erfuhr die Ehe doch eine glück­liche Wendung, weil kein Zweifel darüber sein kann, dass sie nun unend­lich glück­liche, liebende und geliebte Frau ist (ebd.). Dass mit einer solchen Wendung normalerweise nicht gerechnet werden darf, ist Sophie klar, gerade deshalb wählt sie das Beispiel. Aber Otto bleibt bei seinem mora­lischen Anspruch, der ja in der Konsequenz eigent­lich die Treue zum einmal gegebenen Wort über die Einsicht in die Unvereinbarkeit zweier Menschen stellt: Auf das Thema der Verlobungsauflösung muss ich noch einmal zurückkommen um Deine Einwürfe zu beantworten: Es ist wahr, dass man bei einer [Vernunft-]heirath sich wohl regelmässig bei der Verlobung nicht, wie Prof. Oppert sagen wird: ich nehme sie nur

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des Geldes Willen, aber wenn es auch nicht ausgesprochen ist, so werden doch beide Theile ­darüber gewiss fast niemals im Zweifel sein. Ich glaube wenigstens dass z. B. Roskill, als Therese ­Wiedemüller ihm das Ja-­wort gab recht gut gewusst hat, dass sie ihn nicht liebe. Ich glaube aber ferner, dass bei einer solchen verlobung der nichtausgesprochene aber stillschweigende Pact geschlossen wird „wir wollen versuchen uns zu lieben“. Das ist der Vorteil den die deutschen conven­tionsheirathen vor der eng­lischen hat. Wenn die[s] sich lieb-­gewinnen nicht gelingt, so ist es Pflicht den anderen entscheiden zu lassen. Wenn der eine theil sagt „ich habe versucht Dich zu lieben, es ist mir aber nicht gelungen, deshalb entscheide, ob wir die Verlobung wieder aufheben wollen“ und der andere sagt dann: „wir wollen uns dennoch heirathen“ etwa weil er glaubt, dass die während des Brautstandes vergeb­lich erstrebte Liebe vielleicht in der Ehe kommen wird, nun dann muss die Ehe wirk­lich geschlossen werden. das ist aber die Folge eines unnatür­lichen Anfanges, dass auch unnatür­liche Consequenzen eintreten. Einem menschen der sich nur verlobt, wenn er liebt kann das nicht passieren (Otto, 17. 5. 1867). Dieser Sicht der Dinge setzt Sophie nichts entgegen, obwohl sie die Liebe als allein entscheidend bewertete. Für sich persön­lich schließt sie eine nur von Vernunft diktierte Ehe aus – vielleicht auch, weil sie darauf hoffen konnte, bei Nichtverheiratung eine eigene materielle Lebensbasis zu erhalten: Die Eltern hatten für diesen Fall vorzusorgen gesucht und auch die vermögenden Onkel hätten wohl geholfen, die Zukunft der Nichte finanziell abzusichern. In ihrem nächsten Brief kommt Sophie von einer anderen Seite noch einmal auf ­dieses Thema zurück: was auch hätte geschehen können, näm­lich dass sie Otto zusagt, ohne ihn zu lieben, einfach, weil es vernünftig gewesen wäre. Anläss­lich eines Besuchs bei Wolffsons* berichtet sie: Wir sprachen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, besprachen unsere Verlobungsgeschichten, in der mir Tante Johanna [Wolffson*] nun zugibt recht gehandelt zu haben, während Tante Minna [Leppoc*] und Wolffson* ausser sich waren, dass ich nicht aus reiner Vernunft gleich den ersten Abend JA gesagt habe. Von Tante Minna begreife ich, dass sie Ehelosigkeit so traurig findet, dass sie auch eine andere als die schönste Ehe für denkbar hält, dass aber Dr. W. der selbst eine leidenschaft­liche Liebe vor und in der Ehe kennt so denkt, ist mir unbegreif­lich (Sophie, 17. 5. 1867). Auf diese Deutung der eigenen Geschichte geht Otto ein und beschreibt auch seinerseits die Verlobung als eine, die haarscharf an dieser von beiden geächteten Klippe einer Vernunftbeziehung vorbeigegangen ist. Dabei wird verständ­lich, wie wichtig für Otto Sophies Zögern war: Erst dadurch erlangte er Sicherheit, wirk­lich geliebt zu werden. Denn dieser junge Advokat war ein durchaus vermögender Mann, stammte er doch mütter­licherseits aus der berühmten Herz-­Samson-­Familie* in Braunschweig, deren Vermögen und Großzügigkeit hinläng­lich bekannt waren, und zwar über die Grenzen Braunschweigs hinaus. Auch deshalb musste Otto Wahrhaftigkeit in der Beziehung so wichtig sein, damit er ­wissen konnte, dass wirk­lich er als Person geliebt würde. Schließ­lich hatte diese Ehe für Sophie den erfreu­ lichen Nebeneffekt, sie ganz ordent­lich zu versorgen. Wie gut, dass trotzdem die Liebe das entscheidende Band war! Über unsere Verlobungsgeschichte bin ich ganz mit Tante Johanna* einverstanden. Da ich Deine Liebe an jenem Sonnabend Abend noch nicht wachgeküsst Wie Ehen zustande kommen   |

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hatte, so musstest Du „nein“ sagen, sonst wäre unsere Verlobung ja auch eine ­solche gewesen, wie wir alle Beide sie verdammen. Das gerade ist mein Glück und meine Wonne, dass Du nur dann „ja“ gesagt hast, als Du noch reifer Prüfung wusstest, dass Du mich liebst. Deshalb ist unsere Liebe so schön weil alle Zweifel hinter uns liegen, und ich weiss, dass Du mich mit derselben Hingebung liebst wie Du auch mein ganzes Herz erfüllst. Gerade weil ich weiss, wie viel Du meinetwegen aufgibst und wie schwer Dir der Kampf vor dem Entschluss gewesen ist, weiss ich auch, dass es eine grosse, unend­liche Liebe ist, die Dich zu einer solchen Entscheidung gebracht hat. Und all das wüsste ich ja nicht wenn Du an jenem Abend weniger gewissenhaft gewesen wärest und mir die Hand versprochen, aber Dein herz behalten hättest (Otto, 19. 5. 1867). Eine Liebesheirat war also das Traumziel unseres jungen Paares, und sicher nicht nur das ihre. Wie aber soll man sich kennen- und lieben lernen, wenn man sich nur bei Einladungen und damit immer im Beisein anderer begegnet? Natür­lich gab es Bälle und Gesellschaften, die in erster Linie arrangiert wurden, um junge Leute miteinander bekannt zu machen und mög­licherweise eine Ehe zu stiften. Die Chance, sich unverfäng­lich zu begegnen, wie etwa im Beruf oder der gemeinsamen Ausbildung, existierte ja nicht. Immer waren genügend Personen anwesend und immer wachten Dritte und auch die verinner­ lichten Anstands­regeln über die Einhaltung des Schick­lichen. Wer dann „an den Mann bzw. die Frau gebracht war“, fiel aus derartigen Veranstaltungen heraus. So wird Sophie, kaum verlobt, bei einer Tanzerei nicht mehr „wahrgenommen“ – sie ist ganz deut­lich „aus dem Rennen“. Das gilt auch für Einladungen: Hirschs und Meyers sind heute zu einem jugend­lichen Dinner bei Seligmanns, wozu ich als Braut schon nicht mehr eingeladen werde (Sophie, 23. 5. 1867). Diese Einladung näm­lich hat durchaus mit Eheanbahnung zu tun, wie man den folgenden Zeilen entnehmen kann: Da wird ein Herr sein, der sehr befreundet mit Mad. Behrens ist, von dem sie sehr wünscht, dass er ein nettes Mädchen von hier heiratet. Da die Mädchen das aber alle gemerkt haben so kommen sie ihm mit Vorurtheil entgegen und der Wunsch wird sich nicht bei dieser Gelegenheit erfüllen (Sophie, 23. 5. 1867). Später stellt sich heraus, dass doch eine Verlobung zustande gekommen ist, und zwar genau die beabsichtigte Verbindung!30 Aber auch ein Bräutigam verliert ein Gutteil seiner Bedroh­lichkeit für junge Damen. War ein junger Mann verlobt, durfte man relativ ungeniert mit ihm sprechen, ohne gleich ins Gerede zu kommen. Otto berichtet amüsiert, dass ein junges Mädchen, vor seinem Fenster stehend, sich mit ihm in aller Öffent­lichkeit unterhalten habe: Eben klopft Anna [­Magnus, Ottos Schwester] an mein Fenster, die mit Bertha Oppenheimer aus der franzö­sischen Stunde kommt. Ich musste für letztere eine Adresse aufsuchen. Vor meiner Verlobung hätte sich Bertha O. wohl gehütet, sich vor mein Fenster zu stellen und mit mir zu plaudern, ein Bräutigam ist aber ein ungefähr­licher Mensch (Otto, 19. 6. 1867).

30 Helene Seligmanns Verlobung im Kapitel „Wie Ehen zustande kommen“.

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Dass gerade in der jüdischen Bevölkerung noch ein Gesichtspunkt hinzukam, der eine Eheanbahnung durch Dritte nötig machte, liegt auf der Hand.31 Zu den Verhältnissen, die zueinander passen mussten, gehörte natür­lich auch die Religion. Die jüdischen Gemeinden waren häufig ein in sich geschlossener Kreis, in dem sich alle kannten. Hier informierte man sich über Personen, die einem persön­lich bisher nicht begegnet waren, von denen man aber annehmen konnte, dass sie durch ihr Judentum anderen hinläng­lich bekannt waren. Nachfragen, wie sie auch im Briefwechsel Sophie–Otto vorkommen, waren also üb­lich und dienten der Absicherung. Hier erfuhr man, wer sich hatte taufen lassen und wie die Familien damit umgingen. Hier hielt man die Augen offen, wer von den jungen Leuten zueinander passen könnte, und führte reisende Bekannte und Verwandte in diese Kreise ein. Damit war die Religionszugehörigkeit in der Regel geklärt. Dass sie in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr eindeutig war, wird verständ­lich, wenn man sich vor Augen hält, wie sehr die Akkultura­tion gerade jüdische Bildungsbürger in ihrem Auftreten und Habitus an ihre christ­ liche Umwelt angeg­lichen hatte und immer weiter ang­lich, sodass die religiösen Unterschiede kaum mehr sichtbar waren.32 Islers in Hamburg und Magnussens in Braunschweig sind mit Christen befreundet und im Umgang und täg­lichen Leben fallen sie nicht durch Andersartigkeit auf, sodass Sophie sogar gefragt wird, ob sie in der ­Kirche heiraten werde: Der gestrige Tag brachte viel besuch. Nachdem ich fertig geschrieben plauderte ich mit Meyers und Hirschs, dann kam Adolph [Meyer*] zum Abschiednehmen und um drei Frl. Specht. Nach Tisch saßen wir allein und sprachen über allerhand, sie fragte, ob ich in der ­Kirche getraut würde, worauf ich ihr dann mittheilte, dass ich Jüdin sei. Sie wurde etwas rot und sagte, auf meine Frage, ob sie das nicht gewusst habe, nein, sie hätte gemeint, wir wären getauft (Sophie, 19. 5. 1867). Islers gehören zu den Reformjuden, an eine Abkehr vom Judentum wird nie gedacht. Im Gegenteil: Meyer Isler und die Onkel Ferdinand* und Moritz* nehmen häufig an Versammlungen im Tempel teil, bei denen es um weitere Neuerungen, aber auch um Erhaltung dessen geht, was ihnen bewahrenswert dünkt.33 Dass Sophie jemanden anderen als einen Juden heiraten könnte, wird nicht einmal gedacht. Auch deshalb war vielleicht der Blick der Familie und der Freunde über Hamburg hinausgegangen, um für Sophie einen geeigneten Partner zu finden, wenn sie auch sicher nicht nach Braunschweig reiste, um Otto Magnus zu begegnen. Nur – eine Reise in eine andere Stadt konnte ihre Chancen, einen passenden Ehemann zu finden, nur erhöhen.

31 Trotz Emanzipa­tion und Akkultura­tion „blieben auch die überlieferten Formen der Ehevermittlung und des Ehevertrages unverändert erhalten. […] Die Heiratskandidaten sahen sich ein oder zweimal kurz bei offiziellen Besuchen und konnten Zustimmung oder Ablehnung äußern, im Übrigen aber war die Eheschließung überwiegend eine Angelegenheit, die z­ wischen den betroffenen Familien beschlossen und ausgehandelt wurde.“ Richarz, Jüdisches Leben, 1976, S. 55. 32 Mehr dazu in den Kapiteln zur Akkultura­tion. 33 Die Darstellung geht weiter unten auf das Reformjudentum in Hamburg ein. Siehe Kapitel „Die Öffnung der jüdischen Na­tion“.

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Dass in unserem Fall in der Hamburger Tempelgemeinde geheiratet wird, nicht ledig­ lich eine Ziviltrauung geplant ist – in Hamburg immerhin seit 1861 mög­lich 34 – steht außer Frage, nur der Prediger bereitet Kopfzerbrechen. Er ist neu und mit seinen Predigten und seinem Auftreten kann sich Sophie nur schwer anfreunden. Aber eine Ausweichmög­lichkeit in eine andere Gemeinde am Ort gibt es für die jüdische Braut ja nicht. Zwar befindet sich in Hamburg noch die „normale“ Synagoge, aber eben nicht für Reformjuden, sondern für die Tradi­tionalisten. In den Äußer­lichkeiten gab es offensicht­lich keinen nennenswerten Unterschied zu christ­ lichen Trauungen, zumindest was Sophie von den Heiraten ihrer Freundinnen erzählt: Ich muss Dir noch von Emma’s [Lazarus] Hochzeitstag erzählen, der wirk­lich reizend war. Sie hatten sich civil trauen lassen und Emma’s Absicht war, die kommenden Besuche in einem weissen Kleid aber ohne bräut­lichen Schmuck zu empfangen. Anna Wohlwill°, Frl. Lippert (Emma’s Cousine) und ich aber wir hatten Schleier und Kranz und Bouquet für sie besorgt, empfingen sie als sie zurückkam und schmückten sie, die gänz­lich überrascht war. Keine fremde Hand berührte sie, nur ihre besten Freundinnen erwiesen ihr diese Dienste „Helft mir, ihr Schwestern freund­lich mich schmücken …“35 war ganz so ausgeführt wie es der Dichter gemeint. Und in der schönsten Stimmung führten wir Emma, die ungewöhn­lich gut aussah, hinunter. Als das Ehepaar abgereist war, blieben wir 3 Brautjungfern zu tisch zusammen und feierten vergnügt die Erfüllung unseres langersehnten Wunsches. Dass ich die erste Wiederkehr ­dieses Tages selbst als glück­liche Braut feiern würde, ahnte ich nicht (Sophie, 2. 5. 1867, im Brief vom 1. 5. 1867).

Auch Sophie wird ein weißes Kleid und Kranz und Schleier tragen, sie wird von Brautjungfern begleitet werden, die Kleider aufeinander abgestimmt, und nach der Trauung und einer angemessenen Ruhepause wird der große Kreis der Geladenen ein Festessen zu sich nehmen, bevor Sophie und Otto gegen Abend zur Hochzeitsreise aufbrechen. Aber noch sind wir nicht so weit.

34 Krohn, Juden in Hamburg, 1974, S. 38. 35 Text: Adelbert von Chamisso (1781 – 1838), vertont von Robert Schumann (1810 – 1856), Frauenliebe und -leben.

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ÜBERLEGUNGEN ÜBER EINEN GEMEINSA MEN ALLTAG

Noch ist so vielerlei zu überlegen, wie das gemeinsame Leben in Braunschweig, das Ehe­leben tagtäg­lich denn aussehen soll. Otto wird sein Büro in bzw. neben der Wohnung haben, Sophie wird das Haus führen, diese räum­liche Nähe wird für beide eine neue Erfahrung sein. Bei Islers geht der Mann wochentags zu seiner Dienststelle, Frau und Tochter sind zu Hause. Otto hat bisher allein gelebt und ist auch deshalb so häufig zu den Eltern gegangen. Jetzt malt er sich die Ehezukunft rosig aus: Immer kann er zu Sophie nach nebenan gehen – er muss nur die Tür öffnen, z­ wischen öffent­lichem und privatem Leben ist nur ein Schritt. Wie wird sich das im Alltag bewähren? Ansichten und Vorstellungen sind auszutauschen, Gemeinsames ist zu finden, Sophie und Otto müssen sicher sein, dass ihre Ehe auch im Alltag funk­tioniert. Da geht es z. B. um den Umgang mit anderen Menschen, um Spannungen und Differenzen. Wie soll man sich in solchen Fällen verhalten? Wie freue ich mich, dass Du noch in ­diesem briefe wo Du mir von deiner Differenz mit Schulz schreibst auch ihre Auflösung andeutest: man muss s­olche Dinge nicht mit „Magnus’scher Schroffheit“ aufnehmen. Ich finde immer man kommt am weitesten wenn man ignoriert und gar nichts voraussetzt, das den Anderen beleidigen wird wenn es nicht so direct geschieht, dass man die Absicht merkt und das wird doch unter Freunden nicht vorfallen. Lass uns sehen, unser Leben recht frei von diesen Unannehm­lichkeiten, die man sich selber schafft, zu halten. Was von Aussen kommt muss getragen werden, aber sich selbst das Leben erschweren ist Sünde. Verzeih die kleine Predigt, die gewiss recht überflüssig ist, aber ich hielt sie schon inwendig als Du mir erzähltest, dass ihr mit Lilly’s 36 […] auseinander wart, und nun ist sie herausgekommen. Ob ich immer gerade nach diesen grundsätzen handeln werde, scheint mir sehr zweifelhaft, dass ich mich aber immer sehr tadeln werde, wenn ich es nicht thue, glaube ich gewiss, besonders wenn ich mir denke, was M ­ utter wohl dazu sagen würde, die im höchsten Maasse versteht, die Dinge objektiv aufzufassen (Sophie, 1. 5. 1867). Sophies Wunsch nach einem harmonischen Miteinander beschränkt sich nicht auf das Eheleben in der eigenen Wohnung allein, sondern auf das ganze Umfeld ihres künftigen Lebens.

36 Familie des Braunschweiger Architekten Friedrich Lilly*.

Überlegungen über einen gemeinsamen Alltag   |

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In den Blick gerät dabei das eigene Verhalten. Zuschreibungen und Interpreta­tionen wollen beide vermeiden, um nicht in Differenzen mit Freunden und Bekannten zu geraten, die letzt­ lich selbst hervorgerufen wurden. Das wünscht sich Sophie und zitiert wie so oft Emma als Vorbild. Dass Spannungen auftreten werden, ist selbstverständ­lich, aber sie selber zu schüren, lässt sich vermeiden. Wichtig ist vor allem, dass ­zwischen den Partnern immer so viel Offenheit herrscht, dass Verstimmungen, Ängste und Sorgen an- und ausgesprochen werden können. Geliebter Otto: lass mich Dich um eins bitten: nie, nie trage ein Bedenken, mir auch das flüchtigste Zeichen ­­ von Kummer zu zeigen. Du schreibst, Du müsstest dich schämen, mir etwas vor zu klagen – ist das nicht mein schönstes Recht von dem ich mir auch garnichts schmälern lassen will? Geteilter Schmerz ist halber Schmerz, und mit mir musst Du in Zukunft alles theilen, also auch jetzt schon, mein geliebter, ich bitte Dich innigst darum. Lass Dich nie die Rücksicht mich zu schonen zurückhalten. Ich denke Du wirst mich nicht so schwach finden, dass ich mein Theil von den Sorgen des Lebens auf mich nehmen könnte und sie schon durch das in mich Aufnehmen Dir erleichtern. Ich antworte ernst auf eine flüchtig hingeworfene Bemerkung, bei der Du Dir nichts gedacht hast, aber ich möchte es eindring­lich aussprechen: Lass mich Dein Weib in der wahren bedeutung – Deine Gefährtin sein, und glaube nicht mir wohl zu thun, wenn Du mich zu schonen denkst, und Dein Päckchen Sorgen allein trägst. Da bin ich doch die Nächste dazu, nicht wahr? (Sophie, 1. 5. 1867). Es gehört zu den Besonderheiten dieser Beziehung, dass Sophie von Anfang an Partnerschaft einfordert. Sie will in Wahrheit nicht das verantwortungsunfähige „kleine Mädchen“ sein, als das sie sich ihm im Zusammenhang mit der Frauenfrage ohne rechtes Nachdenken offeriert hatte. Und Otto antwortet geradezu begeistert: Mein geliebtes Weib, Nach Deinem herr­lichen Briefe kann ich Dich nur mit ­diesem edelsten namen anreden! Ja, ich verspreche Dir, dass ich Dir jeden Kummer mittheilen will, und um mein Versprechen zu erfüllen, will ich gleich anfangen: Denke Dir nur, dass mir gestern meine M ­ utter eröffnet hat, dass unser Wunsch, an Deinem Geburtstag auch unsern Hochzeitstag zu feiern, schwer­lich in Erfüllung gehen könne […] (Otto, 2. 5. 1867). Von Offenheit ­zwischen den Partnern wird immer wieder die Rede sein: dass sie das „Allernatür­lichste“ sei, bestätigen beide, und doch wird darüber mehrfach korrespondiert, weil z­ wischen theoretischem Anspruch und Praxis des Lebens doch viele Mög­lichkeiten ­liegen, die von vornherein bedacht werden sollten. Da geht es auch um eine Frage wie diese: Was Deine Anfrage wegen der gegenseitigen Mittheilung unserer Geheimnisse betrifft, so ist glaube ich, die Antwort ganz selbstverständ­lich. Natür­lich müssen wir uns alles mittheilen mit Ausnahme von Amtsgeheimnissen. Kannst Du Dir ein vertrauensverhältnis denken wie es unter Eheleuten stattfinden muss, wenn dieselben sich nicht alles sagen, was sie auf dem herzen haben. Die Anwaltsgeschichte habe ich meinen Eltern nicht mitgetheilt, weil ich denselben keine Sorgen machen wollte, und es wäre aus demselben grunde vielleicht besser gewesen, wenn auch Du es Deinen Eltern nicht gesagt hättest. Dir musste ich es aber natür­lich mittheilen, denn nach meiner Ansicht hast Du als mein Weib ja das Recht und die Pflicht alle guten und bösen Geheimnisse zu theilen (Otto, 17. 6. 1867).

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Wie aber ist es, wenn etwa ein Freund, eine Freundin Sophie oder Otto etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt hat? Darf man das weitersagen? Oder gilt hier das Offenheitsgebot nicht? Hat das Versprechen der Verschwiegenheit Dritten gegenüber einen höheren Rang als das der Offenheit z­ wischen Eheleuten? Ähn­lich ist es mit Emmas Briefen an die Tochter; darf Otto sie lesen? Darf Sophie diese „Gespräche“ mit der ­Mutter für sich behalten? Was wiederum hieße, dass es Geheimnisse in der Ehe geben darf. Über das Geheimhalten bist Du nicht ganz auf meine Frage eingegangen. Dass wir uns unsere eigenen Angelegenheiten mittheilen ist selbstverständ­lich und nie von mir bezweifelt worden. Was ich meinte sind die uns vertrauten Geheimnisse unserer Freunde und Angehörigen. Ich erinnere mich, dass ­Mutter Dir sagte, Du möchtest nicht alle ihre Briefe an mich lesen, das müsstest Du nach Deiner Antwort nicht in der Ordnung finden. Wenn Du einem Deiner Freunde ein wichtiges Geheimnis anvertraust, wenn eine(r) meiner Freundinnen mich etwa zum Mitwisser einer Liebe macht, dürfen wir uns das, ohne unred­lich zu sein sagen? M ­ utter habe ich bisher alles erzählt, und ich glaube es würde mir unend­lich schwer werden, etwas Wichtiges was mich beschäftigt und vielleicht aufregt, allein zu tragen. Sag mir Deine Meinung darüber, denn ich denke Du wirst sehen, dass Du mir darauf noch nicht geantwortet hast (Sophie, 18. 6. 1867). Für Sophie sind das drängende Fragen, bedeuten sie doch, dass sie einen Teil ihrer Integrität aufgeben müsste, wenn Otto auf einer so definierten absoluten Offenheit bestünde. Die Gespräche unter Frauen und Mädchen sind oft reine Frauenangelegenheiten. Wäre hier Offenheit noch zu ertragen, weil die Bindungen an die Hamburger Freundinnen doch sowieso lockerer und neue sicher nicht schnell so vertraut wie die alten werden, bleibt das fast symbiotische Verhältnis zu der geliebten M ­ utter. Sophie mag sich nicht vorstellen, dass sie die ­Mutter nicht weiter an ihrem Denken und Fühlen teilnehmen lässt. Verräterisch ist die Aussage, dass sie Belastendes dann „allein tragen“ müsste, wenn sie es nicht mehr der M ­ utter mitteilen dürfte. Was ist mit Otto? Die Vertrauensstellung der M ­ utter bleibt unangefochten – trotz aller Liebe. Das muss Otto akzeptieren. Seine Antwort ist einsichtig und beruhigend: Du hast Recht, dass ich mich über das Mittheilen unserer Geheimnisse unserer Freunde ein bestimmtes „Ja“ oder „Nein“ abzugeben [zurückgehalten habe]. Auf der einen Seite scheint es mir unmög­lich, Dir etwas nicht zu sagen, und andererseits kann ich mir doch Fälle d ­ enken, wo ein Freund mir ein Geheimnis anvertraut, welches ich selbst meinem Weibe nicht mittheilen dürfte. Ich glaube, dass wir das dem jeweiligen Falle überlassen müssen, uns aber nicht durch eine allgemeine Verabredung binden, oder auch nur für gebunden halten dürfen (Otto, 20. 6. 1867, im Brief vom 19. 6. 1867). Dass das Miteinandersprechen ein zentraler Teil der Ehe werden wird, sagen schon die Briefe, dass beide hoffen, dass d ­ ieses Mitteilungsbedürfnis anhalten möge, erfährt die Leserin direkt: Vorhin fiel mir ein, dass ich einmal mutter erzählte, dass ein junges Ehepaar sich auf eine kurze Hochzeitsreise Bücher mitgenommen und abends lange zusammen gelesen haben. Worauf sie meinte, die müssten sich recht zusammen langweilen, wenn sie da schon nichts anderes zu sprechen hätten! Damals begriff ich es nicht und dachte, man kann doch nicht immer miteinander reden, jetzt aber scheint mir doch, dass sie recht hat, denn ich weiss ja Überlegungen über einen gemeinsamen Alltag   |

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aus Erfahrung, dass wir nur selten dazu gekommen sind, selbst ein kurzes Gedicht zu lesen, sondern Stoff genug in uns gefunden haben (Sophie, 23. 5. 1867). So wichtig einerseits ist, dass ein Ehepaar in lebendigem Austausch seiner Gedanken und Gefühle bleibt, so verblüffend erscheint doch Sophies Bemerkung im Zusammenhang mit der Hochzeitsreise, die hier als gemeinsame Lesereise umso unglaubwürdiger wird, als ja bei der so deut­lich auferlegten sexuellen Zurückhaltung die aufgestauten Wünsche sich end­lich ihr Recht verschaffen sollten. Oder griff das Viktorianische Zeitalter in Psyche und Verhalten der Liebenden so tief ein, dass nicht einmal verdeckt von sexuellen Wünschen und Phantasien die Rede sein durfte? Beruhigend ist, dass Sophie wenigstens sehr deut­liche Vorstellungen von der Aufmerksamkeit ihres Mannes während der Hochzeitsreise hat. Auf den Bericht vom Verhalten eines frisch verheirateten Paares antwortet Sophie ungewohnt temperamentvoll: Ich kann mir nicht denken, dass das Ehepaar von dem Du schreibst neu verheiratet war; ich denke mir die wären à tout prix allein gefahren. Und dann wäre es doch undenkbar, dass ein Ehemann am Hochzeittage Zeitungen lesen und Cigarre rauchen würde ICH GLAUBE ICH WÜRDE MICH DIREKT AUF DIE Schienen werfen, wenn meiner das thäte! (Sophie, 19. 8. 1867, im Brief vom 18. 8. 1867). Abgesehen vom intimen Eheleben – was also werden die Eheleute alltags zusammen tun, außer miteinander reden? Von Sophie erfahren wir, dass dann doch ihrer Auffassung nach die gemeinsame Lektüre ein wesent­licher Teil der Ehe sein wird. Schon im Vorfeld plant sie, was als erstes zu lesen sei: Gabriel Riessers* Biographie (und Briefe), die ihr Vater Meyer Isler gerade herausgibt und die von Sophie Korrektur gelesen wird: … ach könnten wir es doch zusammen lesen oder wenigstens ganz gleichzeitig (Sophie, 30. 4. 1867). Keinen Monat s­ päter fragt Sophie an: Wie weit bist Du jetzt im Riesser*? Ich habe noch kein Wort wieder gelesen. […] [D]ann wird es unsere erste gemeinschaft­liche Lektüre sein (Sophie, 23. 5. 1867, abends). Aber auch andere Bücher werden genannt: Mendelsohn, Simon, die freitagschen „Bilder“ – Sophie sortiert ihre kleine Bibliothek um und fragt, was sie mitbringen soll. Andersens Märchen? Einige Bücher müssen gebunden werden, damit sie in der neuen schönen Wohnung vorzeigbar sind. Hat Otto ein eng­lisches und franzö­sisches Dic­tionnaire? Ein Reißzeug, was Sophie zum Zeichnen benötigt? Denn sie soll wie in Hamburg Zeichenunterricht nehmen. Otto hat schon nach Gefährtinnen Ausschau gehalten. Aber gemeinsam? Bleibt nur das gegenseitige Vorlesen, doch die Wirk­lichkeit wird sich weniger idyl­lisch gestalten, als sich Sophie jetzt vorstellt. Der vom Beruf erschöpfte Otto sollte oft genug während Sophies Vorlesen einschlafen. Bleiben die Alben, große Bildbände, die man gemeinsam ansehen wird und die genug Gesprächsstoff ergeben, die Fotos und das Lesen in den Briefen der Vergangenheit, um sich diese lebendig heraufzuholen. Von Ottos Beruf versteht Sophie wenig, wenn sie in den Briefen auch gern auf beruf­liche Sorgen Ottos eingeht. Aber auf eine neuer­liche Korrekturtätigkeit freut sie sich, denn Otto Magnus, der promovierte Jurist, veröffent­licht auch: Wie freue ich mich, Liebster, auf die Zeit, wo Du mir Deine Arbeiten vorliest, wo ich dann die Correktur besorge, wir uns des Erfolges freuen! (Sophie, 30. 4. 1867). Dass der Freiberufler oft genug auch noch abends mit seinen Fällen beschäftigt ist, weiß Sophie noch nicht. Zu wissenschaft­licher bzw. publizistischer

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Arbeit kommt Otto seltener als Meyer Isler, in dessen strengem Tagesablauf immer ein kleines Zeitsegment für Wissenschaft blieb, die zum damaligen Berufsbild des Bibliothekars gehörte. Dann gibt es die gesellschaft­lichen Verpflichtungen – Dr. Magnus und seine junge Frau werden Familie und Freunde einladen, Sophie soll ihr Klavier mitbringen – vielleicht wird auch gelegent­lich getanzt? Ein Fremdenzimmer wird geplant, vor allem werden Islers hier übernachten können, aber natür­lich auch andere Gäste. Otto wird Gewohnheiten aus s­ einer Junggesellenzeit beibehalten: den Klub, die Kegelabende, überhaupt Herrenabende, von denen er immer wieder berichtet. Davon wird ihn Sophie nicht abhalten, im Gegenteil: In Bezug auf Deine Freunde will ich es nicht so machen wie die Doktorin Russmann, sondern ebenso vernünftig sein wie Louise Schulz 37. Mein Mann muss seinen freunden treu bleiben, auch muss er sich im gespräch mit Männern messen, nicht immer bei seinem Weibchen hocken wenn es da auch noch so gemüth­lich ist. Zwei Sonnabend kannst Du zu Hause bleiben, am dritten aber musst Du fort, wenn wir beide auch dazu keine Lust haben. Dann werde ich frei­lich tüchtiges Heimweh bekommen aber: „thut nichts der Jude wird verbrannt“ (Sophie, 20. 5. 1867, abends, 11 Uhr). Lebensklug verfolgt Sophie von Anfang an eine uralte Frauenstrategie in der Ehe: Der Mann soll nicht zum „Hauskater“ werden, sich zu Hause gleichsam zur Ruhe setzen. So wichtig ein konfliktfreies Innenleben ist, so nötig sind Außenkontakte, die Blick und Urteil weiten, und die Diskussionen im „Klub“, die ihn für Auseinandersetzungen im Berufsleben stärken und letzt­lich der Karriere ­dienen. Denn Sophie will keinen Mann, der sich zur Ruhe setzt, sie will Erfolge, Regsamkeit und weiteren Aufstieg. Dass der Erhalt alter Beziehungen auch für Sophie wichtig sein würde, ist den Braut­leuten bewusst. Denn sie unternimmt ja die riskantere Veränderung von beiden. Wird sie sich in Braunschweig einleben? Im ersten Ehejahr fällt auf, dass sie eigent­lich nie allein zu Hause bleibt, sondern beinahe täg­lich bei Ottos Eltern auftaucht, mit ihm oder auch allein, wenn er etwa in Ölper kegelt und sie s­ päter abholt. Wichtiger sind die Hamburger Verwandten, Freundinnen und Freunde, die unterstützen sie anfangs nach Kräften. Und vor allem die Eltern bleiben auch in Braunschweig ein fester Teil von Sophies Leben. Vor einer Stunde sprach ich noch mit ­Mutter davon dass so manche Männer wenn sie lieben, es für genug halten, wenn sie ihr Mädchen ganz für sich haben wollen und sie allen früheren beziehungen entfremden und nicht bedenken wie weh sie damit nicht allein allen die sie lieb haben sondern auch ihr selbst thun. Kann das eine rechte und edle Liebe sein, die so viel Egoismus hat und die so eng ist, dass sie sich begrenzt? Ich darf es fragen, denn ich habe die schöne beglückende Antwort in Dir. Du liebst die Meinen, Du bemühst Dich, ihnen nicht ihr Eigenthum zu nehmen, sondern ihnen einen neuen schönen Besitz in d ­ ieselbe zuzuführen, und dafür lass mich Dir aus der Tiefe meiner Seele danken! Wie traurig wäre ich gewesen, wenn es umgekehrt wäre (Sophie, 1. 6. 1867, abends). Ein hohes Maß an Altruismus wird demnach von den

37 Luise Schulz° (1846 – 1868), geb. Hausmann, erste Frau des Braunschweiger Eisenbahndirektors ­Friedrich Schulz*. Näheres unter „Frauenbiographien“.

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Liebenden verlangt – nichts schlimmer als Egoismus! Die „rechte“ Liebe wird immer von neuem beschworen, die das Glück des anderen über die eigenen Wünsche und das eigene Wollen stellt.38 In Braunschweig muss Sophie alltäg­lich mit Ottos Familie auskommen, gut auskommen, aber deren Leben ist ihr fremd. Bei Islers bewegte sich Sophie in dauerndem Gespräch mit der ­Mutter, mit Besucherinnen und Besuchern oder suchte andere Familien auf. Vielfach berichtet sie von interessanten, lebhaften Unterhaltungen und der Anregung, die Emma und auch sie dadurch erfahren. Wie aber beschäftigt sich die Braunschweiger Familie? Häufig ist vom Spazierenfahren die Rede – man hat ja Pferd und Wagen –; von ausgedehnten Wanderungen – Vater Magnus, Otto und Anna laufen gern, die M ­ utter und Helene Camphausen* fahren hinterher; oft trifft sich die Familie in Tante Jeanettes* Garten und sitzt im Familienkreis plaudernd zusammen. Aber die Th ­ emen gehen an solchen Abenden meist nicht über den privaten Bereich hinaus. Zu Hause werden manchmal Gesellschaftsspiele gemacht. Das alles ist nicht Sophies Welt. Nach einiger Zeit wird sie anfangen, aus modernen Erzählungen Storm z. B., vorzulesen und andere zum Lesen mit verteilten Rollen zu animieren. Das findet Anklang, funk­tioniert aber so richtig nur, wenn sie dabei ist. Später wird Felix Aronheim* ein wichtiger Mitstreiter in Sachen ‚Lesen mit verteilten Rollen‘. Und natür­lich gehen Magnussens ins Theater oder in Konzerte. Die geistige Auseinandersetzung aber, die bei Islers sozusagen das täg­liche Brot war, findet kaum je statt. Die wird Sophie am meisten vermissen und schon bald nach Hilfskonstruk­tionen Ausschau halten. Dann ist da noch das Verhältnis zur Schwiegermutter. Als kluges Mädchen hat sich Sophie darüber natür­lich beizeiten informiert. Weiß sie doch, dass d­ ieses Verhältnis wahrschein­lich das heikelste in der neuen Familie sein wird und dass auch um Ottos und ihrer Beziehung willen Behutsamkeit angebracht ist. Dass auch Otto einiges dazu tun kann, teilt sie ihm sogleich mit, wie manches Mal als Ergebnis ihrer Lektüre: Gestern las ich einen reizenden Aufsatz von meiner Lieblingsschriftstellerin über Schwiegermütter, der sehr viele beherzenswerte Lehren über das manchmal schwierige verhältnis ­zwischen diesen und den Schwieger­kindern enthält. Darin steht unter anderem. Dass mancher j­unger Ehemann es dadurch verdirbt, dass er zu viel Vergötterung von den Seinen für seine Frau verlangt, und dadurch sie in Opposi­tion treibt, während sich leichter ein schönes verhältnis herstellen würde, wenn der Mann nicht sie als vollkommenes Wesen hinstellte, an der kein Anderer einen Fehler entdecken dürfte. Das scheint mir sehr weise und Deine ­Mutter sprach Ähn­liches aus indem sie sagte sie sehe schon, wie Du ihr Dein nied­liches Frauchen durch Deine Vergötterung zuwider machen würdest. Also nimm Dich in Acht!! (Sophie, 24. 8. 1867). So viel zur Vorbereitung – und oberfläch­ lich betrachtet, geht zunächst auch alles gut, aber dann fällt doch auf, dass Sophie sich nicht leichttut. Ottos M ­ utter ist gewöhnt, in ihrer Familie die Entscheidungen zu treffen, und tut das ungeniert und ohne zu fragen, wird also gern übergriffig, und das kann Sophie je länger umso weniger ertragen, wie sie auch den medizinischen Rat ihres Schwiegervaters für

38 Siehe Kapitel „Vom Sinn der bürger­lichen Ehe“.

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sich persön­lich nicht schätzt. Also gehen beide Seiten nach einiger Zeit etwas auf Distanz. Erst 1873, als end­lich ein Kind geboren wird, sollte wenigstens der Arztvater ein täg­lich gern gesehener Gast und akzeptierter Ratgeber werden. Trotz der Übereinstimmung in vielen Bereichen bleiben Unterschiede, die angesprochen werden müssen, weil sie Sophie beunruhigen. Einer besonders: Weißt Du was mir vielleicht ganz sonderbar vorkommen wird? Es ist der Umgang mit so vielen Christen an den ich garnicht gewohnt bin, und den ich eigent­lich bisher nicht gern mag. Ich kenne zwar einige sehr nette, besonders Männer, aber so recht warm bin ich nie mit ihnen geworden. Ich höre nun schon Deine Erwiderung, in der ich Dir auch vollkommen Recht gebe, und ich will auch versuchen mich zu bessern! Ob wohl die darauf bezüg­liche Predigt münd­lich oder schrift­lich kommt? Wenn Dir daran liegt, Dich auszusprechen, rate ich Dir zu schrift­lich denn sonst lasse ich Dich doch nicht ausreden. Merkst Du eigent­lich jetzt, dass DU eine sehr freche Frau bekommst, die Dich tüchtig quälen und peinigen wird? (Sophie, 1. 6. 1867). Die scherzhafte Wendung zur frechen Frau, die Sophie ihren Befürchtungen gibt, verdeckt gerade nicht, dass ihr d ­ ieses Aussprechen sehr wichtig ist. Selten kommt es vor, dass Sophie sich offen zu einer anderen Ansicht bekennt, als sie Otto vertritt. Dass sie es hier so deut­lich tut, obwohl sie Ottos Erwiderung ja augenschein­lich im Vorhinein kennt, über ­dieses Faktum also sicher­lich schon gesprochen worden war, zeigt nur, wie wichtig ihr dieser Punkt ist. Aber Otto antwortet nicht mit der scherzhaft erwarteten „Predigt“, sondern ernsthaft und einfühlsam. Ich kann es Dir recht nachfühlen, dass Dir der Verkehr mit Christen unbehag­lich vorkommt. Es gibt auch wirk­lich viele Christen, mit denen man niemals so warm werden kann wie mit Juden, das ist nur bei denen mög­lich, bei ­welchen man durchaus überzeugt ist dass keine Spur von Riches 39 bei ihnen vorhanden ist. Es gibt aber auch ­solche, und dann sind sie ebenso gut wie Juden. Das wird auch Dich die Erfahrung lehren … (Otto, 3. 6. 1867). Schon im Brief davor hat Otto von der Familie des Kapellmeisters Müller in Braunschweig erzählt und betont, dass sie frei­lich sehr fromme Christen s­ eien, dann aber angefügt: meinen es aber ehr­lich und achten auch andere Überzeugungen (Otto, 31. 5. 1867). Der Vorgang ist besonders wichtig, zeigt er doch, wie Islers in Hamburg trotz aller gelebten Emanzipa­tion eine jüdische Familie geblieben waren. Wenn auch das Reformjudentum in Hamburg aus tradi­tionell jüdischer Sicht seine Anhänger weit von der reinen Lehre entfernt hatte, waren diese dem eigenen Verständnis nach „gute“ Juden geblieben. So liberal die Verhältnisse in Hamburgs Geschäftswelt und Politik auch sein mochten, Islers jedenfalls verkehrten eigent­lich nicht in christ­lichen Kreisen, sieht man von Meyer Islers Gelehrtenmeetings ab. Sie hatten allerdings christ­liche Bekannte und Freunde. Ob die gesellschaft­ liche Separierung mit dem praktizierten Judentum der Familie zusammenhing, lässt sich nur vermuten. Was auffällt ist eine Sensibilität Emma Islers gegenüber Unkenntnis und ungeschickten Formulierungen christ­licher Mitbürger – schon die Bezeichnung „Israeliten“

39 Boshaftigkeit, Verleumdung, Judenfeindschaft.

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konnte sie auf die Palme bringen, sie verbesserte sofort in „Juden“.40 Bei Wohlwills z. B., die sich dezidiert als nicht konfessionsgebunden bezeichneten, ist anderes zu beobachten. Sie bewegten sich unangestrengt in jüdischen und christ­lichen Zusammenhängen. Das belegt Anna Wohlwills° Lehrerinnen- und Direktorinnentätigkeit am Paulsenstift, das eben keine jüdische Einrichtung war,41 oder Adolf Wohlwills* Unterrichten als Geschichtslehrer an der Gelehrtenschule des Johanneums, das ja ein evange­lisch-­lutherisches Gymnasium war.42 Dass man mit Christen nicht eigent­lich „warm“ werden kann, wird immer wieder im ganzen Briefwechsel gesagt. Zu unbekannt sind Lebensführung und Haushalt, zu fremd Verhaltensweisen und Anschauungen. Das Nichtbekannte, das Unvertraute wird als „Kälte“ erfahren. Am neugierigsten finden wir Emma in d ­ iesem Zusammenhang, die A ­ bweichungen von den eigenen Überzeugungen und „fremdes“ Verhalten gern beobachtet, Schlüsse zieht und alles ihrer Tochter mitteilt, während Sophie auch dort Veränderung und Kälte wahrzunehmen meint, wo Juden sich haben taufen lassen. Dünnhäutig aber – was Wunder – reagieren alle, wo sie Verachtung, Demütigung oder Ungleichbehandlung auch nur im Ansatz wahrnehmen. Sophie jedenfalls macht die Vorstellung von Ottos Freundes- und Bekanntenkreis etwas beklommen. Zu allem Fremden, zu der neuen Stellung und Lebenssitua­tion kommt also noch potenziert Fremdes dazu: der Umgang mit vielen Christen! Damit liegt dann Braunschweig wohl doch auf einem ganz andern Stern als die vertraute Hamburger Heimat, in der Sophie weitgehend im jüdischen Milieu geblieben war. Die Leserin überrascht das: Eine Begrenzung auf das jüdische Milieu fällt in den Briefen eigent­lich nicht auf, scheinen sie doch bis ins Detail ein vollständiges Bild des Lebens 1867 zu geben. Den Schreibenden aber war diese Einschränkung grundsätz­lich bewusst, wenn auch nicht immer gegenwärtig. Bei der Bemerkung von Herrn v. Stich, dass man überall menschen findet, wurde mir recht klar, wie viel größer die Welt für Christen ist wie für Juden. Wir können die Behauptung nicht wahr finden, denn wir habe[n] immer in einem viel kleineren Kreis zu suchen (Emma, 5. 6. 1874). Darauf wird die Darstellung ­später zurückkommen. Hier geht es erst einmal um Differenzen, die im gemeinsamen Leben des Paares Schwierigkeiten machen könnten, wie z. B. das Laufen, von dem Sophie gern spricht und doch ganz anderes meint als Otto.

40 Als Pastor Hirsche Emma besuchte und seine Vaterstadt Braunschweig „auf Kosten Hamburgs“ rühmte und in d ­ iesem Zusammenhang auch „das Verhältnis von ‚Israeliten‘ pries, was ich sogleich in ‚Juden‘ verbesserte“ – es geht um Tradi­tionalisten und Reformjuden (Emma, 10. 1. 1868, 12 Uhr), ein Formulierungsfehler, den Hirsche für unbedeutend hielt. 41 Anders als das Paulinen-­Stift, ein Waisenhaus für jüdische Mädchen, das 1857 von Jaffé gegründet wurde, war das Paulsenstift 1849 vom Frauenverein gegründet worden zur Unterstützung der Armenpflege in Hamburg. 1866 entstand das Schulhaus bei den Pumpen, das ca. 300 Kinder aufnahm (Bewahranstalt und Schule). So in: Hambur­gisches Adressbuch 1867. 42 Meyer Isler gegenüber hatte W. seine Berufung an die Schule als etwas Außerordent­liches verstanden, weil „es wohl der erste Fall in Deutschland [sei], dass ein Nicht-­Christ (Jude scheint er zu vermeiden) an einem Gymnasium Geschichte lehrt […]“ (Meyer, 9. 2. 1873), eine Vermutung, die Meyer für durchaus richtig hielt.

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AUSFLÜGE IN DIE NATUR Ja, die vielen Gänge in Hamburg! Sophie ist immer unterwegs, in aller Regel zu Fuß, selten mit der Droschke oder zu Schiff: mal mit dem Vater an der Alster oder zu Schiff auf der Elbe, mal mit Onkel Panne (= Ferdinand) in Ausstellungen, am Vierschillingstag im Zoo, auf dem Land, wo (Ludwig) Meyers ein Sommerhaus haben, bei befreundeten oder verwandten Familien, bei den Freundinnen und natür­lich in diesen Monaten vielfach mit M ­ utter, Tanten oder Freundinnen unterwegs wegen der Aussteuer. Gleichwohl – das sind in der Regel Stadtgänge, selten ein Ausflug in die Natur, schon gar nicht ein Tagesausflug oder gar eine Wanderung auf Schusters Rappen! Und das ist nun bei Otto und seiner Familie total anders: da wird gelaufen, gewandert und gebadet. Ottos Vater, der Arzt Dr. Julius Magnus*, ist offensicht­lich ein Frischluftfanatiker und der Naturmedizin zugeneigt: Kalte Bäder und verschiedene Tees, heiß oder kalt zu trinken, sind an der Tagesordnung. Er offeriert Kamillentee, bevor er bei einer Kolik seiner Frau zu härteren Mitteln greift. Und seine Kinder sind allesamt ordent­ liche Läufer, auch Anna. Gegessen wird viel Obst und Gemüse aus Tante Jeanettes (Helfft*) Garten. Radieschen und Rettiche werden aus der Erde gezogen und gleich verspeist, und am Spargelstechen beteiligen sich alle 43, wenn man diese Tätigkeit in der Regel auch lieber dem Personal überlässt. Dass Sophie Süßigkeiten liebt und von allen Seiten Schokolade geschenkt bekommt, sieht Otto mit Missfallen und will es am liebsten verbieten. Allerdings dringt er damit weder während der Verlobungszeit noch in der Ehe wirk­lich durch. Auf seinen Spaziergängen und Wanderungen schwärmt Otto für die Natur, seine Briefe sind voll davon und Sophie soll, ist sie erst da, mit ihm laufen und wandern. Darauf geht sie auch bereitwillig ein: Ich bin sehr dafür, dass wir zusammen das Laufen wieder lernen, aber ich glaube, Du bist mir doch entschieden „über“, denn ich bin es seit meiner letzten grippe garnicht mehr gewohnt. Ich habe immer zu viel zu thun, um dafür Zeit zu haben. Ich glaube das ist eine schlechte Eigenschaft. Dass ich zum Schreiben Zeit habe ist eine gewissenlosigkeit, für die ich einst in der Hölle braten muss (Sophie, undatiert, Ende Mai 1867). Gute Vorsätze das Laufen betreffend finden sich mehrfach in den Briefen, aber es lässt sich nicht beschönigen: Sophie ist keine sport­liche Frau, Spaziergänge mit Maßen – mehr ist nicht drin. Dass das Argument der fehlenden Zeit nicht verfängt, merkt sie selbst. Dass sie einfach

43 Otto, 30. 5. 1867, um 8 Uhr.

Ausflüge in die Natur   |

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keine Lust und Übung hat, wird sie nie sagen. Meist fühlt sie sich in Hamburg zu beschäftigt und in Braunschweig zu schwach, zu angestrengt oder „unwohl“ – ein Grund findet sich immer. Auch von dieser weib­lichen Mattigkeit, die in bürger­lichen Kreisen grassierte, wird noch zu reden sein. Otto dagegen ist wohlgemut und kann sich gar nicht vorstellen, dass ordent­liche Fußmärsche nicht jedermanns und jederfrau Vergnügen sind. Ich ging mit Anna und Vater dann spazieren. Unterwegs trafen wir Schulz*, der gerade zum baden gehen wollte und mich zum Mitgehen überredete. Ich freue mich, dass ich durch diese gelegenheit angefangen habe draussen im Freien zu baden, was ich nun regelmässig fortsetzen werde. In früheren Jahren habe ich damit immer schon viel früher angefangen. Diesmal habe ich bis jetzt garnicht daran gedacht. Das Bad war erquickend und köst­lich. Nimmst Du im Sommer kalte Fussbäder oder ist das in Hamburg nicht Sitte? […] Ich traf sie [Anna und Vater] im herzog­lichen Park, der ziem­lich verwildert und zu dem eigent­lich der Zutritt verboten ist. Dann fährt Otto fort: Wir werden ­später hoffent­lich oft dorthin gehen. Die einliegenden Blumen (Färberginster) habe ich dort gepflückt (Otto, 29. 5. 1867). Hier will er mit Sophie spazieren gehen und das nächste Ziel anvisieren: Man hat auch eine prächtige Aussicht auf den harz (ebd.). Harzpartien sind die große Leidenschaft in Braunschweig und ganz offensicht­lich eines der Sommervergnügen. Für die älteren Damen und Herren werden oft nach halber Strecke Kutschen geordert, weil der Marsch doch zu anstrengend ist. Die Jungen aber laufen forsch über Berg und Tal, gestärkt durch mancherlei Vesperpausen. Das Wetter war vortreff­lich und nur ein starker Höhenrauch […] hätte wegbleiben können. Du möchtest wohl wissen wer die Theilnehmer waren? So höre: Die Familie Fein und Kreisrichter [Wilhelm] Bode, Magens und [Constantin] Uhde mit seinem vater. Ausserdem waren einige jungen Damen ohne Eltern mit: Frl. Westermann*, Frl. Rimpau, eine Cousine von Sophiechen Boderich, Frl. Löhbke, die in Wolfenbüttel zu uns stieg und Frl. Ribbentrop, eine Freundin von Anna Fein, mit der ich vor langen Jahren Tanzstunde gehabt habe. Die jungen herren waren: Kabel, Märker, Rossmann, Grote, Gerhard Krahe (ein junger Architekt) [Arnolf ] Schertel und Dr. Schulze. […] Wir erstiegen unter heiteren geprächen den Elfenstein, woselbst wir frühstückten. […] Von dort führt der Weg über die Berge nach Okerthal. Ehe wir in das Thal hinabstiegen wurde die 2. Mahlzeit verzehrt. Du hättest die hübsche Gruppe sehen sollen ­welche wir bildeten. Es wurde auch viel gesungen. Im Okerthal wurde K ­ affee getrunken und dann thalabwärts nach Oker gegangen, wo wir die Eisenbahn erreichten. Die Alten fuhren im Wagen durch das Okerthal. […] Wir trafen hier abends um 1/2 10 Uhr ein, und wurden von M ­ utter und Helene am Bahnhof empfangen. Ich war so entsetz­lich müde, dass ich noch kaum etwas zu Abend essen konnte […] sondern mich so schnell wie mög­lich zu Bett legte. Unser lieber Harz ist ganz prächtig und wir freuen uns darauf ihn mit meinem geliebten Weibchen zu durchschreiten (Otto, 3. 6. 1867). Hier ist alles beisammen, was das bürger­liche Ausflugsvergnügen ausmacht: die zahlenmäßig große Mehrgenera­tionengruppe – mindestens 20 Personen, Gespräche beim Wandern, die vielerlei Picknicks, der fröh­liche Gesang, die (Hin- und) Heimfahrt mit der Eisenbahn und die angenehme Müdigkeit nach der Strapaze. Gemeinsame Ausflüge sollen den Alltag verschönen; darauf freut sich auch Sophie, obwohl sie derartige Anstrengungen mit Sicherheit nicht gewöhnt ist.

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1867 ist der Harz also eine „gezähmte“ Wildnis, in dem Gruppen von Städtern und Ausflüglern auf gebahnten Wanderwegen durch die Natur schlendern oder zügig „marschieren“. Die Eisenbahn hat alles erschlossen. Dabei ist es erst eine Genera­tion her, dass der Harz als gefähr­liches Gebirge galt und der Brocken von wagemutigen jungen Männern erklettert wurde, die das Erlebnis ursprüng­licher und wilder Natur suchten. Meyer Isler, Sophies Vater, war hier nach seinem vierten Semester gewandert, nachdem er seine Studien in Bonn abgeschlossen hatte, begleitet vom Kopfschütteln seines Vaters, der in dieser Tour keinerlei Nutzen sah, und zum Schrecken seiner ­Mutter, die den Sohn in der Wildnis zu verlieren fürchtete. Nicht lange vorher, 1824, war auch der junge Heine hier gewesen, hatte den ­Brocken mit einem Führer bestiegen und seine Erlebnisse in der „Harzreise“ festgehalten. Und wieder fünfzig Jahre zuvor waren der junge Goethe und die Stürmer und Dränger im Harz und auf dem Brocken gewesen, in der ursprüng­lichen Natur, hatten an Wildwassern biwakiert, in Nebel und Wolken den Aufstieg gesucht und den Sonnenaufgang auf dem Brocken als erschütterndes Erlebnis erfahren. Der wilde Harz – fern aller Kultivierung. Das war zu ­diesem Zeitpunkt, von dem ich hier erzähle, 1867, keine hundert Jahre her. Damals bedeutete der Ausflug in die Natur zugleich die Flucht aus der als bedrückend empfundenen Zivilisa­tion mit ihren Regeln und Festlegungen in Lebensführung, Beruf, Liebe und Stellung in der Ständegesellschaft. Natur war das Erlebnis von Freiheit und unmittelbarem Leben gewesen, das Gefühl von Größe und Unverrückbarkeit gegenüber kleiner und abhängiger menschlicher Existenz. Und es war immer ein individuelles Erlebnis gewesen, das die Natur und den Einzelnen miteinander konfrontierte. Geblieben ist 1867 davon das Naturgefühl und das individuelle Naturerlebnis, wie es Otto immer wieder in seinen Briefen schildert, auch, um in der Liebsten die Lust auf ­solche Wanderungen zu wecken. Trotz aller Belastungen durch den Wohnungsumbau, die Kanzlei und das viele Briefeschreiben – oft sind es ja sechs- bis zehnseitige Briefe – findet Otto immer wieder Zeit und Gelegenheit, einen „Spaziergang“ zu machen. Gestern nachmittag habe ich einen schönen Spaziergang gemacht mit Onkel Schertel. Wir gingen über Riddagshause[n] mit seiner schönen K ­ irche und seinen Teichen nach Buchhorst (d. i. der Wald in dem das Wirtshaus „zum Grünen Jäger“ liegt) Vermieden aber das Wirtshaus und suchten einen Teil des Waldes auf, wo herr­liche Eichen uns umgaben und unsere einzige gesellschaft ein hoch über uns schwebender krächzender Adler bildete. Wir durchwanderten das gehölz in seiner ganzen Länge nach und kehrten dann, nachdem wir unsern Durst im „Schöppenstedter Turm“ durch ein Glas Bier gestillt hatten nach Braunschweig zurück. Soweit die Wegbeschreibung. Was diese Wanderung an Schönheit und innerem Erleben für Otto bedeutet, erfahren wir aus den folgenden Sätzen. Es wurde schon ganz ­dunkel und wir hatten die köst­liche herbst­liche Mondlandschaft. Auf den Wiesen lag weisser Nebel und über den Feldern zogen weisse Rauchstreifen vom verbrannten Kartoffelstroh, dessen Flammen mit Unterbrechungen aufleuchteten. Im Westen waren wundersame Wolken­gebilde röt­ lich von der längst geschiedenen Sonne beleuchtet. Dabei war die Luft so durchsichtig, dass die entferntesten gegenstände in wenigen Minuten erreichbar schienen. Solche Tage, wo die Ausflüge in die Natur   |

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ganze natur glänzt und lacht gibt es nur im Mai und im September. Und wie wird erst alles lachen und glänzen, wenn ich ein Weibchen an meiner Seite habe um mit ihr zu geniessen und wenn es mir die ganze Welt mit Sonnenschein beleuchtet (Otto, 12. 9. 1867, morgens, 7 Uhr.). Hier wie an allen Tagen und bei allen Unternehmungen sind Ottos Gedanken bei Sophie und der großen Veränderung, die seinem Leben bevorsteht. Wir sprachen von den verschiedensten Dingen, von Büchern, nament­lich von Heine – die Besinnung auf die deutschen Dichter durfte beim Naturerlebnis nicht fehlen! –, von Reisen und von Politik. Aber ich war immer nur halb bei der Sache, denn meine Gedanken waren stets bei Dir. Wird Sophie an ­diesem Glück bei Ausflügen in die Natur teilhaben? Obgleich wir schnell gingen dauerte unser Ausflug 2 1/2 Stunden. Können wir das wohl auch zusammen machen oder wird Dir das zu weit? Ich denke Du wirst Dich nach und nach daran gewöhnen so weit zu gehen. Und wie gesund wird dann mein kleines Dickerchen sein! (Otto, ebd.). Sophie antwortet im folgenden Brief diplomatisch: Ob ich eine 2 1/2 stündige Wande­ rung mit Dir machen kann, müssen wir abwarten, aber wir können uns ja auch inzwischen ausruhen und kaffee trinken und Kuchen essen, nicht wahr? (Sophie, 14. 9. 1867, im Brief vom 13. 9. 1867). Wieso denn das? Wieso wäre eine derartige Wanderung für Sophie eventuell zu viel? Die zahlreichen jungen Damen, die die Harztour Anfang Juni (s. o.) mitgemacht hatten, waren doch den ganzen Tag auf den Beinen. Ein Frauenproblem dürfte das also schwer­lich gewesen sein. Oder strapazierte Laufen Sophie über die Maßen, weil sie ein „Dickerchen“ war, wie Otto liebevoll bemerkt? Vielleicht aber war Sophie als Großstädterin nur nicht an Landpartien und Exkursionen gewöhnt. Ob Otto nachdenk­lich wurde, als sie sich die zweieinhalbstündige Wanderung in Gedanken gleich mit einer ­Kaffee-­Kuchen-­Pause versüßte? In Braunschweig wird Sophie allen Aufforderungen und Bemühungen einen zähen Widerstand entgegensetzen. Otto wird es nur selten gelingen, sie zu einer „Tour“ zu bewegen, schon ein längerer Spaziergang sollte kaum durchzusetzen sein. Trotzdem hat er für Sophie immer zartfühlende Rücksichtnahme und verharrt in Sorge um ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Dass er selbst dabei zu kurz kommt, weil ihm Bewegung im Freien ein ­echtes Bedürfnis ist, ignoriert er, wohl aber bemerkt das Emma, die bei ihrem ersten Besuch in Braunschweig an Meyer Isler schreibt, dass Otto schlecht aussähe, weil ihm das Laufen in der frischen Luft fehle. Während ich schreibe ist Sophie mit Otto spazieren gegangen, der Vater [Dr. Julius Magnus*]schilt sehr, dass Otto fast garnicht mehr geht, während er sonst stundenlang gelaufen ist. Jetzt will er nicht ohne Sophie (Emma, 3. November [richtig: 3. 12. 1867]), ein Zustand, den Sophie relativ ungerührt zur Kenntnis nimmt. Mit der Zeit stellen sich bei ihr „Leiden“ ein, die ihr sogar das Laufen in der Stadt von Fall zu Fall unmög­lich machen. Schließ­lich muss sich Otto damit abfinden, dass es in Bezug auf das Wandern keine Gemeinsamkeit in der Ehe gibt. Erst als beider Sohn Rudolf sieben Jahre alt ist und das Laufen für sich entdeckt, wächst Otto ein Wandergefährte von erfreu­licher Ausdauer heran. Das Ehepaar aber arrangiert sich: In den Schweizer Ferien wandert Otto allein oder mit anderen Herren (und einigen Damen), besteigt Berge und macht Gletschertouren, während Sophie in Hotelnähe bleibt, unterm Sonnenschirm, ein Buch in der Hand.

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MÖGLICHE DIFFERENZEN Ein anderer Punkt wird in Sophies und Ottos gemeinsamem Leben mög­licherweise schwierig werden: Ottos Hang zu Sparsamkeit, Schlichtheit und Unauffälligkeit. Bei den Überlegungen über ihr künftiges Leben sehen sich Sophie und Otto nach vielen Seiten um und entwickeln im Vergleich eigene Wunschvorstellungen. Wenn Sophie etwa ihre Kusine Anna May* besucht, die bereits mit einem Advokaten, allerdings in Hamburg, verheiratet ist, bleiben vergleichende Blicke und Urteile nicht aus. Gestern Nachmittag kaufte ich eine wunderschöne Azalie und brachte sie Anna in ihre neue Wohnung mit. Ich fand sie schon ganz in Ordnung und liess mir die wirk­lich prachtvollen Räume zeigen. Sie haben 5 Z ­ immer nach vorne und 3 nach hinten. Sie geben auch 1.100 Th. Miethe. Mays geniessen ihr Leben und amüsieren sich damit, brauchen aber alles auf, was sie haben. So wollen wir es aber nicht machen: je mehr er verdient, desto grösser leben sie und wenn dann einmal eine stille und schlechte Zeit kommt, ist er in Verzweiflung. Es ist seine Schuld, Anna sieht, dass er unvernünftig ist, kann aber gegen ihn nichts ausrichten, wenigstens behauptet sie es. […] Auf seinem Schreibtisch hat er eine beweg­liche Studierlampe zu Gas mit einem Schlauch. Als er mir die Construk­tion des letzteren zeigen wollte, warf er die Lampe um und zerbrach Kuppel und Glas. Das hätte mein ordent­licher Mann nicht getan (Sophie, 16. 5. 1867). Luxus und Verschwendung sind nicht Ottos Sache, da hat Sophie ganz Recht. Otto legt zurück und sucht im gesparten Guthaben die Sicherheit gegenüber Zeiten, in denen die Praxis nicht so gut läuft. Nur, das tritt immer wieder ein und löst regelmäßig leichte Panik bei Otto aus. Also antwortet er wie erwartet: Was Du von May’s Verschwendung sagst[,] wundert mich nicht. Es gibt sehr viele Advokate[n], die so denken. Wir denken aber anders und wollen niemals so viel verbrauchen, um noch morgen etwas zu haben. Aber unsere Liebe wollen wir verschwenderisch und ohne Sparsamkeit geniessen, denn ihre Quelle ist unerschöpflich (Otto, 17. 5. 1867). Dabei ist Otto von Haus aus vermögend, aber er hält sein Geld zusammen, leichtfertig ausgeben möchte er es nicht. Bei der geplanten Wohnungseinrichtung geht es immer wieder darum, die Balance ­zwischen gediegen, haltbar (ein Eheleben lang!), schön, modern und unauffällig zu finden. So sollen es zwar Mahagonimöbel für die Gesellschaftsräume sein, denn die gefallen Otto besonders und erfüllen beinahe alle Bedingungen, wäre da nicht das Design, das auf keinen Fall protzig sein darf. Das führt zu wochenlangen Briefdiskussionen – Hamburg ist zu teuer, Braunschweig bietet nichts Besonderes – und schließ­lich Mögliche Differenzen   |

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zu der Reise nach Berlin, wo Otto und Sophie moderne, aber zugleich preiswerte Möbel erstehen. Dazu kommt: Die hat eben nicht jeder in Braunschweig und sie fallen doch nicht aus dem dortigen Rahmen, worauf Otto besonders Wert legt. Als „Sahnehäubchen“ kommt noch oben drauf: Das Brautpaar kann ganz unverdächtig wieder eine Woche (vom 1. bis zum 7. Juli) zusammen sein, zwar unter dem strengen Blick von Onkel Ferdinand*, aber sogar im selben Hotel! Sein Vater amüsiert sich über den Aufwand, findet ihn wohl etwas übertrieben, spricht allerdings gern darüber. Als er aber Ottos Freund von der großstädtischen Einrichtung erzählt, rastet Otto fast aus: Herman[n Hübener]44 schreibt, mein Vater, der auf der Rückreise von Paris in Münden mit ihnen zusammen getroffen ist, habe ihm unsere Einrichtung so gross[s]purig geschildert, dass seine frau Bedenken trage, uns je zu sich einzuladen. Ich habe dem Vater über diese beläumdung bittere Vorwürfe gemacht (Otto, 19.8.[1867], morgens, 6 Uhr). Protzig zu sein und aufzufallen ist für Otto einer der schlimmsten Fehler. Das spielt bei der Wohnung, bei der Einrichtung und im alltäg­lichen Leben eine große Rolle. Unauffälligkeit ist die Losung und Luxus darf schon gar nicht sein. Das gilt natür­lich auch für Sophies Kleidung, die auf keinen Fall gegen ­dieses Gebot verstoßen darf. Als Sophie von Johannas neuen Schuhen berichtet, die einen „reizenden“ Fuß machten 45, antwortet er, dass er sich für Sophie Schlichteres wünsche: Ich will wohl glauben, dass Johanna’s Schuhe mit roten Absätzen und Schleifen sehr hübsch sind, für meinen Schatz würde ich aber schwarze Absätze und Schleifen vorziehen, denn ich mag gar nicht gern auffallende Kleidungsstücke … (Otto, 20. 6. 1867, im Brief vom 19. 6. 1867). In Berlin kauft Otto Sophie ein schwarzes Tuch und ist danach in Sorge, dass es zu elegant sein könnte, aber Sophie beruhigt ihn: ­Mutter findet mein Tuch sehr schön, und gar nicht zu elegant, da es ja doch nur ein schwarzes Tuch bleibt. Also gib Deine Besorgnis, dass es sich für Deine Frau nicht passt, auf (Sophie, 8. 7. 1867). Je näher der Hochzeitstermin rückt, desto öfter weist Otto Sophie darauf hin, dass sie die Frau eines kleinen Advokaten sein werde und dass sie sich in allem darauf einstellen müsse, natür­lich auch in der Kleidung.46 Deshalb findet Otto Johannas Rat in Garderobenfragen jetzt entbehr­lich und tritt mit seiner Meinung ungewohnt entschieden, ja autoritär auf: Ich billige es nicht, dass Johanna Hirsch* in Bezug auf das Winterkleid gehört wird weil ihr Geschmack mir nicht einfach genug ist und ich nicht möchte, dass Du Dich nach ihrem beispiel kleidest. Ihren Rath magst Du hören, aber Du darfst ihn janicht befolgen (Otto, 3. 9. 1867, im Brief vom 2. 9. 1867). Bald darauf meldet Sophie, dass sie sich an Ottos „Wunsch“ gehalten habe: Gestern Nachmittag ging ich mit ­Mutter, die end­lich wieder ausging und kaufte mir ein Winterkleid. Hoffent­lich gefällt es Dir: es ist grau und sehr solide (Sophie, 5. 9. 1867). 44 Hermann Hübener, engster Freund Ottos, den er während des Studiums kennenlernte. Zusammen mit Carl Stüve, Ottos Freund und Wanderkamerad, wurden sie das „cloverleaf“ genannt und wohnten während des Studiums 1857 in Göttingen zusammen in einem Haus. 45 Sophie, 18. Juni 1867. 46 Mehr dazu siehe Kapitel „Der ‚kleine Advokat‘“.

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Arme Sophie!, möchte die Chronistin sagen, das ist ja garderobenmäßig eine ziem­lich eintönige Zukunft! Aber wie war das denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Eine Dame, und um die geht es hier, durfte durch ihre Kleidung nicht auffallen, sondern sollte sich auch darin Mäßigung auferlegen. Dass für Otto und Sophie mög­licherweise kulturelle Gewohnheiten in diesen Stilfragen auch eine Rolle spielten, ist nicht auszuschließen. Von der Verheiratung an galt für die jüdische Frau in Kleidung (und Haartracht)47 das Gebot der Unauffälligkeit. Vielleicht changierte die Erinnerung daran durch Ottos Geschmacksvorstellungen und mischte sich dort mit seiner Angst, aufzufallen. Sophie sollte s­ päter dafür sorgen, dass einige elegante Attribute ihre Garderobe „aufhübschten“. Jetzt liegt die Toilette für die Hochzeitsreise erst einmal ganz auf der von Otto gewünschten Linie: Heute haben M ­ utter und ich viele Besorgungen geleistet, noch einige so gute Tage und wir werden gut fertig. Ich habe mir einen dunkel grauen Reiseanzug gekauft und weiss nun schon genau, wie ich auf der Hochzeitsreise aussehen werde: grauen Rock und Jacke, […] Hut mit [Schleier?], graue Handschuh, Regenmantel, Plaid, Reisetasche und fürchter­lich dicke Schuhe. Da hast Du mich in ganzer Person, bist Du zufrieden? (Sophie, 10. 8. 1867). Differenzen um diese doch eigent­lich sehr weib­lich-­individuelle Frage treten nicht auf; Sophie war nicht putzsüchtig und passte sich Ottos Wünschen an, mög­licherweise entsprachen sie den ihren. Schließ­lich hatte eine verheiratete Frau – Jüdin oder nicht – sich anders zu kleiden als ein junges, unverheiratetes Mädchen. Auf Johannas Rat allerdings verzichtete sie jetzt und in Zukunft nicht; bis zum Hochzeitstag blieb Johanna Sophies Modeautorität, ­später sollten sich Anna May* und Johanna Hirsch* als Ratgeberinnen abwechseln, denn Sophie blieb in Garderobenfragen unsicher. Die grundsätz­lichere Frage der Sparsamkeit aber bzw. des „Geizes“, zu dem Otto sich selber bekannte, wird in anderem Zusammenhang behandelt.48 Dass bei Ottos Hang zu Schlichtheit und Unauffälligkeit auch zu bedenken ist, dass er auf keinen Fall „Risches“49 erregen wollte, eine Situa­tion, auf die viele Juden mit demütigem Wegducken reagierten und andere mit übertriebener „Lärmhaftigkeit“ im öffent­lichen Raum, ist nicht auszuschließen. Das wäre dann wieder eine Form der kulturellen Prägung, die ihrem Träger gar nicht mehr bewusst war. Aber sie wäre der Grund für eine Haltung, die Sophie als Charaktereigenschaft Ottos bewertete. Natür­lich war Sophie aber auch keine junge Frau, die sich in die Öffent­lichkeit drängte oder einen großartigen Lebensstil in Braunschweig erwartete. Ihr war schon unangenehm, wenn sie auf der Straße zu viele Blicke auf sich zog. Denn auch bei Islers achtete man darauf, nicht aufzufallen, und schätzte Einfachheit als Wert. Von Sophie gibt es die schöne Wunschvorstellung, die sich im Bild „ein Herz und eine Hütte“ konzentriert, wenn sie schreibt:

47 Von nun an musste das Haar bedeckt werden; wie, wurde unterschied­lich ausgelegt: Kopftuch, geflochtenes Haarnetz, Hut oder sogar Perücke finden sich im Spektrum jüdischer (Mode-)Antworten. 48 Im Kapitel „Vom Sinn der bürger­lichen Ehe“. 49 Hier: Judenfeindschaft.

Mögliche Differenzen   |

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Was ist es doch eigent­lich für ein Unsinn dass 2 Menschen so viel Räume und soviel Möbel brauchen! […] Wie viel leichter würde man sich das Leben machen, wenn man nicht so viele Bedürfnisse hätte, und wieviel mehr Zeit behielte man übrig! (Sophie, 30. 5. 1867). Und gleich hat sie wieder ein wunderbares Beispiel zur Hand: Als Weibels sich verheirateten war er Professor in Arau und hatten garnichts. Sie fingen ihre Ehe mit einem Stuhl an, auf den er sich setzte und sie auf den Schoss nahm und jeden Mittag assen sie kartoffeln mit saurer Brühe. Besonders das Letzte reizt Dich zur Nachahmung, denn ich erinnere mich dass Du Dich […] zu ähn­lichen Neigungen bekanntest (ebd.). Der ernsthafte Zivilisa­tionsseufzer des Anfangs wandelt sich unterm Schreiben in Sophies Neckton. Otto näm­lich spricht gern vom einfachen Leben, isst aber sehr, sehr gern feine Sachen. Er antwortet leicht belehrend: Ich möchte es mit „ein Herz und eine Hütte“ recht versuchen, aber das ginge doch nur, wenn wir auf einer insel allein lebten, was übrigens reizend wäre. Da wir nun aber einmal unter anderen menschen leben so müssen wir doch auch deren ­Sitten mitmachen (Otto, 31. 5. 1867, 7 Uhr). Seine Bereitschaft zu einfachem Leben wirkt hier besonders erheiternd, weil Otto unmittelbar vor dieser Passage von einem Abschiedsfest für seinen Freund Dr. Märker erzählt: Die ­jungen Leute wollten nichts als Spargel und Koteletts und Aal geben. Als angehender Hausvater opponierte ich aber gegen diese barbarische Anordnung des Abendessens, und ich habe es auch durchgesetzt, dass noch ein Braten hinzugefügt wird. Nachher wird selbstverständ­lich Bowle getrunken (ebd.). Die jungen Herren, alles Akademiker am Berufsanfang, ließen es also „krachen“, wie man heute sagen würde. Von Sparsamkeit oder gar Bedürfnislosigkeit merkt man nichts. Auch deshalb schwebt Sophies „ein Herz und eine Hütte“ nur wie ein Lampion vorbei. Hier in der bunt gemischten Gruppe fürchtete Otto zudem das Auffallen nicht – Risches war bei dieser Gesellschaft nicht zu erwarten. Dezidiert unterschied­liche Meinungen ­zwischen Otto und seiner Verlobten oder b­ esser Islers überhaupt gibt es an ganz anderen Stellen, in politischen Fragen und denen einer gewissermaßen gesellschaft­lichen Haltung. Da wirft Otto „den“ Hamburgern vor, zu laxe Ansichten zu haben, nicht fortschritt­lich, d. h. preußisch genug zu denken. Otto ist nicht eigent­lich liberal, sondern eher na­tional-­konservativ eingestellt. Die Autorität des Staates und der Gesetze wird von ihm nicht angezweifelt. Ottos Gegnerin in diesen Fragen ist allerdings eher Emma als Sophie, denn die hält sich hinter der M ­ utter bedeckt. Aber beide Seiten bleiben natür­lich auch da freund­lich im Ton, wenn auch hart in der Sache. Und Sophie schweigt. Mög­licherweise hat sie wirk­lich keine eigene Meinung in den wenigen strittigen Fragen und schwankt z­ wischen den beiden Autoritäten.50 Zwischen Emma aber und Sophie gab es Auseinandersetzungen wegen unterschied­licher Auffassungen. Emma ist eine höchst streitbare und diskussionsfreudige Person. Sophie berichtet Otto von einem Streit, entfesselt durch eine Erzählung von Charles Dickens, bei dem sie sehr wütend geworden sei. Das klärende Gespräch mit Emma über diese Wut bringt für

50 Dazu Kapitel „Der ‚rote‘ Lehrer“.

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Sophie Erhellendes und den Blick auf mög­lichen Streit mit Otto. Darüber stritten wir hin und her und ich wurde sehr ärger­lich dabei. Als ­Mutter mich nachher fragte warum ich wütend geworden sei, überlegte ich mir, dass es kam, weil mich ihre Gründe nicht überzeugten, ich aber meine Ansicht nicht klar genug machen konnte und sie nicht zu widerlegen wusste. Sie fragte mich nun, ob ich es im Streit mit Dir auch so machen würde, wenn ich anderer Ansicht wäre und das nicht zur Geltung bringen könnte. Ich sagte ja, das müsstest Du Dir gefallen lassen. Willst Du das oder wirst Du dann auch böse? 24 Stunden s­ päter fallen mir dann manchmal ganz gute Belege für mich ein. Wenn ich dann schliess­lich recht behalte, will ich auch ganz sanft sein. Bist Du damit zufrieden? (Sophie, 9. 9. 1867). Eine Antwort Ottos auf diese Frage findet sich in den Briefen nicht. Aber schon bald nach der Verlobung warnt Otto Sophie vor seiner „Heftigkeit“. Die sieht er selbst als seinen größten Fehler an und markiert zugleich, dass die bürger­liche Tugend der Mäßigung und Selbstbeherrschung von ihm sehr hoch gehalten wird. Vorsorg­lich teilt er Sophie mit, wie dann mit ihm zu verfahren sei, wenn er wirk­lich einmal unbeherrscht sein sollte: Wo mein Feuerbrand sitzt habe ich Dir neu­lich gesagt: es ist die Heftigkeit die ich immer noch nicht ganz unterdrückt habe. Ich habe Dir auch damals schon das Mittel gesagt, dass Du dann sagen musst: Otto, Du wirst heftig. Merke Dir das ja, denn es wird sicher jedesmal helfen (Otto, 30. 5. 1867).

Ist es bei Otto die Heftigkeit, so ist es bei Sophie eine Art Bockigkeit in kleinen Dingen. Wenn es um wichtige gemeinsame Fragen geht, wird Otto immer auf Sophies „Verständigkeit“ rechnen können, aber bei unwichtigeren Kleinigkeiten wird sie ihn mit Eigensinn „quälen“ – sagt sie. Gefunden habe ich s­ olche Vorfälle in den Briefen nicht, aber dort gehören sie auch schwer­lich hin. Mög­licherweise wird es Auseinandersetzungen geben, wenn Otto sich zu autoritär in Dinge einmischt, die Sophie wesent­lich liberaler handhaben würde. Ottos Entscheidungsfreude und, damit verbunden, zu rasches Handeln – Sophie sagt „mein ener­ gischer Kleiner“ – wird von ihr gelegent­lich erwähnt, wenn z. B. die Amme gleich entlassen wird, weil einer der beiden beratenden Ärzte Zweifel an deren Produktivität äußert. In ­diesem Fall gibt es ein Gespräch und Sophies Entschluss, sich mehr und rechtzeitig einzuschalten, denn auch Otto bereut im Nachhinein den übereilten Schritt.

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VORBEREITUNGEN AUF EIN GANZ ANDERES LEBEN Die Heirat wird das Leben des jungen Paares gründ­lich verändern – davon gehen beide erwartungsvoll aus. Für Otto in Braunschweig heißt das Einiges. Er muss vor allem seine Wohnung aufgeben und umziehen; das bedeutet, dass er auch überlegen muss, was er von seinen Möbeln, Büchern, Erinnerungen mit in sein neues Leben nehmen will. Außerdem wird er in Zukunft zu Hause essen und nicht mehr bei den Eltern. Aber das sind schon die auffallendsten Veränderungen an seinem Lebensstil. Denn er wird weiter den größten Teil des Tages anwalt­lich tätig sein, gelegent­lich Dienstreisen unternehmen und seine Freunde im Klub oder beim Kegeln und Wandern treffen. Die größte und tiefgreifendste Veränderung ist natür­lich die, mit einer Frau zusammenzuleben – ein Zustand, auf den er sich innig freut: dass sie im Nebenzimmer sitzen wird, dass er immer zu ihr gehen kann, das erste gemeinsame Frühstück, nur zu zweit, dass er ihr alles, was ihn bewegt, sofort und unmittelbar mitteilen kann, dass er ihre Freuden teilen kann und sie trösten, wenn sie traurig ist. Davon spricht er in den Briefen vielfach und freudig und malt sich die Nähe romantisch aus. Meine Sehnsucht nimmt jetzt immer mehr eine bestimmte Richtung an. Während ich mich früher nur danach sehnte mit Dir zusammen zu sein, und alles Andere dabei gleichgültig war, so schwebt mir jetzt immer das Bild vor, wenn ich erst vom Schreibtisch aufstehe, die Thür öffne und im nebenzimmer dann ein Weib finde und mich dann zu Dir setze oder Dich auf den Schoss nehme (Otto, 8. 7. 1867). Für Sophie wird die Verheiratung ungleich mehr Veränderungen mit sich bringen. Bisher war immer nur vom Ortswechsel und vom Verlust der unmittelbaren menschlichen Beziehungen die Rede. Aber Sophie zieht ja nicht nur in die Fremde, ihre Heirat bedeutet auch eine große Veränderung ihres Lebens. War sie bisher von Beruf „höhere“ Tochter, wird sie in Zukunft Ehefrau sein, die ein „Haus“ repräsentiert. Stand sie bisher sozusagen in der zweiten Reihe hinter Emma Isler, wird sie nun neben Otto als Frau Dr. Magnus „vorn“ stehen. Pflichtenfrei war ihr Leben bis zu ­diesem Zeitpunkt nicht: Sie hat beide Eltern umsorgt, geholfen, wo sich für sie Aufgaben zeigten, und im Haushalt in bestimmten Situa­tionen eingegriffen. Zwei davon schildert sie Otto als wiederkehrende, gewohnte Tätigkeiten innerhalb des alljähr­lichen Frühjahrsputzes: Zum einen geht es um Meyers Bücher, die einmal im Jahr abgestaubt werden, was niemals das Hausmädchen, sondern nur Emma oder Sophie dürfen: […] ­Mittwoch kommt die schlimmst[e] Arbeit des ganzen Jahres im eigenen Haus: das Abpacken und Reinigen von Vaters Büchern, an die keine andere Hand als M ­ utter und meine rühren darf, ein Previ­ legium, das wir uns doch noch jedes jahr erkämpfen müssen (Sophie, 6. 5. 1867). Zum anderen

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muss Sophie mit dem Mädchen die Bodenkammer sauber machen, eine Arbeit, nach der sie erschöpft, „schwarz […], aber lieb­lich“ (Sophie, 30. 4. 1867), wieder in der Wohnung erscheint 51. Islers hatten nur ein Hausmädchen, sodass ­Mutter und Tochter sich nicht aufs Anordnen beschränken konnten. Das hatte den Vorteil, dass Sophie z. B. ganz gut kochen konnte – sie sprang schon mal für das abwesende Mädchen ein, hatte aber natür­lich wenig Übung. Sie sammelte Rezepte, hatte ein paar Spezialitäten, die sie besonders gern präsentierte, und lernte vor der Hochzeit noch schnell einige ausgewählte Gerichte bei Tante Bertha*.52 Das Kochbuch allerdings vergaß sie dann prompt beim Umzug nach Braunschweig; es musste ihr nachgeschickt werden. Aber auf den „Beruf“ der Hausfrau war sie nicht wirk­lich vorbereitet. Denn es ging ja darum, einem Haushalt vorzustehen, Überblick über den Tag hinaus zu haben, Anweisungen zu geben und Verantwortung ganz allein zu tragen. Und: Sollte sie in Zukunft Dienstboten überwachen und anleiten, musste sie etwas von den Arbeiten verstehen, die sie von ihnen verlangte. Also überrascht Sophie Otto mit der Mitteilung, dass sie eine Stube gescheuert habe und von der Anstrengung ganz erschöpft sei. Heute habe ich einen Kursus praktischer Arbeit begonnen, den ich recht gründ­lich durchmachen will. Als ich mich neu­lich etwas vor meiner Wirtschaft fürchtete, weil ich nicht genug verstehe, meinte M ­ utter, das beste Mittel sei, wenn ich die Dinge all[e] noch gründ­lich kennen lernte, und so will ich denn alle Arten des Reinemachens etc durchmachen. Heute habe ich eine Stube gescheuert und vor mir selbst geschämt, wie heiss und müde es mich gemacht hat: das ist die Ungewohntheit (Sophie, 18. 6. 1867, im Brief vom 17. 6. 1867).

Otto spart nicht mit Lob, fragt aber doch leicht irritiert nach, ob sie das in Zukunft auch in Braunschweig zu tun gedenke: Dass Du eine Stube gescheuert hast um diese Arbeit kennen zu lernen finde ich sehr verständig. Hoffent­lich wirst Du aber nicht beabsichtigen. Dieselbe ­später praktisch zu exercieren (Otto, 20. 6. 1867, im Brief vom 19. 6. 1867). Denn natür­ lich kam es für eine Frau in ihrer Posi­tion, Frau eines angesehenen Advokaten, nicht infrage, die Stube selbst zu scheuern, was ja geheißen hätte, auf den Knien zu liegen und eine große körper­liche Anstrengung auf sich zu nehmen. Für Emmas Erziehungskonzept war das Ganze allerdings sehr bezeichnend: Die Tochter sollte durch eigene Erfahrung lernen, was sie und wie sie es von anderen getan haben wollte. Noch aufwendiger ist der „Kurs“, den Sophie bei einer Frau „belegte“, bei der sie Waschen und Plätten lernen soll. Heute ging die Hausarbeit sehr viel besser als neu­lich und ich sehe, dass übung den Meister macht. Nächste Woche fange ich an, waschen und Plätten zu lernen, damit Du Dich nicht zu schämen hast, und als Gegengift gegen die Nächt­lichen Conversa­ tionen. Die Wäscherin zu der ich gehen will ist eine nette und feine Frau. Sie war entsetzt, 51 Torf (in ca. 20 cm langen „Soden“) und Holz lagerte man in Hamburg auf dem Dachboden, Steinkohle, des Gewichtes wegen, im Keller. Die Reinigung dieser Torfbodenkammer war Sophies Aufgabe. Sophies Kindheitserinnerungen, S. 44 f. 52 Sophie erzählt s­ päter, dass sie nach der Schulzeit Kochen bei Frau Sielken im Hamburger Stadtteil St. Georg gelernt habe. Ebd., S. 31.

Vorbereitungen auf ein ganz anderes Leben   |

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dass ich nur bis Juli Zeit geben wollte ehe sie mich als Künstlerin entlässt. Aber sie stimmt mit mir überein, wenn mein Bräutigam hier wäre, würde wohl nicht viel daraus (Sophie, 21. 6. 1867, im Brief vom 20. 6. 1867). Deshalb will Sophie die „Lehre“ im August, nach Ottos Besuch in den Gerichtsferien (17. Juli 1867 bis 5. August 1867), noch etwas fortsetzen. Nur zwei Monate hat sie also insgesamt dafür Zeit und soll dann auch in beiden Bereichen fit sein. Das bedeutet, dass Sophie wochentags zum Waschen geht und bald schon berichtet, dass sie schneller arbeite und ihr die schwere Tätigkeit auch leichter vorkomme. Auch beim Plätten darf sie stolz auf ihre Fortschritte sein. Deshalb schlägt sie Otto scherzhaft vor, doch gemeinsam eine Wäscherei aufzumachen, falls die Kanzlei nicht genügend einbringe: Heute habe ich wundervoll geplättet und ich habe nun schon 12 Shilling an Heimwäsche gespart. Was meinst Du zu einer Wäscherei wenn die Praxis nicht geht? (Sophie, 26. 6. 1867, im Brief vom 25. 6. 1867). Der unmittelbar folgende Satz macht allerdings deut­lich, ­welchen Stellenwert dieser Hausarbeitskurs in Sophies Lebensgefühl einnimmt: Ich habe eben seit langer Zeit (fast seit meiner Verlobung) zuerst wieder eine Correctur für Vater gemacht. Der Anfang des 4. Bandes von Riessers* Werken bildet seine Schrift zum Besten des Lessing Denkmals, worin er Lessings Verhältnis zum Judentum, seine Freundschaft mit Mendelsohn, sein erstes und letztes dramatisches Werk, die Juden und Nathan bespricht und ihn als Vertreter der Gewissensfreiheit unserer Zeit als Muster vorhält (ebd.). Macht dieser umfangreiche Satz auch deut­lich, wo Sophies eigent­liche Interessen liegen, deutet sich andererseits an, wie sehr das Hausfrauendasein seine Schatten vorauswirft. Der Schnellkurs ist nur ein Mittel, die Angst vor der Zukunft und den Erwartungen, die in sie gesetzt werden, etwas einzudämmen. Ja, und vielleicht auch für sie selbst noch einmal eine Bestätigung, dass eine Ehe und der damit verbundene „Beruf“ für Sophie das Richtige sind, sie sich nicht mehr unnütz in der Welt vorkommen muss (Sophie, 1. 9. 1867). Apropos: Waschen und Plätten. Sophie und Otto werden die „große Wäsche“ aus dem Haus geben und bei Bedarf eine erfahrene Frau zum Waschen ins Haus kommen lassen. Sophie jedenfalls kommt in Braunschweig nicht in die Verlegenheit, ihre Waschkenntnisse eigenhändig anwenden zu müssen, weder im ersten Jahr noch s­ päter, wenn die Zahl der Dienstboten gewachsen ist. Nachzutragen bleibt, dass die Töchtererziehung in anderen Familien durchaus mehr auf Ehe und Haushaltsführung vorbereitete. Bei der Familie Magnus in Braunschweig etwa sah es da ganz anders als im Hause Isler aus: Anna [Magnus] und Helene [Camphausen*] kamen zu Tisch, weil sie den ganzen Vormittag geplättet hatten, und ­dieses geschäft auch nach Tisch fortsetzen wollten. Da wir die große Wäsche ausser dem Haus waschen wollen, wirst Du dies Vergnügen nicht haben (Otto, 23. 5. 1867). Diese Bemerkung Ottos macht den Unterschied deut­lich: Ottos Schwester Anna* lernte Waschen, Plätten und die Haushaltsführung im Elternhaus, Jahre bevor sie sich verheiratete; ihre gegenwärtige Lehrerin ist Helene Camphausen*, Gesellschafterin der M ­ utter und Hausdame, eine junge Frau, die bei ­Magnussens eine wichtige Posi­tion einnahm.53 Häufig wurde sie mit Anna in einem A ­ temzug

53 Mehr dazu im Kapitel „Das ‚verbotene Thema von der Bestimmung der Frau‘“.

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erwähnt bei Unternehmungen junger Frauen. Dazu gehörte z. B. das Sprachenlernen als weib­liche Bildungsvariante im 19. (und im 20.) Jahrhundert. Aber ein „gelehrtes“ Mädchen wie Sophie war Anna nicht, und „nächt­liche Conversa­tionen“ (s. o.) sollte es bei ihr nicht geben. Das hatte Vor- und Nachteile. Während Sophie näm­lich schon in der Verlobungszeit über Kindererziehung reflektierte und die ganze Hauswirtschaft sowohl theoretisch als auch praktisch anging, erzog Anna ­später ihre Kinder ziem­lich handfest und ohne nachzudenken, verzog den hochgeliebten Sohn Fritz und vernachlässigte die Töchter, gegen die sie anfangs eine auffallende und unreflektierte Abneigung hegte. Zurück zu Sophie: Sie steht sozusagen vor einem „Karrieresprung“, von der auch zur Hausarbeit eingesetzten Tochter zur hauptamt­lichen Leiterin eines Haushalts, in dem von ihr erwartet wird, dass sie alles im Griff hat und, wie sie oben sagt, Otto (!) nicht blamiert: damit Du Dich nicht zu schämen hast (Sophie, 21. 6. 1867). Bliebe sie im großzügigen Hamburg, wäre ihr bei Fehlern gutmütiger Spott und wohlwollende Nachsicht all derer sicher, die sie von Kindheit an kennen und als gebildet schätzen. Im „engen“ Braunschweig aber wird man ihr Auftreten und Handeln stets an der Rolle der Ehefrau messen, nur in der Familie kann sie mit freund­licher Nachsicht rechnen. Dass sie ein „gelehrtes“ Mädchen ist, kann ihr in ­diesem Zusammenhang nicht zum Vorteil gereichen. Mit anderen Worten: Sophies Lebensänderung ist eine totale. Auch die äußer­lichen Bedingungen werden andere sein als in Hamburg, wenn man allein an die Dienstboten und Angestellten denkt: Otto selbst hat einen Diener Meyer und beschäftigt einen Schreiber in seiner Kanzlei; für Ottos Eltern arbeiten eine Köchin, ein oder zwei Mädchen, ein Kutscher; und im Hause lebt eine Gesellschafterin für Ottos ­Mutter. Das ist der Rahmen, auf den sich Sophie einstellen muss. Sie wird zwar anfangs nur Dorette, also ein Hausmädchen, haben, aber mit der Zeit kommen immer mehr Leute dazu. Von Sophie wurde demnach nicht Arbeit erwartet, sondern dass sie einen derartigen Haushalt zu dirigieren und zu kontrollieren versteht, oder vielleicht genauer: dass sie gelernt hat, in eine ­solche Aufgabe hineinzuwachsen. Wird Otto ihr dabei behilf­lich sein? Vorsichtige Anfragen dazu gibt es: Wir haben eben […] Tischzeug, das noch von meiner Grossmutter für mich da ist revidiert und ich habe mir sehr lebhaft ausgemalt wie das sein wird, wenn es erst auf unserem Tisch liegt und die Suppe aufgetragen wird. Wenn sie nur nicht angebrannt ist! Schwere Sorgen wird mir gewiss manchmal die frage machen, was für ein gedeck ich nehmen soll, und ich stehe Dir nicht dafür, dass ich Dich nicht manchmal um Rath frage: dann sagst Du, „liebe Frau, lass mich mit solchen geschichten zufrieden; Dein Leinenschrank ist dein department, Du brauchst ja nicht bei meinen Acten bescheid zu wissen“. Wird es so, oder bist Du süss und lässt Dich über die Unterschiede von 6, 8 und 12 servietten unterrichten? (Sophie, 29. 4. 1867). Tatsäch­lich, bei den ersten Einladungen, die das junge Paar in Braunschweig gibt, hilft Otto bei den Vorbereitungen und ist um Sophie bemüht, damit keine Panik aufkommt. Aber gerade die Einladungen meistert Sophie von Anfang an mit Bravour: Eine varia­tionsreiche und schöne Tafel vorzubereiten, Gespräche zu führen und einen Abend für alle Anwesenden zu einem Erfolg zu führen, hat sie gelernt. Vorbereitungen auf ein ganz anderes Leben   |

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DIE AUSSTEUER Wenn hier vom Leinenschrank die Rede ist, darf nicht unerwähnt bleiben, dass ein junges Mädchen im 19. Jahrhundert natür­lich eine „Aussteuer“ in die Ehe mitbrachte, also vor allem vielerlei Leinenzeug und Wäsche. Manches konnte zwar fertig gekauft werden, trotzdem blieb unheim­lich viel zu tun. Sophie schneidet Bett- und andere Tücher zu und näht, zusammen mit den Freundinnen. Doch das reicht nicht. Eine Näherin und ­später eine Schneiderin ­kommen ins Haus, aber auch denen muss Sophie helfen. Stoßweise wird Tisch- und Bett­ wäsche mit Sophies Monogramm versehen: Zehn Tage vor der Hochzeit stickt Sophie die letzten S ‚M‘s (Sophie, 26. 9. 1867), dazu kommen vielerlei Küchen-, Hand- und Wischtücher und natür­lich Tischdecken und Servietten, die gesäumt und „gezeichnet“ werden müssen: […] um 12 Uhr kam Emma Horwitz* [Hausdame von Onkel Siegmund*] um mir zu helfen. Sie blieb bis 3 und wir waren sehr fleissig: 3 1/2 Dutzend der berühmten Küchentücher wurden mit Namen versehen. Wir lachten noch sehr in der Erinnerung an Deinen Zorn über die schlecht angenähten Bänder (Sophie, 24. 8. 1867), und drei Wochen s­ päter immer noch: Dann war ich fleißig an den endlosen Küchentüchern, weil es immer mehr statt weniger werden … (Sophie, 5. 9. 1867). Zu Sophies Ausstattung gehören aber auch Leib- und Nachtwäsche und dann selbstverständ­lich Kleider, Röcke und Blusen, Mäntel, Jacken und Schuhe bzw. Stiefel, Hüte, Handschuhe und Schals. Bei der Kleidung muss für Winter und Sommer vorgesorgt werden – man kauft nur wenig im Laden, die Schneiderin arbeitet wochenlang mit Unterbrechungen in der islerschen Wohnung. Otto, der immer Sorge um Sophies Gesundheit hat, warnt vor Überanstrengung. Doch Sophie beruhigt ihn: Die vielen Näherinnen bedeuten durchaus nicht dass die Aussteuer im Hause genäht wird, um Gotteswillen nicht, es bedeutet nur Sommergarderobe die mit geringer Hilfe von mir gemacht wird, da ich einen Schatz habe, dem ich alle Tage Stundenlang schreiben muss und folg­lich nicht so viel nähen kann als sonst. Ich habe nur die Absicht mir ­später einen Theil der Kleider zu machen sonst aber keinen Stich (Sophie, 1. 6. 1867). Weil die Kleider, Röcke, Blusen und Jacken individuell sitzen müssen, braucht man eine wirk­lich perfekte Schneiderin. Deshalb werden die Namen und Adressen guter und rasch arbeitender Frauen als Geheimtipp weitergegeben. Ich war verschiedene Male aus, auch mit ­Mutter bei einer Schneiderin, die mir ein gutes schwarzes kleid macht, das so schön sitzt, dass M ­ utter traurig ist, dass nicht alle meine Sachen dort gemacht werden. Aber das würde wahrschein­lich einen bedeutenden Eindruck auf die Kasse gemacht haben

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(Sophie, 21. 8. 1867, im Brief vom 20. 8. 1867). Die Repräsenta­tionsgarderobe wird bei der Schnei-

derin genäht, also bei der Fachfrau; nur bei der leichteren Sommergarderobe näht Sophie mit. Ihre Heirat kostet die Eltern also auch in Sachen Kleidung eine Menge Geld. Dafür war auf einem Aussteuerkonto gespart worden, sodass Islers 1867 einigermaßen gerüstet sind; noch nach der Hochzeit fragt Sophie an, ob die eine oder andere Sache nicht von ­diesem Konto beg­lichen werden könne. Denn sonst geht es bei Islers knapp zu. Kleider und Mäntel sind normalerweise Geburtstagsgeschenke, also „Sonderausgaben“. Emma Isler bekommt gelegent­lich von Moritz oder Ferdinand, ihren Brüdern, ein wertvolles Seidenkleid geschenkt, d. h., Stoff und Schneiderin muss sie selbst besorgen, die Brüder bezahlen beides. Kleidung hatte nicht nur ihren materiellen Wert, sondern signalisierte nach außen, dass man zum guten Bürgertum gehörte, noch gab es ja keine modische Massenware, die nebenbei schichtspezifische Unterschiede nivellierte. Abgelegte und unbeschädigte Kleidungsstücke wurden an Diener und Angestellte verschenkt (Ottos Frack ging an seinen Diener Meyer, den Frack seines Vaters bekam Helene Camphausen* für ihren Verlobten), denn die Haltbarkeit der Tuche war groß und ein gutbürger­liches Kleidungsstück hob das Ansehen der Dienst­ boten unter ihresgleichen. Die Hausdame oder Gesellschafterin erhielt oft ein neues Kleid als Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk, denn ein so teurer Gegenstand war vom normalen Gehalt, das außerdem oft an Eltern und Geschwister weitergereicht werden musste, nicht zu finanzieren. Diese Frauen wohnten ja im Haus, hatten Kost und Logis frei – ihr Gehalt fiel nicht üppig aus. Auch Schuhe wurden nicht fertig im Laden gekauft, sondern vom Schuhmacher individuell hergestellt. Das Zeitalter der Fabrikwaren und Massen­anfertigungen begann erst gerade, noch hatte das Handwerk seinen festen Platz in der Gesellschaft und sein Auskommen. Dass Sophie bei der Aussteuer selber viel zu nähen hatte, unterstreicht, dass Islers keine reichen Leute waren. Allerdings galten die vom Nähen rauen Fingerspitzen in bürger­ lichen Kreisen (im Gegensatz zu denen des verarmten Adels) nicht als Makel, sondern eher als Ausweis für Fleiß und Sparsamkeit. Für Sophies Aussteuer ging der Hauptteil des Ersparten weg – ein großer Einschnitt bei einer Haushaltsführung, die ohnehin sicht­lich schmaler war als die der reicheren Verwandten und Freunde, die Sommerhäuser besaßen, wochenlange Sommerreisen ins Ausland machten und für die es kein Problem darstellte, zur Weltausstellung mal eben nach Paris zu fahren. Bei Islers wurden alle Ausgaben wohl bedacht, doch bei der Aussteuer wurde nicht gespart, wenn auch unnötige Anschaffungen vermieden und die Preise z­ wischen Hamburg und Braunschweig sorgfältig verg­lichen wurden. In Ottos Familie sah man das wahrschein­lich mit Wohlwollen und gab Ratschläge. Emma und Sophie kauften bei der Pfingstreise z. B. einiges günstig in Braunschweig ein und veranlassten durch ihre von den Hamburger Freunden begutachteten Käufe auch Madame Seligmann, verschiedenes für die Aussteuer ihrer Tochter Helene in Braunschweig zu bestellen. Bezahlt wurde bei derartig großen Einkäufen nicht bar, die Rechnung kam über die Verwandten per Post ins Haus. Die Aussteuer   |

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Das gibt Gelegenheit für einen Seitenblick nach Hamburg und auf die Einkaufsmodalitäten im 19. Jahrhundert. Dort näm­lich war es damals noch üb­lich, dass Bauern, Handwerker und Händler ihre Waren ins Haus trugen: […] der Milchmann brachte die Milch auf einer Karre angefahren, auf der die rothlackierten Eimer hingen, die mit blanken Messinghähnen beschlagen waren und aus denen Milch und Rahm in Messingkannen und Maassen in die Wohnung gebracht wurden; der Brotmann trug einen großen Korb auf der Schulter und brachte dreimal am Tag frischgebackenes Brot, der Schlachter fragte abends vor und brachte morgens das Fleisch, das zu den späten Mittagsmahlzeiten noch immer früh genug kam. Fische wurden auf der Straße ausgerufen, die Fischfrauen, die sich weder durch Schönheit noch durch Jugend auszeichneten, spähten aufmerksam nach den Fenstern und kamen, wenn sie gerufen wurden, in die Wohnung […]. Auch Gemüse und Obst wurden durch die Straßen getragen; die dunkelgekleideten Frauen aus dem Alten Lande mit einem flachen kleinen Strohhut hatten in zwei Körben, die an einer „Tracht“ hingen, Kohl, gelbe Wurzeln, Suppenkraut. […] Die Bickbeeren wurden von Männern herumgetragen. Die Vierländer oder Vierländerinnen in ihrer reichen Tracht […] brachten Blumen, frisches Obst und Geflügel täg­lich ins Haus.54 Das war ein buntes, vielgestaltiges Bild, das sich durch die unterschied­lichen Menschen und Landsmannschaften ergab, die die Straßen der Hansestadt belebten! Wie anders persön­ lich die Verhältnisse dadurch waren, macht der folgende Satz deut­lich: Es bildete sich zu den regelmässigen Verkäufern ein freundschaft­liches Verhältnis, man kannte ihre Familienverhältnisse und nahm Antheil an ihren Leiden und Freuden. So ging die Hausfrau nie selbst auf den Markt, selbst nicht, wenn er vor der Thür lag […].55 Bei d ­ iesem Türhandel wurde aber offenbar nicht grundsätz­lich bar bezahlt, sondern angeschrieben. Meyer näm­lich beg­lich immer wieder kopfschüttelnd, wenn Emma ins Bad gereist war, die Fleischrechnung für Wochen und wunderte sich oft über die hohen Summen, die da zusammengekommen waren. Emma verg­lich in solchen Fällen mit ihrem „Buch“ und bestätigte brief­lich oder korrigierte. Ihr schien es nichts auszumachen, wenn sich da einiges zusammensammelte, aber er war immer bemüht, offene Rechnungen rasch zu begleichen. Für Emma wie für die Hamburgerin überhaupt gehörte anzuschreiben und Rechnungen s­ päter zu begleichen zum selbstverständ­lichen Alltag und wurde bei den Aussteuerrechnungen ähn­lich gehandhabt. Zurück zu Sophies Aussteuer! Denn die stapelt sich inzwischen in der islerschen Wohnung und mischt sich dort mit den frühzeitig eintreffenden Hochzeitsgeschenken. Nur gut, dass Onkel Morchen (Moritz Meyer*), der ja bei Islers zwei Zimmer bewohnt, rechtzeitig wie alljähr­lich sommers aufs Land gezogen ist, sodass seine Räume für Lagerung und Ausstellung der Sachen mitbenutzt werden können. Angesichts der wachsenden

54 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 47. 55 Ebd.

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Wäschevorräte beschleicht Sophie der sorgenvolle Gedanke, ob Otto und sie das alles überhaupt jemals brauchen und verbrauchen werden: Nachmittags war ich wieder auf den Beinen, […] dann holte ich Onkel Ferdinand* und besorgte mit ihm […] eine Kiste […]. Da soll die Aussteuer hinein, von der ein Theil gestern fix und fertig, in roten Bände[r]n eingebunden auf dem Tisch lag und sich nied­lich machte. Ob wir das wohl erleben, dass die Sachen alle aufgebraucht sind. Wenn nur nicht das Zwischenstadium des Dünnseins wäre, denn Stopfen mag ich garnicht! (Sophie, 16. 8. 1867, um 2 Uhr). Nähen gehört zu den hauswirtschaft­lichen Tätigkeiten, die Sophie rechtzeitig gelernt hat und die sie auch in der Ehe betreiben wird. Bald nach der Heirat wird sie eine Nähmaschine bekommen und findet damit eine eigene Beschäftigung im ersten Ehejahr, in dem sie nach und nach in die neuen Aufgaben der Haushaltsführung hineinwächst. Übrigens: Otto kann Knöpfe annähen und ist mächtig stolz darauf. Seine ­Mutter kontrolliert vor der Hochzeit seine Wäschevorräte und findet alles zufriedenstellend. Eben verlässt mich Mama, die mit mir meinen Wäschebestand aufgenommen und gefunden hat, dass ich so gut wie nichts anzuschaffen brauche, was sehr angenehm ist (Otto, 4. 5. 1867). Im Zusammenhang mit der Aussteuer muss ein Umstand erwähnt werden, auf den heutige Leserinnen (und Leser) so leicht nicht kommen. Sophie heiratet von Hamburg nach Braunschweig, eine vergleichsweise geringe Entfernung, die auch damals durch die Eisenbahn gar nicht so herzzerreißend weit ist, wie Sophie und Emma fürchten, näm­lich wenig mehr als 200 Kilometer innerhalb Norddeutschlands. Aber 1867 bedeutet das, dass Zollgrenzen überquert werden müssen, und das heißt, dass die Aussteuer, in Hamburg gekaufte Möbel und die Hochzeitsgeschenke unter Zoll fallen, wenn man nicht rechtzeitig eine Zollbefreiungserklärung in Braunschweig beantragt, wie sie im Fall einer Heirat mög­lich ist. Kaum verlobt, wird Sophie auf diesen Umstand hingewiesen und bekommt auch gleich praktische Ratschläge dazu. Eben war Dr. Wolffson’s* Schwester, Mme Salke, hier […]. Sie sagte, man müsse früh um die Erlaubnis die Sachen einzuführen einkommen, weil es durch viel Forma­litäten lange dauert. Sie haben sich die Erlaubnis auf ein ganzes Jahr bewilligen lassen, und sie räth uns das auch, weil man sich dann ohne Weitläufigkeit manches nachschicken lassen kann (Sophie, 3. 5. 1867). Wenige Tage ­später berichtet Otto das Ergebnis seiner Erkundigungen in der Zollangelegenheit. Er war bei der entsprechenden Behörde, […] um wegen der Versteuerung der Aussteuer nachzufragen. Es muss ein genaues Verzeichnis aller Sachen aufgestellt werden und von Deinem vater unterschrieben und vom Hamburger Magistrat beglaubigt werden. Dieses verzeichnis muss ich mehrere Wochen vorher hier einreichen. Ebenso wird es mit den Hochzeitsgeschenken gemacht (Otto, 7. 5. 1867, abends, 5 Uhr).

Ganz nebenbei wird eine Rechtslage gestreift, die für das 19. Jahrhundert selbstverständ­ lich, für unsere Zeit schwer zu akzeptieren ist: Die 27-jährige Sophie war keine selbständige Person, sondern gleichsam „unmündig“; nicht sie durfte das Verzeichnis unterschreiben, sondern ihr Vater, der zugleich ihr Vormund war, juristisch gesehen. Weder ­Mutter noch Tochter waren ohne einen derartigen männ­lichen „Vormund“ geschäftsfähig; gab es keinen Die Aussteuer   |

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Ehemann oder Vater, traten Sohn oder Bruder an seine Stelle, gab es den nicht, musste der nächste männ­liche Verwandte unterschreiben. Ohne Mann ging gar nichts.56 An der Aussteuer wird, wie wir inzwischen wissen, während der ganzen Verlobungszeit gearbeitet, so einfach ist das also nicht mit einem Verzeichnis. Allmäh­lich wird Otto ungeduldig: Schicke mir doch so schnell wie mög­lich das von Vater unterschriebene und vom magistrat beglaubigte Verzeichnis der Aussteuer, damit ich das Gesuch zur steuerfreien Einführung vor meiner reise nach Hamburg [Mitte Juli/Gerichtsferien] stellen kann. – Wie ist es mit dem Piano? (Otto, 9. 7. 1867). Das Aussteuerverzeichnis muss mög­lichst vollständig sein, und es ist wirk­lich nöthig, das ich es bald bekomme, weil wir sonst nicht rechtzeitig die Erlaubnis zur Einführung der Sachen bekommen. Du kannst ja auch die kleider hineinschreiben w ­ elche noch nicht fertig sind. Es schadet nichts, wenn etwas zu viel angegeben wird, wir können ja nachher sagen, dass d ­ ieses fortgeblieben sei. Da wir ja nichts unrecht einschmuggeln wollen, so braucht vater wegen solcher Angaben keine Gewissensbisse zu machen. Die Sache ist ja nur eine Formalität ohne Bedeutung. Es ist auch nöthig das Piano mit anzugeben, falls es etwa doch hertransportiert wird (Otto, 11. 7. 1867, im Brief vom 10. 7. 1867).

Sophie antwortet leicht genervt: In Betreff der Aussteuer Einführung scheinen eure Behörden sehr illiteral zu sein, überall sonst hin hat man nichts weiter zu tun als das verzeichnis beizulegen, wenn die Sachen geschickt werden. Die Hochzeitsgeschenke können ja nicht vorher angegeben werden, da sie noch nicht existieren. Ich habe von anderer Seite gehört, dass in Preussen ein jahr lang Zollfreiheit gegeben wird, also ist braunschweig doch sehr eklig! (Sophie, 11. 7. 1867). Und noch ist kein Ende ­dieses Themas abzusehen, denn die Aussteuer muss versichert werden, und dazu gibt es neue Formalitäten zu beachten: In Bezug auf die Feuerversicherungen theile ich Dir die Rubriken mit nach w ­ elchen die Aussteuersachen angegeben werden müssen; […] (Otto, 15. 8. 1867). Nun folgen 15 Punkte, die von Möbeln über Kleider, Silberzeug, Bücher, Gemälde, Instrumente, Brennmaterial zu Vieh, Wagen, Pferdegeschirr alles erfassten, was mög­licherweise eingeführt werden könnte. Bei jeder Nummer muss der Werth der Sachen in Thalern angegeben werden (Otto, ebd.). Damit wären wir also bei einer weiteren Komplika­tion: der in Hamburg und Braunschweig unterschied­lichen Währung. Alles muss von Hamburger Schilling 57 umgerechnet werden in Braunschweiger Taler. Anfang September beginnt Sophie end­lich die Verpackung der Aussteuer zu planen: Heute haben wir alles was von der Aussteuer fertig ist in eine Kiste gepackt und dabei bemerkt dass die Sachen doch recht viel Raum einnehmen: 3 – 4 Kisten werden gewiss erforder­lich sein. Und wenn wir dann noch die Hochzeitsgeschenke bedenken – was fangen wir mit allen Kisten an?

56 Haus und Grundstück, die Magnussens 1884 in Braunschweig kaufen, gehörten einer Witwe. Vor dem Verkauf musste sie die Genehmigung der Obervormundschaft einholen (Sophie, 30. 9. 1884). 57 Erst nach 1871 galt auch in Hamburg die Dezimalwährung des Reiches.

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Ob es sich lohnt die Aussteuerkisten für die Hochzeitsgeschenke zurück zu ­schicken? – Wenn wir von Hamburg kommen werde ich in meinem Koffer noch eine Menge Sachen (Kleider usw) mitbringen, wird das am Zoll Schwierigkeiten machen? (Sophie, 5. 9. 1867). Von nun an geht es in den Briefen um das Ein- und Auspacken der Aussteuer und die Frage, wer denn die rot bebänderten Wäschepakete in den Schrank packen soll oder ob nicht doch alles bis zu Sophies Ankunft in den Kisten bleibt. Allerdings – noch ist alles in Hamburg. Da Du mir bis jetzt die Werthangabe der Aussteuer nicht geschickt hast, so habe ich die Declara­tion für die Feuerversicherung nach Gutdünken zusammengestellt und werde sie morgen dem Agenten zum Abschluss des Vergleichsvertrages übergeben. Ich habe dieselbe so eingerichtet, dass sie auch die Hochzeitsgeschenke, selbst wenn dieselben sehr glänzend sind, mit enthält (Otto, 9. 9. 1867). Wer jetzt denkt, die Aussteuerfrage sei damit end­lich ausgestanden und der Übersendung nach Braunschweig stünde nichts mehr im Wege, hat sich gründ­lich getäuscht. Denn noch steht eine ganz entscheidende Etappe aus – die Präsenta­tion der Aussteuer: Der gestrige Tag war ausgefüllt mit einer Beschäftigung, die heute noch fortgeführt werden muss: wir legen die Aussteuer in Onkel Moritz’* Stube aus und Du kannst Dir nicht denken, wie nied­lich es aussieht! Auf Tischbrette[r]n, die die ganze Fensterwand einnehmen liegt alle Wäsche mit schönen roten Bänder[n] gebunden – ein statt­licher Besitz! Die Toilettensachen sind noch nicht arrangiert, das will ich Dir s­ päter beschreiben. Das schreibt Sophie morgens, 7 Uhr; ­später, 1/2 2 Uhr setzt sie ihr Schreiben fort: Unser Tageswerk ist vollbracht und ich denke ich werde noch ein halbes Stündchen übrig haben. Es sieht reizend aus: Johanna und ich haben tüchtig gearbeitet und ich bin ganz müde vom Aufklettern, Anstecken, Heben und Binden! Willst Du nicht einen Augenblick kommen und es Dir ansehen? Den Wäschetisch, der noch einen Quertisch bekommen hat, kennst Du schon. Auf 2 anderen Tischen liegen feine weisse Sachen, Kragen und feine Röcke, Bänder etc und alle zur Reise erforder­lichen Sachen, die ich ja meist zum geburtstag bekam, und Stiefel, Schirme, Plaid, Tücher etc. Auf dem Sopha liegen 4 seidene Kleider, gegenüber an einem Tau hängen die wollenen Kleider und Mäntel. Auf der anderen Seite ebenso Blusen, Untertaillen, Morgenmützen und mein Mullkleid. Es sieht aus wie in einem sehr schönen laden …….. (Sophie, 22. 9. 1867). Wozu nun dieser ungeheuer­liche Aufwand?58 So selbstverständ­lich ist der Vorgang, dass Sophie hier nichts darüber sagt. Aber an früherer Stelle erfahren wir, wozu bürger­liche Bräute ihre Aussteuer ausstellten: Die ganze weib­liche Verwandtschaft, Tanten, Kusinen, Großmütter und entferntere Verwandte sowie Freundinnen und weib­liche Bekannte kommen an mehreren Tagen hintereinander und sehen sich alles genau an. Sie begutachten, loben und besprechen jedes Stück, und besonders diejenigen, die Bräute sind oder es in Kürze werden wollen, gucken ganz genau hin, ob sie sich etwas abschauen können. So passierte das zehn Tage vorher mit der Aussteuer Helene Seligmanns: Ich hatte mich mit Emma Horwitz*

58 Bekannt war der Trousseau, die Ausstattung/Aussteuer einer Prinzessin.

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verabredet, heute Vormittag zu Seligmanns zu gehen, wo helene ihre Aussteuer den nächsten Freunden zeigt. Das hat für mich natür­lich großes Interesse und ich kann da vielleicht noch Kleinigkeiten sehen die mir fehlen (Sophie, 12. 9. 1867).59 Kein öffent­licher, sondern ein eher intimer Brauch in bürger­lichen Kreisen. Vom 22. September an darf Sophies Aussteuer besichtigt werden und am 25. September werden die Kisten end­lich gepackt, wobei ein junger Mann und ein Hausknecht aus der Leinen­handlung helfen. Die Leinenkiste musste des Gewichtes wegen unten auf der Diele gepackt werden, und wahrschein­lich muss sie ebenso ausgepackt werden, denn sie ist enorm schwer (Sophie, ebd.). Am Tag darauf meldet Sophie den Vollzug nach Braunschweig und fragt, als hätte es keinen Briefwechsel vorher gegeben, nach Details der Übersendung. Es ist jetzt alles bei Elkan [Transportunternehmen] und kann abgehen, sobald Du willst. Ich habe jedes Stück aufgeschrieben, wie es hineingelegt worden ist, und weiss nun nicht recht, ob das Verzeichnis beglaubigt und eingeschrieben werden muss (Sophie, 26. 9. 1867). Am 30. September end­lich geht das Verzeichnis für die Aussteuer nach Braunschweig: Ich schicke heute das beglaubigte Verzeichnis und lasse Herrn Elkan bitten morgen die Sachen zu expedieren, dann werden sie rechtzeitig dort sein. Vaters Vorbehalt bezieht sich auf die Hochzeitsgeschenke, was ich nicht richtig finde, da für sie ja ein neues Verzeichnis ausgefüllt werden muss. Ich hoffe es ist alles so in Ordnung und wir sind diese Sorge los (Sophie, 30. 9. 1867, im Brief vom 29. 9. 1867).

End­lich!, möchte man sagen, jetzt kann geheiratet und der Wohnort gewechselt werden, die Aussteuer ist auf dem Weg, die junge Frau wird folgen.

59 Ob das Ausstellen der Aussteuer ein jüdischer Brauch war oder auch in christ­lichen Familien in ­Hamburg üb­lich, konnte ich bisher nicht klären.

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HOCHZEITSGESCHENKE Vor allen Dingen aber hat sich Onkel Morchens Zimmer geleert, aber doch nur zu einem Teil und auch nur vorübergehend. Jetzt werden näm­lich die einlaufenden Hochzeitsgeschenke aufgestellt und die machen endgültig deut­lich, dass Sophie und Otto in der Tat keinen ganz schlichten Hausstand haben werden. Aber der Ruf nach Einfachheit kommt ja sowieso eher von Otto als von Sophie, die ihrer Freude über die reichen Geschenke ganz offen Ausdruck verleiht. Geliebter Mann! Gestern sind wir sehr reiche Leute geworden: es sind 2 prachtvolle geschenke angekommen Zuerst eine Kiste mit dem Theeservice von Julius Leppoc: es sind Theekanne, Kaffeekanne, Milchkanne, Zuckerdose in sehr hübschen Formen, und als ich kaum fertig war es zu bewundern und mich darüber zu freuen, erschien ein grosser, wunder­ schöner Silberkasten enthaltend: 18 Löffel, 18 Gabeln und 18 elfenbeinerne Messer von Onkel Ludwig*, genau mit demselben Muster wie das von den Eltern. Freust Du Dich über die schönen geschenke? Ich mich sehr! Ich finde es nett sie früher zu bekommen, ich habe ganz grossen genuss davon, ich wollte nur, wir könnten sie schon jetzt zusammen ansehen und auspacken. Von den Sachen, die wir schon bekommen haben liesse sich bereits eine sehr schöne Ausstellung machen (Sophie, 26. 9. 1867). Geschenke treffen also schon seit einiger Zeit ein und Sophie berichtet alles nach Braunschweig, wo Otto die Bau- und Malerarbeiten in der künftigen Wohnung vorantreibt und in diesen Tagen end­lich sicher sein kann, dass die Wohnung vor seiner Abreise zur Hochzeit fertig sein wird und die Berliner Möbel end­lich auf den Weg gebracht werden können. Nur dann kann ja die Aussteuer ausgepackt und die Wohnung funk­tionsfähig gemacht werden, damit sie Sophie und Otto beziehen können, wenn sie nach der Hochzeitsreise in Braunschweig eintreffen. Sieht man einmal von den Geschenken zu Sophies Geburtstag am 30. Juli ab, die überwiegend für die Hochzeitsreise bestimmt waren, so dienen die meisten Geschenke ganz praktisch der Komplettierung des neuen Haushalts und der Ausstattung der Wohnung. Das beginnt mit Bildern für die Wohnung: einem Stich nach einem Murillo-­Gemälde – eine Madonna – im Louvre (18. 8. 1867) und einem kleinen Ölbild (19. 8. 1867), das Sophie gerne rahmen lassen will. Von der Sommerreise bringen Hirschs aus Interlaken in der Schweiz eine wunderschön geschnitzte Salatgabel und Löffel (24. 8. 1867) mit. Tante Minna* hat von der Schweizer Reise eine runde doppelte Schachtel aus Holz, die man auseinanderschraubt und aus denen dann 2 nied­liche Leuchter gemacht werden (30. 8. 1867) mitgebracht und Sophies Hamburger Cousins Adolph* und Heinrich Meyer* schenken sehr Hochzeitsgeschenke  |

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prachtvoll einen Kupferstich von Diefenbach* in sehr breitem schwarzen Rahmen mit Goldleiste (Sophie, 3. 9. 1867). Gerade die Bilder sind ein viel besprochenes Thema z­ wischen Sophie und Otto; sie sollen der Wohnung den eigent­lichen Chic geben, ihre Rahmung und Platzierung werden lange vorher bedacht und auch überlegt, wie man Wünsche an die Verwandten weiterleitet, ohne zu anspruchsvoll zu wirken. Im Fall des oben erwähnten Kupferstichs überlegt Sophie: Es ist sehr gross und wenn wir vielleicht das Seitenstück, die goldene Hochzeit von Knaus* dazu geschenkt bekommen, so wäre es ein grosser Schmuck (Sophie, ebd.). Otto antwortet dementsprechend: Ich freue mich sehr über den schönen Kupferstich. Und da wir nun ­dieses Bild haben, so halte ich es für sehr gut, wenn Du es durch Aussprechen des Wunsches erreichen kannst, dass wir die Goldene hochzeit von Knaur [!] in gleichem rahmen dazu bekommen (Otto, 4. 9. 1867). Bilder sind überhaupt ein häufiges Thema im Briefwechsel. Sophie geht oft mit Onkel Ferdinand* in Ausstellungen, erzählt in den Briefen davon und weist Otto darauf hin, wenn eine Ausstellung anschließend nach Braunschweig geht. Auch Otto näm­lich besucht gern Galerien, aber in Bezug auf die Bilder in der eigenen Wohnung muss lange korrespondiert werden, weil so schnell keine Einigung zu erzielen ist.60 Das Hauptgeschenk zur Hochzeit sind aber die Silbersachen. Mit ihnen werden Sophie und Otto reich ausgestattet. Dem Silberkasten von Onkel Ludwig* geht der der Eltern ­voraus. Nun komme ich zur wichtigsten Begebenheit des heutigen tages […]. ­Mutter und vater haben mir eben ihr Hochzeitsgeschenk gegeben, und ich sage Dir, es ist sehr schön. Es besteht aus einem Kasten enthaltend: 18 silberne Dessertlöffel, 18 silberne Gabeln, 18 elfenbein ­Messer. Das Muster ist sehr hübsch, der Kasten aussen schwarz mit innen Sammt. Das Ganze macht sich prachtvoll und ich freue mich furchtbar. Hoffent­lich Du auch (Sophie, 12. 9. 1867). Das ist nicht alles, und Sophie erfährt unter der Hand, was in den nächsten Tagen noch kommen soll: Wir bekommen von Gustav [Sachs*, Sophies Cousin aus Berlin] ein Frühstücksservice, was ich mir sehr gewünscht habe, und das alles enthält was man zum Thee und Abendbrot braucht. Ferner sagt ­Mutter wir bekommen wunderschönes und sehr viel Silber. Aber Mund halten: die Geber wären ausser sich, wenn sie wüssten, dass wir eine Ahnung haben (Sophie, 14. 9. 1867, im Brief vom 13. 9. 1867). Am 29. September wird der dritte Silberkasten überbracht; er ist das Geschenk von Onkel Ferdinand* und enthält den reizendsten Inhalt den man sich denken kann: 2 Suppenlöffel, 2 Saucenlöffel, sechs Compottlöffel, die inwendig vergoldet sind, Theesieb. Streulöffel und Zuckerzange. Du kannst Dir nicht denken wie schön es ist, die Zuckerzange ist ein kleines Kunstwerk (Sophie, 29. 9. 1867). Damit alles zueinander passt und auch praktikabel ist, wird übrigens auch schon an Umtausch gedacht: statt der eleganten Theekanne eine recht massive und solide silberne Theekanne […], wie das das Praktischste und dauerhafteste ist, was man haben kann. Ich

60 Siehe Kapitel „Die Bilder“.

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denke Onkel [Siegmund] wird nichts dagegen haben. Unsere 3 Silberkasten machen sich pompös … (Sophie, ebd.). Otto hat auch viele Verwandte, aber die Geschenke, von denen er berichtet, sind nicht so „pompös“: Onkel Wilhelms [Wilhelm Magnus’*] Geschenk besteht aus einer aus Glas und Silber Zusammemgesetzten Schale für Streuzucker. Es ist nicht prachtvoll, der einfachen Lebensanschauung(en) des Onkels angemessen (Otto, 28. 9. 1867). Überhaupt, Sophie fragt nach, was eigent­lich mit den Braunschweiger Geschenken sei und wie sie die am Ende vorfinden werde. Ihr ist der höchste Genuss, alles beieinander zu sehen und sich des Reichtums der Geschenke zu freuen. Wie wird es denn mit den dortigen Hochzeitsgeschenken? Werden wir die aufgestellt vorfinden, oder kommen die erst nach und nach wenn wir da sind?. Ich möchte das erstere, denn sonst müssen sie gleich weggetan werden und man hat sie nie zusammen. ­Mutter sagt es wäre schon von einer Uhr die Rede gewesen, sie weiss aber nicht, ob es dabei geblieben ist (Sophie, 7. 9. 1867). Sophies naive Freude an den Geschenken und ihre Lust, alles haarklein nach Braunschweig zu berichten, gehören zu ihrer Person seit Kindheitstagen. Bei Islers wurden die Geschenke immer ausführ­lich aufgezählt und beschrieben, wenn ein Familienmitglied einmal bei einem Geburtstag nicht anwesend sein konnte. In Sophies Kindheit waren das keine kostspieligen und üppigen Geschenke, sondern Nütz­liches wie Papier und Schreibmaterialien oder ein neues Kleidungsstück und Bildungsgut wie Schwabs „Sagen des klas­sischen Altertums“ oder die deutschen „Heldensagen“. Immer erfüllte Sophie beim Aufzählen all der schönen Sachen das Gefühl, reich beschenkt worden zu sein, weil allein das Aufzählen und die Quantität den Eindruck von Reichtum nährten. Sophies Freude strahlte auf die Eltern aus. Ihretwegen war Meyer Isler schließ­lich sogar einverstanden gewesen, dass Sophie auch zu Weihnachten Geschenke erhielt, was zunächst für eine jüdische Familie in Hamburg unerhört war 61. Übrigens: Dass die christ­lichen Dienstboten in einem jüdischen Haushalt zu Weihnachten beschenkt wurden, war offenbar allgemein üb­lich. Auch bei Islers.

61 Emma berichtete 1845 aus Berlin: „Dass der [!] Weihnachten einen lebhaften Eindruck auf sie [Sophie] macht ist ganz natür­lich, da sie solange sie in Berlin ist noch kein anderes Wort gehört hat; sogar der eifrige Jude Stern* war mit den Vorbereitungen zur Bescherung beschäftigt. […] Der viel besprochene Abend kam dann auch end­lich heran und mir thut nichts leid, nur dass Du die grossen freudenstrahlenden Augen Deines Kindes nicht gesehen hast […]“ (Emma, 27. 12. 1845). Meyer antwortete aus ­Hamburg: „Die Weihnachtsgeschenke sind mir insofern auch eine Freude, als sie Euch Freude machten und dort wie es scheint gewissermaßen zur Nothwendigkeit wurden, sonst weißt Du, dass ich es nicht liebe“ (Meyer, 29. 12. 1845). Mehr dazu im Kapitel „Der Prozess der Akkultura­tion“ unter „Folgen der Öffnung“.

Hochzeitsgeschenke  |

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DIE TÜRKISCHE DECKE Diese Anschaffung verdient ein Extrakapitel, weil sie gegenüber so viel Harmonie und Aufeinandereingehen einer der wenigen Punkte ist, wo die Meinungen weit auseinander lagen und über lange Zeit nicht zueinander fanden. Sie steht deshalb als Kapitelüberschrift; andere Fälle schwieriger Einigung werden danach erzählt – denn geeinigt haben sich die beiden am Ende immer. Also: die türkische Decke, vielleicht sollte man auch Teppich sagen, denn lange wird nicht klar, ob sie auf dem Fußboden oder – tja, wo auch immer liegen soll. Sie ist das Hochzeitsgeschenk von Onkel Moritz* und entsprechend wertvoll. Aber Sophie soll sie selbst aussuchen und tut das natür­lich nicht, ohne Otto um seine Meinung zu befragen. Diesmal treffen Ottos Wunsch nach grauer Schlichtheit und Sophies Traum vom türkischen Teppich hart aufeinander. Mitte August taucht die Frage zum ersten Mal auf. Sophie überlegt die Einrichtung der Wohnung und kommt ganz natür­lich darauf, an einen Teppich zu denken, und flugs wird die ­Mutter gefragt: ­Mutter lächelt zu der Frage, ob wir einen teppich bekommen und sagt: ich darf ja nichts sagen, woraus ich eigene Schlüsse ziehe (Sophie, 13. 8. 1867). Also war mit einem Teppich zu rechnen, aber wer schenkt ihn und wie würde er aussehen? Und nun beginnt Sophie zu spekulieren: Das Muster des Teppichs habe ich aus Mutters gesicht nicht herausgelesen, es liegt aber einer bei Liebermann im Fenster, in den ich verliebt bin: dunkelbraunen grund mit einem ziem­lich kleinen Carré von einer zarten gold-­ gelben Guirlande und in jedem Carré eine Figur, gelb mit grün gefüllt. Es klingt häss­lich ist aber reizend (Sophie, 14. 8. 1867). Natür­lich ist die Schilderung des Teppichs bei Liebermann eine verdeckte Anfrage bei Otto, wie ihm dieser Teppich gefallen würde. Schon im nächsten Brief geht Otto darauf ein und hat – leider, leider – ganz andere Vorstellungen als Sophie: Das von Dir beschriebene teppichmuster wird nicht praktisch sein, da dunkle Teppiche sich nicht gut in der Farbe halten, und auch bei unseren dunklen Möbeln ein heller Teppich hübscher sein würde. Mir würde ein kleines graues Muster am liebsten sein (Otto, 15. 8. 1867). Richtig: Otto möchte keinen farbigen Teppich, sondern will auch hier ganz u ­ nauffällig bleiben, und das heißt grau. Aber er schreibt nicht, dass es primär um die Farbe geht, wohl ahnend, dass in ­diesem Fall ein diplomatisches Vorgehen angezeigt ist, er kommt mit anderen Argumenten: Ein dunkler Teppich bleicht aus, die Farbe passt nicht zu den dunklen

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Möbeln. Und wir erinnern uns an die Devise beim Möbelkauf: haltbar – das gilt auch für die Farbe – und auf keinen Fall zu elegant. Ottos Argumente mögen richtig sein – doch das verfängt bei Sophie nicht und so berichtet sie von „Besorgungen“, die sie mit ihrer ­Mutter gemacht habe: Wir waren auch in einem deckenladen, aber das ist ein tiefes geheimnis, kein Mensch darf es ahnen. Dass dunkle farben sich nicht halten glaube ich nicht, unserer ist dunkeltürkisch und hat sich in 3 Jahren gar nicht verändert, und die ersten jahre sind entscheidend. Ich habe hübsche graue gesehen, die finde ich aber alles zu matt. Beschreibe doch genau was Du leiden magst, es wird aber so schwer sein wie bei den Bildern (Sophie, 16. 8. 1867). Zunächst wird die ganze Angelegenheit als geheim sozusagen der öffent­lichen Debatte entzogen und das Sondieren in den Läden als ganz unverbind­lich hingestellt. Dann entkräftet Sophie das Argument des Ausbleichens durch die Erfahrungen mit dem elter­lichen Teppich, und schließ­lich räumt sie ein, sich hübsche graue angesehen zu haben, ­findet aber alles zu matt. Ob sie in d ­ iesem Laden einen anderen Teppich gesehen hat, der ihr zusagt, bleibt offen; oder war sie gar bei Liebermann? Otto jedenfalls lässt sich von ­seinem Wunsch so einfach nicht abbringen und legt nach: Was die Decke betrifft, so würde wie ich glaube ein dunkler Teppich, ganz abgesehen von der Haltbarkeit, deshalb nicht praktisch [sein], weil er das Zimmer zu dunkel machte. Ich möchte gern ein ­Muster grau in grau, mög­ lichst klein und einfach, etwa in der art wie die Teppiche bei Tante J­ eanette Helfft* (Otto, 18. 8. 1867, im Brief vom 17. 8. 1867).

Jeder der beiden hat also ein anderes Vorbild im Kopf: Otto orientiert sich an den Teppichen der vermögenden Tante, deren schlichte Unauffälligkeit ihm zusagt, Sophie liebt den Teppich der Eltern, seit drei Jahren Glanzstück der Einrichtung, und will einen ähn­lichen haben. Wie ist in dieser Frage weiterzukommen? Sophie antwortet erst einmal freund­lich: Tante Jeanettes* Teppich erinnere ich leider nicht habe aber neu­lich in der Art wie Du beschreibst zwei sehr schöne gesehen…… (Sophie, 18. 8. 1867). Dann verschwindet das Thema aus der Korrespondenz. Als es drei Wochen s­ päter wieder auftaucht, wird das Geheimnis gelüftet, wer ein so kostbares Geschenk machen will: Onkel Moritz*, der ja bei Islers wohnt. Aber er wird nur indirekt eingeführt und gleich als Autorität, die den gordischen Knoten mit seinem Geschmack gleichsam durchhaut: ­Mutter hat mir heute mitgeteilt, Onkel Siegmund* hätte gesagt, Onkel moritz* würde sich nie dazu entschliessen uns eine Decke in grau zu geben, da er es nicht leiden mag. Bist Du sehr unglück­lich wenn wir eine farbige bekommen? Türkisch soll das Beliebteste und neuste sein und ein bekannter von Onkel Siegmund* soll eine sehr schöne haben: da will er heim­lich mit mir hingehen und ich soll sehen ob sie mir gefällt. Jedenfalls aber warte ich Deine Antwort ab. Onkel schenkt nur eine, die ihm gefällt, sonst garkeine (Sophie, 3. 9. 1867). Da sind sie wieder, die guten Onkel, Emmas Brüder, die schon dem Kind und Teenager Sophie manchen Wunsch erfüllt haben, den die Eltern nicht erfüllen konnten, und die nun auch hier hilfreich auftauchen und die schwierige Frage entscheiden sollen. Sie stecken, scheint es, mit Sophie unter einer Decke (!) und sind so große Autoritäten, dass man an ihnen nicht vorbeikommt. Dieses Manöver verfehlt sein Ziel nicht, denn Die türkische Decke  

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Otto antwortet zustimmend. Übrigens wird auch die t­ürkische Decke hübsch sein, und wenn sie Dir gefällt so nimm sie in Gottes namen. Mir wird sie auch schon gefallen. (Otto, 5.9.[1867], im Brief vom 4.9.[1867]).

Jetzt hätte Sophie also freie Hand, den gewünschten „türkischen“ Teppich zu kaufen – jetzt läge es nur noch an ihr, aber sie zögert und kann sich nicht entscheiden und offensicht­lich will ihr niemand in Hamburg die Entscheidung abnehmen. Ottos Zustimmung ist ja keine aus vollem Herzen, sondern eben nur „in Gottes Namen“, aber er überlässt ihr die Wahl. Sophies eben noch vorgetragene Sicherheit schwindet: Onkel Ferdinand* begegnete mir und nahm mich mit zu einem Freund, um eine Decke anzusehen: sie hat mir aber so entschieden missfallen, dass es ausser aller Frage ist. Sie ist schon für mich viel zu bunt geschweige denn für Dich! Die dunkelbraune, in die ich neu­lich [mich] bei Liebermann verliebt habe, liegt jetzt wieder dort und gefällt auch M ­ utter sehr. Sie ist mit ihrem zarten Muster einfach und sehr fein. Ich wollte wir könnten sie uns zusammen aussuchen, denn das ist doch eine ängst­liche Sache (Sophie, 7. 9. 1867). So wacker Sophie bisher für einen Teppich nach ihrem Geschmack gestritten hat, so wenig sicher ist sie sich jetzt. Entscheiden soll dann wohl Otto, wenn auch in ihrem Sinn. Fühlt sich Sophie hier einfach unwohl, weil sie den Bräutigam mit dem Trick, dass Onkel Moritz* einen grauen Teppich niemals schenken würde, zur Zustimmung gebracht hat, oder steckt mehr dahinter? Auch an anderen Stellen fällt auf, dass Sophie sehr dezidierte Meinungen hat und sich entschieden und mit guten Argumenten dafür einsetzt, wenn sie aber die Entscheidung, für die sie gefochten hat, auch umsetzen müsste, zuckt sie zurück und will lieber andere entscheiden lassen. Noch hat sie offensicht­lich nicht gelernt, in Fragen, die ihren künftigen, ihren eigenen Lebensstil betreffen, Verantwortung zu übernehmen. Otto seinerseits ist mit der Frage nach wie vor beschäftigt und schreibt deshalb am Ende eines langen Briefes: Wird ein dunkelbrauner Teppich zu unseren dunklen Möbeln und Gardinen nicht zu düster aussehen? (Otto, 9. 9. 1867, im Brief vom 8. 9. 1867). Damit sind wir wieder am Anfang. Ottos Frage ist ja nicht einfach zu verneinen. Vielleicht findet sich ein passenderer Teppich? Einer, mit dem Otto schließ­lich nicht nur „in Gottes Namen“ einverstanden wäre. Jetzt tritt auch der Geber auf den Plan und es zeigt sich, dass er tatsäch­lich genaue Vorstellungen hat von dem, was er schenken will: Eben war onkel Moritz* hier um mir zu verkünden, dass er uns eine Decke schenkt, und ich sie mir aussuchen soll. ­Mutter sagt ich hätte so gut die Überraschte gespielt, dass es eine Schande sei. Ja, ja ich sitze voller Lug und Trug! Gegen grau macht Onkel die entschiedenste opposi­tion und er will mir schenken, was ihm gefällt, was ich ihm auch nicht verdenken kann. Was sagst Du zu ganz grün oder bronzefarben? (Sophie, 16. 9. 1867). Ottos Standpunkt hat sich natür­lich nicht geändert, für ihn sind gerade die von Sophie vorgeschlagenen Farben alles andere als praktikabel. Ich freue mich, dass Du Decken mit Onkel Moritz* aussuchen wirst. Ich warne Dich aber vor grün, da das diejenige Farbe ist, die am schnellsten verblasst (Otto, 17. 9. 1867, im Brief vom 16. 9. 1867). Damit sind die Meinungen

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nach wie vor weit auseinander und für Sophie bleibt eigent­lich kein Spielraum. Immer neue Teppiche werden angesehen, ohne dass Sophie einer Entscheidung näher käme: Eben komme ich von Emma Lazarus und fand zu Hause ein Sortiment von Decken, die uns zur engeren Auswahl aus dem Laden zugeschickt sind, in dem ich heute mit Onkel war. Ach ich mag gar keine Decke aussuchen, ich bin unentschlossen und habe immer die Angst dabei, dass sie Dir nicht gefällt. Die einzige die mir bisher ganz sympatisch ist, ist eine ganz dunkle die Du wahrschein­lich deshalb nicht wünschst. Sie ist türkisch in matten, sehr harmonischen Farben. Die anderen sind auch hübsch aber ich kann mich nicht entscheiden. Rate mir, hilf mir, was soll ich, was soll ich tun? (Sophie, 19. 9. 1867). Otto antwortet beruhigend, aber warnend: Was die Deckenfrage betrifft, so rate ich Dir Dich vor der grünen Farbe und grossen Mustern in Acht zu nehmen. Wenn Dir die türkische Decke gut gefällt, so nimm sie. Was Dir gefällt werde ich sicher auch leiden mögen,. (Otto, 21. 9. 1867, im Brief vom 20. 9. 1867). Im Grunde bestätigt Otto trotz seiner Warnung noch einmal, dass er zwar Sophies Wahl mittragen werde, aber keinem ihrer Vorschläge nähertreten möchte. Damit bleibt die Entscheidung für Sophie ein Dilemma: Kauft sie einen Teppich nach eigenem Geschmack, der den Raum wohl gemüt­licher machen würde, würde sie das nehmen, was Otto entschieden ablehnt; kauft sie einen grauen und damit helleren und farb­loseren Teppich, entscheidet sie sich gegen ihr Gefühl und gegen eine gewisse Geborgenheit, die sie offenbar in dieser Entscheidung mit sucht. Und Onkel Moritz* drängt. Ich wollte Du ständest jetzt neben mir und sähest hinter mir auf der Erde eine Decke liegen und sagst ob sie Dir gefällt. Sie ist türkisch mit Hauptfarbe grün. Es liegt wieder ein mächtiger Stapel bei uns, aus dem gewählt werden muss, denn Onkel will es aus dem Kopf haben (Sophie, 22. 9. 1867). Schließ­lich ringt sich Sophie zu einer neuen Aussage durch und – vertagt die Entscheidung. Otto soll mitentscheiden: Wir sind eben alle überein gekommen, dass die Decke die uns am besten gefällt eine grüne mit grossen Muster ist, also gerade die wovor Du uns entschieden gewarnt hast. Da es nun untun­lich ist zu wählen so hat Onkel übernommen Onkel Moritz* zu bewegen bis zu Deiner Ankunft mit der definitiven Wahl zu warten: dann müssen wir uns schnell entscheiden, was bei Decken nicht leicht ist. Nun bin ich der Verantwortung enthoben: es wäre schreck­lich, wenn ich etwas wählte was nachher weder Dir noch den Deinigen gefällt (Sophie, 22. 9. 1867). Sophie hat noch einmal großes Geschütz aufgefahren: Nicht sie allein, alle Islers, einschließ­ lich Onkel (ob Ferdinand oder Siegmund bleibt offen), finden den grünen Teppich schön, und doch will Sophie warten, bis Otto da ist, damit sie zusammen entscheiden können. Denn ausgerechnet den Teppich zu wählen, den Otto am deut­lichsten abgelehnt hat, erscheint ihr zu kühn. Wäre dieser Teppich gegen Ottos erlahmenden Widerstand gerade noch durchzusetzen, wäre er in Braunschweig nur dann noch schön, wenn Otto ihn mit voller Überzeugung gewählt hätte. Denn was wäre, wenn ihn die Braunschweiger Verwandtschaft geschlossen ablehnt? Ganz klar: Sophie will den grünen Teppich kaufen, aber Otto soll das mit verantworten, nicht nur in Gottes Namen, sondern aus voller Überzeugung. Die türkische Decke  

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In den Brautbriefen ist nun von dem Teppich nicht mehr die Rede. Liest man aber unter den ersten Briefen Sophies aus Braunschweig nach, finden sich Passagen, die sich auf ­diesen Teppich beziehen. Nachdem end­lich die Hamburger Sachen eingetroffen sind, erzählt Sophie den Eltern, dass alle Möbel noch einmal herausgenommen werden mussten, um end­lich „die Decke“ zu legen. Und dann heißt es: Seit Sonnabend liegt unsere Decke, hier sind alle entzückt davon. Sie ist für meinen geschmack zu hell um das Zimmer wohn­lich zu machen (Sophie, 4. 11. 1867).

Demnach handelt es sich bei der „Decke“ offenbar um einen großen Teppich, für den erst Platz geschaffen werden musste, also ein wahrhaft fürst­liches Geschenk, das Onkel Moritz* seiner Nichte zur Hochzeit machte. Ihrer Meinung nach „zu hell“, schreibt Sophie – also hatte sich Ottos Wunsch nach hellgrau-­grauer Unauffälligkeit durchgesetzt. Emma antwortet einige Briefe s­ päter, nachdem sie mit Onkel Moritz* gesprochen hat: Ich habe Morchen die Deckenfreude erzählt und er hat ein Hohngelächter aufgeschlagen über den Braunschweiger geschmack, sich aber gefreut mir dringend aufgetragen Euch zu grüssen … (Emma, Sonnabend, 1 Uhr [9. 11. 1867]). Hier also stand Hamburgs Geschmack gegen Braunschweig, großbürger­ licher Zuschnitt gegen die schlichteren Braunschweiger Verhältnisse – Onkel Moritz* hat nachgegeben und der geliebten Nichte einen Teppich geschenkt, den er eigent­lich so nicht schenken wollte und den auch sie sich anders vorgestellt hatte. Aber sie muss in Braunschweig leben und sich dem dortigen Geschmack anpassen, deshalb wohl haben Islers und Meyers dem grauen Teppich am Ende nicht mehr widersprochen. Sie folgen damit einer Einsicht, die Emma in Zusammenhang mit der Einrichtung gleich anfangs Otto geschrieben hat: […] Geschmack ist nicht[s] Absolutes und eine neue Einrichtung muss sich durchaus nach der Sitte der Stadt und des Kreises in dem man lebt richten. […] in Braunschweig müsst Ihr nehmen was dort Sitte ist und wenn da ein gelinderer geschmack herrscht, desto besser für unsere kasse. Ist es Sophie zuerst etwas fremd, ihr wird es genügen dass die Besucher es wunderschön finden, um es ihren eigenen Augen auch bald so erscheinen zu lassen (Emma, undatiert, [Ende April 1867]).

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DIE BILDER Im Hin und Her um den Teppich erwähnt Sophie die Schwierigkeit, die es gemacht habe, bei den Bildern auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Diese Bilder spielen als Schmuck in der schönen Wohnung der beiden eine herausragende Rolle. Hier mischen sich Anspruch und Geschmack auf schwierige Weise, aber noch andere Komplika­tionen kommen dazu. Das wird zuerst deut­lich, als Otto erfährt, dass Gotthelf Jacobson* wegen eines Hochzeitsgeschenkes bei Tante Jeanette Helfft* nach Wünschen des Paares gefragt hat. Er schreibt: Ich habe mich sofort für den bekannten Kupferstich von Anderloni nach Rafael’s Sacra Famiglia [ausgesprochen], aber meine ­Mutter hat sofort Einspruch erhoben und zwar aus 2 Gründen: erstens weil wir mög­licherweise notwendige Sachen nicht bekommen und uns dann ­solche Wählen könnten und zweitens weil das Bild ein specifisches christ­liches Siegel habe. Den ersten grund kann ich gelten lassen, den zweiten erkenne ich aber nicht an, sondern ich glaube, dass ich ein Kunstwerk welches einen christ­lichen Gegenstand behandelt ebenso gut in meiner Wohnung aufhängen kann, wie ich eine Statue aufstellen würde, ­welche eine heidnische Gottheit darstellt. Diese Idee lag mir so fern dass ich vorher gar nicht daran gedacht hatte. Jetzt aber halte ich es für nöthig Dich um Deine Ansicht zu fragen. Wenn Dein religiöses Gefühl dadurch verletzt würde. müssen wir natür­lich die Wahl solcher ­Bilder vermeiden und verhindern, denn selbstverständ­lich würde ich ­dieses Gefühl ehren und schonen, obgleich ich es beklagen würde, dass gerade die schönsten Kunstwerke dadurch aus unseren Räumen verbannt würden.. In d­ iesem Falle würde kaum etwas anderes übrig bleiben als etwa die Kaulbachschen Bilder aus dem treppenhaus des berliner Museums, oder auch genrebilder u. dgl. nichts für zu unbedeutend halten, um sie zeitlos im Zimmer zu haben, und den Kaulbach sieht man doch jetzt überall. Jedenfalls möchte ich keine Photographie sondern nur gute Kupferstiche haben: die Photographien verblassen so schnell (Otto, 11. 8. 1867). Der Vorgang ist, im Vergleich mit allem anderen, was umfangreich in den Briefen ­zwischen den Brautleuten abgehandelt wird, überraschend: dass Otto sich für ein Bild ausspricht, ohne vorher mit Sophie korrespondiert zu haben. Erst der Einwand der ­Mutter, die sich gegen das christ­liche Sujet wendet, lässt ihn rückfragen. Dieses schnelle Handeln erinnert an Ottos Zugriff nach der Verlobung: Kaum aus Hamburg zurück, meldete er, eine Wohnung gemietet zu haben. Hatte er dort sofort gemietet, hat er hier allerdings gezögert, aber er zweifelt nicht einen Augenblick, dass seine Entscheidung gilt. Das ist schon erstaun­lich: Otto fragt nicht nach, ob Sophie mit ­diesem Bild einverstanden wäre, ja, es Die Bilder   |

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kommt ihm nicht einmal der Gedanke, dass sie etwas anderes schön finden könnte, sondern er fragt nur, ob das Bild ihre religiösen Gefühle verletzen würde. Oder haben beide die Bilderfrage münd­lich hinläng­lich abgehandelt? In den Briefen berichtet Sophie immer wieder von Ausstellungsbesuchen, erläutert, ­welche Bilder ihr gefallen haben, ­welche sie am liebsten selbst besäße und dass z. B. ihr Lieblingsbild in einer Ausstellung gerade von dem Bankier Pius Warburg* gekauft worden sei. Bilder spielten also in Gesprächen und Briefen eine große Rolle, schließ­lich hatte Sophie ja Unterricht bei dem bekannten Landschafts- und Genremaler Bernhard Mohrhagen*, war also eigent­lich Expertin. Mög­lich, dass über Wandschmuck gesprochen wurde. Aber merkwürdig erscheint Ottos Argumenta­tion in Bezug auf Bilder mit christ­lichem Thema: Er setzt die Kunstwerke der (heidnischen) Antike mit denen der Glaubensgegenwart seines christ­lichen Umfelds gleich. Sophie aber, die sonst gern den Faden aufnimmt und weiterspinnt oder einer Argumenta­tion widerspricht, übergeht hier seine Darlegung. Ihre Antwort setzt diplomatisch ein: Du hast so vieles Interessantes geschrieben, dass ich garnicht weiss womit anzufangen. Das Wichtigste aber ist wohl die Bilderangelegenheit. Zuvor doch, dass ich in bezug auf das Allgemeine mit Dir übereinstimme, dass auch ich es unrecht finde, die grössten Meisterwerke der Kunst aus seinen Räumen zu verbannen. Ich bin frei­lich in anderer Ansicht aufgewachsen, denn Vater ist entschieden der entgegengesetzten meinung. Ich fragte ihn also, ob es ihm unangenehm sein würde in meinen Zimmern dergleichen B ­ ilder zu treffen, er meinte aber danach dürfe ich mich nicht richten, und so steht also nichts im Wege nach unserer neigung zu handeln. Nun aber zu dem speziellen Bild, und da muss ich leider gestehen, dass ich mir aus R ­ affaelschen Madonnen und heiligen Familie garnichts mache, und dass ich daher lieber etwas anderes möchte. Ich mag es garnicht gern schreiben, denn Du wirst es sicher recht albern finden, aber ich habe nun einmal die Antipathie. Von Raffaelschen Bildern liebe ich nur die beiden die wir haben: die heilige Concelie [Cäcilie] und die Hochzeit der Jungfrau. Nun will ich Dir einige andere Bilder die ich sehr gern habe, nennen: fast alle Murillos, die Madonna von madrid (wo der Johannes dem Jesuskind das Kreuz entgegenhält) der heilige Antonius. Wunderschön ist die Himmelfahrt von Titian, wo die Jungfrau oben in einer Glorie gen Himmel schwebt und unten die Heiligen stehen. Es ist so schade, dass wir die sache nicht besprechen können, es wäre sehr viel einfacher, so muss ich Dir so viel Mühe und Weitläufigkeit machen, und Du weisst am Ende doch nicht was Du thun sollst. Von Kaulbachschen Sachen möchte ich nur die Zerstörung Jerusalems haben. Wer uns aber sowas teures schenkt wählt gewiss keinen Kupferstich. An Genrebildern hat mir immer die Goldene Hochzeit von Knaus* sehr gut gefallen; dann gibt es wunderschöne Landschaften mit Wild. Ich habe eben ein grosses Bildverzeichnis durchgesehen, kann mich aber auf keines mehr besinnen. Ich schreibe das alles mit dem unangenehmen gefühl doch nichts rechtes gesagt zu haben. Thue mir den Gefallen und handle ganz wie es Dir recht scheint, und als ob ich nicht geschrieben hätte. Ich bin überzeugt, wenn ich ein Raffaelsches Bild vorfinde, lerne ich es schätzen, nur wenn ich es selber bestimmen soll,

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so wähle ich es nicht. Noch eins: sollten wir etwa eins der ganz grossen Bilder wie die Zerstörung Jerichos oder eins der Raffaelschen Stanzen bekommen, so glaube ich werden sie sich nur in bronze und nicht in Holzrahmen gut machen. So, nun will ich aber mit Freuden davon aufhören. übrigens ist es sehr nett von herrn jacobson*, dass er uns über haupt etwas schenkt (Sophie, 13. 8. 1867). Diese lange Antwort auf Ottos Frage nach etwaiger religiöser Befangenheit seiner Braut ist nur insofern erstaun­lich, als religiöse Fragen selten behandelt werden. Aber gerade deshalb ist sie nötig. Sophie räumt gleich am Anfang ein, dass sie in jüdischem Geist erzogen sei und von daher eigent­lich Bildern mit christ­licher Thematik distanziert gegenüberstehen müsste, aber in der Grundsatzfrage – Kunstwerke sind zeitlos und religionsenthoben – mit ihm übereinstimme und von daher seinem Wunsch nichts im Wege stünde, wenn, ja, wenn da nicht ihr eigener Geschmack wäre. An den hatte Otto gar nicht gedacht oder er hatte nach vorangegangener Korrespondenz und Gesprächen über Kunstfragen keinen Dissens vermutet. Für uns ist der Vorfall besonders wichtig, denn dieser Brief markiert eine Zeitstufe, auf der eine junge Genera­tion jüdischer deutscher Bürger einen weiteren Schritt in die Normalität des deutschen Bildungsbürgertums macht und keinen Anstoß daran nimmt, sich Bilder mit ausgesprochen christ­lichen ­Themen in die Repräsenta­tionsräume zu hängen. Ganz unberührt von den Vorbehalten der Elterngenera­tion planen Sophie und Otto ihren Wandschmuck, nehmen die Toleranz des Vaters Isler ohne besonderes Erstaunen entgegen und setzen sich über die Bedenken der M ­ utter Magnus kommentarlos hinweg. So entsteht der Eindruck, dass es sich hierbei um ein Genera­tionenproblem handelt, denn die Frage, wie die künftigen, in der Regel jüngeren Gäste reagieren könnten, stellt sich für beide nicht. Sophie zählt umfangreich auf, ­welche Künstler bzw. ­welche Werke sie ansprechen. Ein Madonnenbild ist dabei, sonst aber zieht Sophie andere Th ­ emen und andere Maler den Vorschlägen Ottos vor. Der antwortet entgegenkommend: In Bezug auf die Bilderangelegenheit hat Tante Jeanette* jetzt meinen Wunsch nur im Allgemeinen angefragt und nicht in Bezug auf ein bestimmtes Bild. Es ist schade, dass Du das vorgeschlagene Bild nicht magst, aber ich werde es auf keinen fall nehmen, denn wir werden schon ­solche finden, die uns beiden gefallen. Jedenfalls aber nehme ich nur s­ olche, wo nicht nur das Original sondern auch der Stich vortreff­lich ist und der ist bei den meisten von Dir vorgeschlagenen Bildern nicht der Fall, die meisten sind nicht in Linienmanier gestochen. Wir wollen jetzt Gotthelfs Antwort abwarten und dann wählen. Inzwischen wollen wir beide auf Entdeckungen ausgehen (Otto, 14. 8. 1867, im Brief vom 13. 8. 1867).

Sophie antwortet unverzüg­lich: Es thut mir leid, dass Du in der Bildersache so viele Schwierigkeiten durch mich hast, ich kann aber doch nicht kommen und Dir aussuchen helfen. Ich glaube übrigens nicht, dass die Bilder die genannt nicht in guten Stichen vorhanden sind. Von der Murilloschen madonna des Louvre weiss ich es positiv. Es gibt die sixtinische, die Holbeinsche und diesen in grossen zu einander passenden Prachtblättern (Sophie, 14.8[1867], nachmittags).

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Auch Otto ist weitergekommen, denn Tante Jeanette Helfft*, um die es hier geht, reist zur Kur und überlässt die Angelegenheit des Bilderkaufs Otto. Da sie nun fortreist hat sie mir den brief und den Auftrag übergeben. Ich darf bis 22 Th ausgeben, werde also in diesen Tagen wieder zu Ramdohr [Braunschweiger Kunsthändler] gehen und die Sache mit ihm überlegen. Ich werde Deinen brief mitnehmen und ihm die von Dir aufgezählten Bilder vorlesen. Ausserdem muss er sich verpflichten, falls wir zufällig dasselbe Bild noch einmal bekommen sollten, dasselbe umzutauschen. Minna Lippar [Sophies „Tante Minna*“ aus Hamburg, die in Braunschweig zu Besuch ist] hat gesagt, in hamburg wäre es Sitte nur unnütze und garkeine praktischen Hochzeitsgeschenke zu machen. Wenn doch alle Leute, die uns nichts praktisches schenken wollen uns Kupferstiche schenkten. Ich möchte so gerne, dass unsere Wohnung ein kleines Kunstcabinet würde (Otto, 15. 8. 1867). Ottos Hoffnung auf viele Kupferstiche und eine Wohnung, die einem Kunstkabinett ähnelt, zeigt, dass er sich doch ein wenig aus den normalen Braunschweiger Einrichtungs­ gewohnheiten lösen möchte. Zwar sollen Mobiliar und Frau nicht aus dem Rahmen gutbürger­ licher Verhältnisse in Braunschweig fallen, aber etwas besonders möchte es Otto schon haben. So gesehen ist Kunst unverdächtig. Außerdem geht es nicht um Originale, sondern um Kupferstiche, also eigens hergestellte, durch einen Kupferstecher vom Original „abgekupferte“ Bilder, deren erste zweitausend Exemplare als besonders wertvoll immer speziell gekennzeichnet wurden. Es gab namhafte Kupferstecher, die besonders „fein“ stachen, und ­solche, die weniger sorgfältig arbeiteten. Je mehr Exemplare gedruckt wurden, desto mehr ließ im Druck die Schärfe der Zeichnung nach. Deshalb die besondere Berücksichtigung des Herstellers und der Wert der ersten zweitausend Exemplare. Nicht von solchen ersten Exemplaren ist in Ottos Brief die Rede, aber doch von guten Kupferstichen, also Reproduk­ tionen, die einen Eigenwert haben. Kupferstiche, ja ein Kupferstichkabinett, zeugen vom Kunstsinn ihrer Besitzer und können nicht als Protzerei missverstanden werden. Deshalb kommt der Wahl der Bilder für Otto ein so hoher Stellenwert zu. Sophies Vorstellungen von einer Bronzerahmung gehen allerdings über den einfachen Stil hinaus. Doch durch Ottos letzten Brief ist die Angelegenheit für Sophie erst einmal abgeschlossen: Die Bilderangelegenheit hat sich ja sehr günstig gestellt, und da du nun selbst aussuchst bin ich überzeugt, dass wir etwas Hübsches bekommen (Sophie, 16. 8. 1867). Doch Otto will die Sache vom Tisch haben und hat entschieden, nicht ohne sich vorher kundig gemacht zu haben: Was die Bilderangelegenheit betrifft, so habe ich mit R ­ amdohr verabredet, dass die defenitive Wahl hinausgeschoben werden soll bis wir wissen was für Bilder wir sonst bekommen, dass aber G. Jacobson* vorläufig mitgetheilt werden soll, Tante hätte die Madonna von Murillo (Original Musée de Louvre) gestochen v. Achille ­Lefèvre gewählt.. Wenn wir dann etwa ­dieses Bild, das ja sehr beliebt ist, noch mal geschenkt bekommen, so sagen wir Gotthelf wir hätten es umgetauscht. Bist Du damit einverstanden? (Otto, 17. 8. 1867). Da Otto den Druck eines bestimmten Kupferstechers ausgewählt hat, kann man davon ausgehen, dass die Arbeiten des bekannten Künstlers seinen Ansprüchen an einen guten Stich entsprechen. Sophie freut sich, dass der Murillo gekauft wird: Über

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das schöne Bild freue ich mich sehr. Ich liebe es unend­lich: wo es wohl hängen wird? Das muss natür­lich davon abhängen was wir noch sonst an Bildern bekommen (Sophie, 19. 8. 1867, im Brief vom 18. 8. 1867).

Als Sophies Cousins einen Kupferstich von Anton Dieffenbach* im Goldrahmen ­schenken, entsteht der Wunsch nach einem Pendant, der „Goldenen Hochzeit“ von Knaus*. Otto eilt gleich wieder zu Ramdohr, um sich das Bild zeigen zu lassen, und unterstützt danach Sophies Absicht, in der Verwandtschaft den Wunsch nach ­diesem Bild zu verbreiten. Vier Wochen vor der Hochzeit geht Sophie davon aus, dass in der Bilderfrage Festlegungen getroffen sind: Du hast doch die Madonna schon definitiv genommen? Möchten uns die Leute doch noch recht viele clas­sische Bilder in Goldrahmen für die Wohnstube und vielleicht noch 2 schöne Genrebilder in Holzrahmen für das Esszimmer schenken: ich fürchte aber, sie tun es nicht (Sophie, 8. 9. 1867., im Brief vom 7. 9. 1867). Doch Otto möchte sicher gehen und nach der Hochzeit große Umtauschak­tionen vermeiden; und außerdem ist die Madonna eben doch nicht ganz nach seinem Geschmack. Ich habe die Madonna noch nicht definitiv genommen sondern ich möchte gerne bis nach der Hochzeit warten, weil man ja nicht wissen kann, ob nicht zu den Bilder die wir bekommen etwas anderes besser passt. Wenn wir ausser der Goldenen Hochzeit noch ein drittes Genrebild bekommen, so möchte ich wohl die Taufe [sic!] haben, die ich besonders liebe (Otto, 9. 9. 1867, im Brief vom 8. 9. 1867). Also wird auch diese Entscheidung verschoben, denn vor der Hochzeit wird in der Sache nicht mehr korrespondiert. Ein gutes Vierteljahr nach der Hochzeit bekommt Sophie zum „halben“ Geburtstag am 30. Januar noch ein Bild: Otto hat einen wunderbar schönen Kupferstich gekauft, eine ­heilige Familie, den er sich so sehr zur Hochzeit gewünscht hat. Nun ist unser Rafaelsaal complet und ich glaube nicht dass viele junge Leute eine ­solche Sammlung von guten Bildern haben wie wir. Das neue hängt über dem Sopha und der geliebte Salomo wird an die leere Wand über den Lehnstuhl kommen (Sophie, 30. 1. 1868, 7 Uhr abends). Ausgerechnet das Bild, das Sophie im ersten Anlauf so entschieden abgelehnt hatte, kommt nun doch in das Wohnzimmer des jungen Paares, und ­dieses Mal spricht Sophie von einem wunderbar schönen Kupferstich. Grund d ­ ieses Wandels kann vielerlei sein. Entweder hat sie ihren Geschmack dem Ottos angenähert oder die neue Situa­tion und der Braunschweiger Geschmack haben auch den ihren verändert oder das Bild passt einfach besonders gut zu den bereits vorhandenen Bildern. Auf jeden Fall haben sich Ottos Vorstellungen weiter durchgesetzt und dem erträumten Kupferstichkabinett sind die jungen Leute auch näher gekommen. Dass Sophie und Otto mit dieser Ausstattung ihrer Wohnung zwar „modern“ und dem Zeitgeist entsprechend handelten, damit aber insgesamt im Rahmen eher bescheidenen gutbürger­lichen Stils blieben, muss doch erwähnt werden. Was wirk­lich in seinem Zuschnitt darüber hinausging, wird verständ­lich, wenn in den Briefen davon die Rede ist, dass Felix Aronheim*, der Kunst und Antiquitäten sammelnde Schwager, natür­lich wieder ein Ölbild gekauft, sich also nicht wie unser junges Paar mit Kupferstichen zufrieden gegeben hat.

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DIE WOHNUNG Möbel aus Berlin und Braunschweig, Sophies Möbel aus Hamburg, Hochzeitsgeschenke, Aussteuer – alles soll seinen Platz in der Wohnung finden, die Otto direkt nach der Verlobung gemietet hatte. Sie wird seitdem umgebaut und ist die Ursache dafür, dass die Verlobung ein halbes Jahr dauert, obwohl Sophie und Otto mit einer wesent­lich kürzeren Zeit gerechnet hatten. Wie sieht denn eine Wohnung für ein junges bürger­liches Paar vor 140 Jahren aus? Von biedermeier­lichem Flair, lichten Fenstern, hellen Farben und einer gewissen Kargheit des Mobiliars darf man nicht mehr ausgehen, aber ebenso wenig von der eher schwülen Pracht der Wilhelminischen Zeit. Portieren und Vorhänge bestimmen die Atmosphäre; Vorhänge, die es unterschied­lich schwer für Sommer und Winter gibt und die aus mehreren Lagen bestehen. Aber damit nicht genug: Otto besorgt in der Wachstuchfabrik noch Rouleaus, natür­lich in gedeckten Farben; er entscheidet sich für eine schlichte hellbraune Farbe […] mit einer ganz einfachen dunkelbraunen Kante (Otto, 20. 6. 1867, im Brief vom 19. 6. 1867), p ­ assend zum Möbelstoff, obwohl seine ­Mutter zu grau geraten hatte. Die Möbel in den Wohnräumen, in Berlin gekauft, sind aus Mahagoni, aber eher schlicht und ohne viel Zierrat: [E]infach und solide ohne viel Spitzereien (Otto, 30. 4. 1867) wünscht sich Otto die Einrichtung. Dunkle Farben, Goldrahmen, Bronze und Nippes, dazu der gedämpfte Glanz geputzten Silbers im Sideboard, einem „Teeschrank“ für den täg­lichen Bedarf, Bücherschrank und Klavier, Sophies offener Schreibtisch und der Nähtisch – das alles schuf eine „Behag­lichkeit“, die oft beschworen wird und die unserer heutigen Wohnkultur, die auf sparsames Möblieren und helle Farben setzt, diametral entgegensteht. Der „graue“ Teppich soll für eine Aufhellung sorgen. Im Herbst wechselt man zu schweren Vorhängen, im Frühjahr werden leichtere Gardinen aufgesteckt und Decken und Teppiche entfernt. Dadurch wachsen sich „Frühjahrs- und Herbstputz“ zu einer tagelangen Tätigkeit aus, für die zusätz­liche Hilfskräfte gebraucht werden. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise auf modernes Wohnen: Das Fremdenzimmer bekommt nur ein Bett, das „abgeschlagen“ wird, wenn kein Besuch da ist. Stehen bleibt das „Schlafsofa“, das als zweite Übernachtungsmög­lichkeit angeschafft wurde, aber im Allgemeinen als bequemes Sitzmöbel dient, wie die Einrichtung überhaupt zulässt, das Fremdenzimmer im Bedarfsfall als Spiel- oder Raucher­zimmer zu benutzen. Auf Variabilität setzt auch das Wohnzimmersofa: Es hatte auf einer Seite Rollen, damit es ohne größeren Aufwand an eine andere Stelle gerollt werden konnte. Die Wohnung ­dieses jungen Paares hat drei

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Abb. 5  Ausschnitt aus dem Stadtplan von Braunschweig 1895

Funk­tionen: Sie dient zunächst als Raum der Zweisamkeit, die von den Brautleuten heftig ersehnt wird; sie dient darüber hinaus als Basis der Geselligkeit – Sophie wird schon bald eine Gesellschaft nach der anderen geben –; und schließ­lich verbindet diese Wohnung Ottos privates und beruf­liches Leben; nicht er allein, auch sein Sekretär Bühring wird täg­lich Wand an Wand mit Sophie leben. Aber fangen wir auch hier mit dem Anfang an: Am 17. April 1867, zehn Tage nach der Verlobung in Hamburg, mietet Otto eine Wohnung in Braunschweig, Zentrum, aus der die Vormieterin, eine Gräfin Schulenberg, in Kürze ausziehen wird.62 Das ist nicht ohne Pikanterie. Das junge jüdische Bürgerpaar wird Nachmieter des alten (vielleicht verarmten) Adels werden. Auch hier findet ein Schritt in ein neues Zeitalter statt. Gesellschaft­lich und politisch ­inzwischen nahezu gleichgestellte Bürger jüdischen Glaubens treten offiziell das Erbe einer abtretenden Schicht an. So könnte man diesen Vorgang etwas überspitzt, doch signifikant

62 Braunschweig, Zentrum, Damm 18. Im Bohlweg, gleich um die Ecke, der z­ wischen Schloss und Stadt entlangführt, wohnten die Eltern Magnus und die reiche Tante Jeanette Helfft. Das war also eine sehr bevorzugte Lage.

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für die Zeit, ansehen. Man wird sich einrichten, wie es im guten Bürgertum üb­lich ist, und man vermeidet jeden Anschein ängst­lich, dem der Ruch des Unangemessenen, des homo novus anhaften könnte. Bevor allerdings neu eingezogen werden kann, wird die Wohnung, ja das ganze Haus total umgebaut – sogar Wände werden versetzt. So ergibt sich am Anfang nur ein ungefähres Bild von der Größe der Zimmer. Trotzdem macht Otto eine Zeichnung 63, schickt sie an Sophie und korrespondiert mit ihr über die beste Verteilung: Arbeits- und Wohnbereich sind erst einmal grundsätz­lich festzulegen. Über Monate werden angesichts ­dieses Planes Möbel ausgewählt und auf dem Papier hin und her geschoben, die Waschtische aus dem (zu kleinen) Schlafzimmer in das angrenzende Fremdenzimmer ausgelagert, über Sofa und Schlafsofa entschieden, bis zehn Tage vor der Hochzeit die Aufteilung umgeworfen wird: Heute Mittag haben Tante Sally [Samson] und Anna D. die Wohnung besehen und mir entschieden geraten, das Zimmer, das für meins bestimmt war zum Schlafzimmer, das für den Schreiber bestimmte zimmer zum Fremdenzimmer und die beiden Hinterzimmer für mich und den Schreiber zu nehmen. Nach reif­licher Überlegung ist dieser Vorschlag als gut acceptiert und ich freue mich sehr, dass wir auf diese Weise ein sehr schönes Schlafzimmer bekommen in welches wir ausser den Betten auch die nötigen Möbel platzieren können. Ich werde den Umzug in 2 Mal vornehmen: Die Berliner Möbel werden am Sonnabend placiert. Die Möbel aber ­welche in mein Zimmer und die Schreibstube kommen werden am Montag transportiert. Das Einzige was in dieser Veränderung unangenehm ist, ist dass die gaseinrichtung nicht passt. Ich werde sie aber vorläufig so lassen wie sie ist und Veränderungen erst machen lassen, wenn wir dieselbe gemeinschaft­lich beschlossen haben (Otto, 25. 9. 1867). Das ist ein Umsturz in allerletzter Minute, denn die Berliner Möbel sind bereits im Anrollen. Dass da umgehend entschieden werden musste, erscheint zwingend; Sophies Zustimmung darf in ­diesem Fall vorausgesetzt werden. Denn über das Schlafzimmer war vielfach korrespondiert worden, Sophie hatte sogar kürzere Betten vorgeschlagen – wir werden schwer­lich noch wachsen (Sophie, 6. 5. 1867) –, um mehr Platz zu haben, sodass ihr jede Verbesserung dieser Situa­tion recht sein muss. Aber auch ihn hatte die bisherige Aufteilung bedrückt, ohne dass er einen Ausweg gesehen hätte. Jetzt hat die Berliner Tante das Problem kurzerhand gelöst. Du glaubst garnicht wie sehr ich [mich] vor dem kleinen Schlafzimmer gefürchtet habe, und wie ich mich freue, dass wir jetzt ein grosses, luftiges und freund­liches ­Zimmer zum Schlafen bekommen. Auch das Fremdenzimmer wird jetzt grösser, während die beiden Hinter­zimmer für mich und Bühring vollkommen gross genug sind. Die Portière ­welche das jetzige schlafzimmer von dem Wohnzimmer trennen sollte ist nun überflüssig; die wird zu einer Garderobe umgearbeitet (Otto, 25. 9. 1867). Wie notwendig diese Veränderung speziell für Otto ist, wird aus diesen Zeilen deut­lich. Bei seinem Bedürfnis nach Luft hatte der viel zu enge Raum auf ihn fast beängstigend gewirkt. Auch Sophie war das kleine Schlafzimmer

63 Die Zeichnung lag den Briefen leider nicht mehr bei.

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ein unsympathischer Gedanke, aber die bisherige Anordnung war gleich am Anfang durchgespielt und mit dem Blick auf das künftige gesellige Leben als sinnvoll eingestuft worden. Man wollte das nicht bewohnte, aber zum Wohnen eingerichtete Fremdenzimmer gegebenenfalls öffnen – deshalb die Portiere – und hätte einen dritten Raum, vielleicht als Raucher­zimmer, neben Ess- und Wohnzimmer gewonnen. Aber zwingend war der Plan nicht. Und so antwortet Sophie auch: Mit der Zimmerveränderung bin ich sehr einverstanden, wir hatten es so gemacht, um 3 Wohnzimmer neben einander zu haben, aber das brauchen wir ja garnicht, und ich denke auch es wird so behag­licher. Wie wird es denn nun mit den gardinen ……. Ich soll Dir von ­Mutter bestellen, dass sie sich über die Veränderung der Zimmer noch mehr freut, weil Bührig sich nun seine Augen nicht zu verderben braucht als weil wir ein besseres Schlafzimmer bekommen (Sophie, 27. 9. 1867, abends, 10 Uhr). Kein Einwand also, aber die Frage nach den Gardinen. Alles ist ja schon lange geplant und für die einzelnen Räume in Auftrag gegeben, wobei das Problem der Gasbeleuchtung sicher das größere ist. Allerdings: Gerade der Gardinen wegen hatte man lange überlegt und Rat eingeholt. Am Ende hatten sich Sophie und Otto entschieden, längere Stores zu nehmen und diese eine Elle einzuschlagen, falls man doch einmal in höhere Zimmer umzöge. An solchen Entscheidungen wird wieder deut­lich, dass sich Sophie und Otto, wie in ihrer Zeit üb­lich, für ein ganzes Leben einrichteten. Mög­licherweise wird man die Wohnung wechseln, nicht aber das Mobiliar und die Gardinen. Deshalb werden höhere Ausgaben gelegent­lich mit dem Hinweis auf die einmalige Situa­tion gerechtfertigt. Die Wohnung, die Sophie und Otto beziehen wollen, ist demnach eine sehr große Wohnung für ein junges Ehepaar, sie hat mindestens sechs, wenn nicht sogar sieben Zimmer. Natür­lich muss man Ottos Büro und die Schreibstube als Arbeitsbereich abziehen, aber es bleiben Esszimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmer für den eigenen täg­lichen Bedarf, ein Fremdenzimmer mit zwei Schlafmög­lichkeiten für Besucher, ein Schrankzimmer und die Küche mit Speisekammer. Ein Badezimmer gibt es (noch) nicht, über sein Fehlen wird nie gesprochen, es fällt also offenbar niemandem auf oder gilt so sehr als Luxus, dass niemand den Einbau anmahnt.64 Auch die Toilette wird nie erwähnt, dabei erhalten Magnussens ein Wasserklosett und die Wohnung bekommt fließendes Wasser – für die Hamburgerin eine Selbstverständ­lichkeit: Als ich 1867 nach Braunschweig kam, fühlte ich mich […] ins tiefste Mittelalter versetzt. Unsere erste Wohnung in Braunschweig, Damm 18 hatte Wasserleitung und [Wasser-]Closet, in den übrigen Wohnungen gab es das aber nicht. Hamburg war weit voran in Deutschland […].65 64 Gut acht Jahre ­später werden sich Magnussens in der nächsten Wohnung ein Bad einbauen lassen, rund zwanzig Jahre nach der Hochzeit scheinen Badezimmer zum gutbürger­lichen Standard zu gehören. 1886 ermunterte Sophie ihren Vater, sich in der zu großen Hamburger Wohnung (Emma und auch Onkel Morchen waren gestorben) „eine Badestube“ einbauen zu lassen, er könne sich finanziell „diesen Luxus gern gestatten“ (Sophie, 9. 10. 1886). 65 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 46.

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Für das Dienstmädchen, das sich tagsüber überwiegend in der Küche aufhält (sie sitzt dort auch am Abend und näht), gibt es eine Mädchenkammer auf dem D ­ achboden, vier Treppen hoch, die zunächst gar nicht Ottos Vorstellungen entspricht, dann aber durch eine so geräumige ersetzt wird, dass eventuell auch zwei Mädchen dort schlafen können. Als ich neu­lich auf 4 Leitern den Boden unseres hauses erstiegen hatte und mir Herr D ­ anbert [der Hausbesitzer] die sogenannte Mädchenstube zeigt[e], bekam ich einen grossen Schreck, denn dieselbe war nichts als eine gewöhn­liche Bodenkammer mit unverschaltem Dach. Ich erklärte sofort, dass ich kein ordent­liches Mädchen dahin bringen könnte, und so ist uns denn jetzt eine hübsche Stube auf dem Boden eingerichtet, w ­ elche[s] einen Ofen bekommt, aber das Licht von oben durch ein[e] aus dem Dach herunterführendes F ­ al­licht erhält. Von dieser Stube, die gross genug ist um nöthigenfalls auch 2 Mädchen zu beherbergen, führt eine Tür nach einer kleinen Dachkammer, das gleichfalls ein Dachfenster hat, sodass Durchzug gemacht werden kann. Ausserdem haben wir dann noch als Bodenkammer den ursprüng­lich zu unserem Mädchenzimmer bestimmten Raum……. (Otto, 25. 6. 1867). Der zusätz­liche Bodenraum ist nicht der einzige Platz unter dem Dach, der zur Wohnung gehört, da gibt es noch einen Holz- und Torfboden auf dem Boden des Vordergebäudes (ebd.), fünf Treppen hoch, oder, alternativ dazu, einen Raum im Hinterhaus, drei Treppen hoch. Außerdem darf die auf dem Boden des Vorderhauses liegende Trockenstube nicht nur zum Trocknen, sondern auch zum Plätten mitbenutzt werden. Und natür­lich gibt es Keller (zwei Räume) und Waschhaus, die sind das Beste an der ganzen Wohnung (8. 9. 1867) – sagt Ottos ­Mutter. Alles in allem wirkt das schon ziem­lich aufwendig, wenn man bedenkt, dass Meyer Isler davon überzeugt war, dass seine Tochter einen kleinen Advokaten (21. 6. 1867) heiratet. Andererseits ist vieles, was uns heute üppig erscheint, ganz einfach Standard der damaligen Zeit für bürger­liches Wohnen. Raum für Heizmaterial musste vorhanden sein, den Keller brauchte man für die Vorratshaltung und alles rund ums Wäschewaschen und die ein oder zwei Mädchen ersetzen uns heute Maschinen. Wer jetzt denkt, dass nur Ess-, Wohn- und Schlafzimmer eingerichtet werden müssen – für das Büro hatte Otto ja Möbel –, täuscht sich. Auch die Küche und die Mädchenstube auf dem Boden müssen möbliert werden, bevor Dorette kommt. Diese junge Frau hatte Otto schon Ende Juni verpflichtet; sie tritt ihren Dienst am 1. Oktober an, also fünf Tage vor der Hochzeit. Für alle diese Arbeiten wird ein Tischler herangezogen, der allerdings leider nicht so schnell arbeitet, wie der ungeduldige Otto wünscht. Was aber den Keller betrifft: Hier werden, wie für die Speisekammer, die nötigen Borte (6. 9. 1867) angebracht und mit all dem gefüllt, was während des ganzen Sommers an Früchten und Gemüse in Braunschweig eingekocht wurde, damit Sophie und Otto gut über ihren ersten gemeinsamen Winter kommen. Es wird jetzt fast täg­lich etwas für uns eingemacht, z. B. [sind] gestern Kraasbeeren und heute Salzgurken und Bohnen. Du wirst also Deine Speisekammer hübsch garniert finden (Otto, 15. 8. 1867). Neu­lich sind Bohnen für uns eingemacht [worden], die Vorräte an Äpfeln und Kartoffeln sind auch schon besorgt (Otto, 20. 9. 1867).

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Und zwar, wie Sophie dann in Braunschweig zu ihrem Entsetzen erfährt: […] 3 Sorten kartoffeln (Sophie, 15. 10. 1867), […] auf Borten alle mög­lichen Äpfel und Birnen […] und ein besonders verschlossener Verschlag mit unserem Wein […] (Sophie, 19. 10. 1867). Da hat man wirk­lich an alles gedacht! Aber nicht nur Naturalien, sondern all die kleinen und großen Dinge, die in einem Haushalt nicht fehlen dürfen, werden nach und nach angeschafft. Mitte August berichtet Otto, dass seine ­Mutter und Schwester Anna auf der Topfmesse unsere Kücheneinrichtung gekauft haben (Otto, 11. 8. 1867). Man darf also annehmen, dass an Töpfen und Irdenem kein Mangel herrschen wird. Drei Wochen ­später heißt es: Nachher fuhren wir in eine Eisenhandlung, wo wir viele nütz­liche Sachen für unseren haushalt kauften., z. B.eine Wa[a]gschale, 1 Beil, 1 Hackmesser, 1 Gurkenhobel, verschiedene Bolzen und Zangen zum Plätten, verschiedene messer, Bratpfannen u. s. w. (Otto, 6. 9. 1867). Als Sophie schließ­lich von der Hochzeitsreise kommt, wird sie eine komplette Wohnung vorfinden, in der nichts Wichtiges fehlt. Auch die Betten werden bereits „gestopft“ sein, die Bettgestelle sind schon lange vorhanden, ebenso der Tisch, der ausgezogen für 14 Personen reichen soll, an dem Sophie aber bequem 16 Gäste unterbringen wird. Schon beim Möbelkauf hat sie darauf gesehen, schmale Stühle zu wählen, damit genügend Gäste nebeneinander sitzen können. Diese Stühle verteilen sich in Ess-, Fremden- und Schlafzimmer und werden nach Bedarf um den ausgezogenen Tisch versammelt. Prunkstücke der Einrichtung sind im Wohnzimmer Polstermöbel und Spiegel, die in Berlin gekauft wurden und kurz vor Ottos Reise zur Hochzeit in Braunschweig eintreffen sollen. Während des ganzen Sommers hängen die Vorbereitungen und der Hochzeitstermin vom Umbau der Wohnung ab. Immer wieder heißt es, dass der anfangs genannte 1. September als Enddatum gehalten werden könne, obwohl der Augenschein dagegen spricht. Doch Otto wiegt sich in Hoffnungen, weil er sich die Einhaltung des Datums so sehr wünscht und er auch nicht beurteilen kann, wie viel Zeit die ausstehenden Arbeiten noch benötigen. So vergeht schließ­lich der August, ohne dass an einen Einzug gedacht werden konnte. Anfang September wird Otto auf den 20. September vertröstet und erfährt schließ­lich am 6. September, dass auch dieser Termin nicht zu halten sei. Da ist nun schliess­lich das t­raurige Resultat herausgekommen, dass ich die Wohnung am 28.9. bekomme. Nun habe ich nach berlin geschrieben, dass die Möbel am 28.9. hier sein müssen (Otto, 6. 9. 1867). So gesehen erlebt Otto, obwohl er gar nicht der Bauherr ist, alle Leiden und Aufregungen, wie sie auch heute jedem passieren können, der ein Haus baut. Dabei sah die Sache mit dem Umbau anfangs relativ harmlos aus. Der Hausherr wollte das Haus umbauen und modernisieren, bevor er selbst mit hineinzog: Gas- und Wasserleitungen sollten gelegt werden. Beides ließe sich zügig abwickeln. Aber als Sophie mit der ­Mutter vom 6. bis 14. Juni nach Braunschweig kommt, kann sie die künftige Wohnung nicht einmal im Rohzustand besichtigen, weil keine Treppe vorhanden ist. Fast zwei Monate s­ päter, nachdem Otto von seinem dreiwöchigen Hamburgaufenthalt während der Gerichtsferien zurück­gekehrt ist, kann er end­lich etwas Positives an Sophie berichten: Die Wohnung ist Die Wohnung  

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jetzt schon überall in Putzlehm (also nicht mehr in Strohlehm). Es ist ein grosses Glück, dass ich heute gekommen bin, denn sie hatten schon Dummheiten mit den Gasanlagen gemacht, die ich jetzt glück­lich noch corrigiert habe, was frei­lich einige Kunst gekostet hat; z. B.war das Rohr für den gaskocher vergessen, weshalb die Wand noch einmal aufgerissen werden muss. […] Ich habe es heute durchgesetzt, dass wir auch in der Speisekammer Gasleitung bekommen, was sehr wichtig ist, weil das Local sehr dunkel ist. Jedenfalls ist es für die Wohnung in jeder Hinsicht wichtig dass ich hier bin (Otto, 6. 8. 1867). Auch wenn nun die Gasleitungen – eine sehr moderne Innova­tion – gelegt werden, befindet sich die Wohnung im Grunde immer noch im Rohzustand. Fenster und Türen fehlen, die Öfen müssen gesetzt werden, auch der Fußboden war noch nicht da und noch immer kann die Wohnung nur über Leitern erreicht werden. Außerdem: Der Sommer des Jahres 1867 war kein heißer, trockener Sommer, sondern häufig kühl und regnerisch, besonders im Juli. Da war die Mitteilung, dass end­lich Putzlehm an Wänden und Boden sei, keine tröst­liche. Wie sollte das trocknen bei dem Wetter? Deshalb fragt Sophie zurück: Hast Du über künst­liches Trocknen gesprochen, und kannst Du es erreichen, dass die treppe bald gemacht wird? (Sophie, 7. 8. 1867). Aber leider geht der Hauswirt nicht auf Ottos Bitte ein: Auf das künst­liche Trocknen will sich herr Danbert noch nicht einlassen, nament­lich weil die Lehmschläge auf dem Fussboden am feuchtesten sind, und bei diesen das künst­liche Trocknen nicht helfen soll. […] Die treppe soll in etwa 8 Tagen fertig werden (Otto, 8. 8. 1867). So also geht der August ins Land, ohne dass merk­liche Fortschritte zu verzeichnen sind. Jetzt end­lich erreicht Otto, dass Trockenöfen eingesetzt werden. Sophie bedauert ihn, weil er dazu immer neue Gespräche führen muss: Du dauerst mich mehr als ich sagen kann wegen aller Quälereien, gerade diese kleinen Unannehm­lichkeiten sind Dinge, die mürbe machen, und es ist ja bekannt, dass es bei einem bau nie so geht, wie man es sich vorher denkt. Wenn es nur trocken wird, will ich schon zufrieden sein … (Sophie, 20. 8. 1867). Doch leider muss sich Otto auch darum kümmern, dass das Trocknen richtig vonstattengeht. Kein Tag vergeht, ohne dass er nicht die Baustelle besucht und ratend und rettend eingreift. Ehe ich hinaus fuhr war ich nochmals in unserer Wohnung, um mich nach den Trockenöfen umzusehen, dieselben waren in vollem brande, aber so weit von der Wand placiert, dass sie garnicht wirken konnten. Ich liess sie deshalb näher rücken. Man muss sich um Alles selbst kümmern sonst werden lauter Dummheiten gemacht. Herr Danbert hatte die kühne Idee, die Öfen, ­welche ledig­lich aus Körben in ziem­lich weit von einander entfernten Eisenstäben bestehen auch in der Nacht fortbrennen zu lassen, ohne eine Wache dabei zu stellen, wodurch natür­lich die grösste Gefahr an Feuerbrunst herbeigeführt würde. Ich habe deshalb gerathen, die Öfen abends ausgehen zu lassen und morgens wieder anzuzünden (Otto, 21. 8. 1867). Jetzt end­lich beginnt die Veränderung sichtbar zu werden, denn Otto kann noch im selben Brief von Erfolgen am nächsten Tag berichten: In unserer Wohnung ist der Fortschritt jetzt auch merk­lich wenn man nicht 8 Tage fortbleibt! Es werden Fussböden gelegt und Öfen

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gesetzt, und mit dem Trocknen der Wände wird mit dem besten Erfolg fortgefahren. Ich betreibe die Sache mit Rath und Tath und Trinkgeldern (Otto, 22. 8. 1867, im Brief vom 21. 8. 1867). Otto war also inzwischen dazu übergegangen, Arbeiter und Handwerker zu „schmieren“, und jetzt geht es erkennbar voran. Am 24. August end­lich – das war ein Sonnabend – kann er nach Hamburg melden: Am Montag bekommen wir die Treppe. Wenn man bedenkt, wie häufig die Treppe angemahnt wurde und wie lange schon Otto nur über Leitern in die Wohnung gelangen konnte, um sich nach Fortschritten umzusehen, dann ist das wahr­lich eine außerordent­liche Meldung. Die Wohnung nimmt Gestalt an, wenn auch immer wieder unerwartete Probleme auftauchen: In unserer Küche wurde gestern der herd gesetzt. Eine Verzögerung ist dadurch eingetroffen, dass Herr Koppe[r] beabsichtigt hatte, die alten Türen wieder in unserer Wohnung anzubringen. dass er aber die Unmög­lichkeit einsieht, und nun noch neue Türen machen lassen muss (Otto, 31. 8. 1867, morgens, 7 Uhr). Selbst wenn man weiß, dass die Hochzeit schließ­lich erst am 6. Oktober stattfinden wird, erschrickt man über diese Mitteilung. Bei den Türen geht es ja nicht um einen Fabrikkauf, sondern um die individuelle Herstellung in einem Handwerksbetrieb. Wie soll das zeit­lich zu machen sein? Die Türen müssen ja auch noch gestrichen werden! Aber w ­ elche Farbe soll man für Türen und Fenster wählen? Otto wünscht sich auch dafür Mahagoni (selbst Wandhaken hatte er in dieser Farbe gekauft), aber Sophie ist für Weiß und kann Otto umstimmen. Wegen der ölfarbenanstriche habe ich gestern endgültig mit Herrn Kopper und Danbert gesprochen und es wird nun Deinen Wünschen gemäss alles weiss angestrichen. Dies ist auch mir das Liebste, da es am freund­ lichsten aussieht und nament­lich bei unserem niedrigen Zimmer in dem auch die grossen Fensternischen gemalt werden und bei unseren dunklen gardinen ein Mahagony Anstrich leicht zu düster gewesen wäre. Fortschritte waren frei­lich wenig zu sehen. Die Türen sind noch nicht fertig und werden auch vor Ende der Woche nicht fertig werden (Otto, 4.9.[1867], 7 Uhr morgens).

Als Otto wieder von Fortschritten berichtet, schreibt man bereits den 17. September: Das Malen in unserer Wohnung hat gestern begonnen. […] Bei uns sind alle Fussböden, auch die die Decken bekommen, gefirnisst (nicht gemalt), da man ja im Sommer die Decken wegnimmt und es dann unangenehm wäre, weisse Fussböden zu haben (Otto, 17. 9. 1867, im Brief vom 16. 9. 1867). Auch elf Tage ­später, am 28. September, der als endgültiges Datum genannt worden war, ist die Wohnung noch nicht fertig, aber zum Glück sind auch die Möbel, die an ­diesem Tag kommen sollten, nicht eingetroffen. Sie sollen nun am 1. Oktober kommen, zugleich mit dem Dienstmädchen. Damit ist gleich Hilfe beim Einräumen zur Hand, denn Dorette erweist sich schnell als tüchtige Kraft. Jetzt end­lich geht alles unerwartet schnell: Montag abend [30.9.]. Der Möbelwagen aus berlin ist schon eingetroffen. Der Fuhrmann kam zu mir und war in Verzweiflung weil man ihn nicht ins Tor lassen wollte. Ich ging sogleich mit ihm zur Polizei und bekam die Erlaubnis. Er wird morgen früh um 6 Uhr ausgepackt. Ich werde also morgen Abend hoffent­lich ziem­lich eingerichtet sein und bereits in einem neuen bett schlafen können….. (Otto, 30. 9. 1867). Die Wohnung  

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Angesichts der Bauherrensorgen, die sich in 140 Jahren nur unwesent­lich verändert haben, vergisst man ganz, dass Ottos und Sophies Hochzeit doch in einem ganz anderen Zeitalter stattfand, vor der Motorisierung. Die Möbel kamen mit dem Fuhrwerk, also mit Pferd und Wagen, von Berlin nach Braunschweig, und so ganz exakt ließ sich da nicht sagen, wann sie eintreffen würden. Am Tor wurden sie aufgehalten! Wie andere Städte auch hatte die Stadt Braunschweig eine funk­tionierende Torwache, die einkommende Fuhrwerke und Personen kontrollierte und natür­lich eine ganze Wagenladung Berliner Möbel nicht so ohne ­weiteres passieren lassen wollte. Da musste Otto persön­lich mit den Zollbefreiungspapieren bei der Polizei auftreten und „seine“ Möbel in die Stadt holen. Solche Vorfälle werden sich erst nach 1871 ändern, wenn die deutschen Staaten sich zu einem Reich zusammenschließen und ihre föderalistischen Unterschiede nach und nach abbauen und wenn Wirtschaftswachstum und Industrialisierung noch mehr Menschen in die Zentren ziehen, sodass die Mauern fallen müssen, weil Platz für die wachsenden Städte gebraucht wird. Noch heute sieht man auf den Stadtplänen vieler deutscher Städte, wie eng die Mauern den alten, kleinen Stadtkern umschlossen und meist jahrhundertelang in seinem Umfang festhielten. Das änderte sich erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Wohnungsmäßig steht der Hochzeit nun nichts mehr im Wege, ehr­licherweise muss man aber berichten, dass die Bauarbeiten noch immer nicht abgeschlossen sind. Wäre nicht Ottos Schwester Anna gewesen, die sich während Ottos Abwesenheit vor und nach der Hochzeit um die Wohnung kümmerte und auf Fertigstellung drängte, hätte das junge Paar nach der Ankunft in Braunschweig zunächst ins Hotel ziehen oder doch erst einmal bei Tante ­Jeanette [Helfft*] wohnen müssen. Sophie erfährt nach ihrer Ankunft in Braunschweig, dass Anna wie ein Pferd gearbeitet habe: […] sass allen Handwerkern auf dem nacken, holte sie aus ihren Wohnungen, zankte sich mit ihnen bis sie kamen und die Arbeiten lieferten, legte selbst mehr Hand an als alle anderen zusammen, kurz ihr allein haben wir es zu danken, dass wir alles so schön gefunden haben (Sophie, 26. 10. 1867). Die Wohnung ist also fertig und weitgehend eingerichtet, wenn auch die Hamburger Sachen anfangs noch fehlen, aber das Haus selbst ist immer noch eine Baustelle und wird es noch eine Weile bleiben. Doch Sophie und Otto geniert das nicht, sie sitzen in ihrer Wohnung beieinander, wie Otto es sich vorher ausgemalt hatte: Er arbeitet am Tisch und sie schreibt Briefe an die Eltern an ihrem neuen Schreibtisch. Und das Licht liefert die Gasbeleuchtung, die in jeder Hinsicht ein Volltreffer ist – so modern, so einfach zu bedienen, so sauber und hell!

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DIE GA SBELEUCHTUNG Dabei war Gas als Licht-, Wärme- und Energiequelle bereits im 17. Jahrhundert entdeckt 66 worden, kam aber erst mit der Industrialisierung in England in Gebrauch, nicht in den Wohnungen, sondern in den Fabriken. Zu Gas­licht in Wohnungen war noch ein langer Weg zurückzulegen. Zwar fanden sich schon in den 1820er-­Jahren Gasanstalten in größeren Städten wie Hannover, Berlin, Aachen, Köln und Wien, aber das hieß nur, dass Gas­licht in Fabriken, in Geschäften und auf der Straße verwendet wurde 67. Erst in den 1850er-­Jahren des 19. Jahrhunderts fand die Gasbeleuchtung ihren Weg in die Wohnungen.68 Aber auch jetzt noch beschränkte sich die neue Lichtquelle auf die Peripherie der Wohnung, auf Eingangshalle, Treppenhaus und Küche. In Salon oder Wohnzimmer durfte das Gas­licht lange nicht. Dabei hatte die neue Beleuchtung so außerordent­liche Vorteile gegenüber den bisherigen Öllampen, dass man gar nicht sofort begreift, was die Übernahme in die ganze Wohnung verzögerte: Gas ist sehr hell, „blendend weiß“69, leuchtet gleichmäßig den ganzen Raum aus und ist mit wenigen Handgriffen zu bedienen. Es rußt nicht, macht keine Ölflecke und muss nicht dauernd gewartet werden. Das war doch ein deut­licher Fortschritt! Trotzdem setzte sich die neue Lichtquelle nicht wirk­lich durch. Die sach­lichen Gegen­ argumente mischten sich mit einer psychisch begründeten Abwehr. Da war zunächst ein ähn­ liches Missbehagen angesichts der technischen Entwicklung, wie es auch anfangs gegenüber der Eisenbahn bestand. Wer Gas­licht benutzen wollte, wurde an ein zentrales Netz angeschlossen, verlor sozusagen seine häus­liche Autarkie: „Beide Systeme wurden als eine riesige krakenhafte Ausdehnung der Industrieanlage erfahren, an die als Konsument angeschlossen zu sein etwas höchst Beklemmendes hatte.“70 Dann gab es die Angst vor einer Explosion. Das war einleuchtend, mussten die riesigen Gasometer aus eben ­diesem Grunde doch am Stadtrand gebaut werden. Außerdem: Dass Gas lautlos austreten und zur Vergiftung führen konnte, war ein wichtiger Einwand. Weitere Kritikpunkte waren der Sauerstoffmangel, der 66 Die Darstellung in d ­ iesem Kapitel orientiert sich an: Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künst­ lichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München/Wien: Hanser 1983. Im Folgenden: Schivelbusch, Lichtblicke. 67 Ebd., S. 38. 68 Ab 1858 gibt es für alle, die sich informieren wollen, das „Journal für Gasbeleuchtung“. 69 Schivelbusch, Lichtblicke, S. 45. 70 Ebd., S. 34 f.

Die Gasbeleuchtung   |

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bei Gas­licht eintreten konnte, und die Hitze, die in Ballsälen oft als „tropisch“ bezeichnet wurde. Aber für den Wohnbereich einer bürger­lichen Wohnung konnten diese Argumente in den 1860er-­Jahren eigent­lich gar nicht herangezogen werden, weil hier in der Regel ja nur eine Lichtquelle angebracht wurde. Viele vorgeschobene Argumente also. Vor allem aber war es das Licht selbst, das Unbehagen erzeugte: die weiße Helligkeit, das Fehlen eines Dochts, das „Technische“ dieser Neuerung und die Sorge, dass Gas­licht vielleicht doch die Augen schädigte. Vergleicht man diese Befürchtungen mit dem Petroleum, das sich ganz anders und schnell durchsetzte, wird noch deut­licher, wie sehr die meisten Vorbehalte im schwer Bestimm­ baren wurzelten. Seit ungefähr 1860 löste Petroleum das organische Öl ab und stand in der Helligkeit dem Gas nicht nach. Trotzdem war Petroleum aus unserer Sicht ein Rückschritt gegenüber der Gasbeleuchtung, denn die Lampe musste täg­lich gewartet werden und die genaue Dosierung des Dochtes, der nicht „blaken“ durfte, brauchte viel Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl. Auch blieb die Gefahr, dass die offene Flamme bei unachtsamer Benutzung einen Brand auslösen konnte. Doch anders als das gleichsam wesenlose Gas­licht hatte die Petroleumlampe ein Licht auf materieller Basis, war damit „natür­licher“ und den Menschen angenehmer, während das Gas lautlos und unsichtbar durch die Gasleitungen floss. Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis mischen sich auch in Sophies und Ottos Briefen über die Gasbeleuchtung. Beide sind aufgeschlossen genug, um es mit Gas­licht versuchen zu wollen. Dass sie am Ende eine Wohnung beziehen sollten, die vollständig mit Gas beleuchtet wird und in der sogar Gas fürs Kochen eingesetzt werden konnte, war außerordent­lich! In dieser Beziehung ist Braunschweig also keine zurückgebliebene Kleinstadt und – das darf man in d ­ iesem Zusammenhang nicht vergessen – Otto ist Technik und Naturwissenschaften wesent­lich mehr zugeneigt als seine aus einem eher philosophierenden Elternhaus stammende Braut. Aber die Technologie ist noch ungewohnt, eigene Erfahrungen fehlen – weder die Hamburger noch die Braunschweiger Eltern haben Gasbeleuchtung –, und so sind auch Sophie und Otto am Anfang vorsichtig in der Frage, wo überall sie eigent­lich Leuchtgas haben wollen. Schnell ist für beide klar, dass Gas­licht im Schrankzimmer sein muss: Die besondere Helligkeit der neuen Lichtquelle wird hier in erster Linie gebraucht. Bei den Wohnräumen sieht die Sache anders aus. Während Sophie im geplanten Fremdenzimmer für Gas plädiert, bleibt Otto zurückhaltend: [W]egen des Fremdenzimmers wollen wir uns die Sache noch überlegen (Otto, 29. 4. 1867). Der Wunsch, die neue Technologie auch als Kochmög­lichkeit zu ­nutzen, kommt rollengerecht von Sophie und Otto braucht in dieser Frage genaue Angaben: Schreibe mir doch, wo Du wünschst dass der Gasarm für den Theekessel angebracht wird. Die Gasröhren werden bald gelegt und dabei muss auf den Theekessel Rücksicht genommen werden (Otto, 30. 4. 1867). Damit kommt der Gasanschluss ins Zentrum der Wohnung – nur: Wo würde man den Tee bzw. ­Kaffee ­später nehmen? Im eher privaten Ess- oder im Wohnund Empfangszimmer, also dem eigent­lichen Kulmina­tionspunkt bürger­lichen Wohnens? Sophie hat genaue Vorstellungen: Der Gasarm für den Theekessel muss neben den Ofen in solcher Höhe, dass es für einen kleinen menschen nicht anstrengend ist, einen vollen

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­ essel zu heben. In welches Zimmer aber, kann ich nicht bestimmen: es wäre ja das richK tigste, wenn er in das esszimmer käme, wie wir ja das kleine genannt haben. Wenn wir aber im Winter das grosse heizen wollen, müssten wir ja da ­Kaffee trinken, und in dem Fall müsste er dort sein und zwar denke ich ­zwischen ofen und Thür, wenn näm­lich an die andere Seite das Sopha sollte. Letzteres aber will mir nicht einleuchten […]. Können wir Gas auf den Vorplatz bekommen? Das möchte ich sehr gern, weil es die beste Beleuchtung und sehr bequem ist. […] Solltest Du dafür sein, dass wir unser grosses Zimmer mit Gas beleuchten und es jeden Abend brennen, dann möchte ich Dich bitten, es über dem Tisch und nicht in der Mitte des Zimmers anbringen zu lassen, weil man sonst, wie vielfache Erfahrung gezeigt hat, nichts sehen kann. Ich glaube aber wir ziehen beide Lampen für den täg­lichen Gebrauch vor (Sophie, 1. 5. 1867). Diese Passage zeigt den ganzen zeitgenös­sischen Zwiespalt: Sophie ist für einen Gasarm zum Kochen im Wohnzimmer, aber gegen Gas­licht eben dort. Das ist zu erklären: In Sophies Brief geht es zuerst um die Tee- bzw. Kaffeezubereitung durch die Hausfrau selbst – die überließ man nicht dem Personal. Der „Gasarm für den Theekessel“, den die Hausfrau eigenhändig n ­ utzen will, unterstreicht die Privatheit des Vorgangs, ja die Intimität, die nicht durch Dienstboten gestört werden soll. Hier also ist die neue Technologie erwünscht und ein Vorzeigeobjekt: Seht her, wir bereiten den ­Kaffee/Tee mit dem modernen Gasarm und nicht wie andere mit der gemüt­lich-­geheimnisvollen blauen Spiritusflamme – Islers z. B.überlegen nach Sophies Auszug die Anschaffung einer solchen „Kaffeemaschine“, um schneller und im Wohnzimmer über kochendes Wasser verfügen zu können, zumal der eigene Herd im Augenblick unbenutzbar ist 71 (Meyer, 26.10. 1867). Sehr hinreißend auch der verdeckte Hinweis auf Sophies geringe Körpergröße, auf die im Briefwechsel immer wieder angespielt wird, so etwa, wenn sich Otto viele Fußbänke zur Hochzeit wünscht, weil meine kleine Frau die sehr nöthig hat (Otto, 5. 5. 1867). Nun aber wird es schwierig: Der Sache nach gehört der „Gasarm für den Theekessel“ ins Esszimmer, aber den „Tee oder K ­ affee nehmen“ ist im bürger­lichen 19. Jahrhundert nicht gleichzusetzen mit dem täg­lichen Essen, sondern hat eher einen gesellschaft­lichen Charakter. Man trifft sich dazu im Salon oder Wohnzimmer. Hier aber geht es nun nicht mehr allein um heißes Wasser, sondern auch um die Beleuchtung. Wie sehr Sophie sich in der kulturellen Tradi­tion bewegt, wird deut­lich, wenn sie wünscht, dass, wenn überhaupt Gas­licht, ­dieses doch über dem Tisch angebracht werden solle. An dieser Stelle schließt das Licht Familie oder auch Gäste zusammen und konzentriert auf das gemeinsame Gespräch und das Zusammensein. Aber warum soll man hier überhaupt das unpersön­liche Gas­ licht nehmen? Auf die Behag­lichkeit, die eine Petroleumlampe einem Raum verleiht, will Sophie nicht verzichten und weiß sich darin mit dem Bräutigam so gut wie einig.

71 Durch das Hochzeitsessen war ein Schwelbrand entstanden, der umfangreiche Reparaturen erforderte. Näheres im Kapitel „Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert“ unter „Emma Isler“.

Die Gasbeleuchtung   |

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Ottos Antwort zeigt, dass sie sich nicht getäuscht hat: Was den gasarm für den Theekessel betrifft, so glaube ich, dass wir ihn in das grosse Zimmer nehmen müssen. […] Auf den Vorplatz bekommen wir Gas. […] Ich bin nicht dafür Gas in die Zimmer zu legen (Otto, 2. 5. 1867). Erklärungen oder Begründungen für seine Ansichten liefert Otto nicht, er hakt ledig­lich Sophies Fragen ab. Aber schon einen Tag s­ päter hat er neue Informa­tionen, die das Gespräch über Gas beleben: Louise Schulz° die in allen Zimmern, selbst im Schlafzimmer, Gas hat, rät mir sehr dazu es ebenso zu machen, da sie sehr damit zufrieden ist und gar keine Unannähm­lichkeit verspürt. Sie sagt mir, dass sie gar keine Öllampe besitzt. Was meinst Du dazu? (Otto, 3. 5. 1867). Und auch Sophie hat sich umgehört: Willst Du [es] nicht den Deinen die Frage vorlegen, ob sie es nicht für zweckmässig halten auch in die Küche einen Gasarm zum Theekessel zu nehmen. Man spart sehr viel Feurung, wenn man nicht um jeden Tropfen Wasser den Herd zu heizen braucht; zum Nachmittagskaffee und zum Abendbrot würde man es viel einfacher herstellen, man kann auf solchem Arm auch Kleinig­keiten wie Eierspeisen oder Sachen, die man aufwärmen will, kochen. Verzeih diese sehr häus­lichen Details, mit denen ich Dich s­ päter gewiss verschonen will, aber jetzt bist Du doch das natür­lichste Medium (Sophie, 3. 5. 1867). Für Sophie stehen das Praktische und die Rentabilität des Gasanschlusses im Vordergrund. Sie will die Heizkraft der neuen Technologie ­nutzen. Nicht wegen Kleinigkeiten jedes Mal den Herd anfeuern zu müssen oder gar aus finanziellen Erwägungen auf die Zubereitung einer Zwischenmahlzeit zu verzichten, erscheint ihr als wirk­licher Vorteil. Ihre Haltung zeigt außerdem, wie sehr sie gewöhnt ist, auf sparsame Haushaltsführung zu achten. Jeder Tropfen heißes oder gar kochendes Wasser musste damals auf dem Herd hergestellt werden, über lange Stunden war demnach Glut im Ofen zu halten, um ohne größere Verzögerung Wasser erhitzen zu können – nicht alle Hausmädchen beherrschten diese Kunst, sie mussten angelernt und überwacht werden. Die Heizwirkung des Gases konnte hier unproblematisch abhelfen und schuf eine neue Form der Bequem­ lichkeit. Das war es, was Sophie interessierte. Ganz anders steht sie zu dem Vorschlag, in der ganzen Wohnung Gas­licht zu haben. Über Louise Schulz’ Vorschlag, in alle Zimmer Gas zu nehmen bin ich mir noch nicht einig; oder vielmehr, ich glaube nicht, dass ich es im Wohnzimmer jeden Abend brennen möchte. Es zu haben ist ja wundervoll, doch wäre es ein Luxus eine Gaskrone anzuschaffen. In nicht sehr hohen Zimmern ist Gasluft entschieden unangenehm, und da wie Du sagst Deine Augen nicht sehr stark sind, so ist auch darauf die grösste Rücksicht zu nehmen. In der Schlafstube finde ich es auch sehr wünschenswert. Hier haben die meisten an jeder Seite der Toilette einen Arm. Jedenfalls dürfte es nicht in der Mitte des Zimmers sein, weil man da der Betten wegen nicht anreichen kann (Sophie, 4. 5. 1867). Tante Minna Leppoc* allerdings rät, überall Gas zu nehmen: Alle die es haben preisen die grosse Bequem­lichkeit (Sophie, 4. 5. 1867, abends). Während Sophie zunächst die landläufigen Bedenken gegen Gas aufzählt, taucht nun auch in der Beleuchtungsfrage das Argument „Bequem­lichkeit“ auf. Und die sollte am Ende den Ausschlag geben.

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Wer Gas­licht im Wohnbereich akzeptiert, der muss sich Gedanken über die „Gaskrone“ machen, die man an der Zimmerdecke anbringt. Wo soll sie hängen? Diese Frage ist bei Sophie und Otto noch offen. […] ich zerbreche mir den Kopf ohne zu einem Resultat zu kommen, schreibt Sophie am 16. Mai – Otto ist inzwischen in Hamburg gewesen und hat offensicht­lich mit Sophie und anderen die Gas­lichtfrage diskutiert. Er neigt jetzt nicht nur zu einer Zentralbeleuchtung an der Zimmerdecke, sondern auch zu einer Gaslampe auf dem Tisch. Deine Wünsche wären wohl am Besten erfüllt, wenn wir eine Gaskrone nähmen und von da aus einen Schlauch in eine Lampe[,] die man auf den Tisch stellt und am Tage wegnimmt, leitet. Das sieht nur für das Zimmer nicht hübsch aus, weil der Schlauch auf einer Seite den Durchgang hemmt. Es haben hier viele Leute. Deine Idee mit einer Hängelampe scheint mir nicht recht ausführbar. Wenn wir allein sind, gewinnen wir nicht viel mehr, als wenn wir eine Öllampe anstecken, und haben wir Besuch, so sieht es schlecht aus (Sophie, 16. 5. 1867). Ottos Vorschlag ist so wenig praktikabel, dass man sich wundert, dass Sophie überhaupt darauf eingeht. Doch wird daran deut­lich, wie anhaltend das junge Paar sich mit der Leuchtgasfrage auseinandersetzt und immer neue Ideen aufnimmt oder produziert. Dabei geht es nach wie vor um Gaskocher und um Gas­licht. Zum zweiten Mal mahnt Sophie an, dass Otto sachverständigen Rat einholen möge in Sachen Gaskocher: [E]rkundige Dich doch ob eine Lampe mit einem so grossen brenner nicht sehr heiss macht. Ferner frage Sachverständige, ob es nicht billiger ist, Wasser auf Gas kochend zu machen, als eigens den Herd dafür zu heizen (Sophie, 20. 5. 1867). Dieses Mal wird tatsäch­lich in Braunschweig eine regelrechte „Gaskonferenz“, nicht die erste, abgehalten und deren Ergebnis gleich Sophie mitgeteilt: Gestern Abend waren wir bei tante Helfft und haben da wieder eine grosse Gasconferenz gehalten. Die Meinigen sind alle dafür, dass wir im Wohnzimmer gewöhn­lich eine Öllampe brennen und für Gesellschaften eine Gaskrone in die Mitte des Zimmers nehmen. Das wird wohl in jeder Beziehung das Praktischste sein, denn sonst könntest Du ja auch z. B. Abends nicht an Deinem Schreibtisch schreiben. Vater meint, ich solle auch in mein[em] Arbeitszimmer regelmässig eine Öllampe brennen, weil das für meine Augen zweckmässig sei….. (Otto, 21. 5. 1867, morgens, 8 Uhr).

Ja, da berät nun die ganze Braunschweiger Familie über die Gasangelegenheit des jungen Paares. Man sitzt, vermut­lich um eine Öllampe, bei Tante Jeanette Helfft*, die man oft am Nachmittag oder Abend besuchte und an allen Entscheidungen beteiligte, denn sie war, wie wir bereits wissen, zwar Witwe, aber auch Unternehmerin und führte die Geschäfte ihres Mannes fort – eine selbständige Frau also, deren Wort schwer wiegt. Hier nun wird die Unterscheidung ­zwischen quasigesellschaft­lichem (Gas-)Licht und privater (Öl-)Lampe gemacht. Sitzen Sophie und Otto allein am Tisch, „reicht“ die Öllampe; sie wäre auch für die Augen besser, rät der medizinische Vater Magnus. Für Einladungen brauchen sie die helle Gaskrone. Die Frage eines Gasarms zum Wasserkochen in der Küche wurde offensicht­lich nicht besprochen, die klärt Otto an anderer Stelle: Im Club habe ich mit Kabel und anderen eine Gasconferenz gehalten. Sie meinen ich solle in der Küche keine Kocheinrichtung Die Gasbeleuchtung   |

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nehmen, weil die Mädchen stets Unfug damit treiben. Wenn man schnell Wasser kochen wolle, so könne man das auch im Zimmer (Otto, 25. 5. 1867, 10 Uhr). Dass da eine Riege Männer darüber berät, ob in die Küche Gas zum Kochen kommt oder nicht, ist bei der Rollenauf­ teilung Mitte des 19. Jahrhunderts schon absonder­lich, entschuldigt sich Sophie ja an a­ nderer Stelle, weil sie Otto mit „häus­lichen Details“ behelligt. Andererseits gehört die Frage der Sicherheit der Wohnung wiederum ins männ­liche Ressort. Wie auch immer – entschieden ist die Frage immer noch nicht. Der gemeinsame Möbelkauf in Berlin führt in der Gasbeleuchtungsfrage end­lich zu Ergebnissen: Bei der Firma Spina & Sohn kauft man das nötige Zubehör. Allerdings fällt Sophie auf, dass der Gasarm für den Vorplatz wohl vergessen wurde. Beim Durchlesen Deines Verzeichnisses finde ich keinen Gasarm für den Vorplatz, ist das nur ein versehen, oder haben wir es wirk­lich vergessen? In dem Fall möchtest Du an Spina deswegen schreiben. Vergiss auch nicht den 3 armigen Kronleuchter zum Schlauch einrichten zu lassen (Sophie, 8. 7. 1867). Aber Otto hat alles im Blick gehabt und kann deshalb gleich erklären, warum er den Gasarm für den Vorplatz noch nicht bestellt hat: Er nimmt an, dass der Hauswirt den liefert, während die Einrichtungen in der Wohnung auf die Mieter fallen. Dass er mit d ­ ieser Annahme Recht hatte, kann er schon am nächsten Tag berichten. Neu ist die folgende Passage, die deut­lich macht, dass Sophies vielerlei Drängen auf sparsames Wasserkochen doch gefruchtet hat: Ich habe mir überlegt, dass es doch zweckmässig wäre auch an den gasarm in der Küche die Einrichtung zur Anlage des Kochapparates anbringen zu lassen, und werde dies auch bestellen (Otto, 9. 7. 1867). Damit setzt sich Otto über die Ratschläge seiner Klubfreunde hinweg, vertraut seinen Hausangestellten und folgt seinem Bedürfnis, die Mög­lichkeiten des Gasanschlusses auf doppelte Weise zu n ­ utzen und an dessen „Bequem­lichkeit“ teilzuhaben. Als end­lich die Gasröhren in der Wohnung überall gelegt werden, drängt die Zeit; die in Berlin erworbenen Gasapparate sollen sofort nach Braunschweig geliefert werden, was bei Sophie Protest auslöst: Ich begreife gar nicht, was die Gaskronen in Braunschweig sollen ehe die Wohnung fertig ist, und ich muss Dich inständig bitten, dass sie nicht eher kommen als bis alles: Malen, Tapezieren etc fertig ist, sie würden sonst total ruiniert. Oder ist es nur wegen der Weite der Röhren und ist die nicht überall gleich? Mir ist die Sache unverständ­ lich und beunruhigt mich etwas. Heute steht im Correspondenten dass die G ­ ascandelaber von Spina & Sohn sich auf der Pariser [Welt-] Ausstellung auszeichnen und dass sehr schöne gothische und Renaissancesachen da sind. Sind unsere gothisch oder Renaissance? Die Totalsumme ist noch immer fabelhaft billig (Sophie, 10. 8. 1867). Die Berlinreise hat sich also in jeder Hinsicht gelohnt: Sophie und Otto haben nicht nur preiswert gekauft, sondern auch mit sicherem Instinkt eine Firma bevorzugt, deren Produkte auf der Weltausstellung in Paris gerühmt wurden und wegen ihres historisierenden Stils auffielen. Damit haben beide für ihre Gasbeleuchtung das im Wortsinn Ausgezeichnetste erworben. Und noch eins: Historismus! Das ganze 19. Jahrhundert hindurch wurde immer wieder auf Elemente früherer Stilkulturen zurückgegriffen, nicht nur in der Architektur, wo Schinkel Meister­liches leistete

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und Norddeutschland mit seinen und seiner Schüler Bauten überzog, sondern bis in die Gegenstände des täg­lichen Bedarfs hinein feierten Klassik, Gotik, Barock, Renaissance u. a. fröh­liche Auferstehung. Eine letzte Klippe bildeten die Gasschläuche: Soll man Gummischläuche nehmen oder die in Hamburg üb­lichen lackierten? Zu den letzteren rät Sophie, weil Gummi immer riecht, wenn es erwärmt wird, gleichviel ob es dick oder dünn ist. Es ist ein eigenthüm­licher penitranter Geruch der vom Gummi selbst ausgeht und der bei den lakierten Schläuchen nicht ist; sie werden hier jetzt allgemein benutzt (Sophie, 19. 8. 1867, morgens, 11 Uhr). Doch Otto hätte lieber Gummischläuche, weil sie elastischer wären und seiner Meinung nach nicht so leicht brächen. Seine unterschied­lichsten Freunde und Bekannten bestärken ihn in dieser Meinung. Da aber Sophie noch immer lackierte möchte, wird die Entscheidung vertagt, bis sich Otto in Hamburg die lackierten Schläuche ansehen kann. So bleibt auch diese Frage, wie die des Teppichs, bis zur Hochzeit offen. Das aber hindert nicht, dass Otto am 30. August an Sophie schreiben kann: Mit Ausnahme der Kronleuchter ist alles schon angemacht. Wir haben in unserer Etage keinen einzigen Raum ohne Gasbeleuchtung (Otto, 30. 8. 1867, morgens, 6 1/2 Uhr). Das ist wört­lich zu nehmen: Sogar in der Speisekammer leuchtet das moderne Licht. Amüsant und lehrreich ist dieser kulturhistorische Exkurs. Er zeigt nicht nur, wie man sich vor 140 Jahren einrichtete, sondern vor allem, wie man technische Neuheiten behandelte: begeistert und schnell entschlossen, aber auch sorgfältig abwägend und vielfach sich beratend. Wichtiger aber ist, wie Sophie und Otto hier und in anderen Fällen mit unterschied­ lichen Standpunkten und Meinungen umgehen. Wie sie auf der einen Seite Entschlossenheit und Logik einsetzen, um einander zu überzeugen, und auf der anderen Seite auf die Bedenken und das Zögern des Gegenübers hören, zurückstecken, sich überzeugen lassen und Posi­tionen räumen. Immer von neuem wird durchgespielt, wie sie sich im Konfliktfall in ihrer Ehe zu verhalten gedenken: Sie werden sich kundig machen, Ratschläge einholen, argumentieren und dem Gegenüber zuhören, Argumente zu sich sprechen lassen und nach gemeinsamen Lösungen suchen. Wo die nicht zu finden sind, weichen beide auf Liebe und Anpassung aus: Wenn es dir gefällt oder wichtig ist, wird es mir am Ende auch gefallen und richtig erscheinen. Was die Situa­tion in Zukunft erleichtern wird: Sophie und Otto werden in Braunschweig einen Beraterkreis haben und dadurch öfter von vornherein zu einer einheit­lichen Meinung kommen. In Hamburg war Sophie so eng mit den Eltern und dem Hamburger Freundesund Verwandtenkreis verbunden, dass sie mit Autorität und Sicherheit eine andere Meinung als Otto vertreten konnte. Die stärkste Posi­tion hatte Emma Isler in d ­ iesem Kreis und der Tochter gegenüber, wenn auch Entscheidungen wohl nie ohne Meyer Isler gefällt wurden. Damit rückt Emma Isler in unseren Blick und in gewisser Weise auch die Frauenfrage, sind doch Überlegungen zu Sophies Eigenständigkeit hier zu verankern.

Die Gasbeleuchtung   |

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FR AUENBILDUNG UND FR AUENLEBEN IM 19.  JAHRHUNDERT

In ihren Brautbriefen hat sich Sophie Isler bisher als selbständig denkende junge Frau präsentiert, die ihrem Bräutigam gleichberechtigt begegnet und mit ihm die Grundlagen ihrer künftigen Gemeinsamkeit bespricht. Dass dabei auch die Geschlechterrollen mitverhandelt werden, lenkt den Blick darauf, ­welche Vorstellungen und Verhaltensweisen bürger­liche Frauen im 19. Jahrhundert in die Ehe einbrachten und worin die hier auftretenden jüdischen Frauen der allgemeinen Entwicklung entsprachen oder von ihr abwichen. Um dieser Frage nachzugehen, wird die Darstellung in den folgenden acht Unterkapiteln die Begrenzung auf das Verlobungshalbjahr lockern, den Zeithorizont auf das 19. Jahrhundert erweitern und die Briefe immer wieder zugunsten allgemeinerer Entwicklungen verlassen, ohne sie aus dem Blick zu verlieren. Die Aufmerksamkeit wird nicht nur auf die Isler-­Frauen gerichtet sein, sondern auch andere im ganzen Briefwechsel auftauchende Frauen, Verwandte, Freundinnen oder Bekannte, in den Blick nehmen und allgemeine Aspekte der Frauenemanzipa­tion berücksichtigen. Danach werde ich zu der reinen Verlobungsgeschichte zurückkehren. 1865 wurde der Allgemeine Deutsche Frauenverein gegründet.72 Die Frauenbewegung war zu ­diesem Zeitpunkt natür­lich nicht plötz­lich da, sondern hatte sich längere Zeit vorbereitet. Von Anfang an war die Frage weib­licher Emanzipa­tion eng mit der Bildungsfrage verknüpft gewesen und die spielte, durch die Aufklärung bedingt, im 18. und 19. Jahrhundert eine grundsätz­liche Rolle. Dass hier von bürger­lichen Frauen die Rede sein wird, muss betont werden, nicht allein weil im Textzusammenhang die Anfänge interessieren, sondern weil sich zeitgleich der gesellschaft­liche Aufstieg des Bürgertums vollzog. Damit stellte sich auch die Frage nach der Stellung der Frau in dieser sich neu ordnenden bürger­lichen Gesellschaft. Gleichheitsgrundsatz und Leistungsprinzip, die Eckpfeiler der neuen Gesellschaft, mussten auch für Frauen gelten. Wissen und Bildung waren der Schlüssel zur Teilhabe. Das 72 „Der 1865 gegründete ‚Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF)‘“ sollte „für die erhöhte Bildung des weib­lichen Geschlechts“ und für „das Recht auf Erwerbsarbeit“ eintreten. „Der Grundsatz der Gerechtigkeit und Freiheit für alle Bürger bildete die Argumenta­tionsbasis für die Forderung nach dem Recht auf Arbeit. Arbeit wurde von den Gründerinnen als erzieherischer Wert und als Voraussetzung zur Selbständigkeit begriffen.“ Nave-­Herz, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, 1997, S. 11.

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war ein bedeutender und befreiender Gedanke, der Frauen eine Neuorientierung ermög­ lichte und Eltern motivierte, ihre Töchter besser ausbilden zu lassen. Und doch konnten sie die Schranken nicht durchbrechen, die ihnen ihr Jahrhundert zog. Zu mehr Wissen und Bildung verhalfen private Einrichtungen, Schulen oder auch Hauslehrer, die Mädchen separat oder zusammen mit den Söhnen der Familie unterrichteten. Ein qualifizierterer Unterricht wurde also nur denjenigen Mädchen mög­lich, deren Elternhaus sich die Ausbildung der Töchter auch finanziell leisten konnte und liberal genug war, sich neuen Entwicklungen zu öffnen. Vereinzelt hatte es natür­lich schon vorher gut unterrichtete Mädchen gegeben, aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangten deut­lich mehr junge Frauen zu mehr Bildung als bisher und wurden dadurch auch gesellschaft­lich sichtbarer: Sie konnten im Kreis von Männern mitreden und waren weitsichtig genug, um Bildung und Emanzipa­tion auch für breitere Bevölkerungsschichten, vor allem aber für Mädchen zu ­wünschen. Ihre Wendung zum Mädchenschulwesen und ihr Einsatz für eine Reform erscheinen als lo­gische Folge. Doch war die Zahl der Streiterinnen für bessere Schulen aufs Ganze gesehen gering, ihre Mög­lichkeiten begrenzt, denn einen gesamtgesellschaft­lichen Einfluss hatten sie ebenso wenig wie den auf politische Veränderungen. Wenn also die Frauenemanzipa­ tion auf der einen Seite vorwärts drängte, blieb sie doch andererseits noch relativ inselhaft. Hinzu kam, dass die Palette der Vorstellungen, wie Töchter ausgebildet werden sollten, sehr breit war und in ihrem Kern kaum den Wünschen der „aufgeklärten“ Verfechterinnen entsprach. Denn die Entwicklung der weib­lichen Emanzipa­tion war nicht ohne Rückschläge geblieben. Schien in der frühen Aufklärung die Gleichberechtigung der Geschlechter als eine naturrecht­lich gegebene festzustehen, setzten sich doch bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts Auffassungen durch, die den naturgegebenen Unterschied ­zwischen den Geschlechtern in den Vordergrund schoben.73 Zu unverrückbar waren die patriarcha­lischen Strukturen in der Gesellschaft verankert, selbst in den Köpfen „aufgeklärter“ Männer (und vieler Frauen), als dass sie im Handumdrehen hätten aufgelöst werden können. Ausgehend vom „biolo­ gischen“ Unterschied der Geschlechter, entwickelte sich ein Diskurs, der Frauen eine von der Natur bestimmte Rolle in der Gesellschaft zuwies, die sie unterordnete und ihnen damit die eben noch verheißene Gleichberechtigung wieder absprach. Auf die Bildung bezogen hieß das: Weder eine gemeinsame Schulbildung für Mädchen und Knaben noch eine gleichwertige sollte es geben. Damit blieben Gymnasium und Universität Mädchen und jungen Frauen verschlossen. Zwar entstanden für die Töchter der „besseren“ Stände im Verlauf des 19. Jahrhunderts viele private „Töchterschulen“, aber in ihnen wurde meist nur eine „halbe“ Bildung vermittelt. Denn auf gar keinen Fall sollten „gelehrte Frauen­zimmer“ ausgebildet werden, sondern Frauen, die ausschließ­lich Gattin, Hausfrau und ­Mutter werden sollten. Das allein – so wurde in weiten Kreisen argumentiert – entsprach der „natür­lichen Bestimmung der Frau“. Zugleich vollzog sich ein struktureller Wandel in der

73 U. a. Joachim Heinrich Campe*, dessen „Väter­licher Rat“ junge Frauen auf die Geschlechterrolle fixierte.

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Familie, der Frauen in die Privatheit des Hauses verwies und ihnen Haushalt und Kinder­ erziehung in der Kleinfamilie zur alleinigen Lebensaufgabe machte. Von den Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, wird weiter unten zu lesen sein.74 Gegen diese Entwicklung regte sich Widerstand, besonders in Hamburg. Hier kam es bereits in den vierziger Jahren und Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu einer ersten Phase der Frauenbewegung, getragen von einer Gruppe selbstbewusst auftretender bürger­licher Frauen. Ihr Selbstbewusstsein fußte nicht allein auf Bildung, sondern auf ihrer Stellung im Bürgertum. Als verheiratete Frauen suchten und fanden sie Aufgaben jenseits von Haus und Familie im Gemeinwesen der Stadt: Sie widmeten sich sozialen Problemen, der Kinderbetreuung, dem Schulwesen und besonders der Bildung von Mädchen. Damit ging ihr Engagement über das rein ­soziale früherer Genera­tionen hinaus, weil sie mit den sozialen Problemen nun bewusst den Bildungsfaktor verknüpften und weil sie sich entschieden der Frauenfrage zuwandten. Sie wollten nicht nur Bildung auch anderen Frauen zugäng­lich machen, sondern Frauen Erwerbsmög­lichkeiten eröffnen, um sie aus Abhängigkeiten zu befreien. 1846 riefen Emilie Wüstenfeld° und Bertha Traun (später Ronge°) den „Frauenverein zur Unterstützung der Deutschkatholiken“ ins Leben, der neben sozialem und politischem Engagement die Stellung der Frau verändern wollte.75 Bald entwickelten sich daraus weitere Frauenvereine und Bildungsprojekte, unter denen das der „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ das herausragendste war – die Darstellung kommt ­später darauf zurück.76 Diese Hamburger Frauenvereine waren überkonfessionelle Zusammenschlüsse liberaler, ja oft freisinniger Frauen, die sich entschieden in öffent­liche Fragen einmischten und auch politisch interessiert waren.77 Dass sich hier auch Christinnen und Jüdinnen zusammengeschlossen hatten, war ein wichtiger Aspekt; dass sie sich nicht grundsätz­lich gegen Männer abgrenzten, sondern Mitstreiter suchten und fanden, war ein anderer. Vermut­lich kann diese frühe feministische Entwicklung nicht ohne den Standortfaktor Hamburg erklärt werden: Die weltoffene Handelsstadt, die Nähe zu Großbritannien, die Abgrenzung gegen „Preußen“ und das Reich mögen eine Rolle gespielt haben. Hinzu kam, dass die „Rädelsführerinnen“ nicht aus dem „alten“ Hamburger Bürgertum stammten,

74 Siehe Kapitel „Von Geburt an für nichts als die Wirtschaft bestimmt“. 75 Amalie Sieveking* hatte schon 1832 den „Weib­lichen Verein für Armen- und Krankenpflege“ gegründet. Durch Beschränkung auf Protestanten und Konzentra­tion auf sozial Schwache bewegte sich der Verein allerdings im Rahmen tradi­tioneller Armenpflege. 76 Näheres Ende des Kapitels „Das ‚verbotene Thema von der Bestimmung der Frau‘“ 77 Im Gegensatz zu Sievekings Verein waren die „freisinnigen Hamburger Frauenvereine […] demokratisch organisiert, und Frauen aller Stände und jeder Konfession konnten an ihnen teilnehmen“. Allerdings muss „festgehalten werden, daß Trägerinnen der freisinnigen Frauenvereine nicht ‚die‘ Frauen ‚des‘ wohlhabenden Hamburger Bürgertums waren. Sie zählten vielmehr zu dem sich in der Minderheit befindenden Teil des Hamburger Bürgertums, das liberal- und sozialdemokratischem Gedankengut aufgeschlossen war.“ Paletschek, Sozialgeschichte der Frauen in Hamburg, 1991, S. 299.

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sondern neu in der Hamburger Gesellschaft auftraten 78, sei es, dass sie erst kürz­lich zugezogen waren wie Emilie Wüstenfeld° oder aus Familien stammten, die „aufgestiegen“ waren wie die Töchter des reich gewordenen „Stock-­Meyer“ (Bertha Ronge°, Madame Westendarp* und Margarete Schurz°), oder dass sie zu den bislang ausgegrenzten Hamburger Jüdinnen gehörten wie Johanna Goldschmidt* und Emma Isler – ihnen allen war gemeinsam, dass sie sich freier bewegten als die Frauen der alteingesessenen Familien und dass sie aufgrund ihrer Bildung und bürger­lichen Stellung selbstbewusst auftraten. Das galt für Hamburg und für eine, in Rela­tion zur Einwohnerzahl, kleine Gruppe von Frauen. Dass sich unter ihnen eine erstaun­lich große Anzahl Jüdinnen befand, hing mit jüdischer Bildungstradi­tion, der Öffnung des Judentums und – speziell in Hamburg – dem Reformjudentum zusammen. Das muss spezifiziert werden. In der Bildungsfrage unterschieden sich jüdische Frauen von vornherein von den christ­lichen Bürgertöchtern, nicht nur in Hamburg. Die Teilhabe an einem erweiterten Bildungsangebot stieß bei ihnen auf freudige Zustimmung,79 weil Bildung im Judentum von jeher eine entscheidende Rolle gespielt hatte 80 und die Töchter in jüdischen Familien davon nicht ausgeschlossen gewesen waren. Wir wissen, dass schon im Mittelalter ein relativ hoher Prozentsatz der jüdischen Frauen (hebräisch) lesen konnte und über Kenntnisse verfügte, die im Geschäftsleben gebraucht wurden. Mussten sie doch gewärtig sein, für den Unterhalt der Familie zu sorgen, während der Ehemann sich spirituellen Aufgaben zuwandte.81 Wenn auch die Struktur in diesen Familien patriarcha­lisch blieb, darf nicht übersehen werden, dass für den gläubigen Juden die Frau keine untergeordnete Stellung

78 So Paletschek, ebd. 79 „Mitte des 19. Jahrhunderts war allen Juden“, die jüdische Schulen in Hamburg besuchten (und das waren eigent­lich Armenschulen), „das deutsche Bildungsgut vertraut.“ Wer es sich leisten konnte, schickte seine Kinder auf höhere christ­liche Schulen, vor allem die Mädchen: „Alle Mädchen und zwei Drittel der Jungen aus wohlhabenden Familien […] besuchten nichtjüdische höhere Schulen.“ Krohn, Die Juden in Hamburg, S. 142 f. Hier findet sich auch eine wichtige Zahl, die den anhaltenden Bildungshunger des Judentums belegt: 1902/3 strebten etwa 95% der Juden über die Volksschulbildung hinaus. 52,06% der jüdischen Mädchen besuchten mittlere und höhere Schulen, gegenüber 9,73% nichtjüdischer Schülerinnen. Krohn, Juden in Hamburg, 1974, S. 86. 80 Nach dem Bericht des Gemeindevorstands an den Senat ging 1846 in Hamburg jedes jüdische Kind zur Schule. Ebd., S. 85. Für christ­liche Kinder gibt es eine Zahl von 1848; danach blieben 3.700 ohne Schulbesuch. Ebd. 81 Allgemeinbildung war jüdischen Frauen nicht verschlossen. „Am Anfang der Aufklärung verstärkte sich in wohlhabenden jüdischen Familien die Tendenz, ihre Töchter in allgemeinen Bereichen, S ­ prachen, Musik und gesellschaft­lichen Umgangsformen auszubilden.“ Mordechai Eliav, Die Mädchenerziehung im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipa­tion. In: Carlebach (Hg.), Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland, 1993, S. 100. Hier werden auch Errichtung und Ausbau des jüdischen Mädchenschulwesens für die weniger Begüterten dargestellt, auf die häufig koedukative Erziehung verwiesen und auf den Rückgang religiöser Unterrichtung.

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einnahm, sondern die einer Partnerin 82, der aus religiöser Sicht andere Pflichten auferlegt waren als dem Mann. Die Ehe mit einer „bedeutenden“ Frau scheuten Juden weniger als christ­liche Männer, denen oft Frömmigkeit vor Bildung ging. In jüdischen Kreisen wurde eine Frau nicht so ohne weiteres als „Blaustrumpf“ abgewertet und damit als eheuntaug­lich angesehen, nur weil sie sich für Bücher interessierte. Und während in christ­lichen Kreisen Bildung nicht unbedingt den kritischen Blick auf religiöse Dogmen einschloss, führte die Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen bei gebildeten jüdischen Frauen eher zu einer liberaleren Haltung auch in Religionsfragen. Sind schon diese „innerjüdischen“ Gründe gewichtig genug, darf man den entscheidenden Anstoß von außen nicht übersehen: Mit dem Aufstieg des Bürgertums entstand gleichsam ein „Fahrstuhleffekt“ für Juden und ermög­lichte ihnen, im Sog gesellschaft­ licher Veränderungen aufzusteigen und sich in der bürger­lichen Gesellschaft zu etablie­ ren 83. Paral­lel dazu ist der Aufstieg jüdischer Frauen zu sehen, die Teilhabe am realen Leben, an den Wertvorstellungen und Idealen des Bürgertums über Bildung erreichten. Diese verbürger­lichten Frauen wahrten in der Mehrzahl dennoch ihre jüdische Identität, erleichterten aber ihren Kindern, Söhnen und Töchtern, einen Platz in der bürger­lichen Gesellschaft zu finden und sich als selbstverständ­licher Teil dieser Schicht zu verstehen. Wenn gebildete Jüdinnen sich jetzt für eine moderne höhere Mädchenbildung und ein eigenständiges Erwerbsleben für Frauen einsetzten, wollten sie bürger­liche, ­später auch akademische Frauenberufe als Äquivalent zur Ehe kreieren. In dieser Absicht trafen sie sich mit ihren christ­lichen Mitstreiterinnen. So führten Bildungstradi­tion, jüdisches Frauenbild und Aufstieg ins Bürgertum dazu, dass sich in Rela­tion zur Gesamtbevölkerung mehr jüdische Frauen als Christinnen in den Frauenvereinen engagierten. Emma Isler, geborene Meyer, Sophies ­Mutter, gehörte zu diesen gebildeten jüdischen Frauen. Sie jetzt genauer anzusehen, lohnt sich; ihre Ausbildung, ihre Auffassungen und ihr Handeln können zeigen, wie Frauen ihrer Genera­tion das eigene Leben im 19. Jahrhundert gestalteten. Sie war nicht nur eine außergewöhn­liche Frau, sondern steht auch exemplarisch für jene gebildeten jüdischen Frauen, die im Geiste der Aufklärung erzogen worden waren und aus der Enge des Judentums hinaustraten – die Formulierung ist bewusst gewählt: Ein revolu­tionärer Ausbruch war das nicht, wir haben es nicht mit Suffragetten zu tun. Emma Isler, wie sie dann schon hieß, und ihre jüdischen Freundinnen agierten aus ihrer privaten Häus­lichkeit heraus 82 Im Judentum wurde der Schöpfungsakt nicht als Unterordnung der Frau verstanden, sondern als Vervollständigung: Mann + Männin = Mensch. So Lilien an Helene Magnus, 14. 8. 1905. In: E. M. Lilien, Briefe an seine Frau, 1985, S. 44. 83 „Schrittweise von den Fesseln des Schutzjudentums befreit, stiegen die deutschen Juden innerhalb von zwei Genera­tionen zum überwiegenden Teil in die bürger­liche Mittelschicht auf. Die Epoche der Emanzipa­tion und der Industrialisierung wurde für die Juden die Epoche ihrer stärksten sozialen Mobilität.“ Richarz, Jüdisches Leben, 1976, S. 20.

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und scheuten häufig den öffent­lichen Auftritt. Darin unterschieden sie sich nicht von ihren christ­lichen Freundinnen aus dem Bürgertum. Und doch sprengte Sophies ­Mutter im privaten Rahmen das gängige Bild einer bürger­lichen und jüdischen Haus- und Ehefrau.

Emma Isler Emma Isler war eine ungewöhn­lich selbständige und kluge Frau. Sie hatte sehr eigenständige Vorstellungen und scheute vor keiner Diskussion zurück, um ihre Ansichten auf den Prüfstand zu stellen und mit Verve zu vertreten. Dass sie das temperamentvoll tun konnte, darf man nicht nur vermuten, denn Sophie erwähnt in ihren „Kindheitserinnerungen“, dass Emma im Gegensatz zu Meyer Isler wohl einmal heftig 84 werden konnte. Engagierte Gespräche führte sie mit Vorliebe. Oft ist in den Briefen davon die Rede, dass Bekannte bei Islers vorbeischauten und unversehens in fesselnde Gespräche verwickelt wurden. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Emma Isler z. B. anläss­lich ihres ersten Besuches bei der verheirateten Tochter in Braunschweig gleich in ein intensives Gespräch mit dem bekannten Reformrabbiner Herzfeld* geriet. Ihrem Mann berichtete sie postwendend, dass ihr Herzfeld einen ausserordent­lich angenehmen Eindruck gemacht (Emma, 1. 12. 1867) habe, und referiert dann: Wir kamen von Bernstein* auf den Einfluss der talmudischen Bildung auf die Entwicklung und auf Lebensauffassung überhaupt zu sprechen. Am Schluss des Gespräches sagte er, ich höre Ihrer Art zu sprechen an, dass Sie in einer Umgebung leben, wo man s­ olche Temata erörtert; wie beneide ich Sie darum, mir fehlt das ganz (ebd.). Das passierte häufig: Emma geriet immer wieder unvermittelt an „bedeutende“ Leute und war mit ihnen über kurz oder lang in intensivem Gespräch. Wie das zu verstehen ist, teilt uns Sophie über eben diese Unterhaltung mit: Gestern waren herzfelds* hier; ­Mutter und er kamen in ein sehr tiefgehendes Gespräch, das ihn offenbar sehr interessierte, aber dem man anhörte, dass er gewohnt ist allein zu sprechen, als Schlag auf Schlag gegen Einwürfe gerüstet zu sein (Sophie, 1. 12. 1867). So also war das: Emma gestattete keinen Monolog, ihre „Einwürfe“ kamen „Schlag auf Schlag“, sie sprach engagiert und streitbar; so wurde aus einem Gespräch im gesellschaft­lichen Rahmen eines Besuches ganz unversehens eine spannende Diskussion. Aber: Diese Emma Isler war keine Hamburger „Saloniere“, die einen Kreis berühmter ­Männer um sich sammelte und ihnen eine Plattform für Unterhaltung und Auseinandersetzung schuf. Emma Isler suchte das anregende Gespräch aus eigenem Bedürfnis: Sie war interessiert, ihre oft aus der Lektüre gewonnenen Überlegungen in der Diskussion mit anderen zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Ihr ging es nicht um eine Außenwirkung, sondern um eine Schärfung des eigenen Denkens. Deshalb wirken die Briefe ­zwischen Emma Isler und ihrem Mann auf die Chronistin häufig wie Diskussionen: Emma wirft ein

84 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 2.

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Thema in die Debatte oder stellt Fragen zu einem Problem, das sich ihr beim Lesen, beim Nachdenken oder in der Unterhaltung gestellt hat; Meyer geht darauf ein und so entwickelt sich immer wieder über mehrere Briefe ein „Gespräch“, in dem beide ein Ergebnis suchen oder doch zumindest die eigene Ansicht schärfer herausarbeiten. Von Emma Isler gibt es glück­licherweise eine Menge Selbstzeugnisse: Briefe, die sie an Meyer geschrieben hat, wenn sie oder er verreist waren, und Briefe, die sie fast zwanzig Jahre an Sophie schrieb, nachdem diese sich nach Braunschweig verheiratet hatte. So blieb ihr Einfluss auf die Tochter entscheidend. Darüber hinaus gibt es Emmas „Erinnerungen“, die sie auf Bitten ihrer Familie 1874 verfasst hat und die nach ihrem Tod 1886 in Abschriften in Familie und Bekanntenkreis kursierten – alle, alle wollten „Mutters Erinnerungen“ lesen – so Sophie. Die ca. dreißig Seiten erfassen Kindheit, Jugend und erste Erwachsenenzeit einer jungen jüdischen Frau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und liegen seit 1986 gedruckt vor.85 Ein Glücksfall, denn weib­liche Autobiographien blieben auch im schreibfreudigen 19. Jahrhundert noch immer eine Seltenheit! Sonst ist Emma Isler nicht publizistisch hervorgetreten. Für uns aber bedeuten diese schrift­lichen Zeugnisse etwas Außerordent­liches! Das Leben von Männern ist in der Regel rekonstruierbar, denn es findet zu einem großen Teil „öffent­lich“ statt, durch Beruf und gesellschaft­liche Verpflichtungen. So ist das auch bei Meyer Isler. Seine Tätigkeit an der Hamburger Stadtbiblio­thek und seine Veröffent­lichungen geben seinem Namen Gewicht; er wird noch heute in Publika­tionen, die sich mit Hamburg im 19. Jahrhundert beschäftigen, erwähnt. Ganz anders bei seiner Frau, wie überhaupt bei einer Frau im 19. Jahrhundert. In der Regel beschränkt auf Ehe und Haushalt war die einzige nach außen dringende „Leistung“ einer Frau die Erziehung der Kinder, und das war ein indirekter Ausweis. Nur wenn aus ihnen „etwas wurde“, gerieten auch die Mütter gelegent­lich in den Blick.86 So haben berühmte Söhne ihren Müttern ein „Denkmal“ gesetzt: „Vom Vater hab ich die Statur / Des Lebens ernstes Führen, / Vom Mütterlein die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren“, schrieb z. B. Goethe. Kein Wunder, dass sich Wissenschaft und Publikum für seine ­Mutter interessierten! Sonst aber: Das Leben von Frauen vollzog sich eigent­lich laut- und folgenlos. Nur wer sie persön­lich gekannt hatte, konnte von ihnen berichten. Wenn Helene*, Sophies Tochter, ihrem Liebsten Ephraim M. Lilien* ihre Herkunft „vorstellt“ – brief­lich, wie es in dieser Familie üb­lich ist –, schreibt sie über die Großmutter: Meine Großmutter muß eine an Geist und Gemüt hervorragende Frau gewesen sein, alle die sie gekannt haben, verehren 85 Ursula Randt, Die Erinnerungen der Emma Isler. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts, 75/1986, S. 55 – 99. Im Folgenden: „Emmas Erinnerungen“. 86 Eine Ausnahme bilden die Frauen im frühen 19. Jahrhundert, die einen „Salon“ geführt haben, wie Rahel Varnhagen oder Henriette Herz (beide Jüdinnen), oder die wie Caroline Schelling-­Schlegel-­Böhmer-­ Michaelis Teil eines dichtenden Freundeskreises waren. Auch Frauen, die mit einem berühmten Mann liiert waren, wurden dadurch gleichsam „öffent­lich“. Ihrem Leben wurde in der Regel nicht um ihrer selbst willen nachgegangen, sondern weil sie für ihre Zeit und Gesellschaft eine Art „Katalysator“ bildeten.

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sie noch jetzt (Helene, im Juli 1905).87 Schon die Enkelin kann nur noch „Hörensagen“ berichten und könnte vielleicht in knappen Strichen das Leben der Großmutter skizzieren – mehr bleibt gewöhn­lich nicht. Anders in ­diesem Fall. Emmas Leben, ihre Ansichten und Leistungen sind rekonstruierbar, denn sie teilte vieles, was sie bewegt hat, den beiden Menschen schrift­lich mit, die ihr am nächsten standen. Sie hat außerdem nicht nur Sophie erzogen, sondern immer wieder über Mädchenerziehung geschrieben, sodass sich ein genaueres Bild ihrer Erziehungsvorstellungen ergibt: Eine ausschließ­lich auf den Haushalt und die Familie beschränkte Frau, eine „Hüterin des Hauses“, wie sie im tradi­tionellen Judentum genannt wurde, war nicht ihre Zielvorstellung. Sie wollte durch ein breites Bildungsangebot und eine den Verstand und das selbständige Denken schulende Unterrichtung Sophie ermög­lichen, nach „Höherem“ zu streben und ihrem Mann in einer etwaigen Ehe eine mitdenkende Beraterin, gleichgestellte Gefährtin und selbständige Partnerin zu sein. In ihren „Erinnerungen“ hat sie ihren Grundsatz so formuliert: Den Frauen statt der weitverbreiteten ästhetischen Halbbildung durch Unterricht eine stärkere Disziplin des Verstandes zu geben scheint mir noch heute für ihre und künftiger Genera­tionen geistige und körper­liche Gesundheit von höchster Wichtigkeit.88 „Disziplin des Verstandes“ ist ein Grundsatz, Pflichtbewusstsein ein anderer, den Emma ihrer Tochter zu vermitteln suchte.89 Wenn Sophie und Otto während der Verlobungszeit im „Gespräch“ Ansichten austauschten und nach Gemeinsamkeiten suchten, war auch das ein Ergebnis dieser Erziehung. Sophie verlor sich nicht in romantischen Wünschen und verliebten Träumereien, sondern setzte bei aller Verliebtheit ihren „Kopf“ nicht außer Kraft. Dass trotzdem nicht Kälte, sondern Emo­ tionalität, Zugewandtheit und Mitfühlen ihre Persön­lichkeit im Wortsinn „liebens-­würdig“ machten, verdankte sie einem Elternhaus, das von Emma geprägt war. Deren schrift­liche Zeugnisse zeichnen sich durch große Unmittelbarkeit, sprach­liche Kraft, knappe, treffende Urteile und farbige Anschau­lichkeit aus. Die „Erinnerungen“ beschränken sich nicht auf die eigene Biographie, sondern betten sie in Zeit und Geschichte ein. Aber es bleibt natür­lich ein Leben, das keinen öffent­lichen Hallraum hatte, sondern im Gewand der Alltagsgeschichte daherkommt. Unser Blick ist gewöhnt, den öffent­lichen Raum zu fokussieren und den Alltag als unbedeutend abzutun. Danach ist ein Frauen­leben, das keine öffent­liche Karriere macht, bedeutungslos. Unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtergerechtigkeit wären andere Krite­ rien nötig, um ein Frauenleben zu bewerten – hier kann nur darauf hingewiesen werden. 87 E. M. Lilien. Briefe an seine Frau, 1905 – 1925. 1985, Vorwort, S. 8. Bei Emmas Tod 1886 war Helene erst sechs Jahre alt, konnte also aus eigener Erfahrung kaum über die Großmutter berichten. 88 Emmas Erinnerungen, S. 93. 89 Als Meyer Isler z. B. Emmas Nichte Anna May um Hilfe bei einem Manuskript bat, sagte diese bereits den zweiten Termin ab und ging lieber in den Zoo – mit Sophie wäre das nicht passiert. „Und so bist Du doch wohl ein etwas besser disciplinierter Mensch geworden als die meisten Deiner bekannten, die im Übrigen wohl sehr viel weniger zärt­lich gehalten worden sind …“ (Emma, 18. 7. 1877).

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Abb. 6  Emmas Schule in Dessau (aus Sophies Album zur Silberhochzeit ihrer Eltern)

Wer also war Emma Meyer, die wir bisher unter ihrem späteren Namen Isler kennen? Geboren 1816 in Dessau in der zweiten Ehe eines durch Handel begüterten Vaters, jüngstes Kind in einer langen Geschwisterreihe, phantasiereich, aufmerksam und interessiert an allem, was um sie herum vorging.90 Sie erhielt vielerlei Unterricht, angefangen mit der „Strickschule“91 über Lesen und Schreiben bei einem Hauslehrer bis zum Besuch der Schule eines Pensionats, in der sie von ihrem siebenten Jahr an mit großer Begeisterung alles lernte, was ihr in der neunjährigen Schulzeit geboten wurde. Mit dieser langen deutschen Schulbildung erreichte Emmas Genera­tion Neuland: Mit dem frühen 19. Jahrhundert begann demnach für jüdische Mädchen der Weg in die deutsche (Schrift-)Sprache und die deutsche Kultur.92 Aber Emmas Lehrer leisteten noch mehr: Sie führten die jungen Mädchen an das selbständige Denken

90 Die Darstellung stützt sich hier und im Folgenden auf Emmas Erinnerungen. 91 Emmas Erinnerungen, S. 65. 92 Dass Emma damit eine ungewöhn­lich gute Schulbildung erhielt – da ist von Mythologie, Physik, mathematischer Geographie, von Besuchen auf der Sternwarte und Franzö­sisch die Rede –, zeigt ein Vergleich: Louise Otto-­Peters, 1819 geboren, Tochter eines Justizrats, erhielt bis zum 14. Lebensjahr eine für ein gutbürger­liches Mädchen „bereits recht gute Elementarbildung im Lesen, Schreiben, Rechnen, Singen, Religion, Geschichte und Geographie. Dazu wurde in der Familie viel gelesen. […] die Klassiker […], aber auch […] Romanautoren […].“ In: Haase und Kieser, Können, Mut und Phantasie, 1993, S. 98. Die aus kleinbürger­lichen Verhältnissen stammende Beutlerstochter Amalie Dietrich, 1821

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heran und ermunterten sie, den Dingen auf den Grund zu gehen: „Nehmen Sie niemals etwas als selbstverständ­lich hin, […] fragen Sie bei allem nach dem Warum, treten sie an die Dinge des Lebens, als hätten sie nie früher davon gehört und vor Allem lassen Sie sich nicht in die Ketzerei hinein reden, Klarheit und Schärfe des Denkens sei unweib­lich […].“93 Dieser wichtige Grundsatz reiht die Dessauer Pensionatsschule in das Lehr- und Erkenntnismuster aufklärerischer Schulen ein, die auch Frauen zum selbständigen Denken erziehen wollten. Damit gehört Emma Isler zu der Genera­tion Frauen, die in ihrem Bildungsanspruch noch als gleichberechtigt angesehen wurden, obwohl schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Überlegungen sich durchzusetzen begannen, Mädchen auf die „Frauenrolle“ zu beschränken. Als die für Emma beglückende Schulzeit endete, bedauerte das nicht nur die 16-Jährige, sondern auch einer ihrer Lehrer, weil sie in einem Alter aufhöre, wo man eben anfange, Etwas zu lernen 94. Aber für ein Mädchen, ob nun jüdisch oder christ­lich, waren die Ausbildungsgrenzen eng gezogen. Dessaus aufgeklärtes Klima gestattete zwar auch den jüdischen Familien mehr Bewegungsfreiheit und einer jungen Jüdin den Besuch einer „exklusiven“ Anstalt für die Kinder der Vornehmen, aber für ein bildungshungriges, lernbegieriges junges Mädchen gab es nach der Schulzeit kein Weiterkommen, ja nicht einmal passenden Umgang. Gerade in den deutschen Kleinstaaten und Kleinstädten entwickelten junge Mädchen selten Interessen, die über den Haushalt hinausgingen, und bestätigten damit den Erziehungstrend hin zur „weib­lichen Bestimmung“. Die Erinnerung daran wurde in Emma lebendig, als Sophie einen eng­lischen Aufsatz über weib­liche Erziehung in Deutschland las und Otto von dessen Inhalt berichtete. Die Autorin spricht nur von kleinen Städten und schildert da die Frauen als ganz in der Wirtschaft aufgehend, ohne allgemeine Inte­ressen […] (Sophie, 9. 8. 1867). Im nächsten Brief heißt es über Emma: ­Mutter las den Aufsatz gestern Abend und konnte nicht einschlafen, weil sie sich so lebhaft von der Richtigkeit desselben berührt fühlte, der ihr Dessau und ihre ganze Jugend so vor die Seele brachte, als sei es ein Portrait davon. Sie mit ihrer höheren Richtung war dort so isoliert als lebe sie auf einer wüsten Insel, oder unter solchen die eine ganz andere Sprache sprachen, sodass jede Mög­lichkeit der Verständigung fehlt (Sophie, 10. 8. 1867). Dass Braunschweig 1867 ein ähn­liches Pflaster sein, dass sie selbst in geistige Isola­tion geraten könnte, fürchtete Sophie nicht, kannte sie doch zwei gebildete und vielfältig interessierte Braunschweigerinnen aus der Genera­tion ihrer ­Mutter: Minna ­Leppoc* und ­Jeannette Aronheim*. Aber junge, gebildete Frauen, Gleichaltrige, sollte sie schon bald nach ihrer Heirat schmerz­lich vermissen. Einzig Luise Schulz° fiel positiv auf. Von ihr berichtet Sophie: Sie klagte über die Spär­lichkeit des hiesigen Umgangs; […] Sie ist aus einer Gelehrtenfamilie und

geboren, durfte nur die „kleine vierklassige Schule des rund 400 Haushalte zählenden Ortes [Siebenlehn]“ besuchen. Ebd., S. 114. 93 Emmas Erinnerungen, S. 75. 94 Emmas Erinnerungen, S. 75.

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hat Interesse an allem was dahin schlägt (Sophie, 6. 11. 1867). Aber Luise Schulz starb kein Jahr ­später; die Spär­lichkeit blieb. War das die Befürchtung, die Emma den Schlaf raubte? In den Briefen gibt es schon früh Hinweise, die diese Vermutung stützen.95 Mit dem Umzug nach Hamburg 1834 veränderte sich Emmas Situa­tion. Sie lebte auf in der liberalen Luft, während es für ihren Vater (Berend Meyer*) schwer war, als Ruheständler in der fremden Stadt Fuß zu fassen – das dauerte Jahre. Emma fand schneller Anschluss. Ihre in Hamburg niedergelassenen Brüder vermittelten ihr den Kontakt zu jüngeren Leuten. Sie lernte den promovierten Geisteswissenschaftler Meyer Isler kennen, beide verliebten sich und heirateten 1839. Der Briefwechsel z­ wischen Emma und Meyer Isler während beider Reisen 96 kreiste immer wieder um Wissens- und Bildungsfragen, und Meyer wurde nie müde, auf Emmas Wissbegierde zu antworten. Gleich in den ersten Ehejahren lernte sie bei ihm Griechisch, zum Ausgleich für ihr sehr angestrengtes Leben. Die knappen finanziellen Mittel verlangten von der jungen Frau viel Einsatz im Haushalt, waren doch nach Schließung der Isler-­Schule 1844 Meyers Eltern mit zu unterhalten. Sie hatte das Gefühl, erzählte Sophie s­ päter, unter der Last des Lebens zu erliegen und in den kleinen Sorgen des Lebens unter zu gehen. Als Gegengewicht nahm sie bei Vater griechischen Unterricht und badete ihre Seele rein in den Schönheiten der clas­sischen Dichter.97 Als Sophie, halbwüchsig, in der Schule Eng­lisch lernte und das sogleich munter gegenüber dem eng­lischsprachigen Pensionsgast anwendete, der vorübergehend bei Islers wohnte, lernte Emma Eng­lisch und las ­später gern eng­lische AutorInnen. Immer begegnete Meyer seiner Frau mit Achtung und Liebe. Er bewunderte ihre Fähigkeit, Fragen, die sie beschäftigten, auf den Punkt zu bringen und ihre Briefe interessant und lesenswert zu machen: ­Mutter schreibt frei­lich viel mehr, ich kann aber nicht so jeden gedanken hergeben wie sie. Kritiken über Plato und Sokrates gebe ich auch nicht in Briefen, es ist eine besondere Kunst, dass sie so Alles was sie irgend erregt mitteilen kann (Meyer, 10. 11. 1867). Von Anfang ihrer Ehe an verfolgte Emma Isler die Diskussionen im Reformjudentum und die Fortschritte, die die jüdische Assimila­tion in Hamburg machte. Um das Besondere daran zu verstehen, muss man zweierlei wissen: Zum einen spielten Frauen in der jüdischen Religion grundsätz­lich keine bestimmende und auch keine mitbestimmende Rolle, zum andern waren gerade Frauen oft eher an der Erhaltung der althergebrachten jüdischen R ­ ituale interessiert, und das besonders in den Jahrzehnten der jüdischen Assimila­tion.98 Nicht so Emma.

95 Siehe ihre Äußerungen in den Kapiteln „Sophie findet ihre Rolle in Braunschweig“ und „Die Heirat als Bedrohung der Herkunftsfamilie“. 96 Briefe liegen von folgenden Reisen vor: 1841 Emma in Berlin, 1843 Emma auf Helgoland, 1843 Meyer in Berlin, 1845/6 Emma in Berlin, 1849 Meyer in Wolfenbüttel, 1850 Emma in Schwalbach, 1850 Meyer in Berlin, 1852 Emma auf Helgoland, 1853 Emma auf Helgoland. Spätere Reisen finden sich im Briefwechsel ­zwischen Sophie und den Eltern. 97 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 13. 98 Darin wurden sie auch von den Hamburger Tempelpredigern bestärkt: „Vater war heute Morgen im Tempel und war ganz befriedigt von Sängers Predigt, der besonders die Frauen aufgefordert hat am

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Abb. 7  Emma und Meyer Isler, vermut­lich Hochzeitsbild 1839

Sie verfolgte die Öffnung des Judentums mit Interesse und Zustimmung. Und sie beteiligte sich gern an Diskussionen darüber in ihrem Haus: Als ich nach Hause kam fand ich Frau Dr. Salomon* bei der Lampe lesend, dann kamen Emma Horwitz*, Anna May* und Pius Warberg*. Pius trank mit uns Thee und blieb trotz Vaters kleiner Augen bis 1/2 12. Er war mir wie immer höchst angenehm und mein Wunsch das Sprechen wie den gesang unter Gesetze und Schule zu bringen, zu wissen was es eigent­lich sei was den Tonfall der Juden von dem anderer Leute unterscheide und wie dem abzuhelfen sei, beschäftigte uns ganz angenehm (Emma, 15. 10. 1867). Illustriert die Textstelle einerseits das zufällige Zusammentreffen mehrerer Besucherinnen und Besucher bei Emma bzw. Islers, unter denen die Schwiegertochter des bekannten Hamburger Predigers Salomon* und der Bankier Warburg auffallen, gibt das Folgende einen Einblick in Emmas Interessen. Man kann davon ausgehen, dass hier ein lebhaftes Gespräch

Glauben fest zu halten“ (Emma, 18. 4. 1868, im Brief vom 17. 4. 1868). Betrachtet man allerdings Emma und ihre jüdischen Freundinnen, könnten derartige Predigten auch wie Mahnungen aufgefasst w ­ erden an Frauen, die diese Aufgabe vernachlässigten.

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stattfand, ­zwischen diesen drei Personen oder besser: ­zwischen Emma und Pius Warburg*, denn Meyer Isler wird sich seiner Erschöpfung wegen weniger beteiligt haben. Angenehm, sagt Emma, habe sie das Thema beschäftigt, behag­lich fühlt sie sich an anderen Stellen gern, wenn ein Gespräch gut verlaufen war. Das sind Bestnoten. Solche Gespräche entsprachen ihrem Bedürfnis, in der Auseinandersetzung mit anderen zu lernen, ihre Ansichten weiterzuentwickeln oder die eigenen Überzeugungen zu festigen. Ihre gute Schulbildung, ihre anhaltende Wissbegierde und der Umgang mit einem lebendigen Kreis gebildeter jüdischer Paare in Hamburg 99 hatten ihr ermög­licht, immer in der Diskussion zu bleiben und an allem, was sich politisch oder kulturell ereignete, regen Anteil zu nehmen. Dabei stand das nicht abreißende Gespräch mit ihrem Mann an erster Stelle, aber auch die Diskussionen mit den Freunden der Familie und den Brüdern hielten sich, und in der Tochter Sophie erwuchs ihr eine wache und interessierte Gefährtin, die, der ­Mutter häufig sekundierend, an vielen Gesprächen teilnahm. Dass Emma außerdem eine gute Hausfrau war, verwundert nicht. Zu selbstverständ­lich war diese Aufgabenzuteilung und zu verinner­licht, als dass sich ihr eine Frau hätte entziehen können.100 Sie erfüllte diese Aufgabe pflichtgemäß, schubweise auch mit viel Energie, aber an sich interessierte sie der Haushalt nicht, er ermüdete sie. Wenn sie nach anstrengenden „Arbeitstagen“ abends mit einem Buch bei der Lampe saß, lebte sie auf und vergaß die lästigen Pflichten: Beim gründ­ lichen Reinemachen fühl ich immer am meisten was ich für ein Blaustrumpf und für eine schlechte hausfrau bin, wenn ich mich den ganzen Tag mit der Wirtschaft beschäftige tut mir der Kopf ordent­lich vor Leere weh; neu­lich habe ich mich um 11, nachdem Vater ins bett gegangen war noch hingesetzt lesen, und darauf wurde mir erst wieder behag­lich … (Emma, Donnerstag 5 Uhr [5. 11. 1868], im Brief vom 4. 11. 1868).

Damit ist die Darstellung unversehens bei Emmas zweitem Interessengebiet angekommen: der Frauenfrage. Wenn hier von Pflicht und Neigung einer verheirateten Frau im 19. Jahrhundert die Rede ist, finden wir uns im Rollenverständnis bürger­licher Frauen wieder. Noch heute fällt uns auf: Sie suchten Aufgaben außerhalb ihrer Häus­lichkeit und fanden es doch zugleich selbstverständ­lich, die Pflichten der Hausfrau und ­Mutter perfekt zu erfüllen. Damit war jedes Engagement über den Haushalt bzw. die Familie hinaus geknüpft an die

99 „[…] als sich aber eine ganze Reihe junger studierter, Bekannte meines Mannes verheiratheten, bildete sich mit den jungen Paaren ein intimer Umgang […]. Die Frauen waren meist Töchter von Kaufleuten, die, als sie anfingen, die Interessen ihrer Männer zu theilen ein Gefühl bekamen, als wenn sie Bergluft athmeten […]. Die Meisten waren aus wohlhabenden Verhältnissen in beschränktere getreten und fühlten sich doch unend­lich bereichert.“ Emmas Erinnerungen, S. 91. 100 Diese Haltung gehörte zum Selbstverständnis bürger­licher Frauen im 19. Jahrhundert: „[…] die meisten […] sich um Frauenemanzipa­tion bemühenden bürger­lichen Frauen“ hielten „selbstverständ­lich an der Zuständigkeit der Frau für Haus und Kindererziehung, ebenso an einem hohen Leistungsethos und Pflichtgefühl die häus­lichen Arbeiten betreffend fest.“ Sylvia Paletschek, Sozialgeschichte der Frauen in Hamburg, 1991, S. 191 f.

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selbst auferlegte Bedingung, innen und außen, Familie und außerfamiliäres Engagement (Verein, Beruf etc.) gleichermaßen zu bewältigen. Selbstbild und gesellschaft­licher Anspruch waren deckungsgleich. Emilie Wüstenfeld°, die Vorkämpferin der freisinnigen Frauenvereine in Hamburg, hat diese „Selbstverpflichtung“ in ihrer Biographie niedergeschrieben: „Ferner stellt sie als Grundsatz auf daß Nichts im Hause und in der Familie über dem Wirken nach außen versäumt werden darf und sieht eine Ehre darin, daß ihre Häus­lichkeit allen berechtigten Anforderungen an Ordnung, Annehm­lichkeit und Gastfreiheit entspricht, was ihr auch gelungen ist.“101 Wenn Frauen heute mit den Schwierigkeiten ringen, Beruf und Familie zu vereinbaren – hier, in den Anfängen der bürger­lichen Frauenbewegung begegnen wir ihnen bereits: Vereinbarkeit wurde als selbst auferlegte, allein von den Betroffenen zu lösende Aufgabe betrachtet. Denn die Frauen selbst sahen sich verpflichtet, beide Bereiche zu bewältigen, und setzten ihren Ehrgeiz darein, das auch zu können. Aber sie bewerteten beide unterschied­lich. Jede Tätigkeit außerhalb der Familie galt als zusätz­liche, die im Zweifelsfall vernachlässigt werden durfte. Da diese bürger­lichen Frauen in der Regel finanziell abge­sichert lebten, stellte sich die Frage nach einer lebensnotwendigen Erwerbstätigkeit natür­lich auch nicht, die keine „Vernachlässigung“ geduldet hätte. Ein Klassenproblem also, denn weder die Frau des Handwerkers noch die Proletarierin problematisierte diese Situa­tion, sie stellten sich ihr jeden Tag von neuem. Zu Emilie Wüstenfeld° und ihrem Kreis stieß Emma Isler in den 40er-­Jahren. Sie und andere Jüdinnen waren von diesen engagierten Frauen aufgefordert worden, sich dem „Sozia­ len Verein Hamburger Frauen zur Ausgleichung konfessioneller Unterschiede“ anzuschließen,102 der Jüdinnen und Christinnen miteinander bekanntmachen und ins Gespräch bringen wollte. Anfang 1848 erweiterte sich dieser Verein zum „Allgemeinen Bildungsverein deutscher Frauen“. Hier nun beteiligte sich Emma Isler an Projekten der bürger­lichen Frauenbewegung und gehörte zu einer kleinen Kerngruppe von Frauen um Emilie Wüstenfeld°, die alles daran setzte, Mög­lichkeiten zur Berufsausbildung von Frauen zu schaffen. Davon wird ­später noch zu lesen sein.103 Emma Isler war also in ihrer Zeit eine Feministin, obwohl sie sich vorrangig „nur“ für eine bessere Bildung und Ausbildung von Frauen engagierte. Noch ging es diesen Frauen bzw. der Frauenbewegung nicht um politische und juristische Gleichstellung, die Frage des Wahlrechts sollte ­später folgen. Außerdem galt für Emma Isler und die meisten ihrer Verbündeten, dass eine glück­liche Ehe und ein gelungenes Familienleben Vorrang vor einer Erwerbstätigkeit hätten. Doch sahen sie die Bestimmung der Frau nicht mehr allein in 101 Der Passus wird bei Paletschek aus dem Emilie-­Wüstenfeld-­Nachlass zitiert: Paletschek, 1991, S. 292. 102 An anderer Stelle „Frauenverein zur Förderung freier christ­licher Gemeinden und humaner Zwecke“ genannt. Madame Westendarp, eine der Töchter des schon erwähnten Stock-­Meyer, war auf Johanna Goldschmidts Roman und damit auf die Autorin aufmerksam geworden. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich der Verein – und folgte damit einer Anregung in Goldschmidts Briefroman. 103 Siehe Kapitel „Das ‚verbotene Thema von der Bestimmung der Frau‘“.

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der Ehe. Deshalb sollten Frauen so ausgebildet werden, dass sie Erfüllung in einem Beruf ­fänden, wenn sie sich nicht verheiraten sollten oder wenn sie im Notfall ihre Familie allein unterhalten müssten: […] wie oft geht der Schrei einer Wittwe zum Himmel, die ihre unversorgten Kinder versorgen soll, warum haben mich meine Eltern nicht zu irgend einem Erwerb erzogen? (Emma, 6. 2. 1868). Weib­liche Erwerbstätigkeit also war für Emma Isler ein Ziel der Mädchenerziehung, auch dort, wo sie als Unterhalt gar nicht nötig war. Aufmerksam beobachtete sie die jungen Mädchen in ihrem Umfeld und kritisierte deren Müßiggang. Denn über ihre Nichte Elise Meyer*, Sophies jüngere Kusine, lesen wir: […] ein unnütz Leben ist ein halber Tod und so jeder, auch der kleinsten Pflichterfüllung baar ist wohl selten ein Mensch. Wenn so viel Tüchtigkeit und Verstand brach liegen, so muss sich das rächen. […] Da müsste man den Finger auf eine bestimmte Arbeit legen können und sagen, das tun. Das kann ich aber nicht, denn […] an einer Armenschule zu unterrichten oder Armenpflege zu tun, mag sie nicht, und es wäre auch nicht recht etwas zu unternehmen wozu sie kein Geschick hat. Auch auf Sophies Freundin Johanna Hirsch* fällt Emma Islers kritischer Blick, wenn sie fortfährt: Sie und Johanna klagen über das Unbefriedigende der Gesellschaft und träumen sich einen Kreis wo Anregung und gespräche auf des Lebens Höhe tragen. Ich glaube das gibt es nicht leicht und könnte auch in höchster Vollendung kein Leben ausfüllen. Tages Arbeit, abends Gäste! Aber erst arbeiten 104. Es quält mich, ich möchte so gerne helfen und ich weiss nicht wie … (Emma, 13. 1. 1868). Anders das Urteil über die Lehrerin Anna Wohlwill°, auch sie Sophies Freundin: Was hat sie für ein inner­lich befriedigtes Dasein. Dass unsere Pflicht zugleich unsere grosse Freude ist, ist mir immer die Defini­tion von Glück gewesen (Emma, Sonnabend [26.10.].1867). Was Emma hier als „Glück“ bezeichnete, schloss neben der beruf­ lichen Tätigkeit Teilhabe an Bildung und fortdauernde Erweiterung des eigenen Wissens ein: Das Zusammenleben der Geschwister ist auch wundervoll. Adolph [Wohlwill*] vertritt Aegidi* und liest für die Gymnasiasten, die jungen Kaufleute, die lehrer, wobei er fast das ganze gebiet der geschichte durchgehen muss und unsäg­lich arbeitet. Zu seiner übung hält er Anna jeden seiner Vorträge und da ihr auch Emil [Wohlwill*] Alles mitteilt, so wird ihr im Hause ein reiches Feld des Wissens zugeführt (ebd.). Das musste aus Emmas Sicht für eine Frau alle Wünsche erfüllen. War doch Bildung für sie der Schlüssel zu geistiger Unabhängigkeit, Tätigkeit aber ein entscheidender Schritt zu materieller Selbständigkeit. Ob ein solches Leben auch für ihre Tochter Wunsch und Ziel gewesen wäre? Das muss offen bleiben; Überlegungen in diese Richtung äußern weder Sophie noch Emma in ihren Briefen. So weit die aktive Seite von Emmas Leben, die andere präsentiert sie häufig als kränkelnde, antriebslose Frau. Objektive Ursache war wohl ein Herzleiden, wie ihre Urenkelin, die Ärztin Hannah Peters(-Lilien), vermutete. „Mattigkeiten“ und damit verbunden depressive Stimmungen konnten unvermittelt auftreten. Sophie umsorgte die ­Mutter in solchen kritischen

104 Im Original nicht kursiv.

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Phasen, kniete vor ihr, rieb ihre Hände und sprach ihr Heiteres vor, um sie zum Lachen zu bringen und aus der „Mattigkeit“ zu reißen. Am Ende half oft alles zusammen und „ein Stück Kuchen“, Emma aus ihrer Schwäche zu erlösen. Eben wurde ich unterbrochen weil ­Mutter die noch unten beschäftigt war, klingelte. Ich fand sie in einem ihrer Anfälle von tödt­licher Mattigkeit, die jetzt wo sie sich viel anstrengt nicht selten sind. Ich brachte sie aufs Sopha, kniete vor ihr und sprach ihr allerhand vor, machte sie lachen, liess mich auch ausschelten und brachte sie dann nach einer Viertelstunde so weit, dass sie jetzt mit einem Stück Kuchen beruhigt und wohler auf dem Sopha liegt. Ach Otto, wer thut das, wenn ich nicht mehr hier bin? Wer küsst ihr dann die Tränen aus den Augen und versteht sie auch wenn sie nicht spricht? Ist es nicht hart, dass sie, die mich so braucht, mich entbehren soll, ist es nicht schreck­lich, dass ich meine Eltern verlassen will? Verzeih, aber mir war das Herz so voll … (Sophie, 19. 5. 1867). In der Tat, nach Sophies Heirat würde tagsüber nur selten jemand da sein, der Emma beistand. Ihre „Mattigkeit“ ging mit Verstummen einher. Deshalb ist nicht wirk­lich zu klären, ­welche „Mattigkeit“ was bedingte: die psychische die phy­sische oder umgekehrt. Weder das Hausmädchen noch die zahlreichen Besucherinnen und Besucher, die dann wohl gar nicht erst vorgelassen wurden, konnten in dieser Situa­tion helfen. Meyer Isler selbst, der erst am Abend kam, setzte in solchen Fällen auf Ruhe und Zeit. Die liebevolle Zuwendung, die Sophie der ­Mutter zuteilwerden ließ, konnte wohl wirk­lich niemand ersetzen. Dass die Tochter durch Emmas phy­sische und psychische Schwäche und die nicht verstummende Sorge um das Leben der ­Mutter besonders eng an sie gebunden wurde, liegt auf der Hand, machte aber auch die Heirat zu einer in d­ iesem Punkt bedroh­lichen Angelegenheit. D ­ arüber wird noch zu reden sein. Den körper­lichen Gebrechen nachzugehen, kann hier nicht Aufgabe sein, wohl aber jenen depressiven Stimmungen, denen Emma unterlag und die nicht ihr allein „passierten“, sondern zu den Leiden bürger­licher Frauen im 19. Jahrhundert gehörten. Diese „Leiden“ hingen mit dem strukturellen Wandel des bürger­lichen Frauenlebens zusammen, der den Radius der bürger­lichen Frau auf Wohnung und Kinder beschränkte und ihr in der Regel eine individuelle Verwirk­lichung verschloss. Dazu gibt es ein eigenes Kapitel.105 Die Tätigkeit als Hausfrau und ­Mutter hatte Emma wohl von Anfang an nicht wirk­lich ausgefüllt und befriedigt. Besprochen wird das in den Briefen allerdings eher am Beispiel anderer, wenn Emma etwa über Josephine Polly 106 schreibt: […] ihr Mann geht des Morgens ins geschäft und dann ist sie von 8 Uhr morgens bis 7 Uhr allein. Als sie ihr Kind erwartete hat sie sich geträumt, es würde ihr Leben ganz ausfüllen, das ist natür­lich Täuschung. Was eine junge

105 Siehe Kapitel „Von Geburt an für nichts als die ‚Wirtschaft‘ bestimmt?“. 106 Sie wird auch an anderer Stelle als Beispiel bemüht, als es gilt, Otto die Wartezeit bis zum nächsten Wiedersehen erträg­lich zu machen: „[…] denke Dir[,] Josephine Polly hat ihren bräutigam ­zwischen verlobung und Hochzeit, von Mai bis Oktober garnicht gesehen“ (Sophie, 22. 5. 1867).

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Abb. 8  Sophies Kindheitshaus in Hamburg (aus Sophies Album zur Silberhochzeit ihrer Eltern)

­ utter von einem Kinde hofft umfasst ein ganzes Leben, das kann ein bewusstloses Baby M nicht gleich realisieren; und auch ­später fällt einem ­solche Liebe nicht als reiche Frucht in den Schoss; Ich glaube es gibt nichts um was teurer treuer gedient werden muss als die Liebe eines Kindes, oder wie erklärte es sich sonst, dass es so wenig wirk­lich schöne verhältnisse ­zwischen ­Mutter und Tochter oder Eltern überhaupt gibt (Emma an Sophie, 11. 11. 1867). Dass Emmas eigene Situa­tion als junge Ehefrau mit der hier beschriebenen gleichzusetzen war, erscheint mir zwingend, denn Meyer Islers Bibliothekars- und Unterrichtstätigkeit ließ seine Frau tagsüber über weite Strecken allein.107 Auch Sophies Geburt änderte an ­dieser Situa­tion nichts. Emma musste deshalb sehr früh zu der Überzeugung gekommen sein,

107 Allerdings kam Meyer zumindest 1867 zum zweiten Frühstück, 11 Uhr, und zum Mittagessen, 16 oder 17 Uhr, nach Hause. Das (späte) Abendessen gab es in Hamburg dann um 21 Uhr.

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dass ein Kind das Leben einer geistig interessierten Frau nicht ausfüllen konnte, trotz der Konzentra­tion auf dessen Erziehung. Denn noch vor Sophies erstem Geburtstag reiste die junge M ­ utter mit Kind und Amme zu ihrem Bruder nach Berlin. Das war ein mehrtägiges Unternehmen, bei dem Schiff, Eisenbahn und Reisekutsche einander abwechselten, anstrengend also und doch eine Art „Vergnügungsreise“. Denn Emma wurde von Meyer ermahnt, doch ja unter Leute zu gehen und so viele Anregungen aufzunehmen wie irgend mög­lich. Um Abwechslung ging es also, um neue Eindrücke und geistige Anregungen, neben der Aufgabe, dem erkrankten Bruder beizustehen. Der Briefeleserin drängt sich die Vermutung auf, dass sogar Emmas Badereisen, die die Brüder zumindest teilfinanzierten, gar nicht so sehr der Bäder und damit der phy­sischen Gesundheit wegen unternommen wurden (Emma versuchte regelmäßig die Anwendungen zu kürzen), sondern vor allem dazu dienten, sie aus der Eintönigkeit des Hausfrauendaseins herauszureißen. Emmas Blick ging in ­diesem Fall sofort in die Runde der Kurgesellschaft, wer wohl als GesprächspartnerIn geeignet sein könnte. Nicht selten war sie enttäuscht, dass es im Allgemeinen mehr Gras als Bäume unter den Menschen gibt (Emma, Schwalbach, 24. 7. 1850). Aus Sophies „Kindheitserinnerungen“ geht hervor, dass Emma Isler gern MitbewohnerInnen aufnahm: Jahrelang wohnte ihre Freundin Minna Leppoc* bei Islers, in den Familienbriefen „Tante Minna“ genannt. Da auch sie in der Frauenfrage engagiert war, hatte Emma also über Jahre eine Gesprächspartnerin und Gleichgesinnte bei den Aktivitäten in Sachen Frauenbildung. Dass Minna Leppoc auch als „beste Freundin“ emo­tional unverzichtbar war, wird deut­lich, wenn Emma schreibt, dass eine Frau auch in der glück­lichsten Ehe […] zusagenden weib­lichen Umgang nicht entbehren könne (Emma, 25. 2. 1868, im Brief vom 23. 2. 1868). Später wohnte Onkel Morchen bei Islers – ein Kontrastprogramm! Aber auch Pensionsgäste waren willkommen. Natür­lich darf man dabei den pekuniären Aspekt nicht übersehen – bei Islers ging es knapp zu und Mitbewohner erleichterten die Situa­tion. Aber es ging auch um Gesprächsmög­lichkeiten und Emo­tionalität. Meyer Isler allein konnte ­dieses Bedürfnis ­seiner Frau nicht ausfüllen und das Kind Sophie auch nicht. In dem Maße allerdings, in dem Sophie in die Rolle einer Gesellschafterin der ­Mutter hineinwuchs und für Gespräch, Unterhaltung und Heiterkeit sorgte, verringerte sich das Problem. Dass die erwachsene Tochter der ­Mutter einen beträcht­lichen Teil der lästigen Hausfrauenpflichten abnahm, kam hinzu.108 Hier ist vertieft noch Emmas Verhalten darzustellen, wenn sie während der Verlobungszeit an Heirat und Wegzug der Tochter denkt. Das näm­lich macht eine Widersprüch­lichkeit deut­lich, die bisher nicht zur Sprache gekommen ist. So „erwachsen“ Emma damit umging, dass ihre Tochter sich in Otto Magnus verliebt hatte und sie selbst damit an die zweite Stelle rückte, so ausgeliefert überließ sie sich ihrem Schmerz über den Verlust der Tochter.

108 „Auch der Haushalt nahm mich [nach dem Ende der Schulzeit] mehr in Anspruch, ich war zu Hause sehr fleissig und nahm ­Mutter, die sehr leidend war[,] mög­lichst viel Arbeit ab.“ Sophies Kindheitserinnerungen, S. 31.

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Schon während der Verlobungszeit wurde sie von immer neuen Schwermutsanfällen heimgesucht: […] als Vater zu Bett war, musste ich ­Mutter noch in einem Anfall der Melancholie trösten, der wenn Du nicht da bist öfter und stärker kommt als wenn sie uns zusammen sieht, und aus jedem Blick und Wort die Gewähr künftigen Glückes für ihr Kind liest … Wenn Du bei mir sässest würde ich Dir etwas vorklagen, dass ich meiner geliebten M ­ utter so bitteres Leid zufügen muss, schrift­lich aber geht das nicht. Das beste Mittel dagegen ist, was ich ihr aus Deinen Briefen vorlese, denn nur die Wonne, die sie aus unserer Liebe saugt kann sie für meinen Verlust trösten. Du siehst, geliebter, ich spreche mit Dir und erzähle Dir alles, als wenn ich es selbst wäre, denn dass meine M ­ utter mich entbehren wird und ich sie, das weisst und begreifst Du, nicht wahr? (Sophie, 29. 4. 1867). Dabei war es Emmas großer Wunsch, dass die Tochter glück­lich würde. Dass sie dafür aber nach Braunschweig ziehen musste, war für sie kaum zu ertragen. Nach der Heirat streute Emma in ihre Briefe an Sophie immer wieder halb scherz-, halb ernsthafte Bemerkungen ein, die zeigen, wie sehr ihr Sophie fehlte: Adieu mein Geliebtes Kleines, hätte ich Dich doch einmal in meinem Arm (Emma, Sonntag [20. 10. 1867], 12 Uhr), oder: Ich hoffe Otto sieht ein, dass er betrogen ist und schickt Dich direkt zurück. Ach Kleines! (Emma, 11.11.l867). Das war erfrischend direkt! Emma wahrte zwar nach außen Haltung, aber der Schmerz war auch nach Jahren noch ganz intensiv. Als Sophie z. B. anläss­lich einer ihrer Hamburgbesuche 1872 unerwartet noch einmal in die Wohnung zurückkehrte, fand sie die M ­ utter völlig aufgelöst, sodass diese sie anschließend beruhigen musste: […] denke nicht ich wäre nun immerfort traurig, weil Du noch einmal umgekehrt bist und mehr gesehen hast, als Du sehen solltest. Ich habe in Humboldt eine Stelle gefunden, die mir recht tröst­lich ist […]: In gutgearteten Seelen ist ein Schmerz, was auch seine Ursache sein möge, immer ewig (Emma, 1. 9. 1872). Verfolgt man allerdings Emmas Leben nach dem Auszug der Tochter, findet sich kein Zusammenbruch. Sie war stark genug, mit dem Schmerz zu leben. Relativ schnell kam sie zu der Erkenntnis, dass die Trennung nicht das Ende wäre: Ich gewinne durch Deine Briefe doch die Überzeugung dass es nicht ganz so arg ist wie wenn Du tot wärst. Papchen lässt mich alle Ungezogenheiten heraus sprechen ohne Kritik und das ist gut, denn jeder Widerspruch bringt mich zur Übertreibung … (Emma, Freitag, 12 Uhr, vermut­lich 18. 10. 1867). Zweierlei ist wichtig: Meyer Isler kannte seine liebe Frau und begegnete ihrer krankhaften Reizbarkeit (Meyer, 26. 10. 1867) mit Schonung und Geduld. Er wusste, dass Emma schon bald ansprechbarer sein würde. Und Sophie? Die schrieb noch am Morgen nach der Hochzeit vom Altonaer Hotel aus, unmittelbar vor dem Aufbruch zur Hochzeitsreise, ihren ersten Brief an die Eltern und berichtete weiter täg­lich. Deshalb begann Emma bald, die Situa­ tion realistisch zu beurteilen. Sophies Briefe also waren es, die Emma über die räum­liche Trennung hinweghalfen: 19 Jahre lang haben sich die beiden meist einen Tag um den anderen Briefe geschrieben, seitenlang, und sich bis ins Detail mitgeteilt, was in der Braunschweiger oder Hamburger F ­ amilie passierte, w ­ elche Hoffnungen, w ­ elche Freude oder welcher Schmerz sie bewegte, w ­ elche Bücher gelesen wurden, worüber die Gespräche im Verwandten- und Freundeskreis gingen,

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­ elche Haltung zu politischen oder gesellschaft­lichen Ereignissen und Entwicklungen sie w einnahmen – nichts blieb ausgespart. So erwies sich die Trennung als beherrschbar, von der Sophie, kaum in Braunschweig angekommen, schrieb: […] ach – könnte ich Euch doch zu mir herziehen! Dann würde mir gar nichts fehlen, während jetzt im Grunde meines Herzens etwas ist, was nun nie wieder ganz heil werden kann (Sophie, 14. 10. 1867). Bis über Emmas Tod 1886 hinaus blieb der Briefwechsel so intensiv, denn auch in den gut anderthalb Jahren danach, die Meyer noch – betreut – in Hamburg lebte, wurde eifrig geschrieben, wenn auch die Abstände jetzt länger wurden und der Sprachgestus wortlosen Verstehens sich mit dem Vater nicht so einfinden wollte wie mit der ­Mutter. Sicher ist: Die so sehr von Emma und Sophie gefürchtete Trennung war überbrück- und damit doch lebbar. Außerdem hatte Sophie vorgesorgt: Ihre Freundinnen, Kusinen, Bekannte und Verwandte besuchten Emma so vielfach, dass Meyer Isler der Tochter berichten konnte: Deine Freundinnen und die nächsten bekannten zeigen sich bis jetzt noch immer sehr treu, mehr sogar als ­Mutter lieb ist, denn sie kommen zu allen tageszeiten, indem jede für sich die Ausnahme statuiert, und es von den Anderen gar nicht recht findet, dass sie M ­ utter stören (Meyer an Sophie, 20. 10. 1867). Onkel Siegmund* beschrieb die Situa­tion augenzwinkernd: Seit Deiner Abreise habe ich Deine mutter noch nicht allein gesprochen, denn die Condolenz­ besuche sind so furchtbar stark in der Passage,109 dass viele Gäste unter Sopha und schreibtisch placiert werden müssen […] (Siegmund Meyer, 20. 10. 1867). Doch auch Emma ihrerseits fand einen Ausweg: Sie stürzte sich sofort in Arbeit. In der Küche musste der Herd eingerissen und ein neuer gesetzt werden, weil durch das Hochzeitsessen ein Schwelbrand entstanden war.110 Das bedeutete wochenlange Unruhe, Unordnung, Gasthausessen und viel zu tun, aber die immense Arbeit hinderte Emma am Nachdenken und Nachfühlen des Verlustes, sodass sie sowohl phy­sisch als auch psychisch ohne ­Katastrophe weiterlebte. Jetzt erst konnte sie endgültig realisieren, dass „Zöpfchen“ kein Kind mehr war und aus neuer Perspektive sah sie die Fotographie der geliebten Tochter, die sie vier Wochen nach der Hochzeit aus Braunschweig zum Geburtstag erhielt: Otto wie immer prachtvoll und mein Süsses eine wunderhübsche junge Frau, aber nicht mein strahlendes Kind (Emma, undatiert, [3. 11. 1867]). Das Gespräch z­ wischen beiden sollte nicht abreißen und ersetzte doch nicht die Nähe und das direkte Sprechen. Deshalb konnte Sophie beim ersten Besuch der ­Mutter in Braunschweig end­lich dem Vater melden: Jetzt ist meine süsse mutter bei mir und ich bin unbeschreib­lich glück­lich. Wir waren schon fast eine Stunde allein und haben 109 Scholvienspassage (zwischen Königsstraße und Alter Jungfernstieg), Wohnung der Islers: im Adressbuch 1867 als „Jungfernstieg, Passage Scholvien 6“, dort, wo heute die (Kaufhaus-)Passage z­ wischen Jungfernstieg und Poststraße verläuft. 110 „Das von einer Kochfrau gelieferte Hochzeitsessen musste auf dem alten Herd gewärmt werden, das grössere Feuer setzte die anstossende Wand, die durch keine Brandmauer von dem Herd getrennt war (!), in Brand, der langsam darin glimmte und nach 8 Tagen als Flamme in dem Schlafzimmer zu Tage trat, die […] gleich entdeckt wurde […].“ Sophies Kindheitserinnerungen, S. 45.

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uns so recht ausgesprochen (Sophie, 28. 11. 1867). Sich richtig „aussprechen“ – dazu mussten sie allein sein und dazu wohl hatte sich Emma auch ausbedungen, dass ihre Briefe an Sophie für Otto und Meyer tabu sein sollten. Aus größerer Distanz lässt sich sagen: Den Islers ging es wie allen Eltern, die sich nach dem Auszug ihrer Kinder allein in ihrer Wohnung und in ihrem Leben finden. Das Besondere ist, wie unmittelbar sie es ausdrücken konnten: Überhaupt muss sich das leben bei uns [sich] erst wieder zurecht finden: neue Eindrücke und neue Verhältnisse müssen sich bilden und wir müssen in ihnen heimisch [werden]: bis jetzt herrscht der Gedanke an die Vergangenheit vor, besonders bei ­Mutter, die ja am Stärksten dadurch berührt wird (Meyer an Sophie, 20. 10. 1867). In der Tat: Für Meyer änderte sich gar nicht so viel; er erfüllte sein täg­liches Arbeitspensum und konnte sich jetzt etwas mehr Ruhe gönnen. Fing sein Tag früher um 5 Uhr an, heißt es jetzt: Ich fange täg­lich um 8 Uhr an und gebe bis 11 Stunde, dann folgt die Bibliothek nun gewöhn­lich. Nachmittags unterrichte ich dreimal von 5 bis 7, Sonnabend Nachmittags bin ich noch frei. Ein paar Stunden werden wohl noch im Laufe des Winters hinzu kommen, da v. Holstein Griechisch lernen muss, vielleicht auch Riecke noch eine Stunde mehr bekommt. Sonst aber wird ein Strich darüber gezogen und es behagt mir sehr morgens bis 8 frei zu sein. […] Zu anderen Beschäftigungen als die Vorbereitungen für meine Stunden komme ich wenig (Meyer, ebd.). So ruhig und sach­lich Meyer aus seinem „neuen“ Leben berichtet – auch er empfand Sophies Wegzug schmerzvoll. Aber er erwähnt das in seinen Briefen nicht. Davon zu erzählen war Emmas Part: Vater […] ist ganz wohl und ich glaube sehr erstaunt, dass er so traurig ist (Emma an Sophie, 15. 10. 1867). Sach­lich zu sein und keine Emo­tionen zu zeigen, gehörte zur Männerrolle, und wir sind heute noch nicht sehr weit von der Zeit entfernt, in der Männer nicht weinen durften. Auch das war das 19. Jahrhundert, in dem Männer- und Frauenrolle klar geschieden waren: Sach­lichkeit und Strenge gebührte dem Mann, Gefühle und Tränen waren der Frau erlaubt. Patriarcha­lisch war die Gesellschaft geordnet und legte nicht nur juristisch, sondern in allen kulturellen und wirtschaft­lichen Bereichen männ­liche Machtposi­tionen fest, in denen „harte“ Männer gebraucht wurden. Diesem Rollenbild folgten selbstverständ­lich auch so „moderne“ Familien wie die der Islers bis zu einem gewissen Grad. Schließ­lich waren sie geradezu ein Musterbeispiel der neuen „Kleinfamilie“. Meyer Isler fand in seinen beruf­lichen Tätigkeiten, sei es in der Bibliothek, bei den Privatschülern oder bei seiner wissenschaft­lichen Arbeit, immer Anerkennung und Erfüllung und ergänzte diese noch durch eine große Zahl ehrenamt­licher Tätigkeiten, die ihn alle aus der Familie ins öffent­liche Leben führten und zu einem geachteten Mitglied unter Hamburger Bildungsbürgern machten. Meyer Isler frei­lich war weder autoritär noch ein „harter“ Mann, dennoch ertrug er die Trennung von der Tochter klaglos und erfüllte darin stillschweigend gesellschaft­liche Normen.111

111 Trepp hat die Geschlechterrollenproblematik in Hamburger Bürgerfamilien untersucht. Das Ehepaar Isler passt zu ihren Ergebnissen. Anne-­Charlott Trepp, Sanfte Männ­lichkeit und selbständige Weib­lichkeit, 1996.

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Und Emma? Tja, die fand sich, wie gesagt, erstaun­lich gut zurecht. Sie empfing nicht nur von früh bis spät BesucherInnen und genoss des Abends behag­lich interessante Diskussionen, sie war auch viel unterwegs. Sie ging allein spazieren, wurde von Onkel Panne zu Spazierfahrten und Spaziergängen abgeholt, besuchte, allein oder in Gesellschaft, Vorträge, Konzerte und Theateraufführungen – so häufig kam sie nicht aus dem Haus, als Sophie noch da war, und die Briefeleserin kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Emma bei allem Heimweh nach der Vergangenheit und Sehnsucht nach der fernen Tochter ihr gegenwärtiges Leben durchaus genoss. Die Erleichterung darüber bei den Braunschweiger Kindern, nament­lich Otto, war fühlbar: Ich habe vorher gefürchtet, dass Eure und Sophies Trauer über die Trennung so tief sein würde, dass der Genuss unseres Glückes davon zurücktreten müsse. Wie dankbar bin ich, dass es nicht so ist, und dass es Euch gelingt, Eures Kummers Herr zu werden. Sophie ist eine wahre heldin. […] Noch dankbarer aber bin ich dafür dass auch Ihr viel fester als ich gefürchtet hatte, das Schicksal der Trennung ertragt (Otto, 18. 10. 1867). * Emma Isler – eine widersprüch­liche und für ihre Zeit erstaun­liche Frau. Sie strebte innerhalb der Grenzen, die das 19. Jahrhundert bürger­lichen Frauen zog, nach Selbstverwirk­lichung und lebte an der Seite ihres Mannes gleichgestellt,112 selten überschritt sie diese Grenzen, um in die Hamburger Öffent­lichkeit zu wirken. Dass sie es gegebenenfalls doch tat, zeigt ein Vorfall aus den 1848er-­Tagen, von dem sie ihrer Tochter erst 1872 anläss­lich ihrer Treitschke*-Lektüre berichtete: Bei Erwähnung des Waffenstillstandes bei Malmø 113 erinnere ich mich, dass ich einen Aufruf zur Sammlung von Flottengeldern für die Nachrichten geschrieben und darin gesagt, es ginge ein Schrei der Wut über diesen Waffenstillstand durchs Land. Onkel Siegmund* war damals überzeugt, ich würde gebunden nach dem Stadthaus geführt werden und sah jeden Morgen nach, ob ich noch frei herumliefe … (Emma, 6. 1. 1868). Demonstriert hat Emma Isler also nicht, aber immerhin einen Aufruf verfasst und in die Zeitung gesetzt! Wenn auch die – wie immer ironisch überzogene – Sorge ihres Bruders Siegmund Meyer erheiternd wirkt, bleibt doch der Vorgang selbst bemerkenswert. Politik hatte Emma Isler immer interessiert, sodass es die Briefeleserin nicht verwundert, dass sie zur Feder gegriffen und ihren Aufruf in die „Nachrichten“, Hamburgs politische Zeitung, gesetzt hat. Dass sie es als Frau und Jüdin tat, war selbst in diesen revolu­tionären Zeiten ungewöhn­lich.

112 Die Regel war das nicht in jüdischen Ehen, galt doch dort vielfach das patriarcha­lische Modell. 113 1848 zumindest stand Emma also auf der Seite der Demokraten, die sich für Freiheit und na­tionale Einheit einsetzten. In der Auseinandersetzung um den Verbleib Schleswigs bei Dänemark oder Holstein erzwangen Russland, England und Frankreich 1848 den Waffenstillstand von Malmö, dem sich die Frankfurter Na­tionalversammlung schließ­lich beugen musste. Die na­tionale Entrüstung schlug hohe Wellen und führte zu einem Aufstand der Radikalen, sodass die Na­tionalversammlung um militärische Hilfe bitten musste. Am Ende nutzte der Vorgang der „Reak­tion“, weil sich Liberales Zentrum und Bürgertum gegen demokratische Revolu­tionäre wendeten. Dtv-­Atlas zur Weltgeschichte, 2000, Bd. 2, S. 57.

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Mit anderen Frauen zusammen suchte Emma Isler nach neuen Wegen in der Mädchenbildung und nach Mög­lichkeiten, Frauen den Schritt ins Erwerbsleben zu öffnen. Nach dem Scheitern der Frauenhochschule aber zog sie sich zurück. Erlahmt war ihr Interesse an poli­ tischen und sozialen Fragen mit dem Älterwerden nicht, und auch in der Frauenfrage erfasste sie jede ihr mög­liche Informa­tion. Bezeichnend ist ein Vorfall in den siebziger Jahren: Da ich heute morgen während der Arbeit zur Erholung lesen musste, habe ich in die American Notes 114 hinein gesehen und die Schilderung einer Fabrik in Lowell gefunden: er findet die jungen Mädchen sauber gekleidet und von anständigem Benehmen. Sie wohnen in einem Boarding house in der Nähe, haben ihr Krankenhaus und Leihbibliothek und geben ein Journal heraus, das mit Interesse und Freude gelesen wird. Das also gibt es während wir leben, und wir wagen mit Hochmut auf unsere Bildung zu pochen. Was mir aber noch merkwürdiger ist, dass Du kleiner Fisch [gemeint ist Sophie] das gelesen hast, ohne es nur zu erwähnen (Emma, 14. 8. 1873). Die Fabrik in Lowell gilt noch heute als Beispiel fortschritt­lichster Arbeiterinnen­betreuung; natür­lich mussten die jungen Frauen in dieser Textilfabrik schwer arbeiten, aber die sozialen Einrichtungen waren zukunftweisend. Das sah auch Emma so: Kein Wunder wenn alles nach Amerika auswandert, das Land ist gross genug, halb Europa zu verschlucken und den Arbeitern doch ein menschenwürdiges Dasein zu geben … (ebd.). Bis in die 1880er-­Jahre wirkte Emma Isler auf ihre Umgebung und vor allem auf ihre Tochter ein. Ihre Lebens­ erinnerungen, die so selbstbewusst das eigene Leben in die Entwicklungen und Veränderungen ihrer Zeit einordneten, wirkten über ihren Tod hinaus – eine Nachhaltigkeit, die ihre Bedeutung unterstreicht.

Sophies Erziehung Angesichts einer geistig so selbständigen Frau, die ein so modernes Frauenbild in der sich bildenden bürger­lichen Gesellschaft vertrat, stellt sich natür­lich die Frage, wie Emma Isler die eigene Tochter erzogen hat. Ist es ihr gelungen, die eigenen Überzeugungen an die Tochter weiterzu­ geben? Und wozu entwickelte sich die Tochter, die in einer so „fortschritt­lichen“ Familie aufwuchs? Ihrer Erziehungsaufgabe widmete sich Emma Isler mit Phantasie und Reflexion. Dabei orientierte sie sich an den eigenen Erfahrungen und inzwischen gewachsenen Überzeugungen: Ein Mädchen musste anders erzogen werden als ein Junge, vor allen Dingen aber musste es besser ausgebildet werden, als es landläufig für Mädchen üb­lich war. Schließ­lich sollte am Ende – wir wissen es schon – ein selbständig denkender und handelnder Mensch stehen. Öffent­liche Einrichtungen, die Emma bei dieser Absicht geholfen hätten, gab es in Hamburg nicht, aber es gab gute private „Töchterschulen“ – davon ­später.115

114 Charles Dickens (1811 – 1870), American Notes for General Circula­tion. 1842. 115 Siehe Kapitel „Sophies Schulzeit als Beispiel bürger­licher Mädchenbildung“.

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Zunächst geht es um den Einfluss von Elternhaus und Umfeld. Emmas Liebe konzentrierte sich auf d ­ ieses eine Kind und schuf eine innige Beziehung, die auch den tagsüber abwesenden Vater einschloss. Zärt­lichkeit und Körperkontakt wurden vor Dritten nicht verheim­ licht – in d ­ iesem zunehmend auf „Schick­lichkeit“ bedachten Jahrhundert eher ungewöhn­lich. Onkel Ferdinand [Meyer*] beispielsweise sah das gar nicht gern, wie Sophie Otto mitteilte, als es um Verhaltensregeln während der Möbelkaufexkursion nach Berlin ging: […] [E]r ist nicht so tolerant wie M ­ utter. Er kann schon nicht leiden dass M ­ utter und ich uns einen Kuss geben (Sophie, 27. 6. 1867, 1/2 11 abends).116 Aber Emma war keine Glucke. Sie wahrte Distanz, beobachtete und handelte überlegt und reflektiert. Während Sophies Schulzeit reiste die ­Mutter ohne Gewissensbisse ins Bad oder nach Helgoland und überließ Meyer Isler das Tagesgeschäft der Erziehung. Der nahm sich dann auch Zeit für Sophie und das nicht nur am Wochenende. Aber die M ­ utter blieb in ihren Briefen gleichsam gegenwärtig und stimmte in den Maßnahmen mit ihrem Mann überein. Heraus kam ein erstaun­lich modernes Vorgehen. Das Gespräch ­zwischen Eltern und Kind spielte eine wichtige Rolle. Hier wurde nicht angeordnet, sondern erklärt und an Verstehen appelliert. Liebe, einsichtige Regeln, Konsequenz und Verläss­lichkeit waren die Richtschnur: Ich glaube ich habe meinem eigenen Kinde nie etwas versprochen, was ich nicht halten wollte.117 Auf dieser Basis sich entwickelnd konnte Sophie ­später von sich sagen, sie sei immer ein verständiges Mädel (Sophie, 3. 5. 1867) gewesen. Über Emmas pädago­gische Absichten berichtete Sophie dem Bräutigam, […] deren Ziel es immer gewesen [ist] mich so zu erziehen, dass [m]ich das Alleinstehen nicht ganz hilflos finden möge […] (Sophie, 17. 4. 1867). Emma Isler wollte weg von der Vorstellung, dass ein Mädchen auf jeden Fall heiraten müsse, wollte aber die Verheiratung ihrer Tochter nicht ausschließen. Deshalb wurde Sophie frühzeitig auf die Rolle einer bürger­lichen Frau vorbereitet. War die M ­ utter abwesend, fiel ihr schon während der Schulzeit die Aufgabe zu, das Dienstmädchen zu kontrollieren, den Haushalt im Blick zu haben und dafür zu sorgen, dass es dem Vater an nichts mangelte. So schrieb Emma etwa von Helgoland: […] sorge nur, dass ich alles recht sauber finde. Zur Vermeidung von Irrthum, wiederhole ich noch einmal, dass die gardinen in der Wohnstube abgenommen, gewaschen und wieder aufgesteckt werden wollen. In der kleinen Stube sollen die jetzt auf sind, sitzen bleiben. Dass Vater es nur nicht durch die Vorbereitung zu meiner Ankunft unbehag­lich hat. Lauter Aufträge für eine grosse Tochter! (Emma, 17. 8. 1852). Die „grosse“ Tochter, grade mal zwölf, nahm sich der übertragenen Verantwortung höchst begeistert an. Sophie rapportierte gern, wie weit häus­liche Arbeiten gediehen waren, und Emma gab aus der Ferne Anweisungen, was vor ihrer Rückkehr zu geschehen hätte: Grüss

116 Sophie berichtet z. B. den Eltern vom Erziehungsverhalten des Beamten Schulz* in Braunschweig: „Seine grösste Verrücktheit ist, dass er seinem Jungen keinen Kuss gibt, weil Männer sich nicht k­ üssen müssen. Der „Mann“ ist aber ein Jahr alt!“ (Sophie, 3. 2. 1868). 117 Emmas Erinnerungen, S. 7.

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Johanna [das Mädchen] und wenn es erst an das grosse Reinemachen zu meiner Ankunft geht, so sorge, dass die Tischdecke im Wohnzimmer bei der BunTWÄSCHERIN G ­ EWASCHEN WIRD […] (Emma, 16. 8. 1853). In Hausfrauenpflichten wurde die Tochter also eingeführt. Aber Sophie wusste genau, dass von ihr vor allem ein erfolgreicher Schulbesuch erwartet wurde. In der Konsequenz hieß das: die Entwicklung zu einem „ordent­lichen“ Menschen, der wahrhaftig ist und sich seinen Pflichten nicht entzieht. Emma gehörte nicht zu den Frauen, die ihr Kind ideali­sieren. Im Zusammenhang mit einem Besuch im Hamburger Tempel urteilte sie über das dort Gehörte: […] und von der menschenliebe sprach er. Als brächte sie jedes Kind im reichsten Maasse mit auf die Welt und sie käme ihm nur s­päter abhanden. Ich war also vom ersten bis zum letzten Wort in Opposi­tion, denn ich hasse das Idealisieren der Kindesnatur, für mich ist es ein unmutiger Egoist, der [den?] erst das Feuer des Lebens zu einem ordent­lichen Menschen brennen muss. Ein Process der frei­lich auch manche häss­liche Flecke absetzt. Ein glück­lich gewähltes Beispiel war das Beste an der Rede. Aber das Thema hat mich wie immer gelockt, ich hätte gern auch gesprochen (Emma, Montag 1/2 1 Uhr [21. 10. 1867]). Für Emma war ein Kind von Geburt an ein eigenständiges Wesen, das in einem langen Prozess zu einem mora­lisch geprägten Menschen erzogen werden muss, wohlgemerkt: zu einem ganzen Menschen, nicht zu einem auf die Frauenrolle beschränkten. Dazu gehörten geistige Interessen und Selbständigkeit des Denkens. Ganz sicher sollte Sophie nicht das werden, was Meyers Nichte Helene Heymann* vorlebte: Aber Mann und Kinder sind ihre Welt, wo die sind, wurzelt sie. Sie ist also das echt weib­liche Weib, höchst liebenswürdig in ihrer Art, aber eigent­lich ein halber Mensch, der erst durch die andere Hälfte etwas wird. Ich mag lieber ganze Menschen! (Emma, 16. 5. 1868, 10 Uhr morgens). Wer verfangen blieb in der sogenannten natür­lichen Bestimmung der Frau, verlor sich am Ende selbst. Zentral also war Emmas Überzeugung, dass die Mädchenerziehung über den Alltag und das „Haus“ hinausführen sollte, in eine geistige Höhe, von der frau den Überblick über das Ganze gewann und Interessen entwickelte, die sie zur Selbständigkeit befähigten. Das galt für verheiratete wie unverheiratete Frauen. Bliebe Sophie unverheiratet, sollte sie dennoch ein „ganzer Mensch“ sein. Wenn Emma s­ päter das Leben von Sophies reicher Schulfreundin Johanna Hirsch* betrachtete, die rastlos unterwegs war und nach einem Lebenssinn suchte, fühlte sie sich an frühe Mahnungen erinnert: […] zur Zeit der seligen Hochschule 118 die nun schon über 20 Jahre tot ist, [sagte ich] einmal zu Mme Hirsch […], ich wunderte mich, dass die den Blick ihrer Kinder nicht mehr aufs Allgemeine lenkte, der Mensch müsse Interesse haben, das über sein Ich und über die Familie hinaus ginge […] (Emma, 16. 2. 1872). Mochte Emmas Urteil zu d ­ iesem Zeitpunkt aus ihrer Sicht richtig sein, stehen bleiben darf es nicht. Denn Johanna Hirschs* Interessen und die ihrer Schwester Marie* gingen über

118 Hochschule für das weib­liche Geschlecht, 1850 – 1852; Sophie und Johanna waren z­ wischen zehn und zwölf Jahre alt.

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Abb. 9  Sophie Isler als Kind in Hamburg (aus Sophies Album zur Silberhochzeit ihrer Eltern)

den engen familialen und Geschlechterrahmen hinaus. Sie lagen im künstlerischen Bereich: Johanna malte und bildete sich stetig fort, trat allerdings nicht an die Öffent­lichkeit. Sophie versäumte bei keinem ihrer Hamburgbesuche, sich ihre neuesten Bilder anzusehen und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Von herausragenden Ergebnissen oder gar Ausstellungen wird nicht berichtet. Anders Marie! Sie wurde Schriftstellerin und begann unter einem männ­lichen Pseudonym ab 1880 zu veröffent­lichen.119 Johanna begleitete die schreibende Schwester auf Reisen und schirmte ihr Arbeiten nach außen ab; erst s­ päter erfuhr der Hamburger Freundeskreis von Maries erfolgreicher schriftstellerischer Tätigkeit.120 „Unerfüllt“ also, nach Emmas Defini­tion, konnte man das Leben der Geschwister Hirsch nicht nennen, aber sie arbeiteten beide natür­lich nicht für ihren Lebensunterhalt. Emmas Erziehungsziel bedingte, dass Sophie immer im Mittelpunkt liebevoller Aufmerksamkeit stand. Wenn Islers während Sophies Kindheit untereinander vom „schönen

119 Marie Hirsch alias Adalbert Meinhardt. Näheres unter „Frauenbiographien“ im Anhang. 120 1887 wird Maries „Geheimnis“ öffent­lich. Dazu Meyer an Sophie: Therese [May] habe erzählt, „dass M. Hirsch über das Bekanntwerden ihres geheimnisses garnicht ungehalten ist; sie hatte nur den Pöseldorfer Klatsch gefürchtet, das scheint überwunden. […] Im Auslande werde es wohl nicht bekannt werden, ungünstige Recensionen aus dem Vorurteil gegen Schriftstellerinnen würden sie sehr ­kränken, dem wird sie aber nur schwer­lich entgehen“ (Meyer, 10. 1. 1887).

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Kind“ sprachen bzw. schrieben,121 wusste Sophie doch frühzeitig, dass „nied­lich“ aussehen hilfreich war, dass aber zuerst geistige Interessen und intellektuelle Fähigkeiten den Beifall der Eltern fanden. Neben die „moderne“ Pädagogik trat also Bildung als wesent­liches Element. Hier gab es Lob für jedes gelesene Buch und ermunternde Zustimmung, als Sophie eng­lische Bücher in der Sprache der AutorInnen zu lesen begann: Sophie hat inzwischen einen grossen Act ihres Lebens begonnen: sie hat den ersten Roman auf Eng­lisch gelesen, natür­lich, wie Du vermuten kannst, ohne Wörterbuch; sie ist daher auch schon fertig mit Master Humphrey’s Clock 122. Vor einer Stunde fragte ich sie: willst Du nicht an ­Mutter schreiben? „Ja“ war die Antwort aus tiefer Brust und – las weiter. Augen und Backen brauche ich Dir nicht zu beschreiben (Meyer, 22. 8. 1853). Auch Sophie schreibt der ­Mutter über „Master Humphrey’s Clock“: Vater sagt immer, es ist unrecht, dass ich nicht nachschlage, aber das kann ich nicht, dazu ist es zu amüsant. […] Es ist in 3 Bänden, […] die anderen 1 1/2 sind Barnaby Rudge. Bitte schreibe mir, ob ich es auch lesen darf, oder es zurück geben muss. Und dann: darf ich Jane Eyre lesen?? (Sophie, 22. 8. 1853). Die Zustimmung der Eltern kam prompt,123 verstimmte allerdings Amanda Noack, Sophies Lehrerin, die diese Lektüre für verfrüht hielt. Immer waren Emmas Briefe an Sophie eine Ermunterung zum Lernen, zum Aufmerken auf ihre Umgebung und ein Anstoß, nachzudenken. Von Helgoland schrieb sie ihr z. B., dass Onkel ferdinand* […] jeden Morgen für Dich Steine sammelt, und fährt fort: Ich weiss nicht, wieviel Du von geologie weisst, von den Schichtenbildungen der Erde durch Ablagerung und wie diese Schichten dann durch vulkanische Erschütterungen gehoben werden und schräge oder wellenförmig oder halb umgestürzt erscheinen. Ich hoffe Du wirst bis Du einmal hierher kommst soviel gelernt haben um selbständige Entdeckungen machen zu können. Denkst Du aber keine Gelehrte sondern eine Dichterin zu werden, so rathe ich Dir viel auf den Dünen zu sein, da murmeln und plaudern die Wellen so viel, dass wer sie nur verstehen könnte, wunder­liche Geschichten erzählen dürfte … Sollte es aber Deine Bestimmung sein, ein kleiner dummer Junge zu bleiben, so thut es aber auch nichts ich habe Dich doch lieb (Emma, 16. 8. 1853). Spaßhaft legt die ­Mutter die Latte hoch – Gelehrte oder Dichterin – und fängt dann schnell den eigenen Anspruch wieder ein – doch nur „ein kleiner dummer Junge“, aber immer geliebt. Heißt das nun: eine „kleine Hausfrau“ auf keinen Fall? Bei dieser Gewichtung in der Erziehung wird verständ­lich, dass Sophie in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn sie im eigenen Leben ­später ­zwischen der Rolle der perfekten Hausfrau und der der gebildeten Ehefrau zu jonglieren hatte. Wirk­lich sicher scheint sich Sophie näm­lich nicht gewesen zu sein, was das Traumziel ihrer M ­ utter für ein Frauenleben 121 Beide waren sich bewusst, dass das „Auge der Liebe“ anders urteilt als „die Gleichgültigkeit“ (Emma, 15. 6. 1882, 17. 6. 1882). 122 Charles Dickens, Master Humphrey’s Clock, 1841. 123 Vier Tage ­später berichtet Meyer: „Sophie liest jetzt mit Sophie Hamburg zusammen franzö­sisch. Sie haben sich Corinne von Mme de Stael geholt […]“ (Meyer, 26. 8. 1853).

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war, sonst hätte Emma nicht schreiben können: Hast Du eigent­lich geglaubt ich wolle dass eine Frau nicht in Mann und Kindern das Höchste sehen soll[?] Ich will ja nur dass sie nicht blind und taub sei gegen das mächtige leben um sie herum, von dem die ihr Teuersten ja nur ein Teil sind, und dass sie verstehen muss, damit Jene es verstehen l­ ernen (Emma, 23. 5. 1868).

In ihren „Kindheitserinnerungen“ berichtet Sophie davon, wie wichtig Bücher für sie waren, […] da ich doch als einziges Kind viel allein war.124 Ihren Büchern widmete sie sogar ein eigenes Kapitel. Neben den klas­sischen Bänden bildungsbürger­licher Erziehung von Grimms Märchen über Robinson zu Homers „Odyssee“ und Schwabs „Sagen des klas­sischen Altertums“ finden sich reine Mädchenbücher wie „Mariens Tagebuch“ von A. Stein*, einer Schriftstellerin, die die ganze Breite der Mädchenliteratur bis in die „Backfischzeit“ abdeckte. Aber auch der erste Band der illustrierten „Zeitung für die Jugend“125 gehörte dazu, der eine reiche Palette von der Erzählung über Rätsel bis zu Kulturgeschicht­lichem enthielt. Sophie durchstöberte die einlaufenden Büchersendungen an den Vater und die väter­liche Bibliothek: […] verboten war mir […] nichts. Vater verließ sich auf meinen guten Geschmack und mein harmloses Gemüth.126 Vierjährig hatte sie sich selbst das Lesen beigebracht 127 und die Eltern mit dem Ergebnis verblüfft; oft saß sie, wenn Emma Besuch hatte, lesend unterm Tisch oder ­später der ­Mutter gegenüber: […] ich sehe uns noch […] am Tisch sitzen, jede mit einem Band der Pickwickier 128 und uns vor herz­lichem Lachen schütteln.129 Immer „begleiteten“ die Eltern die lesende Tochter, selbst Meyer las in Sophies Interesse 130 das „Lebensbuch“ von A. Stein, um es anschließend zu genehmigen. Geht man auf Distanz, fällt auf, dass ­dieses kleine Mädchen in erster Linie ein „Bücherkind“ war. Später sollte Sophie sich kritisch dazu äußern, während sie sich mit der M ­ utter brief­lich über Kindergärten unterhielt. Ich glaube, Du gehst in Deiner Verdammung der Kindergärten zu weit, Ma. Ich bin auch sehr gegen das Schematisieren, und mir geht der Atem aus, wenn ich denke, wozu die Kinder alle werden sollen, alle Handwerke und Künste sollen ihnen im Keim beigebracht werden. Aber glaubst Du nicht, dass Erziehung zur Tätigkeit sehr heilsam ist? Ich glaube körper­lich und geistig wäre es Dir sowohl wie mir gesund gewesen. Wie oft hast Du es beklagt, dass nicht mehr für meine körper­liche Ausbildung als Kind geschehen ist und meinst Du nicht, es wäre mir gesünder gewesen, mich mit Laufen, Springen, Bauen und Zeichnen zu beschäftigen als unter dem Tisch zu sitzen und zu lesen? Die Kindheit ist lang und die Tage sind lang und gut geleitetes Spiel kann nichts schaden. Wenn das Kind 124 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 36. 125 Brockhaus und Avenarius, Leipzig 1846 (nur der erste Band erschien). 126 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 35. 127 Ebd., S. 5. 128 Charles Dickens, Die Pickwickier, 1837. 129 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 37. 130 Ebd., S. 36.

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es nicht mag, na dann nicht (Sophie, 29. 1. 1872). Sophies halber Vorwurf, Emmas späte Einsicht – beides verweist darauf, dass ­dieses Kind sehr früh den „gefühlten“ Elternwunsch zu erfüllen trachtete, ein „gebildetes“ Kind zu werden. Hinzu kam sicher die sanfte Gängelung, die Mädchen hinderte, ein „wildes“ Kind zu werden. Getobt, gerannt, gesprungen ist Sophie Isler wohl eher selten, sieht man von den Schulpausen ab, doch zum Baden und Schwimmen hat die M ­ utter sie angehalten. Hinzu kommt: Sophie Isler war ein Stadtkind und ein Einzelkind. Anders als ihre M ­ utter, die mit den Geschwistern in Hof und Garten in Dessau gespielt hatte, ging sie mit ­Mutter oder Vater auf gepflasterten Straßen und planierten Wegen in Hamburg spazieren, eine Freundin durfte dabei sein, aber Rennen und Klettern schloss diese bürger­liche Freizeitgestaltung nicht ein. Ob mehr Bewegungstraining Sophie ­später vor ihren Laufproblemen bewahrt hätte? Ob mehr Kontakte zu der Welt anderer Kinder, über den innerjüdischen Familienkreis ­hinaus, mehr zeitweise Distanz zum starken Einfluss des gebildeten Elternhauses ihr s­ päter die eigene Rollenfindung erleichtert hätten? Trotz aller Zuwendung und Modernität: Selbst bei Sophie lief nicht immer alles optimal, aber sie wurde nicht geschlagen – Islers waren Gegner körper­licher Strafen 131; Emma „lenkte“ mit Blicken und konnte „heftig“ werden, Meyer blieb milde, strafte aber diffiziler, nicht durch Liebesentzug, sondern durch Quasilustentzug, wie die zeitweise Wegnahme eines Buches vom Geburtstagstisch zeigt. Das geschah, als Meyer Isler erst am Geburtstag selbst erfuhr, dass Sophie von der Lehrerin erneut getadelt worden war (Meyer, 4. 8. 1850). Aber er verfügte nicht einfach, sondern erklärte seiner Tochter seine Erziehungsmaßnahme und Sophie fühlte sich nach dem tränenreichen Gespräch erleichtert, versprach Besserung und hatte den Vater weiter lieb, wie dieser an Emma berichtete (ebd.), doch froh, dass diese skrupulös überlegte Maßnahme keine negativen Folgen für Sophies Verhältnis zu ihm hatte. Auch das ist wichtig: Sophie wurde zur Schule geschickt, sie wurde nicht einer Gouver­ nante überlassen. Dafür gab es Gründe, einer war sicher, dass Emma selbst eine Schule besucht hatte und einzelnen Lehrern lebenslang ein dankbares Erinnern bewahrte. Und Sophie selbst war überzeugt, dass die wachsende Wissensfülle im seltensten Fall von einer einzelnen Lehrerpersön­lichkeit vermittelt werden könnte, die Spezialisierung in einzelne Fächer und WissensvermittlerInnen schien demgegenüber geboten. Aber eine Schule leistet mehr: Dazu kommt noch, dass der Verkehr mit Kindern und die ganze demokratische Organisa­tion einer Schule auf den Charakter so viel besser wirkt, als das abgeschlossene haus, ebenso wie mehrere Kinder sich gewiss leichter erziehen lassen und 131 Am 17. 6. 1867 schreibt Otto: „[…] betty meinte, im Gegensatz zu den Ansichten Deiner M ­ utter, ohne Prügel könne man kein Kind gut erziehen und ihr eigenes Kind ziehe die Prügelstraf allen anderen Strafen vor […].“ Sophie antwortet: „Ehe ich über Betty Thomas’ Erziehungsansichten urtheile, wollen wir das Resultat abwarten. Ich weiss nicht, ob ihr Kind ein Mädchen ist, sollte es sein und Dir Betty’s Erfolge mehr zusagen als Mutters, so erlaube ich Dir, Dich von mir scheiden zu lassen und sie zu heiraten!“ (Sophie, 18. 6. 1867).

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dem Leben kräftig gegenüberstehen [treten] können als eine allein. Sagt doch Anna May*: alle einzigen Kinder taugen nichts! (Sophie, 13. 7. 1867, nachmittags). In der Tat: Für das Einzelkind Sophie war die Schule ein notwendiger Ort. Hier fand sie viele Freundinnen, mit denen sie gemeinsam lernte und spielte, wie z. B. Johanna Hirsch*, die spätere Beraterin in allen Modefragen. Gespielt hat sie allerdings auch mit den vielen Kusinen und Cousins, bei Tante Malchen (Cohen*), Meyer Islers Schwester,132 und bei Onkel Ludwig (Meyer*),133 Emmas Bruder. Bei beiden war sie wie ein Kind im Hause, sodass das Fehlen von Geschwistern sich nicht negativ fühlbar machte. Sie lernte die schmalen Verhältnisse bei Tante Malchen kennen und das Glück einer harmonischen Familie, und sie erlebte einen großzügigen Lebensstil im fried­liche[n] Meyerschen Haus (Sophie, 26. 6. 1872) bei Onkel Ludwig*, der bald schon ein Haus am Jungfernstieg kaufte, in ganz bevorzugter Lage, und außerdem jeden Sommer mit der ganzen Familie nach Pöseldorf „aufs Land“ zog, ins Sommerhaus. Das war eine Lebenswirk­lichkeit mit ziem­licher Spannweite und Sophie lernte, sich sicher z­ wischen diesen Polen zu bewegen. Als „verzogenes“ Einzelkind musste sie sich nie betrachten. Dem interessierten und lernbegierigen Mädchen brachte der Vater nach dem Ende der Schulzeit noch manches bei, was damals nicht zur üb­lichen Mädchenbildung gehörte, z. B. Latein. Er war es auch, der protestierte, als er erfahren musste, dass in Braunschweig Damen zu Vorträgen nicht zugelassen waren: Dass aber bei Euch Vorträge im Club gehalten werden bei denen die Damen gebeten werden zu Hause zu bleiben will mir nicht in den Kopf. Da ist doch Gefahr, dass die damen ganz dumm bleiben und das möchte ich doch für meinen Sprössling garnicht (Meyer, 3. 11. 1867). Dass dies allerdings nicht nur Meyers, sondern auch Emmas Meinung war, kann man sich denken. Emma ihrerseits ließ sogar ihren Mann am Abend allein, um in einen Vortrag zu gehen, wenn der sie interessierte: Heute Abend bin ich vielleicht eine schlechte gattin, ich lasse Pap allein und gehe zu Jordan 134 (Emma, 11. 11. 1867). Diese Haltung erwartete sie auch von ihrer Tochter in Braunschweig, hatte diese doch in Hamburg häufig Vorträge besucht und dadurch ihre Bildung erweitert. Das waren vor allem Literatur und Wissenschaften, in die vortreff­liche Vorlesungen einführten […].135 Sophie selbst erzählt, dass sie […] erst als ganz erwachsenes Mädchen durch Vorträge, die Fräulein

132 Bei Tante Malchen finden wir die Kusinen Julie, Helene, Mathilde und die Vettern Adolf, David und Martin. Julie und Helene waren im Alter voraus, sodass Sophie vor allem mit Mathilde und den jüngeren Brüdern spielte. Julie (verh. Udewald*) und Helene (verh. Heymann) spielen allerdings 1867 als junge verheiratete Frauen in Sophies Briefen eine Rolle. 133 Onkel Ludwigs Kinder sind: Anna [May], Adolf, Heinrich, Elise, Paul und Therese. Hier spielte Sophie vor allem mit den beiden ältesten. Paul starb noch als kleines Kind und Therese war 10 Jahre jünger als Sophie, in der Kindheit also eher Spielzeug als Spielgefährtin. 134 Es geht um Sophokles’ „Antigone“: „Ich hatte wieder das gefühl, dass Sophokles meinem verständnis so viel näher steht als Shakespeare“ (Emma, 23. 11. 1867). 135 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 31.

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Mestorf° vor Damen hielt […] z. B. die deutsche Götterlehre kennenlernte.136 Außerdem erhielt Sophie Musikunterricht und versuchte sich im Klavierspiel, was allerdings zu keinen nennenswerten Ergebnissen führte – Sophie fand sich unmusika­lisch und die Lehrerin, die ihr die Musik nahezubringen wusste, zog leider von Hamburg fort. Dafür durfte Sophie ­später Unterricht im Zeichnen nehmen – aus pekuniären Rücksichten hatte sie sich lange nicht getraut, darum zu bitten.137 Die „Kunst“ betrieb sie mit Geschick und Eifer bis zu ihrer Verlobung, wie sie sich überhaupt für die bildende Kunst interessierte und an dem regen Kunstleben,138 das sich in Hamburg entwickelte, zusammen mit Johanna Hirsch* teilnahm. So wurde unter der Liebe und Sorgfalt beider Eltern aus dem „schönen Kind“ auch noch ein kluges und gebildetes Mädchen, allerdings kein Blaustrumpf! Eine Frau, die über ihren intellektuellen Interessen Mann und Kinder vernachlässigte, war ja nicht das Ziel. Emma wünschte, dass ein Mädchen die „Wirtschaft“ beherrschte, nicht aber sich von ihr beherrschen ließ. Deshalb beobachtete sie streng und kritisch Sophies Wirken in den e­ rsten Wochen ihrer Ehe. Sie fand lobenswert, dass die Tochter früh auf war, dass sie perfekt angezogen und frisiert Besuch entgegentreten konnte, sie erbaute sich an dem Bild, das ihre Phantasie erstellte: […] Dich sehe ich in nied­lichen Morgenmützchen Taschen [Tassen?] waschen und herumlaufen […], und tadelte gleich eine Nachlässigkeit: […] aber unfrisiert zu Tische kommen wird sich doch hoffent­lich nicht wiederholen (beide Stellen: Emma, Sonntag, 12 Uhr [20. 10. 1867]). Vor allem aber vermisste Emma, dass Sophie sich eigenen Interessen widmete: Auch von Dir möchte ich gern, dass Du so viel Musse fändest um zeichnen oder latein w ­ ieder aufzunehmen. Ich sage das nicht aus Blaustrumpfigkeit, denn ich finde es sehr natür­lich, dass Dich das neue Leben ganz in Anspruch nimmt und die Details der Wirtschaft Dich sehr beschäftigen und wärest Du in Hamburg könnte es meinetwegen noch Monate dauern, der Hunger nach geistiger Arbeit wird schon von selbst kommen; wenn Du aber in Braunschweig darauf wartest, so würde er den Charakter eines quälenden Heimwehs annehmen und das möchte ich nicht […] (Emma, den 22.[10.1867], 11 Uhr). Emma Isler fürchtete, dass der Tochter die geistige „Luft“ des Hamburger Elternhauses fehlen könnte, deren Äquivalent Emma bezeichnenderweise in Braunschweig nicht voraussetzte. Aber Emma sorgte sich auch, dass die kluge Tochter alles vergessen könnte, womit die ­Mutter ihr Leben hatte bereichern und über die Existenz als Nur-­Hausfrau hatte hinausführen wollen. Deshalb verfolgte sie in Hamburg mit Missfallen Sophies Verhalten als junge Hausfrau und Mahnungen blieben nicht aus: Bitte lasse Dich nicht durch die Sitte der Stadt dazu bringen, selber gar zu viel zu arbeiten, es ist ein Irrtum, dass eine gute Hausfrau und ein gutes Dienstmädchen identisch sind. Ich glaube, Du hast es in Dir Dein Hauswesen verständig zu übersehen und Deines Mannes Verhältnissen anzupassen und das allein ist Deine Pflicht,

136 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 35. 137 Lehrer wurde Bernhard Mohrhagen*. 138 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 31.

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zu viel Detailarbeit hindert den Überblick über das Ganze. Ein gutes Dienstmädchen wirst Du nie, Du kannst Dich höchstens bei dem Versuch für Dein Leben krank machen, und dann kann Otto nicht einmal kündigen (Emma, 11. 11. 1867). So witzig die Mahnung am Ende daherkommt – Emma war mit der geliebten Tochter gar nicht einverstanden und sah sie geistig schon versauern: Nur Bergluft atmen hilft, von sich selber weg auf grosse Interessen blicken und dazu ist „Simons Leben“ gewiss eine vortreff­liche Lektüre; aber lesen allein hilft auch nicht, am besten ist doch eigene geistige Arbeit. Ich habe Dich schon neu­lich gewarnt [gemahnt?], Deine alten Beschäftigungen so bald wie mög­lich wieder aufzunehmen (ebd.). Ähn­lich die Mahnung rund sechs Wochen ­später: Du musst Dir das Leben nach eigenem Ermessen einrichten, nur so dass nichts im Haushalt vernachlässigt wird, dass Du gesund und heiter bleibst und vor allem geistig fortschreitest (Emma, 21. 12. 1867, im Brief vom 20. 12. 1867). „Bergluft atmen“ also und „von sich selber weg“ auf das wirk­lich Wichtige sich konzentrieren, „und vor allem geistig“ fortschreiten – das ist es, was Emma von der Tochter erwartete, denn das hatte ihr eigenes Leben bestimmt und bisher bereichert. Diese ­hochgesteckten Ziele und bildungsbürger­lichen Ansichten prägten die Erziehung Sophies: Weg von der Enge des täg­lichen Daseins auf hohe ethische Ideale und Vorstellungen sich richten, und damit dem Leben einen höheren Sinn geben. Emmas Anspruch und ihre Erziehung haben die Tochter zu einer geistig interessierten jungen Frau gemacht, die sich dessen bewusst ist, dass sie in der Ehe sich sitt­lich vervollkommnen soll. Darüber wird ­später noch einmal zu reden sein.139 Aber zu eigenen, ähn­lich drängenden Fragen an Leben und Gesellschaft, wie sie sich Emma stellten, kam Sophie nicht. Denn Emmas Ausrichtung auf „geistige Arbeit“ blieb für Sophie ohne erkennbar reales Ziel und ließ deren deut­lichen Wunsch, etwas zu „nützen“, unberücksichtigt. Emmas Erziehung hat sich allerdings nicht darauf beschränkt, Charakter und Gemüt der Tochter auszubilden und geistige Bedürfnisse zu wecken. Sie hat versucht, Sophies Entwicklung zu einem selbständigen Menschen zu fördern und dabei die Tochter zur Vertrauten gemacht: Aus dem Kind hatte sich eine liebende und sensible Freundin entwickelt. Deshalb schreibt Sophie an Otto: Abwarten-­können ist eine der schwersten Aufgaben in der Freundschaft, aber nur wer das kann ist eine Freundin im höchsten und besten Sinne. Wie oft ist schon das Verhältnis von Eltern zu Kindern gescheitert, dass jene nicht begreifen konnten dass diese selbstständige Menschen, die ihre eigenen bahnen gehen müssen und dennoch ihr eigen bleiben als in der Zeit der Abhängigkeit. Mir liegt gerade d ­ ieses Beispiel nahe, weil meine ­Mutter dies in so wundervollem Masse verstanden hat. Sie ist dadurch meine beste Freundin geworden, dass sie mir nie ihre Autorität aufgedrungen hat in den Zeiten wo ich anfing, geistig auf eigenen Füssen zu stehen. Du weißt (oder vielleicht weißt es auch nicht) wie ganz eins wir sind, wie jeder bei dem anderen auf das höchste Verständnis rechnen kann, und das ist das einzig richtige, wenn auch ideale und vielleicht recht selten ­zwischen ­Mutter

139 Siehe Kapitel „Vom Sinn der bürger­lichen Ehe“.

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Abb. 10  Ausschnitt aus einem Brief Emma Islers an Sophie Magnus, Neujahrstag 1876

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und Tochter. Wieviel ich dieser Zurückhaltung, von ­diesem Stillehalten und Wartenkönnen geerbt, müssen Zeit und Leben lehren. Dies bezieht sich natür­lich eben nur auf Freundschaft, denn in der Liebe werden mit Gottes Hilfe keine Pausen kommen, die da allerdings mit Bangen und Zagen zu ertragen wären (Sophie, 29. 4. 1867). Mit Bedacht unterscheidet Sophie ihrem Bräutigam gegenüber hier z­ wischen Liebe und Freundschaft und weist der M ­ utter den Rang der besten Freundin zu. Dass die ­Mutter ihre Tochter durch ihr „Abwarten-­können“ auch zu einem geistig selbständigen Menschen erziehen wollte, ist Sophie bewusst, und im Gespräch und Austausch mit der ­Mutter scheint sie ­dieses Ziel erreicht zu haben. Mit ihrer Wendung zur Liebe bezeichnet Sophie jedoch einen Unterschied. Hält die Freundschaft Wartezeiten aus, sollen sie in der Liebe „mit Gottes Hilfe“ nicht kommen. – Schloss das Wunschbild eines sich Einlebens in den andern Selbständigkeit von vornherein aus und zielte auf eine Gemeinsamkeit auch des Denkens, neben dem Gleichklang des Gefühls? Sophies Ehevorstellung, von der s­ päter zu lesen ist, scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Die Passage macht auch deut­lich, dass eine derartige Beziehung ­zwischen ­Mutter und Tochter keine naturgegebene ist, sondern eine Leistung, die hier durch Weitsicht, Altruismus und Langmut erreicht wurde. Emma, so Sophie, konnte sich zurücknehmen, sie konnte auch loslassen. So schwer der M ­ utter die Trennung von der Tochter fiel, sie hat weder gegen die Heirat „gearbeitet“ noch ihre Gegenwart dem jungen Paar aufgedrängt. Emma hielt nichts von Müttern, die zu ihren Töchtern ziehen, weil sie weiter an deren Leben teilhaben w ­ ollen, und dabei gar nicht merken, dass sie Ehe und Selbständigkeit ihres Kindes gefährden, wie sie an der Doktorin Wohlwill* kritisierte, wenn sie an Sophie schreibt: Du weißt wie ich davon denke, wenn eine M ­ utter bei ihrer verheirateten Tochter lebt und ich warnte sie [Anna Wohlwill°] aufs ernst­lichste sich nicht durch ein falsches Pflichtgefühl […] abhalten zu l­ assen, dem Plane der M ­ utter [zu einer verheirateten Tochter zu ziehen] aufs ernsteste entgegen zu arbeiten. Sie war überrascht als ich sagte, dass ich glaube, ich könnte Deinem Glück gefähr­ lich werden […] (Emma, Sonnabend, [26. 10. 1867]). Auffallend ist, dass Emma sich zwar dauernd nach der Tochter sehnte, sie aber doch im Verhältnis dazu eher sparsam besuchte und in der Regel nach 14 Tagen wieder aufbrach. Ihr war bewusst, dass die enge Beziehung zu Sophie diese in einen Konflikt hätte bringen können. Deshalb schrieb sie noch am Tage des Aufbruchs des jungen Paares nach Braunschweig: Adieu mein Geliebtes, stemme Dich nicht gegen die Macht der neuen Eindrücke und halte Dein Glück nicht für Untreue. Sei nur vergnügt, Du liebst Deine Alten doch; verderb Deinem armen Jungen nicht sein Schönstes Glück […] (Emma, 14. 10. 1867). „Freundschaft“ hat Sophie die Beziehung genannt: Es war in ­diesem Punkt eine erstaun­lich „erwachsene“ ­Mutter-­Kind-­Beziehung! Aber hat Emmas Erziehung Sophie wirk­lich zu einer selbständigen jungen Frau gemacht? Die Antwort fällt schwer. So sicher Sophie im Elternhaus und dem anspruchsvollen Hamburger Kreis auftrat, so unbekümmert und ungeniert sie Vorgänge und Menschen beurteilte – im schlichten Braunschweig zeigte sie sich lange Zeit verunsichert. Sie igelte sich in der hübschen Wohnung ein und verließ in der Regel nur mit Otto diesen Schutzraum. An seinem Arm Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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ging sie zu den Schwiegereltern und Tanten, mit ihm zusammen machte sie Besorgungen, bei denen er darauf bestehen musste, dass sie die Geschäfte selber ­abwickelte. War Otto aus beruf­lichen Gründen mal eine Nacht nicht zu Hause, musste Dorette, das Dienstmädchen, nebenan schlafen. Erst nach Monaten, nach wachsender Kritik des Schwiegervaters und ernsten Ermahnungen Emmas, fand sich Sophie bereit, regelmäßige Spaziergänge mit Otto zu machen und dabei den Radius allmäh­lich zu erweitern. Dabei waren ihm selbst Luft und Bewegung ein Bedürfnis, das er um Sophies willen zurückstellte, wie er überhaupt auf jede Ängst­lichkeit und kleine Unpäss­lichkeiten einging, sie umsorgte und pflegte. Diese liebevolle Besorgtheit half Sophie schließ­lich, sich in Braunschweig ganz allmäh­lich einzuleben, wenn sie auch eigent­lich Hamburgerin blieb und den Mangel eines geistig anregenden Umfeldes auch nach Jahrzehnten noch beklagte.

Sophie findet ihre Rolle in Braunschweig Mit der Aufgabe, einen eigenen Haushalt zu führen, kam Sophie lange Zeit nicht zurecht;140 immerhin lernte sie im Laufe der Zeit, ihren Dienstboten gegenüber aufzutreten. Das Gefühl aber, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, hielt lange an. – Mit Otto praktizierte sie die bürger­liche Rollenteilung: Sophie repräsentierte die junge Ehe nach innen: Sie machte aus der Wohnung ein Heim, war eine geschickte, liebenswürdige Gastgeberin und sorgte für Unterhaltung, Fröh­lichkeit und ein behag­liches Leben. Otto, ganz Mann, vertrat das Paar nach außen, war viel unterwegs, in der Stadt und auch über Land, er besuchte seine Herrenabende und ging in den Klub; Ämter in der jüdischen Gemeinde nahm er dann wahr, wenn sie ihm angetragen wurden, sonst konzentrierte er sich auf seine Praxis. Eine darüber hinaus­ gehende Hierarchie gab es jedoch nicht: Sophies Wunsch, auf Augenhöhe miteinander zu leben, hatte sich erfüllt. Aber es dauerte Jahre, bis sie zu sich und ihrer Rolle vollständig fand. Ende 1871 – seit der Hochzeit waren vier Jahre vergangen – begann Sophie vorsichtig, über den häus­lichen Umkreis hinauszugreifen. Sie beteiligte sich an der Gründung des Erziehungsvereins in Braunschweig,141 scheute aber davor zurück, die Leitung zu übernehmen, wie sie überhaupt öffent­liches Auftreten vermied. Sie selbst begründete ihre Haltung so: Anregen kann ich nur die, die gleiches Interesse oder gleiches Streben mit mir haben, neue[n] Gedanken Eingang zu verschaffen, dazu fehlt mir jede Fähigkeit. Wie würde ich sonst 4 Jahre an einem ort in völliger Einsamkeit gelebt haben? Wie würde Anna Wohlwill° da gewirkt haben! (Sophie, 8. 2. 1872). Zwei Tage s­päter kam sie noch einmal auf das Problem zurück:

140 Siehe Kapitel „Von Geburt an für nichts als die ‚Wirtschaft‘ bestimmt?“. 141 Die Vereinsgründung wird in der „Deutschen Schulzeitung“ vom 6. 10. 1871 angezeigt; die Gründungsversammlung fand am 2. 10. 1871 in den Räumen des „musika­lischen Kindergartens“ in Braunschweig statt. Deutsche Schulzeitung, 1. Jahrgang, No. 14.

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Mir fällt eben ein, dass ich so wenig auf andere als auf ganz Gleichgesinnte und -fühlende einzuwirken vermag wohl daran liegt, dass ich ein einziges Kind bin, zu viel mit mir selbst gelebt habe und darum so schreck­lich sensitiv gegen Mangel an Sympathie und verständnis bin (Sophie, 10. 2. 1872). Deshalb dauerte es lange, bis Sophie mehr Selbstbewusstsein erlangte. Noch 1874 beurteilte Emma ihr Verhalten kritisch: Ich möchte Dich wohl mal in einer Vorstandssitzung sehen, ich glaube Du machst den Mund nicht auf und schreibst mir nachher Deine Meinung (Emma, 2. 3. 1874). Dann aber erinnert sie Sophie an eine der ursprüng­lichen Absichten und verknüpft diese geschickt mit den Zukunftsaussichten des inzwischen geborenen Rudolf: Du wolltest ja für gute Mädchenschulen agitieren: aus einem Jungen kann nur etwas werden, wenn er eine gebildete ­Mutter hat, und aus einem [Mädchen] nur, wenn sich der Vater ihrer Erziehung oder besser ihres Unterrichtes annimmt (ebd.). Der Grund lag für Emma auf der Hand: Braunschweig, das früher zu den gebildetsten Städten gezählt hat ist sehr heruntergekommen, Riegel* behauptete neu­lich hier, die Frauen der dortigen Professoren hätten den Bildungsstand von Köchinnen. Da hast Du also ein großes Feld der Wirksamkeit; Rudolf muss doch eine gebildete Frau haben. Was der wohl wird? (ebd.). Emmas Brief mischt wie häufig Kritik mit Ermunterung und verfehlt sein Ziel nicht. Auch wenn Sophie sich nicht an die Spitze wagte, blieb sie doch jahrelang im Vorstand des Vereins 142 und brachte ihre Vorstellungen und Hamburger Erfahrungen ein. Auch im „Kinderschutzbund“ ihrer Schwägerin Bertha Magnus°, den Sophie im Erziehungsverein angeregt hatte, engagierte sie sich – hier wie dort als Kassenfrau – und blieb bei solcherart ehrenamt­lichen Tätigkeiten, auch nachdem sich ihre Familie durch die Kinder end­lich vergrößert hatte. 1872 hatte Sophie weitere Schritte aus der Familie heraus gemacht, denn inzwischen „beherrschte“ sie ihren Haushalt so weit, dass sie die freie Zeit als Belastung empfand: ­Gestern habe ich einmal wieder übersetzt, ich kann meinen Müssiggang nicht gut mehr aushalten und da haben wir uns überlegt was ich wohl thun könnte. […] und da habe ich mir aus ­Ideler und Kotte einen Aufsatz von Addison über weib­liche Erziehung gesucht und den angefangen. Es wird mir so leicht daß ich kaum mehr Zeit als zum bloßen Schreiben brauche und Otto findet es ganz gut deutsch. Wenn ich nur wüßte, was und für wen ich übersetzen könnte, denn so ins Blaue hinein ohne Zweck und Nutzen kann es mich natür­lich nicht befriedigen, während es nur die größte Freude wäre eine wirk­lich[e] Arbeit, die mir auch etwas einbrächte, vorzuhaben (Sophie, 11. 5. 1872). Sophie ging es also wirk­lich um Arbeit und Verdienst, der, wie gering auch immer, eine Form der Anerkennung gewesen wäre. Emma aber erschien d ­ ieses Vorhaben wenig sinnvoll: Wenn Du Dich nach Thätigkeit sehnst wundert es mich daß du etwas thust, das dir so 142 Ende Januar 1872 erschien ein langer Artikel in der „Deutschen Schulzeitung“ über den Braunschweiger Erziehungsverein, der Frau Dr. Magnus innerhalb des Vorstands als „Kassirerin“ nennt und über ihre Anregung berichtet, eine „Sek­tion“ des Vereins zu bilden, der „für die erste Erziehung alleinstehender oder verlassener Kinder, besonders der Säuglinge, in geeigneten Familien“ sorgen soll. Deutsche Schulzeitung, 2. Jg., No. 4, 26. Januar 1872.

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leicht wird wie übersetzen, der Erwerb, wenn es einen brächte, würde dich als etwas Neues amüsieren aber mehr nicht, ich würde an deiner Stelle das Latein wieder aufnehmen (Emma, 13. 5. 1872). Emma für ihre Person hätte dem Gefühl des Müßiggangs geistige Anstrengung entgegengesetzt. Doch das entsprach nicht Sophies Absicht: Wenn ich durch übersetzen irgend etwas nützen könnte, wäre es mir eine viel angenehmere Beschäftigung als das bloß für mich Lernen, ich habe ­solche Sehnsucht danach, die Kräfte und Fähigkeiten, die mir die Natur verliehen, nicht ganz ungenützt liegen zu lassen. […] wenn ich auf diese Weise etwas leisten könnte, wäre es ein rechtes Glück für mich (Sophie, 14. 5. 1872). Um zweierlei ging es: etwas zu leisten, für sich selbst, und mit der Tätigkeit zugleich anderen nütz­lich zu sein. Deshalb hatte Sophie in der Zwischenzeit weiter an ihrem Plan „gebastelt“: Ich hatte schon vor deinem Brief eine kleine Einleitung zu dem Aufsatz von Addison geschrieben, mit der Idee es vielleicht dem Frauenanwalt 143 zu ­schicken; als ich dazu in Hettner nachlas, fand ich den Satz: Es wäre ein schönes Unternehmen, wenn unser allzeit fähiger Übersetzer diese mit Unrecht vergessenen Perlen aufs Neue der Leserwelt zugäng­lich machen wollte! Das klingt doch wie für mich geschrieben; wenn man nur Mittel und Wege wüßte! (ebd.). Ob Sophies Übersetzung am Ende erschienen ist, konnte ich bisher nicht feststellen, im Juni schrieb sie an die Eltern: Heute habe ich auch meine Übersetzung an den Frauenanwalt geschickt. […] und es soll mich wundern ob was gedruckt wird (Sophie, 20. 6. 1872). Zur gleichen Zeit verfasste Sophie einen großen Artikel für das Tagblatt. Sie war n ­ äm­lich mit der negative[n] Wirksamkeit des hiesigen Kunstvereins sehr unzufrieden und hatte versucht, den Museumsdirektor Riegel* dahin zu interessieren, daß etwas mehr geschieht. Er ging aber nicht darauf ein und so habe ich mich dabei gesetzt; es ist eher lang geworden. Otto findet es aber gut (Sophie, 15. 6. 1872). Auch Sophies Eltern schrieben, dass ihnen der Artikel gefallen habe; Meyers Urteil war besonders frauenbezogen: Dein Aufsatz für das Tagblatt ist zweckmäßig, weil durchaus sach­lich gehalten. Frauenzimmer, wie überhaupt ungeübte Schriftsteller, kommen leicht in Versuchung, bei Gelegenheit einer […] praktischen Frage ihr ganzes Herz auszuschütten, dadurch weitläufig und langweilig zu machen und den Zweck zu verfehlen; an dieser Klippe bist du glück­lich vorübergeschifft (Meyer, 23. 6. 1872). Einige Zeit s­ päter berichtete Sophie: Mein Tikel ist gestern gedruckt, er macht sich so erwachsen und vernünftig, es scheint ihn aber kein Mensch gelesen zu haben. Riegel* hat auch nichts davon gesagt (Sophie, 24. 6. 1872).144 Diese Aktivitäten verdeut­lichen, dass Sophie Magnus end­lich in Braunschweig „angekommen“ war und dass Otto sie in ihren Bemühungen, Eigenes zu leisten, vorbehaltlos unterstützte. Wenn sie in den vier Jahren nach der Heirat der Hilfe und Stütze (Sophie, 17. 4. 1867)

143 „Frauenanwalt“, Berlin 1.1870/71 – 6.1875/76. Organ des Verbandes Deutscher Frauenbildungsund Erwerbvereine. 144 Im „Braunschweiger Tagblatt“, einzusehen im Stadtarchiv Braunschweig, fehlen leider die entsprechen­ den Blätter im Juni 1872.

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bedurfte und Otto sich dieser Aufgabe begeistert annahm, ohne sie dabei unterzuordnen, so unterstützte er sie jetzt durch Rat und Zustimmung bei ihren Versuchen, selbständig zu werden. Dass das Gefühl der Unselbständigkeit eher der subjektiven Sicht Sophies entsprang als mit dem äußeren Eindruck übereinstimmte, zeigt sich an einem Detail. Julie Ehrenberg*, mit der sie sich end­lich besser verstand und nun immer gleich mitten ins Gespräch kam, versicherte ihr, die Tatsache, daß ich ihr neu­lich Schwierigkeiten geklagt habe, hätte mich ihr noch viel näher gebracht; sie hätte mich für so fertig und selbstständig gehalten daß ich nicht leicht Hülfe und Trost von Anderen bedürfte; und das ist doch gar nicht der Fall […] (Sophie, 14. 5. 1872).

Im Briefwechsel fehlen die Urteile Außenstehender nahezu ganz, also bleibt nur die kritische Haltung Emmas. Die aber forderte noch 1872 von der Tochter, sie müsse sich end­lich auch unabhängig von Meinung und Urteil der Eltern machen. Als Sophie mitteilte, dass aus der geplanten Sommerreise nach England nichts werden würde und sie nun die Kritik der Eltern fürchtete, antwortete Emma Isler: Du mußt dich nicht davor fürchten was die Leute zu dem sagen was du thust, wenn du es für Recht hälst, auch wenn Vater und ich diese Leute sind. Du hast diese Festigkeit um so mehr nöthig, da du mit Verwandten lebst, die aus warmen Herzen guten Rath geben, dich sehr lieb haben, aber dich geistig nicht ­kennen und gänz­lich über das irren was dir taugt. […] Um dich darf dass Leben nicht stagnieren, […] und kannst du dir äußere wechselnde Eindrücke nicht verschaffen, so mußt du das durch ernste Verstandesarbeit ersetzen (Emma, 5. 7. 1872). Immer wieder wünscht Emma Isler für Sophie reiche Eindrücke und Geistesnahrung, damit ihre Seele gesund bleiben (ebd.) könne. So wichtig die Aufforderung an die Tochter ist, end­lich auch den Eltern gegenüber auf eigenen Füßen zu stehen, auffallender ist die Sorge um Sophies see­lische Gesundheit: Die M ­ utter fürchtete, dass das Fehlen geistiger Anregungen in Braunschweig die Tochter am Ende schwer belasten könnte – eine vorauseilende Sorge, die angesichts so vieler kränkelnder bürger­licher Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert berechtigt war. Wirk­lich emanzipiert von den Eltern hat sich Sophie Magnus allerdings erst, als sie ihre Rolle als M ­ utter fand und akzeptierte. Das ging nicht ohne Schwierigkeiten. Als Rudolf 1873 nach fast sechs Ehejahren geboren wurde, gab es einen regelrechten „Einbruch“ in der Entwicklung zur Selbständigkeit. Sophie blieb lange bettlägerig, behielt die ­Mutter monatelang in Braunschweig und fand sich erst allmäh­lich mit der neuen Verantwortung zurecht. Dabei war es weniger das Kind, das der Unerfahrenen Mühe machte – Amme und Wochenpflegerin nahmen ihr fast alles ab –, als vielmehr die Situa­tion, die neu und nicht so leicht zu beherrschen war: verdoppeltes Personal, die Aufsicht über Kind und Betreuerinnen und Sophies langes Krankenlager. Drei Ärzte berieten sie, aber niemand – auch Emma nicht! – wollte ihr z. B. die Entscheidung über den Kurort abnehmen, in den sie allein, wenn auch mit Kind und Personal reisen sollte, um end­lich wieder, im Wortsinn, auf die Füße zu kommen. An die ­Mutter schrieb sie in dieser Situa­tion: Wenn man unter ängst­lichen Menschen lebt und sich davon beeinflussen lässt, so ist ein Entschluss schreck­lich schwer. Ich bin nicht mutig und unabhängig genug um sagen zu können: auf meine Verantwortung! … (Sophie, 28. 5. 1874). Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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Am Ende reiste sie nicht nach Wiesbaden, sondern nach Harzburg, weil sie dadurch in der Nähe Braunschweigs blieb und in 1 ½ Stunden zu Hause sein (Sophie, 25. 5. 1874) konnte. Die Briefstelle macht deut­lich, dass Sophie in ihrer neuen Rolle als ­Mutter auf sich allein angewiesen blieb. Otto war ihr in d ­ iesem Fall keine Hilfe, aber auch Emma hielt sich auffallend zurück. Noch deut­licher aber wird: Sophie war auf die Mutterrolle und die damit verbundenen Veränderungen ihrer Situa­tion nur ganz abstrakt vorbereitet. Ihre Schwangerschaften bilden einen besonderen Komplex in den Briefen. Dreimal hat Sophie Magnus ein Wochenbett durchlebt. Im Mai 1869 ging ihre erste Schwangerschaft negativ zu Ende. Ob das Kind tot zur Welt kam oder unmittelbar nach der Geburt starb, wird in den Briefen nie erwähnt, nur die Schwere der Geburt wird vergleichend herangezogen. 1873, vier Jahre ­später, wurde Rudolf unter erheb­lichen Schwierigkeiten geboren, ein gesundes, kräftiges Kind. 1880 kam schließ­lich Helene, acht Pfund schwer, vergleichsweise unproblematisch zur Welt. Aber ­zwischen der ersten und der letzten Schwangerschaft lagen Welten. Sophie hatte sich offenbar inzwischen auch von den Vorstellungen ihrer M ­ utter „abgenabelt“ und war mit ihrer Rolle als M ­ utter und ihrem Kinderwunsch identisch geworden. Das lässt sich an den Briefen verfolgen. Die erste Schwangerschaft näm­lich tauchte auf merkwürdig verquere Weise im Briefwechsel auf. Wenn ich nur wüsste, wie ich es machen soll, liebe Ma, Dir zu schreiben, und Pap kann doch auch nicht alle Details über mein befinden erfahren, also wie soll ich es machen? […] Aber ich musste es Dir doch schreiben, nicht wahr?145 Ich weiss, dass Du Dich damit quälst und aufregst und es wäre besser ich könnte es Dir ersparen, aber Du bist nun einmal die Nächste dazu … (Sophie, 10. 10. 1868, im Brief vom 9. 10. 1868). Freude scheint die Schwangerschaft bei Sophie nicht ausgelöst zu haben. Ihre Sorge galt der Reak­tion der M ­ utter. Eine Schwangerschaft schien vor allem deshalb problematisch gewesen zu sein, weil sie Emma hätte aufregen können. War sie deshalb nicht erwünscht? Emmas Antwort klang in der Tat seltsam: Ich möchte, ich könnte Dir eine nette ­Mutter schenken, die jetzt selbst so von Poesie und Freudigkeit erfüllt wäre, dass die Dich recht damit durchdringen könnte; aber ich kann nicht geben was ich nicht habe, mir ist mein eigenes Kind unbeschreib­lich viel wichtiger als alles andere. […] ich kann nur sagen, man muss tragen was nicht zu ändern ist; […] (Emma, 9. 9. 1868). Das ist ein Jahr nach der Hochzeit, in deren Gefolge doch wohl mit Kindern zu rechnen war, eine seltsame Art des Austauschs. Sophies Angst, die M ­ utter aufzuregen, Emmas Mangel an Freude, ihre geradezu brüske Zurückweisung eines Interesses für irgendwelche Kinder und ­seien es auch die der geliebten Tochter – einzig Meyer scheint positiv reagiert zu haben: Er wollte über alles informiert werden. Durfte sich die werdende ­Mutter unter diesen Umständen auf ein Baby freuen? Ihr Verhalten blieb zwiespältig: In ihrer glück­lichen Ehe wären Kinder nicht eigent­lich nötig, teilte sie mit. Sie zeigte auch vorher keinerlei

145 Ein Brief mit der Mitteilung fehlt.

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Interesse an Kindern und empfand sie bei Begegnungen eher als störend: Louise Schulz traf ich mit Bruder und Kind, als die beide weg waren, wurde es sehr nett, bis dahin hatte der Junge natür­lich alle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen (Sophie, 10. 5. 1868, Sonntag, 12 Uhr). Weder der Liebreiz des sehr kleinen Knaben wurde erwähnt noch der Wunsch nach einem eigenen Kind, der ja wohl für eine Jungverheiratete an dieser Stelle nicht ganz abwegig gewesen wäre. Erst in den Jahren danach scheint Sophie den Kinderwunsch entwickelt und sich eingestanden zu haben. Es waren die Jahre, in denen sie in Braunschweig Selbständigkeit gewann und ihren Müßiggang zunehmend als Bürde empfand. Jetzt betrieb sie das Ziel Mutterschaft aktiv. Weil eine neue Schwangerschaft so lange ausblieb, wurden Ärzte aufgesucht, Kapazitäten in anderen Städten zu Rate gezogen. Die Antwort war immer gleich: Einer Schwangerschaft stünde nichts im Wege. Als es dann 1873 end­lich soweit war, klang die Mitteilung an die Eltern ganz anders als beim ersten Mal: Nun wo Dein Kommen sich noch verzögert, liebe Ma, muss ich Euch etwas erzählen, was ich sonst auch noch bis dahin zurückhalten wollte, aber ich mag doch etwas was mir eine so grosse Freude ist nicht länger ohne Euch haben. Ich brauche es wohl kaum noch auszusprechen, Ihr könnt es Euch wohl denken, dass ich end­lich die Aussicht habe, ein Kind zu haben! (Sophie, 3. 2. 1873). Jetzt ist die Rede von der Erfüllung meines sehn­lichsten Wunsches (ebd.) und davon, dass sich die ­Mutter mit ihr freuen und keine anderen Gedanken aufkommen lassen solle (ebd.). Und weiter beschwört Sophie ein positives Zukunftsbild: Ich denke ich kann vielleicht eine ­Mutter sein, und wenn das kleine Kind nur von seinen Eltern und Grosseltern all die Eigenschaften annehmen will, die ich ihm aussuche, so sehe ich nicht ein, warum nicht etwas ganz Gutes daraus werden soll (ebd.). Gegen ­welche Befürchtungen musste Sophie anschreiben? Ottos Vorfreude war strahlend, die Schwiegereltern waren voller Glück, aber Sophie fürchtete, dass ihre Mitteilung Emma noch mehr aufgeregt hätte (Sophie, 4. 2. 1873). Zweierlei ist mög­lich: Geburten waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein nicht unbeträcht­liches Risiko für die M ­ utter und Emma wollte sicher jede Gefährdung von der geliebten Tochter fernhalten. Oder: Emmas Frauenbild schien Sophie so deut­lich auf Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit der Frau gerichtet, dass eine Mutterrolle darin eben doch keinen Platz hatte. Wenn Sophie das so sah und trotzdem gern M ­ utter sein wollte, musste sie selbst zu dieser Rolle stehen und ihren Wunsch gegen Emma verteidigen und durchsetzen. Aber auch Emmas Reak­tion ist ­dieses Mal positiv: Gott gebe alles Gute zu Deiner heutigen Mitteilung, mein Einziges, nun wollen wir das Froheste und Beste hoffen (Emma, 4. 2. 1873). Dass sich an Rudolfs Geburt eine jahrelange Krankengeschichte, zeitweise mit Rollstuhl, anschloss, ohne dass die verschiedensten Ärzte in Braunschweig oder Hamburg eine erkennbare Ursache für Sophies Gehprobleme finden konnten, unterstreicht den Verdacht, dass Sophie psychisch mit der neuen Rolle Schwierigkeiten hatte. Doch wurde sie als ­Mutter und Erzieherin allmäh­lich sicherer, ohne Abstriche an ihrer Partnerschaft, ihrem frauenpolitischen Engagement oder der Verbindung zu ihren Eltern zu machen. Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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Damit wuchs sie in die neue Verantwortung hinein. In die gewonnene Sicherheit fiel die späte dritte Schwangerschaft 146; sie wurde von Sophie beinahe triumphierend als unproblematisch gelebt. Sechs Wochen nach der Geburt nahm sie ihr aktives Leben als Partnerin, ­Mutter und Hausfrau wieder auf, ihre Vitalität in dieser Zeit überraschte nicht nur die Hamburger Eltern. Als kluge und selbständige ­Mutter stand Sophie nun ­zwischen den Braunschweiger Geschwistern, der tüchtigen, aber kinderlosen Schwägerin Bertha Magnus° und Ottos von der Erziehung ihrer Kinder überforderten Schwester Anna Aronheim*. Auffallend sind auch Sophies vielfältige Beschäftigungen: Haushalt, Kinder, Vereinstätigkeiten – alles gelang jetzt nahezu mühelos. Und immer fand sie Zeit, mit den Eltern zu kommunizieren. Dass sich leichte Spitzen einschlichen, immer wenn es um die Mutterrolle ging, blieb eine Rand­ erscheinung. Aber es fällt natür­lich auf, wie Sophie in ihrer Funk­tion aufging, während Emma zum Mutter­sein eher ein distanziertes Verhältnis behielt. Als Sophie von einer gescheiterten Adop­tion berichtete, antwortete Emma: Dass Hübners sich, wenn ihnen das Kind unsympathisch war, aus einem solchen Verhältnis herausretten, ist ganz vernünftig, es beschäftigt mich aber sehr, weil ich weiss, dass ich mich in solchem Falle so gebunden fühlen würde, wie wenn mir die natur das Kind gegeben hätte (Emma, 2. 4. 1880). Das ist bezeichnend für Emma, deren mora­lisches Verständnis eine Art „Herzenspflicht“ kennt, die ihr nicht erlauben würde, eine einmal übernommene Aufgabe, und wieviel mehr die Sorge für einen Menschen, einfach wieder abzugeben, obwohl sie sich selbst die „mütter­liche Natur“ abspricht. Denn sie fuhr fort: […] ich wäre nicht leicht in die lage gekommen ein Kind anzunehmen, das sollten nur frauen tun, die mütter­liche naturen sind, auch wenn sie nie mann und Kind gehabt haben (ebd.). Diese Frage stellte sich für Sophie nicht. Ob sie sie anders beantwortet hätte, muss offen bleiben. Sicher aber ist: Erst mit Rudolf und Helene scheint sie ihre Rolle als Frau Dr. Magnus in Braunschweig ganz auszufüllen. Soweit zur Selbständigkeit in der Lebensführung und dem langen Weg dahin, die Frage geistiger Unabhängigkeit blieb bisher ausgespart. Dass Sophie sich eher an die Meinungen anderer, von ihr als geliebte Autoritäten angesehener Menschen anlehnte, war Emma und Meyer Isler, ja ihr selbst wohl bewusst; Selbständigkeit des Denkens und das Verfolgen ­eigener geistiger Interessen blieben Emma Islers Privileg. Dieser Unterschied ist gewiss auch auf unterschied­liche Begabungen zurückzuführen, die sich nur partiell durch Erziehungseinflüsse verändern lassen; ob die emo­tionale Stärke der ­Mutter gerade in dieser Hinsicht hemmend auf die Tochter gewirkt hat, könnte Gegenstand einer psycholo­gischen Studie sein. Erkennbar haben aber auch Unterschiede in der Schulbildung von M ­ utter und Tochter dazu beigetragen, dass Sophie weniger geistige Selbständigkeit als Emma entwickelte.

146 Knapp vier Monate nach Helenes Geburt wurde Sophie vierzig.

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Sophies Schulzeit als Beispiel bürgerlicher Mädchenbildung Sophie Islers Schulzeit war symptomatisch für das gute Bürgertum um die Mitte des 19. Jahrhunderts und für ein Elternhaus, das die Schulbildung der Tochter beobachten und beeinflussen wollte. An allgemeine Regeln hielten sich Islers allerdings nur ungefähr: Für Sophie begann die Schulzeit mit fünf Jahren. Sie konnte bereits lesen und legte allein weite Strecken durch die Stadt zurück, um mit Kusinen und Cousins zu spielen, war also auf jeden Fall „schulreif“. Die „Elementarschule“ allerdings fand in Sophies Elternhaus statt, in Meyers Zimmer, vormittags, wenn der Vater in der Bibliothek war. Die Mitschülerinnen waren fünf Mädchen in Sophies Alter, die Töchter Verwandter und Bekannter. Vermut­lich hatten Islers den Unterricht selbst organisiert, denn bei der Ausbildung der einzigen Tochter überließen sie nichts dem Zufall. Zwei Volksschullehrer wurden engagiert, die abwechselnd kamen und von sehr ungleicher Begabung waren.147 Herr Fischer, den die kleinen Mädchen liebten, brachte Lesen, Schreiben und die deutsche Sprachlehre bei, Herr Müffelmann gab Rechnen und war bei seinen Schülerinnen höchst unbeliebt. Schon der Name rief Naserümpfen hervor: […] wie kann man auch Herr Müffelmann heissen?148 Außerdem gab es Handarbeitsunterricht bei Tante Minna Leppoc*, wo dann z. B. auch die Weihnachtsgeschenke für die beiden Lehrer hergestellt wurden. Die Gaben wurden natür­lich eigenhändig in Begleitung Meyer Islers überbracht: […] wir wunderten uns über die ärm­lichen Häus­lichkeiten, in denen wir unsere Lehrer fanden, die wahrschein­lich recht schlecht besoldet waren.149 Dass die Lehrer allein vom Unterricht für die sechs kleinen Jüdinnen lebten, ist zwar nicht anzunehmen, dass die ­soziale Situa­tion von Lehrern aber generell um 1845 eher schlecht war, macht Sophies Beobachtung deut­lich. Die „Elementarschule“ – öffent­lich oder privat – sorgte damals also für die Grundkenntnisse. Was heute auffällt, ist dies: Religionsunterricht, in jeder Elementarschule unverzichtbar, erhielten Sophie und ihre Mitschülerinnen nicht, und Singen und Turnen waren auch nicht dabei. Das hatte Gründe: Gerade die Religion schloss jüdische Kinder von der öffent­ lichen Schule aus, weil man zwar den Religionsunterricht vielleicht hätte umgehen können, nicht aber das Lesenlernen – doch eine „neutrale“ Fibel, die nicht auf das Neue Testament zurückgriff, gab es nicht. Jüdische Familien scheuten sich natür­lich, ihre Kinder auf so indirekte Weise indoktrinieren zu lassen und versuchten in der Regel, das Problem über privaten Unterricht zu lösen. Wenn man ­später liest, dass Sophie anhand schillerscher Balladen bei Herrn Fischer Sprachlehre hatte, kann man sich einer gewissen Erheiterung nicht verschließen. Die Klassiker waren unverdächtig! Religion also entfiel erst einmal – ­später erhielt Sophie auch darin Privatstunden – und für den Unterricht in den beiden anderen fehlenden

147 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 18. 148 Ebd. 149 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 18.

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Fächern waren die Lehrer wohl weder ausgebildet noch dazu in der Lage, außerdem wurde Turnen für Mädchen erst s­ päter populär. Dass hingegen der Handarbeitsunterricht zu den Grundkenntnissen gehörte, muss nicht eigens betont werden. Eher, dass Handarbeit hier nur ein Fach unter anderen war. Denn im üb­lichen Mädchenschulwesen des 19. Jahrhunderts spielte das Fach eine wichtige Rolle. Es ging dabei nicht allein um die Aneignung von Kulturtechniken wie Stricken, Sticken, Nähen und Stopfen, sondern auch um ein Mittel, zur „stillen“ Weib­lichkeit zu erziehen, Ausgelassenheit und Wildheit schon bei kleinen Mädchen zu dämpfen und sie zur Fügsamkeit anzuleiten. Die aufkommende Frauenbewegung hat sich sehr bald entschieden gegen ein Zuviel an Handarbeit in der Schule gewandt. Mit acht Jahren wechselte Sophie, zusammen mit Johanna Hirsch*,150 in die Schule von Fräulein Noack in der großen ABC Strasse.151 Auch in dieser privaten „Töchterschule“ blieb sie in vertrautem Umfeld: In der Neuen ABC Straße 152 war sie zur Welt gekommen, hier lebten die Großeltern Meyer einige Zeit, auch die Großeltern Isler hatten in der Nähe auf Brandt’s Platz 153 gewohnt und Sophie selbst hatte hier ihre ersten vier Jahre verbracht. Später erst sollten Islers wieder in diese Gegend ziehen, in die „Passage“, in der Sophie bis zu ihrer Verheiratung wohnte.154 Jetzt war der Schulweg weit, denn Sophie musste aus der Deichstraße,155 nahe am Binnenhafen, mit Blick auf die Nikolaikirche, quer durch die Innenstadt bis in die Nähe des Gänsemarktes laufen. Am ersten M ­ orgen wurde sie von ihrer Kusine Helene Cohen abgeholt, die als drei Jahre Ältere längst in diese Schule ging und die kleine Kusine dort einführte. Sophie und Johanna Hirsch* kamen in die unterste, die dritte Klasse, und waren nun einen großen Teil des Tages dort, sechs lange Schulstunden. In dieser Schule gab es mehr Kinder, mehr Lehrer und natür­lich auch mehr Fächer. Dass Sophie auch hier auf einige Kusinen und Freundinnen traf, sei nur am Rande vermerkt. Eine private Töchterschule also, und die Leiterin war eine Frau: Fräulein Noack wurde angeschwärmt, sie war eine statt­liche Dame mit ausdrucksvollem Gesicht, dunklen Augen und Haaren, sie trug ein schmales Samtband mit einem ganz kleinen Schmuckstück als Stirnband, im Sommer trug sie ausgeschnittene Kleider mit ­kurzen Ärmeln, was damals nicht ungewöhn­lich war.156 Die Beschreibung erinnert an Bilder aus dem Biedermeier – eine sehr

150 Johanna Hirsch war nicht nur die engste Schulfreundin, sondern sollte auch lebenslang Sophies Freundin bleiben. Sie stammte aus Wien. Die Mädchen hatten sich mit fünf Jahren kennengelernt. Ebd., S. 18. 151 Ebd., S. 19. 152 Neue ABC-Straße No. 18; so im Hambur­gischen Adressbuch von 1840. 153 Zugäng­lich von der Fuhlentwiede, wo heute die Kaiser-­Wilhelm-­Straße einmündet. 154 1852/3. Scholvienspassage, im Adressbuch von 1867 als „Jungfernstieg, Passage Scholvien 6“ (zwischen Königsstraße und Alter Jungfernstieg). 155 Islers wohnten seit 1844 in der Deichstraße 2, zweite Etage, s­ päter in der billigeren dritten. So im Adressbuch von 1851. 156 Vor der Schulgründung war Fräulein Noack „lange in Schweden Gouvernante in vornehmen Häusern gewesen und sprach ein sehr gutes Franzö­sisch […].“ Sophies Kindheitserinnerungen, S. 19.

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Abb. 11  Ausschnitt aus dem Stadtplan von Hamburg 1904

weib­liche, aber doch selbständige Person, denkt die Briefeleserin, aber ganz so selbständig nun wohl doch nicht: denn da gab es noch Dr. Noack, den Bruder des Fräuleins, den Sophie im Zusammenhang mit den alljähr­lichen Feiern zum Geburtstag der geliebten „Amanda“157 als Leiter der Aufführungen erwähnt. Ohne ihn im Hintergrund hätte das Fräulein nicht einmal im liberalen Hamburg so einfach eine Schule betreiben können.158 Die Zahl der Lehrer und Lehrerinnen dieser kleinen Schule war ganz beträcht­lich. Naturgeschichte z. B. gab zunächst der langweilige Herr Kohlmeyer, nach einiger Zeit aber Herr Rost. Das war nur ein Lehrer, aber das Fach gliederte sich auf in Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, Geologie und Astronomie; Herr Rost – eine durch und durch geniale Natur 159 –

157 Ebd., S. 21. 158 Das Hambur­gische Adressbuch von 185l gibt exakt an: Noack, Amanda, Fräulein, Töchterschule, ABCStraße No. 46. 159 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 20.

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trug vor, die Mädchen schrieben das Wichtigste mit und arbeiteten den Text zu Hause zu einer Art Aufsatz um. Ähn­lich verlief der Geschichtsunterricht, den Meyer Isler gab; auch hier mussten die Schülerinnen zur nächsten Stunde ausformulierte Texte vorlegen, die dann kritisch besprochen wurden. Wenn man bedenkt, dass es sich um 11-/12-jährige Mädchen handelte, ist das schon eine recht anspruchsvolle Art des Arbeitens; dass sie im Wesent­lichen reproduktiv blieb, soll hier nur vermerkt werden.160 Außerdem gab es Geographie, Franzö­ sisch, Eng­lisch, wissenschaft­lichen Unterricht, Rechnen, Singen, Handarbeiten und die Schreibstunde. In der ersten, der obersten Klasse also – Sophie war inzwischen 11 –, kam Literatur hinzu.161 Franzö­sisch wurde von Fräulein Noack und anderen Damen unterrichtet, ebenso Handarbeit, wo sich die Schülerinnen nur franzö­sisch unterhalten durften. Auch die Schreibstunde lag in weib­licher Hand. Aber Geographie, Eng­lisch, Rechnen, Singen, Zeichnen und Literatur lehrten Herren, ebenso wie Naturgeschichte und Geschichte, denn für fast alle diese Fächer war eine Ausbildung, wenn nicht gar eine Universitätsausbildung nötig. Sophie erinnerte sich d ­ ieses Unterrichts zeitlebens mit Vergnügen, das hatte Gründe: Sie lernte gern und schnell, sie liebte die meisten Lehrer, die ihr auch wohlgesonnen waren, und sie wurde von den anderen Kindern freund­lich aufgenommen; hinzu kam, dass sie lange zu den Lieblingen der Schulleiterin gehörte und durch Lob, kleine Geschenke, ­Auszeichnungen oder Einladungen am Nachmittag ermuntert wurde, noch mehr und besser zu lernen. Dass sie unter ihren Altersgenossinnen mit Johanna Hirsch* das Spitzenduo bildete, ist unter diesen Umständen nicht verwunder­lich. Sophies ­Mutter achtete aber darauf, dass der Tochter die Belobigungen nicht zu Kopfe stiegen. Denn fleißig zu sein war nach Emma Islers Meinung selbstverständ­liche „Pflicht“. Wenn Sophie dafür in der Schule mit zweimal 6, der höchsten Note, belohnt wurde, hielt Emma die Tochter an, für diese Selbstverständ­lichkeit nicht nach außen zu prunken. Das „Ehrenband“, das auf schwarzem Grund mit roter Seide bestickt war, „Lohn des Fleisses und des Betragens“,162 blieb zu Hause in der Mappe. In der Schule allerdings musste Sophie das Band jeweils eine Woche lang tragen und sie trug es durchaus gern und stolz – daran konnte auch die ­Mutter nichts ändern.

160 In Emmas Dessauer Schule wurden die Schülerinnen in der obersten Klasse gesiezt und „Selbstständigkeit des Denkens und Darlegung der Ansichten verlangt […]“. Rektor Richter ermahnte sie, „nie etwas als selbstverständ­lich“ hinzunehmen und „bei Allem nach dem Warum“ zu fragen. Emmas Erinnerungen, S. 74 und oben S. 75. Sophie erwähnt derartige Lehren in ihrem Unterricht nicht. 161 Zum Vergleich hier der Fächerkanon an der Israelitischen Mädchenschule von 1798 aus dem Adressbuch von 1867: weib­liche Handarbeit, Religion, bib­lische Geschichte, Lesen, Schreiben, Rechnen, deutsche Sprache, Geographie, Anschauungsunterricht, Singen und Zeichnen. An dieser Schule, an der Eltern kein Schulgeld zahlen mussten, fehlten also vor allem die Fremdsprachen, Literatur und Geschichte; stattdessen gab es Religion und bib­lische Geschichte. Wieweit der Anschauungsunterricht auch naturkund­liche Fragen behandelte, muss offen bleiben. Auch hier wurde von 9 bis 15 Uhr unterrichtet; die Schülerinnen traten mit sieben Jahren ein. Hambur­gisches Adressbuch 1867, S. 713. 162 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 21.

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Unsere Schule war sehr verschieden von den heutigen Schulen, schrieb Sophie 1914, es war alles intimer, das Verhältnis z­ wischen Lehrer und Schüler ein persön­licheres […].163 Aber man darf dabei nicht übersehen, dass es sich um eine private Schule handelte, in der die Zahl der Schülerinnen begrenzt war, näm­lich so überschaubar, dass sie in vielen Stunden in der grossen Klasse 164 gemeinschaft­lich unterrichtet werden konnten, weil alle in den großen Raum passten. In der Schule gab es auch noch zwei kleinere Klassenzimmer,165 in denen gelernt werden konnte. Das große Zimmer war eigent­lich ein Mehrzweckraum. Er diente der ganzen Schule auch als Frühstückszimmer während der einstündigen Pause ­zwischen 12 und 13 Uhr bzw. als Spielzimmer, wenn es während der Pause regnete. Bei schönem Wetter durften die Mädchen im Gärtchen hinter dem Haus spielen,166 aber viel Platz war da nicht. Der Schulunterricht begann um 9 Uhr, also zu einer „menschlichen“ Zeit, und endete nachmittags um drei. Wenn man an die „Hausaufsätze“ denkt, die anschließend noch zu schreiben waren, an das Auswendiglernen, die Schreibübungen, die der Schönheit der Handschrift dienten, und andere Hausaufgaben, war der Tag weitgehend ausgefüllt. Da war es gut, dass während des Vormittags auch gespielt werden durfte. Tja, und dann gab es noch Tanzstunden am Nachmittag in Fräulein Noacks „Töchterschule“. Das war für Sophie nicht neu: Siebenjährig hatte sie schon im großen und schönen Elternhaus von Helene Magnus*167, die auf den „Hütten“ wohnte, Tanzstunde mit gleichaltrigen Jungen bei Mr. Bènoni gehabt, der mit der Violine im Arm, mit schwarzen Strümpfen und Lackschuhen uns die Pas’ vormachte […].168 Am Geburtstag tanzte sie mit ihren Freundinnen, wie sie der M ­ utter nach Schwalbach berichtete. Wir haben bei Großmutter [Meyer] wunderschön getanzt. Wir haben Cotillon mit Knallbonbons und Bouquet getanzt (Sophie, 1. 8. 1850). Schon 1849 konnte man in einem Brief Emmas lesen, dass Sophies Geburtstag […] sehr glück­lich verlaufen [ist]. ­Mutter hat wieder prächtig bewirthet, sie haben gegessen, gespielt und wieder nach der Harfe getanzt (Emma, 1.8.[1849], 8 1/2 Uhr). Wer den Tanzunterricht bei Fräulein Noack gab, wird nicht erwähnt, auch nicht, w ­ elche Tänze gelehrt wurden, aber Jungen waren nicht mehr dabei, an der „Töchterschule“ war auch Tanzen eine reine Mädchenangelegenheit. Religionsunterricht gab es in der Schule nicht, den erhielt Sophie zu Hause, als sie wegen einer Geschwulst am Fuß monatelang liegen musste. Sie war zu ­diesem Zeitpunkt elf Jahre alt. Johanna Hirsch* und Sophies Kusine Anna Meyer (später: May*) nahmen an den Stunden bei Dr. Salomon*, dem berühmten Kanzelredner des Hamburger Tempels, teil. Neben bib­lischer Geschichte und Religion lernten wir auch die hebräischen Buchstaben kennen, doch kamen wir darin nicht weit. Später als ich den Tempel häufig besuchte übte ich mich 163 Ebd., S. 21. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 19. 166 Ebd. 167 Helene Magnus, ­später eine gefeierte Sängerin. 168 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 18.

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im Gebetbuch fleissig darin und brachte es zu einiger Geläufigkeit im Lesen.169 Die Nutz­ anwendung erstaunt die Briefleserin allerdings: Während der Vorbeter (Chasan) Dr. Pisa*, eine wahre Prophetengestalt mit langem schwarzen Bart und imposanter Haltung, die Gebete hebräisch vorlas, konnte ich ziem­lich gut dem deutschen Text folgen, da ja der Absatz durch das hebräische Wort in deutscher Schrift gekennzeichnet war. So wurde mir die Zeit während des Gottesdienstes am Versöhnungstage nicht lang, weil ich immer beschäftigt war, selbst wenn man die Gebete nicht verstand.170 Verlangte der Kultus seinen Beterinnen keine innere Beteiligung ab?171 Soviel ist sicher: Der lange Gottesdienst am Versöhnungstag und das unverständ­liche Hebräisch strapazierten zumindest die weib­lichen Anwesenden so, dass die bloße Beschäftigung mit dem Text und die Anstrengung, hebräisch Gehörtes mit den deutschen Worten in Zusammenhang zu bringen, Sophie auf jeden Fall „bei Laune“ hielten. Aber der berühmte Prediger Salomon* hatte noch mehr Verdienste: Dr. S. ließ uns manche schöne Gesänge auswendig lernen, von denen er viele selbst gedichtet hatte, er erfüllte den Unterricht mit poetischem Glanz und brachte uns dadurch die Liebe zum Judenthum bei. Am Schluss des Unterrichts schrieben wir ein Glaubensbekenntnis, konfirmiert wurden wir nicht […].172 Damit endete der Religionsunterricht; Sophie wurde zu einer eifrigen Tempelbesucherin, wie oben zu lesen war; als sie ­später nach Braunschweig heiratete, erinnerte sie sich lange Zeit voller Heimweh an den Hamburger Tempel und die dortigen Bräuche. Drei Jahre lang, bis über ihren 14. Geburtstag hinaus, blieb Sophie in der ersten Klasse der Noack-­Schule. Am Ende fühlte sie sich kreuzunglück­lich, denn ihre gleichaltrigen Freundinnen waren nach und nach abgegangen – eine Abschlussprüfung gab es in den Töchterschulen nicht. Sophie langweilte sich im Unterricht und das Verhältnis zu Fräulein Noack und den Mitschülerinnen kühlte ab. End­lich hatten die Eltern ein Einsehen und nahmen die Tochter von der Schule. Aber damit endete Sophies Schulzeit nicht. Jetzt durfte sie in den „Cursus“ eintreten, den Johanna Hirschs* ­Mutter organisiert hatte. Sie fand, dass ihre Tochter mit 14 Jahren noch zu jung wäre, um ohne Lernen auszukommen – ein Gedanke, den Islers teilten. Am Ende waren es sieben junge Mädchen, die zusammen unterrichtet wurden. Den wichtigsten Unterricht für seine Tochter erteilte Meyer selbst: Es that sich eine Welt mit großen Ausblicken auf, Vater verstand es, das Weltbild übersicht­lich zu gestalten, Geschichte, Culturgeschichte, Literatur, alles griff ineinander, das Eine erläuterte das Andere. Die Literaturgeschichte beschränkte sich nicht auf Deutschland, sie führte uns die Welt­literatur vor, von der alten Welt über Mittelalter und Renaissance zur Neuzeit, sowohl die romanischen wie die germanischen Völker zogen in ihren Höhepunkten an uns vorüber und so ist mir das Gehörte 169 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 25. 170 Ebd. 171 Im Judentum kommt es auf Zahl und Art der Gebete an, die in der jeweiligen Situa­tion zu sprechen sind. Paul Spiegel, S. 64 ff. Die innere Beteiligung ist wohl eher eine protestantische Gebetsauffassung. 172 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 26.

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lebendig geblieben durch mein ganzes übriges Leben.173 In Sophies Worten wird sichtbar, was es bedeutete, von Meyer Isler unterrichtet zu werden. Indem er die jungen Frauen nicht nur mit der na­tionalen Literatur vertraut machte, sondern in die Weltliteratur ausgriff und außerdem Autor und Werk in historische und kulturgeschicht­liche Zusammenhänge einbettete, weitete er ihren Blick und gab ihnen ein Fundament, Literatur nicht nur als schöne Fik­tion zu erfahren. Wenn Isler auch abgelehnt hatte, die Schule seines Vaters weiterzuführen und damit dort länger zu unterrichten, blieb er doch zeitlebens ein guter Lehrer, der in privatem Einzelunterricht junge Frauen unterrichtete und vielen jungen Männern den Weg an die Universität öffnete.174 Dass er sich darüber hinaus um das jüdische Mädchenschulwesen überhaupt kümmerte, wurde schon erwähnt. Er war es auch, der wünschte, dass die Mädchen im „Cursus“ Mathematikunterricht erhielten, doch ein gewisser Herr Lübsen, der als einziger infrage kam, wies das Ansinnen, Mädchen zu unterrichten, mit Entrüstung zurück.175 Meyer Isler hatte nach Aussage seiner Tochter viele Mädchen unterrichtet, durfte sich also ein Urteil erlauben: […] er fand keinen Unterschied ­zwischen männ­licher und weib­licher Begabung und war keineswegs von der Minderwertigkeit der Frauen durchdrungen.176 Aber gegen die männ­lichen Vorurteile des 19. Jahrhunderts im Kopf seines Kollegen kam das Geschlechterrollenbild Islers nicht an, das ja noch von der Aufklärung geprägt war. Wenigstens erhielten die Mädchen naturwissenschaft­lichen Unterricht, und den von Dr. Karl Möbius, der am Akademischen Gymnasium unterrichtete und seine Schülerinnen Zoologie und Botanik lehrte. Er schreckte auch nicht davor zurück, den Mädchen mit Hilfe eines frischen Kalbsauges Konstruk­tion und Funk­tion des Auges zu demonstrieren. Sonst berichtet Sophie noch von Franzö­sischunterricht bei Mademoiselle Rainville, einer zier­liche[n] alte[n] Dame in schwarzseidenem Jäckchen und Spitzenhaube, unter der eine große graue Locke hervorsah,177 Exilfranzösin der zweiten Genera­tion, die sich ihr Brot durch Unterricht verdienen 178 musste, und doch vom Nimbus der großen Welt 179 umgeben blieb. Den Eng­lischunterricht erteilte Mrs. Rosenberg, eine robuste […] Erscheinung mit […] lauter Stimme.180 Bei ihr gab es Konversa­tion und als Lektüre Byron. Später kam das Fach Handarbeiten bei Frau de Lemos, einer portugie­sischen Jüdin, dazu. Sie war eine Künstlerin in ihrem Fach und brachte den Mädchen das Nähen von Grund auf bei: […] wir lernten Hemden, Falteneinsätze, Herrenkragen usw. in feinstem Leinen fadengenau zu nähen, stopften und flickten aufs Schönste in allen Mustern und Stoffarten und lernten die Sache

173 Ebd., S. 27. 174 1870 gab ein dankbarer Schüler, der „in Glasgow Schiffe baut“, einem Schiff den Namen Dr. Isler (Sophie, 28. Juni 1870). 175 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 28. 176 Ebd. 177 Ebd., S. 29. 178 Ebd. 179 Ebd. 180 Ebd.

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recht gründ­lich.181 Von diesen Kenntnissen profitierte Sophie nach der Heirat: Sie stopfte und nähte gern und präsentierte zu Geburtstagen und anderen Festen selbst gefertigte Geschenke. Aber noch größere Freude bereitete ihr der Zeichenunterricht bei Herrn Wulff 182 und s­ päter bei Herrn Stuhlmann 183 mit Sepia, Tusche und Farben. Hier wie schon an der Noack-­Schule erfährt man, dass die Lehrer der Mädchengruppe auch noch an anderen Schulen unterrichteten oder einem „Hauptberuf“ nachgingen. Dieser private Unterricht war also für alle eine Nebentätigkeit und ein wohl notwendiger Nebenverdienst. Ob das auch für die Lehrerinnen galt, muss offen bleiben. In ihren „Kindheitserinnerungen“ spricht Sophie davon, dass in Hamburg die Privatmädchenschulen im Ganzen besser und erfolgreicher als die Knabenschulen waren, die erst viel ­später auf eine höhere Stufe gehoben wurden.184 Anzunehmen ist dann wohl, dass die Lehrerinnen auch an anderen Instituten lehrten. Dass Isler selbst seine Tochter unterrichtete, hatte sicher nicht allein damit zu tun, dass er Einfluss auf ihre Bildung behalten wollte, sondern auch damit, dass Sophies Schulgeld dadurch verringert wurde oder sogar ganz entfiel. Der „Cursus“ dauerte drei Jahre. Sophie ging also auf jeden Fall bis zu ihrem 17. Geburtstag in die Schule und erhielt eine höhere Schulbildung. Vergleicht man mit unserem Schulsystem, hätte sie also eine Grund- und eine weiterführende Schule besucht und wäre nach der 11. Klasse abgegangen. Auch im Latein, das der Vater ihr ­später beibrachte, hätten ihre Kenntnisse zum Latinum gereicht. Wäre sie ein Junge gewesen,185 hätten die Eltern mit Sicherheit ein Studium für ihr Kind angestrebt. Hier ist innezuhalten: Wie umfassend auch Sophie in der „Töchterschule“ und im „Cursus“ unterrichtet wurde – ihre Schulbildung unterschied sich in einem Punkt gravierend von der Ausbildung, die ihre ­Mutter eine Genera­tion vorher erhalten hatte. War Emma in der Dessauer Schule zum selbständigen Denken angeregt worden, hatte sie dort gelernt, einen eigenen Standpunkt einzunehmen, ihre Ansichten darzulegen und zu begründen, erhielt Sophie zwar im Rahmen des in Hamburg Mög­lichen eine sehr gute Ausbildung, aber die Zielrichtung war eine andere. Jetzt ging es um Wissensaneignung und Reproduk­tion, um „Bildung“ eben; die Selbständigkeit des Denkens war demgegenüber in den Hintergrund getreten. War zu Emmas Zeit der Gleichheitsgrundsatz in der Schulbildung offenbar wichtig, tendierte Sophies Schule in Richtung Frauenrolle. Das war keine Hamburger Sonderentwicklung, sondern eine, die sich in Deutschland trotz aller Unterschied­lichkeit der deutschen Staaten inzwischen vollzogen hatte. Diese Entwicklung verlief parallel zur Entfaltung der bürger­lichen Gesellschaft. Damit war auch die Rolle der (bürger­lichen) Frau festgelegt: Ihr Ort sollte das Haus sein, ihre Sphäre die Privatheit und 181 Ebd. 182 W. F. Wulff, Kunstmaler und Zeichenlehrer, Altonaer Straße 36. Hambur­gisches Adressbuch für 1867. 183 Heinrich Stuhlmann, Kunstmaler, photographisches Atelier, St. Georg, Langereihe 43. Hambur­gisches Adressbuch für 1867. 184 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 28. 185 Der Vergleich taucht in den Briefen nie auf.

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ihre Bestimmung die der Hausfrau, Gattin und M ­ utter. Dazu gehörte eine höhere Bildung, als sie der Elementarunterricht lieferte. Diese Entwicklung bescherte dem 19. Jahrhundert eine nicht abreißende Diskussion über die Frage der Mädchenbildung und machte das Problem zu einem Hauptpunkt der entstehenden Frauenbewegung. Wenn Emma Isler sich gegen die „ästhetische Halbbildung“ aussprach, so wandte sie sich nicht nur gegen eine Begrenzung der Fächer auf „weib­liche“, sondern auch gegen eine Bildung, die Frauen als „halbe“ oder geringer begabte Menschen betrachtete. Dem haben Islers bei der begabten Tochter entgegengearbeitet: Sie haben ihr Interesse an wichtigen politischen und kulturellen ­Themen geweckt und gefördert und sie mit so viel Wissen bzw. Bildung versehen, wie ihnen mög­lich war. Betrachtet man Sophies Schul- und Weiterbildung vom Ergebnis her, zeigt sich, dass Islers ihre Tochter auf ein bürger­liches Leben vorbereiteten, das tatsäch­lich beide Mög­lichkeiten einschloss, zuerst und vor allem eine gebildete Ehefrau und M ­ utter zu werden (ohne im Haus zu „versauern“), zweitens aber auch, eine vielseitig ausgebildete Frau zu sein, die ihr Leben in die eigene Hand hätte nehmen können. Wie das hätte aussehen sollen, muss offen bleiben. Das 19. Jahrhundert bot einer alleinstehenden, nicht sonder­lich vermögenden Frau zwar allmäh­lich auch Mög­lichkeiten zu einer eigenen beruf­lichen Tätigkeit, aber ohne Beruf blieb sie ohne gesicherten gesellschaft­lichen Ort. Dass Islers an der Realisierung einer derartigen Existenz für ihre Tochter zweifelten, wird an beider Erleichterung sichtbar, die sie nach Sophies Verlobung empfanden. Mög­lich, dass Sophie sich ohne Heirat schneller zu einer selbständigen und sicheren Person entwickelt hätte – trotz des elter­lichen „Kokons“. Ihr Auftreten dem Bräutigam gegenüber zeigte diese Perspektive. Die Heirat aber und der damit verbundene Rollenwechsel von der selbstbewussten Tochter zur Ehefrau ohne klare Rollenzuweisung und der Umzug von Hamburg nach Braunschweig machten sie erst ­einmal unselbständiger und ängst­licher, als sie sich 1867 in Hamburg präsentiert hatte. Je mehr sie in die neue Rolle hineinwuchs, desto sicherer trat sie auf. Dass die Geburt der Kinder in ­diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielte, war oben schon zu lesen. Dass die höhere Töchterbildung dabei eine wirk­liche Hilfe war, darf bezweifelt werden. Immerhin brauchte Sophie nahezu dreizehn Jahre, um das einst gewünschte „erfüllte“ Leben zu realisieren. Die bürger­liche „Töchterbildung“, wie sie uns bei Sophie vorgeführt wird, beschränkte sich nicht nur auf „Schöngeistiges“, Sprachen und Musik, sondern schloss naturkund­liches Wissen in unvermuteter Breite ein, aber sie erzog nicht zur Selbständigkeit des Denkens, wie die Töchter­ erziehung überhaupt nicht Selbständigkeit erreichen wollte. Hatte sich doch das gesellschaft­liche Bild der Frau in der Geschlechterrolle verfestigt und die „natür­liche Bestimmung“ vor Bildung, Wissen und selbständiges Denken geschoben. Wissen und Bildung aber blieben perspektivlos, weil sie nicht auf Anwendung des Gelernten in einem Beruf zielten. Was denn aus dem Mädchen werden sollte, blieb die Sorge aller bürger­lichen Eltern. Das sah Emma Isler besonders klar: Wir haben das Gefühl in einer Übergangszeit zu leben, wo die Frauen sich von der Tradi­tion, sie müßten um jeden Preis heiraten los lösen und doch noch keinen anderen Weg ihr Leben aus zu füllen gefunden haben (Emma, 26. 6. 1872, Mittwoch, 12 Uhr). Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten doch Entwicklungen ein, die den Horizont allmäh­lich öffnen sollten. Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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Das „verbotene Thema von der Bestimmung der Frau“ Von Emanzipa­tionsfragen, von Bildungs- und Ausbildungsmög­lichkeiten junger Frauen, wurde bei Islers häufig gesprochen, geschrieben und auch dem Bräutigam als neuem Familien­ mitglied erzählt. Ihn einzubeziehen war dringend nötig, denn Otto gehörte zur Frak­tion derer, die nur die „natür­liche Bestimmung der Frau“ zur Hausfrau/Ehefrau und ­Mutter gelten lassen wollten. Deshalb finden wir das Thema gleich zu Beginn d ­ ieses Brautstandes. Es muss in den ersten acht Tagen nach der Verlobung am 7. April 1867 in Hamburg besprochen worden sein und dabei gleich die Fronten klar gemacht haben. Aber dabei wollte es Sophie nicht belassen. Otto war gerade erst abgereist, da sprach sie zum ersten Mal das sie bedrängende Thema im Brief an: die Frage nach der Bestimmung der Frau. In einem ­langen Passus  186 setzte sie sich damit auseinander, dass jedem Frauenleben eine Bestimmung zukomme, die sich nicht von einer allgemeinen Natureigenschaft herleite, sondern von ihren individuellen Neigungen und Begabungen. Deshalb habe sie immer dagegen opponiert, wenn die Bestimmung der Frau allein in der Ehe gesehen würde. Sie bewundere Frauen ihrer Umgebung, wie die Kindheitsfreundin Helene Magnus*187, die als Künstlerin Karriere macht und Befriedigung […] in ihrer Künstlerlaufbahn findet und die ihr Leben gestaltet und es beherrscht (Sophie, 17. 4. 1867), oder die Freundin Anna Wohlwill°, die als Lehrerin ihr Glück […] in selbstlosem Schaffen und Wirken für Andere gefunden habe. Bisher hatte Sophie in dem Bewusstsein gelebt, ebenso ihr Leben in die Hand nehmen und selbst gestalten zu können. Mit der Verlobung macht sie eine neue Erfahrung, dass ich nicht zu den Frauen gehöre, die geschaffen sind, sich selbst neue lebenswege zu bahnen […] (ebd.). Sophies Eltern müssen das schon länger so gesehen haben. Emma sprach vom Gefühl des „Reiters“, der, ohne es zu wissen, über den (gefrorenen) Bodensee geritten war und schaudert jetzt vor dem, was sie bisher als ein ganz schönes und richtiges Land betrachtet hat (ebd.), und Meyer, erfährt Sophie etwas ­später, war auch glück­lich, dass ich nicht einsam durchs Leben gehen muss. Sie [Emma] erzählte mir heute wieder, wie unend­lich froh vater […] über dies Letzte sei […]. Ich meinte immer er würde[,] wenn ich nicht eine rechte Ehe nach dem herzen Gottes führen könnte, ganz zufrieden sein, wenn ich meinen Weg nach der Fähigkeit die ich habe allein machte (Sophie, 30. 5. 1867, abends). Obwohl Sophie also für sich persön­lich die Entscheidung getroffen hatte, ihre Bestimmung in Ehe und Familie zu sehen, blieb das Thema weib­licher Erwerbstätigkeit z­ wischen Emma und Sophie während der Verlobungszeit und auch nach der Hochzeit eines der wichtigsten Th ­ emen. Mit dem Bräutigam konnte Sophie darüber nicht so einvernehm­ lich wie in vielen anderen Fragen sprechen, weil Otto in der Ehe die alleinige Bestimmung

186 Die Briefstelle wurde im Kapitel „Wozu eine Verlobung gut ist“ ausführ­lich zitiert. 187 Die Sängerin verheiratete sich s­ päter mit dem Sohn des österreichischen Industriellen und zeitweiligen Ministers Theodor Friedrich von Hornbostel (1815 – 1888).

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der Frau sah. Sollte eine Frau sich einem anderen „Beruf“ widmen, handelte es sich für Otto immer nur um eine „Hilfskonstruk­tion“, die in dem Augenblick hinfällig wurde, in dem diese Frau den ihr bestimmten Partner gefunden hatte. Mit dieser Auffassung stand Otto natür­lich nicht allein. Im Gegenteil: Die Geschlechterfrage war im 19. Jahrhundert zumindest im deutschen Kulturkreis klar definiert. Das hatte niemand deut­licher und einprägsamer ausgedrückt als Friedrich Schiller, wenn er die Geschlechterrollen in seiner „­Glocke“ beschrieb – jedes Kind konnte das Gedicht auswendig und hatte die Botschaft wohl verinner­licht: „Der Mann muss hinaus ins feind­liche Leben / Muss wirken und streben / Und pflanzen und schaffen, / Erlisten, erraffen, / Muss wetten und wagen, / Das Glück zu erjagen. […] Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, / Die ­Mutter der ­Kinder, / Und herrschet weise / Im häus­lichen Kreise / Und lehret die Mädchen / Und wehret den Knaben / Und reget ohn’ Ende / Die fleißigen Hände / Und mehrt den Gewinn / Mit ordnendem Sinn […].“188 Schiller hatte die herrschende Meinung zu den Geschlechterrollen in eindrück­liche Sprachbilder gesetzt und Ludwig Richter 189 hatte sie s­päter durch seine Illustra­tion noch unterstrichen. Die Trennung nach „außen“ und „innen“, die Zuweisung der Erwerbsrolle an den Mann und der Hausfrauenrolle an die Frau galt zumindest in bürger­lichen Kreisen, unangefochten auch durch die sich seit Mitte des Jahrhunderts formierende Frauenbewegung. Dass sie trotzdem sogar bei den Braunschweiger Frauen nicht unkritisch gesehen wurde, erfahren wir durch Sophie. Anläss­lich eines Besuchs von Fräulein Vieweg* aus Paris bei Tante Jeanette Helfft*, bei dem von weib­licher (Erwerbs-)Tätigkeit die Rede war, schreibt Sophie: Dadurch veranlasst erzählte ich nachher Tante Jeanette [Helfft*] Ottos Ansichten über weib­liche Erziehung, die sie sehr amüsierten (Sophie, 31. 10. 1867). Gerade diese Tante war für Otto eine große Autorität; sie führte nach dem Tod ihres Mannes dessen Geschäfte teilweise weiter und verwaltete den beträcht­lichen Besitz. Nur die Bücher ließ sie von Otto überprüfen, was ihm eine nicht geringe Nebeneinnahme verschaffte. Aber natür­lich: Sie war lange Jahre verheiratet gewesen, hatte also ihre „Berufung“ zur Ehe- und Hausfrau unter Beweis gestellt. Jetzt stand diese kinderlose Witwe sehr wohl ihren „Mann“, kaufte während Sophies und Ottos Brautzeit ein Pferdegespann, ließ das Haus renovieren und reiste allein zur Kur. Sie lebte und wirtschaftete selbständig, Ottos konservative Lebensphilosophie hat das nicht beeinflusst. Eine amüsante Variante des Schillerzitats soll hier noch angefügt werden. Sie findet sich in einem langen Brief der Charitas Dietrich (Bischoff°) an ihre M ­ utter 1864, der sie berichtete, wie gern sie die Ausbildung zur Kindergärtnerin schon nach einem Jahr b­ eendet hätte, weil die Weiterbildung mit einem Ortswechsel verbunden gewesen wäre. Dieser

188 Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke, in: Schillers sämmt­liche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart und Tübingen: Cotta 1838. 189 Adrian Ludwig Richter (1803 – 1884), Maler der Spätromantik und des Biedermeier.

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Absicht aber habe sich ihre Gönnerin, Frau Dr. Meyer,190 ener­gisch entgegengestellt mit den Worten: „Nein, mein Kind,[…], der Mensch muss hinaus ins feind­liche Leben! […].“191 Die Umwandlung des Schillerwortes ist deshalb so erheiternd, weil hier eben gerade nicht auch Frauen gemeint waren, wie wohlmeinend etwa beim Ruf der franzö­sischen Revolu­ tion: „Alle Menschen sind Brüder!“ angenommen werden darf. Im Gegensatz dazu hatte ­Schiller ja bewusst ­zwischen Mann und Frau unterschieden und jedem Geschlecht eine Rolle zugewiesen. Frauen, die sich emanzipiert fühlten, lasen offensicht­lich großzügig über die Beschränkung aufs Haus hinweg und annektierten mit der Umformulierung ganz ungeniert die Männerrolle. Otto Magnus aber muss Schillers Rollenverständnis aus der Seele gesprochen haben. Da Sophie natür­lich bei ihrer Auffassung blieb, wurde das Thema weib­licher Emanzipa­tion erst mal sistiert. Aber Sophie kam trotzdem immer wieder darauf zu sprechen, beispielsweise, wenn sie darauf antwortete, dass Ottos Onkel Gottschalk [Helfft*] die Verlobung begrüßt habe. In einigen Momenten mag wohl einem so alten Junggesellen, der nur für sein vergnügen lebt die Idee kommen, dass sein Leben verfehlt sei und eine glück­liche Häus­lichkeit das wahre Leben sei. Ich glaube[,] dass es für Männer schlimmer ist unverheirathet zu sein als für Frauen. Letztere können sich immer einen angemessenen Wirkungskreis und Ersatz für die eigene[n] Häus­lichkeit schaffen. Männer aber nicht. Sobald das Leben in der Welt und der Öffent­lichkeit seinen Reiz verliert, sind sie sehr unglück­lich und verloren, wie man es ja hundertmal sieht, selbst bei jungen Männern, wenn sie krank oder unglück­lich sind. […] Indem ich diesen Passus durchlese, finde ich mich mitten in dem verbotenen Thema von der Bestimmung der Frau und [dass ich] offenbar den Schluss gezogen habe, dass heirathen eher die Bestimmung des Mannes ist!!! (Sophie, 16. 5. 1867). Geschickt dreht Sophie den Spieß um und hält Otto neckend die Ehe als „natür­liche Bestimmung“ des Mannes unter die Nase: Es sind eigent­lich die Männer, die eine glück­ liche Häus­lichkeit brauchen und deshalb heiraten müssen, weil sie sich im Zweifelsfall allein nicht zu helfen wissen. Vielleicht klingt aber auch an dieser Stelle durch, was im Judentum selbstverständ­lich und verinner­licht war: dass ein Leben ohne Partner/in kein erfülltes Leben sein kann, dass nichts im jüdischen Leben wichtiger ist als die Gründung einer jüdischen Familie und damit eines jüdischen Heims.192 * Was verstand Sophie unter einem angemessenen Wirkungskreis für eine alleinstehende Frau? Welche Mög­lichkeiten gab es für unverheiratete Frauen aus dem Bürgertum, einer Tätigkeit als Ersatz für die eigene Häus­lichkeit nachzugehen? Konnten sie in der Mitte des

190 Frau des Dr. Heinrich Adolph Meyer*. 191 Charitas Bischoff,° 12.6.–7. 7. 1864, in: Amalie Dietrich. Ein Leben, 1909, S. 284; im Original nicht kursiv. 192 Dazu: Paul Spiegel, Was ist koscher?, 2005, S. 44.

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19. Jahrhunderts ein erfülltes Leben führen, indem sie einen Beruf ausübten? Der Briefwechsel führt unerwartet viele bürger­liche Frauen vor, die ein selbstbestimmtes und oft auch selbst verdientes Leben geführt haben, also erwerbstätig waren.193 Im Text fallen zunächst die Hausdamen auf, Frauen, die wie die meisten Bürgerstöchter die innerfamiliäre „Ausbildung“ zur Hausfrau und Leiterin eines bürger­lichen Haushalts absolviert hatten und in erster Linie einen frauenlosen Haushalt übernehmen konnten. In Sophies Familienumkreis war das z. B. Emma Horwitz*, die diese Rolle bei Onkel ­Siegmund*, Emmas früh verwitwetem Bruder, einnahm und nicht nur dem Onkel, sondern vor allem auch den beiden Söhnen ein freund­liches Zuhause schuf. […] sie ist ein ganz prächtiges Mädchen. Wie sie ihre Stelle ausfüllt, davon kannst Du Dir keinen Begriff machen. Sie hat in hohem Grade die Fähigkeit Behag­lichkeit um sich zu verbreiten, was für 2 heranwachsende Knaben, die keine ­Mutter haben und einen vater der nicht viel zu Hause ist ein Segen ohne Gleichen ist (Sophie, 30. 5. 1867). Erheiternd zu lesen ist, wie sich Sophie gleich im Anschluss um die Zukunft dieser jungen Jüdin sorgt: Weisst Du keinen Mann für Emma Horwitz? (ebd.). Sie ist immerhin schon 28 Jahre alt geworden (ebd.). Natür­lich: Hausdamen, die täg­lich unter Beweis stellten, wie gut sie Haushalt und Familie führen konnten, wurden gern geheiratet, sei es vom verwitweten Arbeitgeber, sei es von einem Freund des Hauses, der sie bei seinen Besuchen in der Familie kennenlernte. Diese junge Frau allerdings hatte eigene Pläne für ihre Zukunft: Sie wollte ­später zusammen mit ihrer Schwester eine Pension aufmachen – auch das eine beliebte Art, Geld zu verdienen 194 – und den alten Vater zu sich holen: Die [von ihr betreuten] Jungen interessieren sich sehr für die pensionsidee; Ernst will das nötige Kapital, Karl seine Töchter dazu steuern (Emma, 22. 1. 1868). Noch sind allerdings beide im Jünglingsalter und in der Ausbildung. Aber aus Emma Horwitz’* Plan wurde erst mal nichts; nach Onkel Siegmunds* Tod führte sie den Haushalt des (unverheirateten) Onkels Ferdinand.195 Otto sah in dem Beruf der Hausdame eine vertretbare Lebensform für Frauen: Ich bin überhaupt der Ansicht, dass eine Frau, die nicht selbst eine Familie gründet am besten an ihrem platz ist, wenn sie in einem anderen Haushalt die Frau ersetzt (Otto, 3. 6. 1867). Denn für Otto war eine Frau von Natur aus für den Haushalt „begabt“ – das sah er an der eigenen Schwester Anna, die nur den einen Wunsch hatte: zu heiraten und Hausfrau zu werden.

193 Auf die vielen weib­lichen Berufe, die von Mädchen und Frauen aus der Unterschicht und dem Kleinbürgertum ergriffen wurden, kann hier nur hingewiesen werden: voran die gut bezahlten und gut ernährten Ammen, dann die Kindermädchen, Dienstmädchen, Wasch-, Plätt- und Scheuerfrauen, die ins Haus kamen, ebenso die Näherinnen, Schneiderinnen, Friseurinnen usw. Hinzu kamen die Frauen, die im Handwerksbetrieb ihres Mannes mitarbeiteten. Von den 54% der Bevölkerung, die 1867 in Hamburg erwerbstätig waren, waren 36% Frauen. Dazu: Paletschek, Sozialgeschichte, 1991, S. 290. 194 Besonders Witwen versuchten sich damit über Wasser zu halten, dass sie Pensionsgäste in Wohnung und Haushalt aufnahmen. 195 Ein anderes Beispiel ist Emmas Freundin Minna Leppoc*.

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Merkwürdig nur, dass er sich ausgerechnet in Sophie Isler verliebte, die sich auch ein anderes Leben vorstellen konnte und Frauen bewunderte, die einem Beruf nachgingen. Auch Meyer Isler sollte nach Emmas Tod 1886 eine Frau beschäftigen, ein Fräulein von Maack, die seinen Haushalt führte und für sein äußeres Wohl sorgte.196 Glück­lich allerdings war er über diese Lösung nicht; ihm fiel es sehr schwer, einsam mit einer Fremden zu leben.197 In dieser Formulierung liegt schon das ganze Dilemma; für Meyer war das Arrangement eine reine Versorgungslösung. Fräulein von Maack zog zwar ins Haus, wurde zur gleichgestellten Hausgenossin (anders als ein Dienstmädchen), saß mit Meyer bei den Mahlzeiten am Tisch, empfing mit ihm Gäste und begleitete ihn zu Einladungen, wurde aber andererseits für ihre Tätigkeit bezahlt, hatte Anspruch auf Freizeit und „Urlaub“, etwa während der Weihnachtstage, und führte damit ein Leben auf der Grenze z­ wischen Familienzugehörigkeit und Distanz. Dass d ­ ieses adlige „Fräulein“ – eine Frau mittleren Alters, deren M ­ utter und Tante auf ihren Verdienst angewiesen waren –, kein auch nur annähernder Ersatz für die verlorene Ehefrau sein konnte, muss kaum erwähnt werden. Diese Lösung blieb ein Notbehelf, aber es war, und das interessiert hier, eine weib­liche Erwerbstätigkeit. Wie heikel ein derartiges Anstellungsverhältnis für beide Seiten sein konnte, wird aus einem Urteil Emmas deut­lich: Mir wäre es unmög­lich Jemanden um mich zu haben in der Doppelstellung der Dienenden und Gleichberechtigten, ich würde immerfort das Gefühl haben, dass dem letzteren Charakter nicht genug geschähe und dass die Betreffende sich zurückgesetzt fühle und diese Gefahr ist immer vorhanden (Emma, 26. 6. 1874). Auf bezahlte (weib­liche) Hilfe angewiesen war Meyer schon zu Emmas Lebzeiten. Weil seine Augen im Alter immer schwächer wurden, musste er eine Vorleserin beschäftigen, die stundenweise ins Haus kam. Auch das also eine Frauentätigkeit, die dem Erwerb diente. Aber keine leichte Tätigkeit! Meyer Isler war leider selten zufrieden mit seinen Vorleserinnen und wechselte deshalb mehrfach: Die eine las zu rasch, die andere zu mechanisch und ohne Verständnis, die dritte zu undeut­lich – der Auftraggeber hatte häufig Einwände. 1887 beschäftigte Isler ein Fräulein von Appen. Auffallend, dass gerade adlige junge Frauen in einem bildungsbürger­lichen jüdischen Haushalt angestellt wurden. Lag das an den Umgangsformen? Emma lobt in ihren „Erinnerungen“ die selbstverständ­liche Höf­lichkeit des Adels in Dessau auch gegenüber jüdischen Familien. Hausdamen wurden nicht nur von verwitweten oder unverheirateten bürger­lichen Männern eingestellt, wir finden sie auch als Gesellschafterin und/oder Hausdame in begüterten bürger­lichen Familien, wo sie der „leidenden“ oder überlasteten Hausfrau Arbeit abnahmen und für Gespräch und Anregung zu sorgen hatten. Vermögende jüdische Familien, wie z. B. Ottos Elternhaus, machten da keine Ausnahme. Bildung und Sicherheit in Haushaltsfragen

196 So in Meyers Briefwechsel mit Sophie 1887. 197 Erinnerungen des Hamburger Bibliothekars Meyer Isler (1807 – 1888). Nach der Bearbeitung von Helene Lilien herausgegeben von Erich Zimmermann. 1961, S. 86. Im Folgenden: Meyer Islers Erinnerungen.

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waren die Voraussetzung für diesen Beruf und so stammten die Bewerberinnen aus bürger­ lichen Familien, in denen häufig das Geld, das die Tochter verdiente, dringend gebraucht wurde, um die Existenz der Familie zu sichern oder die Ausbildung jüngerer Geschwister zu ermög­lichen. Während Sophies Brautzeit hieß die Gesellschafterin der künftigen Schwiegermutter in Braunschweig Helene Camphausen*. Sie ging mit der Doktorin Magnus ins Theater, wenn Dr. Magnus* seine Frau nicht begleiten konnte. Sie reiste mit ihr in den Harz, während Ottos Vater nach Paris fuhr, zur Weltausstellung, kutschierte mit der Doktorin über Land, wenn diese frische Luft nötig hatte. Obwohl Christin, gehört die junge Frau regelrecht zur Familie: Sie wurde wie die anderen zu Weihnachten im Familienkreis beschenkt,198 wurde von Otto geschwister­lich-­ausgelassen in den Arm gekniffen und revanchierte sich am nächsten Abend mit einem nasenstüber (Otto, 13. 9. 1867). Der Religionsunterschied spielte offensicht­lich keine Rolle. Meyer Isler lernte bei einem Besuch in Braunschweig Helene C ­ amphausen* und Nancy Götter, eine junge Lehrerin, kennen: Jene beiden haben schon nicht viel Christ­liches mehr, es wird vor ihnen und mit ihnen gejüdelt, und sie scheinen dabei ganz zu Hause zu sein. Ein merkwürdiges Wort kam dabei zum Vorschein, die Christen schimpfen hier: Judenschikselchen,199 was als contradictio in adjecto sehr komisch ist (Meyer, 12. 4. 1868). In den Briefen werden Anna (Ottos Schwester) und Helene (Camphausen) häufig wie Schwestern genannt, denn Helene Camphausens* Posi­tion war eine gehobene. Als Gesellschafterin unterhielt sie Frau Dr. Magnus, als Hausdame führte sie den Haushalt, teilte die Hausarbeit für die Dienstboten ein, griff überall selbst mit zu, sie war Vertraute der ­Familie und zog, wohl auftragsgemäß, Anna immer wieder zu Hausarbeiten heran, war also auch noch Haushaltslehrerin für die Tochter des Hauses. Helene Camphausen* war keine Befehlsempfängerin, sondern trug Verantwortung und hatte deut­liche Freiheiten.200 Ihre Ziele gingen allerdings über Braunschweig hinaus. Bald schon nach Sophies und Ottos Verheiratung verließ sie die Familie, um zu ihrem Bräutigam, einem deutschen Arzt, nach Mexiko zu ­reisen, zu heiraten und sich einen neuen Wirkungskreis aufzubauen. Sie hatte genaue Pläne, wie ihr Leben in der Fremde sich gestalten sollte: Ich sprach fast den ganzen Nachmittag mit Helene und habe über ihre Vergangenheit und ihre Aussichten Vieles erfahren, was mir unbekannt war. Sie meint ihr Bräutigam habe zu wenig Willenskraft um es zu etwas zu bringen, und es sei deshalb nöthig, dass sie ihm zur Seite stehe, wenn er vorwärts

198 Sophie z. B. näht ihr und der Schwägerin Anna 1867 jeweils eine Bluse. 199 Schikße, fem., jiddisch für „nichtjüdisches Mädchen“. 200 Als Helene C. z. B. end­lich Post aus Mexiko von ihrem Verlobten erhält, reist sie sofort zu ihren künftigen Schwiegereltern, die auch in großer Sorge sind, weil Kaiser Maximilian am 19. Juni 1867 hingerichtet wurde. Sie hätte natür­lich schreiben können, aber im Hause Dr. Magnus’ senior stößt ihre mehr­tägige Abwesenheit auf keinen Widerstand. Auch Sophie findet es richtig, die alten Eltern persön­lich zu benachrichtigen (Sophie, 10. 8. 1867). Vorher heißt es: „Hat denn Helene immer noch nichts von Mexico gehört? Du hast bis heute nichts davon erwähnt und auch nicht wie sie die nachricht von Kaiser Ma’ Tod aufgenommen hat.“ (Sophie, 16. 7. 1867).

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kommen solle. Deshalb wolle sie im nächsten Januar hinüber. Ihr höchster Wunsch ist, eine Anstalt für Geisteskranke zu gründen, da sie für deren behandlung eine wahre Leidenschaft habe (Otto, 30. 8. 1867 im Brief vom 29. 8. 1867). Mit einem eng begrenzten Frauenleben haben diese Pläne nichts zu tun. Doch im 19. Jahrhundert waren sie offensicht­lich nicht ungewöhn­lich, erfährt man doch in den Brautbriefen immer wieder von Freunden, Verwandten oder Bekannten, die in ferne Länder oder Erdteile aufbrechen oder von dort zurückkehren, als sei es die selbstverständ­lichste Sache der Welt, wochenlange Schiffsreisen auf sich zu nehmen, um anderen Kulturen und Zivilisa­tionen zu begegnen und doch die eigene Lebensweise dorthin mitzunehmen. Die Reisenden sind – und das ist erstaun­lich – auch Frauen! Eine besonders merkwürdige Geschichte berichtet Emma nach Braunschweig: Vor einiger Zeit kommt eine Dame zu [Heinrich] Adolph Meyer* die ihm seltene[n] Pflanzen zum Verkauf anbietet, und die ihm erzählt, dass sie eine Leidenschaft für Pflanzensammeln habe und zu ­diesem Zweck gern nach Australien möchte. Er interessiert sich dafür und verschafft ihr eine Überfahrt […]. Nun meint sie, sie habe noch eine Schwierigkeit, dass sie in München wo sie her ist, eine Tochter habe, ob er sich ihrer wohl annehmen wollte – Während nun gewöhn­ liche Menschenkinder sie für toll gehalten hätten, finden Meyers das ganz einfach […]. Sie lassen sie kommen, […] und haben sie nun in eine gute Pension gegeben. Die ­Mutter ist in Australien und schickt regelmässig Pflanzen (Emma, Mittwoch, 22. 1. 1868). Das ist schon was! Und es hat sich tatsäch­lich 1863 in etwa so, wie von Emma hier erzählt, in Hamburg zugetragen. Es ist die Geschichte der Amalie Dietrich°, die allerdings nicht aus München stammte, sondern aus Siebenlehn im Erzgebirge. Von dort holte sie ihre Tochter Charitas°201 nach Hamburg und vertraute sie eben jenen Meyers an, weil sie von ihrem Mann getrennt lebte und die Ausbildung des jungen Mädchens während ihrer Abwesenheit sicherstellen wollte.202 Eine „Dame“ war sie eigent­lich nicht, stammte die „Beutlerstochter“ doch aus ärm­lichen Verhältnissen. Amalie Dietrich war Autodidaktin, die – anfangs von ihrem Mann angeleitet,203 dann aber immer selbständiger – Pflanzen sammelte, trocknete, ordnete, bestimmte und die so entstandenen Herbarien verkaufte. Davon lebte die Familie eher kümmer­lich. Doch auch wenn Amalie Dietrich eine bessere Schulbildung gehabt hätte, wären ihr als Frau Universität und Exkursionen, Biologiestudium und Apothekenausbildung verschlossen geblieben. Ihr leidenschaft­liches Interesse, ihre wissenschaft­liche Unbedingtheit, ihre unermüd­liche Tätigkeit verhalfen ihr in der Fachwelt trotzdem zu einem Namen. Als sie durch H. A. Meyer* die Chance bekam, für den Unternehmer Cesar Godeffroy* nach Australien zu reisen, nahm sie die ohne lange zu zögern wahr. Zehn Jahre forschte Amalie Dietrich in Australien, sammelte Pflanzen, Kleintiere, Insekten und anderes mehr und schickte alles präpariert nach Hamburg.

201 Charitas Bischoff°, geb. Dietrich. 202 Die feste Anstellung bei Godeffroy machte Schul- und Ausbildung finanziell mög­lich. 203 Wilhelm Dietrich (1811 – 1866), Apotheker, stammte aus einer Familie von Naturforschern.

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Nach ihrer Rückkehr verwaltete sie diese Sammlungen und wurde ­später Kustodin des Botanischen Museums in Hamburg. – Natür­lich ist das eine absolute Ausnahmebiographie, aber sie gehört in unseren Zusammenhang, zeigt sie doch, was in diesen Jahren nicht nur in Hamburg, sondern auch von Hamburg aus Frauen mög­lich wurde. Denn wichtig ist die vermittelnde Familie Meyer, die sich nicht scheute, eine Frau für ein derartiges Unternehmen zu empfehlen und das Ihre zu dessen Gelingen beizutragen; zwei Schwestern Heinrich Adolph Meyers werden wir noch in ­diesem Kapitel begegnen 204. Zurück zu den „normalen“ Frauenberufen: Hauslehrerinnen, Erzieherinnen oder Gouver­ nanten gingen ähn­lich wie die Hausdamen einem Beruf nach, ohne für ihn wirk­lich ausgebildet zu sein. Sie wurden häufig einzig nach Vorlage ihrer eigenen Schulzeugnisse oder auf Empfehlung früherer Arbeitgeber in Familien mit Kindern engagiert. In Sophies Umkreis spielten sie keine große Rolle, dafür tauchen in ihren Briefen immer wieder Lehrerinnen auf, die an Schulen unterrichteten. Alle pädago­gischen Frauenberufe hingen wieder einmal mit der „weib­lichen Bestimmung“ zusammen. Weil die Hausfrau und ­Mutter „von Natur aus“ begabt schien, als Erzieherin und Lehrerin der eigenen Kinder zu wirken – wozu brauchte es dann eine Ausbildung? Auch ohne sie fanden sich viele Frauen, die an Mädchenschulen unterrichteten oder sogar eine „Töchterschule“ gründeten. Emma z. B. hatte eine Schule besucht, die von einer Frau geleitet wurde, an der sogar überwiegend und vor allem in den oberen Klassen Männer unterrichteten. In Sophies Schule gab es offenbar mehr Lehrerinnen. Außerdem hören wir immer wieder von Anna Wohlwill°, Sophies schon erwähnter Freundin, die sich das pädago­gische Know-­how durch Hospita­tionen angeeignet hatte und sich schon früh dem Lehrerinnenberuf mit ganzer Kraft widmete. Von einem Besuch bei Wohlwills* berichtet Sophie: Wir trafen Anna°, Frau Dr. [Annas ­Mutter] und Emil Wohlwill* zu Hause.205 Frau Dr. will nächste Woche auf 9 Wochen fort, nach Frankfurt [am Main], Aachen und Brüssel, dann bleibt Anna allein, was nicht behag­lich für sie ist, da sie wenig Zeit hat sich um das Haus zu kümmern und gewohnt ist, dass ihre ­Mutter das thut (Sophie, 30. 5. 1867, abends). Nachdenk­lich stimmt, dass berufstätige Frauen sich gleich zu Beginn selbständiger Erwerbstätigkeit in der Situa­tion der Doppelbelastung wiederfanden, wenn sie auch in d­ iesem Fall nur vorübergehend auftrat. Aber immerhin: Anna Wohlwill° war trotz ihrer Lehrerinnentätigkeit für das „Haus“ verantwort­lich, wenn ihre ­Mutter einmal „ausfiel“, während ihr Bruder Emil und der an dieser Stelle nicht erwähnte Bruder Adolph, der Historiker, sich ungehindert ihren beruf­lichen Ambi­tionen widmen konnten. Zum Glück handelte es sich bei den Wohlwills um eine vermögende Familie; für die eigent­ liche Hausarbeit war also genügend Personal vorhanden. Aber die „Verantwortung“ für das 204 Bertha Ronge°, gesch. Traun, geb. Meyer, und Margarethe Schurz°, geb. Meyer. 205 Ergänzt werden muss, dass Wohlwills eine sozial sehr engagierte Familie sind; im Brief vom 30. 5. 1867 wird beispielsweise erzählt, dass Emil dem Arbeiterbildungsverein in Hamburg vorsteht und Wohlwills gerade 1000 Taler bereitgestellt haben, um Arbeitern die Reise nach Paris zur Weltausstellung zu ermög­lichen.

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Haus und damit die Leitung des Haushalts fiel der Tochter bei Abwesenheit der M ­ utter zu. So ist das mit den Geschlechterrollen. Dabei war Anna Wohlwill° eine leidenschaft­liche Lehrerin. Wie sehr sie sich mit ihrem Beruf identifizierte, erfährt man in Sophies Brief einige Zeilen s­ päter: Anna nimmt jetzt Turnunterricht, der in der Schule gelehrt werden soll und findet, dass es ihr so gut bekommt (ebd.). Fortbildung und das Erlernen neuer Lernfelder – und Turnen war im Kommen! – gehörten also auch in den Anfängen d ­ ieses Frauenberufes selbstverständ­lich mit zu den Aufgaben, denen sich eine Lehrerin zu widmen hatte. Dass zu ­diesem Beruf natür­lich lange Sommerferien gehörten, erfreut nicht nur Sophie: Sie bekommt 4 Wochen Ferien, hat also schön Zeit (ebd.). Aber auch in den Ferien ließ die Schule Anna Wohlwill° nicht ganz los: Sie waren bis Meran und Botzen, in [Bad] Gastein, Salzburg, Königssee, berchtesgaden und zu letzt in Nürnberg. […] Schulen hat sie zum Glück nicht studieren können, weil überall Ferien waren. Aber sie hat sich in den Dörfern die Bücher zeigen lassen, das konnte sie doch nicht unterlassen (Sophie, 14. 8. 1867, nachmittags). Deut­lich wird, dass Sophie Anna Wohlwills° Schulbesessenheit für etwas übertrieben hält, und dass sie auch gern einmal so weit reisen würde. Nicht eigent­lich Anna Wohlwill°, aber ihre Schule erregte andernorts Aufmerksamkeit: Gestern war Lette* in ihrer Schule, er verhielt sich aber ziem­lich passiv und äusserte nichts Bemerkenswertes (Sophie, 30. 8. 1867). Wenn Wilhelm Adolf Lette* aus Berlin persön­lich eine Mädchenschule in Hamburg ansieht, auch wenn er nichts Bemerkenswertes sagt, dann heißt das wirk­lich etwas! Ihm ging es vor allen Dingen um die weib­liche Erwerbsfähigkeit und in Hamburg gab es seit 1. Mai 1867 eine der ersten Gewerbeschulen für Frauen in Deutschland. Der Name Emilie ­Wüstenfeld°206 ist mit dieser Schule verbunden. – Von ihr und ihrem Kreis wird gleich noch in einem Exkurs zu reden sein. Noch sind wir bei der Lehrerinnenausbildung, und Ansätze dazu gab es. Denn die Ausbildung von Lehrerinnen (abgesehen von katho­lischen Ordenseinrichtungen) begann in den deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Hamburger Adressbuch von 1860 wird eine „Unterrichtsanstalt für Lehrerinnen“ aufgeführt, die von der „Commission des schulwissenschaft­lichen Bildungsvereins“ geleitet wurde. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre, war unentgelt­lich, begann jeweils Ostern und fand an zwei Wochentagen statt, jeweils mittwochs und sonnabends von 16 bis 20 Uhr. Gelehrt wurden die Fächer Pädagogik, deutsche Sprache, Geschichte, Geographie, Naturkunde, Gesang und Rechnen. Der Unterricht fand im „Local der Petri-­Kirchenschule“ statt. Der hier genannte Verein war von Lehrern 1825 gegründet worden und unterhielt bereits eine „Unterrichtsanstalt für Lehrer“. Noch gab es in Hamburg keine öffent­liche Lehrerausbildung. Das sollte sich erst 1870 mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht ändern. Ob es weitere private Einrichtungen gab, muss offen bleiben.

206 Am 1. 5. 1867 gründete Emilie Wüstenfeld mit anderen die „Gewerbeschule für Mädchen“ in Hamburg, nachdem sie bereits im Februar einen „Verein zur Förderung der weib­lichen Erwerbstätigkeit“ ins Leben gerufen hatte.

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Sophie berichtet anläss­lich eines Besuchs bei Julie Udewald*: Bei ihr war Mad. Marks, eine gute Bekannte von mir […]. Sie ist eine geschiedene frau mit einer jetzt erwachsenen Tochter, die sich mit einer beispielslosen Tüchtigkeit als Lehrerin an einer Schule sehr anständig erhält. Sie ist nicht gerade liebenswürdig denn sie spricht furchtbar viel aber sehr gescheit und warm (Sophie, 22. 6. 1867). Die Briefstelle ist wichtig, weil sie zeigt, dass der Kreis der erwerbstätigen Frauen im 19. Jahrhundert sich nicht auf junge unverheiratete Frauen beschränkte, sondern auch geschiedene, vielleicht auch verwitwete, also ältere Frauen und/ oder Mütter einschloss, jedenfalls in Hamburg. Denn bei einer Heirat mussten Frauen ihren Lehrerinnenberuf in aller Regel aufgeben. – Wichtig scheint mir noch, dass Sophie schreibt, diese Frau könne sich sehr anständig erhalten, d. h. doch wohl, dass sie und die Tochter vom Verdienst der M ­ utter leben konnten; ob etwas Geld im Hintergrund vorhanden war oder der Vater für die Tochter etwas zum Lebensunterhalt beisteuerte, erfahren wir nicht. Auf alle Fälle begegnen wir hier einer Frau, die ihr Leben 1867 selbst bestritt. Ein anderes Beispiel ist dies: Madame Schuback°, Sophies zeitweilige Klavierlehrerin, zog mit ihrem Mann, dem Maler Emil Schuback*, nach Düsseldorf, wo dieser seine Kunststudien noch einmal aufnahm, während seine Frau für den Unterhalt des kinderlosen Paares sorgte. Sie eröffnete eine höhere Mädchenschule. Noch 1880 heißt es: Frau Schuback […] ist nur auf einige Tage hier [in Hamburg], um eine Lehrerin zu suchen. Ihre Schule hat jetzt 190 Kinder […] (Emma, 6. 1. 1880). Das Institut erfreute sich großen Ansehens, hatte aber heftige Kämpfe mit klerikalen katho­lischen Kreisen zu bestehen, in deren Händen allein bisher die Mädchenbildung gelegen hatte.207 Islers ihrerseits waren ganz eng mit dem (jüdischen) Mädchenschulwesen verbunden, weil Meyer Isler zum Vorstand der (Israelitischen) Mädchenschule von 1798 gehörte.208 Als 13-Jährige begleitete Sophie den Vater, als in der Mädchenschule ein Spielplatz eingeweiht wurde: Montag war in der Mädchenschule Einweihung des Spielplatzes. Die[s] ist ein ungeheurer Platz, wogegen unser Fleckchen in der Schule nur ein Sandkorn ist. Zuerst wurden die Kinder mit Chokolade und Kuchen bewirthet, dann gingen sie in den Garten, wo sie ein Lied sangen. Dann hielt vater eine sehr hübsche Rede, nach der wieder ein Lied gesungen wurde. Diese waren von Frl. Warendorf gedichtet. Dann fingen die Kinder an zu spielen. Es waren mehrere Mädchen da, die ich ein bischen kenne. Dann wurden die Kinder wieder mit Kirschen und Kuchen bewirthet. Ich habe mich ganz gut amüsiert (Sophie, 16. 8. 1853). Nach Sophies Heirat ist vielfach im Briefwechsel z­ wischen 207 Schon 1868 berichtet Emma: „Die verschiedenen Konfessionen machen ihr aber manche Schwierigkeit, besonders der Geschichtsunterricht: wie soll man einer Klasse, die halb aus Katholikinnen besteht die Reforma­tion vortragen?“ (Emma, 19. 2. 1868). 208 Privat gestiftete Unterrichtsanstalt in Hamburg. Diese Schule und die 1818 von der Deutsch-­Israe­ lischen Gemeinde eingerichtete Armenschule für jüdische Mädchen wurden 1884 zur Israelitischen Töchterschule vereint. Jüdische Mädchen der Mittel- und Oberschicht besuchten Privatschulen. Mehr dazu in: Das jüdische Hamburg, Göttingen 2006.

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Hamburg und Braunschweig davon die Rede, dass neue Lehrerinnen sich vorstellten, einzelne auch engagiert wurden oder dass „bedürftige“ Mädchen Sachspenden erhielten.209 Denn die Mädchenschule von 1798 war eine Schule für ärmere jüdische Mädchen, deren Eltern keine Privatschule bezahlen konnten, und für Waisen, die im (jüdischen) Paulinen-­Stift aufwuchsen. * Im 19. Jahrhundert gab es also eine ganze Reihe von bürger­lichen Berufen für Frauen. Abgesehen von den Künstlerinnen – erwähnt werden die Sängerinnen Helene Magnus* und Marie Hausmann°210 sowie die Malerin Julie de Boor° – ging es bei ihnen allen um Tätigkeiten für Frauen aus dem Bürgertum, die auf eine gute Schule und auf Allgemeinbildung zurückgreifen konnten. Alle diese Berufe hatten mit Fähigkeiten zu tun, die auch heute noch als „typisch weib­lich“ gelten: pädago­gisches Geschick, Beherrschung von Fremdsprachen, Organisa­tionstalent und Sinn für die Haushaltsführung. Hier fehlt nur noch der Bereich der Pflege, um den Radius typischer „Frauenberufe“ abzuschreiten. Von einer Erschließung des technischen Spektrums war man zwar noch weit entfernt, aber der Lette*-Verein in Berlin 211 sollte unter seinem Dach schon bald eine „photographische Lehranstalt“ und eine „Setzerinnenschule“ haben, und damit über den tradi­tionell „weib­ lichen“ Bereich hinausgehen. Außerdem gab es schon bald eine Handels- und Gewerbeschule, die Frauen den Weg in die Angestelltenwelt der Büros bei Post und Bahn öffnete. Eine von der Lette*-Stiftung eingerichtete „Darlehenskasse“ konnte Frauen finanziell unter die Arme greifen. Das alles waren Entwicklungen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gang gekommen waren und von bürger­lichen Frauen und ihren männ­lichen Mitstreitern in vielen Selbstorganisa­tionen vorangetrieben wurden. Akademische Berufe gab es noch nicht. Die Universitäten öffneten sich in Deutschland ja erst 1900 für Frauen. Schon 1850 beklagte Emma Isler von Schwalbach aus, wo sie zur Kur weilte, das Fehlen von Ärztinnen: […] finde ich es nicht nöthig mir die grosse Unannehm­lichkeit aufzuerlegen einem wildfremden Manne meine kranheitsgeschichte mitzutheilen. Bei diesen inneren Kämpfen ist mir erst klar geworden, was es für ein Barbarenthum ist, dass wir keine weib­lichen Aerzte haben (Emma, 25. 7. 1850). Vermutet die Leserin erst, die Betonung läge auf „wildfremd“, belehrt der zweite Satz, dass es der „Mann“ war, dem gegenüber Emma so ungern über ihre Beschwerden sprechen wollte. Hätte eine Frau sie besser verstanden? Das Knäuel von phy­sischen und psychischen „Schwächen“ eher entwirrt? Das Bedürfnis nach Ärztinnen muss gerade in einer 209 Bedürftige erhielten zweimal jähr­lich Sommer- bzw. Winterbekleidung vom Mädchenbekleidungsverein und täg­lich auch ein Mittagessen, Suppe und Brot, vom Verein junger Armenfreunde. Hambur­ gisches Adressbuch 1867, S. 713. 210 Schwester der Luise Schulz, geb. Hausmann. 211 Meyers Konversa­tionslexikon, 5. Auflage, 6. Band, 1895, S. 827 unter „Frauenverein“.

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Zeit sehr groß gewesen sein, in der wir es mit einer Fülle „weib­licher“ Leiden zu tun hatten. Aber es sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis in Deutschland das Medizinstudium für Frauen mög­lich wurde. In anderen Ländern bewegte sich wohl mehr in Sachen weib­licher Berufstätigkeit. Selbst Meyers Konversa­tionslexikon von 1896 vermerkt, dass in den USA, England und Schweden viel mehr Frauen als im Deutschen Reich eine Ausbildung als Lehrerin absolvierten und inzwischen mehr Frauen als Männer diesen Beruf ausübten.212 Jeder Hinweis auf weib­liche Erwerbsarbeit in Braunschweig wurde von Sophie aufgenommen und nach Hamburg weiter­ berichtet: Dann gingen wir zu Tante Jeanette [Helfft*] wo wir Frl. Vieweg* aus Paris 213 trafen, eine französin, die aber ganz wie eine Deutsche aussieht und spricht. […] Zu Hause ist sie den ganzen Tag von morgens 8 bis abends 8 in ihres vaters Buchhandlung beschäftigt, wo sie Bücher führt, Journale ordnet usw. Als ich mich darüber wunderte, sagte sie, dass eine ­solche Tätigkeit für Frauen in Frankreich was sehr Gewöhn­liches sei (Sophie, 31. 10. 1867). Eine Buchhändlerin also. Ob es sich bei dieser Tätigkeit um echte Erwerbsarbeit handelte, bleibt offen. Die junge Frau arbeitete im Familienunternehmen mit; dass sie das allerdings über den ganzen Tag hinweg offensicht­lich als täg­liche Arbeit verrichtete, musste in den Augen der deutschen Zeitgenossinnen etwas Besonderes sein. Sogar wissenschaft­lich arbeitende Frauen gab es vereinzelt, ihre „Laufbahn“ war immer ungewöhn­lich. Und sie waren immer Autodidaktinnen. Amalie Dietrich° wurde oben schon erwähnt: Sie arbeitete zuletzt als Kustodin, also als wissenschaft­liche Sachbearbeiterin, am Botanischen Museum in Hamburg. Von einer anderen erzählt Emma Isler: Das Interessanteste am Museum [in Schwerin] ist die Custodin, die es beaufsichtigt: sie ist die Tochter des früheren Castellans, war in ihrer Jugend eine grosse Schönheit und mit einem Meklenbur­gischen Adligen verlobt. Gegen diese Verlobung brach ein entsetz­licher Sturm los und end­lich flehte sie der Vater des Bräutigams [sie] an, zurück zu treten. Sie gab ihm sein Wort zurück, hat sich aber nie verheiratet. Nach dem Tode ihres Vaters sagte ihr der herzog, sie solle ihm den Mann nennen, den sie heiraten wolle, er solle in des Vaters Stelle rücken, er wisse, dass sie umworben sei. Sie bat ihn ihr selbst die Stelle zu geben, da sie frei bleiben wolle, und das hat er dann auch getan. Sie ist jetzt über 50 und noch immer eine interessante Erscheinung … (Emma, Montagnachmittag. 19. 7. 1868). Abgesehen von

212 „[…] dass es gegenwärtig in allen gebildeten Völkern einen zahlreichen Lehrerinnenstand gibt und dieser sogar in einigen Ländern, wie in Nordamerika, England, Schweden, den männ­lichen Lehrerstand an Zahl überflügelt hat. In Deutschland ist allem Anschein nach dazu keine Aussicht. […] Dennoch vermehrt sich auch bei uns die Zahl der […] L. von Jahr zu Jahr […].“ Meyers Konversa­tionslexikon, 5. Auflage, 11. Band, 1896, S. 160 unter „Lehrerinnen“. 213 Ob und gegebenenfalls wie ­dieses „Fräulein Vieweg“ mit der bekannten Braunschweiger Verleger­ familie zusammenhing, konnte aufgrund der wenigen Angaben im Briefwechsel bisher nicht geklärt werden. Immerhin war Friedrich Vieweg junior, Sohn des Verlagsgründers, nach Paris gegangen und hatte dort 1837 eine eigene Verlagsbuchhandlung gegründet.

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der „Schönheit“ muss diese Frau ja eine kluge und selbständige Person gewesen sein, die die Gelegenheit, einen Beruf zu ergreifen, der einer Frau sonst nicht zugestanden wurde, beherzt beim Schopfe packte. Aus dem Rahmen des bisher Dargestellten fällt der beruf­liche Weg der Johanna Mestorf°214 heraus, einer Archäologin, die wissenschaft­lich arbeitete und Islers immer wieder Bewunderung abnötigte. Sie tauchte in den Brautbriefen am Rande auf, beschäftigte Emma und Sophie aber auch danach immer wieder. 1873 fand sie end­lich eine (kärg­lich) bezahlte Stelle als wissenschaft­liche Mitarbeiterin in Kiel. Erst ein kleines ererbtes Vermögen setzte sie schließ­ lich in den Stand, ihre alte ­Mutter nach Kiel zu holen, die der berufstätigen und häufig zu Kongressen reisenden Tochter den Haushalt führte. In Sophies „Kindheitserinnerungen“ wird erzählt, dass Fräulein Mestorf° schließ­lich den Professorentitel erhielt. Festzuhalten bleibt: Weder die hier vorgestellten Personen noch diejenigen, die über sie sprechen oder von ihnen berichten, haben Frauen auf Ehe, Kinder und Haushalt begrenzt gesehen. Wenn Otto also das Thema „Bestimmung der Frau“ tatsäch­lich aus den Gesprächen mit seiner Frau ausklammern wollte, so zeigt die Darstellung oben, dass das nun wirk­lich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr ging. Die Frauenbewegung kam ja nicht zum Stillstand, sondern entwickelte sich im Gegenteil immer weiter und war erfolgreich. Die Berufstätigkeit der Frauen nahm unaufhaltsam zu. Post und Telegraphenwesen stellten auch im Deutschen Reich junge Frauen ein und schon bald gab es sogar Postbeamtinnen!215 Selbst in Braunschweig wurde darüber debattiert: Wir sprachen über weib­liche Erwerbs­ tätigkeit wofür Schulz* sich sehr interessiert; es soll hier auch etwas dafür geschehen aber wie fälschlich das Hauptgewicht auf handarbeiten gelegt werden, während der Zweck ist neue Beschäftigungsarten zu schaffen und sie dafür fähig zu machen. Schulz möchte sie zunächst bei der Post und Eisenbahn verwendet wissen, wofür sie Schreiben, Rechnen und Buchführung lernen müssten. Ich möchte bei der gelegenheit Prospekte und den Jahresbericht der Gewerbeschule haben. Anna Wohlwill° sagte, dass es sich da auch zu sehr auf handarbeiten

214 Sophie berichtet in ihren „Kindheitserinnerungen“ davon, dass sie als „ganz erwachsenes Mädchen“ Weiterbildung durch Vorträge erhielt, die „Frl. Mestorf vor Damen hielt“, und fährt fort: „Frl. Mestorf war Archäologin, sehr angesehen in der Wissenschaft, sie wurde Custodin des Museums in Kiel und bekam den Titel Professor.“ Sophie Magnus, Kindheitserinnerungen, S. 35. 215 Erst in der 6. Auflage von Meyers Konv.-Lexikon von 1907 tauchen Frauen in den hier erwähnten Berufsfeldern auf: „Zur Bedienung der Schreibmaschinen und in den Bezirks- und Rentenrechnungsstellen werden Postgehilfinnen, im Telegraphen- und Fernsprechdienste Telegraphengehilfinnen beschäftigt; es werden nur wohlerzogene, vollständig gesunde Mädchen oder kinderlose Witwen von 18 – 30 Jahren, die richtig deutsch schreiben und sprechen können und im Beschäftigungsorte Familienanschluss haben, auf Widerruf, bez. vierwöchent­liche Kündigung angenommen. Sie erlangen Beamteneigenschaft und erhalten Tagegelder mit Aussicht auf Ruhegehalt. Die Annahmeprüfung erstreckt sich auf deutschen Aufsatz, Rechnen und Geographie.“ Meyers Konv.-Lexikon, 6. Auflage, 16. Band, 1907, S. 217 f.

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beschränke. Schulz sagt, es fehlt entschieden an männ­lichen Arbeitern während tausend[e] von Frauen sich kümmer­lich oder garnicht ernähren können (Sophie, 31. 3. 1868). Der letzte Satz macht deut­lich, dass der Arbeitskräftemangel dem Wunsch nach weib­licher Erwerbstätigkeit zu Hilfe kam und den Frauen die Tür in neue Berufe öffnete, die nur noch wenig mit dem Etikett „natür­liche Bestimmung“ zu tun hatten. Der Fortschritt war für die bürger­liche Frau nicht mehr aufzuhalten. Das bedeutete, dass auch das Schulwesen verbessert werden musste, damit mög­lichst viele Mädchen aus dem Bürgertum höhere Schulen besuchen konnten. In der benachbarten Schweiz war das Frauen­studium seit Mitte des Jahrhunderts erlaubt und zog auch junge Frauen aus Deutschland an. Das alles vollzog sich nicht unbemerkt und war, wie die Passage oben zeigt, auch in Braunschweig ein Gespräch. Aber zäh und oftmals ziem­lich lächer­lich war der männ­liche Widerstand gegen weib­liches Bildungsstreben, gab es doch 1868 z. B. die Überzeugung, dass das Frauengehirn dem der Affen sehr viel näher steht als das der Männer; ich denke mir, schrieb Emma an Sophie, es wird da wohl noch Geheimnisse geben, die sich nicht mit hebeln und Schrauben finden lassen, denn das brett, das jeder Mann vor dem Kopf hat ist nur von Frauen und nie durch ein Mikroskop zu entdecken … (Emma, 19. 1. 1868, im Brief vom 18. 1. 1868). Doch durfte man bei der Verbesserung des Schulwesens und der Bildung nicht stehenbleiben, auch die Berufsausbildung von Frauen musste vorankommen. Damit sind wir bei Emilie Wüstenfeld° und dem versprochenen Exkurs: Die Hamburger Frauen waren näm­lich Vorreiterinnen beim Versuch, die Berufsausbildung von Frauen end­lich auf den Weg zu bringen. * Von der Hamburger Frauenbewegung war schon oben bei Emma Isler die Rede. 1849 ­hatten sie und die Frauen des „Bildungsvereins deutscher Frauen“216 in Hamburg, an der Spitze Emilie Wüstenfeld°, Kontakt zu Karl Fröbel in der Schweiz (Emma, 29. 7. 1849) geknüpft. Ein Glücksumstand klärt uns über Einzelheiten auf: Meyer Isler besuchte im Sommer 1849 seine ­Mutter in Wolfenbüttel, sodass Emma mit ihm darüber korres­ pondierte. Beide hatten den entscheidenden Brief vor Meyers Reise formuliert, jetzt berichtet Emma nach Wolfenbüttel: Von den Resultaten der sozialen Sitzung 217 weiss ich nichts, […] nur dass mir heute mein (Dein) Brief an Fröbel abgefordert worden ist, den ich die Mühe hatte ganz abzuschreiben, da Dein Original so durchkorrigiert war, dass er schwer zu lesen ist. Er soll mit der Antwort von Dr. Dittmer geschickt werden (Emma, undatiert, vermut­lich 27. 7. 1849). Die Antwort Fröbels ging an Emilie Wüstenfeld*: Diesen morgen war ich bei der Madame Wüstenfeld, ich ging furchtbar matt dahin, wurde aber 216 Hervorgegangen aus der Fusion des „Frauenvereins zur Förderung freier christ­licher Gemeinden und humaner Zwecke“ mit dem „Sozialen Verein Hamburger Frauen zur Ausgleichung ­konfessioneller Unterschiede“. 217 Vermut­lich richtiger: Sitzung des „Sozialen Vereins“, der 1848 gegründet worden war, ausdrück­lich mit der Absicht, Jüdinnen und Christinnen zu „vereinen“.

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bald von dieser lebenskräftigen Frau so erfrischt, dass ich ganz wohl wurde. Fröbel aus der Schweiz hat nicht mir sondern ihr geantwortet und sich mit Allem ganz zufrieden erklärt (Emma, 29. 7. 1849). Der Plan, den die Frauen entwickelt hatten, war außerordent­lich kühn; sie wollten Friedrich* und Karl Fröbel*, dessen Neffen, nach Hamburg holen, um hier eine Hochschule für Frauen zu gründen: […] dem alten [Fröbel] die Bildung der Kindergärtnerinnen zu überlassen, den jungen [Karl Fröbel] aber für die allgemeinen Vorlesungen zu gewinnen. Ein billiges, geräumiges Haus sollte beide aufnehmen. Ebenda sollte unter Carls Leitung auch ein Kindergarten errichtet werden und 6 bis 8 Hochschülerinnen sollten den Grund zu einer Universität legen. Hamburgs lehrende und lesende kräfte wären unentgelt­lich zu gewinnen. Madame Traun [später Ronge°] und Wüstenfeld° wollen nach Zürich, um das Nähere mit Fröbel* zu besprechen (Emma, 29. 7. 1849). Um diesen Plan zu realisieren war allerdings ein genauer Kostenüberschlag nöthig zu dessen Entwerfung die Damen sich Mittwoch bei mir versammeln wollen, wobei dann auf Deine [Islers] Mitwirkung gerechnet wird (ebd.). Was auf der folgenden Sitzung beschlossen wurde, erfahren wir leider nicht mehr im Briefwechsel, weil Meyer nach Hamburg zurückkehrte, nur, dass sie an dem vorgeschlagenen Mittwoch nicht stattfand. Die Erkundigungen aber, die die Hamburger Damen bisher eingeholt hatten, waren durchaus befriedigend: Über des Schweizer Fröbel mora­lischen Charakter sind die besten Zeugnisse eingegangen. Eine sehr fromme Dame aus Zürich bezeichnet ihn als höchst ehrenhaft, aber ohne alle Religion (Emma, 1. 8. 1849, 8 V Uhr). Da machten Alter und Gesundheitszustand des „alten“ Fröbel Emma mehr Sorgen und die ihm nachgesagte „Langweiligkeit“.218 Zu dieser „Universität“ ist es tatsäch­lich gekommen. 1849/50 gründete Friedrich Fröbel einen „Bürgerkindergarten“ in Hamburg und führte ca. 22 junge Mädchen und Frauen in seine Pädagogik ein, darunter eine gewisse Margarethe Meyer*, die s­ päter Carl Schurz heiratete. Am 1. Januar 1850 gründeten Karl Fröbel*, Emilie Wüstenfeld* und Bertha Traun (Ronge°) die Hambur­gische Frauenhochschule, die erste ihrer Art in Deutschland.219 Dass das in Hamburg mög­lich wurde, überrascht letzten Endes nicht. Hier hatte ein starkes, selbst­ bewusstes Bürgertum schon im 18. Jahrhundert mit der Gründung des ersten deutschen Na­tio­ naltheaters und der Verpflichtung Gotthold Ephraim Lessings an ­dieses Theater Bewegung

218 Nach Emmas Bericht waren Frau Wüstenfeld, Frau Traun (später Ronge) und Emma Isler zentrale Figuren bei dieser Unternehmung. So gibt der Briefwechsel die Mög­lichkeit, Kirsten Heinsohns Darstellung an ­diesem Punkt zu korrigieren (Heinsohn, Politik und Geschlecht, 1997, S. 122): Es war offenbar nicht wieder einmal Johanna Goldschmidt, sondern wirk­lich die Frauengruppe des „Sozialen Vereins“, die Fröbel nach Hamburg einlud. Ergänzt wird der Vorgang durch Wüstenfelds Brief an Emma (Zürich, 3. 9. 1849) nach den Gesprächen mit Karl Fröbel in Zürich, in dem sie diese über Fröbels Bedingungen unterrichtet und sie bittet, die anderen Damen zu informieren. Staatsarchiv Hamburg, 622 – 1/113 ­Emilie Wüstenfeld, Nr. 5. 219 Näheres unter „Frauenbiographien“ im Anhang unter Emilie Wüstenfeld.

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in die deutsche Bildungs- und Literaturlandschaft gebracht. Wenn auch das Unternehmen schon bald wieder scheiterte, machte es doch deut­lich, was in Hamburg angestoßen werden konnte. Im 19. Jahrhundert hatte das liberale Klima der Stadt den Juden ermög­licht, sich freier zu entwickeln als an manchen anderen Orten. Dass Jüdinnen wie Emma Isler aufgefordert wurden, sich dem oben genannten ökumenischen Frauenverein anzuschließen, ist ebenfalls bemerkenswert.220 Der Fröbel-­Plan zeigt außerdem, wie sehr diese Gruppe von christ­lichen und jüdischen Frauen willens und fähig war, das kulturelle und ­soziale Projekt der Frauenbildung auch politisch voranzutreiben.221 Ziel der Hochschulgründung für Frauen war es, Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen auszubilden, also das zu tun, was längst überfällig war: bürger­lichen Frauen den Weg zu einer Berufsausbildung zu öffnen und sie damit unabhängiger zu machen.222 Die Hochschule allerdings hat keine zwei Jahre bestanden, weil es schon bald zu Differenzen ­zwischen Karl Fröbel und den Frauen im Verwaltungsausschuss kam, sodass Fröbel Hamburg 1851 wieder verließ (sein Onkel war schon früher nach Thüringen zurückgekehrt). Hinzu kam, dass Bertha Traun sich von ihrem Mann scheiden ließ und bald darauf den ehemaligen Priester Johannes Ronge° heiratete. Zwar lebte das Ehepaar Ronge einige Jahre in England, aber der Vorfall schreckte „anständige“ Hamburger Geldgeber ab und gefährdete damit auch die Frauenuniversität, außerdem stärkte er die „Reak­tion“, die von Anfang an gegen solcherart Frauenaktivität zu Felde gezogen war. Am 1. April 1852 musste der Lehrbetrieb eingestellt werden.223 Trotzdem blieb die Frauenuniversität nicht folgenlos. Zwei der dort engagierten Hamburger Frauen trugen Fröbels Kindergartenidee in die Welt: Bertha Ronge° (geschiedene Traun) führte den Kindergarten in England ein und ihre jüngste Schwester Margarethe Schurz° eröffnete 1856 in Watertown/Wisconsin den ersten Kindergarten der USA. Nicht nur in diesen Ländern verbreitete sich der Kindergarten und mit ihm die Ausbildung von Kindergärtnerinnen. Der Name „Kindergarten“ fand als deutsches Wort Eingang in andere Sprachen und wird bis heute für diese Kinderbetreuung benutzt. 220 Noch einmal: Die „freisinnigen Hamburger Frauenvereine“ waren „demokratisch organisiert, und Frauen aller Stände und jeder Konfession konnten an ihnen teilnehmen.“ Paletschek, Sozialgeschichte, 1991, S. 299. 221 Zur politischen Dimension der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts findet sich mehr bei Heinsohn, Politik und Geschlecht, 1997. 222 Mit der Entwicklung des „Kindergartens“ hatte Fröbel nicht nur eine neue Form der Kleinkindererziehung, sondern auch „einen neuen Frauenberuf geschaffen, für den eine eigene Ausbildung erforder­lich war“. Wilma Aden-­Grossmann, Kindergarten. Eine Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik, Beltz-­Taschenbuch 111, 2002, S. 49 f. 223 Die Hamburger Frauenhochschule war von der Konzep­tion her in erster Linie für junge Frauen aus dem vermögenden Bürgertum gedacht, was nicht ohne Vorwurf aus der Frauenbewegung blieb. Auch das war ein Grund ihres Scheiterns. Emilie Wüstenfeld selbst sah den Fehler vor allem darin, dass mit dem „Schlussstein“ begonnen wurde, statt zunächst das „Fundament“ der Frauenbildung zu entwickeln. Näheres dazu bei Kleinau und Nohr, S. 15.

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Soweit der Exkurs. Zwar scheiterte der Versuch, die Berufsausbildung von Frauen end­lich auf den Weg zu bringen, aber als Sophie Isler 17 Jahre s­ päter nach Braunschweig zog, war das Thema auch dort angekommen, also längst über die großen Städte hinaus. * Nicht für Otto, wohl aber für uns wird sich am Ende des Verlobungshalbjahres die Frage stellen, ob die „fortschritt­liche“ Braut in der ihr in Braunschweig zugedachten Rolle auf Dauer glück­lich werden konnte. Sophie war davon überzeugt: […] jetzt komme ich mir nicht mehr unnütz in der Welt vor, ich habe ja meinen beruf gefunden, den ich nun nach meinen schwachen Kräften zu erfüllen gedenke. Aber damals [vor einem Jahr] hatte ich doch recht, denn durfte ich auf das Wunder das geschehen ist rechnen? Hatte ich nicht allen Grund anzunehmen, dass wenn ich 26 Jahre lang niemandem gefallen habe, es auch so weitergehen würde? Und wäre es nicht sehr traurig für mich gewesen, wenn ich ohne bestimmte, ausfüllende beschäftigung hätte fortleben und altern müssen? Hätte ich einen bestimmten Beruf irgend welcher Art gehabt so hätte ich mein Schicksal gerade so gestalten können, aber ich hätte mehr Sicherheit im Hinblick auf die Zukunft gehabt und hätte meinen Eltern weniger Sorgen gemacht (Sophie, 1. 9. 1867). Sophie bezog sich hier auf einen Brief, den sie ein Jahr zuvor an Jeannette Aronheim* geschrieben hatte und den Otto jetzt lesen durfte. Noch einmal wird deut­lich, wie unwohl sich Sophie vor der Verlobung als Tochter pur fühlte, aber ganz klar ist auch: mit der Rolle der Ehefrau hatte sie ihren Beruf gefunden! – Ihre Wortwahl zeigt an, dass sie nicht in eine von der Natur vorgegebene „Bestimmung“ einschwenkte, sondern im Finden „ihres Berufs“ ein Gefühl von Nütz­lichkeit empfand. Auch hierin sah sie sich auf Augenhöhe mit dem berufstätigen Mann. Sophie sollte sich in vielem anpassen an Ottos Ansichten und die ihrer Umgebung, aber in der Frauenfrage sollte sie nicht nachgeben. Zeigen doch die Brautbriefe auch, mit welcher Beharr­lichkeit hier Rollenbereiche besprochen wurden, weil Sophie sich nicht einfach unterordnen, sondern als gleichberechtigte Partnerin neben ihrem Mann stehen wollte. – Nachzutragen bleibt, dass Otto am Ende nicht unberührt von den Entwicklungen der Zeit blieb, er hätte sonst schwer­lich seiner eigenen Tochter das Studium erlaubt.

Von Geburt an für nichts als die „Wirtschaft“ bestimmt? Was Sophie immer wieder Sturm laufen ließ gegen die Formel von der „natür­lichen“ Bestimmung der Frau, war die damit verbundene Beschränkung der Frau auf „Wirtschaft“ und Haus, ihre Degradierung und Unterordnung unter den Mann. Die eigene ­Mutter lebte ein anderes Selbstverständnis und hatte ihre Tochter nicht nur für die „Wirtschaft“ erzogen und damit gegen einen gesellschaft­lichen Trend. Was änderte sich? Das „ganze Haus“, wie die „Produk­tionseinheit“ frühbürger­licher Familien genannt wird, wandelte sich im 19. Jahrhundert zur Kleinfamilie, die nur noch aus Eltern, Kindern und allenfalls Dienstboten

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bestand. Dieser strukturelle Wandel hat Spuren auch in den Briefen hinterlassen und soll deshalb hier genauer betrachtet werden. In der Regel verließ nun der Mann morgens das Haus, um seiner Erwerbsarbeit nachzugehen, und kehrte erst am Abend zurück. Die Frau blieb im Haus und war nur noch für die Wohnung und die Kinder zuständig. Während die Arbeit des Mannes gesellschaft­lich geschätzt und bezahlt wurde, sank die Wertschätzung der weib­lichen Hausarbeit, die ja überwiegend von weib­lichen Dienstboten erledigt wurde. Damit trat eine strenge Rollentrennung an die Stelle eines gemeinsam geführten „ganzen Hauses“. Der Mann verließ nicht nur zur Arbeit das Haus, er war auch für die Außenkontakte der Familie zuständig und gewann mit der räum­lichen Distanz gleichsam an Statur für die zu Hause Gebliebenen.224 Ihm allein standen das allgemeine und freie Wahlrecht und die juristische Vormundschaft über Frau und Kinder zu. Der Gedanke, dass Frauen auch mündig sein und politische Rechte haben sollten, war nicht populär und selbst in der bürger­lichen Frauenbewegung noch umstritten. Mit der Beschränkung der Frau auf Haushalt und Kindererziehung war sie für die emo­tionale und geistige Entwicklung der Kinder zuständig, ohne dass dieser Zuwachs an Verantwortung ihre Posi­tion verbessert hätte. In der Familie herrschte eine klare Hierarchie. Denn auch in der Erziehung behielt der Vater das letzte Wort und strafte je nach Gusto am Abend oder am Wochenende für längst vergessene kind­liche Untaten. Der Bedeutungsverlust, den die bürger­liche Frau erfuhr, ging einher mit einer neuen Betonung von Weib­lichkeit: Frauen galten „von Natur aus“ als zart, schwach, anlehnungsund schutzbedürftig. Das hatte Auswirkungen auf die Mädchenerziehung. In der Familie hatten Mädchen brave Anpassung und stille Tätigkeit, vor allem Handarbeiten, zu lernen. Das Handarbeitskörbchen durfte s­päter bei keiner Einladung fehlen, denn auch bei der lebhaftesten Unterhaltung sollten die Hände „nimmermüde“ sein. Wilde Spiele und Lärm wurden bei Mädchen nicht geduldet. Das sorgte frühzeitig für Triebbegrenzung. Zwar wuchs die Vorstellung im 19. Jahrhundert, dass auch bürger­liche Mädchen mehr lernen sollten, als die Volks- bzw. Bürgerschule an Grundkenntnissen vermittelte, aber der Lehrplan höherer Mädchenschulen sollte sich deut­lich von dem der gymnasialen Knabenschulen unterscheiden und den besonderen weib­lichen Anlagen gerecht werden: Hier wurden Fertigkeiten trainiert, die der späteren Hausfrau und ­Mutter nützten, und nur so viel „Wissenschaft“ geboten, wie der „weib­liche Kopf“ nach Meinung der Zeit zu fassen in der Lage war. Inte­ ressierte sich eine junge Frau mehr für Bücher als für den Haushalt, wollte sie ihr Wissen in Bereiche erweitern, die jenseits von Haus und Kindererziehung lagen, wurde sie schnell als

224 Die Familien Isler und Magnus zeigen, dass beide Familienmodelle noch lange nebeneinander existierten: Islers als moderne „Kleinfamilie“ und die junge Magnus-­Familie als Auslaufmodell „Ganzes Haus“, weil Otto als niedergelassener Anwalt Praxis und Wohnung vereinbarte und seinen ganzen „Betrieb“ zu Hause abwickelte. Auf ­dieses lange Nebeneinander macht Trepp aufmerksam. Siehe: Trepp, Sanfte Männ­lichkeit, a. a. O.

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„Blaustrumpf“ verschrien 225. Die Karriere zur „alten Jungfer“ schien unvermeid­lich – welcher Mann wollte schon eine „Gelehrte“ heiraten? Derartige Vorurteile beschränkten das Wissensangebot an Töchterschulen und erweiterten den Bereich des Faches Handarbeiten. Dass zu dieser Beschränkung Frömmigkeit als Ergänzung trat, rundete das bürger­liche Frauenbild ab. Wer für seine Tochter eine vollständigere Bildung wünschte, musste sich anstrengen und im Zweifelsfall einen eigenen „Cursus“ organisieren, Privatlehrer anwerben oder selbst tätig werden, wie das Meyer Isler etwa mit den Lateinstunden tat. Dass s­ olche Frauen mehr Ansprüche auf Gleichberechtigung erhoben, liegt auf der Hand. Mit der Beschränkung aufs Haus und der Glorifizierung stiller Weib­lichkeit lagen selbst für die „gutbürger­liche“ Frau Wahlrecht oder gar politische Betätigung, ja auch nur öffent­ liches Auftreten außerhalb aller „Schick­lichkeit“ – sie waren für viele Frauen schlichtweg unvorstellbar. Emma allerdings interessierte sich für Aktivitäten in England, die sie einer eng­lischen Zeitung entnahm: Interessant war mir die Behauptung dass die Frauen die selbständigen grundbesitz haben, früher in England stimmberechtigt waren und dass sie es in Österreich noch sind. Ich möchte wissen wie sich das verhält. Persön­lich interessiert mich die frage nicht sehr, so vieles ich an der Stellung der Frauen verändert wünsche, so wenig liegt mir daran mit der Spitze anzufangen und sie im parlament zu sehen. Soziale Reform von Innen heraus, besonders das Anrecht auf jeden Erwerb scheint mir das was Not tut (Emma, 25. 4. 1868, abends, V 9). Auch wenn Emma persön­lich andere Prioritäten setzte, berichtete sie doch gern weiter und unterstrich damit, wie sehr sie die Frage interessierte: Ich habe erst daraus gelernt, dass Mills*226 von 82 Parlamentsmitgliedern unterstützt, im vorigen Jahr eine bill zu Gunsten des Stimmrechts der Frauen eingebracht hat, die natür­lich gefallen ist und eine Zielscheibe aller Witzblätter wurde. Wenn die Bill hinläng­lich oft eingebracht ist wird sie zuletzt durchgehen (ebd.). Dass politische Rechte für Frauen in einem Land, an dessen Spitze mit Queen Victoria eine Frau stand, eher diskutiert und vorangetrieben wurden, wird von Emma ausdrück­lich erwähnt. Auch in Deutschland hatten sich Anfang der sechziger Jahre sichtbar die Aktivitäten von Frauen gehäuft und schließ­lich zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins 1865 geführt. Wie zwiespältig das Echo auf ­solche Entwicklungen war, erfahren wir aus Braunschweig: Rosalie Aronheim* kam sehr begeistert aus dem Frauentage, wo verschiedene Leipziger Damen sehr hübsch gesprochen haben, u. a. Frau Dr. Goldschmidt*, die Frau des Predigers. Es tut mir sehr leid, dass ich nichts davon erlebt habe. Die letzte 225 Die abwertende Bezeichnung hatte im 19. Jahrhundert Konjunktur. Sie galt einer gebildeten Frau, die durch Wissen und Gelehrsamkeit auffiel, und verdächtigte sie der Unweib­lichkeit. Auffallend und bezeichnend ist, wie häufig Emma sich gegen den Vorwurf der „Blaustrumpfigkeit“ glaubt v­ erwahren zu müssen. 226 Mill, John Stuart (1806 – 1873), bedeutender eng­lischer Philosoph, setzte sich ab 1865 im Parlament für das Frauenwahlrecht ein; sein Antrag 1866 scheiterte zwar, fand aber zu seiner eigenen Überraschung die Zustimmung eines Drittels der Parlamentarier.

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Sitzung war gestern. Wie schwer sich etwas Neues und Ungewöhn­liches Bahn bricht, sah ich aus den vielen opposi­tionen, die sich dagegen äusserten, dass Frauen auf diese Weise als Redner in die Öffent­lichkeit treten. Dr. Aronheim* sagte, das müsste entschieden Sache der Männer bleiben, wenn er auch die übrige Wirksamkeit anerkennen müsste. Anregen und Ausführen sollen es die Frauen, aber öffent­lich dafür auftreten dürfen sie nicht. Es ist ärger­lich wenn man einen Mann, der an der Spitze des Fortschrittes steht so reden hört; seine Frau war auch garnicht damit einverstanden, denn sie war voller bewunderung für die beiden Frauen die gesprochen hatten 227 (Sophie, 22. 9. 1868, Dienstag, 4 Uhr). Aronheim* selbst war schon 1848 politisch hervorgetreten – für einen Juden bemerkenswert, trotz der bewegten Zeit. Auch jetzt noch war der Jurist in Braunschweig eine sehr bekannte, politisch verortbare Persön­lichkeit. Wehrte er deshalb das öffent­liche Auftreten von Frauen ab, weil sie in eine gerade erst von Männern eroberte Domäne einbrachen? Immerhin stimmte er sonst mit dem Mainstream in Sachen weib­licher Emanzipa­tion überein, und der sah erst einmal in einer besseren Mädchenbildung die vordring­liche Aufgabe. Mit Abitur und Hochschulstudium hatte die angestrebte höhere Bildung allerdings noch nichts zu tun. Das wusste Sophies Tochter, 1880 geboren, früh genug. Schon mit dreieinhalb Jahren löste das ener­gische Kind das Problem auf höchst originelle Weise: Wenn ich gross bin, dann bin ich ein Junge und komme aufs Gymnasium (Rudolf, 2. 11. 1883). Dass die „liebe Großmama“ Emma Isler über derartige Mitteilungen erheitert war, kann man sich denken, spiegeln sie doch nicht nur Kindermund, sondern die Wirk­lichkeit: An einem Gymnasium durften Mädchen 1883 noch immer nicht lernen.228 Teilhabe am gesellschaft­lichen Leben, nicht Selbständigkeit war das Ziel der höheren Töchterbildung. Die Unterordnung unter den Ehemann in allen Familie und gemeinsames Leben betreffenden Fragen entsprach dem Denken der Zeit. Kein Wunder, dass im Gegenzug dazu sich die Frauenbewegung entwickelte und einzelnen Frauen das Ausbrechen aus dieser Frauenrolle gelang. Eine andere Folge war die: Durch den Bedeutungsverlust, die Rollenzuweisung und die engen Grenzen, die die „Schick­lichkeit“ dem Bewegungsradius bürger­licher Frauen zog, breiteten sich nur allzu bald lähmende Langeweile, Unzufriedenheit, Launen und psychische Krankheiten aus – das wissen wir seit Sigmund Freud. Weib­ liche Leiden waren ein häufiges Thema in d ­ iesem Jahrhundert und fast zwingend wurden die Töchter zu den „natür­lichen“ Pflegerinnen ihrer leidenden Mütter, um s­päter selbst nicht selten zu einer „leidenden Frau“ zu werden. Übrigens: Auch Sophie bedurfte ­später der Hilfe der Tochter, wie diese an ihren Noch-­nicht-­Verlobten schreibt: Da ich einzige Tochter bin und meine M ­ utter leidend ist, so dass sie unseren recht großen Haushalt nicht allein

227 Immerhin: In Braunschweig fand die Tagung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins vom 19. bis 21. September 1868 statt. 228 Karlsruhe hatte das erste deutsche Gymnasium für Mädchen, das ab 1898 seine Schülerinnen zum Abitur führte.

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führen konnte, wurde das selbstverständ­lich mein Wirkungskreis, der mich aber gar nicht befriedigte, weil nichts Wirk­liches dabei zu tun war, nur immer da sein und verantwort­ lich sein, wenn man doch nichts selbständig leiten kann (Helene Lilien*, hier noch Magnus, im 229 Juli 1905 ). Dass Sophies Schwierigkeiten psychisch bedingt gewesen sein könnten, wurde zwar schon in den ersten Ehejahren diskutiert, aber im Ergebnis von Emma Isler verneint. Die Chronis­tin kommt oben zu einem anderen Ergebnis.230 Ob die Beschwerden nach dem Tod der Eltern und der nachlassenden Bindung an Hamburg wieder zunahmen, muss offen bleiben. ­Helenes Bemerkung legt die Vermutung aber nahe. Im Briefwechsel z­ wischen Emma Isler und Sophie Magnus ist häufig von Frauen die Rede, die krank wurden, weil sie „die Wirtschaft“ überforderte, weil sie eine Rolle ausfüllen mussten, für die sie weder Begabung noch Interesse aufbringen konnten. Wenn weitere Belastungsmomente dazu kamen wie etwa provinzielle Enge, konnte eine Frau schon in psychische Schwierigkeiten geraten. Am Beispiel der Julie Ehrenberg* wird das besonders deut­lich: Philipp Ehrenbergs Frau Julie Fischel* stammte aus einem gebildeten Großbürgerhaushalt in Prag. Sie war eine schöngeistig interessierte Frau, deren Intelligenz, Bildung und „Gemüt“ immer wieder hervorgehoben wurden. Die Heirat, die durch Vermittlung zustande kam wie so häufig im Judentum, versetzte die Zwanzigjährige in das Kleinstädtchen Wolfenbüttel und in deut­lich schmalere Verhältnisse. An einen anregenden Freundes- und Bekanntenkreis war nicht zu denken, an gleichaltrige Freundinnen offenbar auch nicht – wer auf sich hielt, wohnte wenigstens im benachbarten Braunschweig.231 Erst als Vierzigjährige gewann Julie Ehrenberg* eine Freundin in der gebildeten und interessierten Frau des Biblio­ thekars Bethmann*. Welche Last die Haushaltsführung bedeutete, an der mehr oder weniger ja auch die Samson­schule hing, wird in den Briefen der Verwandten nicht deut­lich, nur dass Julie Ehrenberg* darin wenig Talent bewies und dass ihr Mann durch die Leitung der Schule und die notwendigen Reformbemühungen völlig absorbiert wurde. Emo­tional unterversorgt und vereinsamt, von den Pflichten der Haushaltsführung wachsend überfordert, charakterisiert der Briefwechsel Julie Ehrenberg* als immerzu „leidend“, sodass sie end­lich in eine „Anstalt“ eingeliefert werden musste. Als sie nach fast zwei Jahren entlassen wurde, verlangte der behandelnde Arzt, dass sie nie wieder einen Haushalt führen und deshalb auch zunächst von ihrem Mann getrennt leben sollte – die Söhne waren mittlerweile aus dem Haus. Das Ehepaar hielt sich allerdings nur kurz an die Auflage, denn Philipp Ehrenberg* war inzwischen pensioniert, also nicht mehr an die Schule und Wolfenbüttel gebunden. Dann veränderte sein unerwarteter Tod die Situa­tion. Julie überlebte ihn vierzig Jahre, ohne je wieder

229 In: E. M. Lilien, Briefe an seine Frau, a. a. O., S. 8. 230 Siehe das Kapitel „Sophie findet ihre Rolle in Braunschweig“. 231 Jahre zuvor hatte die Berlinerin Franziska Korniker ihre Verlobung mit Philipp Ehrenberg nach einem Besuch in Wolfenbüttel wieder gelöst.

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selbst für einen Haushalt verantwort­lich zu sein. Von einer neuer­lichen Erkrankung liest die Chronistin nichts: Die ewig kränkelnde Frau führte ein relativ selbstbestimmtes Leben in der Nähe ihres ältesten Sohnes Otto (Ehrenberg*), der ihre Nichte Emmi Fischel (Ehrenberg*) geheiratet hatte, und wurde fünfundneunzig Jahre alt.232 Hier kam vieles zusammen: der Wechsel aus dem großbürger­lichen Haus in Prag in die Kleinstadt Wolfenbüttel und in finanziell beengte Verhältnisse, der fehlende Freundeskreis und vor allem fehlender weib­licher Umgang, ein großer Haushalt und eine für die Haushaltsführung nicht sonder­lich begabte Hausfrau – alles floss zusammen in Überforderung durch die „Wirtschaft“ und damit durch die Frauenrolle. Hinzu kam, dass Julie Ehrenberg*, deren selbständiges Denken Sophie in jedem Gespräch beeindruckte, ein Frauenbild vertrat, das sie genau dieser Selbständigkeit beraubte und dem sie selbst gar nicht entsprechen konnte: Ihr Ideal ist die Frau, die sich anschmiegt und in der Persön­lichkeit des Mannes aufgeht. Sie wäre schroff und könnte es nicht […]. Ich sagte, ich könnte es auch nicht, aber ich strebte auch nicht danach, ich wünschte Mann und Frau gleichberechtigt, jeder an seiner Stelle und nach seinen Eigentüm­lichkeiten (Sophie, 13. 2. 1872). Demnach scheiterte Julie Ehrenberg* auch an ihrem eigenen Rollenverständnis und an der Unvollkommenheit des eigenen Charakters, der sie ihrer Meinung nach hinderte, ihrem Frauenideal zu entsprechen. * Bereitete die Erziehung junge Mädchen tatsäch­lich auf die Vielzahl von Anforderungen vor, wie sie die Frauenrolle verlangte? Eine Tochter war in einem normalen bürger­lichen Haushalt eine nicht zu unterschätzende Arbeitskraft, die früh schon in die Hausarbeit einbezogen wurde. Allerdings blieb sie im Elternhaus als Gehilfin der ­Mutter doch nur ausführendes Organ mütter­licher Anweisungen,233 hierarchisch nicht eigent­lich von den Dienstboten abgehoben. Beim halbjähr­lichen Hamburger Großputz etwa arbeitete Sophie zusammen mit dem Dienstmädchen tagelang angestrengt, wenn sie auch von zu schweren körper­lichen Arbeiten befreit war. Sie lernte dabei Gedichte auswendig, wie oben zu lesen war.234 Denn die Arbeiten im Haushalt waren für sie eine Nebensache. Die Verheiratung aber stellte den Haushalt ins Zentrum und Sophie hatte lange Schwierigkeiten, mit ihrer neuen Verantwortung zurechtzukommen. Noch 1872 schrieb sie: Ich merke überhaupt täg­lich mehr, wie sehr mir der praktische Sinn fehlt, ich weiß mir in keiner Lage des Lebens zu helfen, und das erstreckt sich nicht nur auf die kleinen häus­lichen Dinge. […] Ich wende mich in allen D ­ ingen an Otto, und wenn der nicht da ist, fange ich inner­lich und manchmal auch äußer­lich an zu 232 Die Darstellung stützt sich auf den Briefwechsel ­zwischen Emma und Sophie und auf Emmi ­Ehrenbergs „Erinnerungen an unsere Großmutter Julie“ (Schreibmaschinenmanuskript, Kassel 1937). 233 Das galt für Töchter aus dem mittleren Bürgertum. Wer wie Bertha Oppenheimer, Sophies Schwägerin, in einem reichen Bürgerhaushalt aufwuchs, wurde selten zur Arbeit herangezogen, lernte aber frühzeitig, Dienstboten einzusetzen und zu kontrollieren. 234 Emma Isler ertrug Hausarbeit nur durch das Wegtauchen in Lektüre.

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weinen, und es ist so überflüssig, ich bin ja nicht dumm (im Gegentheil!) warum fehlt mir das so gänz­lich? Zu Hause bin ich gar nicht so gewesen, obgleich da nie der Anspruch auf selbständiges Denken und Handeln an mich gemacht worden ist (Sophie, 6. 5. 1872). Rund fünf Jahre nach der Hochzeit verharrte Sophie in der Tochterhaltung. Verantwortung hatte auch sie im Elternhaus nicht getragen und damit auch keine Selbständigkeit in der Haushaltsführung erlangt. Die aber wurde schon von ganz jungen Frauen erwartet! Liegt hier einer der Schlüssel zu den „Leiden“ bürger­licher Frauen? Warum machte „die Wirtschaft“ krank? Die Aufgaben waren anstrengend und vielfältig. Emma beispielsweise huldigte einer besonderen Philosophie: Du weißt ich halte es für die Hauptsache, dass einem halbjähr­lich Alles durch die Hände geht (Emma, 29. 4. 1868). Eine Riesenaufgabe, wenn man an Wohnung, Bodenräume, Keller denkt! Der halbjähr­liche Großputz war Schwerarbeit. Nicht nur wurde die ganze Wohnung in wochenlanger Tätigkeit Zimmer für Zimmer „umgestürzt“, immer wieder kamen Handwerker in diesen Z ­ eiten ins Haus: Öfen mussten umgesetzt werden, Wände wurden gestrichen, Tapeten geklebt, die Fußböden „gemalt“, wenn Teppich und Decken während des Sommerhalbjahres „aufgenommen“ wurden, von dem Aufwand mit den Gardinen und Doppelfenstern ganz zu schweigen. Daneben lief der „normale“ Haushalt weiter mit täg­lichem Staubwischen, Fegen, Kochen, Einkaufen, Nachrichten überbringen etc. Vorräte wurden angelegt, Kleidung und Wäsche repariert, Neues angeschafft – ein Sommermantel, ein Sommerhut, Stiefel, die end­ lich einmal passen sollten, ein Winterkleid … Zum Scheuern oder für die Wäsche wurden zusätz­liche Frauen ins Haus geholt. Daneben wurden Gäste empfangen und bewirtet – das alles musste rechtzeitig geplant und koordiniert werden mit den täg­lichen Abläufen. Diesem Fulltime-­Job musste sich jede bürger­liche Frau mit ihrer Verheiratung unterziehen, ob sie einen großen oder kleinen Haushalt zu leiten hatte, spielte keine Rolle: In jedem Fall war das eine unumgäng­liche Aufgabe. Ich saß ­zwischen den 3 älteren Frauen und wir sprachen über die bedeutung des Haushaltführens; Frau H. stellt es unend­lich hoch, und betrachtet es als wahre Wissenschaft. Es scheint, dass sie schwere Lehrjahre durchzumachen hatte […]. Ihre Eltern scheinen wie die Fürsten gelebt zu haben, offenes Haus und offene Tafel; zehn zwölf Gäste kamen unerwartet, fanden ein Diner. […] ihre ­Mutter […] habe nur im Ganzen gewirtschaftet, […] das könne man keine gute Hausfrau nennen. […] Die Prof. Knapp scheint den Kampf mit dem Haushalt garnicht überwunden zu haben, aber ihn als etwas Unschönes und das Leben Verbitterndes zu betrachten. Sie ist sehr kränk­lich und krankhaft erregt, darf sich nicht viel beschäftigen und ich habe den Eindruck als wäre ihr Leben unbefriedigt und unausgefüllt […] (Sophie, 6. 2. 1868, im Brief vom 5. 2. 1868). Die Schwierigkeiten der Haushaltsführung waren also ein nie endendes Thema und füllten Sophies Briefe an die M ­ utter. Emma hatte eigent­lich nicht nötig, über die „Wirtschaft“ zu reden. Nur „Mädchenkalamitäten“ und der halbjähr­liche Großputz fanden Eingang in ihre Briefe. Dass auch Emma unter der Last ihres Haushalts stöhnte, übersah Sophie angesichts der eigenen Schwierigkeiten. Allerdings war Emma nicht der Meinung, dass sie persön­lich in allen Fragen Bescheid wissen müsse. Für sie waren Hausangestellte Fachkräfte, die Bescheid zu wissen hatten und von denen sie

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sich auch erklären ließ, wie Haushaltsprobleme zu lösen wären. Ihr ärger­licher Ausruf, es ist Ihre Pflicht das besser zu wissen als ich (Emma, 8. 5. 1872), ist bezeichnend für diese Haltung. Ohne Personal wäre ein solcher bürger­licher Haushalt natür­lich nicht zu bewältigen gewesen. Je schmaler aber das Budget, desto weniger Personal, desto aufreibender die „Wirtschaft“ für die Hausfrau selbst. Andererseits: Viel Personal machte die Aufgabe der Hausfrau nicht grundsätz­lich leichter, verschob nur die Gewichte. Die Planung war schwieriger, die Aufsicht lastender, weil die Verantwortung für fremde Menschen dazu kam. Die jungen Frauen, die als Dienstmädchen angestellt wurden, kamen häufig vom Land und waren oft noch sehr jung. Sie mussten bei der Arbeit angeleitet und als Heranwachsende betreut ­werden. Aber auch „gestandene“ Frauen, die bereits in anderen Haushalten gearbeitet hatten, mussten eingearbeitet werden, mit ihren Gewohnheiten musste man sich vielleicht arrangieren, ihren „Übergriffen“ musste man wehren – das brauchte Zeit und kostete Mühe. Eine neue Köchin z. B. wurde verständ­licherweise erst mal intern erprobt, ehe man Gäste einladen konnte. Dass alles auf Anhieb klappte, war ein seltener Glücksgriff. Welche Schwierigkeiten normalerweise entstanden, erfährt man von Otto: […] ich […] will Dir nur erzählen, dass heute Nachmittag Tante Hannchen von Paris zurückkommt, worüber M ­ utter und Tante Jeanette [Helfft*] umso unglück­licher sind als beide heute neue Köchinnen bekommen, den Gast also nicht bewirten können. Wir haben deshalb heute für Tante und ihre Gesellschaft ein Diner im Hotel bestellt. Hoffent­lich wird Tante Hannchen einsehen, dass sie sehr ungelegen kommt, und recht bald wieder abreisen. Ich begreife garnicht, dass Vater der von dem Mädchenwechsel wusste und tante Hannchen in Paris gesprochen hat diesen höchst lästigen Besuch nicht abwehren konnte (Otto, 25. 6. 1867). Zwar scheint Tante Hannchen überhaupt ein Biest gewesen zu sein, denn sie verbreitete jedes Mal Schrecken, aber auffallend ist doch, dass der „Mädchenwechsel“ in beide Haushalte so tief eingriff, dass „Mutter“ und „Tante Jeanette“ nicht einmal die eigene Schwester Johanna („Tante Hannchen“) während deren Durchreise zu Hause empfangen konnten! Bei der Anmietung ging es nicht nur um die Arbeitsleistung der „Mädchen“. Wichtig war auch, ob man miteinander harmonierte. Schließ­lich handelte es sich um Menschen, die mehr oder weniger mit der Familie lebten, die Heimweh hatten, Fehler machten, Geschirr zerschlugen, krank wurden und manchmal über Monate ausfielen. Oder um Frauen, die sich verliebten, Enttäuschungen erlebten, ihre Tage hatten, Rat brauchten, die Eltern auf dem Land besuchten und fröh­lich oder sorgenvoll zurückkehrten – egal, ob ein oder m ­ ehrere Dienstboten: Ihr Befinden durfte der Hausfrau nicht verborgen bleiben. Rat und Hilfe ­wurden von ihr erwartet. Als z. B. Frau Köhler, die von Sophie nur bei Einladungen heran­gezogen wurde, sich den Arm verbrannte und Sophie etwas hilflos reagierte, schrieb die ­Mutter: Frau ­Köhlers verbrannter Arm hat mich gleich ein wenig erschreckt […]. Warum Du aber so zimper­lich bist ihr Essen zu ­schicken oder Geld zu geben, verstehe ich nicht, […] letzteres versteht sich bei einer Frau deren Erwerb gestört ist doch ganz von selbst. Wenn sie keinen Arzt will, so sage, dass Du wenigstens wünschst, dass sie dem Arm Ruhe gönnt und sich […] Hilfe nimmt. Kleines, so etwas ist ganz einfach deine Pflicht, da darfst Du Dich nicht verziehen Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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und feige sein. Ebenso wie Dorette gegenüber wenn Du sie vor schlechtem umgang warnen willst: tue es einfach und verständig (Emma, 25. 1. 1868). Dass Sophie als wenig erfahrene junge Frau hier nicht entschieden handelte, forderte Emmas Tadel heraus und den Hinweis auf die Pflichten einer Hausfrau. Hatte Sophie das fürsorgende Verhalten ihrer M ­ utter den Dienstboten gegenüber für individuelle Güte gehalten, dass sie im eigenen Haushalt nicht selbstverständ­lich ­diesem Vorbild folgte? Neben der „Wirtschaft“ gehörten die Kindererziehung und die mög­licherweise zahlreichen Geburten zu den selbstverständ­lichen Aufgaben einer bürger­lichen Frau. Zwar wurde sofort Personal eingestellt – in Sophies Fall Wochenpflegerin, Amme und Kindermädchen, aber gleichzeitig vergrößerte sich der Haushalt, wuchs die Verantwortung. Die Wöchnerin musste mög­licherweise in das Handeln des neuen Personals gleich regulierend eingreifen. Sophie muss vom Bett aus mit der Amme und der Wärterin kämpfen, dass sie Rudolph nicht immer aus der Wiege nehmen; wenn er alles bekommen hat, was ihm zukommt, lässt sie ihn ruhig ein bisschen schreien und setzt auch durch, dass er nach einiger Zeit ruhig einschläft (Emma, 9. 9. 1873). Die Episode zeigt, dass die Belastung der Hausfrau in nahezu allen Situa­tionen hoch war, aber auch, dass Sophie oder Emma anders als etwa Julie Ehrenberg* von ihren Aufgaben nicht „überwältigt“ wurden. Sie verfügten allerdings über genügend „Fluchtmög­lichkeiten“: etwa die beinahe täg­lichen seitenlangen Briefe, die Emma zumindest allemal der Hausarbeit vorzog, für die aber auch Sophie immer Zeit fand. Beide schrieben natür­lich auch an andere Leute und blieben so „im Gespräch“. Weiter gab es die Spaziergänge oder Ausfahrten, Lektüre, Vorträge, Theater, Konzerte und Einladungen, die Gespräche mit Gästen und Ehemann – ein Netz der Kommunika­tion. Das waren viele Gegengewichte. Wer sie nicht hatte, konnte wohl in eine schwierige psychische Situa­tion geraten.

Zur „unerledigten Frage wie man Töchter erziehen soll“ War früher von Emmas Erziehungsprinzipien, ihrem Bestreben, die Tochter zu einem selbständig denkenden und gebildeten Menschen zu erziehen, die Rede, so stellt sich nun die Frage, wie bürger­liche Mädchenerziehung aussehen musste, wenn sie junge Frauen in den Stand setzen sollte, einen Haushalt zu beherrschen. Denn diese „Wirtschaft“ mit ihrem z. T. sehr üppigen Personal war in Wirk­lichkeit ein Kleinunternehmen, das eine bürger­liche Frau logistisch und sensibel, mit Überblick und Vorausschau, Autorität und Zuwendung zu dirigieren hatte. Im Vorhinein erlernbar war dieser „Beruf“ nicht wirk­lich, „learning by doing“ war angesagt. Deshalb bedauerte Emma – denn bei Islers wurde das Problem natür­ lich diskutiert –, dass eine junge Frau nicht eine stufenweise Ausbildung wie etwa beim Militär absolvieren konnte, um rechtzeitig vor der Heirat in die höheren Ränge aufzusteigen: Von den Schwierigkeiten […] habe ich nun soviel gesehen, dass es darin liegt, dass sie noch nicht zu befehlen versteht. […] da sie aber nichts sagen mag, so tut sie eine menge von Dingen selbst, das nimmt ihr dann die Zeit, die sie nötig hat um das ganze zu übersehen,

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und so verwirrt sich manches. […] es ist jedenfalls ein Mangel in der Erziehung, dass im besten Falle die Mädchen lernen, allerlei selbst zu tun. Aber die schwere Kunst andere zur Pflichterfüllung anzuleiten, sich erst mühsam selbst aneignen müssen, während das der Kernpunkt ist, [auf ] den es bei einer guten hausfrau ankommt … Es müss[t]e da eine Gliederung geben, wie beim Militär … (Emma, 3. 11. 1867). An dieser Stelle rächte sich, dass die bürger­liche Mädchen­erziehung zwar auf Bildung, nicht aber auf Selbständigkeit setzte. Gebildete Frauen konnten in die erwartete Rolle hineinwachsen, aber sie mussten auch Stärke und Durchsetzungsvermögen mitbringen, um sich zu behaupten, und durften bei allem doch nicht „aus der (Geschlechter-)Rolle“ fallen. Wie kompliziert die Aufgabe, wie groß die Verantwortung war, lässt sich am Beispiel Sophies zeigen, die am Ende ihren Haushalt erstaun­lich gut meisterte – allerdings um den Preis häufiger Kränk­lichkeit. 1877 z. B. dirigierte sie ein Dienstmädchen, eine Köchin, ein sehr junges Kindermädchen und Johanna, eine Art Hausmamsell, die schon seit fünf Jahren bei ihr war und sehr selbständig handelte; in Ottos Büro arbeiteten zu ­diesem Zeitpunkt zwei Schreiber. Das waren sechs Personen, die diesen Drei-­Personen-­Haushalt samt Praxis vergrößerten. Und wer hing sonst noch daran! Allein die Vorbereitung auf Weihnachten z. B. forderte Planung und Überblick: Nicht nur Mann und Kind waren zu beschenken, sondern die vielen nahen Verwandten und Freunde in Hamburg und Braunschweig, das Personal und „die Armen“; dreimal nacheinander wurde beschert, zuerst „die Armen“, zuletzt die Familie. Und diese Familie vergrößerte sich, auch das Personal nahm stetig zu. Vier Jahre s­ päter heißt es: Die grosse Bescherung, die bei uns immer den Tag vorher ist, ist vorüber und nun bin ich mehr als halbtot: 5 Schreiber, 4 Mädchen, 2 Frauen ist eine ganze Menge. (Otto schlägt vor, ich solle schreiben: ich wäre tot und liesse grüssen). Ich hoffe, sie haben sich alle gefreut, was einzelne auszudrücken verstehen, die meisten nicht, z. B. Anna [Helenes Kindermädchen], die doch gewiss erstaunt war; sie hat ein schönes Kleid, 3 Schürzen, 2 Kragen, 1 Nähkasten und 25 M. bekommen, die anderen weniger Geschenke und 35 M. Helene war das beste dabei: sie lief immer um den Tisch herum und sagte, ach Weihnachtsbaum! (Sophie, 23. 12. 1881). Neun bzw. elf Personen (die beiden Frauen kamen nur stundenweise) gehörten zu ­diesem Vier-­Personen-­Haushalt – das ist wirk­lich ein richtiger Familienbetrieb! Sophies Familie mit angeschlossener Anwaltskanzlei zeigt aber auch, wie viele Mischformen in Sachen Familie es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gab. Gerade „Selbständige“ wie Otto Magnus betrieben ihr „Geschäft“ ja in der eigenen Wohnung bzw. im eigenen Haus, hatten Büroangestellte oder Mitarbeiter, die den größten Teil des Tages anwesend waren, wenn sie auch genauso wenig wie die Dienstboten mit der Familie am Tisch saßen. Die Familie beschränkte sich auf Eltern und Kinder, weitere Familienangehörige wohnten nicht bei Magnussens. Damit unterschied sich dieser „Betrieb“, in dem ja eigent­lich nichts produziert wurde, grundsätz­lich vom „ganzen Haus“ früherer Jahrhunderte. Aber Sophies Kindheitsfamilie mit dem morgens in die Bibliothek gehenden Vater entsprach viel mehr dem „neuen“ Familienmodell „Kleinfamilie“ als dieser „Familienbetrieb“, der sich noch dazu nicht auf die Wohnung allein beschränkte. Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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Längst war Sophie in vielerlei „Wohltätigkeit“ verstrickt, war Kassenwartin des „Erziehungsvereins“, des „Kinderschutzbundes“ und des „Vereins zur Förderung der weib­lichen Handarbeit“, nahm an Sitzungen teil, saß über Abrechnungen und war häufig in Braunschweig unterwegs, um Geld zu sammeln für eine „Ferienkolonie“ für bedürftige Kinder. Das konnte sie, weil sie Johanna hatte, die in ihrer Abwesenheit nicht nur den Haushalt, sondern auch Rudolfs Hausaufgaben und Helenes Betreuung durch das Kindermädchen im Blick behielt, was Sophie sonst selber tat. Kein Wunder, dass Sophie je länger je mehr den halbjähr­lichen Großputz nur noch am Rande wahrnahm. Die angestellten Frauen arbeiteten sich Zimmer für Zimmer voran und Sophie wich in andere Räume aus – die Wohnung war groß genug. Wenn sie Johanna auch nicht im Einzelnen kontrollierte, hatte Sophie doch immer den ganzen Haushalt vor sich und handelte überlegt und planvoll in Übereinstimmung mit ihr. War Johanna einmal abwesend oder krank, musste Sophie vieles selber besorgen. Mir ist es sehr ungewohnt ohne Johanna, ich muss an alles selber denken; es ist mir äusserst gesund und ich mag es auch sehr gern, aber ich hetze mich doch inner­lich ab. Ich stehe um ½ 7 auf, wasche Rudolf [er hat Keuchhusten] und bekümmere mich ums haus; um ½ 10 bin ich beim Kind [Helene wohnt während Rudolfs Krankheit bei Bertha Magnus°] was dann gebadet wird. Vormittags habe ich meist Besorgungen zu machen und nachmittags gehe ich wieder zum Kind (Sophie, 7. 10. 1881). Einmal direkt in die Arbeit eingebunden zu sein, machte Sophie sicht­lich Spaß, wie es sie überhaupt glück­lich machte, wenn sie Unvorhergesehenes oder vielerlei Aufgaben „unter einen Hut“ brachte. Das zeigte sich schon am Anfang der Ehe: Der unerwartete Ausfall des Küchenherdes – tagelang konnte nicht gekocht werden, die Reparatur machte unend­lich viel Schmutz und löste umfangreiche Reinigungsarbeiten in der ganzen Wohnung aus – warfen sie nicht um. Während die Schwiegermutter einen Grund zum Zusammenbrechen sah, lachte Sophie und organisierte die anfallenden Arbeiten: […] unser lieber Ofen [ist] jetzt vollständig unbrauchbar geworden […]. Wir sind entschlossen dann einen neuen ofen zu verlangen, wozu Herr D. auch wohl bereit ist. Also wird es wohl nächstens schön bei uns werden: Decke auf, Gardinen ab etc. Ich müsste nun recht ausser mir sein, nicht wahr? Ich bin es aber gar nicht, sondern im Gegenteil […]. Meine Schwiegermutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ich soll Dir ein Compliment bestellen […] (Sophie, 12. 1. 1868). Ein Kompliment also für Emmas Erziehungskunst – sicher berechtigt, aber hier ist auch Sophies Temperament zu nennen und ihre Fähigkeit, allen Dingen etwas Positives abzugewinnen und angesichts eines Malheurs nicht den Kopf einzuziehen. Das Gegenbeispiel war Anna Aronheim*, Ottos Schwester, die ausschließ­lich auf den Haushalt vorbereitet wurde. Sie tat sich da viel schwerer. Kritik- und meinungslos übernahm sie die Ansichten ihres Mannes, ein „Gretchen-­Typ“, wie Emma sie charakterisierte: Das Spielzeug des Mannes, ein Wassertropfen von der Sonne aufgesogen. Ich lehne mich nur dagegen auf, daß das schöne Weib­lichkeit sein soll, obgleich ich weiß, daß sie so existiert und geliebt wird wenn auch nicht auf lange, Tante Beathe ist ­solche Gretchen Natur, ihre Liebe zu Anton ist Gretchenliebe, ebenso wie Annas zu Felix (Emma, 24. 4. 1872). Immer wieder war

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davon die Rede, dass Aronheims* aus dem „Unglück“ nicht herauskämen: Die beiden ersten Söhne starben jeweils im ersten Jahr, die Kinderkrankheiten der folgenden Kinder versetzten die Eltern in immer neue Schrecken, Erziehung und Lebensführung waren sprunghaft, Wohnungen wurden Hals über Kopf gemietet, ohne Übersicht ein Haus und unmittelbar darauf ein zweites, schöneres gekauft – das Ausmaß der finanziellen Belastung stellte sich erst ­später heraus. Neben einem spontan handelnden Mann, den sie kritiklos anbetete, kam Anna* mit den vielerlei Aufgaben nicht sonder­lich gut zurecht. Sie hatte gelernt, anfallende Hausarbeiten schnell zu erledigen, der Blick aufs Ganze fehlte. Die Schlussfolgerung legt sich nahe, dass eine kluge und gebildete Frau, wie Sophie es war, die logistischen Probleme ihres „Berufes“ wesent­lich besser bewältigen konnte (und immer noch Zeit behielt, über aktuelle Erziehungsschwierigkeiten nachzudenken und mit den Eltern in langen Briefen zu diskutieren) als Anna*, die zwar perfekt im Bügeln und vielen anderen Hausfrauentätigkeiten war, aber ihren Kindern und der Erziehung gegenüber gänz­lich hilf- und planlos reagierte. Sie war allerdings stark genug, die Probleme zu ertragen. Das unterschied sie von jenen anderen „leidenden“ Frauen, die an der Aufgabe scheiterten, einen bürger­lichen Haushalt zu führen. Auf Kindererziehung, das zeigt Sophies Beispiel, konnte sich eine junge Frau theoretisch vorbereiten, falls sie nicht im Elternhaus schon praktische Erfahrungen mit jüngeren Geschwistern gesammelt hatte. Die eigent­lichen Schwierigkeiten lagen auch hier in einem gesellschaft­lichen Wandel. Gretchen [Lasker*] war gestern hier und sprach über Kinderpflege und erzählte, ihr Mann hatte gesagt, in seiner Kindheit wären Vater und M ­ utter die Hauptpersonen im Hause gewesen und die Kinder standen in zweiter Linie. Jetzt ist es anders: die Kinder spielten die Hauptrolle und die Eltern wären da sie zu bedienen. Sie sei am Abend so müde und abgearbeitet, dass sie am liebsten mit den Kindern zu Bett ginge (Emma, 12. 10. 1881). Kinder im Zentrum der Aufmerksamkeit? Im gutbürger­lichen Haus ging es bei der Beschäftigung mit den eigenen Kindern zunehmend um Spiel und Förderung und damit um neue Formen der Kindererziehung. Jetzt waren pädago­gische Kenntnisse gefragt. Emmas kritischer Blick hat auch diese Entwicklung verfolgt: Der Zustand, dass Mütter die nicht reich genug sind sehr viele Leute zu halten (und 3 Mädchen gelten für wenig!) sich entsetz­lich quälen und krank machen, kann unmög­lich ein verständiger Zustand sein, da kommt gewiss nächstens ein Rückschlag, denn sonst kommt es dahin, dass nur reiche Leute heiraten können … (ebd.). Und Sophie berichtet: Die kleine Riegel* erliegt doch unter der Last die sie durch die beiden fremden Kinder hat, mit ihrem einzigen Mädchen. Sie hat viel fremde Hilfe aber die vermehrt die häus­liche Arbeit ja auch sehr. Dem ältesten Mädchen ist sie auch geistig nicht recht gewachsen, was ja auch anstrengend ist, kurz, so recht glück­lich ist sie nicht … (Sophie, 24. 10. 1881). Zwar lebten diese Kinder nur vorübergehend in einem sonst kinderlosen Haushalt, weil die eigene ­Mutter schwer erkrankt war, aber die Problematik gutbürger­licher Kindererziehung und die Belastung einer Frau durch die Erzieherinnenrolle werden auch hier sichtbar. Kindererziehung gewann im aufstrebenden Bürgertum einen beachteten Rang. Wenn die Lebensstellung von der Leistung des Einzelnen abhing, galt es, die Weichen früh zu stellen. Da im bürger­lichen Haushalt die ­Mutter für die Erziehung zuständig war, kam Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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ihrer Vorbildung für diese Aufgabe eine neue Bedeutung zu. Fröbels* Kindergartenidee zielte ja in erster Linie gar nicht so sehr auf die Einrichtung von – pädago­gisch geprägten – Kinder­gärten, sondern wollte vor allem Bürgertöchter auf eine sinnvolle Kleinkinderziehung vorbereiten. Frühzeitig sollten Kinder in der Natur bei beobachtendem Lernen so viele Fähigkeiten wie mög­lich entfalten und auf einen erfolgreichen Schulbesuch vorbereitet werden. Das von Fröbel* selbst entworfene sparsame Spielzeug bot eine erste Hilfe. Auch die sich ausbreitende Spielzeugindustrie offerierte den suchenden Eltern ein breites Angebot an Spielmög­lichkeiten. Nicht mehr nur die Erwachsenenwelt sollte spielend erfahren, sondern Intellekt und Phantasie sollten angeregt, sinn­liche und haptische Eindrücke sollten gefördert werden – spielendes Lernen wurde in den Kinderstuben der bürger­lichen Gesellschaft selbstverständ­lich. Mit den schönen Ankersteinbaukästen wurden Grundformen erfahren, Greiftechnik, Statik und Balance beim Bauen geübt. Andere Spiele machten mit Farben und Klängen vertraut, schulten Auge und Ohr. Bilderbücher vermittelten Regeln und Wertesystem der Gesellschaft, Reimspiele und Kinderlieder schulten Gedächtnis, Musikalität und Sprachgefühl. Ein Blick in Rudolfs Kinderzimmer zeigt aber auch, dass nicht nur Intellekt und Phantasie, sondern auch die Bewegung im Freien angeregt wurde: Da gab es das Krocketspiel und die Schaukel (in Tante Bertha Magnus’° Garten), Kreisel und Peitsche für die Straße im Frühjahr, Stelzen und Velociped für den Sommer und Schlittschuhe für den Winter, Drachenbauen und Drachensteigen mit Onkel Felix im Herbst, die Bilderbögen zum Ausschneiden, wenn das Kind eine der Kinderkrankheiten durchmachte, und den Laubsägekasten, mit dem der Junge Weihnachtsgeschenke bastelte. Es gab das Herbarium für den Heranwachsenden und früh schon einen Globus, um einen Begriff von der Welt und fernen Ländern zu bekommen, die Briefmarken zum Sammeln, aber auch Mu­sisches: Farbkästen und Staffelei, Geigenunterricht und natür­lich das Klavier – wer eine bildungsbürger­liche Erziehung genoss, erhielt eine Fülle von Anregungen. Nicht nur die ­Mutter war abrufbar, wenn Hilfe nötig wurde oder ein Spielgefährte fehlte. Da gab es das Kindermädchen und, bei Dr. Magnus, Johanna, die es so wunderbar verstand, Kinder sinnvoll zu beschäftigen, und sei es mit Nadel und Faden – Rudolf jedenfalls brachte es darin zu großer Fertigkeit. Ach ja: Zinnsoldaten wurden in Rudolfs Kinderleben nur am Rande erwähnt, aber Puppen über Puppen bei Helene! Für eine gebildete und interessierte M ­ utter wie Sophie war eine ­solche Kindererziehung eine bereichernde Aufgabe. Mit der Geburt ihrer Kinder „erwachten“ Interesse und Kenntnisse – also auch das ein wichtiger Baustein der Mädchenerziehung, der in ihrem Elternhaus „eingesetzt“ worden war. Hatte sie vor Rudolfs Geburt nur die Erziehung anderer k­ ritisiert oder gelobt, entwickelte sie jetzt ein eigenes Konzept, das mit den Eltern und Otto durchgesprochen wurde. Sophies Briefe nach Hamburg waren nun voll von Geschichten aus der Kinderstube und Überlegungen, wie Situa­tionen pädago­gisch zu bewältigen wären. Meyer Isler und Emma nahmen regen Anteil – von ihnen stammten viele Spieleinfälle und viele Geschenke, mit ihnen wurde überlegt, wie man dem klugen Rudolf, der alles, was er wusste, „immer so wundervoll bei der Hand“ hatte, „Gemüt“ beibringen könnte, das Helene so

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einfach mit auf die Welt gebracht hatte. Wenn der große Bruder z. B. zur Strafe keinen Nachtisch bekam, brach sie in Tränen aus und teilte den ihren mit dem Gescholtenen. Was tun, wenn der Junge log? Wenn er „Straßenwörter“ mit nach Hause brachte? Wenn er am Tisch nicht grade saß? Dass gutes Benehmen in der bürger­lichen Gesellschaft ein Schlüssel zum Erfolg war, das wusste man in einem jüdischen Haus sehr genau, denn oft mokierte sich Emma über Glaubensgenossen, die sich auffällig und gegen die Regeln der guten Gesellschaft benahmen. Bitte dulde bei dem Jungen wenn er in die Volksschule kommt nie einen häss­lichen Ausdruck, so wenig wie Du, sich kratzen, spucken oder lautes Gähnen tolerieren würdest. Und augenzwinkernd fährt Emma fort: Dies letztere erwähne ich nur um vater zu amüsieren, weil ich das noch heute nicht ganz lassen kann, obgleich ich ehr­lich an mir arbeite. Dann folgt die Begründung: Rudolf wird nicht für Braunschweig sondern fürs Leben erzogen. Keine schützendere Rüstung als Feinheit, bei der erlernte Bescheidenheit obenan steht, weil sie auch die Phasen der Selbstüberhebung, die jeder strebende Mensch durchmacht, nicht verletzend wirken lässt (Emma, 22. 1. 1880). Aber es ging bei der Erziehung nicht um die Zukunft allein, sondern auch um den Status der Familie: Mit gut erzogenen Kindern legten bürger­ liche Eltern Ehre ein. In vielen bürger­lichen Haushalten wurde ähn­lich verfahren wie bei Magnussens in Braunschweig, aber man muss doch sehen, dass die pädago­gische Beschäftigung mit den eigenen Kindern einen Bildungshorizont brauchte, der nicht überall vorhanden war. Waren die Vermögensverhältnisse gut, holte man sich selbstverständ­lich Hilfe ins Haus und erwartete von der Erzieherin bzw. Gouvernante, dass sie als Fachkraft die Kinder gut erzog. Waren die finanziellen Verhältnisse schmaler, erzogen die Frauen nach eigenem Gutdünken und eigenen Erfahrungen in Übereinstimmung mit den G ­ rundvorstellungen der Gesellschaft, häufig in dem Bewusstsein, gerade den heranwachsenden Söhnen nicht gewachsen zu sein. Dass in der Erziehung die Prügelstrafe eine wichtige Rolle spielte, darf nicht verschwiegen werden. Auch im Hause Magnus gab es den „Klaps“, wenn Rudolf die Eltern durch kecke Reden und Taten herauszufordern suchte. Besonders Jungen gegenüber scheinen Schläge als eine Art Naturnotwendigkeit betrachtet worden zu sein – bei Mädchen ist viel seltener davon die Rede. Die Großeltern Isler allerdings blieben strikt bei ihrer gewaltfreien Erziehung. Während sich Sophie z. B. jeden Morgen in Hamburg ein kräftezehrendes Tauziehen mit Rudolf leistete, um ihn zur Begrüßung der Großeltern zu bewegen, lösten diese das Problem ganz unaufwendig: Erst wenn Rudolf „Guten Morgen, lieber Großvater“ gesagt hatte, erschien sein Spielzeug auf wundersame Weise auf der Bildfläche. Isler auch war es, der sich besorgt äußerte, als er erfuhr, dass in Rudolfs Klasse diejenigen Knaben Schläge erhielten, die beim Kopfrechnen falsche Ergebnisse nannten. Da das Rudolf nicht passierte, mischten sich seine Eltern nicht ein, aber sie akzeptierten, dass der Stock als selbstverständ­liche, ja unverzichtbare Hilfe beim Unterrichten betrachtet wurde. Darin folgten sie dem Zeitgeist. Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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* Emmas Konzept der Mädchenbildung – und von ihm soll hier noch einmal die Rede sein – hatte viele Aufgaben gesehen, die in der „normalen“ Ausbildung von Mädchen gar nicht vorkamen. Sie hatte das Frauenleben in der Ehe als Ganzes im Blick. War die Beherrschung der „Wirtschaft“ vordring­lich, Verantwortung für das im Haus lebende Personal selbstverständ­ lich, genau wie die Erziehung der Kinder, so blieb doch bei allem noch eine Ehe zu führen. Der überlasteten Hausfrau und ­Mutter blieb wenig Kraft, sich dem heimkehrenden Mann zu widmen und für eine ansprechende Geselligkeit zu sorgen. Hinzu kam, dass das Rüstzeug, das viele in eine bürger­liche Ehe mitbrachten, schmal war: wenig Bildung und selten Inte­ resse an ­Themen, die nicht mit der „Wirtschaft“ zu tun hatten. In diesen Ehen gab es kaum ein gemeinsames Gesprächsthema für die Eheleute, wenig oder gar keine Eigenständigkeit der Ansichten – manchmal schwärmerisches Aufblicken zum Ehemann, oft „Gemüt“ auf der weib­lichen und „Kälte“ oder „Indolenz“ auf der männ­lichen Seite und demzufolge im günstigsten Fall ein Erfüllen der Rollenbilder, was ja weib­liche Unterordnung einschloss. Das wusste Emma Isler und sagte zu der unerledigten Frage wie man Töchter erziehen soll: […] Hausstandsfragen sind nicht die einzigen an denen ein Frauenleben und eine Ehe scheitern kann. Die Doktorin Oppenheim sagte einmal zu mir, einem ihr ganz fremden jungen Mädchen: ja, Sie, Sie können wohl mit Männern sprechen; mich hat meine M ­ utter nur stopfen und klären lassen. Die Qual ihrem geistvollen Manne nicht ebenbürtig zu sein war die erste Veranlassung zu ihrem ­später immer wiederkehrenden Wahnsinn. Dr. Unna* behauptet, dass die Erklärung, weshalb Herr Stegmann, der hier reich und angesehen war, in Amerika als lächer­licher Bettler gestorben ist, darin liegt, dass seine Frau sich ewig mit der Wirtschaft beschäftigt hat statt ihm eine geselligkeit im Hause zu schaffen, wie er sie wollte, und wie sie ihm Lebensbedürfnis war (Emma, 6. 2. 1868). Zwei Beispiele, die Emmas Ansicht unterstreichen, dass die Töchter eine Ausbildung benötigten, die sie über die Handhabung der „Wirtschaft“ hinausführte und Interessen weckte, deren Pflege Frauen ein erfülltes eigenes Leben ermög­lichte. Betrachtet man die Dinge von dieser Rollenproblematik aus, sieht man eine weitere Facette in Emmas Erziehungskonzept für Mädchen. Sophies gründ­liche und weit gesteckte Bildung, das Aufwachsen in einem geistig regen Elternhaus hatten sie mit einem Rüstzeug versehen, das ihr erlaubte, in die Aufgaben einer „Hausmanagerin“ und Erzieherin hineinzuwachsen und den Anforderungen eines großen, modernen Hauswesens gerecht zu werden. Das hatte Emma Isler von vornherein in ihr Erziehungskonzept einbezogen. Ein Mann schafft sich sein Leben, eine Frau wird in Verhältnisse geführt die sich jeder Berechnung entziehen. Nein, für alle Eventualitäten kann man keinen Mensch ausrüsten; da wird es bei Mann und Frau doch immer zuerst auf Kräftigung des Charakters ankommen und beim Mädchen, dass sie abweichend von der Tradi­tion sich auf sich selber stützen können. Den Haushalt muss sie gelernt haben in allen Details und wie ihr Weg sie führt, ob zu Höhe um ein grosses und reiches Haus zu leiten, ob zur Tiefe, den engsten Verhältnissen noch Behag­lichkeit abzuzwingen, Verstand und Pflichtgefühl muss sie lehren, wie sie das Erlernte auszubilden hat. Wichtiger als alles

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andere beim Frauenzimmer ist aber, dass sie ein Mädchen bleiben kann und glück­lich sein und nützen kann, damit die Ehe nicht zum verächt­lichen Broterwerb erniedrigt werde. Ich habe mein kleines Schaaf ja nur fertig erzogen und wenn auch sehr unfreiwillig in die Welt geschickt, was wohl aus ihr wird? (Emma, 6. 2. 1868). Wichtig neben anderen Erkenntnissen ist, dass eine junge Frau durch die Ausbildung lernt, sich auf sich selber zu stützen, abweichend von der Tradi­tion. Das genau war es, was Sophie in den ersten Jahren ihrer Ehe fehlte: Selbstsicherheit, Kraft zu eigenen Entscheidungen, die sie dann auch gegen andere verantworten konnte. Für Emma war das eine Frage des Charakters, auf dessen Kräftigung es ankam – die hat Sophie zumindest im Laufe ihrer Ehe erfahren und ihre Aufgaben bewältigt. Wichtig scheint mir aber auch, dass Sophie sich selbst treu blieb und lernte, die in ihr angelegten Fähigkeiten kraft der Erziehung, die ihr zuteil geworden war, zu entwickeln: ein Mädchen bleiben und glück­lich sein und nützen (ebd.). Dass zum Glück­lichsein der Rückzug auf eigene Interessen gehörte, hat das Leben in Braunschweig von Anfang an bereichert. Mindestens zweimal im Jahr besuchte Sophie die Eltern in Hamburg (zwischen 14 Tagen und vier Wochen), sie kam allein oder mit Kind und Kindermädchen, ­später mit beiden Kindern und Personal. Wenn sie allein reiste, wohnte sie bei den Eltern, kam Otto mit, wohnten beide und der ganze Tross im Hotel; einmal jähr­lich verreisten Magnussens im Sommer für drei, vier oder auch fünf Wochen mit Kind bzw. Kindern und Personal, solange die Kinder klein waren – schon das höchst aufwendige Vorhaben, die wochenlang geplant und vorbereitet werden mussten. Das rege gesellschaft­liche und familiäre Leben in Braunschweig führte nicht nur am Wochenende zu Außerhäusigkeit, obwohl Sophie nicht an allen Einladungen teilnahm. Dann waren da Kinderkrankheiten und eigene Beschwerden und die Besucher, die ins Haus kamen, sei es als Übernachtungsgäste oder als täg­licher Tischgast – das alles war nie ein echtes Problem. Dass Sophie in sehr günstigen finanziellen Verhältnissen lebte, machte natür­lich vieles einfacher. In der Realität ihrer Ehe hat Sophie die von ihr angestrebte Gleichberechtigung unter Wahrung der Geschlechterrollen gelebt. Obwohl Ottos beruf­liches Leben sich über Jahrzehnte neben bzw. in der Wohnung abspielte, hat sie sich nicht in seine beruf­lichen Belange eingemischt, wenn sie auch an seiner Arbeit und damit verbundenen Problemen sowie seinem Auftreten in der jüdischen Gemeinde und in der Öffent­lichkeit bewusst Anteil nahm und sich einen kritischen Blick bewahrte. In allen Fragen des gemeinsamen Lebens, der Erziehung, des Umgangs mit Verwandten und Freunden, der Bildung, der Reisen und nicht zuletzt der Geldangelegenheiten, des Hauskaufs und Hausbaus hat sie gestaltend und gleichberechtigt mit Otto gelebt. Sie hat auch gelernt, regulierend einzugreifen, wo er zu rasch handelte, weil sie sich nicht gleich zu einem Entschluss hatte durchringen können. Soweit die Briefe ­dieses gemeinsame Leben spiegeln, gab es auch keine „Übergriffe“ vonseiten Ottos, keinen Versuch, die Selbständigkeit seiner Frau einzuschränken, im Gegenteil: Achtung und Respekt gegenüber der ihm in manchem geistig überlegenen Frau hielten ein Leben lang an, ohne seine Stellung als „Haupt“ der Familie nach außen oder innen zu tangieren. Mög­lich, dass auch die Fähigkeit beider, der Partnerin/dem Partner Raum für eigene Interessen und Aktivitäten zu lassen, zur Stabilität dieser Ehe beigetragen hat. Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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Ein Sonderfall war diese Ehe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sicher nicht, aber sie macht deut­lich, warum die Institu­tionen Ehe und Familie im Bürgertum eine so normsetzende Rolle erhielten, und sie erzählt uns, dass gerade jüdische Familien, die sich in ­diesem Bürgertum zu Hause fühlen wollten, ihren Beitrag zu ­diesem Bild leisteten.

Die Hochzeit der Töchter als Katastrophe im Leben der Mütter In der engen Konzentra­tion auf Haus und Familie konnte sich in bürger­lichen Familien ein Binnenverhältnis entwickeln, bei dem schon die kleinste Veränderung der Konstella­tion als Bedrohung empfunden wurde. So entstand das Paradoxon, dass Mütter ihre Töchter so gut wie mög­lich auf eine Heirat vorbereiteten und alles taten, um einen geeigneten Bräutigam zu finden, dass aber vielen andererseits nichts schreck­licher erschien als eben diese Heirat. Das war nun auch im Fall von Emma und Sophie so. Natür­lich war die ­Mutter (und auch der Vater) glück­lich, dass die Tochter doch noch heiratete, aber Emma war zugleich unglück­lich, dass sie damit Gegenwart und unkomplizierte Erreichbarkeit der Tochter verlor, weil Sophie nach Braunschweig zog. Davon berichten Sophies Briefe immer wieder. Emmas Gesundheitszustand potenzierte die Ängste der Tochter und belastete Sophie erheb­lich. Musste sie denn nicht als gute Tochter der kranken ­Mutter beistehen? Andererseits: Wusste eine so reflektierte Frau wie Emma nicht, dass sie mit ihrer vorgezogenen Verlusttrauer der Tochter Sorgen, wir würden sagen: Schuldgefühle, machte und die Freuden der Brautzeit trübte? Das Thema taucht bald in den Verlobungsbriefen auf: M ­ utter hatte einen recht schlechten Tag, der frei­lich an sich garnichts Ungewöhn­liches ist, vielmehr hundertmal ebenso vorgekommen ist und vorkommen wird, aber […] für mich die ich jetzt denken muss, wie lange bin ich noch da um es ihr zu erleichtern, unend­lich traurig. Der beste Trost kommt immer von ­Mutter selber, die es nicht aushalten kann mich unter dem gedanken der Trennung leiden zu sehen und sich dann Mühe gibt es mir so leicht wie mög­lich darzustellen. Wenn ich nur nicht so genau wüsste wie ihr dabei zu Muthe ist (Sophie, 19. 5. 1867, abends, 1/2 11). Körper­liche Schwäche also, garnichts Ungewöhn­liches (ebd.), jetzt aber belastet durch Sophies Angst: Was soll werden, wenn sie der ­Mutter in solchen Stunden oder Tagen nicht mehr beistehen kann? Leidet sie doch jetzt schon im Vorgriff auf die Trennung. Weiß Sophie denn nicht, wie stark ihre ­Mutter ist? Andererseits: Emmas „Mattigkeit“ ist nicht steuerbar, genauso wenig wie die Stimmungsschwankungen, denen sie unterliegt. Aber Sophie ist davon abhängig: M ­ utter die jetzt recht wohl ist jammert garnicht sondern fühlt sich nur beglückt, das ihr Kind das höchste Glück des Frauenlebens, eine schöne Liebe gefunden hat. Sie sagt mir aber jeden Tag: versuche nur sie zu verdienen. Mir sieht die Welt auch viel schöner aus, wenn sie nicht unglück­lich ist; ich lasse mich überhaupt sehr leicht durch Anderer Stimmung influieren […] (Sophie, 18. 6. 1867).

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Emmas „Jammern“ war nichts Individuelles. Auch andere Mütter empfanden die Verheiratung der Tochter als unheilbaren Verlust: Ausserdem war sie [Madame Salke 235]sehr herz­lich und nett, und hat M ­ utter auch über den verlust der einzigen Tochter getröstet, was sie jetzt durch gemacht, und weniger unerträg­lich gefunden hat, als sie gedacht. Beim Hinausgehen sagte sie mir doch, mit Tränen in den Augen: die Freude des Lebens ist doch davon! (Sophie, 3. 5. 1867). Derartige Mitteilungen waren natür­lich alles andere als aufbauend und sie rissen nicht ab. So berichtete Sophie noch aus Braunschweig nach Hamburg: Otto stellte mich Frau Prof. Knapp vor […]. Es war davon die Rede, dass ich das einzige Kind und aus der heimat geschieden wäre, da sagte sie: nun dann wünsche ich, dass es ihrer M ­ utter besser geht als mir: meine Tochter ist seit 2 Jahren verheiratet und ich kann mich nicht trösten. Die ist frei­lich in Basel und sie können sich nur in den ferien sehen (Sophie, 12. 11. 1867, im Brief vom 11. 11. 1867). Doch die Entfernung war gar nicht immer das Problem: Eine Frau z. B. bedauerte Emma Sophie gegenüber, […] denn ihre M ­ utter, deren einzige Tochter sie war, sei ganz in Verzweiflung bei ihrer verheiratung gewesen, obgleich sie hier geblieben sei! (Sophie 3. 9. 1867). Vielleicht gehörte es zum allgemeinen Ton, die immer angestrebte Heirat der ­Tochter auch als persön­lichen Verlust zu bezeichnen und zu beklagen? Dass das große Klagen bei der Heirat (nicht nur der Töchter) ein Zeitphänomen war, erfahren wir von Emma, die mit Selbstdistanz schreibt: Ich war im Theater […]. In der ersten Scene ist die komische Person eine ­Mutter, die jammert dass sie sich von ihrem Sohn trennen muss, der heiratet … (Emma an Sophie, undatiert, offensicht­lich 15. 10. 1867). Onkel Siegmund (Meyer*), der Schwester und Nichte gern mit Humor beistand, ließ Sophie ausrichten: […] die Löwin[n] hätte wieder ihr Junges gefressen […], denn sonst hätte das Junge zu gross werden und einen Advokaten in Braunschweig heiraten können, und dass wäre doch entsetz­lich! (Emma, Mittwoch, 7 Uhr nachmittags, [23. 10. 1867]). Innerfamiliär war das Thema also durchaus besprech- und belachbar. Von Sophie allerdings fehlen ­solche Töne. Nicht auszuschließen ist, dass sich hinter der Trennungsangst auch ihre Angst vor der Veränderung ihres Lebens versteckte. Wenn hier von der psychischen Situa­tion der Mütter die Rede war, so gibt es natür­ lich auch Beispiele, die von ihrer faktischen Macht berichten. So erzählt Sophie von einer jungen Frau, […] die auch ein einziges kind wie ich, sich im vorigen Jahr verheiratet hat und ähn­liche Kämpfe durchzumachen hatte wie ich, die frei­lich von ihrer M ­ utter anders aufgenommen sind als von meiner. Sie verlobte sich vor 4 Jahren mit ihrem heutigen mann, der ihr Vetter ist. Die Eltern hatten es zugegeben, die Verwandten waren hergekommen, visiten und alles was dazu gehört war abgemacht, als plötz­lich die ­Mutter erklärte, es ginge nicht, sie könne es nicht ertragen und nicht überleben und – die Verlobung wurde abgebrochen! Drei Jahre lang ging das arme Mädchen mit ihrer tiefen Liebe und ihrem Schmerz neben der ­Mutter her, die ihr Leid gethan und mit keinem Wort und keinem Blick hat sie es sie empfinden lassen, wie weh sie ihr gethan hat (Sophie, 6. 5. 1867, morgens).

235 Madame Salke, eine Schwester des Rechtsanwalts Dr. Isaac Wolffson.

Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert   |

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Welch schauer­liche Geschichte von der Macht der Mütter und dem Edelmut der Töchter! Wahrschein­lich hat Elise Meyer*, Sophies Kusine, von der die Geschichte stammt, die Figur der Tochter heroisiert und die ­Mutter besonders schwarz gezeichnet. Doch – von der Zustimmung der M ­ utter hing vieles ab und Gehorsam den Eltern gegenüber war im 19. Jahrhundert noch selbstverständ­lich, nicht nur in jüdischen Familien. Ein ähn­liches Beispiel findet sich s­ päter; hier geht es um den Vater, der die Hochzeit verhindert: Nachher ging ich zu Frau Staatsanwalt Lilly, deren jüngster Sohn sich kürz­lich verheiratet hat […]. Er hat sich mit seiner Cousine, der Tochter eines sehr reichen Ökonom verheiratet. Der Vater hatte jahrelang seine Tochter nicht hergeben wollen und so war die Hochzeit sehr lange verzögert. End­lich hat der Vater eingewilligt und da starb er, sodass die Hochzeit in tiefster Trauer stattgefunden hat (Otto, 4. 9. 1867, 7 Uhr morgens). Weder verhinderte die finanzielle Situa­tion die Eheschließung noch war der Bewerber sonst „unpassend“ – einzig der Vater wollte sich nicht von der Tochter trennen. Das genügte, um eine Ehe jahrelang zu verhindern. Dabei blieb in beiden hier zitierten Fällen die Tochter im Familienzusammenhang – eine Eheschließung, die in jüdischen Kreisen üb­lich war. Mög­licherweise aber war der Schmerz über Heirat und Wegzug der einzigen Tochter ein Problem, das verstärkt in jüdischen Familien auftrat. Aufgefallen war ja schon die fraglose Unterordnung unter Wünsche der Eltern. Von Achtung und Rücksicht auf die Eltern wurde ganz offen gesprochen und es war selbstverständ­lich, dass man sie liebt und mit ihnen zusammen ist, ja, dass man persön­liche Wünsche zurückstellt, wenn Pläne der Eltern dadurch konter­kariert würden, wie das z. B. bei Sophies und Ottos Hochzeitsreise der Fall war. Der Satz, dass Eltern „immer eine Verlegenheit“ ­seien, wie er Theodor Fontane,236 dem christ­ lichen Genera­tionsgenossen Emma Islers, über die Lippen kam, war in Ottos oder Sophies Mund nach allem Gelesenen nicht denkbar. Damit ist der Text unversehens bei Sophie Isler, Otto Magnus und der bevorstehenden Hochzeit angelangt und konzentriert sich im Folgenden wieder auf den engen Isler-­Magnus-­Familienkreis.

236 Theodor Fontane (1819 – 1898), deutscher Schriftsteller, Journalist und Lyriker. Unwesent­lich jünger als die 1816 geborene Emma.

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DIE HEIR AT AL S BEDROHUNG DER HERKUNF TSFA MILIE

Die Angst beider Frauen vor der Hochzeit hatte verschiedene Gründe. Von Emmas Angst vor dem Verlust der Tochter und Sophies Angst vor der Veränderung ihres Lebens war schon die Rede. Ein anderer Grund war die Sorge um die Familieneinheit, die seit 27 Jahren so harmonisch existierte: Vater-­Mutter-­Tochter. In diese Harmonie brach Otto ein und drohte, sie zu zerstören. Wie Emma sich idealiter das Verhältnis mit Otto dachte, das zeigt sehr schön eine Konstella­tion, die Sophie Otto neckend schilderte: Nach dem Abendbrot sitze ich gewöhn­ lich auf dem Sopha ­zwischen Vater und ­Mutter, und als ich heute Abend in Mutters Arm lag, sagte sie, wenn Du hier wärst wollten wir auch so sitzen und Du könntest gegenüber auf dem Stuhl zusehen. Bist Du einverstanden? (Sophie, 4. 5. 1867, abends). So spaßhaft die Zeilen gemeint waren, ihr ernsthafter Hintergrund ist nicht zu übersehen: Gegenwärtig sein durfte Otto natür­lich, aber nur als Gegenüber „auf dem Stuhl“. Zwischen Eltern und Kind, die als Einheit auf dem Sofa verharrten, sollte er sich nicht drängen! Das ist auch Sophies Wunsch. Deshalb ist es für sie so ungeheuer wichtig, sich immer wieder zu vergewissern, dass trotz der räum­lichen Trennung, die die Verheiratung mit sich bringen würde, die enge Beziehung zu den Eltern und vor allen Dingen zur M ­ utter bleibt. Ihre Briefe befestigen schrift­lich, was Otto wohl münd­lich längst versichert hatte, dass er Sophie nicht für sich allein beanspruche, sondern sie den Ihren ließe. Erst heute Abend spät kniete ich vor ihrem [Emmas] Sopha, schwatzte ihr zuerst allerhand Unsinn vor, um sie durch lachen etwas zu beleben und all mählig war sie so weit, dass sie sprechen mochte, und da war das Schlimmst[e] überstanden. Und als wir unsere Verlobungsgeschichte und Deinen Charakter und Liebe, wie sie sich bei Dir und bei anderen zeigt, durchgesprochen hatten, war sie ganz munter (Sophie, 1. 6. 1867, abends).237 Egoismus in der Liebe und den Anspruch auf Ausschließ­lichkeit fürchtet Sophie – und sie ist sicher: Otto ist frei davon: Kann das eine rechte und edle Liebe sein, die so viel Egoismus hat und die so eng ist, dass sie sich begrenzt? Ich darf es fragen, denn ich habe die [die] schöne beglückende Antwort in Dir. Du liebst die Meinen, Du bemühst Dich, ihnen nicht ihr Eigenthum zu nehmen […]

237 Eine ganz ähn­liche Passage wurde schon weiter oben zitiert im Kapitel „Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert“ unter „Emma Isler“.

Die Heirat als Bedrohung der Herkunftsfamilie   |

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(ebd.). Hier erscheint das Kind als unveräußer­liches „Eigentum“ der Eltern. Heirat oder Berufs-

findung ändern daran nichts. Wie das dann mit der Liebe zu machen sei, davon erfahren wir an dieser Stelle nichts. Die Briefstellen legen nahe, dass dieser Komplex wohl auch ein Problem Sophies ist: Wie soll sie in Zukunft die Balance z­ wischen Eltern und Ehemann halten? Dass Emma ihr in dieser Situa­tion hilfreich beisteht, gehört zu den besonderen Äußerungen im Briefwechsel: […] halte Dein Glück nicht für Untreue. Sei nur vergnügt, Du liebst Deine Alten doch […] (Emma, 14. 10. 1867). Der wichtigste Grund der mütter­lichen Angst aber war der: Emma bezweifelte, dass Otto der richtige Mann für ihre geliebte und wunderbare Tochter sei. Zu fremd blieb ihr der junge Jurist aus Braunschweig. Hätten die Eltern lieber einen Gelehrten, einen Geisteswissenschaftler an Sophies Seite gesehen? Manches deutet darauf hin. Dabei war es ja kein Kaufmann, den Sophie heiraten wollte, sondern ein Jurist, noch dazu ein gebildeter. Zu derlei Abstufungen gibt es viele Äußerungen. Nur wenn Sophie aus Ottos Briefen vorlas oder Begebenheiten und Erlebnisse mit Otto wieder ins Gedächtnis rief oder seinen C ­ harakter schilderte, hellte sich Emmas Stimmung auf. Doch begleitete sie die Angst vor einer falschen Entscheidung bis in die Träume. Als sie erfuhr, dass Otto im Schlafzimmer seiner eben­erdigen Junggesellen­ wohnung einen Revolver über dem Bett aufgehängt hatte, entstand vor ihrer Phantasie das Bild eines Blaubarts, der ihre Tochter ermorden könnte, wie sie selbst Sophie, vermut­lich nicht ohne ironische Distanz, erzählte – der Brief, den Sophie darüber an Otto geschrieben hat, fehlt, nicht aber Ottos Antwort: […] über Mamas Furcht wegen des Revolvers habe ich herz­lich lachen müssen. Mit demselben Recht kann man sich wegen jedes Tischmessers ängstigen, denn auch ein solches kann als tödt­liche Waffe gebraucht werden; und hat nicht Othello selbst die Kissen des Bettes dazu gemacht! Wenn ich Dich also durchaus wenige tage nach der Hochzeit, wie M ­ utter fürchtet, ermorden wollte würde mich der Verlust des Revolvers daran nicht verhindern. Ich kann euch übrigens fest versichern, dass ich diese Absicht durchaus nicht habe, sondern dass ich hoffe, wir werden sehr alt miteinander werden! (Otto, 28. 6. 1867). Hinter der Revolverfurcht verbarg sich mehr: Fürchtete Emma, dass der Bräutigam im fernen Braunschweig die kluge Tochter „ruinieren“ würde? Dass er in dieser zurückgebliebenen Kleinstadt aus Sophie eine Hausfrau machen würde, deren Interessen nicht über die Rotznäschen ihrer Kinder hinausgingen? Dass Sophies Dasein sich im Einerlei des Familien­ lebens mit Schwiegereltern und Tanten erschöpfen würde? Otto mochte ein guter Jurist sein, er liebte die Kunst und war allgemein gebildet, aber konnte Sophie mit ihm wachsen, sich weiterentwickeln, geistig zulegen? Hatte er nicht in manchen Dingen merkwürdige Ansichten? Davon wird noch zu reden sein. Die Sorge, dass Sophie die falsche Entscheidung getroffen haben könnte, hielt bis nach der Hochzeit an. Erst nachdem Emma die Tochter zwei Monate nach der Hochzeit in Braunschweig besucht hatte, äußerte sie sich optimistischer: Sophiens Ruhe und Friede wirkt wunder­voll auf mich, es ist Ruhe über mich gekommen und ich fange an zu glauben, dass sie [nicht nur] heiter ist, sondern auch dass ihre Ehe eine ist, die schön und glück­lich

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werden kann, wenn Gott seinen Segen dazu gibt (Emma, 29. 11. 1867). Aus Emmas Brief geht auch hervor, dass die Eltern beide die Mög­lichkeit des Irrtums durchaus einbezogen und die Verheiratung mit dem Sprössling aus der Samson-­Dynastie* nicht unbedingt als das große Los für die Tochter angesehen hatten. Wenn Emma schreibt, es könne am Ende doch eine gute Ehe daraus werden, hält die Chronistin verblüfft inne: Weder aus Sophies noch aus den wenigen Briefen Emmas vor der Heirat werden auch nur Ansätze eines Zweifelns deut­lich. Nichts verweist darauf, dass die Eltern Isler diese Skepsis ihrer Tochter gegenüber erwähnt hätten, obwohl doch, wie Sophie immer wieder betonte, mindestens ­zwischen ­Mutter und Tochter nichts verschwiegen wurde. Wie tief diese Sorge gesessen hatte, wird daran deut­lich, dass auch Meyer, der Sophie erst nach einem halben Jahr besuchte, befriedigt aus Braunschweig schrieb: Dass es mir bei Sophie gefällt, kannst Du leicht denken, neue ­Einrichtungen, jung verheiratete Leute sind immer hübsch aber hier ist geschmack und Comfort vereinigt und der Hausfriede ist auch dabei. Sie zanken sich nie und scheinen sich sehr gut zu vertragen (Meyer, 10. 4. 1868). Die ungetrübte Harmonie der Eheleute hielt an und löschte einen Teil der elter­lichen Sorge, der andere blieb: Die geistigen Anregungen, mit denen Sophie so verwöhnt gewesen war, blieben schmal. Denn Braunschweig, das früher zu den gebildetsten Städten gezählt hat ist sehr heruntergekommen, Riegel* behauptete neu­lich hier, die Frauen der dortigen Professoren hätten den Bildungsstand von Köchinnen (Emma, 2. 3. 1874). Emmas ernüchternde Feststellung – zu einer Zeit geäußert, als sich Sophie end­lich zu eigenen Aktivitäten aufraffte – erinnert daran, dass sie selbst unter der provinziellen Enge ­Dessaus gelitten hatte, eine Erfahrung, die sie ihrer Tochter gern erspart hätte.238 Jetzt musste Sophie damit zurechtkommen. Otto arbeitete hart in seiner Praxis, für neue Gedanken, für die Auseinandersetzung mit geistigen Strömungen blieb wenig Kraft, auch lagen seine eigenen Interessen mehr auf naturwissenschaft­lichem als auf geisteswissenschaft­lichem Gebiet. Nicht einmal in der Frage des Reformjudentums bewegte sich in Braunschweig mehr als die Debatte um den Bau einer neuen Synagoge. Gesellschaft­lich erschloss sich wenig Neues. Sophie sah und sprach nur die immer gleichen Leute: die Geschwister, Tanten und Schwiegereltern und sehr wenige enge Freunde, auch sie eine Art Familienanhang. Eine Freundin oder gar mehrere fand sie nicht. Allein die Vereinstätigkeit führte Sophie nach Jahren aus ­diesem engsten Zirkel etwas hinaus. Für die emanzipatorische Aufbruchstimmung, die Emma am Anfang ihrer Ehe in einem Kreis gleichgesinnter junger Paare erlebt hatte, fand sich in Braunschweig nichts Entsprechendes. Dabei wären die Jahre nach der Reichsgründung dafür eigent­lich geeignet gewesen, aber die na­tionale Begeisterung 238 Auch vorher nimmt Emma kein Blatt vor den Mund: „[…] dass Bertha Oppenheimer bei mir war, ich war sogar so süss, dass als sie sagte, sie schwärme für Braunschweig, ich antwortete, ‚nun ja, wenn man da geboren ist, kann man auch das fertig kriegen‘. Ich bin nun einmal ein Scheusal und wenn das aus meinen Briefen hervorkuckt, brauchst Du nicht aus den Wolken zu fallen und zu denken, es sei Krankheit, es ist einfacher Normalzustand!“ (Emma, 11.1.[1868], 10 Uhr, im Brief vom 10.1.[1868]).

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und der Wirtschaftsaufschwung brachten für Otto und Sophie keine gemeinsame geistig-­ emo­tionale Weiterentwicklung. Bei Einladungen kreisten noch 1882 die Gespräche häufig nur um Dienstboten und Wäsche (Sophie, 5. 5. 1882). Sophie selbst war sich d ­ ieses Mangels und der daraus resultierenden Konsequenzen wohl bewusst. Im Zusammenhang mit ihrer Auerbach*-Lektüre und dem Wunsch, Auerbach* kennenzulernen, schrieb sie 1884 nach Hamburg: […] ich würde mich jetzt vor allen bedeutenden Menschen fürchten, weil ich mich dem geistig nicht mehr gewachsen fühle […] (Sophie, 11. 9. 1884). Doch waren es nicht nur die fehlenden Anregungen, sondern auch die teilnehmenden GesprächspartnerInnen, die ihr in Braunschweig fehlten. Deshalb empfand sie nach jedem Besuch in Hamburg die Rückkehr nach Braunschweig wie eine Fahrt in die Wüste: Braunschweig […] hat die Schattenseite, dass ich den freund­lichen Verkehr so furchtbar vermisse: ich komme mir vor, abgesehen von Mann und Kindern wie auf einer wüsten Insel (Sophie, 20. 12. 1884). Das war nach 17 Jahren eine bittere Replik. Sophie hat den Mangel wohl vor allem gespürt, wenn sie in Hamburg die ihr vertraute Atmosphäre geistiger Auseinandersetzung erleben durfte. Nach Braunschweig zurückgekehrt, verlor sich die Kritik durch die Anforderungen und Freuden des Familienlebens. Ob Otto der Richtige wäre, war für Sophie nicht die Frage. Dessen war sie sich 1867 und ­später offensicht­lich immer sicher. Ihre Angst vor der Verpflanzung nach Braunschweig konzentrierte sich auf den Aspekt: Trennung von der ­Mutter. Mit der näher rückenden Hochzeit steigerten sich Sophies Angst- und Schuldgefühle. Immer von neuem breitete sie das Thema vor Otto aus. Zugleich aber wuchs ihre Sorge, sein Mitgefühl zu überfordern, und doch war sie sicher, dass Otto sie verstünde und ihr helfen würde, die Trennung zu bewältigen – es durfte nicht anders sein! Mein Geliebter, es hilft nichts, Du musst, Du musst es mit mir ertragen. Ich kann es Dir nicht ersparen, oder wenigstens, ich möchte es nicht müssen. Nicht wahr, Du findest das nicht unberechtigt und bist mir nicht böse, wenn ich in eine Freude manchmal den bitteren Tropfen meines Trennungsschmerzes und meiner bangen Sorge um M ­ utter fällt. Ich möchte Dich im Voraus um verzeihung bitten, wenn ich nicht vorher wüsste, dass Du, mein Guter, mir gewiss nicht böse darum sein wirst. Und ich denke unser schönes Glück wird schöner sein, wenn wir die ersten Stunden zusammen durchmachen, wenn ich mich an Deine[r] treue[n] Brust ausweinen kann, als wenn ich mich immer bemühte Dir ein heiteres Gesicht zu zeigen und ich dann allein traurig wäre. Wenn Du jetzt bei mir wärest, würdest Du mir auch die Tränen aus den Augen wegküssen: aber wer wird das meiner armen M ­ utter tun wenn ich es nicht mehr kann? (Sophie, 1. 7. 1867). Zwischen Liebe, Abschiedsschmerz und Schuldgefühlen hin und her gerissen, bereitete Sophie Otto darauf vor, dass die strahlende Braut auch eine weinende Braut sein würde. Das Geständnis mochte sie erleichtern – die Sorge um die ­Mutter verringerte es nicht: Emma würde allein zurückbleiben – der Vater kam Sophie nicht in den Sinn, er war ja auch tagsüber nicht da. Otto reagierte wie erwartet und fand sogar eine positive Seite an Sophies Schmerz. […] meine Arme sollen immer offen sein, wenn Du Deinen

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Abb. 12  Stadtplan von Braunschweig 1895

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Trennungsschmerz und jeden anderen Kummer ausweinen willst. Ich weiss ja, wie schwer dir die Trennung von den Deinigen wird! Schon aus reinem Egoismus muss ich Deinen Kummer billigen, denn dieselbe Treue, die Du den Eltern hegst, wirst Du ja auch mir entgegen bringen (Otto, 13. 7. 1867, morgens). Verständnis gegenüber Sophie war das Eine und Selbstverständ­liche, was von Otto erwartet werden konnte, aber nur Verständnis und nachgebende Liebe durften es auch nicht sein. Sophie brauchte Ottos Stärke und Entschiedenheit, um aus ­diesem verqueren Beziehungsdilemma herauszukommen, ohne dass das von ihr ausgesprochen wurde. Dieser Anforderung zeigte sich Sophies künftiger Mann gewachsen. Als Otto nach den in Hamburg verbrachten Gerichtsferien, in denen sich beide so ganz in einander eingelebt hatten (Sophie, 27. 8. 1867, im Brief vom 26. 8. 1867), erneut mit Sophies Vorwegnahme der Trennung und ihrer Trauer konfrontiert wurde, entschloss er sich, ihr entgegenzutreten, in aller Vorsicht. Wenn es doch in meiner Macht stände, Dir und den Deinen den Schmerz zu e­ rsparen, aber das ist unmög­lich. Erleichtern könnt Ihr Euch ihn aber dadurch, wenn Ihr Euch Mühe gebt, über der bevorstehenden trennung nicht die schöne gegenwart zu vergessen, wo Ihr Euch noch ganz habt und geniessen könnt, und wenn Ihr Euch nicht ledig­lich vor der bevorstehenden trennung fürchtet, sondern Euch auf schöne Zeiten des Wiedersehens freut. Wir haben uns ja vorgenommen das Leben stets von einer heiteren Seite aufzufassen, also musst Du Dir Mühe geben auch aus dieser Trennung, so bitter sie immer ist, Honig zu saugen. Freust Du Dich denn nicht darauf, Deine Eltern in deinem eigenen hause zu empfangen und es ihnen dann recht schön und behag­lich bei Dir zu machen? Und ist es nicht auch für die Eltern eine Freude ihr Kind als tüchtige und glück­liche Hausfrau schaffen und wirken zu sehen? Wenn Ihr einmal einseht, wie unaussprech­lich lieb wir uns haben und dass wir für einander geschaffen sind und nach aller Voraussicht eine wundervoll glück­liche Ehe miteinander führen werden, dass also all das eintreffen wird, was liebende Eltern für ihr Kind erhoffen können, ist das nicht eigent­lich eine versündigung gegen den lieben Gott, wenn man alles Gute und Glück­liche vergisst und stattdessen dankbar zu sein? Je begabter und gebildeter Dein herz und Dein geist ist umso mehr hast Du auch die Kraft und die Pflicht, Dich von Deinen gefühlen nicht überwältigen zu lassen, sondern Dich selbst zu beherrschen (Otto, 7. 8. 1867).

Das sind deut­liche Worte. Otto trat zum ersten Mal in d ­ iesem Briefwechsel so entschieden auf. Seine Mahnung, das Leben von der heiteren Seite anzusehen, statt die Zukunft von vornherein schwarz in schwarz zu malen, war wichtig, hatten sich Sophie und Otto doch vorgenommen, sich nicht von den kleinen Misshelligkeiten des Alltags 239 und von Schwarzseherei beeinflussen zu lassen. In der Gegenwart wollten sie leben und allem zunächst eine positive Seite abgewinnen. Auch seiner künftigen Schwiegermutter redete Otto ins Gewissen, wusste er doch, dass Sophie seinen Brief zumindest inhalt­lich den Eltern vortragen würde.

239 Briefstelle und Thema finden sich im Kapitel „Vom Sinn der bürger­lichen Ehe“.

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Mit seinem Appell an Begabung, Bildung, Herz und Geist Sophies forderte Otto die Frau heraus, in die er sich verliebt hatte, die eben kein kleines, „dummes“, von ihren Emo­tionen beherrschtes Mädchen war. Doch tat er das nicht ohne sich zu vergewissern, dass er keinen zu strengen Ton angeschlagen hätte. Ich hoffe, mein geliebtes Weib, dass Du in diesen ernsten Worten nicht eine schulmeister­ liche Strafpredigt finden, sondern den innigen Wunsch Deines Dich innig liebenden mannes erblicken wirst, Dir auch jetzt schon eine Stütze und halt zu sein, sowohl nach innen wie nach aussen. Ich bitte Dich mir ganz offen zu sagen, ­welchen Eindruck diese Zeilen auf Dich machen, und es mir nicht zu verschweigen, wenn etwa mein Wunsch Dir durch dieselben Deine Fassung wieder zu geben, nicht gelingen, oder wohl gar Dein gefühl durch dieselben verletzt würde. Es muss und soll ja nur Wahrheit ­zwischen uns sein, deshalb musste ich Dir das sagen und deshalb musst Du mir rückhaltlos antworten. Ebenso bitte ich Dich, Dich hierdurch nicht abschrecken zu lassen, mir auch künftig Deinen Schmerz offen mitzutheilen, denn Du weißt ja, dass ich weit entfernt bin, die Berechtigung desselben zu unterschätzen, sondern ihn vollkommen würdige und theile (Otto, ebd.). Entschiedenheit, Selbstbewusstsein und Zugewandtheit waren es, die Ottos Verhalten auszeichneten. Wirkte er sonst in den Briefen mehr als der antwortende Teil in einem sich entfaltenden Ehedialog, trat er hier nach vorn und war sich seiner selbst ganz bewusst. Deut­lich übernahm Otto an dieser Stelle die Männerrolle, die ihm Statur verlieh und damit Sophie die Mög­lichkeit gab, Kraft und Sicherheit aus seiner Stärke zu gewinnen. Hatte sie schon früher scherzhaft darauf verwiesen, wie sehr sie sich an seinen festen, sicheren Schritt gewöhnt und die ­kurzen Schritte ihrer untergehakten Freundinnen wachsend als unsicher empfunden hätte (Sophie, 13. 8. 1867), so bewies Otto in d ­ iesem Brief, dass sich Sophie ganz auf ihn verlassen konnte: Er trat ihrem Schmerz mit Argumenten entgegen und blieb doch gleichzeitig der Liebste, an dessen Schulter sie sich ausweinen durfte. Sophie antwortete wie erwartet und umgehend, obwohl das Paar nach dem Pfingsttreffen größere Intervalle beim Schreiben ausgemacht und eingehalten hatte. In d­ iesem außerordent­ lichen Fall aber galten Ausnahmeregeln. Das konntest Du doch nicht wirk­lich denken, dass mich Deine schönen Worte verletzen könnten? Dann wäre ich nicht wert geliebt zu werden, wenn ich den Ausdruck der wahrsten Liebe verkennen würde. Eigent­lich weiss ich Dir garnicht darauf zu antworten denn ich weiss Deinen Worten nichts hinzu zu fügen, noch ihnen etwas entgegen zu stellen. Und so lass mich Dir nur dafür danken […]. Ich habe nach einiger Überlegung und Überwindung ­Mutter und Vater Deinen Brief gezeigt und M ­ utter sagt, dass ihr Herz seitdem noch einmal so leicht als vorher ist, denn ihre Furcht seit einer Unterhaltung neu­lich mit Dir war, dass DU die schmerz­lichen Gefühle, die mich notwendig bei einer Verpflanzung in neue Umgebung bewegen müssen, unterschätzen könntest, und Dich vielleicht dadurch verletzt fühlen würdest, das habe ich nie gedacht […]. Meine Stimmung wird in diesen Wochen gewiss sehr viel auf und abschwanken und besonders mit M ­ utter sich heben und senken […]. Es wird viel leichter sein ­später mit den gegebenen tatsachen fertig zu werden als mit ­diesem Die Heirat als Bedrohung der Herkunftsfamilie   |

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Zustand, in dem man noch mit unbekannten Grössen kämpft: Wie wird M ­ utter die Trennung ertragen? […] Am meisten kann ich auf ihren eigenen starken geist [bauen] der mit dem Unvermeid­lichen bisher immer gut fertig geworden ist (Sophie, 8. 8. 1867). Mit einer anderen Antwort war nach allem, was bisher von Sophie sichtbar geworden ist, nicht zu rechnen. Wie deut­lich sie aber begriffen hatte, dass Otto nach langem Zögern sich zu einer solchen entschiedenen Darlegung durchgerungen hat, wird im Folgenden klar und zeigt, dass Sophie auch offene Worte von Otto erwartet hatte. Ich weiss frei­lich, dass Dein heutiger Brief sich nicht nur auf den momentanen Eindruck bezieht, sondern gewiss der Eindruck dessen ist, was Du mir schon lange einmal zu sagen wünschtest, wofür Du aber vielleicht den rechten Moment nicht zu finden wusstest (ebd.). Hatte Sophie eine Reak­tion Ottos, die ihrem Schmerz entgegentreten sollte, schon länger gewünscht? Mit der Häufung ihrer Klagen hatte sie sie herausgefordert und der Bräutigam hatte sich als der gezeigt, den Sophie in dieser Situa­tion brauchte. Jetzt ging es nur noch darum, wie man den Eltern den Abschied von der Tochter erträg­lich gestaltete. Und dazu gab es frühzeitig Pläne.

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PL ÄNE ZU EINER HOCHZEITSREISE Anfangs war von weiten Reisen die Rede: Rom, Italien, die Schweiz waren „im Angebot“, denn Otto war schon viel herumgekommen und wollte der Liebsten zeigen, was es an schönen Plätzen auf der Welt gibt. Ja und Sophie? Die wollte so gern end­lich auch einmal so weit reisen wie alle Freundinnen und Verwandten, die gerade in ­diesem Sommer wieder Hamburg hinter sich gelassen hatten und ganz selbstverständ­lich bis nach Oberitalien, Tirol, Frankreich, der Schweiz gereist und vollgepackt mit Eindrücken end­lich nach Hause zurückgekehrt waren. Dass mit der Heirat auch für Sophie andere Reisezeiten und -ziele anbrächen, wurde von vornherein angenommen. Als Sophie Anfang Mai über das herr­liche Frühlingswetter in Hamburg schreibt: Die Alster dunkel blau, wie in den italienischen Seen, die wir wohl nicht zusammen sehen werden (Sophie, 6. 5. 1867), antwortet Otto prompt und zuversicht­lich: Ich hoffe, dass die Alster nicht der einzige italienische See ist, den wir zu sehen bekommen, denn wenn wir auch nicht nach Rom kommen werden, so liegt doch eine Reise nach der Schweiz und Oberitalien wohl im Bereich der Mög­lichkeiten … (Otto, 7. 5. 1867, abends, 5 Uhr). Dieses Ziel gerät zu einem Zeitpunkt ins Gespräch, an dem Otto noch fest davon überzeugt ist, dass die Hochzeit Anfang September stattfinden kann. Um diese Jahreszeit lässt sich gut reisen, das Wetter ist relativ stabil und gerade im Süden immer noch warm genug, dass man den Aufenthalt im Freien genießen kann. Allerdings spielen bei den Planungen zur Hochzeitsreise nicht nur die Fertigstellung der Wohnung und damit der Hochzeitstermin eine wichtige Rolle, schon bald wird Sophie klar, dass mit der Hochzeit und der anschließenden Reise auch der Abschied von Elternhaus und ­Mutter zusammenfallen. Damit treten weitere Faktoren auf, die zu bedenken sind. Als May gestern Abend kam, sprachen wir viel über die Hochzeit und er meinte, es wäre für Alle und Besonders für ­Mutter und vater besser wenn wir am Hochzeitstag wegreisten, dann einige Tage wegblieben und wieder nach hamburg zurück kämen, damit an dem Tag nicht nach der [noch die] Aufregung des endgültigen Abschiedes dazu käme. Was meinst Du dazu? Auch dass wir an dem Tage erst spät abreisen, damit das Fest nicht gefeiert wird, ohne die Hauptbeteiligten. Das ist besonders vaters Wunsch, der eine Hochzeit ohne das Brautpaar schreck­lich findet (Sophie, 18. 6. 1867). Dieser Plan wäre nach dem Herzen aller Islers, weil er Sophies endgültigen Abschied von Hamburg noch etwas hinausschöbe. Alle Beteiligten könnten dann die Hochzeit selbst unbeschwerter feiern, weil Sophie am Ende des Tages doch nur für kurze Zeit abreiste und bald noch einmal nach Hause käme. Pläne zu einer Hochzeitsreise   |

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Otto sieht die Dinge aber anders: May’s Vorschlag nach einigen Tagen nach Hamburg zurück zu kommen scheint mir bedenk­lich, da hierdurch der Schmerz des Abschiedes 2 mal erregt werde und jedes Mal in seiner ganzen Heftigkeit ausbrechen würde. Dies aber ist nur meine Ansicht, und wenn Du und Deine Eltern glaubst, dass die Wiederkehr Euch die Trennung erleichtert, so wollen wir die Reise demgemäss einrichten (Otto, 20. 6. 1867, ­morgens, 8 Uhr, im Brief vom 19. 6. 1867). Zunächst antwortet Sophie nicht auf Ottos Bedenken, die von der Sache her ja einleuchten, dann aber ergibt sich ein Gespräch mit Freundinnen und anderen jung verheirateten Frauen, von dem Sophie berichtet: Meta Frank ist nach der Hochzeit nach Holstein gereist und nach 14 Tagen wieder hergekommen und noch einige Tage geblieben und sie kann es nicht genug preisen und rühmen. Sie hat mir sehr zugeredet es auch so zu machen, und als ich es zu Hause erzählte, fanden ­Mutter und vater es sehr einleuchtend, und ich merkte, das letztere es sehr wünscht. Bitte lass uns darüber sprechen, münd­liche geht das alles viel besser…….. (Sophie, 27.6., 1/2 11 abends). Das Treffen in Berlin wegen des Möbelkaufs steht unmittelbar bevor (1. bis 7. Juli), sodass Sophie zu Recht auf die Chance münd­lichen Austauschs verweisen kann. Da das Thema im Briefwechsel längere Zeit nicht mehr behandelt wird, haben Gespräche und Einigung offensicht­lich stattgefunden, denn von nun an ist ­dieses Modell der Hochzeitsreise nicht mehr strittig. Offen sind nur noch Reiseziel und Dauer. Jetzt aber verschiebt sich der Hochzeitstermin und davon ist nun auch die geplante Holstein-­Reise betroffen; wenn erst am 3. Oktober geheiratet werden kann, verkürzt sich die Reisedauer: Übrigens kann ich Dir sagen, dass selbst ­Mutter nicht glück­lich über den Aufschub ist, da ja nun an die Holsteinsche Reise und folg­lich an unser Wiederkommen wohl nicht zu denken ist, wodurch der Tag selbst um so viel trauriger wird (Sophie, 16. 8. 1867, um 2 Uhr). Und das ist leider noch nicht alles, denn die Verschiebung hat auch Auswirkungen auf das Reiseziel. War zunächst an Wandern und Besichtigen in Holstein gedacht, schreibt Sophie jetzt: Selbst wenn uns das Wetter begünstigte, worauf in so ­später Jahreszeit kaum zu rechnen ist, sind die Tage im Oktober so kurz, dass wir nirgens hinreisen können, wo wir nur auf die natur hingewiesen sind und die übrige Zeit in vielleicht ungemüt­lichen Wirtshäusern zubringen müssten. Was meinst Du? (ebd.). Mit anderen Worten: Sophie sucht ein Reiseziel, wo vielerlei besichtigt werden kann, sodass man sich weder in Nässe und Kälte noch in unwirt­lichen Gaststuben herumdrücken muss. Otto bringt tatsäch­lich ganz neue Reiseziele ins Gespräch. Da wir nun Deiner Angabe nach die Holsteiner Reise aufgeben müssen, so wollen wir also die Verhandlungen darüber eröffnen, was denn geschehen soll. Es scheinen sich mir 2 Mög­lichkeiten darzubieten: entweder müssen wir nach Dresden reisen oder wir fahren am Hochzeitstag nach harzburg oder Lüneburg und am Tage darauf nach Braunschweig. Ich kann nicht leugnen, dass die letzte Alternative für mich die angenehmste wäre, theils weil ich gern so bald wie mög­lich die langersehnte Häus­lichkeit geniessen möchte, theils weil es mir ein unverhältnismässiges Opfer zu sein scheint, 2 ganze Tage auf der eisenbahn zuzubringen, um einige Tage in Dresden zu sein. Falls die reise nach Dresden unternommen würde, würden wir wohl am Hochzeitstag nach einer Sta­tion der Berliner Bahn fahren, und am anderen Tage dort die Reise fort[zu]setzen. Wenn wir uns für das eine oder

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andere entschieden haben, so wirst Du die Güte haben Dich in Hamburg zu erkundigen, wo man das beste Unterkommen findet (Otto, 18. 8. 1867, 9 Uhr morgens, im Brief vom 17. 8. 1867). Ottos Vorschläge sind sehr unterschied­lich: Die Reise in die Kunststadt Dresden gehörte zu den gängigen Reisezielen gebildeter Hochzeiter. Sie bedeutet einen Aufenthalt von wenigstens drei Tagen in „Elbflorenz“, will man nur das Nötigste sehen: Gemäldegalerie und Grünes Gewölbe, Schlösser, Zwinger, Ausstellungen und Stadtbesichtigung – mit An- und Abreise mindestens fünf Tage, also das Minimum einer Hochzeitsreise. Oder die Fahrt nach Braunschweig, nur unterbrochen von einer Nacht in Harzburg oder Lüneburg – eine Hochzeitsreise kann man das beim besten Willen nicht nennen. Dass Sophie mit einem derart verkürzten Programm nicht einverstanden sein würde, ahnt Otto, wie er auch ahnen muss, dass sie das mit ihrer Absage an die Holstein-­Reise nicht gemeint haben kann. Vorsorg­lich fügt er deshalb seinem Vorschlag eine Passage an: Ich habe meine Ansichten und Wünsche offen und ohne Rücksicht ausgesprochen und bitte Dich, ein Gleiches zu thun, damit wir schliess­lich einen Entschluss fassen können, der uns beiden recht und lieb ist. Ich wünsche nicht, dass Du etwa die Reise nach Dresden mit Bedauern aufgibst, sondern wir wollen die Angelegenheit reif­lich überlegen bevor wir uns entscheiden (ebd.). Wieder ist eine Situa­tion erreicht, in der es darum geht, gemeinsam eine Lösung zu finden, auch hier soll die Auseinandersetzung mit Argumenten geführt werden. Dass auf ­diesem Wege keine schnelle Einigung zu erwarten ist, scheint Otto klar gewesen zu sein, wenn er von reif­lich überlegen spricht. Wie stellt sich Sophie dazu? Sie setzt vorsichtig ein: Meine Ansicht[en] über die Hochzeitsreise kennst Du, und ich brauche sie garnicht zu wiederholen, da sie sich nicht geändert haben. Aber da Du es wünschst will ich es doch thun und nur vorherschicken, dass ich meine Wünsche eben so offen sage wie Du es gethan, sie aber durchaus nicht als sine qua non hinstelle. Ich werde mich mit Vergnügen dem fügen, was von Allen als das Richtigste erkannt wird. Ich möchte wie Du weißt nicht gleich nach Hause, weil ich meinen Mann erst einige Tage für mich haben möchte, ehe die Wogen des Lebens über mir zusammenschlagen, denn das gerade die ersten Tage in Braunschweig auf die Du Dich so sehr freust, schon gemüth­lich sein können, glaube ich nicht. Wir werden sehr viel mit der Einrichtung zu thun haben. Aller Schmuck wird so kurz nach der Hochzeit noch fehlen. Die Nächsten – die übrigens kaum wieder zu Hause sein können – werden bei uns sein; zu Dir kommen Clienten, mir wird die Wirtschaft Kopfzerbrechen machen, – wenn ich mir das Alles in die allerersten Tage, wo die gemüth­lichen Aufregungen noch so neu und mächtig sind, zusammengedrängt denke, wird mir ganz schwindelig! Es sind dies alles so egoistische Gründe, dass ich mich im Niederschreiben entsetz­lich schäme, aber da Du genau wissen willst wie ich darüber denke musste ich es Dir sagen; und wie gesagt, wenn Du Deine Gegengründe gewichtiger findest, so lass meine kein Hinderniss sein (Sophie, 19. 8. 1867, morgens, 11 Uhr, im Brief vom 18. 8. 1867). Sophie signalisiert zwar von vornherein Bereitschaft, ohne lange Diskussion auf Ottos Vorschlag einzugehen (und das hieß: direkt nach Braunschweig), breitet dann aber so gute Gründe aus, dass es Otto schwer fallen muss, seinen Wunsch dagegen durchzusetzen. Dass Sophie erst einige Tage mit Otto allein sein will, ist mehr als verständ­lich und kommt Ottos Wünschen ja auch entgegen. Während er aber in Braunschweig nur das Pläne zu einer Hochzeitsreise   |

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gemüt­liche Heim mit der so lange erwünschten kleinen Frau darin sieht, um sich dort einzu­ igeln, weil auch er mit Sophie allein sein will, weist Sophie auf das Unfertige der Wohnung hin, die nahtlose Fortsetzung von Ottos Berufsleben, ihre Angst vor den neuen Aufgaben und der neuen Rolle. An all das hat Otto mit Sicherheit nicht gedacht. Auch das erträumte Alleinsein, end­lich, wird es nicht geben, denn die Verwandten (Vater, ­Mutter, Geschwister Magnus) werden bei uns sein (ebd.). Wie absichtslos fügt Sophie nun noch Vorschläge an: Warum ist die Lüneburger Heide nicht ein wenig hübscher, oder noch mehr: warum gibt es in Holstein keine Stadt in der wir uns die Frage où passerai – je mes soireées beantworten können. Im vorigen Jahr hatte ich z­ wischen 1.–8. Oktober 25° Hitze in Wiesbaden und am Rhein, aber das ist doch eine seltene Ausnahme und Holstein liegt so viel nörd­licher (ebd.). Damit ist Holstein wieder im Gespräch und natür­lich eine Reise, die auf dem Weg nach Braunschweig noch einmal am Hamburger Elternhaus vorbeiführt. Das wird auch in Braunschweig so verstanden: Was die Hochzeitsreise betrifft, so kam gestern M ­ utter auf ihrem Morgen­ spaziergang zu mir um die Sache mit mir zu überlegen. Wir sind zu dem Resultat gelangt, dass trotz der Jahreszeit, und selbst wenn das Wetter noch so schlecht ist, es Deiner M ­ utter wegen nöthig ist, dass wir die Reise nach Holstein machen und nochmals nach Hamburg zurückkommen. Wir werden dann also unter allen Umständen am Abend des Hochzeitstages nach Lübeck reisen, bei gutem Wetter die Reise nach Holstein machen. Bei schlechtem Wetter vielleicht 2 Tage in Lübeck oder vielleicht auch einen Tag in Kiel zubringen, und dann auf einige Tage nach hamburg zurückkehren. Was sagst Du dazu? Ich glaube Du wirst mit uns einverstanden sein (Otto, 20.8., 10 1/2 Uhr, im Brief vom 19. 8. 1867). Die Frage scheint geklärt. Sophies ausgesprochene und unausgesprochene Wünsche würden mit ­diesem Plan erfüllt. Der psycholo­gische Effekt ist klar: Die Heirat hindert Sophie nicht, Hamburg und die Eltern zu besuchen. Natür­lich ist das Problem noch nicht ausgestanden. Die Arbeiten in der Wohnung gehen so schleppend voran, dass der verzweifelte Otto den 13. Oktober als Hochzeitstermin ins Spiel bringt und dann erklärt, warum die Hochzeitsreise dadurch noch kürzer ausfallen müsse: Unsere Hochzeitsreise wird dadurch frei­lich sehr kurz werden, da wir am 20.10. zu Mutters geburtstag doch gern hier sein wollen, so wird es sich nicht anders machen lassen, als dass wir am Montag, Dienstag und Mittwoch in Lübeck sind, Donnerstag und Freitag in Hamburg bei Deinen Eltern verleben und Sonnabend nach Braunschweig reisen. Es ist aber nötig, dass wir die beiden tage in Hamburg incognito sind, was sich wohl am Besten dadurch erreichen lässt, dass wir vorgeben, wir würden länger in Holstein bleiben, sodass uns also Niemand so früh in Hamburg vermutet. – Es wäre doch sehr unangenehm und aufregend, wenn wir in jenen tagen viele Menschen sehen müssten (Otto, 6. 9. 1867). Was für eine kurze Reise und was für ein großer Aufwand: drei Tage Lübeck, zwei Tage Hamburg, um dann rechtzeitig zu Mutters geburtstag in Braunschweig zu sein! So vielen Ansprüchen müssen sich die Brautleute beugen! Freund­lichkeit, Zuwendung, Verschweigen, Rücksichtnahme nach allen Seiten, niemand soll verletzt werden – wer sich den bürger­lichen Regeln des Zusammenlebens unterordnete, musste viel auf sich nehmen und viel bedenken. Das erscheint uns heute äußerst lästig, schuf aber damals und in ­diesem Fall zumindest eine

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Atmosphäre fried­lichen Miteinanderlebens, der gegenseitigen Rücksicht und Achtung. Dass dabei gelegent­lich „geschummelt“ werden musste, war allen bekannt, aber wer spricht es schon so unumwunden aus wie Emma? Wahrheit ist eine schöne Sache, aber ohne die Lüge der guten gesellschaft wäre es nicht auszuhalten in der Welt (Emma, 7. 10. 1867). Ottos Terminvorschlag stößt in Hamburg auf keine Gegenliebe, er hat näm­lich übersehen, dass in dieser Zeit so viele jüdische Feiertage (Sophie, 7. 9. 1867) sind. An den Mitteltagen des Laubhüttenfestes kann eigent­lich keine Hochzeit sein, und Vater weiss nicht, ob Dr. Sänger nicht zu fromm ist, um sich darüber hinweg zu setzen (ebd.). Doch end­lich wendet sich das Blatt: Kaum von einer Erkältung genesen, nimmt Ottos M ­ utter die Terminfrage in die Hand. Sie hat aber erklärt, dass sie wünsche, dass unsere Hochzeit schon am 6.10. sei, und dass als dann die nöthigen Einrichtungen nach unserer Hochzeit während unserer Hochzeitsreise getroffen werden können. […] Ferner habe ich gestern Abend durch Friedrich Lilly die Anregung bekommen doch die Hochzeitsreise nach Kopenhagen zu machen, und Kabel und Andere die ich darüber befragt habe, reden mir sehr zu. Was denkst Du darüber? Erkundige Dich genau nach der Reise, nament­lich ob man über Korsør oder ganz mit dem Dampfschiff bis Kopenhagen reisen soll (Otto, 10. 9. 1867, abends, 11 Uhr, im Brief vom 9. 9. 1867). Bevor der Brief an Sophie abgeht, macht Otto vorsorg­lich noch eine Einschränkung: Als ich gestern über die Reise nach Kopenhagen schrieb, vergass ich Dich darauf aufmerksam zu machen, dass man unterwegs sehr wohl seekrank werden kann, was nament­lich für eine Hochzeitsreise sicher­ lich nicht angemessen ist (Otto, 11. 9. 1867 um 8 Uhr morgens, im Brief vom 9. 9. 1867). Während in Hamburg in aller Eile sichergestellt wird, dass die Hochzeit doch schon am 6. Oktober stattfinden kann, holt Sophie Rat über die Reise nach Kopenhagen ein und freut sich schon mal, weil jetzt ja auch wieder mehr Zeit für eine Hochzeitsreise ist. Von der Seereise rät er [May] entschieden ab, da es sehr ungemüt­lich ist. Dagegen wenn man langsam reisen wolle so können wir eine sehr hübsche Tour durch Schleswig und über Alsen machen, dabei muss man 2 mal über den belt, was man in einem Boot macht, jedesmal dauert ca 1/4 Stunde. Das wäre in gutem Wetter eine angenehme Reise. Man geht dann nicht über Kiel sondern über Rendsburg und hat dann frei­lich im Anfang eine sehr langweilige Fahrt. Aber darauf wird es uns wohl nicht ankommen. Ich fände die Reise nach Kopenhagen sehr schön, dann werden wir aber etwas länger fortbleiben, als wir bisher beabsichtigten, damit sie zu Hause in Ruhe Ordnung machen können, nicht wahr? Der einzige Nachtheil dabei ist die fremde Sprache, denn Mays sagen, die Dänen weigern sich aus Fanatismus Deutsch zu sprechen. Wenn wir längere Zeit haben möchtest Du wohl auch nicht nach Dresden, der Rückreise nach Hamburg wegen? Kopenhagen hat auch das für sich, dass wir wenn nicht jetzt wahrschein­lich nie dahin kommen und es doch so sehr schön sein soll (Sophie, 12. 9. 1867). Sophies Freude über den neuen Plan ist nicht zu übersehen, aber auch, dass sie Dresden noch nicht ganz aufgegeben hat. Angesichts der Bedingung, vor der Reise nach Braunschweig noch einmal nach Hamburg zurückkehren zu dürfen, hat sie bisher keine anderen ­Wünsche ­geäußert, auch weiß sie nicht, wie viel sich Otto an ­Reisekosten eigent­lich leisten kann. Aber ganz offensicht­lich würde Sophie am liebsten nach Dresden fahren und sich gründ­lich umsehen, wenn das aber nicht geht, wäre Kopenhagen wunderbar! Pläne zu einer Hochzeitsreise   |

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Ottos Antwort fällt anders als erwartet aus, er legt nichts fest, sondern bietet drei Mög­lichkeiten an, bei denen seine Präferenzen jedoch sehr deut­lich werden: 1. Entweder machen wir die ursprüng­lich beabsichtigte Reise über Lübeck nach Holstein und zurück oder 2. wir reisen nach Kopenhagen, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass im Oktober die Überfahrten sehr unbehag­lich sein können oder 3. wir reisen nach Dresden. Wenn Du aber die letzte Reise wählst kommen wir nicht nach hamburg zurück. Vielleicht ist dies aber ganz gut, denn Mme Löb soll z. B. gerade in Folge des Wiedersehens mit ihrer Tochter jetzt sehr krank geworden sein, während sie die 1. Trennung gut ertragen hatte (Otto, 13. 9. 1867, abends, 9 Uhr).

Damit scheidet Dresden auf jeden Fall aus, denn auf Ottos Bedenken gegenüber einem Wiedersehen so kurz nach der Hochzeit ist Sophie schon beim ersten Mal nicht eingegangen. Und auch Kopenhagen ist nun so gut wie abzuschreiben, weil Otto erneut die „Unbehag­ lichkeit“ der Überfahrt betont. Doch Sophie versucht noch einmal eins der beiden Reiseziele zu retten. […] eins steht fest: von dem Wiederkommen möchte ich nicht ablassen […]. Es scheint mir, als hättest Du keine rechte Lust nach Kopenhagen, dann wollen wir es natür­lich nicht tun. […] Auf der anderen Seite können wir uns dort an Kunst erfreuen, während wir in Holstein bei schlechtem Wetter ganz auf die Stube und auf uns angewiesen sind. Du hast mir auf meine Frage wie lange wir fortbleiben können nicht geantwortet. Wenn wir nun doch bis zum 19. also fast 14 Tage ausbleiben wollen, könnten wir die erste Woche ganz wie wir beabsichtigt hatten in Lübeck zubringen und dann noch auf einige Tage nach Dresden gehen. Ich werde nun die Sache umdrehen und sagen: bitte entscheide Du, was mir viel ­lieber ist, nur halte dabei die Rückkehr nach hamburg als sine qua non fest (Sophie, 16. 9. 1867). Indem Sophie die Entscheidung abgibt und nur an ihrer einen Bedingung festhält, handelt sie klug angesichts der finanziellen Unwägbarkeiten und angesichts von Ottos Bedenken. Seine Entscheidung fällt nun auch schnell und wird begründet: […] unter Berücksichtigung aller Umstände bleibt nichts anderes übrig […] als nach Lübeck und Holstein zu reisen (Otto, 17. 9. 1867, morgens, 7 Uhr, im Brief vom 16. 9. 1867). Auch die Reisedauer wird jetzt definitiv festgelegt: nicht mehr als 8 Tage (ebd.). Der Grund ist deut­lich angegeben: Über die Idee zuerst nach Holstein und dann nach Dresden zu reisen, habe ich sehr gelacht. Wir könten ja dann auch noch ein bischen nach Paris reisen! Teils würde das zu viel Zeit in Anspruch nehmen, teils würde es sehr viel geld kosten, und Du musst doch bedenken, dass Du die Frau eines kleinen Advokaten bist (ebd.). Dem ist nichts entgegenzusetzen. Otto ist selbständig, jeder Reisetag bedeutet für ihn Verdienstausfall. Waren die Pläne anfangs noch hochfliegend, wollte er mit Sophie eine weite Reise machen, so laufen ihm inzwischen wohl die Kosten davon: Umzug, neue Wohnung, neue Einrichtung etc. Da bleibt nur die Reise nach Holstein, also vor die Tore der Stadt Hamburg, und das um diese Jahreszeit! Wir müssen uns mit Wintermänteln versehen, dann werden wir hoffent­lich ohne Erkältung davon kommen (ebd.). Aber dann gibt es doch noch einmal eine Bewegung. Kurz vor der Hochzeit fragt Sophie: [H]at es eigent­lich einen Grund, dass wir nach Lübeck und nicht nach Kiel gehen? Mir ist trotz vielem nachdenken keine[r] eingefallen, und es wäre doch viel netter. Wir könnten

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nach Altona gehen und von da nach Kiel fahren, dort so wohnen dass wir hübsche Aussicht hätten. Wenn gutes Wetter ist, haben wir die hübsche Umgebung ganz in der Nähe zum Spazierengehen und wenn wir Lust haben besuchen wir Eutin und den Uglei, der zu Bahn leicht zu erreichen ist, während man von Lübeck per Wagen hin müsste (Sophie, 27. 9. 1867, abends, 10 Uhr). Auch Otto ist über diese Wendung erfreut und sagt gleich zu: Mit der Reise nach Kiel bin ich völlig einverstanden, dann müssen wir aber am Abend des Hochzeits­ tages in Altona bleiben. Gibt es dort ein anständiges Hotel? (Otto, 29. 9. 1867, morgens, 7 Uhr, im Brief vom 28. 9. 1867). So geht die Hochzeitsreise am Ende nach Kiel und am Hochzeitstag wird ganz in der Nähe, in Altona, übernachtet. Glück­lich ist Sophie aber vor allem darüber, dass der Aufbruch in die Ehe nicht zugleich die endgültige Reise nach Braunschweig ist: O, wie froh ­Mutter und ich jetzt sind, dass es bestimmt ist, dass wir zurückkommen werden (Sophie, 29. 9. 1867).

Für die Chronistin und Interpretin bleibt einiges nachzutragen: Am 6. Oktober 1867, einem Sonntag, fand die Hochzeit von Sophie Isler und Otto Magnus statt. Dem Wunsch des Vaters folgend blieb das junge Paar bis zum Abend und feierte fröh­lich mit den Familien und Gästen. Dann brachen Sophie und Otto offiziell zur Hochzeitsreise auf, fuhren aber tatsäch­lich nur ins benachbarte Altona, um erst am nächsten Morgen den Zug zu nehmen. Am 7. und 8. Oktober wohnten sie in Kiel, am 9. in Panker,240 kehrten am 10. nach Kiel zurück und trafen am 11. Oktober, vier Uhr nachmittags wieder „am Damtor“ in Hamburg ein. Wohlwollend gerechnet sind das fünf Tage. Drei Tage s­ päter, am 14. Oktober, schreibt Sophie ihren ersten Brief aus der neuen Heimat Braunschweig. So wurden auf wunderbare Weise alle Wünsche erfüllt: Eine Hochzeitsreise, die beide wollten, fand statt; Ottos Wunsch, so schnell wie mög­lich in seiner schönen Wohnung mit Sophie allein zu sein, realisierte sich bereits acht Tage nach der Hochzeit, und auch Sophies sehn­lichster Wunsch wurde wahr – nach der Hochzeitsreise kehrte sie für fast drei Tage ins Elternhaus zurück. Die lange Briefdebatte hatte sich also gelohnt: Offenheit, Verständnisbereitschaft, Rücksichtnahme, aber auch die klare Benennung dessen, was jedem selbst das Wichtigste war, hatten zu einem Kompromiss geführt, der am Ende alle Seiten froh machte. Damit steht dieser Prozess zur Entscheidungsfindung beispielhaft für die lange und sorgfältige Vorbereitung auf das gemeinsame Leben: Hier wird deut­lich, was für den ganzen Brautbriefwechsel gilt, dass es nicht einfach um eine Heirat geht als Krönung einer Liebe, sondern dass Sophie und Otto an dem „Projekt Ehe“ arbeiten und mit Ausdauer, Wachheit und Sensibilität den Weg in eine dauerhafte Beziehung suchen. Es zeichnet diese beiden jungen Menschen aus, dass sie nicht allein in der Intensität ihrer Beziehung den Garanten für Dauer sehen, sondern in der achtsamen Vorbereitung, die vieles bedenkt, aushandelt und respektvoll akzeptiert, was der oder dem anderen wichtig ist.

240 Das herrschaft­liche Gut Panker liegt nicht weit von Kiel, 2 km süd­lich von Pielsberg, heute in einem Naturschutzgebiet.

Pläne zu einer Hochzeitsreise   |

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DER „KLEINE ADVOK AT “ Wollte ein junger Mann im 19. Jahrhundert heiraten, musste er beim Vater der Erwählten um die Hand der Tochter anhalten und dabei seine Vermögensverhältnisse, seinen Verdienst und eventuelle Karriereaussichten offenlegen. Entscheidend war ja, ob er in der Lage war, eine Familie zu ernähren. So lesen wir das in vielen Romanen. Man verließ sich auch nicht auf das Wort des Bewerbers. Johann Buddenbrook z. B. in Thomas Manns Roman „­Buddenbrooks“ ließ sich die Bücher des Mannes zeigen, der um die Hand seiner Tochter Tony anhielt, und holte bei anderen Geschäftsleuten Informa­tionen über den Bewerber ein. Auch im Adel forschte man dezent nach. Wie viel mehr in jüdischen Kreisen! Die Frage nach den finanziellen Verhältnissen eines jungen Mannes, der heiraten wollte, war also eine existentielle. Bedenkt man Ottos Werbung um Sophie, ist anzunehmen, dass der Bräutigam bei seiner eiligen Reise nach Hamburg am 7. April vor der Verlobung seine Vermögensverhältnisse darlegen musste. Ohne eine s­ olche Offenlegung ist schwer vorstellbar, dass Islers der Verlobung zugestimmt hätten. Oder genügte, dass Otto einem bürger­lichen Beruf mit Aufstiegschancen in Zeiten der Assimila­tion nachging und aus einer vermögenden Familie stammte? Oder hatten Islers über Tanten und Bekannte längst Informa­tionen erhalten? Von all dem erfahren wir in den Briefen nichts. Nur hin und wieder gibt es halb versteckte Fragen. Sprichwört­lich aber scheint im Hause Isler in Bezug auf Otto „der kleine Advokat“ gewesen zu sein, etwa, wenn Otto Spargel nach Hamburg schickte und Islers den unerwarteten Luxus erfreut in Empfang nahmen: Wir schwelgen in Spargel, er schmeckt so schön: Vater fragte heute, ob der in unserer Wirtschaft auch vorkommen würde, oder ob die Verhältnisse eines kleinen Advokaten das nicht erlaubten (Sophie, 21. 6. 1867, im Brief vom 20. 6. 1867). Otto antwortete sofort: Den Papa kannst Du wegen des Spargels beruhigen: unsere Verhältnisse werden uns s­ olche Extravaganz wohl gestatten (Otto, 22. 6. 1867 im Brief vom 20. 6. 1867). In ­diesem kleinen Dialog liegt der ganze „Sprung“, den Sophie finanziell mit ihrer Heirat machte: Das edle und teure Gemüse ist im Hause Isler eine Delikatesse, die man sich eigent­ lich nicht leisten konnte. Deshalb war das Geschenk aus Braunschweig hochwillkommen. In Sophies Haushalt aber wird Spargel zum häufig servierten Genuss, den die junge Ehefrau ihren unterschied­lichen Gästen alljähr­lich vorsetzen wird. Nur – wusste man bei Islers nicht, dass Dr. Otto Magnus gewöhnt war, einen komfortableren Stil zu leben? Ottos Auftreten in Hamburg scheint durchaus bescheiden gewesen zu sein; „Eleganz“ und Selbstbewusstsein der weltoffenen Hamburger schüchterten ihn eher etwas ein. Sein Hang zu Schlichtheit

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und Unauffälligkeit auch in der Kleidung ließ wohl nicht auf Vermögen schließen. Bei den anspruchsvollen Gesprächen konnte er mithalten; er hat sich wohl auch da nicht in den Vordergrund gedrängt. Sah der Großstädter Meyer Isler deshalb in dem Kleinstädter den „kleinen Advokaten“? Hatte Otto selbst sich so vorgestellt? Dass dieser Otto Magnus um seiner selbst willen geliebt werden wollte, und nicht seines Vermögens wegen, wurde in den Briefen an anderer Stelle schon deut­lich, dass er Luxus und Verschwendung ablehnte, auch – Understatement gehörte offensicht­lich zu seinem Auftreten nicht nur in Hamburg. Auch in Braunschweig mit seinen Freunden suchte er einer unter Gleichen zu sein, „kein Spielverderber“, wie er Sophie schrieb. Andererseits: Was Meyer Isler über seinen Schwiegersohn wissen konnte, war in jüdischen Kreisen damals sicher kein Geheimnis. Wir aber müssen in der Geschichte der Residenz Braunschweig und des Herzogtums 100 Jahre bis in den Absolutismus zurückgehen, um zu verstehen, ­welche gesellschaft­liche Stellung dieser Dr. Otto Magnus in Braunschweig hatte, dessen M ­ utter Minna eine geborene Samson war. Der „Hoffaktor“ Herz Samson*, Ottos Urgroßvater, der als Erster diesen Nachnamen trug, gehörte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu den hochgeachteten und bedeutenden Köpfen in der Residenz Braunschweig. Dessen Vater Samson Gumpel* und Großvater Gumpel Moses ben Fulda* waren bereits Hofjuden und sehr vermögend gewesen, hatten aber in Wolfenbüttel gelebt, das zu dieser Zeit noch Residenzstadt war. 1765/6 folgte der 27-jährige Herz Samson* dem Herzog nach Braunschweig, der neuen Residenz,241 und übernahm die Finanzgeschäfte des Herzogtums als eine Art ­Landesbankier, war also nicht wie David Alexander, sein Vorgänger in Braunschweig, für die persön­lichen Wünsche des Herzogs und des Hofes zuständig, sondern für das ganze Land. Er war H ­ offaktor 242 und Berater des Herzogs und galt als verläss­lich und grundehr­lich. Seine weitsichtige Finanzpolitik brachte das total überschuldete Herzogtum innerhalb eines Jahrzehnts wieder in geordnete Bahnen. Seine eigenen Geschäfte, vor allem der Ellenwarenhandel, mehrten ­seinen privaten Reichtum. Aber er war nicht nur ein begnadeter Finanzier und Unternehmer, sondern auch ein gebildeter und frommer Jude: Gelehrsamkeit, gründ­liche Kenntnisse in rabbinischen und talmudischen Wissenschaften und große Frömmigkeit ließen sein Haus zum Zentrum jüdischen Lebens in der Stadt werden. Um ihn scharte sich die Gemeinde und viele allgemeine Einrichtungen verdankten sich seiner Freigebigkeit. Aber auch die Verbindungen zu Wolfenbüttel und den dortigen Familienmitgliedern blieben eng, wie es sich für den frommen Juden gehört. Als Herz Samson* 1794 starb, gab sein in Wolfenbüttel lebender Bruder Philipp S­ amson* das gemeinsame Vermögen mit einer Million Reichstaler an – eine ungeheure Summe! Diese reichen Samson-­Brüder sind beide Otto Magnus’ Urgroßväter, weil auch bei Samsons oft

241 Seit 1753/4. 242 Hier wohl Kreditvermittler (der Titel bedeutete auch: Münzhersteller, Hof- und Heereslieferant an absolutistischen Höfen).

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in der Familie geheiratet wurde: Herz Samsons Sohn Isaac heiratete die Tochter P ­ hilipp Samsons, seine Kusine Sarah. Das sind Minna Samsons Eltern, also Ottos Großeltern mütter­licherseits. Unter den zahlreichen Nachkommen der beiden Samson-­Brüder gab es zwar kein Finanz­genie mehr, aber Vermögen war noch immer vorhanden und auch der Ruf, vermögend zu sein und etwas in der Stadt zu gelten. Denn das Ansehen Herz ­Samsons* war außerordent­lich hoch, in jüdischen, aber auch in christ­lichen Kreisen. Otto Magnus gehörte demnach von der mütter­lichen Linie her zu einer Art altjüdischem Adel in Braunschweig.243 Konnten Islers das wissen? Meyer zumindest waren sowohl der Name Herz Samson wie auch dessen Vermögen, Großzügigkeit und Gelehrsamkeit bekannt. Denn Isaac Herz S­ amson, Ottos Großvater, hatte in Wolfenbüttel die „Samsonsche Freischule“244 gegründet und 1807 Samuel Meyer Ehrenberg*, ein „Patenkind“245 seines Vaters Herz Samson*, zum Leiter gemacht. In Wolfen­büttel finden wir auch Meyer Isler immer wieder. War doch ­Ehrenberg sein Onkel – Meyers ­Mutter Jettchen* war Samuel Meyer Ehrenbergs Schwester – und Ehrenbergs Sohn ­Philipp* und gegenwärtiger Leiter der Schule war Meyers Cousin. Mit ihm hatte sich Meyer während seiner Promo­tionszeit in Berlin die Wohnung geteilt. Nach wie vor war die verwandtschaft­ liche Verbindung zu Ehrenbergs in Wolfenbüttel und Braunschweig, wo der älteste Ehrenberg-­ Sohn Moritz* als Musiklehrer lebte, eng und vertraut. Dieser Zweig der Verwandtschaft wusste sehr wohl, wer Samsons waren, und auch, wer Otto Magnus ist. Gehörte er doch zu der vermögenden und einflussreichen Familie, die das Sagen über die Wolfenbütteler Schule hatte. Wenn das bei Ehrenbergs bekannt war, wussten das auch Islers in Hamburg. Moritz Ehrenberg in Braunschweig jedenfalls reagierte auf die Frage, ob er sich nicht freue, wenn die Tochter seines Cousins nach Braunschweig heirate, ziem­lich patzig: Was habe ich davon, wenn ich sie nicht öfter sehe als das vorige Mal? (Otto, 2. 5. 1867). Und Emma vermutete wohl zu Recht h ­ inter dieser „Patzigkeit“ die Sorge, dass sich Sophie womög­lich der schlichteren ehrenbergschen Verwandtschaft schämen könnte und nicht mit ihr verkehren würde. Zurück zu Ottos Herkunft: Auch väter­licherseits stammte der junge Advokat aus einer sehr angesehenen, wenn auch nicht vermögenden Familie. Der Militärarzt Dr. Salomon/ Samuel Magnus – eine ungewöhn­liche Karriere für einen jüdischen Arzt –, Ottos hochgeschätzter Großvater, wurde 1801 in die Klubs in Braunschweig aufgenommen und war damit

243 Siehe auch den Auszug aus dem „Stammbaum der Familie Samson“ im Anhang, die Angaben zur Familiengeschichte der Samsons stützen sich überwiegend auf: Ebeling, 1987. 244 1806 schlossen Isaac Herz Samson und sein Schwager Israel Jacobsohn die beiden Talmudschulen in Wolfenbüttel und gründeten eine moderne Anstalt, die Samsonsche Freischule (siehe Anm. 2). In: Samuel Meyer Ehrenberg, Lebensbeschreibung, Schreibmaschinenmanuskript, S. 50. 245 „Ich erblickte das erste Tages­licht in Braunschweig […] an einem Sabbath […]. Mein Vater erzählte mir oft, dass ihm die Anzeige davon gegeben worden sei, als ihn der Kammeragent Herz Samson zur Thora aufrufen liess. […] worauf mein Vater ihn mein Gevatter zu werden aufforderte, und als er einwilligte […].“ Ebd., S. 1 f.

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der zweite Jude 246, dem das gelang. Das hatte weitreichende Folgen: Es ermög­lichte dem jüdischen Arzt die Integra­tion in die Braunschweiger christ­liche Gesellschaft. Aber er starb so früh, dass seine Frau Bella*, Ottos Großmutter väter­licherseits, durch Altkleiderhandel 247 die Familie durchbringen und das Studium ihres Sohnes finanzieren musste. Der besuchte das renommierte Collegium Carolinum in Braunschweig 248 und studierte Medizin. Der Arzt Dr. Julius Magnus* (1804 – 1882), Ottos Vater, stammte also aus einer bekannten Arztfamilie; er nutzte selbstverständ­lich das Privileg, Klubmitglied in Braunschweig werden zu dürfen und Otto tat es ihm nach.249 Beide richteten ihren Bekanntenkreis danach aus, hatten also viele christ­liche Bekannte. Doch – entgegen aller Integra­tionstendenzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – als Dr. Julius Magnus* 1876, längst im Ruhestand, in Braunschweig um die Verleihung des Titels „Sanitätsrat“ nachsuchte, erhielt er eine Absage.250 Vermögend wurde Dr. Magnus* senior erst durch die Heirat mit Minna Samson. ­Beider Haushalt hatte einen deut­lich großzügigeren Zuschnitt als der islersche in Hamburg: Natür­ lich gab es nicht nur ein Hausmädchen, sondern mehrere Bedienstete, Minna Magnus* beschäftigte eine Köchin, Dienstmädchen und eine Gesellschafterin bzw. Hausdame; Pferd und Wagen samt Kutscher waren vorhanden und wurden sehr selbstverständ­lich genutzt.251 Reisen, nur zum Vergnügen, und Ferienaufenthalte gehörten zum Lebensstandard. Man lebte von den Zinsen eines Vermögens – wie übrigens die meisten Braunschweiger Verwandten und jüdischen Freunde. An ­diesem Vermögen hatte auch Otto seinen Anteil. Was er davon den Schwiegereltern münd­lich mitgeteilt hat, geht aus den Briefen nicht hervor. Selbstverständ­lich wurde ein Ehevertrag geschlossen, aber davon ist erst unmittelbar vor der Hochzeit die Rede: Ehe ich weiter gehe, muss ich erst meinen Auftrag von Vater ausrichten: Du möchtest ihm die bestimmungen des Braunschwei­gischen Rechtes wegen des Ehecontractes, die Du ihm einmal münd­lich gesagt hast auf einem besonderen Zettel aufschreiben. Vater hat mit Dr. Wolffson* darüber gesprochen, aber er kennt die dortigen 246 1799 wurde Israel Jacobson*, Hoffaktor, als erster Jude in die Clubs aufgenommen. Ebeling, 1987, S. 374. 247 Ebd., S. 335. 248 „Das Collegium Carolinum besuchten vor 1848 neun Juden, die aus der Stadt Braunschweig stammten: […] 1822 folgte der Arztsohn Jacob Magnus (1804 – 1882), der auch Arzt wurde.“ Ebd., S. 355. 249 „Es war anscheinend weniger von der Konfession abhängig, ob man ‚dazugehörte‘ oder nicht, sondern ob die Familie seit Genera­tionen in Braunschweig gelebt und es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Männer der Braunschweiger Hautevolee begegneten sich vor 1918 im ‚Montagsclub‘, der ‚Gartengesellschaft 1831‘, dem ‚Kunstclub‘, dem ‚Bürgerverein von 1831‘ und dem ‚Vaterländischen Verein 1848‘. Ganz selbstverständ­lich gehörten Mitglieder der angesehenen jüdischen Familien Helfft, Aronheim, Hertz, Samson, Heymann, Hilzheimer, Jüdel und Magnus dazu.“ Bein, Ewiges Haus, ­Jüdische Friedhöfe in Stadt und Land Braunschweig, 2004, S. 45. 250 Ebeling, 1987, S. 451 (FN 422 zu Kapitel V). 251 So schreibt Otto während der Abwesenheit seines Vaters an Sophie: „Heute Abend muss ich, damit vater’s Pferde Bewegung haben spazieren fahren. Wie schade, dass Du nicht hier bist und mit mir fahren kannst“ (Otto, 20. 6. 1867).

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bestimmungen auch nicht….. (Sophie, 22. 9. 1867, morgens, 7 Uhr). Dieser „besondere Zettel“ liegt dem Briefwechsel leider nicht mehr bei und vom Ehevertrag ist danach nicht mehr die Rede, sodass sich nicht sagen lässt, ob er besondere Festlegungen, speziell finanzielle Fragen, enthielt, etwa Sophies Mitgift betreffend, oder sich einfach an das gängige Recht hielt.252 Das junge Paar jedenfalls gab sich insgesamt bescheiden, wenn etwa Sophie nach den Braunschweiger (Pfingst-)Einkäufen schreibt: Lieber Otto, was kostet es aber alles für ein Heidengeld! Sag einmal selber, sind wir zwei kleine, lumpige Personen soviel werth? (Sophie, 18. 6. 1867). Oder wenn Sophie davon berichtet, dass sie mit Onkel Ferdinand* im besten Keller auf dem Jungfernstieg „Beefsteak mit Hindernissen“ gegessen habe, bei dem zum ordinären Beefsteak Austern, Hummer und sonstige ins Aquarium gehörigen Sachen (Sophie, ohne Datum, Ende Mai 1867) serviert wurden, in einem folgenden Brief aber Otto verheißt, dass ich die Dir nicht machen werde, weil es viel zu luxeriös für unsere Verhältnisse ist, höchstens bekommst Du einmal Spiegelei darauf, wenn Du das magst (Sophie, 30. 5. 1867). Auch von Otto gibt es Äußerungen zu den „kleinen Verhältnissen“, in denen das junge Paar leben wird: […] bei einem besuch bei Geheimrat Zimmermann 253 war ich überrascht von der Einfachheit der Zimmereinrichtungen, und ich schämte mich vor mir selbst, dass wir uns so viel eleganter einrichten, als einer unserer höchsten Staatsbeamten. Das ist der ­jüdische Luxus zu dem wir in unseren kleinen Verhältnissen eigent­lich garkeine berechtigung haben (Otto, 16. 9. 1867). Das alles klingt von der Selbsteinschätzung her nicht nach erwartetem Wohlstand, aber merkwürdig bleibt die Sprachlosigkeit über die pekuniären Verhältnisse schon. Erst nach der Hochzeit wird das Bild deut­licher. Ganz allmäh­lich sickert in Sophies Briefen an die Eltern durch, wie die Situa­tion einzuschätzen ist: Sonnabend Abend habe ich mit Ottos Hilfe mein Wirtschaftsbuch 254 angefangen; es wollte nicht gleich stimmen, aber das fehlende Geld fand sich glück­licherweise in natura vor. Otto wünscht, dass ich nur ein Buch führe, er meint es wäre viel leichter zu übersehen und es liesse sich am Ende des Jahres ebenso leicht ein Auszug machen, wie wenn man verschiedene Bücher hat. Ferner schlägt er vor, nur das anzuschreiben was ich Dorette im Ganzen gebe – sie bekommt 1 th. Vorschuss […]. (Sophie, 21. 10. 1867). Emma antwortete unverzüg­lich und war – wie zu e­ rwarten – nicht

252 Der „normale“ jüdische Ehevertrag „Ketoba“ wurde auf aramäisch, der Sprache des Talmud, verfasst und regelte verbind­lich Abmachungen im Falle einer Scheidung oder im Falle des Todes des Mannes; im Reformjudentum Hamburgs benutzte man die hebräische Sprache. 253 Christian Friedrich Zimmermann (1805 – 1878), Wirk­licher Geheimrat von 1868 – 1876. 254 Ein „Buch“ zu führen, gehörte zu den Selbstverständ­lichkeiten einer bürger­lichen Hausfrau. Hier wurden sorgfältig alle Ausgaben, aber auch eventuelle Einnahmen, Außenstände und Vorleistungen notiert, um Überblick über die finanzielle Situa­tion des Haushalts zu behalten und gegebenenfalls dem Ehemann gegenüber Rechenschaft abzulegen. Nach anfäng­lichen Schwierigkeiten sollte Sophie sich zu einer wahren Finanzfrau entwickeln, die nicht nur die familiären Finanzen im Blick hatte, ­sondern auch die Finanzen verschiedener Vereine verantwortete.

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einverstanden: Dass Du kein detailliertes Wirtschaftsbuch führst finde ich nicht recht, weil Dir der Haushalt neu und [in] der fremde[n] Stadt alle Ausgaben ungewohnt sind. Durch Aufschreiben werden Dir die Preise geläufig und Du würdest bei einer etwaigen Übervorteilung viel leichter stutzig werden, als beim blossen Übersehen eines Buches. Ich bin von dem ganzen Auslegesystem nicht sehr erbaut und kämpfe es mir Fern zu halten, Das Mädchen bleibt [nicht] eine blosse Maschine die die angeordneten Ausgaben macht, sondern sie verfügt selbst was unvermeid­lich den Haushalt verteuert (Emma, 22. 10. 1867, 11 Uhr, im Brief vom Montag, 1/2 1 Uhr, [1867]).

Hier spricht eine Hausfrau, die seit ihrer Verheiratung mit ihrer Buchführung oft genug auf Kriegsfuß stand, aber doch die Erfahrung weitergeben konnte, dass Genauigkeit und Kontrolle wichtig wären, sollten einem die Ausgaben nicht davonlaufen. Sophie sollte dem mütter­lichen Rat folgen, denn die Sorge um eine sparsame Haushaltsführung war ihr von Hamburg her selbstverständ­lich. Kurz darauf meldete sie in einem Brief: 5 Uhr. Lange Zeit ist vergangen, wir haben kaffee getrunken und dann musste ich mein Buch in ordnung machen, weil otto nachher ausgeht und ich das ohne ihn nicht kann. Es stimmt köst­lich. Dann haben wir eine Privatkasse für mich eingerichtet, in die ich 20 [Taler?] bekommen habe. Sehr fein, nicht? (Sophie, 4. 11. 1867). Dass Sophie neben dem Haushaltsgeld über privates Geld verfügen durfte, war eine wichtige Neuerung, die sie unabhängiger machte. Es war aber auch ein Hinweis darauf, dass Otto Geld zur freien Verfügung bereitstellen konnte. Auch die sich in dieser Zeit häufenden Einladungen, die das junge Paar in Braunschweig gab, sind aussagekräftig, denn bei allen diesen Gesellschaften wurde sehr gut und vielseitig gegessen und getrunken. Auch wenn die Speisen nicht aus dem Rahmen fielen, bedeutete allein die Zahl der Einladungen, dass im Hause Magnus junior kein finanzieller Engpass herrschte. Einen Monat nach der Hochzeit hatte Sophie die finanzielle Lage begriffen, in die sie durch die Heirat gekommen war: 5 Uhr. Mit Doppelfenster und Doppel­licht. Es ist sehr behag­lich. Ich schwankte, ob ich für mich allein die Gasflamme anstecken sollte, überlegte mir aber, dass es gerade wenn ich allein bin vollkommen behag­lich sein müsste und tat es. Die Mittel sind ja vorhanden! Habe ich eigent­lich schon mal geschrieben, dass ich wirk­lich in sehr guten und bequemen Verhältnissen lebe[?] Du brauchst nicht bange zu werden liebe Ma, dass ich eine Verschwenderin werde[n] will, das ist nicht meine Absicht… […] (Sophie, 9. 11. 1867, 4 Uhr). Mit anderen Worten: Sophie hatte Petroleumlampe und Gas­licht an, saß also in einer wahren Lichtflut, während sich Otto im Klub aufhielt – eine Verschwendung, die sie als s­olche empfand und gleich der M ­ utter gegenüber entschuldigen musste. Viel ­wichtiger aber sind die folgenden Sätze, die deut­lich machen: Geld ist genug da! Sophie kann bis zur Übersiedlung nach Braunschweig diese Veränderung ihres Lebens nicht realisiert haben und von den Eltern wurde sie darauf auch sicht­lich nicht vorbereitet. Noch Emmas Drängen, die Buchführung genau zu machen, damit sich der Haushalt nicht unter der Hand verteuere, zeigte, dass auch Islers nicht wirk­lich gewusst haben, über ­welche Mittel der „kleine Advokat“ verfügte. Der „kleine Advokat“  

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Endgültig wurden die Eltern Isler über Ottos finanzielle Lage durch seine „Inventur“ informiert, die er ihnen von nun an jedes Jahr unterbreiten sollte. Am 3. Januar 1868 schrieb Otto einen ­kurzen Brief nach Hamburg: Liebe Eltern! Mit Ausnahme der fixen Einnahmen hat meine Praxis im Jahre 1867 eingebracht circa 900 ss (200 ss mehr als in 1866). Dazu kommen jähr­liche Einnahmen: Honorar von Gebr. Helfft Von Jeanette Helfft Rente von Vater Zinsen etc mindestens Summe

100 500 500 800 2.800

Also ein[e] für hiesige verhältnisse reich­liche Einnahme. Hoffent­lich wird die Praxis immer bessere Resultate liefern. Euer Sohn (Otto, 3. 1. 1868) Ottos Aufstellung machte deut­lich, dass die Summe, die er von den Verwandten Helfft und vom Vater erhielt, das in der Praxis Erarbeitete überstieg. Die Zinsen, die aus seinem eigenen Vermögen jähr­lich dazukamen, ergaben noch einmal fast so viel, wie er mit seiner Tätigkeit verdient hatte. Selbst Otto sprach mit Blick auf die ganze Summe hier einmal befriedigt von einer „reich­lichen Einnahme“. Meyer Isler, der immer nur sonntags schreiben konnte, antwortete auf diesen Brief erst nach über einer Woche und, wie es scheint, immer noch überrascht: Dein jahresschluss, lieber otto, hat mich sehr erfreut, um so mehr, da ich bisher von diesen verhältnissen nichts genaues wusste. Nur glaube ich, dass Du Deiner juristischen praxis Unrecht tust, indem Du die Einnahmen von Gebr. und Tante Jeanette Helfft* darin anrechnest, die doch gewiss zum grössten Teil Deiner eigenschaft als Advocat zukommen, wenn vielleicht das persön­liche Verhältnis es etwas günstiger gestellt hat als es bei einem Anderen sein würde. Meine[r] Meinung ist diese Einnahme so gut [wie] durch die Praxis erworben (Meyer, 12. 1. 1868). Damit zeigt sich nun doch, dass Otto in Hamburg wohl nur von den Einnahmen aus der Praxis gesprochen und, wenn überhaupt, eher pauschal auf seine „Nebeneinkünfte“ verwiesen hatte.255 Deshalb war bei Islers der Eindruck entstanden, dass „der kleine Advokat“ 255 Bei seiner eigenen Tochter Helene sollte Otto sehr genau nachhaken, ob der Künstler (und Ostjude!) Lilien über Rücklagen und sichere Einkünfte verfügte, ja, er verlangte sogar Sicherheiten durch Dritte, die Lilien vorlegen sollte. Dessen Antwort an Helene war voller Empörung: „Hätte unser Vater bei mir über meine pekuniären Verhältnisse angefragt, so hätte ich geantwortet: Meine pekuniären Verhältnisse sind von den Geistigen nicht zu trennen, denn mein Kapital ist mein Gehirn. Vor 7 Jahren hatte

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gerade eben seine Frau ernähren könnte wie etwa akademisch gebildete Beamte auch – so häufig war während der Brautzeit davon die Rede, dass die Praxis sehr unregelmäßig liefe, und von Ottos aufflammender Panik bei Stillstand, dass die Leserin schon fürchtete, es könne finanziell eng werden. Von anderen Absicherungen erfuhr man in ­diesem Zusammenhang nichts. Das Vermögen im Hintergrund aber hätte es dem jungen Paar fast schon erlaubt, von den Zinsen zu leben, wenn Verwandte und Vater bei ihren Zahlungen geblieben wären. Ein solches bequemes Leben hätte aber weder zu Otto noch zu Sophie gepasst: Die Praxis sollte laufen, der Verdienst sollte mög­lichst jähr­lich steigen und das Vermögen wachsen. Verfolgt man die Vermehrung der Rücklagen trotz steigender Kosten für neue, größere Wohnungen und mehr Personal, kann man nur staunen. Vergegenwärtigt man sich dann allerdings, dass ­dieses Wachstum in die Jahre nach der Reichsgründung fällt, liegt auf der Hand, dass der Hype der Gründerjahre auch an Braunschweig nicht spurlos vorbeiging. Otto scheint außerdem klug spekuliert zu haben, weil sein Vermögen von gelegent­lichen Krisen, die etwa die reiche Tante Jeanette Helfft* und andere Verwandte trafen, verschont blieb. Später werden Sophie und Otto bauen 256 und 1887 in ihr eigenes Haus einziehen – eine sehr gediegene Villa. Noch heute trägt das Eisengitter im Eingangsbereich die Initialen SM und OM und erinnert damit an die Erbauer und ehemaligen Eigentümer. Dass das mög­lich wurde, war dem Fleiß und Einsatz beider Eheleute zu verdanken. Auch innerfamiliär machte Otto Karriere: Kaum verheiratet rückte er noch 1867/8 in der samsonschen Stiftung in den dreiköpfigen Vorstand auf, nachdem er schon vorher Einfluss auf die Wolfenbütteler Schule genommen hatte.257 Sophie berichtet von einem Brief in dem Otto zum Administrator des Samsonschen Legatenfonds an Stelle seines Onkel ­Heinrich Samson erwählt wird, etwas wovor er sich schon lange gefürchtet, da es sehr viel Arbeit und durchaus sonst nichts einbringt, wenigstens nur in besonderen Fällen, da die bisherige Administra­tion lauter reiche und ältere Leute waren, die von Anfang an auf alles ­verzichteten. Das ist nun aber für einen jungen Anfänger unangenehm, vielleicht sind die anderen so liebenswürdig und sehen das ein (Sophie, 8. 11. 1867).

ich nichts. […] Heute habe ich […] einen bekannten Namen […]. Wenn Sie, Herr Justizrat, Gutes über mich hören wollen, so fragen sie bei meinesgleichen an, bei Leuten von Kunst und Wissenschaft. […]“ (9. 5. 1906). In: E. M. Lilien, Briefe an seine Frau, 1985, S. 83. 256 1886 meldet Sophie wie alljähr­lich im Januar den Vermögensstand nach Hamburg und Emma dankt für „die Mitteilung des sehr erfreu­lichen Abschlusses: Wenn Onkel Moritz von Dir spricht, sagt er immer Du wärest eine reiche frau“ (Emma, 14. 1. 1886). Kurz danach beginnen die Planungen für den Hausbau. 257 Die Mitglieder des Legatenfonds vertraten die Familien Cohen, Jacobson und Samson: 1868 waren das Dr. Hermann Cohen, Hannover, Gotthelf Jacobson, Hannover, und Dr. Otto Magnus, Braunschweig.

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Abb. 13  Initialen der Eheleute im Eisengitter der Eingangstür des eigenen Hauses in Braunschweig, gebaut 1887

Außerdem gab es beruf­lich 1868 eine Verbesserung: Otto erhielt eine freigewordene Stelle 258 und wurde nun als Anwalt vereidigt; er durfte end­lich selbständig vor Gericht agieren: Heute war Otto in Wolfenbüttel um seinen Eid als Anwalt zu leisten vor der Anwaltskammer, mit der er fast vollzählig im [Eisenbahn-]Coupé zusammen war, sodass Sophie meinte, er hätte ja gleich da schwören können; es muss aber feier­lich geschehen und kostet dann 10 Thaler (Emma, 21. 11. 1868). Als Otto ­später aber Notar werden wollte, stand ihm jahrzehntelang sein Judentum im Wege. Er war damit kein Sonderfall. Vielmehr wurde das Notariat mit seinen sicheren Einnahmen sehr bewusst jüdischen Anwälten im Herzogtum Braunschweig vorenthalten.259 In Ottos Personalakte finden sich über Jahre immer neue Anträge, Schriftsätze und

258 In den meisten deutschen Staaten war die Zahl der bei Gericht zugelassenen Anwälte begrenzt, für die Anerkennung seiner Schriftsätze vor Gericht bedurfte ein Advokat eines „Connaisseurs“. 1878, nach der Reichsgründung, regelte die Rechtsanwaltsordnung die Verhältnisse der Anwälte im Reich einheit­lich. Meyers Konversa­tionslexikon, 6. Auflage, Bd. 16, 1907, S. 663. 259 Die Argumenta­tion war rein formalistisch: 1. Ein Jude könne einem Christen keinen Eid abnehmen (allerdings nahmen Notare üb­licherweise gar keinen Eid ab), 2. ein Jude könne seinen Klienten wegen abweichender Feiertage nicht jederzeit zur Verfügung stehen. Ebeling, Juden in Braunschweig, 1987, S. 298 und S. 336. Falsch ist die Aussage bei Ebeling: „Nachdem 1879 als erster Jude Otto Magnus zum Notar ernannt worden war […]“, S. 298.

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Briefwechsel mit anderen Notaren zu ­diesem Problem.260 Die Verweigerung hatte Sophie und Otto stark getroffen und am Fortschritt in der Assimila­tionsfrage zweifeln lassen, noch 1887 riet Meyer Isler zu Geduld.261 Trotzdem wandte sich Otto an das Reichsjustizamt. Doch das lehnte eine Einmischung ab; die Notariatszulassung blieb eine Sache der Landesregierungen. Victor Heymann*, ebenfalls Jude, der nach Otto an der Reihe gewesen wäre, wandte sich mit einer Eingabe sogar an den Kaiser, wurde aber ebenfalls abschlägig beschieden.262 Erst 1908, nachdem mit Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg* ein neuer Regent eingesetzt worden war, teilte dieser 263 Heymann* das Notariat zu, Otto Magnus aber hatte seine Anwaltspraxis im Jahr zuvor – er war inzwischen über siebzig Jahre alt – geschlossen, ohne das Notariat erreicht zu haben.264 Justizrat allerdings war Otto inzwischen geworden, wie aus den Brautbriefen seiner Tochter Helene 1906 hervorgeht. Doch das war bloß ein Titel, er steigerte das Ansehen, nicht die Einnahmen. Zurück in das Jahr 1868: Die Mitteilung Ottos über seine Vermögensverhältnisse wirkte bei den Hamburger Eltern nach. Anfang April reiste Meyer zum ersten Mal nach Braunschweig und blieb sechs Tage. In dieser Zeit oder Ende April – Meyer war längst wieder in Hamburg – muss es eine Anfrage Meyers gegeben haben, auf die Otto nun antwortete: Es ging um Sophies Versorgung im Fall von Ottos Tod. Nicht aus Mangel sondern aus Überfluss an Zeit habe ich so lange nicht geschrieben. Die Praxis steht so vollständig still, dass ich deshalb ganz misvergnügt bin und deshalb auch nicht schreiben mochte. Das Wichtigste was ich Euch mitzuteilen habe ist die Erklärung auf vaters Anfrage, ob ich mein Leben versichern wolle. – Ich hatte hieran bisher niemals gedacht, weil ich es für selbstverständ­ lich hielt, dass auch nach meinem Tode meine Eltern unter allen Umständen für Sophie sorgen würden, aber ich bin mit Euch der Ansicht, dass man sich damit nicht beruhigen darf, sondern dass etwas bestimmtes feststehen muss. Ich habe mit meinen Eltern darüber gesprochen und beide waren sofort bereit, in kündiger [bündiger?] Weise für sich und ihre Erben die Verpflichtung zu übernehmen, dass auch nach meinem Tode Sophie eine lebensläng­liche Jahresrente von 500 B 265 ausgezahlt werden soll. Ich glaube dass damit in

260 Personalakte Dr. Otto Magnus im Staatsarchiv Wolfenbüttel, Niedersäch­sisches Landesarchiv. 261 In den Briefen bis 1887 ist von vergeb­lichen Bemühungen Ottos die Rede; 1888 endet der Briefwechsel mit Meyer Islers Tod. Im Braunschweiger Adressbuch wird Otto bis 1907 nur als Oberadvocat-­Anwalt und Justizrat geführt, nicht als Notar! Ab 1908 fehlt sein Name unter den Anwälten, er wird nur noch als Privatmann genannt. 262 Ebeling, S. 298. 263 Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg erhielt Anfang Juni 1907 die Regentschaft nach Bundesratsbeschluss zugesprochen. 264 Auch bei Bein, Ewiges Haus, 2004, S. 230, ist die Angabe falsch, Otto Magnus habe 1908 das Notariat erhalten. 265 Das B ist offenbar ein Fehler beim Übertragen aus der Kurrentschrift: dort als ß = Schilling, sonst als sh oder ss im Text.

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genügender Weise für Sophies Zukunft gesorgt ist, da ihre Mitgift über 600 B jähr­lich einbringt, Onkel Heiner Samson’s Hochzeitsgeschenk eine Rente von 200 B abwirft und ich ausserdem noch über 1500 B Vermögen besitze, welches sich doch hoffent­lich immer noch vermehren wird. Die von den Eltern zugesagte Rentenzuführung soll in nächster Zeit gericht­lich erläutert werden. Unter diesen Umständen scheint es mir nicht vernünftig zu sein eine Lebensversicherung zu nehmen, die, wenn sie irgend bedeutend sein sollte viel Geld kosten würde (Otto, 28. 4. 1868). Ottos Antwort und die großzügige Absicherung, die Sophie zuteilwerden sollte, machen noch einmal deut­lich, wie außerordent­lich sich ihre Situa­tion durch die Hochzeit mit dem Samson-­Nachkommen verändert hatte. Wir erfahren, dass die Eltern Isler (und vermut­ lich die vermögenden Onkel) Sophie mit einer Mitgift ausgestattet hatten, die jähr­lich eine beträcht­liche Summe abwarf. Aus dem samsonschen Vermögen sollte diese Summe nun mehr als verdoppelt werden: Die Zahlung, die Otto aus dem elter­lichen Vermögen jähr­lich erhielt, sollte nach seinem Tod in voller Höhe auf Sophie übergehen, angereichert durch eine weitere Summe aus dem samsonschen Vermögen, die Onkel Heinrich Samson aus Berlin, der älteste Bruder von Ottos M ­ utter, dem Hochzeitspaar geschenkt hatte. Am Ende wären noch die Zinsen aus Ottos angespartem Vermögen dazugekommen, das z. Z. 1500 Schilling betrug. Sophie wäre also eine recht begüterte Witwe gewesen. Als sie den „kleinen Advokaten“ heiratete, hatten weder sie noch die Eltern mit solch einer finanziellen Sicherheit gerechnet. Meyer Islers Antwort fiel dementsprechend aus: Ich danke Dir, lieber Otto, für Deine Mitteilung auf meine Anfrage und bitte Dich, Deinen Eltern meinen innigsten dank für ihre freund­liche Gesinnung für Sophie zu sagen. Es ist natür­lich viel besser als eine Lebensversicherung […] (Meyer, 3. 5. 1868, 6 Uhr). Der „kleine Advokat“ war also in Wahrheit ein recht vermögender junger Mann, der allerdings nicht sorglos, sondern eher sparsam mit dem Geld umging,266 aber im Vergleich zu Islers ganz entschieden großzügiger zu leben gewohnt war. Dass die finanzielle Sicherheit aber auch noch andere Folgen hatte, schrieb Sophie schon bald an die Eltern: […] ich sehe jetzt erst, wie wenig Papchen durch seine übermässige Beschäftigung eigent­lich von seinem Leben hat, und wie sehr das Familienleben darunter leidet. Was finge ich jetzt an, wenn Otto auch so viel zu tun hätte und sich so wenig um mich kümmern könnte? Wie schreck­lich muss das für eine Fremde sein, die einen beschäftigten Hamburger heiratet! (Sophie, 8. 11. 1867). Ganz naiv ordnete Sophie die „übermässige“ Tätigkeit den Hamburgern zu, weil sie wohl nicht nur im Elternhaus tagsüber hochbeschäftigte Ehemänner kennengelernt hatte, in Braunschweig dergleichen bisher aber nicht beobachten konnte. Was sie

266 Trotz des wachsenden Vermögens blieb Otto immer sorgenvoll: dass die Praxis nicht mehr laufen könnte – es gab flaue Zeiten – und dass die Ausgaben die Einnahmen übersteigen könnten. Sophie berichtete den Eltern eher mit einem Augenzwinkern davon. Je mehr sie die Finanzen überblickte, desto weniger teilte sie Ottos Sorge: in finanzielle Schwierigkeiten kamen die beiden nie.

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nicht sah: Ohne Meyer Islers vielerlei Tätigkeiten wäre der Lebensstandard im Elternhaus nicht zu halten gewesen. Dass Otto einfach nicht so viel arbeiten musste, weil sein und seiner jungen Frau Leben grundsätz­lich finanziell bereits gesichert war, und zwar unabhängig davon, ob die Praxis lief oder nicht, war Sophie noch nicht aufgefallen. Ganz allmäh­lich sollte sie begreifen, dass sie in Braunschweig von Menschen umgeben war, die einen viel gelasseneren Tagesablauf lebten als der eigene Vater, der Zeit seines Lebens für den Erwerb (Meyer, 10. 11. 1867) arbeiten musste und sich darüber hinaus einer geradezu protestantischen Pflichtethik unterwarf. In christ­lichen bürger­lichen Kreisen hätte man wahrschein­lich von sozialen Unterschieden der Brautleute gesprochen, nicht so im Judentum. Zwar stand der islersche Gelehrtenhaushalt mit seinen schmalen Einkünften eher an der unteren Grenze des Bürgertums, aber ihn erhöhten die Gelehrsamkeit Meyer Islers und die Bedeutung seiner Frau. Die hohe A ­ chtung, die beiden entgegengebracht wurde, war jüdische Tradi­tion. Bildung und Gelehrsamkeit hoben Islers auf eine Stufe mit ihren vermögenden Freunden in Hamburg und stellten Sophie gleich mit dem vermögenden Otto. Seine Familie war sozial im oberen Spektrum des Bürgertums anzusiedeln, gab sich aber bescheiden und unauffällig. Magnussens betonten das Private und lebten einen eher schlichtbürger­lichen Zuschnitt. Insofern fiel auch den Brautleuten kein Unterschied auf. Spielte die Frage sozialer Ungleichheit im aufsteigenden Judentum dieser Jahre keine große Rolle, weil sich die jüdischen Familien im Prozess der Verbürger­lichung ganz neu sortieren und platzieren mussten, während für christ­liche Bürger die Standortsuche mit dem sich auflösenden Ständestaat zu tun hatte und es um Sicherung tradi­tioneller Räume, um neue Anerkennung und Machtposi­tionen ging? Fest steht, dass im Judentum andere Maßstäbe galten: Gelehrsamkeit wog hier gleich viel wie Vermögen. Ein Gelehrtenhaushalt war also auf jeden Fall hoch angesehen, wie viel mehr dann, wenn auch Frau und Tochter des Gelehrten ein hohes Bildungsniveau erreicht hatten. Für die Frauen allerdings handelte es sich meist nur um einen geliehenen Glanz, der mit dem Tod des Gelehrten erlosch. Dessen war sich Emma Isler bewusst, wenn sie Sophie schrieb, wie sie eine junge Frau tröstete, die sich über den Bedeutungsverlust nach dem Tod ihres Vaters beklagte: […] wir Frauen und Töchter von Gelehrten teilten mit ihnen: sie hätten das Wissen und wir den Hochmut darauf, da müsste man wohl s­ päter lernen, dass es blos ein Abglanz gewesen ist, der er­lischt (Emma, 1. 1. 1874).

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DER „ROTE“ LEHRER Was unterschied Otto Magnus sonst von Islers? Da war vor allen Dingen ein Vorfall in der Samsonschule, der Unterschiede deut­lich machte. Ganz unvermittelt und mitten im Brief berichtete Otto an Sophie: Bevor ich zu Bett ging, schrieb ich an Gotthelf Jacobsen um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass ein als Lehrer angestellter an der Samson Schule als Führer Lassaleaner auftritt und mit Wort und Schrift communistische Lehren verbreitet. Ich fühlte dies für meine Pflicht, da ein solcher Mensch als Lehrer sehr verderb­lich wirken kann (Otto, 19. 8. 1867, morgens, 6 Uhr). Gotthelf Jacobson* war einer der drei Administratoren des Samsonschen Legatenfonds, dem auch Otto ­später angehören sollte, nachdem er an die Stelle seines Onkels Heinrich Samson getreten war.267 Leiter der Schule war Dr. Philipp Ehrenberg*, Meyer Islers Cousin. Auffallend ist, dass Otto sich mit seiner Frage nach dem denunzierten Lehrer nicht an den Direktor der Schule wendete und erst einmal sondierte, ob und was man dort über ihn wusste. Er wandte sich stattdessen an die übergeordnete Stelle, in der zugleich die Geldgeber der Schule saßen. Die hatten allerdings mit der Verpflichtung von Lehrern an die Schule gar nichts zu tun. Dachte Otto nur obrigkeitsstaat­lich und erwartete von „ganz oben“ ein härteres Durchgreifen? Oder wollte er Einfluss auf die Geldbewilliger nehmen, weil sie seiner Meinung nach auch bestimmen durften, wer, was und wie an der Samsonschule gelehrt wurde? Sollten sie am Geldhahn drehen? Dass er Einfluss nehmen wollte, steht außer Frage. In Hamburg kam Ottos Initiative unterschied­lich an. Als ich ­Mutter die Stelle vorlas, dass Du Gotthelf Jacobsen wegen des Lehrers geschrieben hast, sagte sie: also er ist für Beamten­ massregelung und äusserte sich tadelnd darüber, dass Du ein Eingreifen in die politische Gesinnung der Lehrer befördert hast (Sophie, 21. 8. 1867, im Brief vom 20. 8. 1867). Emma jedenfalls hielt Ottos Vorgehen für falsch und „tadelte“ es – ein Vorgang, der im Briefwechsel ­dieses halben Jahres einmalig ist, sieht man von ihrer Reak­tion auf Ottos „Brandbrief“ ab.268 Aber auch da „tadelte“ sie nicht, sondern setzte dem jungen Mann etwas den Kopf zurecht.

267 Der schwerreiche Israel Jacobson* war seit 1786 einer der Schwiegersöhne Herz Samsons und damit ein Onkel von Minna Magnus, Ottos ­Mutter. Seine Familie gehörte damit selbstverständ­lich auch zum Samson-­Clan. 268 Näheres im Kapitel „Fragen der Schick­lichkeit“.

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Doch hier fallen zwei schwerwiegende Urteile: „Beamtenmassregelung“ und „Eingreifen in die politische Gesinnung“. Ob Emma immer noch eine Demokratin war, lässt sich so ohne weiteres nicht sagen, aber sie dachte und handelte liberal. Ihrer Einstellung stand Ottos Handeln diametral gegenüber. Der Vorgang war auch deshalb wichtig, weil Emma das Verhalten des künftigen Schwiegersohns in ihr Bild von ihm einfügte, und da war ihr Urteil schon fast eine Verurteilung. „Eingreifen in die politische Gesinnung“ ist gleichbedeutend mit Verletzung der Meinungsfreiheit – und die steht nach Emmas Meinung jedem zu, auch einem Lehrer. Für d ­ ieses hohe Gut und andere Bürgerrechte war in Emmas Lebenszeit mehrfach gestritten worden. Dieses erkämpfte Recht beschädigte der junge Schwiegersohn mit seiner Anzeige. Bei Emma, wohl bei Islers überhaupt, konnte er damit nicht auf Beifall rechnen. Sophies Haltung war zwar eindeutig, wurde aber erst allmäh­lich deut­lich; sie fuhr an der zitierten Stelle vorsichtig fort: Ich referiere Dir das, ohne meine eigene Meinung hinzuzufügen, weil ich mir nicht klar darüber bin. In d ­ iesem Fall scheint es mir gerechtfertigt, weil auch ich einen Einfluss auf junge Gemüter nach dieser Richtung hin für schäd­lich halte; aber frei­lich handelt ein Minister gerade ebenso nach seiner Überzeugung, wenn er sagt, ein Lehrer mit demokratischer Gesinnung sei ein Verderb für die Schüler, denn davon hänge die ganze Zukunft des Staates ab (Sophie, ebd.). Sophies Balancieren ­zwischen dem scharfen Urteil Emmas und einem vorsichtigen Zuneigen in Ottos Richtung – in ­diesem Fall – kann allerdings nicht verdecken, dass auch sie grundsätz­lich anderer Meinung war; das zeigt ihr kluger Hinweis auf den Minister. Aber es gab noch eine weitere Meinung im Hause Isler, wenn auch nicht vom Hausherrn – er sollte sich erst s­ päter äußern: Eben höre ich einen heftigen Wortwechsel im Nebenzimmer: Onkel Ferdinand* ruft mich, der mit ­Mutter denselben Streit hatte und ganz wütend mich als Helferin requirierte. Das Ende vom Lied war, dass er fortstürzte und ­Mutter ihm feige Flucht vorwarf, während er sagte, es sei nur das tiefste Mitleid über ­solche Ansichten, das ihn wegtriebe. ­Mutter würde nächstens sagen, dieser Mann ist ein Dieb und ein Spitzbube, darum soll er der Lehrer meiner Kinder sein. Wie gesagt, ich weiss nicht wer recht hat, und da Du nun Deine Meinung vertreten und vertheidigen wirst, so wird mir das auch nicht aus dem Dilemma helfen, ausser wenn Du wirk­lich recht hast (Sophie, ebd.). Ferdinand Meyers* „staatstragende“ Gesinnung trifft sich also mit Ottos, aber beide Isler-­Frauen stehen auf der anderen Seite: Emma entschieden, Sophie mit der Andeutung einer Kompromissbereitschaft. Eins jedoch hat Sophie richtig vorausgesehen: Otto verteidigt sich und rechtfertigt seine Haltung. Auch ich war lange unentschlossen, ob ich wegen des Lehrers an Gotthelf J­acobson* schreiben sollte, da ich im Allgemeinen auch nicht für Massregelung bin, ich bin aber doch zu der Überzeugung gekommen, dass hier eine Notwendigkeit vorliegt. Es handelte sich hier sowohl um politische als auch ­soziale Ansichten, und dieser Lehrer hat Ansichten geäussert, deren Verbreitung [die] furchtbarsten Revolu­tionen, den Krieg aller gegen alle zur Folge haben müsste. z.B verlangt er die Abschaffung des Erbrechtes. Der vater soll nicht mehr das Recht [haben], sein Vermögen seinen Kindern zu hinterlassen, sondern nach dem Grundsatz, Eigenthum ist Diebstahl soll alles an den Staat fallen und zum Besten der Arbeiter verwendet Der „rote“ Lehrer  

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werden. Diese Leute reizen die armen Klassen geradezu zur Empörung auf, denn natür­lich gefällt es einem ungebildeten menschen wenn ihm gesagt wird: es ist unrecht, dass andere reicher sind als du, du musst ihren Reichthum mitgeniessen. Sie bedenken aber garnicht, dass wenn ihre Pläne durchgeführt würden, aller Handel stillstehen würde. Denn wer hätte lust sich mit Mühe Vermögen zu erwerben, um es nachher den Arbeitern abtreten zu müssen? Ein Mensch der ­solche Ansichten öffent­lich verbreitet ist doch nicht gemacht um die Erziehung von Kindern zu leiten, auf die sehr viel leichter gewirkt werden kann, als auf erwachsene menschen. Die bewegung hat übrigens garkeine Berechtigung, da unsere Arbeiter sehr gut situiert sind (Otto, 22. 8. 1867, morgens, 7 Uhr, im Brief vom 21. 8. 1867). Hier spricht einer, der zur besitzenden Klasse gehört und der sein (ererbtes) Vermögen in Gefahr sieht. Ottos Abwehr lassallescher Gedanken, seine Frontstellung gegen die Arbeiter sind so massiv, dass er noch immer nicht daran denkt, sich erst einmal kundig zu machen, was der Lehrer wirk­lich und bei welcher Gelegenheit gesagt oder gar geschrieben hat. Denn was Otto hier vorträgt, ist eine Breitseite gegen Lassalle und seine Anhänger, ja gegen alle, die sich für eine Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft aussprechen. Die Behauptung, die Arbeiterbewegung habe keine „Berechtigung“, weil es den Arbeitern gut gehe, ist für einen, der mit dem Industrieproletariat seiner Zeit kaum in Berührung kommt, schon kühn. Nahm Otto die Armut der unteren Schichten wahr, wenn er an anderer Stelle behauptete, in Braunschweig gebe es eigent­lich keine armen Juden (Otto, 17. 6. 1867)?269 Gegen Lassalle, nicht gegen den Lehrer, zieht Otto also zu Felde – nur, bei Emma verfängt das nicht. Über den Lassallschen Lehrer, schreibt Sophie, habe ich wieder ein langes gespräch mit ­Mutter gehabt. Wir sind darin einig, dass dieser Mensch ein grosser Esel zu sein scheint und deshalb [sich] nicht zum Lehren taugt. Sie meint aber doch, Du hättest Unrecht g­ ethan, und da Du schreibst, Du seist „im Allgemeinen nicht für Massregelung“ so hättest Du davon unter keinen Umständen abgehen dürfen. Ich will darüber nicht weiter schreiben, weil man sich doch so nicht darüber verständigen kann und ich mehr Berichterstatter als Vertreter meiner eigenen meinung sein müsste (Sophie, 22. 8. 1867). Emma hält daran fest, dass Massregelung etwas sei, wozu Otto auf keinen Fall hätte greifen dürfen, ist sich aber mit Sophie einig, dass ein blinder Parteigänger für den Lehrerberuf nicht geeignet sei, wohlgemerkt: nicht wegen seiner politischen Ansichten, sondern weil ihm das dort nötige Fingerspitzengefühl fehle. Also blieben die politischen Gegensätze, die hier aufgebrochen waren, bestehen, aber an Sophies vorsichtigem Balancieren wird deut­lich, wie sie sich in Zukunft verhalten wird: kein Streit mit Otto! Emma hingegen zeigte sich auch in dieser Frage als Kämpferin: Lautstark ist die Auseinandersetzung mit ihrem Bruder, heftig der Vorwurf der Feigheit, als dieser sich schnaubend zurückzieht – Türen hat man wohl in diesen Familien nicht geknallt.

269 Der Wohltätigkeitsverein „Ez Chajim“ bestand seit 1820, 1834 wurde das jüdische Wohlfahrtswesen in Braunschweig umfassend reformiert. Zwei Jahre ­später wurde eine neue Ordnung für den ­Krankenund Sterbeverein geschaffen. Ebeling, 1987, S. 365.

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Kurz darauf schreibt Sophie: Leider muss ich noch einmal auf den lehrer zurückkommen: Vater sagt, ich sollte Dir bestellen, so etwas ginge nicht an die verwaltung sondern an den Director, da Du nicht wissen könntest, ob da nicht schon Schritte dagegen gethan wären … (Sophie, 24. 8. 1867). Fünf Tage nach der ersten Erwähnung des Vorfalls in Ottos Brief ließ Meyer Isler dem künftigen Schwiegersohn ausrichten – Zeit zum Schreiben hatte er ja nicht –, dass sein Vorgehen vom Grundsatz her falsch gewesen wäre. Die Mitteilung enthielt keinen ausdrück­lichen Tadel, müsste Otto aber bewusst gemacht haben, dass er übergriffig und autoritär gehandelt hat. Aber warum schreibt Sophie „leider“ müsse sie das Thema noch einmal anschneiden? So deut­lich waren die Eltern gegen Ottos Vorgehen, dass Sophie etwas ­zwischen die Fronten geraten war. Inhalt­lich teilte sie Ottos Bedenken, der Lehrer könne politisch auf die Schüler einwirken, und das fände auch sie nicht gut, formal fand sie Ottos Eingreifen bedenk­lich, ging es doch um Meinungsfreiheit, die sie nicht nur „Demokraten“ zugestehen mochte. Doch Sophie vermeidet eine offene Gegnerschaft zu Otto, lieber hält sie ihre eigene Meinung zurück. In ihren Briefen wird deut­lich, dass sie mit Emma durchaus kontrovers diskutieren konnte. Ob das auch mit Otto geht, muss hier offen bleiben. Bevor Otto auf Meyers Hinweis antworten konnte, beendete Gotthelf Jacobson* die Diskussion: Wegen des Wolfenbüttler Lehrers habe ich heute Gotthelf Jacobsens Antwort erhalten. Er sagt, dass solange der betreffende seine Pflichten nicht vernachlässigt er sich nicht für berechtigt halte sich um diese Angelegenheit, die er als eine Privatsache betrachtet, zu bekümmern (Otto, 30. 8. 1867, morgens, 6 1/2 Uhr, im Brief vom 29. 8. 1867). Immerhin. Otto war red­lich genug, den Hamburgern mitzuteilen, dass er auch von Jacobson* eine Abfuhr erhalten hatte. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt; sie taucht in den Briefen nicht mehr auf. Das Argument aber, dass politische Ansichten Privatsache ­seien, macht einen Genera­tionsunterschied deut­lich: Jacobson*, Emma und Meyer Isler hatten erlebt und verinner­licht, wie schwer die Menschen- und Bürgerrechte errungen wurden, die zum ersten Mal in der Verfassung von 1848 standen und damit auch jüdische Bürgerinnen und Bürger als gleichberechtigt anerkannten; Meinungs- und Glaubensfreiheit standen da ganz oben. Otto Magnus gehörte zu der Genera­tion, die vom Erreichten profitierte und schon bereit war, anderen diese Rechte abzusprechen. Nötig scheint mir auch, darauf hinzuweisen, dass Otto politisch eher na­tional-­konservativ als na­tional-­liberal eingestellt war.270 Auch zu ­diesem politischen Standort passt seine Reak­tion.

270 Auf Ottos politische Gesinnung wurde schon im Kapitel „Wozu eine Verlobung gut ist“ hingewiesen.

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DER PROZESS DER AKKULTUR ATION Gerade das letzte Kapitel hat Otto Magnus sehr deut­lich als wilhelminischen Bürger gezeigt. Wir erleben ihn in seinem Verhalten als Angehörigen einer bestimmten Schicht in einer bestimmten Epoche, nicht aber als Mitglied einer gesonderten „Na­tion“,271 der Judenheit. Das gilt für alle bisher behandelten Th ­ emen; Sophie und Otto haben sich hier als Angehörige eines Bürgertums gezeigt, wie wir es in den sich erweiternden Städten im Zuge der Modernisierung überall in den deutschen Staaten finden. Ganz selten tauchen beim Lesen der Brautbriefe Situa­tionen auf, die für einen Augenblick aufscheinen lassen, dass hier noch eine Kategorie mit zu bedenken ist: die Zugehörigkeit zum Judentum. Das passiert etwa dann, wenn es um jüdische Feiertage geht, an die Sophie Otto erinnern muss, weil da z. B. nicht geheiratet werden darf 272, ja, nicht einmal Besuche gemacht werden dürfen,273 oder wenn der Polterabend auf den Samstagabend gelegt wird, weil Mays Vater, der die Räume zur Verfügung stellt, am Freitagabend Ruhe wahren möchte,274 weil der Sabbat beginnt, oder wenn erwähnt wird, dass Otto Bilder mit eindeutig christ­licher Thematik in der ersten gemeinsamen Wohnung aufhängen möchte, ohne zu bedenken, dass die religiösen Gefühle Sophies (oder der Verwandten) verletzt werden könnten.275 In allen hier geschilderten Situa­tionen fällt auf, wie weit sich Sophie Isler und vor allem Otto Magnus bereits in ihre bürger­liche Umgebung integriert und dem Lebensstil ihrer christ­lichen Umgebung angepasst haben. An anderen Stellen allerdings klingt an, wie schwierig der Weg in die bürger­liche Gesellschaft ist, weil deren kulturelles Verhalten christ­lich,

271 Die Juden betrachteten sich selbst bis ins 19. Jahrhundert als „Na­tion“, die durch Sprache und Religion zusammengehalten wurde und sich von ihren Nachbarn unterschied. Denn die Religion erlegte ihnen eine gesonderte Lebensweise auf: die Feier des Sabbats, der am Freitagabend begann und von da an bis Sonnenuntergang am Sonnabend jede Arbeit verbot, war eines der auffallendsten Merkmale – die Juden feierten, wenn andere arbeiteten. 272 Sophie, 7. 9. 1867. 273 Sophie, 17. 4. 1867. 274 Es geht um den Beginn des Sabbats am Freitagabend. „[…] der Polterabend [kann] nicht gut am Freitag sein, wenn es bei Mays ist, weil seine Familie sehr fromm ist […]“ (Sophie, 7. 9. 1867), und: der Polterabend „[…] muss leider am Sonnabend sein, weil es Mays Vater unangenehm wäre wenn am Freitag bei ihm so viel gefahren würde […]“ (Sophie, 16. 9. 1867). 275 Otto, 11. 8. 1867.

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hier vor allem protestantisch geprägt ist. Immer wieder geht es darum, keinen Anstoß zu erregen, sich so unauffällig und angepasst zu verhalten, dass man jüdischen Personen ihre Herkunft nicht anmerkt, etwa wenn Otto den jüdischen Luxus geißelt 276 oder wenn Meyer Isler zur Zurückhaltung in Ottos Beförderungsfrage mahnt und fragt, ob nicht ein Christ die Angelegenheit in der Presse öffent­lich machen könne.277 Das Judentum spielte also eine Rolle im Leben ­dieses jungen Paares, nur – auf den ersten Blick erschließt sich das nicht. Die kleinen Hinweise sind nur allzu leicht zu überlesen. Sucht man sie zusammen, ergibt sich ein anschau­liches Bild vom Leben z­ wischen Anpassung und Beharren. Da gibt es Schwierigkeiten und Unsicherheiten, die eigent­lich zu ­diesem Paar gar nicht passen, und andererseits gibt es die Selbstverständ­lichkeit religiösen Handelns und Denkens. Für uns ist wichtig: Ein jüdisches Paar will heiraten. Aber: Das Thema lässt sich nicht auf die zwei Hauptpersonen und den Verlobungszeitraum beschränken, vielmehr wird an den hier vorliegenden Briefen der drei Genera­tionen der Isler-­Familie sichtbar, in ­welchen Schritten sich das Zusammenwachsen mit der bürger­lichen Gesellschaft generell vollzog.

Die Öffnung der jüdischen Nation Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert beginnt die „Öffnung“ der jüdischen Na­tion, als sich auch Juden dem allgemeinen Streben nach mehr Bildung und Wissen anschlossen, das die Gesellschaft in Europa wie ein Sog erfasst hatte. Das wurde mög­lich, weil es sich anders als bei geistigen Bewegungen im Mittelalter um eine säkulare Entwicklung handelte, eine Befreiung der Wissenschaften von kirch­lichem und christ­lichem Einfluss. Hier konnten sich Juden beteiligen. Natür­lich hatte es Bildung und Wissen gerade unter den Juden schon immer mehr und breiter als unter der christ­lichen Bevölkerung gegeben, aber alles Streben nach Wissen war auch hier religiös gebunden und hatte sich auf Talmud und Thora beschränkt. Hebräisch lesen und schreiben lernten die jüdischen Knaben von frühester Jugend an in den Talmudschulen, aber die deutsche Sprache und Schrift beherrschten sie nicht, sie sprachen bestenfalls „Judendeutsch“. Ohne sie aber und ohne Latein und die modernen ­Fremdsprachen war nicht an das Wissen der Zeit zu kommen – wer daran teilhaben wollte, musste sich der deutschen Sprache und Bildung öffnen. Die jüdische Wendung zur allgemeinen Bildung hatte weitreichende Folgen: Zum einen führte sie hinaus aus der Glaubensenge und kulturellen Abgeschlossenheit vergangener Zeiten, in denen man sich als verfolgte und ausgegrenzte Minderheit von allen kulturellen Entwicklungen und gesamtgesellschaft­lichen Veränderungen ferngehalten hatte. Diese Öffnung ging aber auch sehr schnell einher mit einer religiösen Reformbewegung, die sich daran machte, die jüdische Religion zu „entrümpeln“ und an das religiöse – vor allem protestantische – Umfeld

276 Otto, 16. 9. 1867. 277 Meyer Isler, 3. 1. 1888.

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anzupassen. Das Ziel war ein sozusagen aufgeklärtes, jedoch gleichwohl frommes Judentum mit modernisierter Religionsausübung. Das Reformjudentum finden wir vor allem in Hamburg,278 aber auch in Braunschweig, Dessau, Leipzig, Frankfurt am Main, Breslau und anderen deutschen Städten. Aber nicht alle Juden blieben jüdisch fromm, einige traten zum Christentum über, andere lösten sich ganz von der Religion und bezeichneten sich als „freisinnig“ im Verständnis eines modernen Atheismus. Diese von der Reformbewegung ausgelösten Entwicklungen riefen zugleich die Bewahrer des jüdischen Glaubens auf den Plan, die ihrerseits auf strenge, ja mancherorts strengste Einhaltung der Rituale drängten und sich dabei an den ostjüdischen Glaubensgemeinschaften orientierten. So ist letzt­lich die jüdische Orthodoxie eine Folge der Reformbewegung. Sie konnte allerdings in den Jahren nach der Reichsgründung trotz des in den siebziger Jahren aufkommenden Antisemitismus in Deutschland wenig Boden gewinnen, weil die Mehrzahl der deutschen Juden sich in erster Linie als Deutsche zu fühlen begann und sich aktiv in die kulturelle, wirtschaft­liche, politische, kurz: gesamtgesellschaft­liche Entwicklung integrierte. Dieser Prozess vollzog sich zeitgleich mit der Herausbildung des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert. Immer mehr Juden nutzten die neuen Ausbildungsmög­lichkeiten, die sich ihnen end­lich eröffnet hatten, und ergriffen akademische Berufe: Sie wurden Juristen, Ärzte, Pädagogen, Journalisten, Universitätslehrer; dieser Trend setzte sich verstärkt nach der Reichsgründung fort. Diejenigen aber, die sich in den tradi­tionellen Berufen des Handels und des Geldwesens bewegten und als Unternehmer neue Wege beschritten, erlangten nicht selten im ausgehenden 19. Jahrhundert beträcht­lichen Reichtum 279. Sinnfälliger Ausdruck der Wendung zu einer allgemeinen Bildung war die Entstehung der jüdischen Knabenschulen, die um 1800 in verschiedenen deutschen Städten gegründet

278 „1811 lebten in Hamburg neben 130 portugie­sischen Juden 6.299 deutsche Juden, die zusammen etwa 6% der Stadtbevölkerung ausmachten. Die Hamburger deutsch-­jüdische Gemeinde war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die größte jüdische Gemeinde Deutschlands. Erst gegen Ende der Epoche wurde Hamburg in dieser Hinsicht von Berlin und Wien überholt, und auch der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung der Stadt war gesunken: Am Vorabend des Kaiserreichs machten die 13.795 Hamburger Juden nur mehr 4,1% der Bevölkerung aus.“ Mosche Zimmermann, Hambur­ gischer Patrio­tismus und deutscher Na­tionalismus, 1997, S. 25. 279 „Innerhalb einer Genera­tion gelang den deutschen Juden ein wirtschaft­licher und sozialer Aufstieg von kaum dagewesenem Ausmaß. Noch 1848 waren etwa die Hälfte der deutsch-­jüdischen Bevölkerung Arme, während ein Drittel bis ein Viertel zu den untersten Steuerklassen gehörte. Nur 15%–30% waren bürger­lich gesicherte Existenzen, die den mittleren oder oberen Steuerklassen zugerechnet werden konnten. Bei der Reichsgründung hatte sich das Bild verkehrt. Nun gehörten über 60% der deutschen Juden den obersten und mittleren Steuerklassen an, während die Armen und am Rande der Gesellschaft Angesiedelten, je nach Region, nur 5%–25% der deutschen Juden ausmachten. Für die Mehrzahl der deutschen Juden war die Zeit ­zwischen 1848 und 1871 eine Periode wirtschaft­lichen Erfolgs und sozialen Aufstiegs.“ Michael Brenner, Stefi Jersch-­Wenzel, Michael A. Meyer, Deutsch-­ jüdische Geschichte in der Neuzeit, Zweiter Band, 1996, S. 309.

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wurden. Davon erfahren wir bei Islers: Sophies Großvater Israel Abraham, der sich Isler genannt hatte, gründete in Hamburg 1793 eine ­solche Schule. Eine breit gefächerte Bildung war das Hauptziel. Das war ein Bruch mit der Tradi­tion. Diese wie andere der jüdischen Knabenschulen lehrten und lebten zwar nach wie vor die jüdische Religion und damit die hebräische Sprache, sie öffneten aber den Schülern auch den Weg in eine Allgemeinbildung, die ihnen ermög­lichte, unproblematischer als früher in höhere Schulen und an Universitäten zu gelangen. Dass dazu die deutsche Sprache zuallererst gehörte, lag auf der Hand. Moses Mendelssohn hatte sie sich im 18. Jahrhundert noch im Selbststudium aneignen müssen. Jetzt wurde sie in den neuen Schulen selbstverständ­lich, aber es reichte nicht, Deutsch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Die Sprache musste von der Intona­tion her auch sozusagen akzentfrei beherrscht werden, sollte sie nicht durch den „Singsang“ des Sprechenden seine Herkunft verraten. Wir erinnern uns: Emma setzte sich mit Pius Warburg* über die Frage auseinander, was es eigent­lich sei was den Tonfall der Juden von dem anderer Leute unterscheide und wie dem abzuhelfen sei […] (Emma, 15. 10. 1867). Besonders Jungen, die vom Lande kamen, hatten Mühe den „Jargon“ abzulegen; sie erlernten die deutsche Sprechweise nur allmäh­lich.280 Hinzu kamen Verhaltensweisen, die geübt werden mussten: dass man die Hände beim Sprechen nicht aneinander rieb, dass man aufrecht ging, mit erhobenem Kopf, dass und wie man sich im Gespräch einander zuwandte, wie man bei Tische aß – das alles sollte in den „Pensionen“ erlernt werden, die zu den Schulen selbstverständ­lich dazugehörten und meist von der Ehefrau des Gründers geführt wurden.281 Für den späteren Besuch einer höheren Schule war Latein unerläss­lich, die neuen Sprachen waren nötig, Mathematik, Geschichte, Naturwissenschaften und Turnen ergänzten das Programm – das war ein umfangreicher Stundenplan! Wer in der bürger­lichen Gesellschaft anund weiterkommen wollte, musste ihn absolvieren. Jüdische Lehrer für alle diese Fächer gab es anfangs kaum, also musste beispielsweise Israel Abraham Isler* sich vieles im Selbststudium aneignen, um es dann unterrichten zu können. Das ging, solange die Schule klein war – Israel Abraham startete mit vier Schülern –, änderte sich aber mit wachsender Größe. Stundenweise traten „Fachlehrer“ in die Schule ein, was wiederum neue Schüler anzog. Islers Bildungsweg, mitgeteilt von seinem Sohn, steht hier stellvertretend für den der ersten Genera­tion, die aus der Enge der Talmudschulen

280 „Beispiele kultureller Integra­tion dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, […] daß vor allem die tradi­tionelle Sprache der Juden – das Judendeutsch – nur sehr langsam schwand. Von den jüdischen Aufklärern als „Jargon“ verfolgt, lebte das Judendeutsch in der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, und vor allem auf dem Lande, noch bis weit über die Jahrhundertmitte fort, während die assimilierte jüdische Schicht das lokale Hochdeutsch sprach.“ Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, 2006, S. 54. 281 In der Isler-­Schule betreute Henriette (Jettchen/Gütchen) Isler, Meyers ­Mutter, die Zöglinge auch dann noch, als ihr Sohn die Schule für wenige Jahre übernahm. 1843 feierte die Schule ihr fünfzigjähriges Jubiläum; 1844 schloss Meyer das Institut und wendete sich ausschließ­lich seiner Bibliothekstätigkeit – er war Registrator – zu.

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aufbrach: Meines Vaters Jugend fiel in die Zeit, wo Moses Mendelssohns* Einfluß auf seine Glaubens­genossen sich mächtig verbreitete; sie erkannten, daß ihre Bildung sich nicht nur auf hebrä­ische Sprache und Talmud beschränken dürfe und fingen an, mit unglaub­lichem Eifer andere Wissenschaften von den Elementen an zu treiben, meist auf sich selbst und einige Bücher angewiesen, zuweilen in Gemeinschaft mit anderen, weiter Vorgeschrittenen […]. Mein Vater mußte, wie es scheint, vorzüg­lich durch Selbststudium d ­ ieses Ziel zu erreichen suchen. Ich habe in späteren Jahren aus zahlreichen von ihm geschriebenen Heften ersehen, wie er die Elemente der franzö­sischen und eng­lischen Sprache, des Rechnens und der jetzt ganz gewöhn­lichen Schulwissenschaften sich zu erwerben suchte. Erst lange nach seinem Tode ist es mir klar geworden, w ­ elche Anstrengungen er machen mußte, um das zu erreichen, was jetzt jeder Knabe, sobald er in die Schule kommt, fast spielend lernt. Er ergriff die Gelegenheit, um weiter zu kommen, er unterrichtete als Hauslehrer Kinder im Hebräischen und nahm dafür mit ihnen an dem Unterricht ihrer anderen Lehrer teil.282 Der Bildungsweg Israel Abraham Islers* (1763 – 1849) ist bezeichnend für seine Genera­tion. Er unterscheidet sich in der Sache kaum von dem anderer jüdischer Schulmänner, Gelehrter und Wissenschaftler; ganz ähn­lich ließe sich z. B. hier die „Schulzeit“ seines späteren Schwagers Samuel Meyer Ehrenberg* (1773 – 1853) aus dessen „Lebensbeschreibung“ zitieren. Ähn­ lich auch der Bildungsweg des Herrn Segalla (1802 – 1872)283 in Hamburg, dessen Tochter, die Doktorin Nathan, sich bei seinem Tod erinnerte: Wie sie als Kind in Polen, oft des Morgens vom Lichtschein geweckt sei, weil der Vater, der nichts anderes gelernt hatte als hebräisch und Talmud sich nun selber forthalf, und dafür an Wintermorgen bei einem Talg­licht Algebra studirte. […] dass dies für die Juden die erste Brücke zur allgemeinen Bildung gewesen sei, der Talmud selbst enthält Algebra, das ist das Bindeglied mit allem Anderen geworden. Herr Segalla hat dann Deutsch, Franzö­sisch, ­später Eng­lisch gelernt, und hat bis an sein Lebensende weiter gestrebt (Emma, 21. 9. 1872). Ein steiniger Weg, gewiss, aber getragen von einer unglaub­lichen Aufbruchsstimmung, die viele Juden erfasste und nicht zu trennen ist vom Jahrhundert der Aufklärung, in dem sie entstand. Die Öffnung der Juden für die deutsche Sprache und eine allgemeine, säkulare Bildung bedeuteten zugleich eine Absage an die Idee, eine eigene „Na­tion“ zu sein. Hatten sich Juden bisher als religiöse und kulturelle Einheit verstanden, als Besondere in einer fremden Umwelt, so suchten sie mit der Öffnung zugleich über eine allgemeine Bildung den Anschluss an das sich entwickelnde Bildungsbürgertum.284

282 Meyer Islers Erinnerungen, S. 48 f. 283 Die Zeitverschiebung hängt mit Segallas Herkunft aus Polen zusammen, das bis ins 19. Jahrhundert kaum Bildungsmög­lichkeiten für Juden bot. Eine ähn­liche „Bildungsbrache“ für Juden war das Herzogtum Mecklenburg. Von dort stammten viele Schüler Meyer Islers. 284 Dass die Annäherung deutscher Juden an bürger­liche Vorstellungen und Lebensweisen über allgemeine Bildung von administrativer Seite in den deutschen Staaten gewünscht wurde, liest man bei Simone Lässig: „Die deutschen Regierungen hatten die Emanzipa­tion der Juden weniger als Akt der politischen Willensbildung denn als Erziehungsprozess konzipiert. Ausgehend von der Forderung nach

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Von Sophie aus gesehen war das die „Großvätergenera­tion“.285 Ihr gegenüber hatte es die Vätergenera­tion, zu der nun Meyer Isler (und Jakob/Julius Magnus, Ottos Vater) gehörte, wesent­lich leichter. Sie fand die neuen Bildungseinrichtungen für jüdische Knaben vor. Meyer Isler besuchte zunächst die Schule seines Vaters, ehe er 1821 zur Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums wechselte. Dort lernte er mit anderen Bürgersöhnen, die ihrerseits nicht aus jüdischen Elternhäusern kamen.286 Nach dem Besuch des Akademischen Gymnasiums brach er zum Geschichtsstudium nach Bonn auf. Er profitierte davon, dass sich gerade neue Bildungsmög­lichkeiten für Juden eröffneten.287 Dass er das Geschichtsstudium wählte, muss auffallen, weil ja Geschichte für einen Juden in erster Linie bib­lische Geschichte war. Umso mehr ist Meyers Wahl hervorzuheben, weil sie ihn schon vom Fach her während des ­Studiums in ein christ­liches Gelehrtenumfeld versetzte.

Folgen der Öffnung Mit der Öffnung und Annäherung an gebildete Bürger und deren Lebensweise gingen Veränderungen einher, mit denen die erste Genera­tion wohl nicht gerechnet hatte. Die exakte Ausübung frommer jüdischer Rituale wurde bereits in der zweiten Genera­tion vernachlässigt. einer ‚bürger­lichen Verbesserung‘ banden sie die Gleichstellung zumeist an Vorleistungen, die vorwiegend soziokulturell und (noch) kaum na­tional oder politisch – definiert waren. Auf diese Weise wurden die Juden auf die normativen Grundsätze eines sozial definierten Kulturmodells verpflichtet und auf das aufsteigende Bürgertum als primäre Referenzgruppe orientiert.“ Simone Lässig, Religiöse Modernisierung, Geschlechterdiskurs und kulturelle Verbürger­lichung, 2006, S. 49 f. Emmas Erinnerungen und der Briefwechsel belegen, dass diese Entwicklung nicht einseitig erfolgte: sie wurde vom aufgeklärten Judentum als eigene Überzeugung vollzogen und war zugleich von administrativer Seite gewünscht. 285 Die Frauen dieser Genera­tion konnten – von Ausnahmen abgesehen – nur dann an der beschriebenen Öffnung und der erweiterten Bildung teilhaben, wenn sie als Töchter reicher Eltern zusammen mit den Söhnen des Hauses privat unterrichtet wurden. In den Familien, von denen hier erzählt wird, fällt auf, dass sowohl Meyers als auch Emmas M ­ utter die deutsche Schrift nicht erlernt hatten. Sie schrieben ihre Briefe deutsch in hebräischen Buchstaben, waren aber des Hebräischen selbst nicht wirk­lich mächtig. Sophie berichtet, dass in der Familie der mütter­lichen Großeltern „im Scherz viele jüdische Worte und Redensarten gebraucht“ wurden. Sophies Kindheitserinnerungen, S. 6. 286 Ottos Vater Jakob Magnus, der sich s­ päter Julius nannte, immatrikulierte sich 1822 am Collegium Carolinum in Braunschweig. Er war damit einer von neun Juden, die vor 1848 an dieser Institu­tion zugelassen wurden. 287 „Erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde auch für die Juden eine akademische Ausbildung ohne weiteres mög­lich. Die tradi­tionelle Beschränkung auf den medizinischen Bereich wurde aufgehoben, die juristische Bildung trat zunächst in den Vordergrund, bis ­später auch Mathematiker und Literaturwissenschaftler ihr Studium aufnahmen.“ Ebeling, Juden in Braunschweig, S. 355. Die ­Familie Magnus belegt diese Entwicklung: Während Großvater und Vater Magnus Mediziner geworden waren, studierte Otto Jura.

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Muss man sich Meyer Islers Eltern noch als strenge, wenn auch aufgeklärte Juden vorstellen, sah der Sohn die Einhaltung der Regeln zumindest als „beweg­lich“ an. Das wird schon auf der Reise zum Studium nach Bonn deut­lich: Ich verließ Hamburg Michaelis 1827 mit Empfehlungen an August Wilh. Schlegel und Christian Aug. Brandis von Prof. Ullrich [Lehrer am Christianeum] versehen. Auf der Reise besuchte ich meine Anverwandten in Wolfenbüttel [Samuel Meyer Ehrenberg*], Seesen [Seligmann Ehrenberg] und Kassel [die Familien Maas und Rosenzweig*], reiste dann mit zwei Theologen, Reils und Köster […] über Frankfurt, Mainz, den Rhein hinunter nach Bonn.288 Das ist vieldeutig: Die Zeitangabe „Michaelis“, dem christ­lichen Kalender entlehnt, war im allgemeinen Sprachgebrauch selbstverständ­lich. Aber die Empfehlungen! Nicht an jüdische Familien in Bonn (und auch nicht an jüdische Universitätslehrer, denn die gab es ja nicht), sondern an zwei berühmte Professoren: August Wilhelm Schlegel könnte noch einleuchten, sein Bruder Friedrich war mit Dorothea Veit 289 verheiratet, einer Tochter Mendelssohns*. Aber darum geht es hier nicht: Meyer wurde zwei christ­lichen Professoren empfohlen und er reiste mit zwei Theologen! Wie hat er sich in deren Gegenwart verhalten? Auffallen wollte er sicher auf gar keinen Fall! In Bonn bewegte sich der junge Student auch nicht in jüdischen Kreisen, was er den Eltern gegenüber nicht verschweigt, sodass seine M ­ utter schreibt: Zweitens lieber Meyer, hast Du uns durch Deine offenherzigkeit sehr gekränkt. Glaubst Du denn, dass das uns so gleichgültig ist, dass Du Dich ganz dem Christentum hingibst? Du lebst und webst unter ihnen, ­dieses lässt sich zwar nicht helfen, dass Du aber Dein Essen bei Christen hast, das ist für mich schreck­lich […]. Sollte denn unter 60 [jüdischen] Familien nicht eine einzige sein, wo Du wenigstens einen Mittagstisch haben könntest? Ich bitte und Beschwöre Dich, lass Dich nicht verleiten, gehe zurück zum Juden, so heisst’s doch, Du isst bei Juden (­Jettchen Isler, 8. 11. 1827). Das bedeutet doch wohl, dass der Sohn nicht koscher isst! Die besorgten mütter­lichen Zeilen zeigen, wie den frommen Eltern in Hamburg der studierende Sohn in die Assimila­tion entgleitet. Auch der Vater äußert sich besorgt. Während er das Geld für Meyer nur mühsam aufbringen kann, sieht er ihn schon ganz entfremdet: Um so auffallender musste es mir sein aus Deinem Schreiben zu ersehen, dass Du die ganze Zeit Deines Studiums Dich von Deiner Na­tion entfernen und nur unter Christen leben willst; dann bin ich überzeugt, kehrst Du nie wieder zu uns zurück und wir haben Dich auf immer verloren (Israel Abraham, 9. 11. 1827). Für diese (Aufklärungs-)Genera­tion waren Juden noch eine Na­tion für sich, kulturell und religiös sollte sie unbedingt erhalten bleiben, nur der Bildung wollte man sich öffnen. Aber eine ­solche Abgrenzung war nicht durchzuhalten. Während man in Hamburg allwöchent­lich den Sabbat feiert: […] da gleich Sabbat ist, so wirds für heute

288 Meyer Islers Erinnerungen, S. 69. 289 Eigent­lich Brendel Mendelssohn, deren erste Ehe mit Simon Veit geschieden wurde und die seit 1804 in zweiter Ehe mit Friedrich Schlegel verheiratet war. Dorothea Schlegel (1764 – 1839) trat auch als Schriftstellerin und Übersetzerin hervor.

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Abb. 10  Brief Israel Abraham Islers an seinen Sohn Meyer in Bonn wegen eines Stipendiums 1828

wohl nicht viel geben (Jettchen Isler, 5. 10. 1827) – so begründet Jettchen Isler die Kürze ihres Briefes –, muss der ferne Sohn an die jüdischen Feiertage erinnert und aufgefordert werden, die nächsten Feiertag in irgend eine Synagoge zu gehen (Israel Abraham, 12. 8. 1828). Ob Meyer dieser Aufforderung nachgekommen ist, muss offen bleiben – seine Briefe sind in ­diesem Zeitraum nur lückenhaft vorhanden, aber er hat die Eltern wohl beruhigen können, dass er nicht abtrünnig werden wolle. Der Prozess der Akkulturation   |

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Dabei gab es in Hamburg seit Beginn des Jahrhunderts ein Reformjudentum, das sich die Modernisierung der Riten zum Ziel gesetzt hatte. Malchen Isler [später Cohen*], Meyers Schwester, berichtet von Besuchen im „Tempel“: Der Tag ist mir diesmal recht gut v­ erstrichen, ich habe im Tempel viele Bekannte gehabt, die ich während der Totenfeier alle gesprochen habe, denn bis dahin war ich in einer Tour andächtig. […] Nach der Predigt war es dann bald Zeit zum Essen und Trinken […] (Malchen, 5. 10. 1827). Auch der Reformprediger S­ alomon*290 wird von ihr erwähnt, bei dem Meyer sehr gut […] angeschrieben sei (ebd.). ­Malchens* Wortwahl belegt die Zugehörigkeit der Familie zur Reformgemeinde: hier hieß die Synagoge „Tempel“ und die „Predigt“ spielte eine entscheidende Rolle. Sogar der Standort des Tempels wird erkennbar, wenn Malchen* berichtet, dass sie während des langen Tempel­ tages sich im garten ein wenig erholt hatte (ebd.), denn „[d]as Haus lag in einem mit Gärten begrünten Hof“291. Die Reformbewegung hatte sich im „Tempelverein“ zusammengefunden 292 und hatte in der Auseinandersetzung mit den Tradi­tionalisten des jüdischen Glaubens den Gottesdienst reformiert: Im Tempel gab es eine „Empore an der rückwärtigen Wand“293 mit Orgel und genügend Platz für einen Chor, die offenen Emporen gestatteten den jüdischen Frauen einen unverstellten Blick in den Gemeinderaum,294 das Gesangbuch enthielt hebräische und deutsche Lieder, die Predigt rückte ins Zentrum, es wurde viel gesungen und die Orgel kam während des ganzen Gottesdienstes zum Einsatz – Parallelen zum evange­lischen Gottesdienst fallen auf: Der Einfluss der überwiegend evange­lischen Bevölkerung in Hamburg machte sich bemerkbar. Wollte man im Alltagsleben nicht als „morgenländisch“ und „fremd“ gelten, musste man sich den äußer­lichen Religionsgewohnheiten der Mehrheit der Hamburger Bevölkerung anpassen. Das war die Haltung einer Hamburger Mittelschicht jüdischer Bürger, also derjenigen, die einerseits täg­lich im Berufs- bzw. im Geschäftsleben mit Christen zu tun hatten, wie z. B. Meyer Isler oder Emmas Brüder, und andererseits ihren Glauben beibehalten, ihn aber doch seiner Erstarrung und Angejahrtheit wegen modernisiert wissen wollten. Die Reformbewegung hatte Erfolg: Die tradi­tionelle Synagoge leerte sich immer mehr, während der Tempel gerade wegen der Predigten großen Zulauf hatte. Islers gehörten, wie Malchens Bericht belegt,

290 „Salomon* vermochte es, die Gläubigen mit seiner bilderreichen Sprache in Bann zu ziehen, er verkörperte die ‚lebendige‘ Form der Reformbewegung […].“ Michael Koglin, Spaziergänge durch das jüdische Hamburg, 1998, S. 111. 291 Koglin, Spaziergänge, S. 114. 292 1817/19 gründeten Reforminteressierte den „Tempel“ als Reformsynagoge. Dazu: Maier, Jüdische Geschichte in Daten, 2005. 293 Koglin, Spaziergänge, S. 111. 294 Der Tempel befand sich zunächst in angemieteten Räumen am Alten Steinweg 42. Nach Umbau des Hauses fanden hier 142 Männer und 107 Frauen Platz. Erst 1842 wurde der Grundstein für den neuen Tempel in der Poolstraße gelegt, der dann von 1844 bis 1931 als Gotteshaus genutzt wurde; dann zog man in den neuen Tempel in der Oberstraße 120 um.

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zu den Tempelgängern – kein Wunder, verfolgte Israel Abraham Islers* Schule doch die Bildungsoffensive, die jüdischen Knaben den Weg in die bürger­liche Gesellschaft öffnen sollte. Dass das, was sich heute so einfach liest, nicht ohne Auseinandersetzungen und schwere Zerwürfnisse vor sich ging, erzählt Emma ihrer Tochter s­ päter: Jacob Abraham, Vaters Tempel­ nachbar erzählte ihm, wie schwer es seinen Kindern würde die Schilderungen zu fassen die er ihnen von der Wut und Aufregung bei Gründung des Tempels mache, von den Flüchen und Familienzerwürfnissen, die die ganze Gemeinde schüttelten. Er selbst, eins der ersten Mitglieder, kam eines Sonnabends zu Glaslevys, wo sich am Abend gewöhn­lich eine Menge Leute zusammen fanden; kaum war er eingetreten, so verliessen sämmt­liche Männer das Zimmer und als er die alte ­Mutter nach dem Grund fragte, sagte sie, der Tempel wäre im Bann und da er hinginge könnten doch die Leute nicht mit ihm zusammen sein. Und Emma fährt fort: Als ich vor 30 Jahren nach Hamburg kam wurden mir noch Einzelne genannt, die vor Jedem der in den Tempel ging ausspien. Und nun freust Du Dich gewiss, dass es viel besser geworden ist, und ich glaube es ist nicht so weit her damit, die Wut gegen das Neue wird immer wiederkehren (Emma, 17. 10. 1868). Meyer Isler blieb trotz seiner liberaleren Handhabung der jüdischen Riten ein frommer Mann, der Zeit seines Lebens an den Tempelbesuchen festhielt und an den Reformen mitarbeitete wie Emmas Brüder auch. Aber: Meyer finden wir alltags im Tempel. Einen jüdischen Wochenrhythmus gestattete ihm sein Dienst in der Bibliothek nicht: Am Sabbat arbeitete er. Auch Unterrichtsstunden legte er auf diesen Tag.295 Emma scheint daran keinen Anstoß genommen zu haben. Beider Leben hat sich – so belegen die Briefe – an den christ­lichen Wochenrhythmus gehalten. Als Meyer 1849 seiner erkrankten ­Mutter wegen in ­Wolfenbüttel weilte, schrieb er an Emma: Auch Dich, liebe Emma grüssen Alle, es ist heiliger Sabbath und darum schreibe ich allein (Meyer, 28. 7. 1849). Im Hause des Onkels Samuel Meyer Ehrenberg*, bei dem sich Meyers ­Mutter, also Ehrenbergs Schwester, aufhielt, herrschten die alten Regeln: Am heiligen Sabbat durfte nicht gearbeitet, also auch nicht geschrieben werden. Meyer respektierte die im Hause geltenden Vorschriften, er selbst und Emma hielten sie nicht mehr ein. An dieser Entscheidung war Emma deut­lich beteiligt. Schon 1846 hatte sie aus Berlin berichtet, dass sie anläss­lich der Vorlesungen Sigismund Sterns* das Problem diskutieren wolle: Ich schrieb Dir schon dass ich Mittwoch einer [Vorlesung] beiwohnen würde über Gottesdienst und Sabbat. Da ich schon in Hamburg mit ihm gesprochen hatte, so war ich doppelt gespannt und hatte den Muth auszusprechen, dass die Feier nicht an einen bestimmten Tag geknüpft sei (Emma, 18. 1. 1846).296 Die Frage der Sabbatfeier war für Emma also noch offen, wenn die Tendenz auch schon deut­lich wurde. Sophies Hinweis 1868 dem

295 Dazu sein „Wochenbericht“ vom 20. 10. 1867, zitiert gegen Ende des Kapitels „Emma Isler“. 296 Emma Isler war mit Sterns Frau Ida*, geb. Fürstenberg, befreundet und besuchte das Ehepaar 1845/6 wiederholt; außerdem kündigte sie einen Briefwechsel mit Stern über die sie beschäftigenden Fragen gegenüber Meyer an (Emma, 18. 1. 1846). Ob es dazu kam, muss offen bleiben.

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Vater gegenüber lässt dann keinen Zweifel mehr, dass Islers in Fragen des „Ceremoniels“ neue Wege gingen: […] wir wissen an uns, dass das Judentum nicht darunter leidet wenn man das Ceremoniel und die Sabbatfeier beiseite lässt […] (Sophie, 3. 2. 1868). Wie weit sich in Dessau, wo Emma aufgewachsen war, schon die Regeln gelockert h ­ atten, erfahren wir aus ihren Aufzeichnungen nicht, aber es gibt Hinweise in ihren „Erinne­ rungen“, die das für Emmas Elternhaus verneinen: Mein Vater war fromm und unser Haus ein streng jüdisches, aber ich ging doch am Sonnabend in die Schule, schrieb aber nicht […]297. In ­welchen inneren Konflikt ein jüdisches Kind geraten konnte, wenn es eine „normale“ Schule besuchte, belegen die folgenden Zeilen, denn Mamsell Stötzer, die Leiterin der Schule, sprach mit der M ­ utter, weil Emmas Verhalten natür­lich manche Störungen 298 hervorrief, und überzeugte sie, dass das Kind Nachteile habe durch diese Absonderung.299 Jetzt erlaubten die Eltern das Schreiben am Sabbat, doch Emma weigerte sich: Ich war aber selbst fromm und in Verzweiflung. Ich weinte und stürmte und dann wurde ich ruhig. Als ich am Montag in die Schule kam, sagte mir Mamselle Stötzer, was ich schon wußte. „Es ist gegen mein Gewissen und ich kann es nicht“, sagte ich ernst. Sie maß mich mit den Augen und schwieg.300 Was dann folgte, ist ein Beispiel außerordent­licher Pädagogik und soll deshalb hier zitiert werden: Es vergingen Wochen, da legte sie mir einmal die Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: „Du hast mir viele Mühe gemacht, ich mußte den ganzen Stundenplan umarbeiten, um allen Unterricht, bei dem geschrieben wird, aus dem Sonnabend herauszubringen.“301 Emmas Dankbarkeit für diesen Respekt vor ihrer Religion und ihrem „Gewissen“ währte lebenslang. Erfahrungen wie diese mögen ihr den Weg zu einem liberaleren Judentum eröffnet haben. Hinzu kam anderes: Durch Franzosenherrschaft und […] Freiheitskriege 302 war Emmas Familie mit vielen gebildeten Leuten in Berührung gekommen.303 Da waren Deutsche aller kleinen und großen Staaten, Franzosen, Russen, Schweden.304 Der Umgang mit ihnen, die vielen Gespräche und Erfahrungen trugen sicher zur Liberalisierung der Familie bei. Natür­lich untergrub der Schulbesuch auch die Überzeugung, eine abgesonderte „Na­tion“ zu sein: In der Schule schwärmten wir für die Freiheitskriege und fühlten die Begeisterung nach, lasen Körner und schenkten uns zum Andenken Ringe von Eisenguß mit Leyer und Schwert von Lorbeer umwunden. In jeder Deklama­tionsstunde hörte man wenigstens ein

297 Emmas Erinnerungen, S. 73. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 74. 300 Ebd. 301 Ebd. 302 Ebd., S. 86. 303 Ebd. 304 Ebd.

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Mal „was ist des Deutschen Vaterland?“ und mit starken Stimmen wurde die Antwort gesprochen: „So weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt.“ […].305 Die kleine Jüdin, die mit der einzigen Katholikin der Schule während des Religionsunterrichts immer eine Freistunde verbringen musste, schwamm ganz mit auf der Welle na­tionaler Begeisterung und fühlte sich eins mit den Mitschülerinnen. Ihren „Erinnerungen“ zufolge zog diese na­tionale Begeisterung viele Juden in ihren Bann und machte sie bereit, Teil dieser sich bildenden Na­tion und ­dieses sich so spät entwickelnden Na­tionalstaates Deutschland zu sein. Das aber bedeutete Integra­tion. So öffnete der Besuch einer nichtjüdischen Schule Emma Meyer den Weg zu einem liberalen Judentum. Anders als ihr ältester Bruder ­Abraham (Heinrich Meyer*), den der Besuch des Gymnasiums in eine Zwitterstellung ­zwischen Juden und Christen gebracht hatte, aus der er lebenslang nicht herausfand, nahm sie das Bildungsangebot an, ohne ihr Judentum zu verlieren. Emma Isler hat in ihren „Erinnerungen“ ihren Begriff von Na­tion näher erläutert: Nicht dadurch, daß Volksstämme seit unzähligen Genera­tionen dieselbe Scholle bewohnen, schmelzen sie zur Na­tion zusammen, dabei können sie immer ihr Sonderleben führen, aber dadurch, daß sie dieselbe Sprache sprechen, dadurch, daß sie alle großen Gedanken denken, die in dieser Sprache geboren sind.306 Gemeinsamkeit der Sprache also und Gemeinsamkeit des Denkens machen die Na­tion aus. Aber es kommt noch mehr dazu: Wenn sie Haus und Herd mit der Waffe ­schützen und wenn ein Fühlen und ein Wollen alle Herzen mit einem electrischen Schlage durchzuckt und wenn ihr Blut für dieselbe Sache vergossen ist, dann sind sie Eines geworden für alle Zeiten.307 An diese leidenschaft­lich vorgetragene Überzeugung schließt sich die große Enttäuschung über das Ergebnis des Wiener Kongresses 1815 an, der Juden die Bürgerrechte und die Gleichstellung verweigerte: Und so war der Jude ein Deutscher geworden, mit jeder Faser seines Herzens und das Vaterland schloß ihn doch aus und nannte ihn einen Fremden. Kein Nachgeborener wird je das harte Loos ermessen, je den Schmerz nachempfinden können.308 Bei alledem muss man sich vor Augen halten, dass Emma selbst erst 1816 geboren wurde, diese von ihr geschilderte Zeit der na­tionalen Aufbruchstimmung nur von Erzählungen her kennen konnte. Aber sie haben ihre Jugend bestimmt und das Kind ­zwischen fanatischem Hass und dem Gefühl es müsse das Alles nur ein böser Traum sein 309 schwanken lassen. Mit ihrer Sicht folgte sie auch der Auffassung des Rechtsanwalts und Politikers Gabriel Riesser* den sie ­später persön­lich in Hamburg kennenlernen sollte und dessen Biographie Meyer Isler 1867 geschrieben hat. Riesser setzte die na­tionale Assimila­tion voraus, als er 1831 s­ einen jahrzehntelangen publizistischen und politischen Kampf für die Gleichberechtigung der 305 Ebd., S. 87. 306 Emmas Erinnerungen, S. 97. 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Ebd.

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Juden begann.310 […] ich bin erwacht, als Riesser’s Schriften kamen. Das waren keine Klagen und keine Bitten, das waren klare Untersuchungen der Rechtsfrage. Und nun kam es gar nicht mehr darauf an, ob der Jude unterdrückt wurde, in jedem Juden wurde bloß das Menschenrecht beleidigt, der Kampf, der hier zu führen war, war nicht der gegen ­dieses oder jenes Vorurtheil, es war ein Kampf für Alle, der Kampf für die Gewissensfreiheit. […] Und von dem Augenblick waren wir frei geworden, von dem Augenblick, wo wir w ­ ussten, was unsere Aufgabe für die Menschheit sei. Und wir sind bürger­lich frei geworden, die besten Männer unseres Stammes stehen unter den E ­ rsten unserer Na­tion. Aber unsere Aufgabe ist nicht gelöst und von Genera­tion zu Genera­tion sollen wir für Gewissensfreiheit und für jeden Unterdrückten kämpfen […].311 Emmas politische Überzeugung und ihre Schlussfolgerungen sind wichtig für das geistige Klima in Sophies Elternhaus. Zum Religionsverständnis tragen die zitierten Passagen nichts bei. Sie machen allerdings deut­ lich, wie weit sich Emma, richtiger wohl: wie weit sich beide Islers kulturell assimiliert hatten, wenn die deutsche Sprache und das Mitdenken der „großen Gedanken“ als Maßstab genommen wurden. Aber die kulturelle Anpassung der Familie Isler beschränkte sich auf das Außenleben, nach innen hielten sie in manchem an tradi­tionell Jüdischem fest, z. B. daran, Weihnachten nicht zu feiern. Erst Emmas Reise mit der fünfjährigen Sophie 1845/6 nach Berlin machte diese auf das Fest und seine Bedeutung für Kinder aufmerksam: Sophie ist von ­diesem Treiben auch schon angesteckt, berichtete Emma nach Hamburg, und so hat sie gestern ganz aus freien Stücken bitter geweint bei der Erinnerung, dass sie im Vorigen jahr keinen Baum und keine bescherung erhalten habe (Emma, ohne Datum, vermut­lich 23. 12. 1845). Das Miterleben des Weihnachtsfestes im Hause des Bankiers Martin Meyer, Emmas Bruder, und anderer Berliner Juden lockerten die Einstellung Meyer Islers, dem alles treu­lich nach Hamburg berichtet wurde: Die Weihnachtsgeschenke sind mir insofern auch eine Freude, als sie Euch Freude machten und dort wie es scheint gewissermassen zur Notwendigkeit wurden, sonst weißt Du, dass ich es nicht liebe (Meyer, 27. 12. 1845). Bei dieser Haltung ist Meyer geblieben, Emma aber wollte nicht, dass Sophie ausgeschlossen blieb von der Freude, die alle ergriff. Sie fand den Ausweg, Vaters Geburtstag an die Stelle zu setzen, erzählt Sophie ­später, und so war der 14. Dezember für mich der Tag, auf den ich mich wochenlang vorher freuen konnte. Morgens früh vor 9 wurde für Vater aufgebaut, abends, wenn es dunkel war (was in Hamburg noch früher eintritt, als an andern Orten, weil es im Dezember überhaupt nicht hell wird) brannte der Baum, der mit bunten Papiertüten, mit Rosinen und Mandeln gefüllt, mit vergoldeten Äpfeln und Nüssen und vielen Lichtern geschmückt war.312

310 So in: Maier, Jüdische Geschichte in Daten. 311 Emmas Erinnerungen, S. 97 f. 312 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 37.

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In ihrem Braunschweiger Haushalt feierte Sophie schließ­lich den 24. Dezember mit Angestellten und Kindern. 1882 gab es darüber noch einmal einen Gedankenaustausch ­zwischen Sophie und Emma. Gestern war Dr. Rosenstock [gegenwärtiger Leiter der Wolfenbütteler Schule] hier um den kindern kleine geschenke zu bringen, was Otto garnicht mag. Die Abneigung gegen Weihnachten ist zu meinem Erstaunen garnicht sehr verbreitet, weder er noch Dr. Rulf* [Prediger am Braunschweiger Tempel] HABEN SIE UND BEIDE WUN­ DERTEN SICH, ALS ICH VON Vaters Ansicht erzählte, sie betrachten das Fest als eins das fast bei allen Völkern von Alters vorkommt. Auch Rastmann [Arzt der Familie, offenbar Christ] begriff nicht warum wir nicht das Fest ganz so mitfeiern wollten wie sie, da die Geburt Christi nur etwas Sekundäres und künst­lich herbei gezogenes sei (Sophie, 25. 12. 1882). Darauf antwortete Emma: Ich freue mich über Dr. Rulfs und Rosenstocks Meinung über Weihnachten, das gemüt ist mächtiger als alle Reflek­tion. Vater hat sich ja auch damit abgefunden und die Juden die die Bescherung auf Sylvester verlegen tun das auch. Dem ersten frommen Juden, der seine geschäftsbücher nach der Jahresrechnung von Christi geburt ab datiert hat, ist gewiss beinahe das herz gebrochen; jetzt wird es in deutschland auch der frömmste nicht anders kennen (Emma, 26. 12. 1882). Emma spricht hier von einem wichtigen Schritt: Solange die jüdische Religion als ein das Leben überhaupt konstituierendes Phänomen betrachtet wurde, das die gesamte Existenz und jüdische Zivilisa­tion umfasst, musste sie jede Wahrnehmung und natür­lich auch jedes Akzeptieren von Momenten einer anderen, hier der christ­lichen, Religion für eine Bedrohung und Schädigung halten. Indem Religion aber, und das ist erst seit der Aufklärung mög­lich, zur persön­lichen Glaubensfrage wurde, die nur einen partiellen Teil des Lebens und der Kultur meint, durfte sich auch der frömmste (ebd.) in den Normen der „allgemeinen“, hier christ­lich geprägten, Zivilisa­tion bewegen, ohne in seinem persön­lichen Gefühl gestört zu sein. An Meyers Skepsis gegenüber einem völligen Einschwenken auf den christ­lichen Festtagsrhythmus änderte sich nichts.313 In Sophies Elternhaus waren jüdische Festtage Bestandteil des Familienlebens, wenn sie auch wohl nicht alle ausdrück­lich gefeiert wurden. Am 29. September, also kurz vor der Hochzeit, schrieb Sophie nach Braunschweig: Glück und Segen Dir und mir möge Gott für das neue, heute beginnende Jahr geben! […] So ungefähr lautete auch vaters Wunsch für mich, den er auch mit seinem Segen, heute wie alle jahre aussprach als er aus dem Tempel kam (Sophie, 29. 9. 1867). Das jüdische Neujahrsfest wurde also im Hause Isler begangen, Glückwunsch und Segen des Vaters heute wie alle jahre nach dem Tempelbesuch gehörten dazu. Und in besonderer Weise wurde der Festtag in ­diesem Jahr, unmittelbar vor der Hochzeit, begangen: Es war der letzte Festabend, der letzte Sonntag Abend, der letzte ganz still 313 Dass Meyer Isler das Weihnachtsfest für seinen Haushalt nur am 24. Dezember fernhalten konnte, erfahren wir auch: Den eigent­lichen Weihnachtsabend feierte Sophie in der Familie ihres Onkels ­Ludwig Meyer und wurde noch einmal zusammen mit ihren Kusinen und Cousins beschenkt. Am Weihnachtsessen nahmen dann alle drei Islers teil; es gab „Karpfen, mit Bier und Honigkuchen gekocht, aber für ‚Isler blaue‘ […].“ Sophies Kindheitserinnerungen, S. 53.

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ruhige Abend vielleicht überhaupt, den ich als Mädchen im Elternhaus zubrachte. Du kannst Dir wohl denken, dass wir alle drei sehr bewegt waren. Wir saßen zusammen auf dem Sopha und es waren schöne Stunden […] (ebd.). Die Schilderung wirft noch einmal ein Licht auf die schnörkellose Frömmigkeit im Hause Isler: Der Tempelbesuch Meyers, der selbstverständ­liche väter­liche Segen danach und das „bewegte“ Zusammensein von Vater, M ­ utter und Tochter auf dem Sopha, wo kein Vierter Platz hatte – die Familie als Inbegriff tiefer Verbundenheit. Hier verschmolzen jüdische und bürger­liche Empfindungen und Verhaltensweisen. Ähn­lich ist wohl Emmas Segen für die Ehe der Tochter zu verstehen: Mein gebet für Dich ist, dass Eure Ehe eine geheiligte werde, Euer Haus der schönste Tempel Gottes. O Baby, das kann sein wenn Du die rechte Priesterin bist. Mein Kind! Mein Alles! (Emma, undatiert, wohl 15. 10. 1867). Der religiöse Gestus ihrer Worte zeigt ihre Verwurzelung in jüdischer Frömmigkeit, aber ein Aufruf zu rituell unterlegtem jüdischen Leben in der Ehe ist er nicht. Fragen nach der Braunschweiger jüdischen Gemeinde zielen in der Regel nur auf den Landesrabbiner Levi Herzfeld*, seine Predigten und sein Wirken in der Stadt.

Emma und Meyer Islers religiöse Haltung Wie äußerte sich das Festhalten an der jüdischen Religion im Hause Isler sonst? Meyer Isler blieb ein regelmäßiger Tempelgänger, arbeitete jahrelang an führender Stelle bei der Reform der jüdischen Mädchenschule mit und beteiligte sich intensiv an den Auseinandersetzungen um die Reform des jüdischen Gottesdienstes. Emma Isler nahm an diesen inhalt­lichen Überlegungen im Rahmen privater Gespräche teil. Während Sophies ganzer Jugend bildeten diese Diskussionen einen wichtigen Teil des Familienlebens. Trotz fehlendem jüdischen Speiseplan und Wochenrhythmus blieb das Klima im Hause Isler religiös gefärbt. ­Mutter und Tochter besuchten selbstverständ­lich den Tempel, wenn auch wesent­lich seltener als der Vater. Sophies „Kindheitserinnerungen“ erzählen, dass in den ersten Ehejahren bei Islers sogar koscher gekocht wurde, nicht aus eigener Überzeugung, sondern um Meyer Islers Eltern nicht zu kränken, falls diese zu Besuch kämen. Vor allem wurde doppeltes Geschirr benutzt, weil ja ­zwischen „Fleischding“ und „Milchding“ unterschieden werden musste. Die Mädchen hatten die Trennung immer gewissenhaft durchgeführt (man sagte immer, die christ­lichen Mädchen wären darin sorgfältiger als die jüdischen Köchinnen). Die „greu­liche Johanna“ aber brachte alles durcheinander, dann musste alles ausgekocht werden, um wieder brauchbar zu sein. […] nachdem sich das einige Male wiederholt hatte, […] beschlossen die Eltern, die Theilung aufzugeben […]. Die Grosseltern waren inzwischen alt geworden, sodass sie doch nie kamen, dass also diese Rücksicht wegfiel und so durfte diese große Erleichterung im Haushalt vorgenommen werden, ohne irgendeine Pflicht zu verletzen.314 Sophie war zu

314 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 14.

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dieser Zeit noch ein kleines Mädchen, sodass die Erinnerung an diese Zeit für sie nichts Prägendes hatte; erinner­lich sind ihr vor allem die grosse(n) Unbequem­lichkeit und die unsäg­ liche Mühe, die durch die Geschirrtrennung verursacht wurden. Darüber muss gesprochen worden sein. Emma hätte wohl beides von sich aus nicht auf sich genommen, aber gegen Pietät den Eltern gegenüber ließ sich nichts sagen, da war jede Rücksichtnahme „Pflicht“. Über Emmas Tempelgänge erfahren wir aus den Briefen nach der Hochzeit mehr; für sie waren bestimmte ­Themen der Anreiz, wenn es z. B.um die „Kindesnatur“ ging.315 Gern berichtete sie der Tochter, dass und wie sie in Opposi­tion zu den Vorträgen bzw. Predigten im Tempel stand, mit dessen gegenwärtigen Predigern sie überhaupt nicht einverstanden war: […] muss ich berichten dass ich im Tempel so unbeschreib­lich unartig war (natür­lich nur inwendig!). Aber ich wäre am liebsten mitten in der Predigt weg gegangen, so ungeduldig war ich. Wie schade, dass ich nun eigent­lich garnicht mehr hin gehen kann, denn das ist doch keine Stimmung die ins Gotteshaus gehört (Emma, 25. 5. 1868). Die beiden Prediger, die nach Emmas Meinung eher halbherzig den Reformgedanken vertraten, regten sie auf, weil sie Stillstand und Rückschritt befürchtete. Das aber konnte dem Judentum in dieser Zeit nur schaden: Wenn es sich nicht weiter reformierte, würde es von der Moderne überrollt und vernichtet werden. So jedenfalls sah es Emma. Frankfurter hat mir immer was gegeben, und gerade dadurch dass er es nicht vollendet gab, ich hatte das gesagte immer etwas zu vertiefen und umzuarbeiten, und das regte mich an. Aber wir hatten denselben Standpunkt, die Überzeugung das[s] das Judentum aus der erstarrten Form erlöst werden müsse und dass es als Träger der reinen Gottesidee noch eine grosse Zukunft habe. Und nun kommt Sänger, spricht von der Offenbarung auf dem Sinai unter Donner und Blitz und Posaunentönen, sagt dass nur wer nicht glaube der Torheit und dem Aberglauben verfallen müsse. Es ist ja nicht wahr, schrie ich als er immer wieder sagte, das Heil wäre, wenn wir Gottes gebote folgten wollte ich wissen, was(s) die wären der Opferdienst oder das Steinigen eines Menschen der Sabbath Holz aufsammelt oder was? Er hörte aber mein Toben nicht ….. (ebd.). Wie anhaltend auch um die neuen Tempelstatuten gerungen wurde – eine gewisse Gegenbewegung jüdischer Geist­licher war nicht zu übersehen, die aus Sorge um eine völlige Säkularisierung der jüdischen Gottesdienste gegensteuerten und die durch strengeres Festhalten an Riten und Glaubenssätzen der wachsenden Gleichgültigkeit vieler Gemeindemitglieder begegnen wollten. Emmas aufgeklärter Frömmigkeit waren s­olche Entwicklungen fast unerträg­lich. Aber es gab auch Einverständnis wie etwa beim 50-jährigen Jubiläum des Tempels, von dem Emma ebenfalls berichtete: […] ich war heute sehr schön geputzt im Tempel, schwarzes Kleid, neuer Samtmantel und graue handschuhe von denen ich vermute, dass es paar gewaschene [sind,] die Otto gehören, dann bitte ich ihn um Entschuldigung, dass ich sie schmutzig gemacht habe. Der Sonntagsgottesdienst gilt dem 50 jährigen Jubiläum

315 Im Kapitel „Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert“ unter „Sophies Erziehung“.

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des Tempels.316 Schade dass Du nicht da warst, der Tempel hat so wunderschön ausgesehen: neue, prachtvoll gestickte Vorhänge und Altardecke, der ganze Hintergrund mit Palmbäumen dekoriert und alles bis oben mit grünen Gewinden geschmückt. Die Feier war äußerst würdig, Männer[-] und Frauenchor und sehr gute Solosinger, ein sehr hübsches von Piza* verfasstes gesprochenes Gebet. Sehr fest­lich war auch das Herausnehmen der Torahrollen; Piza’s mächtige Priestergestalt oben in der Mitte und zu seinen Seiten eine Menge von Herren, die die sehr geschmückten Rollen trugen (Emma, Sonnabend, 17. 10. 1868; 9 Uhr abends). Die Feier fand in dem Tempel in der Poolstraße statt, der 380 Männern und 260 Frauen Platz bot. So sehr Emma sich am Schmuck des Gotteshauses freute, ihr eigent­liches Interesse galt wie immer der Predigt; war sie mit der zufrieden, fand auch alles Übrige ihre Zustimmung: Und dann hat mir Sängers Rede sehr gefallen; im Anfang frei­lich dachte ich wie immer bei ihm, nun macht er mir wieder den lieben Gott zuwider, aber da er glück­ licherweise sehr bald auf die Erde zurück kam, so hat er mich sehr interessiert. Er schilderte die Verdunklung des Gottesdienstes, der den ärgsten Fluch, den Fluch der Lächer­lichkeit auf sich geladen hatte, sprach von der Zeit wo die neu erwachende Bildung ein Herausflüchten aus dem Judentum erzeugte, sprach von den Männern, die um den Glauben zu retten mit der Form brachen, und indem er die gegen sie erhobenen Beschuldigungen zurück wies, flocht er zugleich die reinsten Sittenlehren des Judentums ein, für die sie gekämpft und schloss mit der Mahnung, sich um das banner zu scharen und weiter Träger dieser grossen Ideen zu sein. So durchwärmt war ich von dem was er gesagt hat, so hoffnungsvoll, dass er am Ende doch noch vielleicht ein Prediger werden könnte, dass ich entschlossen war ihm, sobald ich ihn sehe, einige ungeheure Grobheiten zu sagen um ihn zu retten; aber ich will es nun doch lieber nicht! (ebd.). Das höchste Lob, das Emma vergeben konnte, versteckte sich in der Hoffnung, dass er […] doch noch […] ein Prediger werden könnte (ebd.). Ihre Gabe, den Kern des Reformjudentums mit wenigen Worten zu umreißen und in lebendige Bilder zu setzen, erstaunt die Chronistin immer von neuem. Knapper und treffender kann man es kaum sagen: die um den Glauben zu retten mit der Form brachen (ebd.)! Emmas Frömmigkeit war intellektuell: Ihr ging es um Erhaltung der jüdischen Ethik und jüdischer Religiosität, aber sie müssten auf den Kern gebracht und in anspruchsvollen, besser: ansprechenden Predigten vertreten werden. Sie sollten die Anwesenden zum Mitdenken auffordern und von der Argumenta­tion her überzeugen. Für Emma war die Sache des reformierten Judentums außerdem eng verbunden mit der na­tionalen Wendung und dem Wunsch, gleichberechtigt mit den deutschen Bürgerinnen und Bürgern zu leben, anerkannt, respektiert und geachtet. Ihr Judentum beschränkte sich auf die reine Gottesidee (Emma, 316 Eröffnung des Tempels: 18. Oktober 1818 – das Datum berichtete Meyer Isler. Er erläuterte auch die geplante Jubiläumsfeier: „Predigt und Cantate, von Schick komponiert, von Männern und Frauen ausgeführt[,] von Hamel dirigiert: die Predigt hält Dr. Sänger. Ob noch ein festessen zu Stande kommt weiss ich nicht. Weil Sonntag ist gibt es kein Local, nur die Freimaurerloge an der grossen Drehbahn, da können aber nur 220 Personen placiert werden, was nicht ausreicht“ (Meyer, 11.10.68).

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25. 5. 1868), die jüdische Sittenlehre und in der Praxis auf den Tempelbesuch. In allem anderen

lebte sie ein bürger­liches Leben in Hamburg, was durch ihre Interessen ein bildungsbürger­ liches war: Vorträge, Theateraufführungen, Konzerte führten sie aus dem Haus; ihr Diskussionstalent zog gebildete Menschen in ihr Haus. Dass das täg­liche Leben von vielerlei religiösen Gewohnheiten und Gesten durchzogen war, wird in den Briefen an die Tochter nach deren Hochzeit deut­lich, aber nach strengen jüdischen Regeln lebte sie nicht. So lud sich Emma z. B. Freitagabend „junge Gesellschaft“ ein, der sie Rauchfleisch servierte und aus Treitschkes* „Kaste und Na­tionalität“ vorlas, in der Erwartung, eine heiße Diskussion zu entfachen. Ich habe mich aber geirrt, meine Zuhörer blieben kalt, nur Marie Hirsch° hat mich sehr erfreut, die kann Grösse begreifen (Emma, 9. 2. 1868). Mit einer wirk­lichen Sabbatfeier, die ja mit dem Sonnenuntergang am Freitag beginnt, hatte der Abend in der Form des gebildeten Gesprächs nur noch andeutungsweise zu tun. Als Bertha Oppenheimer, Tochter des Bankiers Oppenheimer*, 1868 in Braunschweig den Bankier Carl Magnus*, Ottos jüngeren Bruder, heiratete, schrieb Sophie an Emma, dass für Dr. Herzfeld* [den Landesrabbiner] im hause koscher gekocht wird und zwar so reich­lich, dass auch davon gereicht werden kann, um ihn nicht in Verlegenheit zu versetzen (Sophie, 17. 10. 1868). ­Dieser Hinweis zeigt, dass normalerweise nicht koscher gekocht wurde und dass alle anderen Gäste wohl nicht koscher aßen, sonst hätte Sophie das nicht so hervorgehoben – bei ihrer Hochzeit war von koscherem Essen nicht die Rede. Wenn allerdings Meyer am Versöhnungstag fastete, wurde im Anschluss mit den Speisen darauf Rücksicht genommen – erwähnt wird das erst nach Emmas Tod, weil die (christ­liche) Hausdame, die Meyer nun versorgte, darüber nicht informiert war. Gerade dieser Vorgang ist ein Beispiel dafür, dass Selbstverständ­liches in den Briefen nicht erwähnt wird, über derartig rituelle Vorgänge also keine definitive Aussage mög­lich ist.317 Was fällt noch auf? Emma beobachtete Unterschiede im Verhalten von Juden und Christen und schrieb darüber gelegent­lich an Sophie. So berichtet sie von einem Gespräch mit „Scheusal Jule“, einem ihrer früheren Hausmädchen: Letztere hat neu­lich mit mir über ihre kranke ­Mutter gesprochen, deren Tod sie lebhaft zu wünschen scheint. Vielleicht ist es bei Armut und Unmög­lichkeit etwas zu leisten ganz natür­lich, aber ich glaube es gibt keinen Juden in denselben Verhältnissen, der so etwas aussprechen würde […] (Emma, Sonnabend [21. 12. 1867], im Brief vom Freitag, 20. 12. 1867). Emma nahm Anstoß daran, dass in christ­lichen Kreisen der Tod einer kranken ­Mutter als „Erlösung“ gewünscht wurde. Dem jüdischen Denken Emmas war diese Vorstellung ganz fremd, sie erschien herzlos und kalt und war mit der Liebe und Verehrung, die Eltern zuteilwurde, nicht vereinbar. 317 Sophie berichtet an anderer Stelle, dass am Versöhnungstag, an dem der Gottesdienst von morgens bis abends dauerte, die Frauen in Hamburg vor dem Ende nach Hause gingen, „um Alles vorzubereiten zum ‚Anbeißen‘. Es gab zuerst für diejenigen, die 24 Stunden […] gefastet hatten, starken K ­ affee mit Rahm, dazu ‚Bärches‘, das Weissbrot, das ohne Milch gebacken war und die charakteristische Flechte mit Mohn zeigte, ­später gab es dann noch ein warmes Abendessen, gewöhn­lich aus Bouillon und Hähnchen bestehend.“ Sophies Kindheitserinnerungen, S. 54.

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An anderer Stelle erzählt Emma von einem Gespräch: Mit Frau Bartels habe ich mich auch längere Zeit unterhalten über ihre Jungen. Die Beide zur See wollen und von nichts Anderem reden und träumen. Aber dann ist ja garkeine Aussicht, dass sie einmal etwas ordent­liches erwerben, wissen die Jungen denn garnicht, [dass sie] für sie zu sorgen haben, wenn Sie alt sind, fragte ich. Diese Anschauung, dass das für die Jungen höchste Pflicht sei, war ihr ganz fremd. Jede jüdische ­Mutter würde es erwarten, jeder Judenjunge es als A. B. C. der Pflichtenlehre betrachten. Dass die christ­liche ­Mutter sich auf sich selber stützt hat etwas gesunderes als bei uns, dass der jüdische Sohn manchmal gebettelt und gestohlen hat, um die alten Eltern nicht darben zu lassen etwas rührendes; wohin der richtige Weg der Entwicklung im Volke geht, sehe ich nicht recht. Wie oft ist bei Juden die ganze Existenz verkrüppelt worden durch diese Familienlast (Emma, 12. 11. 1868). Höchste Pflicht also war es, für die Eltern zu sorgen, ja sich für sie aufzuopfern, auch wenn das eigene Leben, eigene Wünsche und Pläne dabei zurückstehen müssen. Ist das ein Teil jüdischer Sittenlehren? Der enge Familienzusammenhalt nicht nur bei Islers, Sophies selbstverständ­licher fortgesetzter Umgang mit den Eltern in Hamburg und den Schwiegereltern in Braunschweig weisen in diese Richtung, aber von „Familienlast“ ist nie die Rede. Auf einem ganz anderen Blatt steht das „Gespräch“ ­zwischen Emma und Sophie über christ­liche und jüdische Ehen. Mit der „Sittenlehre“ hat das weniger zu tun, wohl aber mit der Geschlechterrollenproblematik. Nach Emmas Ansicht und Sophies Beobachtung waren gebildete Jüdinnen da ein wenig im Vorteil, weil jüdische Männer eher eine „bedeutende“ Frau heirateten: Warum sich junge tüchtige Männer unbedeutende Frauen nehmen ist mir ein Rätsel, seltsamer Weise findet man es unter Juden viel seltener als unter Christen. ­Ersteren war bisher das Haus die Welt, da musste die Gattin auch die rechte Gefährtin sein. Ob nun Christen denken, draussen liegt der Kampf und An- und Aufregung, und [drinnen] Häus­ lichkeit mit Schlafrock und Pantoffeln […] weiss ich nicht, aber ­solche Ehe muss auf die Länge jeden Mann geistig und sitt­lich herab bringen, darin behält die Frau das Übergewicht […] (Emma, Dienstag V 12 Uhr. Im Brief vom 23. 2. 1868). Diese Beobachtung sei erst einmal dahingestellt – sie war jedenfalls kein vereinzeltes Urteil. Aber bei Islers verkehrten überwiegend gebildete und anregende Frauen und Männer, in Sophies Braunschweiger Umgebung sah das anders aus. Sie beklagte sich anfangs über ihren Bekanntenkreis, von dem wenig Impulse ausgingen und in dem vor allen Dingen kaum weib­liche Gesprächspartnerinnen zu finden wären. Allerdings lernte Sophie in ihrem ersten Ehejahr die junge, sehr gebildete Frau des Eisenbahndirektors Schulz* kennen und beide vereinbarten, sich oft und spontan zu besuchen, sodass Emma schrieb: Ich freue mich, dass Dir Louise Schulz immer näher tritt, auch in der glück­lichsten Ehe kann man zusagenden weib­lichen Umgang nicht entbehren, und der scheint Dir ja unter Altersgenossen nicht häufig geboten zu werden (Emma, ebd.). Mit Luise Schulz sprach Sophie auch über die ungleichen Ehen (Sophie, 26. 2. 1868), da ich unter Juden das nicht kenne; sie war durchdrungen davon, dass unter Juden überhaupt ungleich grössere Intelligenz herrsche, was ich natür­lich leugnete und es auf die Frauen beschränkte, doch mag man ­solche Urteile gern hören (ebd.).

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So schmeichelhaft das Gespräch mit der jungen Beamtenfrau für Sophie verlief – das Urteil der höheren Intelligenz sollte sich schon bald im Tableau der Zuschreibungen finden, die der Antisemitismus der jüdischen „Rasse“ vorwarf, dann allerdings verschärft durch das Attribut „zersetzend“. Hier ist die Aussage noch achtungsvoll gemeint, wenn auch die Verallgemeinerung unter Juden überhaupt (ebd.) die Nähe zum späteren Vorurteil markiert. – Leider ist aus der Freundschaft nichts geworden, Luise Schulz starb noch 1868. – Emmas und Sophies Beobachtungen sagen allerdings etwas über bürger­liche Ehen aus und über Bildung und Stellung der Frau Ende des 19. Jahrhunderts. Dass „ungleiche“ Ehen natür­lich auch bei Juden vorkamen, zeigt die Ehe der Anna Magnus mit Felix Aronheim.* Um Missverständnissen vorzubeugen: Die islersche Lebensführung, die sich von der christ­licher bürger­licher Familien nicht mehr wesent­lich unterschied, galt nicht generell für das Hamburger Reformjudentum. In den Briefen werden „freisinnige“ und „fromm“ lebende Familien unter den Freunden der Familie ganz nebenbei erwähnt und trotz der eigenen liberalen Haltung, die also z­ wischen „fromm“ und „freisinnig“ anzusiedeln ist, plädierte gerade Meyer Isler nur für behutsame Schritte der Annäherung. Das zeigt sich, als er sich mit ­diesem Thema im Zusammenhang mit einer Schulreform in Hamburg Anfang 1868 auseinandersetzte und dazu einen Artikel in den „Nachrichten“ veröffent­lichte.318 Otto und auch Sophie in Braunschweig dagegen neigten bezeichnenderweise einem raschen Aufgehen in der „Allgemeinheit“ zu: Mein nachrichten Artikel hat in der Judenheit grosse Teilnahme gefunden, eine Peti­tion an die Bürgerschaft wurde in wenigen Tagen mit 343 Unterschriften bedeckt, und die Meinung an einen Erfolg bei der Abstimmung hat bei Manchen Wurzel gefasst. Dass in Braunschweig mein Antrag nicht begriffen wird, nimmt mich nicht Wunder: das Argument, in die Allgemeinheit aufzugehen hat aber historisch nicht viele Begründung, 3500 Jahre haben bisher dazu nicht hergereicht, es wird also noch geraume Zeit dazu gehören. […] Einseitig ist s­ olche Verschmelzung nicht zu machen, da kehren beide Teile lieber nach Innen zurück. Der Vereinigungspunkt kann nur die Einheit Gottes sein, und da sind die Christen noch lange nicht angekommen. Also fürs Erste gegenseitige vollständige Duldung, Anerkennung der beiderseitigen Eigenthüm­lichkeiten als subjectiv berechtigt: dem Christen der Sonntag, dem Juden der Sonnabend, für beide ihr eigener religionsunterricht. Das sind die nächsten Ziele hier an Ort. Wird das Eine erreicht, so ist auch das Zweite ins Auge zu fassen, und dann habe ich gute Hoffnung […] (Meyer, 9. 2. 1868). Wichtig erscheint mir Meyer Islers Überzeugung, dass von beiden Seiten Schritte aufeinander zu gemacht werden müssten, dass die Annäherung keine einseitige, nur von der Judenheit zu leistende Sache sei. Er setzt auf die Gleichheit aller „Staatsangehörigen“ und die „Gewissensfreiheit“, die in der Verfassung garantiert werden 319. Hier spricht nicht nur

318 Hamburger Nachrichten, 31. Januar 1868. 319 Dazu Islers Artikel im Anhang; das Unterrichtsgesetz 1870 befreite lt. Art. 35 jüdische Kinder vom lutherischen Religionsunterricht, genehmigte bei entsprechender Schülerzahl Unterricht in jüdischer

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jemand, der gelassen auf 3500 Jahre Geschichte verweist, sondern das Selbstbewusstsein eines Mannes, der sich auf Augenhöhe mit seinen christ­lichen Mitbürgern bewegt und der sich als Mitglied einer großen jüdischen Bevölkerungsgruppe in einem deutschen Stadtstaat auf Bürgerrechte berufen darf. Emma stand in dieser Frage ganz auf Seiten ihres Mannes. Ich bin nicht verwundert, dass Du von Vaters Aufsatz nicht überzeugt bist, schrieb sie an die Braunschweiger Tochter, denn ich weiss wie sehr unsere Urteile von unseren Sympathien beherrscht werden; aber ich glaube dass er vollkommen recht hat. Wenn das was er fordert nicht durchgeht so ist die Erklärung der vollen Gleichheit eine Unwahrheit denn die Wohltat eines guten Unterrichts für mässigen Preis wird dem Juden nur gezeigt, nicht gewährt. Wenn wir aus Indien lesen würden, dass die Engländer Krankenhäuser für Alle ohne Unterschied gründen, nur mit der Bedingung, dass die Hindus Schweinefett essen, so würde uns die Lüge gleich anekeln; hier aber sollen Andere überwinden, was wir überwunden haben, nicht in langsam gewonnener freier Überzeugung, sondern weil es uns bequem ist […] (Emma, 4. 2. 1868). Inhalt­lich geht es um die Beibehaltung des eigenen Religionsunterrichts und des Sonnabends als eines für jüdische Schulkinder freien Tages bei einer Öffnung des allgemeinen Schulwesens für alle Schülerinnen und Schüler 320. Signifikanter aber erscheint mir hier, dass Emma davon spricht, dass ein Teil der Hamburger Juden religiöse Regeln in langsam gewonnener freier Überzeugung (ebd.) überwunden (ebd.) hätte – sie spricht also von ihrer eigenen und Meyers Entwicklung und vermut­lich der ihrer Freunde und Verwandten –, ­vielen anderen aber diese „Überwindung“ jetzt auf dem Weg über die Administra­tion einfach abverlangt würde. Wieder, wie schon in anderen Zusammenhängen, geht es Emma um Selbstbestimmtheit und Freiheit des Denkens und Gewissens. Ganz im Sinne des „aufgeklärten“ 18. Jahrhunderts setzt sie auf den eigenen Verstand und die selbständig gewonnene Überzeugung, ohne die eine Öffnung in die allgemeine bürger­liche Gesellschaft keinen Bestand haben kann. So wird gerade die Entscheidung in der Religionsfrage zu einem Akt, der die Grundwerte der bürger­ lichen Gesellschaft in Anspruch nimmt und sich selbstbewusst auf sie beruft, weil ihre Verfechterin sich als Mitglied eben dieser bürger­lichen Gesellschaft begreift. Damit begegnen wir in Emma und Meyer Isler zwei jüdischen Bürgern, die als Juden und als Gebildete sich als Teil des Hamburger Bürgertums verstehen, für das es selbstverständ­lich ist, die Religion und die kulturellen Besonderheiten des anderen zu tolerieren. Was das mit dem Bildungsbürgertum zu tun hat, wird im Kapitel „Bürger­liche Bildung: Goethe, Schiller und die Na­tion“ zu lesen sein. Für Meyer Isler bleibt nachzutragen, dass er persön­lich durch seine beruf­liche Tätigkeit und seine gelehrten Interessen sich weiter vom lebendigen Judentum entfernt hat, als seine Tempelbesuche und frommen Äußerungen vermuten lassen. Ob er das selber so sah, muss

Religion und entband jüdische Kinder „auf Verlangen“ vom Unterricht am Sonnabend. So bei Krohn, Juden in Hamburg, 1994, S. 145. 320 Die allgemeine siebenstufige Volksschule wurde in Hamburg 1870 eingeführt. Ebd., S. 144.

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offen bleiben. Emma jedenfalls, die ihm ja am nächsten war, sah das mit klarem Blick: […] mir tat es sehr leid als Du von der Verwaltung der [jüdischen] Mädchenschule zurücktratest, ich fühlte damals, dass Du etwas vermissen würdest. Jetzt weiss ich, dass es das jüdische Element ist, Du bist, obgleich kein Christ doch ganz und gar ein deutsch-­christ­licher gelehrter geworden (Emma, 14. 11. 1873). Meyer antwortete zustimmend: Es ist ganz richtig, dass mir das jüdische Element fehlt. Ich hätte es aber an der Mädchenschule nicht gehabt. Was ich da nützen konnte, ist geleistet […] (Meyer, 14. 11. 1873). Auf den zweiten Punkt, Emmas Defini­tion „deutsch-­christ­licher Gelehrter“, ging er aber nicht ein. Stimmte er mit ihrem Urteil überein? An anderen Stellen wies er Emmas Einschätzungen rasch und entschieden zurück, wenn er anderer Meinung war. Fehlten ihm hier die Argumente? Für uns ist in d ­ iesem Zusammenhang wichtig, dass ihm das jüdische Element in seinem Leben fehlte; Tempelbesuche und Einhaltung von Riten reichten dafür offenbar nicht wirk­lich aus. * Im Prozess der Akkultura­tion haben wir es also mit drei Genera­tionen im 19. Jahrhundert zu tun, die auf unterschied­liche Weise diesen Weg beschritten: Die Großelterngenera­tion, hier am Beispiel von Israel Abraham und Henriette Isler betrachtet, öffnete sich der deutschen Sprache und Allgemeinbildung, hielt aber am religiösen Judentum und seinen Bräuchen fest, auch wenn sie sich zum Reformjudentum wandte. Die Elterngenera­tion am Beispiel von Emma und Meyer Isler ging einen bedeutenden Schritt weiter: Sie brach bewusst mit Riten des Judentums, begriff die deutsche Kultur als gemeinsame Kultur aller Deutschen, ohne sich von der jüdischen Religion und Ethik zu verabschieden. Das war übrigens auch, soweit für mich erkennbar, bei Ottos Eltern der Fall.321 Auch äußer­lich markierte diese Genera­tion ihr Deutschsein: in den 20er-, 30er-­Jahren änderten viele Juden ihren jüdischen, näm­lich bib­lischen, Vornamen in einen (christ­lich-)deutschen: Aus Abraham Meyer z. B., Emmas ältestem Bruder, wurde Heinrich Meyer*, aus David Meyer wurde der viel zitierte Onkel Ferdinand*, aus Moses Meyer wurde Emanuel Moritz Meyer*, also Onkel Morchen, aus Jakob Magnus, Ottos Vater, Julius Magnus* usw.322 Dass mit dem Verlust der alten Frömmigkeit ein Mangel empfunden wurde, lässt sich nur an der oben erwähnten Stelle belegen, ob er verbreitet war, lässt sich daraus nicht ableiten. Dass aber ein Gefühl wie Heimweh auch denen blieb, die sich ganz von der jüdischen

321 Dr. Julius Magnus praktizierte sein Judentum bis zu seinem Tode. So Ebeling, Juden in Braunschweig, 1987, S. 334. 322 Anders als das Kirchenbuch besaß das Synagogenbuch keine Gesetzeskraft. Änderungen waren also leicht mög­lich. Siehe Ebeling, S. 377. Das änderte sich allerdings im Deutschen Reich von den 90er-­ Jahren an mit dem stärker werdenden Antisemitismus. Seine Vertreter fochten deutschlandweit erfolgreich für die Beibehaltung jüdischer Namen. Durch ihre Vornamen oder durch ihren oft auffallenden Nachnamen konnten Juden nach der Assimila­tion als Sondergruppe doch weiter kennt­lich gemacht werden. Siehe Dietz Bering, Der Name als Stigma, 1987.

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Religion abgewandt hatten, belegen die Worte Dr. Unnas* gegenüber Emma: […] er wäre gestern Abend [Jom Kipur] auf der Straße gewesen und als er all die Juden so feier­lich nach den verschiedenen Gotteshäusern hätte gehen sehen, hätte er ein sehnsüchtiges Gefühl bekommen, […] und sie fährt erklärend fort: ihm hat sein frommer Vater in der Jugend das Judenthum zuwider gemacht, dann ist Ungläubigkeit dazu gekommen und so ist es ihm nach dieser Seite hin verloren gegangen (Emma, 12. 10. 1872). Die dritte Genera­tion, in ­diesem Zusammenhang die der „Kinder“, ging noch weiter: Sophie und Otto Magnus wollten ganz in der „Allgemeinheit“ aufgehen, ganz „normale“ Braunschweiger sein, die sich in ihrem Verhalten und ihren Lebens- und Berufschancen nicht von anderen, christ­lichen Braunschweigern unterschieden, nur die Taufe kam auch für sie nicht infrage, sie hielten am Judentum fest: Sie lebten als Deutsche jüdischen Glaubens. An behutsame Schritte der gegenseitigen Annäherung dachten sie weniger, ihnen konnte es eigent­lich nicht schnell genug gehen.

Sophies und Ottos Frömmigkeit Schon bei der Wohnungseinrichtung war aufgefallen, wie sehr Sophie und Otto sich nicht nur schön und behag­lich einrichten wollten, sondern auch modern, ja fortschritt­lich, aber auf der anderen Seite sorgfältig bedachten, nicht aufzufallen als Leute, denen das rechte Maß für die Dinge abgeht, weil sie als Newcomer in eine Gesellschaftsschicht vorstießen, deren Stil sie nicht ganz übersahen. Sophie wirkte dabei entschieden unbedenk­licher als Otto, der sich sowohl gegen das Großstädtische der Hamburger als auch das zu Luxuriöse jüdischer Parvenüs wehrte. Nun hatte sich Sophie in Hamburg überwiegend in jüdischen, teils recht vermögenden Kreisen bewegt, während Otto durch Studium, Beruf und die Braunschweiger Situa­tion viel mehr christ­liche Freunde und Bekannte hatte. Sein Stilempfinden bevorzugte eine mit Kunstwerken sozusagen zeit- und religionsenthobene Einrichtung und orientierte sich damit an den Einrichtungen ­dieses bürger­lichen Umfeldes. Deshalb waren ihm ein Kunstkabinett und die Kupferstiche so wichtig, ihr Thema blieb zweitrangig. Der von ihm so heiß gewünschte Anderloni – die „Heilige Familie“ nach Raffael –, der Sophie eigent­lich nicht gefiel, sollte am Ende doch in seiner Wohnung hängen: Er schenkte ihn seiner Frau wenige Monate nach der Hochzeit: Heute ist mein halber geburtstag der sehr schön ­gefeiert worden ist Otto hat einen wunderbar schönen Kupferstich gekauft, eine heilige Familie, den er sich so sehr zur Hochzeit gewünscht hat. Nun ist unser Rafaelsaal complet und ich glaube nicht dass viele junge Leute eine s­ olche Sammlung von guten Bildern haben wie wir (Sophie, 30. 1. 1868).

Die schöne Wohnung, der „schöne Kupferstich“, die vielen Bilder, die die Wohnung schmücken – Sophie verg­lich sich gern und wirkte hochbefriedigt, dass ihr Zuhause sich sehen lassen konnte. Dass sie das Bild eigent­lich nicht mochte, weil sie weder Raffaels Madonnen noch heilige Familien liebte, spielte inzwischen keine Rolle mehr. – Sophies

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Antwort auf Ottos damalige Frage, ob sie das Bild aus religiösen Empfindungen ablehne, war bezeichnend. Sie verneinte zwar die Frage, fügte aber hinzu: Ich bin frei­lich in anderer Ansicht aufgewachsen, denn Vater ist entschieden der entgegengesetzten meinung (Sophie, 13. 8. 1867). Meyer Isler also hätte sich nie ein Bild in die Wohnung gehängt, ­dessen Thema ein so christ­liches ist 323, aber er tolerierte auf Anfrage die Entscheidung des jungen Paares.324 Sophie aber schloss sich nach einigem Nachdenken Ottos Meinung an, dass man die grössten Meisterwerke der Kunst nicht aus der eigenen Wohnung verbannen dürfe (ebd.), nur weil man Jude sei. In dieser Haltung nun unterschieden sich die Genera­tionen deut­lich: Der „Elterngenera­tion“, um in der Begriff­lichkeit zu bleiben, ging diese Form der Anpassung zu weit, aber sie tolerierte sie; die „Kindergenera­tion“ blieb von der christ­ lichen Thematik solcher Bilder unberührt, sah nur das Kunstwerk, nicht die Botschaft, die es transportierte. Das religiöse Empfinden hatte einen Wandel erfahren, der diese Genera­tion tiefer in die christ­lich geprägte Kultur führte, sehenden Auges, ohne in ­diesem Wandel auch den Verlust zu begreifen. Hier aber zu folgern, von der Frömmigkeit der Eltern sei bei den Kindern nichts geblieben, wäre falsch. Tatsäch­lich ist von Glaubensfragen in den Brautbriefen die Rede – auch darüber musste z­ wischen den Verlobten gesprochen werden. Das Thema kam nicht als Bekenntnis daher, sondern tauchte eher nebenbei auf, als Sophie von der töd­lichen Erkrankung eines Kindes berichtete. Bei so plötz­lich herein brechendem Unglück wird das Gefühl wie macht- und hilflos der Mensch ist, so recht lebendig und das schauer­liche Bewusstsein, dass alles Glück an einem Haar hängt zum Erschrecken deut­lich. Man fühlt sich so sicher, wenn alles gut geht und meint, so müsse es immer bleiben, und dann kommt so etwas und zeigt auf wie schwachen Füssen unser Leben steht. Ohne es selber zu wollen, fühle ich mich dann in der Macht eines blinden Zufalls gegeben, und der Gedanke an eine waltende Macht tritt zurück, während es mir im Glück gerade umgekehrt geht. Das missbilligst Du gewiss, aber es ist unwillkür­lich: das letzte macht mich demütig und fromm, während ich mich in Schlimmes füge, weil ich muss …… (Sophie, 20. 8. 1867). Zwischen blindem Schicksal, das Unglück über Menschen verhängt, und einer waltende[n] Macht, die ihr im Guten erfahrbar war, sah sich Sophie – von der jüdischen Gottergeben­ heit eines Hiob genauso weit entfernt wie von christ­licher Demut, die noch im Unglück einen höheren Ratschluss glaubt. Dass das nicht die „rechte“ Art des Glaubens war, wusste Sophie, aber es ist unwillkür­lich (ebd.), also gleichsam ein Reflex, dem der Verstand (oder der Glaube) nicht beikommen kann. Dass diese Einstellung für eine Jüdin merkwürdig ist, war Sophie bewusst. Dass Otto ihre Haltung nicht teilen würde, wusste sie. Das schrieb er auch: 323 In der Hamburger Wohnung finden wir neben Familienbildern die Porträts Lessings und Riessers* an den Wänden (1886 kommen Zunz und „Onkel Ehrenberg“ dazu), außerdem Landschaften und allegorische Szenen. Als Onkel Moritz 1886 stirbt, der ja auch in der islerschen Wohnung wohnte, erfahren wir, dass über seinem Sofa das Bild des deutschen Kaisers hängt. Sophie hatte es ihm geschenkt. 324 Siehe das Kapitel „Die Bilder“, in dem der Passus vollständig zitiert wird.

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Es ist ein grosses Unglück, dass Du [… nur?] im Glück Gottergeben bist. Denn gerade im Unglück ist immer das Gottvertrauen am Nöthigsten und der triftigste Grund, den ich für die Existenz Gottes anzusuchen weiss, ist gerade das Bedürfnis des Gottesglaubens im Unglück (Otto, 22. 8. 1867, im Brief vom 21. 8. 1867). Schicksalsschläge würden nicht ausbleiben, Krankheit, der Tod geliebter Menschen, Katastrophen – wie sollte Sophie bei dieser Einstellung mit Unglück fertigwerden? Kam hinzu, dass Otto in Sophies Haltung etwas Geschlechtsspezifisches sah und glaubte, auch die Ursache zu kennen: Es scheint fast, als ob es mehr Frauen so ergeht wie Dir. Tante Sally war auch fromm im Glück und hat seit Onkel Hermanns Tod ihr Gottvertrauen verloren. Ich glaube, dass dies die Folge davon ist, dass Ihr beide sehr verzogen seid. Tante Sally ist durch ihren mann und Du bist durch die ­Mutter verzogen. Ich werde mir Mühe geben, nicht in die Fusstapfen meines guten Onkels Hermann zu treten, sondern ich hoffe, dass mein Weib dereinst gestählt sein wird um auch schwere Schicksalsschläge mit Gottergebung zu ertragen (ebd.). Ottos Feststellung, dass Sophie verzogen sei und deshalb nicht im Stande, sich gegenüber Schicksalsschlägen zu behaupten, überrascht, meint er doch außerdem, Emma hätte alles Schwere von ihr ferngehalten. Das aber hätte so gar nicht deren Realitätssinn entsprochen. Mit dieser Interpreta­tion wollte sich Sophie auch nicht einverstanden erklären und holte nun doch zu einer längeren Erklärung aus, in der sie z­ wischen Glauben und Sitt­lichkeit unterschied: Warum Du aus dem was ich über Religion und Glauben gesagt habe, den Schluss ziehst, dass ich verzogen bin und dasselbe bei Tante Sally als Grund derselben Erscheinung annimmst, leuchtet mir nicht ein, da ich den Zusammenhang nicht sehe. Ich bin ja doch nicht geprüft aber ich glaube nicht, wenn mich Unglück trifft, dass ich mich weniger gut dabei benehmen würde als ich es meiner natur nach überhaupt kann, oder dass das Gefühl der Ergebung in den Willen Gottes mir eher dazu verhelfen würde. Glaubst Du dass tante Jeanette ihr schweres Schicksal durch diese Hilfe so würdig trägt, oder nicht vielmehr, weil sie weiss, dass es als sitt­licher Mensch an und für sich ihre Pflicht ist, es mit Aufwand aller ihrer Kräfte so gut zu ertragen, wie sie es eben kann? Die Kraft ist nicht jedem in gleichem Mass gegeben, aber das Streben danach wird ein denkender [und denkender] Mensch sich unter allen Umständen anzueignen haben (Sophie, 22. 8. 1867). Sophies Rigorismus in dieser Frage ist erstaun­lich. Dass es Pflicht eines sitt­lichen Menschen sei, Schmerz auf jeden Fall würdig zu ertragen, ja sich die Kraft dafür unter allen Umständen anzueignen, setzt nicht nur eine reflektierte, sondern auch eine starke Persön­lichkeit voraus. Sich selbst hielt sie einer solchen Leistung für fähig. Weder ging sie dabei auf das von Otto benutzte Geschlechterraster ein – verzogene Frau, schwach im Unglück –, noch auf die Gottesfrage. Der sitt­liche Mensch hat die Pflicht, mit Leid fertig zu werden. Punkt. Das war auch eine Entscheidung z­ wischen passiv ergebenem Hinnehmen und aktiver Auseinandersetzung, ja Verarbeitung, und Sophie war für eine aktive Haltung und Gespräch. Gegenüber dieser Eigenleistung sah sie die gläubige Unterordnung unter Gottes Entscheidung als mög­ licherweise leichtere Lösung an. Ist es ein gläubiges Gemüth was unter allen Umständen sich unter einen hohen Willen beugen kann und jedes Unglück vielleicht als Erziehung ansieht,

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so ist es vielleicht leichter und man braucht nicht so viel aus sich selber zu schöpfen. Das Resultat wird wohl in beiden Fällen gleich sein. Ohne schmerz­liches Kämpfen und ­Ringen wird es hier wie dort nicht abgehen (ebd.). Sophie jedenfalls betrachtete sich keinesfalls als unvorbereitet und in Ottos Sinne „verzogen“; sie hatte die Mög­lichkeiten durchdacht, wahrschein­lich wenigstens mit der ­Mutter, vielleicht auch mit beiden Eltern besprochen und war zu einer Überzeugung gekommen. Aber: Sophie nahm für sich den sitt­lichen Menschen in Anspruch, nicht den frommen, und machte damit deut­lich, wie säkularisiert sie erzogen worden war. Dass sie sich damit auch von christ­lichen BürgerInnen unterschied, schien ihr nicht bewusst, setzte sie doch Sitt­lichkeit hier als lo­gische Konsequenz für einen gebildeten Menschen: Mir ist der Gottesglauben sehr sehr viel und könnte ihn nicht entbehren, aber ich glaube, dass es eine höhere Anschauung ist, die Dinge einfach deshalb zu thun, weil sie recht und sitt­lich sind (ebd.). Wenn Sophie hier vom „mora­lischen Gesetz in uns“ sprach, trat sie als sehr moderner Mensch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf, auch wenn sie betonte, wie wichtig ihr der Gottesglauben sei. Ihre Tochter Helene sollte 1905 an Ephraim M. Lilien*, ihren späteren Mann, schreiben, dass ihre ­Mutter ledig­lich „aus Pietät“ am Judentum hänge.325 Damit traf sie wohl den Kern der mütter­lichen Haltung. Religion war für Sophie historisch gewachsenes, lieb gewordenes Brauchtum, dessen Bedeutung in einer durch geistige Entwicklung überwundenen Vergangenheit ruht und ehrfurchtsvoll belassen wird. Sophies „säkularisierte“ Haltung wird noch an anderer Stelle belegt: Im Zusammenhang mit den Vorträgen Karl Vogts*, der erst in Hamburg, danach in Braunschweig auftrat und großen Zulauf hatte, weil sein Vortrag […] hinreissend (Sophie, 16. 2. 1868) gewesen sein soll, ging es um die Evolu­tion. Sophie berichtete aus Braunschweig, dass Frau Hausmann geäußert habe, […] im Ganzen wäre ihr seine Theorie der Schöpfung garnicht recht, sie bliebe lieber bei der Überlieferung! (ebd.). Und Sophie fügte hinzu: Und das von einer so gescheiten Frau! (ebd.). Nachdem Sophie noch berichtet hatte, dass der Bräutigam von Fräulein ­Westermann  326 gesagt habe, […] er fände es unrecht, der Menge etwas zu rauben, ohne etwas anderes an die Stelle zu setzen (Sophie, 17. 2. 1868, im Brief vom 16. 2. 1868), fuhr sie fort: Glauben denn wirk­lich halbwegs vernünftige Leute, dass die Welt in 6 Tagen geschaffen ist? Ich dachte darüber wären in unserer Zeit selbst die Kinder hinweg (ebd.). Emmas Antwort nahm den Vorfall auf und interpretierte ihn zugleich als Unterschied z­ wischen Juden und Christen: Dass Dich Mad. Hausmann mit ihrer Ansicht über die Schöpfungsgeschichte etwas in Erstaunen gesetzt hat, begreife ich. Ich glaube Du musst dich bei christ­lichem Umgang auf ­solche Erfahrungen vorbereiten. Bei den Juden geht Bildung und Freisinnigkeit fast immer Hand in Hand, ein Brechen mit der Orthodoxie ist fast notwendig bei ihnen. Bei den Christen geht aber die Bildung ruhig von einer Genera­tion zur anderen und

325 Im Juli 1905. E. M. Lilien, Briefe an seine Frau, S. 8. 326 Tochter des Herausgebers der „Monatshefte“ in Braunschweig.

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wie sie, erbt sich gar manche Tradi­tion fort, die da nicht hin zu gehören scheint (Emma, 19. 2. 1868). Wieder einmal fasst Emma in einem Satz die Überlegung zusammen, die ihr den Unterschied ­zwischen den Religionen markiert. Obwohl es von Meyer in d­ iesem Zusammenhang keinen Brief gibt, sind Emmas Äußerungen wohl so zu verstehen, dass sich die Familie Isler, und damit auch Sophie, als „freisinnig“ empfand: Sie hatte mit der Orthodoxie gebrochen und stand auch in religiösen Fragen zu den eigenen Überzeugungen. Für einen Christen konnte der öffent­lich gemachte Vorwurf, freisinnig zu sein, im 19. Jahrhundert beruf­liche und gesellschaft­liche Folgen haben, denn man setzte den Begriff mit atheistisch gleich – ein für Beamte z. B. vernichtender Vorwurf. Für die jüdische Familie Isler galten derartige Konsequenzen natür­lich nicht. Sie verstand sich als freisinnig in der Bedeutung eines aufgeklärten Judentums. Sophie grenzte sich etwa von den befreundeten Wohlwills ab, die sie zu den „ganz Freisinnigen“ rechnete: Mit Abneigung sprach sie [Fräulein Specht, eine Christin] sich über die antireligiöse Richtung aus und das ist eine Untoleranz die ich ihr bei ihrer Anschauung, die das einzige Heil und Trost in der Religion sieht, eher zu Gute halte, als das Umgekehrte: wenn die ganz Freisinnigen sich gegen den Gottesglauben, oder wenigstens gegen alles Kirch­liche so schroff verhalten wie z. B. so ausgezeichnete Menschen wie Wohlwills* thun. […] Wohlwills die ja in jeder Weise nur für das Wohl anderer menschen bemüht sind, würden sich nie bei Wohltätigkeitssachen betheiligen, die in religiösem Sinne unternommen werden (Sophie, 19. 5. 1867). Sophie verlangt also denjenigen, die sich ganz von der Religion gelöst hatten, eine souveränere Haltung ab, weil Vernunft und Toleranz gleichsam zusammengehörten und deshalb auch gelebt werden müssten. Ob sie selbst diese mangelnde Toleranz zu spüren bekommen hatte, bleibt unerwähnt. Aber dass Sophie sich nicht zu den ganz Freisinnigen (ebd.) zählte, wird auch deut­lich. Sie war keine (wort-)gläubige Jüdin, sondern eine junge Frau, die sich der jüdischen Religion verbunden fühlte. An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass Sophie über zwei Jahrzehnte im Braunschweiger Tempel und in der Gemeinde nicht heimisch wurde; vermut­lich hat sie erst nach dem Tod der Eltern angefangen, sich mit dem Braunschweiger Judentum zu arrangieren, schließ­lich wuchsen ihre Kinder in diese Gemeinde hinein. Im Sinne tradi­tioneller Verbundenheit praktizierten Otto und Sophie in Braunschweig ihr Judentum, aber sie taten es auf sehr unterschied­liche Weise. Davon berichtete Sophie am Versöhnungstag 1868, knapp ein Jahr nach der Hochzeit. Für mich ist der Festtag äusser­lich zu Ende: ich bin von 10 – 1 im Tempel und seitdem sieht es wie jeder andere Tag aus, nur mir ist nicht so zu Mute. Es ist doch nichts für sich allein zu feiern, ich bin verstimmt und will mich nun so nah zu Euch versetzen wie man es schreibend kann. Otto und ich stimmen darin überhaupt nicht überein: er ist unend­lich viel gläubiger als ich, aber Gottesdienst und Festtage kennt er nicht und begreift nicht, wie ich Wert darauf legen kann (Sophie, 26. 9. 1868). Die Festtage fest­lich auch im eigenen Haus zu begehen, war Sophie ein Bedürfnis, aber in Braunschweig wurde daraus nichts, weil Otto dieser Tradi­tion fern stand. Blieb der Tempelbesuch. Sophie besuchte den Tempel, um dort vor allem interessante und berührende Predigten zu hören und sich dadurch erhoben und fest­lich gestimmt zu fühlen. Doch sie wurde

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in Braunschweig in der Regel enttäuscht. Für Otto waren Tempelbesuch und Einladung des neuen Rabbis vor allem Handlungen, die seinen Status in der Gemeinde wahrten, mit Frömmigkeit hatte das nichts zu tun. Er hatte von Kind an gelernt, außerhalb des Tempels zu beten, wann immer und wo immer ihn das Verlangen danach überkam. Ein Bedürfnis für gemeinsamen Gottesdienst kenne ich gar nicht. Ich bete jeden Morgen und jeden Abend in meiner Kammer, wo ich viel ungestörter und frommer bin als im Tempel. […] Jedenfalls hat mir meine M ­ utter obgleich (wie ich erst ­später erfahren habe) ungläubig, von Jugend auf einen sehr festen Gottesglauben eingeprägt, den ich nach Überwindung in Jugend­ periode vollständigen Unglaubens, stets bewahrt habe (Otto, 28. 9. 1868). Die ihm im Rahmen der Gemeinde angetragenen Ämter nahm er selbstverständ­lich wahr und trug damit seiner Stellung Rechnung. Seine Tochter Helene schrieb an Ephraim M. Lilien*: Sie haben gewiss von der großen Samsonschen Familienstiftung gehört, die in Wolfenbüttel ein Internat hat. Der Stifter war mein Vorfahr, mein Vater ist Kurator der Stiftung und außerdem Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde. Und trotz allem diesen spielt das Judentum keine Rolle bei uns […] (Helene Lilien, hier noch Magnus, im Juli 1905).327 Folgt man ­diesem Urteil, wurde das noch in Hamburg gelebte Judentum Sophies in der Braunschweiger Familie zur routinemäßigen Erfüllung eher kulturell verstandener Standards. Die beiden Kinder des Paares (Rudolf, geboren 1873, und Helene, geboren 1880) wuchsen in einem säkularisierten bürger­lichen Haushalt auf, unter den Bildern, mit denen ihre Eltern nach dem allgemeinen Geschmack der Zeit ihre Räume dekoriert hatten. Aber es war ihnen bewusst, dass sie zu einer jüdischen Familie gehörten. War Sophies Kindheit und Jugend in Hamburg noch geprägt von den vielen Gesprächen über die Reform der Religionsausübung, erlebten Sophies Kinder ein modernes Judentum, dessen Verhaltensmuster sich nicht mehr signifikant von denen ihrer christ­lichen Umwelt unterschieden.328 Eine Diskussion darum erlebten sie nicht mehr. Allerdings: Die Geburt Helenes 1880 führte zu Überlegungen bei Magnussens, wie nun die beiden Kinder – Rudolf war inzwischen sieben Jahre alt – religiös unterwiesen werden sollten und was ihnen vorzuleben wäre. Und hier ist schon eine Wendung zu jüdischem Brauchtum erkennbar: Der Sederabend wurde nun feier­lich begangen und andere Festtage wurden deut­licher eingehalten; auch wurde offenbar Rudolf zum Besuch des Tempels erzogen. Solange er zur Bürgerschule ging, fand für ihn der Religionsunterricht in der jüdischen Schule statt. Nachdem er aufs Gymnasium gewechselt hatte, nahm er dort am Religionsunterricht teil, solange das Alte Testament behandelt wurde, dann trat er aus dem Unterricht aus und wurde vor allem von Sophie über das Neue Testament

327 E. M. Lilien, Briefe an seine Frau, S. 8. 328 Rudolf z. B. wurde 1887 „konfirmiert“, von „Bar Mizwa“ war im Reformjudentum nicht mehr die Rede. Andererseits fastete er in ­diesem Jahr zum ersten Mal am Versöhnungstag, wurde aber zu Meyers Verwunderung dabei ohnmächtig (Briefe 1887/8).

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informiert. Als Onkel Morchen 1886 kurz nach Emma starb, fragte Sophie beim Vater an: Ist vielleicht von Onkel Moritz* ein talles 329 da? Er hat doch gewiss einstmal einen besessen: Rudolf möchte gern einen haben (Sophie, 9. 10. 1886). Und Meyer antwortete: Rudolf kann das meinige bekommen, das so gut wie neu ist (Meyer, 11. 10. 1886). Sophies Dank und erstaunte Rückfrage, ob denn der Vater den Talles nicht selber brauche, weil er ihn doch sonst immer am Versöhnungstag umgehabt (Sophie, 19. 10. 1886) hatte, führte zu einer genaueren Informa­tion: Den Talles habe ich schon seit vielen Jahren nicht gebraucht, die tempelgemeinde hat sich daran annuyiert [ennuyiert?]. Wenn ich zur Thora gerufen werde, borgt der Küster eines, das dem Tempel gehört, und gleich nachher wieder abgeholt wird (Meyer, 20. 10. 1886). Auch in der Hamburger Reformgemeinde waren die Entwicklungen weitergegangen – man hielt einen „Dienstmantel“ bereit, weil die privaten bei vielen wohl eher in Vergessenheit geraten waren. Ob Otto einen Talles besaß und benutzte? In den Briefen ist nie die Rede davon. An den hohen jüdischen Festtagen besuchten die Braunschweiger den Tempel, aber solange Herzfeld* Rabbi war, wurde wenig gepredigt: Dr. Rulf* wird heute 2 mal predigen, eine bisher für braunschweig unerhörte tatsache, da Dr. herzfeld überhaupt nicht gepredigt, sondern nur ein Gebet vorgelesen hat (Sophie, 9. 10. 1886). Auch deshalb fühlte sich Sophie immer wieder fremd und sehnte sich nach dem Hamburger Gottesdienst. Noch 1886 schrieb sie an den Vater: Es ist manches Hübsche im hiesigen Gottesdienst, besonders die schönen Gesänge, aber ich habe doch manchmal rechtes Verlangen nach dem geordneten Tempelgottes­dienst (ebd.). Der Vater antwortete sofort: Wenn Du künftig einmal dem tempelgottesdienst beiwohnen willst, so schreibe mir zur rechten Zeit und ich werde Dir, falls ich noch vorhanden bin, eine Stelle nehmen (Meyer, 11. 10. 1886). Leider erfährt die Chronistin nicht, ob es bei Sophies nächstem Besuch dazu gekommen ist. Aber während Sophie in Braunschweig auch von den zwei Predigten am Versöhnungstag unbefriedigt blieb, fühlte sich der dreizehnjährige Rudolf richtig wohl: Nur Rudolf ist immer sehr zufrieden, er weiss prachtvoll im Gebetbuch bescheid, sieht nie auf und ist immer interessiert und beschäftigt (Sophie, 12. 10. 1886).330 Bald darauf heißt es dann wieder: Bei uns sind auch die festtage spurlos vorüber gegangen, keiner konnte in den Tempel […] (Sophie, 15. 10. 1886).

329 Talles, Tallit = Gebetsmantel. 330 Rudolfs religiöses Interesse schwand mit den Jahren. Als der junge Privatdozent 1903 Gertraud Helene Rau, eine Münchner Bankierstochter, heiratete, fand die Trauung in einer Münchner K ­ irche statt: beide waren getauft. Rudolfs Sohn Otto Magnus berichtet in „Rudolf Magnus, […] Biographie“, dass sein Vater nicht religiös gewesen sei. Ob Rudolf sich den Weg zur Professur durch die Taufe hatte erleichtern wollen, muss ich offen lassen. Außerordent­licher Professor war er in Heidelberg geworden, aber die ordent­liche Professur erhielt er 1908 in Utrecht, also nicht im Deutschen Reich. Allerdings: 1915, ein Jahr nach Beginn des E ­ rsten Weltkrieges, erhielt Rudolf einen Ruf nach Halle als Nachfolger des Pharmakologen Harnack. Er lehnte den Ruf ab.

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Abb. 15  Das eigene Haus in Braunschweig, bezogen Anfang Juli 1887

Der letzte Satz macht die „modernen Zeiten“ deut­lich: Die tüchtige „junge“ ­Braunschweiger Familie kam in jeder Hinsicht gut voran: Ottos Praxis florierte, das Vermögen wuchs, ein eigenes Haus wurde gebaut, Otto und Sophie waren häufig eingeladen, die Erziehung der beiden Kinder über Schule, Musikunterricht und Freizeitverhalten forderte besonders die ­Mutter – da war die Zeit knapp und für Religiöses blieb wenig Muße. Zwar verbarg die Familie Dr. Magnus junior ihr Judentum nicht, aber die Religionsausübung war kein inneres Bedürfnis mehr. Das war in den protestantischen Bürgerfamilien wohl nicht anders. Kirchen­ besuch an Sonn- und Feiertagen und Religionsunterricht für die Kinder waren Pflicht, aber sie waren eher Statussymbol als frommes Verlangen. Als Magnussens 1886 den neuen Rabbi und seine junge Frau einluden, achtete Sophie vorsorg­ lich darauf, dass die Speisenfolge die religiösen Gesetze einhielt und auch zweierlei Geschirr und Bestecke vorhanden waren, stellte aber hinterher fest, dass sie Fehler gemacht hatte: Die bewirtung bestand aus gekochtem Fisch, dann einem Gänsebraten, den ich nebst Geschirr und messern und gabeln aus dem jüdischen Restaurant hatte; dann Butter und Käse, was falsch war, woran ich aber nicht gedacht hatte und Nusstorte, die sie vielleicht streng genommen nach Fleisch auch nicht hätten essen dürfen, wovon aber glück­licherweise keine Rede war … (Sophie, 31. 10. 1886). Die rituellen Gesetze waren Sophie grundsätz­lich bekannt, aber sie blieben selten praktiziertes Wissen, das im Ernstfall nicht sicher funk­tionierte. Dass d ­ ieses Wissen hier zum Einsatz kam, hatte auch mehr mit einer „guten“ Gastgeberin zu tun als mit religiösen Überzeugungen. Der Prozess der Akkulturation   |

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Sophie selbst und Otto hätten sich wohl als moderne Juden bezeichnet und an ­diesem Judentum hielten sie fest, wenn sie auch in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis immer mehr in die Defensive gerieten. Die Zahl der Mischehen wuchs im Kaiserreich und in ­jüdischen Familien wurde die Frage diskutiert, ob man die Kinder nicht lieber taufen sollte, um ihnen den Lebensweg zu ebnen. Für Otto und Sophie wäre ein solcher Schritt undenkbar gewesen und vielfach wird in den Briefen Sophie zitiert, die gesagt hatte: Wenn ihre Kinder Christen wären, würden sie ihr wie Fische vorkommen.331 Die Taufe wäre demnach für Sophie ein Hinüberwechseln in eine andere Dimension gewesen – das Leben in einem menschenfernen, kühlen Element, in dem man zum Atmen Kiemen braucht. Fremder hätte sie sich ihren Nachkommen gegenüber wohl nicht fühlen können.332 Der Ausspruch offenbart allerdings auch Sophies Gefühl gegenüber ihrer Religion: behag­liches Sich-­Einkuscheln im schon immer Vertrauten.

Judentum als Belastung und aufkommender Antisemitismus Bleibt die Frage, was denn vom Judentum bei dieser bürger­lichen Familie wirk­lich geblieben war. Mög­lich, dass Sophie und Otto und diese ganze Genera­tion ihr Judentum „vergessen“ hätten, wäre nicht ihre Umwelt gewesen, die ihnen ein Vergessen unmög­lich machte. Bei aller wirtschaft­lichen Sicherheit, bei aller gesellschaft­lichen Integra­tion in das ­Braunschweiger Bürgertum blieb ihre Stellung eine heikle. Als 1888 in Braunschweig eine „Mägdeherberge“ gegründet wurde, wurde Sophie in den Ausschuss gewählt und wusste doch, dass es offenbar eine Prinzipienfrage war, eine Jüdin hinein zu wählen (Sophie, 7. 5. 1888); sie hatte dort weder etwas zu tun noch mitzusprechen, es ist also ein sehr unerquick­liches Amt (ebd.). In der Tat: nach so viel Engagement und Verantwortung, wie Sophie und ihre Schwägerin Bertha Magnus° in Vereinen und bei Wohltätigkeitsunternehmungen in den vergangenen zwanzig Jahren in Braunschweig gezeigt hatten, ledig­lich als Alibijüdin in den Ausschuss zu kommen, war demütigend. Dabei wurde die offizielle Gleichstellung der Juden mit der Verfassung von 1871 festgeschrieben, aber der dort ebenfalls verankerte Föderalismus, der den Einzelstaaten viele Sonderrechte beließ, sorgte dafür, dass gerade in dieser Frage alte Vorurteile und Ausgrenzungen fortlebten, wie man auch an der Verweigerung des Notariats für jüdische Anwälte in Braunschweig sieht: Erst der Tod des Regenten Prinz Albrecht* 1906 machte den Weg frei für Viktor Heymann*, end­lich auch Notar in Braunschweig zu werden, für Otto Magnus kam er zu spät.333 331 Ein Beispiel: Emma zitiert Sophie: „[…] wenn Deine Kinder Christen wären[,] würde es sein[,] wie wenn Du Fische zu Kindern hättest“ (Emma, 16. 8. 1872). 332 Dass sich Rudolf ­später taufen ließ, hat augenschein­lich zu keiner Entfremdung z­ wischen Eltern und Sohn geführt: Rudolf und seine Familie verbrachten häufig die Ferien bei den Braunschweiger Eltern. 333 Zu ­diesem Komplex: Isermann, Schlüter (Hg.), Justiz und Anwaltschaft in Braunschweig, 2004.

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Für das Leben der jüdischen Minderheit im neu gegründeten Na­tionalstaat Deutsches Reich brachte die Verfassung von 1871 also nur eine relative Gleichheit. Die in der Revolu­ tionsverfassung von 1849 vorgelegten Grundrechte fehlten, stattdessen sicherte die Verfassung allen Bürgern zu, in jedem Bundesstaat als „Inländer“ behandelt zu werden. Damit war die tatsäch­liche Situa­tion in den einzelnen Reichsländern entscheidend. An ihr zeigte sich, dass der Antijudaismus der vergangenen Jahrhunderte sich fest in Menschen, Rechtssystemen und Institu­tionen eingenistet hatte. Deutsche jüdischen Glaubens blieben in Beamtenapparat und Heer Bürger zweiter Klasse, ihre Aufstiegsmög­lichkeiten waren begrenzt. Ordent­licher Professor zu werden z. B. zwang jüdische Bewerber zur Taufe, ohne die eine s­olche hohe Beamtenstelle nur als Sonderfall zu erreichen war. Das traf die mit Meyer Isler (und damit natür­lich auch Sophie) eng verwandten Ehrenbergs: Philipps Söhne Viktor* (1851 – 1929, Jurist) und Richard* (1857 – 1921, Volkswirtschaftler) wurden Ordinarien, nachdem sie sich hatten taufen lassen. Sie taten das am Ende aus Überzeugung, aber wer will heute beurteilen, ­welche Rolle bei ­diesem Schritt die trotz allem prekäre Situa­tion der jüdischen Bürger gespielt hatte? Der ständige Einfluss einer protestantischen Umgebung, eines kulturellen Umfeldes, in dem man ja bis auf die Glaubensfrage überall übereinstimmte, werden ihren Anteil an dieser ganz persön­lichen Entwicklung gehabt haben, genauso wie die Verheiratung mit einer christ­lichen Frau. Benachteiligungen und Vorurteile auf Seiten der christ­lichen Gesellschaft waren das eine, Zuschreibungen und Ängste auf Seiten der deutschen Juden das andere – beides führte zu einer immer wieder aufbrechenden Verunsicherung. In Sophies Briefen der Brautzeit findet sich die Frage nicht als Problem, aber 1877, zehn Jahre nach der Hochzeit, schrieb Sophie aus dem Ferienaufenthalt in der Schweiz an die Eltern in Hamburg von der Bekanntschaft mit einem „wundernetten Ehepaar“ mit denen wir seither immer zusammen waren (Sophie, 20. 7. 1877). Für einen Moment wird sichtbar, in welch schwieriger Lage sich die in Braunschweig angesehenen und integrierten Magnussens an ihrem Ferienort befanden. Es sind junge sehr zugäng­liche Leute, die Frau sehr hübsch und überaus munter und lebhaft. der Mann ernster aber auf Alles eingehend. Wir hielten ihn für einen Juristen […] nun ist er Prediger und Inspector am [evange­lischen] Johannesstift in Berlin […]. Man merkt nichts von einer extremen Richtung und ich habe mit der Frau schon sehr eingehend gesprochen, ohne im Geringsten auf ein Hinderniss zu stossen. […] Unter den übrigen Damen habe ich noch nichts besonderes gefunden, daher ist die Pastorin ein rechtes Glück für mich (ebd.). Sophies Freude über die Bekanntschaft ist deut­lich, aber der unbefangenen Leserin fällt die Andeutung eines etwaigen „Hindernisses“ auf. Der nächste Brief Sophies wird expliziter, er berichtet von Angst und Verstimmungen (Sophie, 22. 7. 1877) und fährt dann fort: Ich bildete mir allerhand ein, die Leute hätten Vorurteile gegen uns etc. etc. bis ich merkte, dass das nur subjective Stimmungen waren […]. Wir können mit Müllers so schön etwas unternehmen […]. Wir passen so prachtvoll zusammen und kommen uns so nahe, mit Umgehung dessen was uns trennt, dass ich mir immer die Richtung der sie ihrer Stellung und allen ihren Interessen nach, angehören müssen, erst immer wieder klar machen muss. Ich möchte Der Prozess der Akkulturation   |

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so gerne, dass wir ohne Erörterung auseinander kämen, ich bin so feige und scheue mich vor einer solchen Aufregung (ebd.). Erst ­später im Brief wird erahnbar, was Sophie bedrückt und was den Eltern von Anfang an beim Lesen dieser Zeilen klar gewesen sein muss: Eben war Kirchgang […]. Müllers haben sich ganz freundschaft­lich von mir getrennt, sie scheinen meine Ketzerei ruhig hinzunehmen, wie es aber mit dem Judentum stände?! (ebd.).334 Das also ist es, das mög­liche „Hindernis“, die „Erörterung“, der Sophie gern aus dem Weg gehen möchte, weil sie die „Aufregung“ scheut. Erstaunt liest die Chronistin, dass „Ketzerei“ offensicht­lich weniger schlimm als „Judentum“ gewertet wurde; wenigstens sah Sophie das so. Emma hatte sofort verstanden, was hinter Sophies Andeutungen steckt; sie antwortete auf den ersten Brief, der zwei Tage nach Hamburg brauchte: Hast Du bei eingehender Unterhaltung mit Frau Pastor Müller erwähnt, dass Du Jüdin bist. Oder hast Du das auf sich beruhen lassen? (Emma, 23. 7. 1877). Auf Sophies Ängste ging sie nicht ein und auch nicht auf die Zuschreibungen, die Sophie ja selbst als „subjektive Stimmungen“ erkannte. Sophies folgender Brief kehrt noch einmal scharf heraus, worum es geht: […] ich habe auf der Reise immerfort das Gefühl wenn die Leute, die uns so freund­lich entgegen kommen[,] wüssten, dass wir Juden sind, würden sie uns für etwas fremdartiges halten und sich von uns abwenden. Es wäre viel richtiger den Kampf aufzunehmen und zu sagen: Seht, wir werden doch dadurch keine anderen Menschen als wir waren, ehe ihr das wusstet, also gebt ein Vorurteil auf, aber – ich mag nicht (Sophie, 23. 7. 1877). Für uns wird deut­lich: Das offene Bekenntnis zur jüdischen Religion konnte Auseinandersetzungen hervorrufen, konnte zum Abbruch freundschaft­licher Beziehungen führen, isolierte Juden auch dort, wo es nicht nötig gewesen wäre, weil die Erfahrungen mit ­solchen Vorgängen zur Vorsicht mahnten, weil sie im Zweifelsfall zur ängst­lichen Beobachtung aller Reak­tionen christ­licher Gesprächspartner führten und dann jeder Äußerung und jeder Geste eine Bedeutung zuschrieben, die sie in Wahrheit vielleicht gar nicht hatten. Auch hier scheint das so zu sein: Ich dachte gestern, der Sonntag hätte uns ein wenig entfremdet, aber ich habe mich ganz getäuscht, denn Frau Müller hat es gerade gestern Abend so lebhaft und warm ausgesprochen, wie sehr leid es ihr tut, dass wir nicht die ganze Zeit zusammenbleiben ­können (ebd.). Sophies Judentum kam trotzdem nicht zur Sprache. Die herz­liche Zuwendung der jungen Pastorengattin am Sonntagabend legt die Vermutung nahe, dass Müllers ihrerseits längst wussten, dass sie es bei Magnussens mit Juden zu tun hatten, und durch ihren offenen und vertrauensvollen Umgang mit ihnen gerade zeigen wollten, dass sie keinerlei Vorurteile hätten. Nur: Sie hoben es nicht ins Wort. Vielleicht wäre sich die junge Frau als zudring­lich erschienen? Von Sophies Ängsten ahnte sie sicher nichts. Sprachlosigkeit also auf beiden Seiten? Wir können es nur vermuten. Emma war Sophies Situa­tion verständ­lich, und das zeigt, dass es sich eben nicht um eine individuelle „Beschädigung“ Sophies handelte. […] schade, dass das Gefühl dass Du etwas verschweigst Dir die Freude an dem Umgang verbittert, ich hatte dasselbe gefühl das letzte

334 Im Original nicht kursiv.

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Mal in Gastein. Es wäre vielleicht besser es wie Herr de Castro zu machen und sein Judentum überall zu betonen, es ist nur so unbequem wie wenn man mit Schwert und Helle­ barde umherliefe (Emma, 25. 7. 1877). Konnte Offenheit von Anfang an mög­liche Belastungen im Umgang mit Menschen vermeiden? Auch Meyer Isler äußerte sich an anderer Stelle zu ­diesem Thema:  […] ich trete auf Reisen Mensch dem Menschen gegenüber und Niemand hat Anspruch darauf, mehr von mir zu erfahren. […] So wenig ich nötig habe, dem Anderen zu erzählen, dass ich etwa Leichdorn 335 habe, eben so wenig brauch ich ihm mein[e] sozialen Leiden entgegen zu tragen, damit er sie auch gleich fühlen lasse. Das ist noch der Rest des Druckes, den wir mit uns herumführen: ich für meinen Theil fühle nie das Bedürfnis mein Judenthum zur Schau zu tragen. Ein Anderes wäre verleugnen […] (Meyer, 7. 8. 1872). Meyers Haltung zeigt ihn auch hier als (Hamburger) Bürger, der anderen aufrecht gegenüber tritt und die Beunruhigung Sophies und Emmas als Schlacken einer überwundenen Pariastellung einordnet. Für uns aber zeigt die von Sophie erzählte Episode, wie diffizil trotz aller „Gleichheit“ die Situa­tion deutscher Juden nach der Reichsgründung blieb. In Braunschweig finden sich neben Ottos vergeb­lichem Bemühen um ein Notariat auch andere Vorgänge, die zeigen, wie langsam sich die Gleichstellung jüdischer Mitbürger entwickelte. Das Beispiel liegt etwas ab: Weil Otto die Samsonschule gern modernisieren (vor allem den Legatenfond finanziell entlasten) wollte, suchte er nicht nur das Gespräch mit dem Direktor Philipp Ehrenberg* in Wolfenbüttel, sondern auch mit der Schulbehörde in Braunschweig. Für Otto waren jüdische „Sonderschulen“ überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Deshalb wollte er die jüdischen Knaben mög­lichst schnell in öffent­lichen Schulen unterbringen und ihnen in der Samsonschule neben einem „Erziehungspensionat“ nur noch Religionsunterricht und Hebräisch anbieten. Von der Lebenswirk­lichkeit „normaler“ Samsonschüler hatte Otto demnach keine Ahnung. Denn Ehrenberg widersprach dieser Absicht mit Gründen: […] dass die Knaben nach Wolfenbüttel zum Teil vom Lande, z. T. aus kleinen Städten in einem solchen Zustand kommen, dass es den höchsten Riches erregen würde, wenn sie sogleich in christ­liche Schulen geschickt würden, teils ihrer Sprache, teils ihrer Manieren wegen (Otto, 22. 11. 1868). Bei Emma, die sich gerade in Braunschweig aufhielt, klang das drastischer: Die Kinder die in die Anstalt kämen sind z. T. so völlig unkultiviert, so eingeschüchtert, dass sie wenn sie so ungeleckt in eine christ­liche Schule kämen, viel Hölle auszuhalten hätten, vor der auch der wohl wollendste Lehrer sie nicht ­schützen könnte. Und sie fügte an: Der erziehende Einfluss der Schule würde sich am besten in einer Anstalt wie die bisherige mit einigen Reformen geltend machen (Emma, 21. 11. 1868). Auch Ehrenberg* wollte die Schule modernisieren, sie aber nicht zur Religionsschule mit Pensionat degradieren. Er forderte näm­lich mehr Lehrkräfte, damit die Samsonschule ihrem Erziehungs- und Lehrauftrag erfolgreicher nachkommen könne. Die Schüler sollten die Reife zum Eintritt in die Secunda einer

335 Ältere Bezeichnung für Hühnerauge.

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Realschule 2ter Klasse erlangen und also falls ihre Verhältnisse dies gestatten, nach dem Abgang von Wolfen­büttel in eine s­ olche Schule eintreten und auf derselben die Qualifika­ tion zum Einjährigfreiwilligen Dienst erlangen können (Otto, 22. 11. 1868). Dieser Vorschlag war für Otto acceptabel (ebd.), eröffnete er doch Juden den Weg zum Reserveoffizier und damit den Eintritt in die ganz „gute“ Gesellschaft.336 Nur: Lieber wäre ihm gewesen, wenn die jüdischen Kinder früher an öffent­liche Schulen hätten kommen können. Darin stimmte er mit Oberschulrat ­Gravenhorst überein, der sehr dazu rät, die Kinder in die öffent­lichen Schulen zu s­ chicken und die Anstalt in ein erziehendes Pensionat um zu gestalten. Er meint die Zeitströmung sei durchaus gegen Absonderung und wie die Ritterakademien fielen, müssten auch die Judenschulen fallen (Emma, 19. 11. 1868, Donnerstag). Wird hier einerseits also auch von behörd­licher Seite Gleichheit angemahnt und auf die Zeitströmung verwiesen, räumt der Oberschulrat andererseits ein, dass Juden nicht mit Gleichbehandlung zu rechnen hätten, wenn sie z. B. als Lehrer in den Schuldienst wollten. Die „Zeitströmung“ war also eine einseitige, die von Juden Integra­tion als Vorleistung verlangte, ihnen aber Gleichheit erst ­später verhieß. Er […] teilte mir mit, dass in dem preus­sischen Reglement vorgeschrieben sei, dass jeder jüdische Examiner ein Revers (?) vor der Prüfung unterschreiben müsse des Inhaltes, dass er durch die Prüfung kein Recht auf Anstellung erlange, dass dieser Passus in das Braunschwei­gische Reglement nicht aufgenommen werde, dass aber trotzdem dieselbe Praxis befolgt werde (Otto, 22. 11. 1868). Man konnte in Braunschweig nicht einmal juristisch gegen diese Benachteiligung vorgehen, weil der diskriminierende P ­ assus nicht im Reglement stand. Seiner wahrhaft erstaun­lichen Mitteilung fügte Gravenhorst einen Rat an, den Emma nach Hamburg mitteilte: Er hat auch mit Otto über die Anstellung jüdischer Lehrer an christ­lichen Schulen gesprochen und meint, es würde gegen einen solchen Klassenlehrer sich starkes Vorurteil im Publikum regen; es müsse ein Direktor darauf sehen, die Juden als Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaften anzustellen und so ihre allgemeine befähigung anbahnen (Emma, 19. 11. 1868, Donnerstag). Unterstellt man, dass der Rat wohlmeinend gegeben wurde, spielte er doch den Vertretern des Antisemitismus das Argument zu, dass Juden nicht in der Lage ­seien, „gemütsbildende“ Fächer zu unterrichten, weil es ihnen an „Gemüt“ mangele. Ihre Abschiebung in den streng ra­tionalen Bereich des Schulunterrichts sollte bald schon als einseitige „natür­liche“ Anlage gewertet werden. Von wirk­licher Gleichheit war man also noch weit entfernt. Dass in der Freien und Hansestadt Hamburg die „Uhren“ anders gingen, wird auch daran deut­lich: Meyer Isler wurde 1872 wirk­licher Direktor der Stadtbibliothek und damit end­lich finanziell durch eine Posi­tion gesichert, die er schon jahrelang ohne diesen Titel und ohne diese Absicherung ausgefüllt hatte; im folgenden Jahr wurde er verbeamtet: Aus meinem

336 Ob Juden der Weg zum Reserveoffizier wirk­lich geöffnet gewesen wäre, muss ich offen lassen. Ein Reserveleutnant hatte Anspruch auf den Titel „Hochwohlgeboren“ und war satisfak­tionsfähig – für jüdische Bürger kaum vorstellbar.

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Leben das Curiosum, dass ich morgen nach fast 42 jährigem Dienst meinen Amtseid vor versammeltem Senat leisten werde. […] Ich erklärte mich bereit, da ich es ganz in der Ordnung finde, dass Beamte, denen ein bedeutender Theil des Staatsvermögens anvertraut ist, auch die volle verpflichtung dafür übernehmen, und sich darin allen anderen Beamten gleichstellen (Meyer, 19. 10. 1873). Und Emma antwortet: Dass Du jetzt noch einen Eid zu leisten hast, ist sehr merkwürdig: es schadet aber nichts. Vor 42 Jahren würde das wohl einem Juden die Stelle unmög­lich gemacht haben, gut dass es besser geworden ist (Emma, 21. 10. 1873).337 Immerhin: Ihm blieb die Taufe erspart; er hätte sich ihr der Stelle wegen auch mit Sicherheit nicht unterzogen. In ­diesem Punkt stimmten die Familien Isler und Magnus in der Religionsfrage überein: Eine Taufe kam nicht in Frage. Die naheliegende Vermutung, dass die späte Verbeamtung – schließ­lich war Meyer inzwischen fast 66 Jahre alt! – mit seinem Judentum zusammenhing, ist allerdings falsch: Durch Zufall kam in der Bürgerschaft zur Sprache, dass sämt­liche Angestellten (Meyer, 19. 10. 1873) nicht vereidigt waren. Das wurde jetzt nachgeholt. Die Vereidigung selbst fand im Sitzungssaal statt, wo der gesammte Senat in einem halbkreis sass (Meyer, 21. 10. 1873). Meyer musste sich vor den presidierenden Bürgermeister Haller stellen und ihm die Eidesformel nachsprechen: Was mir soeben vorgelesen ist, will ich getreu­lich halten so wahr mir Gott helfe! (ebd.).338 Dass Meyer Islers Stellung in Hamburg trotz allem etwas Besonderes war, erfahren wir anläss­lich seines 50-jährigen Dienstjubiläums, das mit öffent­lichen Ehrungen begangen wurde. Meine Gardinenstopferin hat mir heute nachträg­lich gratuliert und mir erzählt wie ihr vater gestrahlt hätte wie er ihr die Zeitung mit der Beschreibung der Feier gegeben hat: das wäre doch eine Ehre für alle Juden (Emma, 31. 1. 1882). Die Richter ausgenommen – gab es unter den Beamten Hamburgs noch mehr Juden in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren? In den einschlägigen Abhandlungen wird gern auf Meyer Isler verwiesen.339 In der (Volksschul-)Lehrerschaft soll es Juden gegeben haben. Aber waren sie Beamte?340 Die allgemeine Volksschule wurde in Hamburg ja erst mit dem Unterrichts­ gesetz 1870 gegründet.341

337 1833 war Meyers Versuch gescheitert, am Johanneum für das Schul[lehrer]examen zugelassen zu werden. „Dr. Isler, ein Israelit“, wurde für nicht „zulassungsfähig“ erklärt. Freimark, Juden auf dem Johanneum, 1979, S. 128. 338 Tag der Vereidigung: 20. Oktober 1873; Senator Kirchenpauer führte Isler in den Saal und begleitete ihn auch wieder hinaus. 339 So auch Krohn, Juden in Hamburg, S. 96. Nicht steht dort, dass Meyer Isler 1872 nach dem Tod ­seines Vorgängers Prof. Petersen monatelang warten musste, bis sein Direktorat bestätigt wurde. Isler definierte diese Wartezeit als Sparsamkeit der Behörde und die üb­liche bürokratische Langsamkeit. Er erhielt weder den Professorentitel noch eine Amtswohnung, die seine Vorgänger erhalten hatten. Seiner Forderung, mit vollen Bezügen pensioniert zu werden, entsprach die Behörde. 340 Ebd. 341 Siehe: Krohn, Juden in Hamburg, 1974, S. 144.

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Abb. 16  Ausschnitt aus einem Brief Brief Meyer Islers an Sophie und Otto Magnus über die Vorgeschichte seiner Pensionierung 1882

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Offen und intensiv gelebtes Judentum war mög­lich – für die Genera­tion, die in den ersten Jahrzehnten nach 1800 geboren wurde und sich über Bildung dem allgemeinen bürger­lichen Leben öffnete. Zwar wurde die Vorstellung, eine eigene „Na­tion“ zu sein, aufgegeben und der beschwörende Ruf nach „Erez Israel“, ins „Land der Väter“, zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen in den reformierten Gemeinden nicht mehr gesprochen, aber Jude zu sein und zu einer eigenen Religionsgemeinschaft zu gehören, bewahrte ein Gefühl der Identität und damit der Sicherheit über die Gruppenzugehörigkeit. Dieses Gefühl ging der Genera­tion Sophies und Ottos verloren. Sie musste eine neue Identität und Gruppenzugehörigkeit finden. So erklärt sich die Wendung vieler „moderner“ Juden, frommer und weniger frommer oder „ganz freisinniger“, zur deutschen Na­tion, zum Deutschtum, zum Na­tionalismus als neuem Gruppen-­Ich, in dem die Religion oder Nichtreligion überhaupt keine Rolle mehr zu spielen schien: Das ist die Genera­tion, der Sophie Isler und Otto Magnus angehören. Damit allerdings ist nur die Seite der jüdischen Integra­tion ins Deutschtum beschrieben. Beklemmender war die Entwicklung, die bald nach der Reichsgründung einsetzte und die jüdischen Mitbürger von neuer Seite mit alten und einigen neuen Zuschreibungen bedrohte: der Antisemitismus. Für ihn gab es vielerlei Gründe: den Rückgang des liberalen Denkens im deutschen Bürgertum zugunsten eines sich kräftig entwickelnden Na­tionalismus, der ja von Feindbildern und Ausgrenzungen lebt; die ersten Krisenerscheinungen in der Wirtschaft, die schon bald auf den Boom der Gründerjahre folgten; die stetige Verteuerung des täg­lichen Lebens, die besonders die proletarische Bevölkerung zu spüren bekam; die sich vergrößernde Kluft z­ wischen Arm und Reich und der so sichtbar zur Schau gestellte Reichtum der Kriegsgewinnler; die Auswanderungswelle, die den Arbeitskräftemangel verstärkte; die wachsenden sozialen Spannungen und das Auftreten der Sozialdemokraten – die Liste ließe sich fortsetzen. In diese Situa­tion fielen die Hassreden des Berliner Hofpredigers Stöcker* Mitte der 70er-­Jahre und fanden über die Presse weite Verbreitung und unter der Bevölkerung dankbare Abnehmer. Hatten sich früher die Angriffe gegen die Angehörigen einer anderen Religion gerichtet, wendeten sie sich jetzt gegen Menschen einer anderen Rasse. Mit der Rassenlehre und damit einer scheinbar wissenschaft­lichen Fundierung wurde der Hass gegen Menschen entzündet und geschürt, die sich gegen die ihnen vorgeworfenen Rassenmerkmale nicht wehren und sie auch nicht durch die Taufe abschütteln konnten. Man kann es auch so sehen: Nachdem sich Juden immer weniger als religiöse und kulturelle Minderheit erkennen ließen, machten die ihnen zugeschriebenen Rassenmerkmale sie wieder als besondere Gruppe in der Bevölkerung erkennbar, und selbst da, wo sie beim besten Willen nicht zu erkennen waren, markierte der hingeworfene Halbsatz „sieht gar nicht wie ein Jude aus“ einen Menschen in der Gesellschaft.342

342 Schon Klaus L. Berghahn datiert das Aufkommen des politischen Antisemitismus zeitgleich mit der beginnenden Emanzipa­tion. Seine Beobachtungen konzentrieren sich auf die Situa­tion in Preußen, während er gerade den Hamburger Juden größere Freiheiten bescheinigt. In: Berghahn, Grenzen der Toleranz, a. a. O., S. 263 ff.

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Das Entsetzen unter der jüdischen Bevölkerung war allgemein, wirkte sich aber unterschied­ lich aus: Sophies Eltern reagierten vergleichsweise gelassen; sie bewerteten die Angriffe als Reak­tion auf die Judenemanzipa­tion und damit als eine der üb­lichen Angriffswellen, die sich am Ende von selbst totlaufen würden und die mit der fortschreitenden Integra­tion allmäh­lich verschwänden. Auch Sophie und Otto blieben vergleichsweise ruhig. Die Braunschweiger Verwandten reagierten zum Teil fassungslos, persön­lich gekränkt, zum Teil auch panisch – sie brachten Vermögenswerte in Sicherheit. Die letzten Ausschreitungen gegen Juden in Deutschland lagen gut fünfzig Jahre zurück: die Hep-­Hep-­Unruhen um 1820, aber über aktuelle Angriffe auf Juden in Rumänien und Russland informierten die Zeitungen. Diese Nachrichten trafen auf Menschen, die aus den eigenen Familiengeschichten wussten, dass ­solche Angriffe und Existenzbedrohungen immer wieder erfolgt waren. Es waren Menschen, die sich gerade erst angeschickt hatten, den aufrechten Gang zu üben: Nicht Bittsteller wollten sie sein, sie wollten auf bürger­liche Rechte pochen dürfen. Finden wir auch das in den Briefen? Dass er kein „normaler“ Schüler war, erfuhr auch Rudolf – blond, klein, sport­lich – beizeiten. Schon während der Bürgerschulzeit wurde ihm schmerz­lich bewusst gemacht, dass er Jude war: Rudolf kam gestern weinend nach Hause, weil die Jungen ihn Judenitzig geschimpft hatten, eine ganze Schar war hinter ihm hergelaufen und zwei Mädchen hatten ihn dagegen in Schutz genommen. Mir tut mein herz weh, schrieb Sophie an die Eltern, tun kann man natür­lich nichts dagegen. Ich sagte, er müsse sich nichts daraus machen, sie hätten ihm ja nichts Schlechtes vorzuwerfen. Die besten menschen die er kennte wären Juden, also sollte er sich das nicht zu Herzen nehmen; sich nur die Lehre daraus ziehen, wie häss­lich es wäre zu schimpfen und wenn Viele über Einen herfielen, was er Beides mit Vorliebe tut (Sophie, 4. 3. 1882). Man könnte den Vorfall unter „normales Kindheitserlebnis“ abhaken, wenn er nicht signifikant wäre für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts. Emmas Antwort verwies darauf: Der arme Rudolf, dass er unter der Zeit leiden muss (Emma, 5. 3. 1882). Treitschkes* verhängnisvoller Ausspruch: „Die Juden sind unser Unglück!“343 und die antisemitischen Äußerungen Stöckers* warfen ihre Schatten über diese Jahre und lösten andauernde Beunruhigung unter den deutschen Juden aus. Davon blieb auch das Kind aus angesehenem Braunschweiger Bürgerhaushalt nicht verschont, aber Sophies Reak­tion zeigt, dass die Eltern wussten, mit derlei Anfeindungen umzugehen, und sie ganz pädago­gisch für eine Belehrung nutzten – gebildete Bürger eben. Als allmäh­lich deut­lich wurde, dass die Antisemitismusbewegung keine vorübergehende Zeit­ erscheinung war, änderte sich das Verhalten vieler Juden, die sich bisher ganz selbstverständ­lich als deutsche Bürger gefühlt und ihrer Religion keine allzu große Bedeutung mehr beigemessen hatten. Sie wurden nicht frömmer, wandten sich aber aufmerksamer der Judenheit zu. Sophie und Otto z. B. gaben sich 1884 am Badeort im Gespräch als Juden von sich aus zu erkennen und lernten dabei, dass sie zumindest hier nicht ausgegrenzt wurden, sondern Anerkennung ernteten. War vorher davon die Rede, dass in der Erziehung zur Sitt­lichkeit Religion nicht nötig wäre,

343 Eigent­lich ein Zitat, sodass sich Treitschke* persön­lich dahinter zurückziehen konnte.

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führte der Antisemitismus auch liberale Jüdinnen wie Emma wieder enger an die Religion heran, sodass sie sich jetzt dafür aussprach, Kinder religiös zu erziehen. Auch in der Grundsatzfrage Taufe urteilte sie strenger: Leider sprach sie [Emma Lazarus] davon, wie sehr sie wünschte, dass ihre Töchter einmal ohne Taufe durch Verheiratung ins Christentum hinübergezogen würden, um so alle[s] Kämpfen zu umgehen; eine Einsicht, die mir im Munde von anständigen Menschen immer unfass­lich ist und mich reizt. Ganz unversehrt bin ich nicht durch die Antisemiten­ bewegung gegangen, sie hat mich ein bischen fanatisch gemacht (Emma, 19. 6. 1884). Dabei hatte sie selbst früher anders geurteilt, wie sie Sophie mitteilte: Später kam Louise [Wohlwill*, geb. Nathan], die die Taufe verteidigte, es sei das blos ein bürger­licher Akt. Es ist ungefähr 40 jahre her, dass ich gegen Dr. Zunz* dasselbe behauptete und meine meinung mit denselben gründen stützte wie Louise die ihre. […] Nun aber waren mir diese Gründe nur abgetragene Kleider und das Misbehagen über diese Zeitströmung sitzt noch in mir (Emma, 10, 9.1884). Und Sophie antwortete darauf leicht verwundert: Dass Louise Wohlwill* nicht begreift, dass man sich nicht taufen lassen kann, ist unbegreif­lich. Das scheint mir so furchtbar einfach. Noch merkwürdiger ist mir aber, dass Du es auch als junge Frau nicht begriffen hast (Sophie, 11. 9. 1884). Das zentrale Problem des Judentums blieb ungelöst: Integra­tion in die bürger­liche Gesellschaft und Festhalten an der Religion und ihren Anforderungen waren nicht befriedigend vereinbar. Sophie berichtete, wie sie Rudolf im Zeitraffer in die besondere Geschichte der Juden einweihte: Eben ist Rudolf in den tempel gegangen nachdem ich ihm vorher kurz die geschichte der Juden erzählt habe, die ihn aufs höchste interessiert hat [er war jetzt elf Jahre alt]. Von den portugie­sischen und deutschen Juden, Moses Mendelsohn, den Freiheitskriegen, Riesser*, der end­lichen Gleichstellung, der neusten Bewegung gegen die Juden und die Pflichten die dadurch für jeden Einzelnen notwendig werden, also vor allem bescheidenheit!! (Sophie, 29. 9. 1884). Emmas Antwort darauf griff weiter und machte den Zwiespalt deut­lich, in den nicht nur der (neue) Antisemitismus Reformjuden gebracht hatte. Sie berichtete von Dr. Leimdörfers Predigt am Versöhnungstag: Sein Text war: ihr sollt heilig sein, denn ich, euer Gott bin heilig. Und nun besprach er den Weg dazu im Streben nach Veredelung, nach Erfüllung der Pflichten wobei er auch die bescheidenheit betonte zur Bekämpfung des Vorurteils. Dann aber vor Allem das Festhalten am Judentum und die Notwendigkeit die Kinder religiös zu erziehen und sie ins Gottes­haus zu führen. Diese letzte Mahnung gab mir ein Hamletgefühl. Ich weiss nicht wie diese Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurenken ist. Auch der treuste Anhänger des Judentums unter den Gebildeten beklagt sich, wenn seine Söhne nicht Professoren und Richter werden und nicht das Höchste im Staat erreichen. Das legt aber Pflichten auf, die auch am Sonnabend zu erfüllen sind und den besuch des Gotteshauses nicht zulassen, und doch ist es wahr, dass das gemeindeleben und der Gottesdienst ein Halt ist ohne den der Abfall von der Religion nahe liegt (Emma, 30. 9. 1884). Damit verwies Emma auf ein Dilemma, aus dem es kaum einen Ausweg gab: Wer an der jüdischen Religion festhielt und als frommer Jude und deutscher Bürger leben wollte, musste Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten in Kauf nehmen. Allerdings blieb für Emma am Ende doch die Überzeugung, dass auch der Antisemitismus zu überwinden wäre und sich die Akkultura­tion fortsetzen würde – alles nur eine Frage der Der Prozess der Akkulturation   |

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Zeit. Deshalb trat sie allen Äußerungen entgegen, die Juden als besondere Spezies Mensch kennzeichnen wollten und die letzt­lich nur eine Spielart des Antisemitismus waren. Als Sophie schrieb, der Hamburger Kaufmann Zimmermann habe ihr gegenüber gesagt, Juden [seien] in allen Fächern bei weitem tüchtiger und gescheiter als die Christen (Sophie, 25. 9. 1884), antwortete Emma ungehalten: Herr[n] Zimmermann[s] günstiges Urteil über Juden ist frei­ lich angenehmer wie wenn er sie tadelte, aber erfreu­lich ist es auch nicht, weil es eben im Gegensatz ist, der in Wahrheit nicht da ist. Die Juden haben weder die Tüchtigkeit noch die Schlechtigkeit gepachtet. Hoffent­lich dauert es nicht mehr lange, bis wir keine Abart mehr sind. Wenn Deine Kinder erwachsen sind, wird es schon anders in Deutschland aussehen (Emma, 26. 9. 1884). Mag diese Hoffnung 1884 realistisch geklungen haben, die Chronistin Anfang des 21. Jahrhunderts erfüllt der Satz mit Trauer. Tatsäch­lich sah es in Deutschland anders aus, als Sophies Tochter Helene erwachsen war, allerdings ganz anders, als Emma gehofft hatte:344 Ab 1938 musste Helene – mit 58 Jahren wahrhaft erwachsen – in ihren Personaldokumenten den Namen Helene Sara tragen,345 der sie als „Abart“ neu kennt­lich machte. Hatte sie bis dahin gezögert, handelte sie jetzt unverzüg­lich: Sie schickte die Familienbriefe und Liliens* künstlerisches Vermächtnis außer Landes.346 Dann verließ sie ihre Heimatstadt und folgte ihren Kindern ins Exil – eine Entwicklung, die weder ihre Großeltern noch ihre Eltern für mög­lich gehalten hätten. Abschluss: In den vorangegangenen Kapiteln wurde nur die jüdische Akkultura­tion beschrieben. Dass es auch Entwicklungen gab, die ins Judentum zurückführten, soll noch gesagt ­werden. Franz Rosenzweig*, ein Urenkel Samuel Meyer Ehrenbergs* und entfernter Cousin der M ­ agnuskinder Rudolf und Helene, ließ sich entgegen seiner ursprüng­lichen Absicht nicht taufen, sondern wandte sich ab 1913 wieder bewusst dem Judentum zu. Sein Urteil über die Reformer in der Genera­tion seines Urgroßvaters war hart: „[…] diese Genera­tion hat ihr Erstgeburtsrecht um das Linsengericht einiger Paragraphen [staatsbürger­licher Gleichstellung] verkauft. Dass ich so über Samuel Meyer Ehrenberg denke, wußtest Du doch immer“ (11. 6. 1918, Franz Rosenzweig* an seine M ­ utter Adele).347

344 Ihr Bruder Rudolf Magnus war bereits 1927 gestorben. 345 Das Gesetz über die Änderung von Familien- und Vornamen stammt vom 17. 8. 1938. Das Stadtarchiv Braunschweig bewahrt nicht Helenes „Kennkarte“ auf, aber die von Bertha Magnus, ausgestellt am 28. März 1939 auf den Namen Bertha Sara Magnus, und ein Schreiben aus dem Polizeipräsidium Braunschweig, in dem die 90-Jährige aufgefordert wird, auch dem Standesamt ihre Namensänderung mitzuteilen. Sie ist zu d ­ iesem Zeitpunkt die letzte Magnus aus Sophies Genera­tion. Sie starb am 1. August 1939, rechtzeitig genug, um den Deporta­tionen zu entgehen. Helene Lilien, ihre Nichte, hatte Deutschland im Mai 1939 verlassen. So auch in: R. Bein, „Sie lebten in Braunschweig“, S. 583. 346 Das Elternhaus in Braunschweig hatte sie bereits verkaufen müssen. Ebd., S. 431. Die Kiste mit den Bildern kam nicht in Jerusalem an. 347 So in: Juden in Kassel 1808 – 1933. Eine Dokumenta­tion anläß­lich des 100. Geburtstages von Franz Rosenzweig, 1987, S. 241.

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BÜRGERLICHE BILDUNG: GOETHE, SCHILLER UND DIE NATION

Deutschsein, ganz dazu gehören – das zeigte sich besonders im Umgang mit dem deutschen Bildungsgut, mit den Dichtern und Denkern, den „Grossen“ der Na­tion. Sie zu verehren hatte für gebildete Juden mehrere Gründe: Zum einen hatte es bis zum 19. Jahrhundert keine nennenswerte säkulare jüdische Dichtung gegeben, deshalb erlangten die Namen Heine 348 und Börne 349 einen so außerordent­lichen Klang in jüdischen Kreisen. Zum andern zeigte die Identifika­tion mit den Klassikern, wie sehr gebildete Juden sich der sie umgebenden Kultur zugehörig fühlten. Kam hinzu, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den deutschen Ländern ein na­tionaler Dichterkult mit den Weimarer Klassikern entwickelte, der die erste Welle der bürger­lichen Rezep­tion kennzeichnete. Träger, ja Motor dieser Entwicklung war das deutsche Bildungsbürgertum und waren damit auch die gebildeten deutschen Juden. Für die Familie Isler und ihre Umgebung in Hamburg, für Otto Magnus und seinen Braunschweiger Kreis wie für die gebildeten Deutschen überhaupt waren die Dichter der deutschen Klassik, Goethe 350 jedenfalls, Zeitgenossen – war doch der verehrte Weimaraner erst 1832 gestorben, acht Jahre vor Sophies und vier Jahre vor Ottos Geburt. Der Name Schiller 351 hatte in der ersten Jahrhunderthälfte einen noch helleren Glanz, galt er doch vor allem als Dichter der Freiheit und Einheit und war als solcher in den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Herrschaft und ­später in der 48er-­Revolu­tion immer wieder leuchtend hervorgehoben worden.

348 Heinrich Heine (1797 – 1856). 349 Ludwig Börne, eigent­lich Löb Baruch (1786 – 1837). 350 Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Sein Werk lag noch nicht in einer Gesamtausgabe vor, aber bei Islers wurde der Tod des letzten Goethe-­Enkels Wolfgang 1883 registriert. „Ob nun wohl das Goethe Haus [in Weimar] und seine Schaetze geöffnet werden?“ (Sophie, 23. 1. 1883). In einem so bibliophilen Haus wie dem islerschen wurde natür­lich die Frage der ersten großen Ausgabe besprochen, der Sophienausgabe, die nun end­lich zustande kam, weil die Erbin des Goethe-­Nachlasses, die Herzogin Sophie von Sachsen-­Weimar, den Weg dazu eröffnete. 351 Friedrich Schiller (1759 – 1805). In den Isler-­Briefen drückt sich die Allgegenwart der großen Dichter aus: „Heute ist Schillers Sterbetag: vor zwei Jahren wurde sein Standbild enthüllt […]“ (Meyer, 9. 5. 1868).

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Mit den „klas­sischen“ deutschen Dichtern wuchs Sophie auf. Schillers Balladen wurden ihr bereits in den ersten beiden Schuljahren bei dem geliebten Lehrer Fischer 352 vertraut: an der Bürgschaft von Schiller lernten wir den Satzbau, in den zwei ersten Reihen mussten wir das Subjekt „Möros“ und so weiter jedes einzelne Wort bestimmen.353 Gedichtvortrag gehörte zu den Sonntagsritualen, wenn Onkel Siegmund* alle anwesenden Nichten und Neffen – das konnten bis zu zehn Kinder sein – nach dem Mittagessen bei Onkel Ludwig* und Tante Bertha* antreten und je nach Alter und Fähigkeit ein Gedicht hersagen 354 ließ. Er korrigierte den Vortrag, feilte an der Deklama­tion und gestattete seinem kleinen Sohn Carl (Meyer*) in Ermangelung eines Gedichtes schon mal, die Namen aller Droschkenkutscher, die auf dem Rathausmarkt ihren Stand hatten, auswendig (ebd.) herzusagen. Bei den Schulkindern war an Gedichten kein Mangel, wurde doch vor allem auswendig gelernt. Das war nicht immer hohe Literatur, denn es ging vor allem um Gedächtnistraining, aber sie gehörte ganz selbstverständ­lich dazu. Das behielt Sophie auch nach der Schulzeit bei. Schillers Balladen erleichterten ihr die Hausarbeit, aber sie machte auch vor Goethe und vor umfangreicheren Texten nicht Halt: Bei mechanischen Arbeiten lernte ich Gedichte auswendig, Goethe und Schiller, nament­lich Faust, der von der Zeit her bis ins Alter mir lebendig im Gedächtnis geblieben ist.355 Mutet uns das heute merkwürdig an, wirft es doch ein Streif­licht auf den Geist der Zeit und den im islerschen Haus. Schiller und Goethe, die Dichter der Weimarer Klassik, waren Lebenshilfe, Wissensgrundlage und Verweis darauf, wie das eigene Leben einzurichten sei.356 Sie begleiteten Sophie durch Kindheit und Jugend; sie fand hier ausgesprochen, was ihr Herz erfüllte. Und so treffen wir auf Goethes Worte schon bald in ihren Briefen an Otto: O welch ein Glück geliebt zu werden und zu lieben, welch ein Glück! (Sophie, 27. 4. 1867). Das ist zwar nicht exakt zitiert 357, aber darum geht es nicht. Wenn Sophie Goethes Worte benutzt, ist sie sich sicher, dass Otto das Gedicht bekannt und im Gedächtnis verfügbar ist. Zur Erklärung fährt sie fort: Ist es nicht, als ob die eigenen Worte nicht genügten, als ob man was man fühlt

352 Siehe Kapitel „Sophies Schulzeit als Beispiel bürger­licher Mädchenbildung“. 353 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 18. Anfang der Ballade: „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich / Möros, den Dolch im Gewande / […]“, ältere Fassung der Schiller-­Ballade „Die Bürgschaft“. 354 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 23; zu dieser gutbürger­lichen Sitte, die Kinder Auswendiggelerntes vortragen zu lassen, siehe auch den Anfang von Thomas Manns „Buddenbrooks“, wo Tony B ­ uddenbrook Gelerntes aus dem Katechismus hersagen soll. 355 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 31. 356 Sophie war vier Monate verheiratet und wurde beim Wäscheflicken etwas „melancho­lisch“: „Es war das erste Mal seit meiner verheiratung dass ich zu Hause lange Weile empfunden … Nachher entschädigte ich mich aber und las den ganzen Nachmittag […] Briefe von Goethe an F. A. Wolf […]“ (Sophie, 12. 2. 1868). 357 „Und doch, welch Glück geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Goethe, Willkommen und Abschied, Spätere Fassung.

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auch in der poetischen Form ausdrücken möchte (ebd.). Soweit so gut. Wo aber bliebe die Einzigartigkeit der eigenen Liebe, wenn sie doch jedem Gebildeten in der poetischen Form ebenso verfügbar war? Deshalb setzt sich Sophie, die sich so selbstverständ­lich der Worte des Dichters bedient, im nächsten Moment von deren Verfasser und seinen höchst privaten Gefühlen ab. Die eigene Liebe steht höher als die des Zitierten, der trotz der schönen Verse nach Sophies Meinung niemals so wie sie empfunden hat: Wie schön unser Goethe uns auch die Worthe leiht, so wenig hat er doch das Gefühl gekannt, was uns verbindet: nie hat er so schön geliebt wie Du mein otto mich liebst! (ebd.). Damit stellt sich Sophie munter in die Reihe der Goethe-­Kenner, die schon damals so ganz genau wussten, was den Dichter in seinem Innersten und ganz privat bewegt hat. Uns zeigt die Passage aber auch, wie sehr Goethe nicht nur als Dichter, sondern auch als privater Mensch schon 35 Jahre nach seinem Tod Allgemeinbesitz der Gebildeten war.358 Denn auch Otto weiß in Sachen goethescher Liebe ganz genau Bescheid: Ja, so hat Goethe nie geliebt. Er hat keine Liebe sondern nur Liebschaften gekannt. […] Er hat immer nur seiner selbst wegen geliebt (Otto, 28. 4. 1867). In dieser Aneignung der Person Goethe und der Verurteilung ihres Handelns findet sich zugleich Vergewisserung der Individualität und Einzigartigkeit des eigenen Gefühls – es ist die Kehrseite dessen, dass Goethe mit seiner Straßburger Lyrik einen individuellen Ton gefunden und in die deutsche Literatur eingeführt hatte, der seinen LeserInnen ermög­lichte, sich in seinen Worten wiederzufinden und sich mit dem lyrischen Ich zu identifizieren. So konnte der Dichter trotz aller kritischen Worte unser Goethe (Sophie, 27. 4. 1867) bleiben, an dem sich die Brautleute orientieren, wenn Sophie schreibt, wie schwer ihr das Abwarten werde, […] doch wollen wir wieder mit Goethe „die Zukunft Gott überlassen“ (Sophie, 30. 4. 1867). Für uns ist wichtig: Wenn Sophie sagt unser Goethe und den Dichter zitiert oder sich an ihm orientiert – das war keine persön­liche Marotte. In dieser Aneignung konnte sie sich eins fühlen mit allen gebildeten Deutschen und natür­lich mit Otto. Denn auch für ihn, obgleich er literarisch weniger gebildet war, spielte Goethe eine herausragende Rolle. Am 28. August 1867 schreibt er: Heute ist Goethes geburtstag, wir werden ihn feiern und entweder, wenn das Wetter schlecht ist, im Theater den Faust sehen, oder wenn es schön ist in Tante J­ eanettes* Garten den Faust lesen (Otto, 28. 8. 1867), und einen Tag s­ päter erfahren wir, dass der Anfang des „Faust“ tatsäch­lich im Freien gelesen wurde, mit verteilten Rollen, und wir lesen erstaunt, welch wundertätige Wirkung das hatte: Ich war gestern nicht so recht wohl, […] aber die herr­liche Dichtung hat mich wirk­lich kuriert, indem sie mich geistig erquickt und so indirekt auch auf meinen Körper gewirkt hat (Otto, 29. 8. 1867).

358 Goethe war gleichsam der erste „Popstar“ in Deutschland: Sein „Werther“ machte ihn zum ersten deutschen Bestsellerautor – der Roman wurde weltweit übersetzt, Werther und Lotte, die Helden des Romans, lösten eine Mode (blauer Frack und gelbe Weste für den Herrn, weißes Kleid mit Schleifen für die Dame) und eine Selbstmordwelle aus. Goethes Lebenswandel stand im Licht öffent­licher Aufmerksamkeit und Kritik. Sein Haus in Weimar wurde schon zu Lebzeiten Ziel von Touristen.

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Goetheverehrung also, und die finden wir nicht nur bei unserem Brautpaar, sondern ­darüber hinaus weit verbreitet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem beim gebildeten Bürgertum. Dabei erfahren wir von Sophie, dass es durchaus nicht Konsens war, im Weimarer Goethe vor allem den großen Dichter zu sehen: Damals war Goethe noch nicht so wie heute das Allgemeingut der Na­tion geworden, man stand ihm noch zu nahe, viele noch Lebende hatten ihn noch persön­lich gekannt und es war noch mehr der Minister, der Hofmann von dem man alles Mög­liche wusste und erzählte, was das Bild des grossen Dichters verdeckte und verdunkelte, auch verdachte man ihm seine vielen Liebschaften und hatte noch nicht erkannt, dass er nicht nur ein grosser Künstler, sondern ein wahrhaft grosser Mensch war, über dessen universellen Geist man immer mehr staunt, je klarer man ihn erkennt.359 Sophie hat diese Überlegung vermut­lich 1914 niedergeschrieben, ihre Verlobungszeit lag weit über vierzig Jahre zurück, und doch zeigen die Brautbriefe, dass schon damals weder ihr noch Otto die vielen „Liebschaften“ des Klassikers seinen Glanz als Künstler „verdunkelten“. Im Gegenteil lesen wir schon 1867 bei Otto: dass er nicht Goethe gewesen wäre, wenn er sich einer Liebe hingegeben hätte, wie wir es thun. Er gehörte der ganzen Welt und durfte sich derselben nicht entziehen. Die Liebe ist etwas Subjektives und trübt offenbar den objektiven Blick, durch den eben Goethe so gross ist. Schiller ist eine subjektive, menschliche Natur. Goethe ist der Jupiter, der über den leidenschaften steht, und wie dieser sich auch nur zu Liebschaften aber nicht zu einer Liebe herablässt. Er selbst steht sich dabei am schlimmsten, denn das höchste Glück auf Erden hat er nicht gekannt, er hat es geopfert, frei­lich unbewusst, um seine grosse Bestimmung zu erfüllen. Vielleicht hat er ­dieses Opfer sogar mit Bewusstsein gebracht, denn er hat ja alle grossen Gemütsaufregungen, auch die genussreichsten, ängst­lich vermieden, wie er z. B. in Venedig auf dem Lido einen Schafsknochen ergriff, um durch dessen Betrachtung und Untersuchung sein, durch den herr­lichen Sonnenuntergang erregtes Gemüth zu beruhigen (Otto, 21. 5. 1867, morgens, 8 Uhr). Mit Goethe also hat sich Otto gründ­lich befasst, Bewertung und Bild des „Olympiers“ sind unerschütterbar, schon vor der Verlobung mit der gebildeten Braut.360 Sophie hatte im Elternhaus gelernt, Goethe in erster Linie als Dichter zu verehren. Ihr eigener Vater hatte sie im Anschluss an die „normale“ Schulzeit im „Cursus“ in d ­ iesem Sinne unterrichtet: Die hohe Verehrung und Liebe zu unsern grossen Dichtern, die in Vaters Seele lebte, wusste er auf seine Schülerinnen zu übertragen.361 Ihr Goethebild fällt allerdings weniger emphatisch aus. Denn Meyer Islers Interesse verharrte nicht bei der deutschen Literatur, sondern – ganz aufgeklärter Weltbürger – er liebte die großen Werke der Weltliteratur und 359 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 27. 360 Während seiner Studienzeit in Heidelberg 1855/6 belegte der Jurastudent Otto Magnus einen Kurs über Goethes „Faust“. Mit im Kurs waren seine besten Freunde Stüve und Hübener, die seine Begeisterung für Goethe teilten. Otto Magnus, Rudolf Magnus, 2002, S. 6 f. 361 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 27.

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weitete den Blick seiner Schülerinnen; Otto wuchs da wohl anders auf, auch von seinen Literaturkenntnissen her ist er ein Kind des 19. Jahrhunderts.362 Im Hause Isler war die Liebe nicht zu Goethe allein, sondern auch zu anderen Dichtern selbstverständ­lich, war es doch ein „lesendes Haus“. In der Küchenschublade lagen „Grimms Märchen“, und Sophie las schon als kleines Kind mit den jeweiligen Dienstmädchen darin, Speckters* Fabeln und Rübezahl kamen dazu, Wiedemanns „Bib­lische Geschichte“, ­später Homers „Odyssee“ in der vos­sischen Übersetzung 363 – es ist die Ausgabe von 1793364 –, bald darauf Schwabs „Sagen des klas­sischen Altertums“.365 Aber auch die deutschen Heldensagen waren ihr vertraut. Früh lernte Sophie Defoes „Robinson“366 und die schillerschen und goetheschen Dramen kennen: Tell, Maria Stuart, die Jungfrau von Orleans las ich mit Entzücken […]. Ich weiss nicht mehr, ob ich Götz und Egmont auch so früh gelesen habe, vermuthe es aber […].367 Hinzu kamen Tieck,368 Brentano,369 Arnim 370 u. a., selbst Briefe aus Bettinas „Briefwechsel mit einem Kinde“371 fand sie in den 12 Bänden von „Hoffmann’s Jugendbibliothek“. Das ist der bildungsbürger­liche Lektürekanon, wie er in vielen Familien bis weit ins 20. Jahrhundert üb­lich blieb; das meiste lag über die Jahre unterm Weihnachtsbaum oder auf dem Geburtstagstisch. Bei Sophie kam hinzu: Die Bibliothek des Vaters war reichhaltig und Sophie durfte darin stöbern und alles lesen, wozu sie Lust hatte. Aber es gab auch direkte Anregungen. Emma gab der Tochter eng­lische Romane zu lesen, sie las Jean Paul und führte Sophie an dessen Romane „Titan“, „Hesperus“ und „Siebenkäs“ heran.372 Als Schullektüren werden Hauff und Theodor Storm 373 erwähnt, unter Sophies Büchern finden sich Gustav Freytag 374 und Fritz Reuter 375 – also auch „lebende“ Schriftsteller, Zeitgenossen. Ja, Sophie hatte viel gelesen, das meiste mehrere Male und sie hatte ein gutes Gedächtnis, Verse hatte sie immer

362 Sophie und Otto haben die Goetheverehrung an ihren Sohn weitergegeben: Rudolf Magnus hielt im Sommersemester 1906 „Vorlesungen“ an der Universität Heidelberg, „Goethe als Naturforscher“, die noch im selben Jahr als Buch erschienen. Er war zu d ­ iesem Zeitpunkt außerordent­licher Professor der Pharmakologie. 363 Johann Heinrich Voß (1751 – 1826), Schriftsteller und Übersetzer. 364 Vom Glück des ersten Lesens der „Odyssee“ berichtet Sophie in ihren Kindheitserinnerungen, S. 24. 365 Gustav Schwab (1792 – 1850). 366 Daniel Defoe (1660 – 1731). 367 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 35. 368 Ludwig Tieck (1773 – 1853). 369 Clemens Brentano (1778 – 1842). 370 Achim von Arnim (1781 – 1831). 371 Bettina von Arnim, geb. Brentano, (1785 – 1859), „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“, 1835. 372 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 37. Jean Paul (1763 – 1825), eigent­lich Johann Paul Friedrich Richter. 373 Wilhelm Hauff (1802 – 1827) und Theodor Storm (1817 – 1888). 374 Gustav Freytag (1816 – 1895). 375 Fritz Reuter (1810 – 1874).

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parat, übernahm sie, wandelte sie ab oder fuhr mit eigenen Worten fort. Sie bediente sich unbekümmert aus Heines „Buch der Lieder“: Im wunderschönen Monat Mai 376 thut es bis jetzt nichts als regnen (Sophie, 1. 5. 1867, 2. Brief) und aus Bürgers Ballade „Lenore“: Bist untreu, Wilhelm, oder tot? […]377 (Sophie, 1. 6. 1867), sie pries Friedrich Rückerts 378 „Liebesfrühling“ und sein schönes: Du meine Seele, Du mein Herz, worin er die Geliebte so wundervoll feiert, wie es nur ein weib­liches Herz sich wünschen kann […] (Sophie, 20.5., im Brief vom 19. 5. 1867), und das Gedicht des amerikanischen Schriftsteller[s] Willis 379 (Sophie, 2. 6. 1867, abends), in dem sie den Bezug zu ihren eigenen Gefühlen angesichts der bevorstehenden Trennung von der ­Mutter fand. Aber es waren nicht allein die Dichter der Weimarer Klassik und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die hier hochgehalten wurden. Familie Isler war geprägt vom humanistischen Geist klas­sischer Bildung. Hierher gehört, dass Emma Isler bei ihrem Mann Unterricht in (Alt-) Griechisch nahm. Die Idee, die Emma dabei beseelt hatte, war die, ein Gegengewicht an Schönheit und „großen Gedanken“ gegen die Misere eines sie wenig interessierenden (Hausfrauen-)Alltags zu finden. Ihrer Tochter wollte sie Ähn­liches ermög­lichen und unterstützte deren Wunsch, beim Vater Latein zu lernen, um sich nach dem Ende der regulären Schulzeit weiterzubilden. Deshalb forderte sie Sophie auf, auch in Braunschweig das Latein beizubehalten, trotz des Haushalts und vieler neuer Ansprüche und Eindrücke. Wir erinnern uns an ihre Mahnung bald schon nach der Hochzeit: Nur Bergluft atmen hilft, von sich selber weg auf grosse Interessen blicken […] aber lesen allein hilft auch nicht, am besten ist doch eigene geistige Arbeit (Emma, 11. 11. 1867). Du musst Dir das Leben nach eigenem Ermessen einrichten, […] dass Du […] vor allem geistig fortschreitest (Emma, 21. 12. 1867, im Brief vom 20. 12. 1867). Um Spracherwerb ging es nicht, wohl aber darum, die antiken Schriftsteller im Urtext zu lesen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Darauf hatte Meyer Islers Unterricht in erster Linie gezielt: Vater legte für mich […] Werth […] auf das Verständnis der Schriftsteller, von denen ich Caesar, Cicero, Ovid, Virgil und Livius las, ich sollte gerade Tacitus anfangen, als ich aufhören musste.380 Dass Sophie es im Lateinischen weit gebracht hatte, wird an dieser Aufzählung deut­lich. Aber mit der Verheiratung hörte Sophies Beschäftigung mit Latein auf, ein Versuch, mit Ottos Hilfe wieder anzufangen, scheiterte. Erst als Rudolf, der kluge Sohn, aufs Gymnasium kam, erwiesen sich die Lateinkenntnisse der ­Mutter als großer Vorteil, weil sie dem eigenen Sohn den Weg in diese Sprache öffnen konnte und dafür sorgte, dass er sie mit Vergnügen 376 Heinrich Heine, Buch der Lieder. Lyrisches Intermezzo. 1822 – 1823. 1. Im wunderschönen Monat Mai, / Als alle Knospen sprangen, / Da ist in meinem Herzen / Die Liebe aufgegangen. 377 Gottfried August Bürger (1747 – 1794), Lenore: „Lenore fuhr ums Morgenrot / Empor aus schweren Träumen: / ‚Bist untreu, Wilhelm, oder tot? / Wie lange willst du säumen?‘ […].“ 378 Friedrich Rückert (1788 – 1866). 379 Nathaniel Parker Willis (1806 – 1867). 380 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 34.

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lernte. Emma hingegen wendete sich nach Sophies Heirat wieder den geliebten griechischen Schriftstellern und Philosophen zu und berichtete der fernen Tochter vertrau­lich von ihren Eindrücken: Zu Hause las ich noch ein bisschen in Platon. […] Ich kann Dir das ­empfehlen. Es ist ein Gespräch in Sokrates’ Gefängnis […]. Der Anfang wo Sokrates den anderen durch Fragen zwingt so zu antworten, wie er es will, ist, wenn Du es nicht wiedersagst, etwas albern, denn kein Mensch der einem Freunde leben retten will[,] würde sich so zwingen lassen, als er aber nachher in eigener Rede den Grundsatz entwickelt, dass es recht sei lieber jedes Unrecht zu dulden als selbst nur zu tun, wird er gross und viel schöner als Christus Lehre vom Backenstreich (Emma, Sonnabend, 1 Uhr, [9. 11. 1867]). Im deutschen Bildungsbürgertum gehörten die alten Sprachen und der Besuch des humanistischen Gymnasiums zum Selbstverständnis. Hier wurde für die Söhne des Hauses der Grundstein gelegt für den Bildungshorizont und einen Wertekanon, der sich aus Gedanken der griechischen Philosophie und den Lehren des Christentums zusammensetzte. Auf dieser Basis baute die weitere Bildung auf, die man heute als „schöngeistig“ bezeichnen würde; die Naturwissenschaften kamen dabei allerdings etwas kurz. Den Töchtern blieb dieser Bildungs­ weg in aller Regel verschlossen, nur einzelne erhielten in den alten Sprachen Privatunterricht. Dass Sophie Isler zu ihnen gehörte, war eine Besonderheit. Sie verdankte ihre humanis­tische Bildung einem Vater, der seine einzige Tochter mit allem vertraut machen wollte, was sein Leben erfüllte: dem Geist der Antike, der Weltliteratur. Es lag im Geiste der Zeit und besonders im Geiste unseres Hauses, dass die Beschäftigung mit dem Altertum einen breiteren Platz einnahm als heutzutage, wo die Naturwissenschaften so sehr in den Vordergrund getreten sind,381 sollte Sophie ­später sagen. Dabei gingen die Diskussionen in jüdischen Familien im Hamburger Umkreis der Islers über Bildungsmög­lichkeiten der Söhne nicht unbedingt in Richtung der humanistischen Schule. Tradi­tionell sollte der älteste Sohn „das Geschäft“ des Vaters übernehmen, die andern sollten nicht zu lange zur Schule gehen, weil sie sonst zu alt würden, um noch tüchtige Kaufleute zu werden. Adolf Meyer z. B., Sophies Hamburger Cousin, musste deshalb in Privatunterricht bei „Onkel Isler“ die entgangene humanistische Gymnasialbildung nachholen, um doch noch studieren zu können. Gustav Sachs* aus Berlin aber, auch ein Cousin Sophies, machte zuerst das Abitur, danach eine kaufmännische Ausbildung und wurde doch ein höchst erfolgreicher Kaufmann. Hier zeigte sich im engsten Familienumkreis, wie die Dinge in Bewegung geraten waren: Die neuen Bildungs- und Berufsmög­lichkeiten, die sich Juden eröffneten, sollten bald immer stärker genutzt werden.382 381 Ebd., S. 35. 382 Auch in Braunschweig wird das deut­lich: „[…] am Collegium Carolinum, das vor 1868 noch nicht den Rang einer Hochschule oder einer Universität hatte, gab es, vor allem im sogenannten merkantilis­ tischen Bereich der kaufmännischen Ausbildung, zahlreiche jüdische Nebenhörer aus der Stadt selber. Nach 1871 […] lag der Anteil von Juden mit einer höheren Schulausbildung deut­lich über ihrem Anteil an der Bevölkerung.“ Ebeling, Juden in Braunschweig, 1987, S. 355.

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Zurück zu Sophie und Otto: Über Ottos Schulbildung erfährt man wenig. Er besuchte die Bürgerschule, das Gymnasium und anschließend das Collegium Carolinum in Braunschweig, das ihn auf die Universität vorbereitete. Hier wurde sein Interesse für Naturwissenschaften geweckt, das er lebenslang behielt. Er entschied sich dann aber für ein Jurastudium in Heidelberg, Berlin und Göttingen, wo er das Studium abschloss und promovierte 383. Die arbeitsfreie Zeit war knapp, zum Lesen der „schönen Literatur“ hat er sie sicher nicht verwendet, vielmehr nutzte der leidenschaft­liche Wanderer sie, um mit seinen Freunden lange Fußmärsche zu unternehmen.384 So waren seine literarischen Kenntnisse, von Goethe abgesehen, entschieden schmaler als die seiner Braut, die schon mal aus einem mittelalter­lichen Gedicht, wenn auch nicht in der mittelhochdeutschen Fassung,385 in ihren Briefen zitierte: Leb wohl[,] mein Viellieber: verloren ist das Schlüsselein, Du musst nun ewig drinnen sein (Sophie, 27. 4. 1867). Aber Goethe war ihm so vertraut, dass er einzelne Werke adaptiert hatte, ohne den Bezug ausdrück­lich herzustellen. Wir saßen in einem Dom, dessen Säulen schlanke Eichen und Buchenstämme und dessen dach die Crone jener Bäume war. Dort kann man so recht empfinden, wie der deutsche Wald der deutschen Baukunst zum Vorbild für ihre gotischen ­Kirchen gedient hat (Otto, 28. 8. 1867). Ja, die „deutsche Baukunst“ und die „gotischen ­Kirchen“ – der junge Goethe hat diese Verknüpfung zuerst hergestellt in seinem Aufsatz über das Straßburger Münster „Von deutscher Art und Kunst“. Kannte Otto den Text? Dass mittlerweile der „deutsche Wald“ noch dazugekommen ist, haben die Romantiker, allen voran Eichendorff, zu verantworten, wenn der auch dort vor allem als der „schöne“ Wald besungen wird. Zum na­tionalen Eigentum wurde er durch die Rezipienten. Na­tionales Eigentum wurden auch die Dichter und hier vor allem Schiller, zu dessen 100. Geburtstag in vielen Städten Denkmäler errichtet wurden und dem zu Ehren 1859 unzählige begeisterte Feiern stattfanden.386 Eben habe ich, schrieb Sophie, für vater corrigiert und zwar Riessers* Schillerrede, […] sodass ich mich wieder in gedanken in 383 Studium: 1855 – 1858. Näheres in: Magnus, Rudolf Magnus., S. 6 f. und 10 f. Ottos Promo­tion verlief nicht so spektakulär – aus heutiger Sicht – wie die seines Schwiegervaters Meyer Isler, bei dessen münd­ licher Prüfung in Berlin sich allein Hegel neben den Prüfling setzte, während die anderen Professoren weit entfernt am andern Ende des Tisches saßen. In: Erinnerungen Meyer Islers, S. 81. 384 Von Heidelberg aus waren der Odenwald, Baden-­Baden und der Schwarzwald das Ziel, wo Otto mit seinem Freund Stüve z. B.den 75-km-­Marsch von Freiburg über Titisee nach Triberg in 13 Stunden bewältigte. Nach dem ersten Semester wanderten beide 1855 acht Wochen lang quer durch die Schweiz, von Nordosten nach Chamonix im Südwesten – ein Hinweis auch auf den sich ausbreitenden Alpentourismus. Näheres in: Magnus, Rudolf Magnus, 2002, S. 6 – 10. 385 Dû bist mîn, ich bin dîn: / des solt dû gewis sîn. / dû bist beslozzen in mînem herzen. / verlorn ist daz slüzzellîn: / dû muost och immer dar inne sîn. Unbekannter Verfasser. 386 „Die Feiern im November 1859 waren in ihrer Intensität und Verbreitung das größte Fest, das in Deutschland zur Ehrung eines Dichters je begangen wurde. Mit Umzügen, Denkmalsenthüllungen, Theateraufführungen und vor allem Reden ehrte man den Klassiker in 440 deutschen Städten.“ ­Lindner, Patriotismus deutscher Juden, 1997, S. 282.

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die Stunden jener wunderbaren, unvergess­lichen Tage der Schillerfeier versetzt fühlte. Solches Fest, wo man sich mit der ganzen na­tion in einem gedanken vereint fühlt, wo man […] sicher ist, dass alle nur ein gefühl beseelt, ist doch etwas Wunderbares und wird gewiss nicht so leicht wiederkommen. Es unterscheidet sich so wesent­lich von einem politischen Erinnerungsfest, gerade durch die Allgemeinheit, durch die Sicherheit, dass das geistige Eigenthum einer na­tion Allen ohne Unterschied der Partei und der Gesinnung gehört … (Sophie, 24. 8. 1867). An diesen Schillerfeiern beteiligten sich in vielen deutschen Städten gerade die jüdischen Mitbürger, sie waren oft federführend in den entsprechenden Vereinen und Ausschüssen tätig, als wollten sie ihr Aufgehobensein im deutschen Bildungsbürgertum unter Beweis stellen.387 Für Otto waren die Schillerfeiern auch bemerkenswert, in zweierlei Hinsicht, zeigten sie doch einmal, was die deutschen Volksschulen an Allgemeinbildung leisteten. Er stellte erfreut fest: […] wie allgemein Schillers Dichtungen gekannt und verehrt werden und wie deshalb das Schillerfest ein Na­tionalfest war, an welchem jeder Deutscher bis zum Geringsten von ganzem Herzen theil nahm (Otto, 25. 8. 1867, morgens, 7 Uhr). Zweitens verknüpfte sich für Otto die Schillerverehrung ganz selbstverständ­lich mit dem Na­tionalgedanken, dem damit schon in der Volksschule der Boden bereitet wurde. Das muss erklärt werden: Deutschland, zu dieser Zeit noch immer kein Einheitsstaat, war 1859 wenigstens vereint in einem gedanken (Sophie, 24. 8. 1867). Die in der 48-Revolu­tion nicht erreichte Einheit wurde für wenige Tage gleichsam virtuell hergestellt durch die Feiern für Schiller, den man ja vor allem als den Dichter der Freiheit verehrte und den die franzö­sischen Revolu­tionäre von 1789 aus eben d ­ iesem Grunde zum Ehrenbürger ausgerufen h ­ atten. In den Schillerfeiern schlossen sich Einheit und Freiheit für wenige Tage noch einmal zusammen, in der gemeinsamen Verehrung einer Persön­lichkeit, die nicht dem politischen, sondern dem literarischen Bereich zuzurechnen war.388 Bald danach sollte es immer ­deut­licher nur noch 387 „Unter denen, die den deutschen Dichter ehrten, waren auffallend viele Juden. Sie nahmen entweder an den allgemeinen ört­lichen Feiern teil, oder die jüdischen Gemeinden organisierten eigene Veranstaltungen. […] In der säch­sischen Hauptstadt, wo am 10. November 1859 die konstituierende Versammlung der Schillerstiftung stattgefunden hatte, nahm nahezu die gesamte Gemeinde beherzten Anteil. Das dortige Fest fand im Schulsaal im Beisein des Gemeinderates statt, wobei einige Lieder Schillers, wie An die Freude, vorgetragen wurden. Die Festredner Oberrabbiner Dr. Landau und Dr. S. Hahn würdigten Leben und Persön­lichkeit des Dichters, worauf eine Schülerin Die drei Worte des Glaubens rezitierte. Zusätz­lich wurden die begabtesten Kinder mit Schiller-­Ausgaben bedacht, während die Jungen und Mädchen der oberen Klassen eine Biographie erhielten. Gemeindevorsteher Bernhard Beer forderte auf, einen ‚nütz­lichen Lebensberuf‘ zu wählen und sich an den Idealen Schillers zu orientieren, denn dann würde man die Juden ‚allgemein anerkennen als würdige und freie Bürger des deutschen Vaterlandes‘.“ Ebd., S. 283. „Die Reformgemeinde [in Frankfurt am Main.] formulierte ihr deutsches Selbstverständnis bei dieser Gelegenheit, wie die Rede Leopold Steins vom 12. November in der Hauptsynagoge belegt: „Freue Dich deutsches Israel in Deinen Gotteshäusern der deutschen Sprache.“ Ebd., S. 284. 388 „Schillerfeste hatten bereits im Vormärz und im Revolu­tionsjahr stattgefunden, weshalb die Feiern des Jahres 1859 an die gescheiterte bürger­liche Bewegung erinnerten. Darüber hinaus stellte das

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um die na­tionale Einheit gehen, die Freiheit, die dazugehörte, verschwand zunehmend aus der Diskussion. Liberalismus und Na­tionalismus begannen getrennte Wege zu gehen, Hoffnungen und Wünsche der Liberalen wurden immer leiser vorgetragen, während der Na­tionalismus an Lautstärke gewann. Für Sophie zeigte sich in den Schillerfeiern, dass das geistige Eigenthum einer na­tion Allen […] gehört (Sophie, 24. 8. 1867). Im Formulieren fällt der Unterschied zu Otto auf: Bei ihr ist von „allen“ die Rede, von der „Allgemeinheit“ und der „ganzen na­tion“, von „Schillerfeier“ und „Fest“, Otto spricht von „Na­tionalfest“ und „jede[m] Deutsche[n]“ und setzt das deutsche Bildungssystem gleich in Rela­tion zum eng­lischen: Weshalb hat z. B. in England das Shakespeare-­Fest nicht so gezündet? Weil dort die Bildung und die Kenntnis des Na­tio­ naldichters nicht so verbreitet ist wie in Deutschland (Otto, 25. 8. 1867). Fazit: Die deutsche Schule ist besser! Sie übertrifft in der Allgemeinbildung sogar das Schweizer Volksschulwesen, das in politischer Bildung dem deutschen überlegen ist, doch die gehört eigent­lich – so Otto –, zumindest in Deutschland, gar nicht in die Schule, sie muss […] im Leben gebildet werden (Otto, 25. 8. 1867). In solchen manchmal nur marginalen Verschiebungen wird sichtbar, wie verwurzelt Otto im sich entwickelnden Na­tionalismus ist, zu dessen prägenden Momenten der abwertende Vergleich zu anderen Na­tionen gehört. An dieser Stelle aber zeigt sich auch, wie die allgemeine Dichterverehrung ein Wir-­Gefühl na­tionaler Verbundenheit nährte, das der politischen Einheit voranging. Dass der geistigen Einheit die politische folgen müsse, erschien immer drängender. Dabei war die allgemeine Dichterverehrung eine überwiegend rückwärtsgewandte. Aber gerade in der Aneignung der kulturellen Vergangenheit als gesamtdeutscher schuf sich das Bürgertum die Gewissheit, dass der Na­tionalstaat Deutschland nicht nur eine (kulturelle) Vergangenheit hatte, sondern auch eine politische Zukunft haben werde. Diese Überzeugung finden wir auch bei den jüdischen MitbürgerInnen, die in dieser Zukunft gleichberechtigt aufgehoben sein wollen. * In der Realität spielten allerdings Wirtschafts- und Machtfragen die eigent­liche Rolle und damit der sich rasant entwickelnde Staat Preußen. Doch wurde dessen Rolle in den Ländern des Deutschen Bundes sehr unterschied­lich bewertet. Als Sophie beispielsweise schreibt, dass sie sich durch die Verlobung ganz aus dem politischen Interesse verabschiedet habe und keine Zeitung mehr lese, ledig­lich Hannover hat mich gestern und heute interessiert und ich möchte gern wissen, was den armen sogenannten Hochverrätern passieren wird 389 (Sophie, 23. 5. 1867, abends), Schillerjubiläum eine großartige Demonstra­tion für den Na­tionalstaatsgedanken dar. Liberalismus und Na­tionalismus zeigten sich hier als einheit­liche, breite Volksbewegung.“ Noltenius, Schillerfest, in: Lindner, 1997, S. 281 f. 389 Im September 1866 hatte das Königreich Hannover nach militärischer Niederlage gegen Preußen seine Souveränität verloren und war preußische Provinz geworden; König Georg V. und sein Sohn, der Herzog von Cumberland, waren nach Österreich geflohen, Adel und (protestantische) Geist­lichkeit in

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bekommt sie eine erstaun­lich harsche Antwort von Otto. Die hannoverschen Hochverräter betrachtest Du wieder durch eine hambur­gische, antipreus­sische Brille, die von ihnen gegen die preus­sische Regierung gerichteten Unternehmungen sind nicht „sogenannter“ sondern wirk­licher Hochverrath  […] (Otto, 24. 5. 1867, abends, 10 Uhr). So weit, so gut. Der Jurist rückt tadelnd die Begriffe zurecht. Hannover hatte 1866 aufgehört, als souveräner Staat zu existieren, und war zur preußischen Provinz geworden. Wer sich gegen die neue Regierung stellte, machte sich strafbar. Das leuchtet ein. Dann aber fährt Otto fort: Könnt Ihr denn immer noch nicht begreifen, dass um das grosse Ziel, ein einiges Deutschland zu erreichen, Opfer gebracht werden müssen? Wenn allerdings jeder Realstaat nichts von seiner Souveränität aufgeben will, dann werden wir niemals weiter kommen. Ich hoffe, wenn Du erst ganz die Meinige geworden bist, und nicht mehr fortwährend die […] Einflüsse Deiner Umgebung empfängst, so wirst Du Dich auch für gedanken begeistern, dass wir end­lich eine na­tion werden, die nicht nur durch ihre geistige, sondern auch durch die staat­liche kraft dem Ausland imponiert (ebd.). Diese Passage richtet sich über Sophie hinaus an deren Eltern, ja, sogar an die Hamburger allgemein. Vor allem feuert Otto eine Breitseite gegen den hanseatischen Liberalismus, ein weiterer Vorwurf richtet sich gegen Hamburgs antipreußische Haltung. Otto näm­lich ist für Preußen. Auch Braunschweig, muss man sich klar machen, war in preußisches Schlepptau geraten und Sophie sollte schon bald erfahren, was das z. B. für die Braunschweiger Offiziere bedeutete, die überwiegend in die Frühpensionierung mit dementsprechend schmalen Pensionen geschickt wurden. Von derartigen Entwicklungen war Otto als Selbständiger nicht betroffen, aber er musste sie kennen – und blieb doch ein begeisterter Anhänger Preußens. Die Hamburger waren das nicht, weder Islers noch deren Freundeskreis sahen die Ausdehnung des preußischen Territoriums und der preußischen Macht mit Freude, die sich vor ihren Augen seit dem Wiener Kongress 1815 schrittweise vollzogen hatte. Achtung vor Bismarck findet man hingegen öfter, auch bei Emma und Sophie. Doch gerade im Falle des hannoverschen Königtums sympathisierten viele mit den Gegnern Preußens. Der dritte Angriffspunkt Ottos ist das Beharren des Staates Hamburg auf der eigenen Souveränität – übrigens: Bis über die Reichsgründung 1871 hinaus hielt Hamburg an Sonderrechten fest.390 Wenn Otto am Ende seiner Philippika die Hoffnung ausspricht, dass Sophie zu seinen Ansichten wechseln werde, wenn sie nur erst den schäd­lichen Hamburger Einflüssen entrissen sei, baut er auf den bestimmenden Einfluss, den er auf seine Frau zu gewinnen hofft. Im Vergleich zu anderen Situa­tionen in ­diesem Briefwechsel, in denen es um unterschied­ liche Meinungen geht, findet sich hier ein neuer Basta-­Ton. Otto wirbt nicht für seine Ansicht, er setzt sie als richtig. Aber eigent­lich verhält er sich damit nur rollenkonform: Die politische Hannover unterstützten den geflohenen Monarchen. Aus d ­ iesem Kreis gab es immer neue Versuche, die staat­liche Souveränität und die Rückkehr des welfischen Königshauses zu ermög­lichen. 390 Bis 1888 bleibt Hamburg für das Deutsche Reich Zollausland; es ist die bedeutendste Seehandelsstadt des europäischen Festlandes, weltweit nur von London und New York übertroffen. Meyers Großes Konversa­tionslexikon, 6. Auflage, 8. Band, 1904.

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Haltung in der Ehe bestimmt der Mann in diesen Zeiten. Die Familie Magnus junior wird darin keine Ausnahme bilden, denn Sophie wird sich zurückhalten oder sich Ottos Ansichten anschließen. Das zeigt sich an ihrer Reak­tion. In den zwei folgenden Briefen geht sie mit keinem Wort auf Ottos harsche Rede ein, auch nicht, als dieser im nächsten Brief noch einmal das Thema aufgreift und die härteste Bestrafung der „Verräter“ fordert. Wenn sie im dritten Brief nach Ottos „Standpauke“ schreibt, anknüpfend an den Selbstmord eines Mörders, dass sie keinem Menschen das Recht über Leben und Tod eines anderen zugestehe, und ewiges Gefängnis für eine unerhörte Grausamkeit halte, fährt sie fort: Ich sehe Dich über diese strafrecht­lichen Ansichten Dein weises Haupt schütteln und mache mich ­wieder auf eine Predigt gefasst […] (Sophie, 26. 5. 1867, Sonntagabend). Damit reagiert sie end­ lich auf Ottos erregte Passage, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Will sie auf diese Weise deut­lich machen, dass sie sehr wohl eigene Ansichten hat und auch behalten will? Otto jedenfalls antwortet milde: Durch die Erklärung in Deinem heutigen brief ist das was ich über Hochverräter gesagt habe, überflüssig geworden. […] Übrigens habe ich nicht mit Dir gescholten, sondern nur einen ernsthaften Ton angeschlagen, den der Ernst der Sache erforderte (Otto, 27. 5. 1867). Ähn­lich wie bei der Auseinandersetzung um den „roten Lehrer“ revidierte Otto seine Meinung nicht; er sah das Recht auf seiner Seite und schlug vielleicht deshalb einen ruhigeren Ton an. Wir aber wissen nun, dass auf dem Gebiet der Politik Unterschiede z­ wischen den Brautleuten bestehen, dass aber Sophie um diese Fragen nicht streiten wird. Sollte sie anderer Meinung als Otto sein, wird sie nicht ihm widersprechen, sondern eher das „Gespräch“ mit den Eltern im Briefwechsel suchen. Die Briefe zeigen allerdings, dass Sophie mit der Zeit für Ottos na­tionale Töne aufgeschlossener wurde. Nachzutragen bleibt hier, dass Sophie sich auch in der Frage „notwendiger“ Kriege, die Otto im Zusammenhang mit der Bildung des Na­tionalstaats erwähnt, von ­diesem unterscheidet: Du schreibst, es würde sich im Laufe der Zeit gewiss Gelegenheit finden, wo ich meine Erfahrungen aus dem schleswig-­holsteinischen Verein 391 verwerten könnte. Das wollte doch Gott verhüten. Du sprichst ein großes Wort gelassen aus[,]392 indem Du Krieg über Deutschland heraufbeschwörst, und ich wünsche von herzen, dass sich eine s­ olche Gelegenheit

391 Bismarcks Politik, die durch „Blut und Eisen“ den Na­tionalstaat unter Preußens Führung hervorbringen sollte, benötigte drei Kriege, von denen 1867 zwei bereits erfolgt waren: die Auseinandersetzung mit Dänemark um Schleswig-­Holstein 1864, den Krieg mit Österreich-­Ungarn um die Vormacht im Deutschen Bund 1866 und den Deutsch-­Franzö­sischen Krieg 1870/1, an dessen Ende die Kaiserproklama­tion in Versailles stehen sollte, die den preußischen König zum Kaiser der Deutschen machte. Im ersten der drei genannten Kriege engagierte sich Sophie wie viele Frauen für die Soldaten im schleswig-­ holsteinischen Verein. Dieser Krieg ging die HamburgerInnen besonders an, weil das benachbarte Altona bis 1864 dänisch war und ­zwischen beiden Städten freund-­nachbar­liche Beziehungen bestanden; die jüdischen BürgerInnen Altonas genossen früher mehr Gleichberechtigung als die Hamburger. 392 Auch das ein Zitat: „Du sprichst ein großes Wort gelassen aus“, sagt Thoas in Goethes „Iphigenie“, Vers 307.

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nie finden wird. Allerdings geht gewiss kein Menschenleben vorüber, wo man nicht in öffent­lichen Calamitäten in Anspruch genommen wird […]. Aber Krieg, der willkür­lich hervorgerufen wird und ganz anderen und persön­lichen Zwecken dienen muss, scheint mir das Schlimmste von allem; lieber in der Gewalt von Naturkräften als von Menschen (Sophie, 1. 6. 1867). Auf diese sorgenvollen Worte und Sophies Antikriegshaltung antwortet Otto einfühlsam: Wie Du so wünsche auch ich von herzen, dass [wir] vom Krieg verschont ­werden, aber ich glaube kaum[,] dass das der Fall sein wird. Man kann ja frei­lich die Zukunft nicht mit Gewissheit vorhersagen, aber mir scheint es doch recht unwahrschein­lich zu sein, dass in nicht zu ferner Zeit Preussen mit Frankreich in Krieg geraten wird und dann wirst Du leider recht Gelegenheit haben, Deine Erfahrungen zu verwerten … (Otto, 3. 6. 1867). Ein Kriegstreiber war Otto also wahr­lich nicht, aber einer, der die Politik Preußens realistisch einschätzte, die er an anderer Stelle auch für geboten hielt.393 Wenn er allerdings oben davon gesprochen hatte, dass für die Sache der Einheit Opfer gebracht werden müssten, so hatte er damit nicht an Kriege gedacht, sondern an die Aufgabe von Souveränitätsrechten. Wichtig erscheint, an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben, dass Otto Magnus zwar gern na­tionale, auch na­tionalistische Töne anschlug, aber kein militaristischer Mann war. Hierin unterschied sich der jüdische Bildungsbürger von vielen seiner christ­lichen Mitbürger. Ob das allerdings ein allgemeines Phänomen unter Juden war, muss offen bleiben. Tröst­lich für Sophie wird die Übereinstimmung in der Kriegsablehnung gewesen sein – das Thema wird nicht weiter diskutiert, vielleicht auch, weil während des Pfingsttreffens des Paares, das am 7. Juni beginnt, vieles direkt besprochen werden konnte. Dass auch die politischen Unterschiede zur Sprache kamen, ist kaum anzunehmen. Das liegt vor allem daran, dass sich Sophie für Politik denn doch nicht so rasend interessierte. Ihr lagen vor allem Literatur und die bildenden Künste am Herzen. Deshalb will sie den geliebten Bräutigam gern mit mehr deutschen Dichtern bekannt machen: Sie greift nach dem Gedichtbuch mit Bildern in dem wir neu­lich zusammen gelesen. Das entsprach so recht meiner Stimmung und ich las und las, fand jedes Gedicht gerade für uns passend, und ärgerte mich, dass ich Dir nicht gleich beweisen konnte, dass es deutsche Dichter neben

393 Dass Otto bei aller Preußenanerkennung doch kein distanzloser Verehrer war, wird anläss­lich der Geburt seines Sohnes Rudolf deut­lich. Der näm­lich kam am Sedantag zur Welt (2. September 1873) – ein Zusammenhang, den sich kein in der Wolle gefärbter Preußenfan hätte entgehen lassen: Ein Junge! Am Sedantag! Der Tag wurde im Deutschen Reich mit Festveranstaltungen und Militär­paraden begangen. Im Briefwechsel erklärt Emma ledig­lich Postverzögerungen nach Rudolfs Geburt mit dem Sedantag. Auch s­ päter werden Festumzüge nur nebenbei erwähnt. Den Zusammenhang rühmend ins Wort zu heben, blieb den Festrednern bei Rudolfs frühem Tod vorbehalten, wenn sie ihn als „Liebling der Götter“ bezeichneten und den Sedantag als Geburtstag hervorhoben. Näheres in: Wolfgang Heubner, rudolf magnus †. Gedächtnisrede auf der 7. Tagung der Deutschen Pharmakolo­gischen Gesellschaft in Würzburg am 21. September 1927. In: Klinische Wochenschrift. 6. Jg., Nr. 42, 15. Oktober 1927, S. 2022.

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Goethe giebt, die herr­liche Gedichte machen (Sophie, 4. 5. 1867, abends). Otto geht bereitwillig auf diesen Vorstoß ein, ohne seine Hochschätzung Goethes abzuschwächen: Ich glaube auch, dass andere Dichter ausser Goethe herr­liche Gedichte gemacht haben: besonders Heine. Aber den vater Goethe in seiner Einfachheit und Natür­lichkeit hat doch keiner erreicht (Otto, 6. 5. 1867, nachmittags). Goethe, Schiller und Heine sind die großen Dichter, die beide verehren, aber Sophie will ihren Otto in der Ehe schon noch mit anderen bekannt machen und ist sich sicher, dass er ihren Urteilen beipflichten wird. Von der deutschen Lyrik hast Du aber, wie ich glaube[,] eine falsche Ansicht, wenn Du meinst nur die unglück­liche Liebe würde von ihr wahr besungen […]. Wenn wir s­päter einmal zusammen sitzen und eine schöne gedichtsammlung vor uns haben, will ich Dich zu überzeugen suchen (Sophie, 20. 5. 1867, im Brief vom 19. 5. 1867).

* Die Beziehung zu Musik ist im Text bisher zu kurz gekommen, dabei gehörte gerade sie doch auch zum bürger­lichen Bildungskanon. Aber das islersche Haus war kein musika­lisches, und insofern fehlte ihm ein wichtiger Baustein bürger­licher Bildung. Dieses Mangels waren sich die Eltern Isler wohl bewusst. Meyer Isler bedauerte zeit seines Lebens, dass seine frühen Versuche auf der Geige aus finanziellen Gründen abgebrochen werden mussten. Ihm war die Musik wichtig, aber die Beziehung zu ihr blieb eine passive. Ähn­lich bei Emma Isler. Auch sie spielte kein Instrument, besuchte aber ebenso gern wie ihr Mann Konzerte und Opern­ aufführungen. Beide versuchten Sophie an die Musik heranzuführen: Aus dem Nachlass der Großmutter Meyer wurde ein Klavier gekauft und Sophie erhielt Unterricht. Aber ihr Interesse blieb mager, sie fand keinen emo­tionalen Zugang und der Unterricht wurde ­später wieder eingestellt.394 Auch im Freundeskreis der Islers scheint Hausmusik als Teil bürger­licher Unterhaltungskultur keine signifikante Rolle gespielt zu haben. Aber gesprochen wurde bei Islers häufig über Musik, besonders, wenn Arrey von ­Dommer* zu Besuch kam. Der scharfe Musikkritiker und -historiker war einer von Emmas Diskussions­partnern und lief zu besonderer Form auf, wenn er bei Islers mit Pius ­Warburg* zusammentraf. Solchen Diskussionen folgte Sophie mit Interesse und wünschte sich während der Brautzeit manchmal Otto herbei, weil sie die Gespräche nicht nur als lehrreich, sondern darüber ­hinaus als intellektuellen Genuss empfand. Natür­lich war auch viel von Julius Stockhausen* die Rede, der in diesen Jahren das Hamburger Musikleben stark beeinflusste. Zu Hause fand ich v. Dommer und Pius Warburg* vor […]. Wie schön und anregend wurde das Gespräch […]. Wir kamen vom 2. Teil des Faust auf den Schumannschen

394 Im Briefwechsel finden besondere musika­lische Ereignisse Erwähnung: 1870 besuchte Sophie z. B. mit ihrem Vater eine Aufführung von Bachs Matthäus-­Passion im Hamburger Michel und erwähnt in ­diesem Zusammenhang, dass ­dieses Musikstück ihr erstes großes Musikerlebnis gewesen sei (Sophie, 12. 4. 1870). Auch auf Wagner wird im Briefwechsel häufig verwiesen.

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Faust, der hier vor einigen Jahren mit Stockhausen aufgeführt worden ist und wo eine Stelle auf uns Laien einen ganz besonders tiefen Eindruck durch Stockhausens Vortragsweise gemacht hatte. Die beiden herren meinten […] es sei ein Fehler im Gesang der Deklama­tion ein solches Übergewicht zu erstatten, dass die Melodie davor zurück trete, und wollten das nur auf der Bühne wo man alle Mittel zu Hilfe nehme, aber nicht im Concertsaal für erlaubt halten. Wir meinten dagegen, wenn es auf ein großes Publikum einen unauslöschlichen Eindruck gemacht habe, so sei es einerlei durch ­welche Mittel es hervorgebracht sei. Von da ging es auf das Wesen der Musik im Verhältnis zur Sprache und auf die Verschiedenheit in den verschiedenen Jahrhunderten über. Das Gespräch bewegte sich in einer Weise, dass Jeder, der auch nichts von dem speziel­len Fach versteht, Freude und Belehrung haben konnte. Ich wünschte Dich dabei zu haben und M ­ utter sagte mir nachher dasselbe (Sophie, 17. 5. 1867, 2 Uhr). Der Inhalt des Gesprächs belehrt, wie sehr das islersche Haus ein literarisches war, wo die Deklama­tion das Klangerlebnis zum dramatischen Ereignis machte und das Wesen der Musik im Verhältnis zur Sprache ganz selbstverständ­lich zum zentralen Thema des Gesprächs werden konnte. Natür­lich hätte das Thema so auch in anderen bildungsbürger­lichen Häusern diskutiert werden können, Islers nahmen darin keine Sonderstellung ein, vielmehr gehörte Musik auch in dieser Form zur bürger­lichen Kultur. Ob auch zur jüdischen, muss eher verneint werden. Ähn­lich wie in der Literatur und der bildenden Kunst erschloss sich der Bereich der Musik erst allmäh­lich im Zusammenhang mit der Akkultura­tion. * Das deutsche Bildungsbürgertum definierte sich nicht allein über die großen Komponisten, die Dichter und Denker des 18. und 19. Jahrhunderts und die Na­tion. Zu reden ist von einem Lebensstil, der sich allmäh­lich herausgebildet hatte. Das waren in erster Linie Formen der Geselligkeit, in denen das Gespräch über kulturelle Probleme und über die Künste dominierte. Anregungen gewann man im kulturellen, wissenschaft­lichen oder auch politischen Bereich. Denn man las natür­lich nicht nur Bücher, man besuchte Theater- und Opernaufführungen, Konzerte, Ausstellungen und Vorträge. Darüber unterhielt man sich im kleinen und auch größeren Kreis. Man las bei solchen Gelegenheiten auch Theaterstücke mit verteilten Rollen, identifizierte sich mit den Personen und gewann damit eine Nähe zur dargestellten Problematik, die ein Gespräch im Anschluss fruchtbar machte. Aber natür­lich gab es auch Gespräche über Vorträge zu wissenschaft­lichen ­Themen, über den Fortschritt der Wissenschaften überhaupt, über Entwicklungen und Erfahrungen in anderen Lebenskreisen – der Stoff war unerschöpflich. Wie sehr die Teilnehmer an solchen Gesprächsrunden sich am Ende „erhoben“ fühlten, wird im Isler-­Magnus-­Briefwechsel immer wieder berichtet. Denn entscheidend war der Grundansatz, dass diese Art der Unterhaltungskultur zu „Höherem“ führen sollte, zur Weiterentwicklung und zur Versitt­lichung, durchdrungen von der Vorstellung, dass auf ­diesem Wege eine Verbesserung jeder, jedes Einzelnen und damit der menschlichen Gesellschaft erreicht werden könne. Bürgerliche Bildung: Goethe, Schiller und die Nation   |

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Dass der geistige Genuss nicht ausschließ­lich mit großartigen Tafelfreuden einher­ gehen musste – die gab es natür­lich auch! –, gehörte zu den Eigentüm­lichkeiten derartiger bildungsbürger­licher Freuden: Eine gewisse Kargheit entsprach durchaus der Idee solcher Zusammenkünfte – bot doch z. B. schon Rahel Lewin (Varnhagen), die berühmte Berliner Saloniere Anfang des Jahrhunderts, ihren Gästen nur eine Einladung zum Tee. Wichtig war das Gespräch und entscheidend das Geschick, die Gäste zum Reden zu bringen. Bildung, nicht der Stand, war Voraussetzung für die Teilhabe an dieser bürger­lichen Kultur. Entstanden mit den wachsenden Verwaltungen im 18. Jahrhundert in den vielen deutschen Kleinstaaten, waren die Vertreter Akademiker und deren Frauen, die, wenn sie mithalten konnten, ebenfalls eine „bessere“ Bildung erhalten haben mussten. Wir finden hier vor allem Ärzte, Juristen, Publizisten, Buchhändler, Verleger – die so genannten selbständigen Berufe, deren Unabhängigkeit von staat­lichen oder konfessionellen Institu­tionen ihren Vertretern das Gefühl von Freiheit garantierte. Den weitaus größeren Teil bildeten die „Abhängigen“: Pastoren, Professoren, höhere Beamte und Gymnasiallehrer in staat­lichen und kirch­lichen Einrichtungen. Ihnen gemeinsam war, dass finanzielle Sicherheit in der Regel nur durch ererbte oder erheiratete Vermögen zu erreichen war. Wer wie Meyer Isler etwa ausschließ­lich auf sein Gehalt angewiesen blieb, konnte schon durch die Ausgaben für die gymnasiale Schulbildung seiner Kinder in finanzielle Sorgen geraten – das Budget war bei vielen Bildungsbürgern ziem­lich knapp. Dass man trotzdem vor allem in die Zukunft der Kinder, also in ihre Bildung investierte, war selbstverständ­lich: Verzicht, Sparsamkeit, Fleiß und Mäßigkeit waren Tugenden, die hochgehalten wurden. Das Gegengewicht bildete das Schwelgen in geistigen Genüssen. Es gehört zur Logik der jüdischen Emanzipa­tion, dass die integra­tionsbereiten Juden, die sich den Gedanken der Aufklärung geöffnet hatten und sich dabei von einer strengen Handhabung des jüdischen Glaubens zu entfernen begannen, in ­diesem Bildungsbürgertum ihren neuen sozialen Ort fanden, ja ­dieses Bildungsbürgertum maßgeb­lich mitgestalteten. Unabhängiger von religiösen Denkbarrieren als ihre christ­lichen Mitbürger konnten sie sich gradliniger einem Ideenkomplex zuwenden, der ein neues Weltbild entwickelte. Gemeint ist der Wechsel, der sich allmäh­lich von der Aufklärung zum deutschen Idealismus vollzogen hatte. An die Stelle des allgemeinen Wohls, um das es in einer aufgeklärten Gesellschaft gehen sollte, trat die Individualisierung und trug damit der durch die Modernisierung sich aufgliedernden Gesellschaft Rechnung. In diesen Zusammenhang gehört die Pflichtethik, der wir bei Meyer Isler und Emma Isler, aber auch bei Sophie – hier abgeschwächter – begegnen, genauso wie der Gedanke der Versitt­lichung, der in den Briefen eine große Rolle spielt.

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VOM SINN DER BÜRGERLICHEN EHE Auch die bürger­liche Ehe hatte offenbar vor allem das Ziel, sich sitt­lich zu vervollkommnen. Kaum verlobt bekräftigt Sophie in ihrem ersten Brief als Braut: Lass es uns vor Augen und im Herzen behalten, lieber Otto und nie vergessen, dass wir uns die Hand gegeben haben um zusammen aufwärts zu schreiten (Sophie, 15. 4. 1867).395 Folgt man ­diesem häufig vorgetragenen Gedanken, wird nachvollziehbar, warum das Brautpaar sich so gewissenhaft und elaboriert auf das gemeinsame Leben vorbereitete. Wenn es in erster Linie darum ging, sich durch die Heirat gemeinsam weiterzuentwickeln, eine höhere Stufe ethischer Verantwortung zu erreichen, müssten allerdings mora­lische Fragen im Vordergrund der Briefe stehen. Doch so einfach ist das nicht. Gemeinsamkeit steht ganz oben und wie diese zu erreichen sei. Vor allem geht es um die Liebe, ohne die das Zusammenleben nicht Bestand haben kann und da ist Sophie der Gedanke vertraut und wichtig, dass sie in der Liebe beim Verliebtsein nicht stehen bleiben darf, sondern sich weiterentwickeln muss zu intensiveren Gefühlen, sonst kann aus dem Brautstand keine dauerhafte Ehe werden. An sich beobachtet sie: Jedes Gespräch, das wir hatten hat mir in Dir neues Liebenswerthes gezeigt und neue Sympathien geknüpft. Ist es Dir auch so gegangen oder bist Du Dir einer solchen Steigerung nicht bewusst? (Sophie, 27. 4. 1867). Das fragt Sophie schon kurz nach der Verlobung. Ottos Antwort fällt zwar anders als wohl erwartet aus, muss aber ihr Vertrauen in ihn vergrößert haben: Ich weiß […] jetzt, dass ich nur einmal geliebt habe und nur einmal lieben werde. Dein gefühl der Steigerung meiner Liebe theile ich nicht, denn meine Liebe ist keiner Steigerung fähig. Ich habe Dir mein ganzes herz gegeben und mehr habe ich nicht (Otto, 28. 4. 1867). Was die Liebe betrifft, ist dieser Erklärung nichts hinzuzufügen, aber Otto lenkt den Blick auf anderes, indem er fortfährt: Dagegen ist es wohl mög­lich, dass wir uns über manche Punkte noch mehr und klar aussprechen können, als bisher geschehen; ich bin aber im Voraus gewiss, dass wir uns in jeder Beziehung verstehen und verständigen (ebd.). Dieser am Anfang des Brautstands vorgetragenen Überzeugung Ottos entspricht die Entwicklung des Briefwechsels. Die wenigen Differenzen, die sich andeuten, fallen nicht ins Gewicht, weil sie von Sophie und Otto als besprechbar angesehen werden und damit den Kern ihrer Beziehung nicht erschüttern können.

395 Im Original nicht kursiv.

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Sich mehr und klar auszusprechen (ebd.) ist in dieser Brautschaft entscheidend, für Sophie sowieso, aber auch für Otto. Deshalb schüttelt er den Kopf über die zweite Verlobung, die schon bald im Hamburger Freundeskreis stattfindet, die der 18-jährigen Helene Seligmann: Der Bräutigam ist doppelt so alt und lebt in Manchester.396 […] ich kann es mir gar nicht hübsch denken, sich mit einem Kinde zu verloben. Man muss doch auch mit seiner Braut ein vernünftiges, verständiges Wort reden können (Otto, 23. 5. 1867). Auch für Otto, erfahren wir hier nebenbei, ist wichtig, auf Augenhöhe miteinander umgehen zu können. Wie soll man sich sonst weiterentwickeln? In solchen Ehen ist es doch nicht mög­lich, dass die Eheleute sich gegenseitig erziehen und veredeln, sondern entweder wird der Mann die Frau als Spielzeug, eine Puppe betrachten, oder er wird sie erziehen müssen, […] ohne direct dasselbe zurück zu empfangen (ebd.). Allerdings räumt Otto in seinen Überlegungen ein, dass dort, wo die Erziehung ernst­lich gemeint sei, die Erziehenden durch ihr Bemühen auch veredelt werden (ebd.). Aber hebt das wirk­lich das Manko zu großer Jugend und Unerfahrenheit auf? Festzuhalten bleibt: Die Ehe dient im Idealfall der gegenseitigen Weiter- und Höherentwicklung. Erheiternd ist ein Nebenaspekt: Angesichts dieser zweiten Verlobung äußert sich Sophie über eigene jugend­liche Fehlurteile, dass man näm­lich in der Jugend nicht begreift, dass ein Mann von 36 Jahren noch sehr frisch und jugend­lich in seinen Empfindungen sein kann (Sophie, 26. 5. 1867). Das hat sie inzwischen dazu gelernt, schließ­lich ist Otto ja bereits dreißig! Der Gedanke, dass man sich im Laufe des Lebens, und damit natür­lich auch nach der Heirat, weiterentwickelt, ist uns geläufig; wir benutzen ihn allerdings in Bezug auf die Ehe vor allem dann, wenn sie scheitert, weil sich die Partner auseinanderentwickelt haben. Genau darin liegt der Unterschied zu unserem 19.-Jahrhundert-­Paar: Es geht nicht um die individuelle Entwicklung, sondern um ein gemeinsames „Aufwärtsschreiten“, das spätestens mit der Hochzeit einsetzen und auf jeden Fall beide zu „Höherem“ führen sollte. Auch das heute sprichwört­liche „gute Team“ ist nicht gemeint, die Ehe, in der eine Partnerin ihrem Partner (oder umgekehrt) „den Rücken“ freihält, damit er/sie Karriere machen kann. Sophies und Ottos Ehevorstellungen richten sich von Anfang an nicht auf Äußer­liches, sondern auf innere Verbundenheit und die gemeinsame Entwicklung zu einer Haltung, die sie zueinander und gegenüber Dritten als gute Menschen ausweist. Diesem Vorhaben sind die Vorstellungen zuzuordnen, mit denen sich beide das gemeinsame Leben ausmalen: z. B. einander wertvolle Bücher vorlesen – keine Romane! Von „Riesser“* war schon die Rede und davon, dass er unsere erste gemeinschaft­liche Lektüre sein würde (Sophie, 23. 5. 1867). Kunstwerke in Ausstellungen oder in Bildbänden werden sie gemeinsam betrachten, sich darüber austauschen und im Gespräch über so viel Schönheit und Wissen den eigenen Horizont erweitern. Die neue Anordnung ist vortreff­lich und die Schätze des Museums sind dadurch zugäng­licher geworden. […], berichtet Otto nach einem Besuch im Braunschweiger Museum und fährt fort: Wie freue ich mich darauf, Dir diese Schätze zu zeigen; wir wollen

396 Helene S. verlobt sich mit einem Herrn Nördlingen; er ist 36 Jahre alt.

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uns dieselbe recht zu eigen machen (Otto, 22. 6. 1867, im Brief vom 20. 6. 1867). Gemeinsam wollen sie sich weiterbilden, Vorträge besuchen, über das Gehörte sprechen, aber auch am öffent­ lichen politischen Leben teilhaben: Otto berichtet regelmäßig über politische Ereignisse, ­seien es überregionale, wie d ­ ieses: Die Verfassung des Norddeutschen Bundes ist auch hier heute publiziert und liegt bereits auf meinem Schreibtisch (Otto, 25. 6. 1867),397 oder lokale, wie eine Wahlversammlung, die er besucht und zwiespältig beurteilt: Nach meiner Ansicht hätte ein Kandidat aufgestellt werden müssen der sich entschieden zur Na­tional-­liberalen Partei bekennt, und der für unbedingten Anschluss an Preussen stimmt […]. Wie die Sache nun einmal liegt muss man darauf alles thun, um mög­lichst viele Stimmen auf Oester­reich zu vereinigen, weil der Gegenkandidat ein Lassalleaner ist und es für Braunschweig schmachvoll sein würde, einen solchen nach berlin zu ­schicken (Otto, 11. 8. 1867). Obwohl Otto den Kandidaten Oesterreich für einen Ehrenmann und vollkommen befähigt hält, ist er von seiner liberalen Gesinnung (ebd.) nicht überzeugt. Außerdem ist er kein hundertprozentiger Anhänger Preußens! Das hier skizzierte „Programm“ hat das junge Paar einzuhalten versucht, Kulturveranstaltungen besucht und die gemeinsame Lektüre begonnen, nicht ohne manchmal auf Überraschungen zu stoßen. Als Sophie z. B. eines Abends aus einer Schrift Treitschkes* vorlas, nahm Otto ihr ungeduldig das Buch aus der Hand, um in Ruhe für sich zu lesen, weil ihm die Ausführungen zum Zuhören zu schwierig erschienen. Sophie hingegen hielt den Text für außerordent­lich klar und verständ­lich. Dieser unvermutete Dissens beunruhigte beide. Vom Umgang damit berichtet Sophie nach Hamburg: Nachher gingen wir der Sache auf den grund und suchten den Unterschied […] z­ wischen seiner [Ottos] geistesrichtung und der in unserem hause [Islers] zu präzisieren. Da fand es sich dann, dass seine Interessen hauptsäch­lich auf Naturwissenschaft gehen, auf […] Erforschen und Verstehen der Naturgesetze und […] Stellung des Menschengeschlechts zur Erde und zur Weltordnung, während bei uns mehr eine historische Richtung vorherrscht, die bei Pap geradezu auf Geschichte und bei M ­ utter mehr auf das Seelenleben des einzelnen Menschen und das Erforschen und verstehen seiner innersten regungen geht. Die Erklärung ist natür­lich nicht erschöpfend, aber sie umfasst doch ein ganzes Stück. Das Gespräch war eine rechte Beruhigung, denn ich glaube wir sind dadurch gegenseitig zu wahrem Verständnis gekommen. Wenn wir im Laufe der Zeit etwas von einander annehmen, so wird es uns beiden nicht schaden, nur bin ich leider kein starker Vertreter meiner Seite (Sophie, 6. 4. 1868). Dieser Unterschied der Auffassungen, den wir heute als den z­ wischen naturwissenschaft­ lichem und geisteswissenschaft­lichem Denken bezeichnen, war ein Zeitphänomen. Vor allem junge Leute huldigten dem Fortschritt, den rasanten technischen Entwicklungen und dem Aufschwung, den die Naturwissenschaften nahmen. Darin war Otto ein Kind seiner Zeit, unbelastet auch von historischen und philosophischen Interessen und allzu umfangreichen Kenntnissen. Sophie lieferte in dieser Beziehung mehr den Part tradi­tioneller humanis­tischer Bildung.

397 Auch Hamburg wird 1867 Mitglied des Norddeutschen Bundes.

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Auffallend ist allerdings, dass sie für sich selbst gar keine eigene „Richtung“ in Anspruch nahm, sie partizipierte an den Interessen der Eltern, fühlte sich aber nicht „stark“ genug, eine selbständige Posi­tion gegen Otto argumentativ durchzuhalten. Aber der Vorgang ist noch aus anderen Gründen aufschlussreich: Der Dissens beunruhigte Sophie besonders, deshalb ließ sie die Sache nicht auf sich beruhen, sondern untersuchte sie und war entlastet, als sie eine Erklärung gefunden hatte. Die aufgewandte Mühe trug ihren Lohn in sich: das gegenseitige „wahre Verständnis“ (s. o.), das sich einstellen würde, weil das Problem ­zwischen beiden besprochen werden konnte. Emma schätzte den Vorfall anders ein, sie maß Sophies Beunruhigung mehr Gewicht bei: […] Ihr seid in euren Richtungen grundverschieden. ‚Unsere Zeit ist trunken von Nüchternheit‘ sagt Treitschke*. Der ungeheure Aufschwung den die Naturwissenschaften genommen haben bringt es wohl, dass Alles gewogen und gemessen werden soll, was sich eben nicht wägen und messen lässt. Ich denke mir, die deutschen sind wahrhaft idealistisch, als dass das etwas anderes als ein Durchgangspunkt sein kann. Und so etwas wird sich auch in eurer Ehe vollziehen, ihr werdet euch einander geben, was euch fehlt. Lass Dich doch durch eine Verschiedenheit nicht schrecken, und denke nicht, es öffne sich eine Kluft ­zwischen euch, wenn das nicht gleich ausgeg­lichen wird, das geht nicht so rasch. Wenn es Dir einmal weh tun sollte, dass ihr zwei seid, wo Du gern möchtest, dass ihr eins seid, dann hast Du nichts zu tun als Dich liebevoll zu bemühen, Otto zu verstehen. Es ist dies das sicherste Mittel verstanden zu werden (Emma, 7. 4. 1868, im Brief vom 6. 4. 1868). Die „Grundverschiedenheit“ ­zwischen Sophie und Otto hatte sie, richtiger: hatten beide Eltern sicher längst gesehen. Vielleicht machte sie einen Teil von Emmas Beunruhigung vor der Heirat aus. Aber ihre Bedenken waren am Ende doch nicht so stark, dass sie die Ehe dadurch gefährdet sah. Dass sie selbst von Ottos naturwissenschaft­licher Prägung nicht so viel und das Ganze überhaupt für eine Zeiterscheinung hielt, enthob sie nicht der Aufgabe, Sophie in d ­ iesem Konflikt beizustehen und klug zu raten. Deshalb wies sie Sophie auf „liebevolles“ Verstehen hin. Doch diese maß dem Dissens, einmal definiert, sowieso keine große Bedeutung bei: […] von Kluft ist gar keine Rede, ich bin auch nicht bange davor. Im Leben verstehen wir uns sehr gut, in u ­ nseren geistigen Neigungen bringt es vielleicht die Zeit auch (Sophie, 8. 4. 1868). Sophie wusste selbst, dass sie keine „starke“ Vertreterin ihrer Richtung war, sie akzeptierte den Dissens, weil er ihre Liebe zu Otto nicht tangierte. Dass von ihm unter diesen Voraussetzungen auch weniger Anregungen kommen würden, als sie bisher gewöhnt war, sah sie noch nicht und lastete es ihm ­später auch nicht an. Sophies Vertrauen war groß, dass die Liebe stark genug wäre, um auch schwierige Z ­ eiten zu überdauern: […] in der Liebe werden mit Gottes Hilfe keine Pausen kommen, die da allerdings mit Bangen und Zagen zu ertragen wären. Aber dann fuhr sie fort: Nein mein Otto wir wollen immer ungetrennt bleiben und dazu gebe er uns seinen Segen! (Sophie, 29. 4. 1867). Auch Otto war sicher, dass in der Liebe s­ olche Pausen wie in der Freundschaft nicht vorkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wenn der gött­liche Funke der Liebe einmal wie bei uns gezündet ist, d ­ ieses heisse Wonnegefühl jemals erkalten kann. Ich bete mit Dir: wir wollen immer ungetrennt eins bleiben und dazu gebe Gott seinen Segen! (Otto, 30. 4. 1867). Auffallend, dass beide zur Gebetsformel greifen. Sie unterstreichen damit, wie zentral dieser Gedanke für

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sie ist. Mehrfach beschwören sie „Einssein“ und „Ungetrenntsein“, weil sich beide bewusst sind, dass die Ehe schwieriger sein könnte als die Verlobungszeit. Gerade deshalb müssen sie sich ganz „ineinander einleben“, damit die Verbundenheit bleibt. Damit kommt diesen Briefstellen eine besondere Bedeutung zu: Das Wagnis Ehe scheint beiden groß und bei der Suche nach Sicherheiten sehen sie in dauerhafter Liebe den einzigen Garanten für deren Gelingen. Waren sie bisher trotz ihres Erwachsenenalters Kinder im Haus ihrer Eltern, werden sie mit der Heirat selbständig und versuchen die enge Familienbindung etwas zu lösen. Otto Magnus stand zwar seit Jahren beruf­lich auf eigenen Füßen, hatte aber bisher fast jede freie Minute mit Eltern oder Verwandten verbracht; selbst wenn er in den Klub ging, tat er nur, was der Vater vorlebte. Heirat aber bedeutete, aus diesen engen Bindungen herauszutreten und ganz selbständig zu werden.398 Dass Sophie ihrerseits kaum Schritte aus der Familie heraus gemacht hatte, erschwerte die Situa­tion. Trotz ihrer 27 Jahre war sie in Sachen Selbständigkeit erfahrungslos und ganz auf Ottos Hilfe und Nähe angewiesen. Wenn Sophie beispielsweise berichtet, dass sie eine Droschke genommen habe, weil es unvernünftig sei, sich in der Hitze völlig zu ermüden (Sophie, 13. 9. 1867), erklärt sie fortfahrend: Es kostete mich aber große Überwindung, denn ich habe mir noch nie selbständig eine Droschke genommen … (ebd.). Die Droschke war für Sophie nicht nur ein Luxus, sondern für eine so junge Frau sowieso indiskutabel, darüber hinaus aber war die Anmietung ein Akt der Selbständigkeit, den Sophie bis dahin gar nicht unternommen hatte. Festzuhalten ist, dass es für eine junge Frau in dieser Zeit selbstverständ­lich war, als Erwachsene in der Familie zu leben. Der Grad ihrer Selbständigkeit bemaß sich daran, ­welche Mög­lichkeiten der Verantwortung ihr im Elternhaus eingeräumt wurden: Sei es, dass bei Krankheit oder Tod der ­Mutter Haushalt und Geschwister zu versorgen waren, sei es, dass Teilbereiche der Familienarbeit vollständig auf die „große“ Tochter übertragen wurden. Selbst dort, wo eine junge Frau einem Beruf nachging, blieb sie im Elternhaus oder in einem Familien­verband wohnen. Das galt im Bürgertum auch für junge Männer: Sie wohnten oft bis zur Verheiratung bei den Eltern oder lebten in enger Bindung zu ihnen. Sophies und Ottos Situa­tion war also für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz normal. Erst die Heirat führte in die Selbständigkeit. Ob und wie ­dieses neue Leben funk­tionieren würde, ist demnach noch ganz offen. Wenn sich Sophie und Otto dabei nicht wie die Kinder im Märchen ganz fest an der Hand halten, stehen sie ganz allein „im Wald“. Der Blick nach vielen Seiten, die Ratschläge, die eingeholt werden, sind wichtig, aber auch Zeichen ­­ dafür, wie beide das Risiko einzugrenzen suchen. Beim Zusammensein mit einigen schon verheirateten jungen Frauen erfährt Sophie, dass es unend­lich schöner verheiratet als verlobt zu sein sei (Sophie, 27. 6. 1867). Die Begründungen

398 Das gelang allerdings nur zu zweit: War Otto beruf­lich unterwegs, nahm Sophie die Mahlzeiten bei den Schwiegereltern ein, war Sophie in Hamburg, speiste Otto bei seinen Eltern, obwohl die Kochkünste des „Mädchens“ Dorette so häufig gerühmt wurden.

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sind nicht nur für Sophie verblüffend: mit seinem Bräutigam zankt man sich ja immer (ebd.), meint eine junge Frau und eine andere: ein Bräutigam könne einem noch kein wahrer Freund sein (ebd.). Beide Äußerungen sind Sophie nicht nachvollziehbar, weil ihr Verhältnis zu Otto ganz anders ist: Liebe und Gleichklang der Vorstellungen bauten ihnen bisher stets Brücken. Wird das immer so sein? Im eigenen Fall ist Sophie ziem­lich sicher, aber bei anderen wundert sie sich, dass die Liebe dauert. So berichtet sie leicht erstaunt über ihre praktische und sach­lich-­kühl denkende Kusine Anna May*, dass diese von ihrem Mann auch nach sieben Ehejahren noch leidenschaft­lich geliebt werde. Er richtet noch heute gedichte an sie, die den vollen Jubel der ersten Liebe enthalten. Du musst nicht glauben, dass ich mich darüber wundere, dass man nach 7 jahren noch innig liebt, sondern dass meine Cousine Anna der Gegenstand einer solchen Liebe ist. Sie ist für uns alle der Inbegriff der Prosa und Nüchternheit, und May* ist trotz allen Fehlern ein Mensch von warmem Gefühl (Sophie, 16. 5. 1867). Das „warme Gefühl“ aber ist es, das gerade Sophie und Otto für sich in Anspruch nehmen, das sie verbindet. Wenn also die Liebe zu der prosaischen Anna so haltbar ist, wie viel mehr die ­zwischen Otto und Sophie! Auch der wundert sich, wenn auch über etwas anderes: dass May Gedichte an seine Frau schreibt, obwohl er glück­lich ist (Otto, 17. 5. 1867). Denn er selbst wird nur im Unglück poetisch, wie es auch dem Volke mit seinen Volksliedern und […] anderen Dichtern (ebd.) geht. Was können die Brautleute noch tun, um das Abenteuer Ehe zu bestehen? Dazu gehört gegenseitige Teilhabe, nicht nur an Sorgen und Kummer – davon war schon an anderer Stelle die Rede 399 –, auch die Freuden wollen sie teilen: Du sagst, wenn Du etwas Schönes erlebst, so ist Deine Sehnsucht nach mir am stärksten und das geht mir gerade so! Es ist auch eine sehr natür­liche Empfindung, dass wenn ein Gefühl lebhaft erregt wird, alle andern damit verwandten mit erklingen. Eigent­lich wäre es natür­lich zu denken, dass wenn man sich fern von seinem Geliebten gut amüsiert oder Genüsse irgend einer Art hat, man momentan egoistisch wird und sich am eigenen Behagen genügen lässt, während man umgekehrt in trüberen und uninteressanten Momenten sich aus dem Zustande h ­ eraus und zu denen die man liebt hinsehnen sollte. Dass dies nicht der Fall ist, habe ich […] schon früher […] oft erfahren, doch ist es mir zuerst zu bewusstsein gekommen als ich in Mendelsonschen Briefen dasselbe ausgesprochen fand. Bei den schönsten Erlebnissen, Kunst und Naturgenüssen schreibt er die sehnsuchtsvollsten Briefe, während er in ruhigen Perioden in seinem Schaffen und Arbeiten befriedigt ist und sich über die Trennung nicht beklagt. Wir haben nun wohl öfter Sehnsucht nach einander als in den Momenten wo uns etwas besonders Schönes begegnet, aber in solchen wird es zur Ungeduld, nicht wahr? Und jeder von uns denkt, wieviel schöner es wäre, wenn er seinen Schatz neben sich hätte (Sophie, 19. 5. 1867). Sich in solchen Momenten des Gleichklangs der Gefühle bewusst zu werden, kann zu einem starken Band werden.

399 Im Kapitel „Überlegungen über einen gemeinsamen Alltag“.

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Dass Schatten auf die Ehejahre fallen können, bedenkt Sophie immer wieder. Gern berichtet sie von Menschen in ihrer Umgebung, deren Lebensleistung ihr imponiert: Die Eheleute Dr. Lehmann z. B. ­seien in den Jahren ihrer Ehe von schweren Schicksalen heim­ gesucht worden, die sie auf wundervolle Weise getragen haben. Bald nach ihrer Verheirathung wurde sie sehr leidend […], dass sie viele Monate im Bett zubringen musste und bis etwa zum vorigen jahr immer krank war. Doch hätte sie das mit starkem geist muthig ertragen, wenn nicht das schreck­lich[e] Unglück hinzugekommen wäre, dass sich bei ihm ein unheilbares Augenleiden entwickelte, das jetzt beinahe zur völligen Blindheit geworden ist. Er war Bibliothekar der Commerzbibliothek, […] seine Haupttätigkeit war eine literarische […] und man konnte sich also nichts schlimmeres für Mann und Frau denken als ihr schicksal, wie es bis vor kurzem aussah: sie krank, er blind und mit drei Kindern. […] Und doch ist Ruhe und Zufriedenheit bei ihnen wieder eingekehrt. Er setzt seine Arbeit mit Hilfe eines Schreibers und seiner Frau fort, sie ist wohl und nach allen Seiten sehr tüchtig; die Kinder sind prächtig und die Verhältnisse durch reiche und generöse Geschwister auch gut. Am meisten trägt natür­lich die beiderseitige Liebe und Charakterstärke der beiden Leute bei. Sie sind mir immer ein schönes Beispiel gewesen, dass man selbst in den trübsten Stunden Hoffnung und Mut nicht sinken lassen muss, und dass Jeder seines Schicksals Schmied ist! (Sophie, 6. 5. 1867, morgens). Hier stimmt alles, was eine gute Zukunft eröffnen kann: die Liebe zueinander, Mut und Charakterstärke und die selbstverständ­liche Hilfe der Verwandten. Wie im Märchen wendet sich alles zum Guten, selbst die Kinder in ­diesem Schmerzenshaus sind prächtig geraten. Wichtig ist das „Prinzip Hoffnung“, das Sophie als notwendige Konsequenz aus dieser Geschichte zieht. Das hat sie schon an anderen Stellen so gesehen, wie Otto bei der Lektüre ihrer Briefe an Jeannette Aronheim* lesen kann: In Deinem Brief vom 21. 1. 1865 schreibst Du: „Furchtbar erschütternd finde ich Gutzkows trauriges geschick, und beinahe noch schlimmer wenn er am Leben bleibt als wenn er stürbe. Sein Geist scheint so zerrüttet, dass auf gänz­ liche Genesung kaum zu hoffen ist.“ Und nun ist er schon lange wieder ganz gesund. Da sieht man wieder einmal, dass man nimmer verzweifeln und die Hoffnung verlieren soll. Das wollen wir uns genau merken, und gegebenenfalls uns gegenseitig daran erinnern.400 Mir ist dabei sehr lebhaft eingefallen, wie ich über den Zustand meiner ­Mutter hoffnungslos und verzweifelt war, die ja auch wieder Gottseidank ganz hergestellt ist (Otto, 1. 6. 1867). Ottos Wunsch, aus ­diesem und ähn­lichen Vorgängen eine Lehre für das gemeinsame Leben zu ziehen, steht neben anderen Absichtserklärungen. Hierher gehört auch, dass sich beide von den viel zitierten kleinen Misshelligkeiten des Alltags, den les petites misères de

400 Karl Ferdinand Gutzkow (1811 – 1878). Seine letzten Jahre waren von einer schweren psychischen Erkrankung überschattet. Der Bezug zu G. ist auch im Lichte des vorigen Kapitels von Bedeutung: Die Passage belegt, wie man im Bildungsbürgertum im Dichter als bedeutendem Zeitgenossen sogar im privaten Schicksal eine Orientierungshilfe sah.

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la vie (Sophie, 17. 5. 1867), nicht unterkriegen lassen wollen. Wenn Sophie in ­diesem Zusammenhang ihre Tante Bertha Meyer* erwähnt, die trotz beneidenswerter finanzieller Sicherheit nicht in der Lage sei, das Leben leicht zu nehmen und sich das Schöne herauszusuchen (ebd.), weil der Grundton ihres Lebens negativ gefärbt ist, sieht sie sich im Umkehrschluss als positiven Menschen, dessen Lebenseinstellung nicht zulässt, an eine Zukunft zu glauben, die etwas Unangenehmes enthält (Sophie, 4. 5. 1867). Sich selbst beschreibt sie in d ­ iesem Zusammenhang so: Ich weiß nicht, ob das ein Vor- oder Nachtheil in meinem Temperament ist, ich lebe immer für den Moment; die nächste Zeit denke ich, muss immer schon [die Dinge] so bringen, wie ich es mir wünsche. Umgekehrt ging es mir als Du hier warst, da dachte ich, so würde es ewig bleiben. Obgleich es wie das Gegentheil klingt ist es doch im Grunde dieselbe Auffassung – ich glaube immer nur das Gute (Sophie, 1. 5. 1867). Diese glück­liche Gabe, auch bei Misserfolgen, Leiden oder Katastrophen darauf zu hoffen, ja sicher zu sein, dass am Ende doch alles gut wird, zeichnet Sophie aus. Darauf geht Otto ein und erhebt das positive Denken zur Eheregel: Lass uns womög­lich immer heiter und froh in die Zukunft blicken und das Glück der gegenwart rein geniessen. Wenn dann die Zeit auch leiden bringt (das ja nicht ausbleiben wird), so wollen wir auch das mit Ergebung tragen. Das Schöne aber, das uns beschieden ist, wollen wir uns dadurch nicht verbittern lassen. Dies soll die Regel unseres Lebens sein, der wir stets folgen wollen. Du mein geliebtes Mädchen hast ja von dem gütigen Gott [diese Haltung] gleich als ein herr­liches Geschenk mit auf die Welt gebracht, ich gebe mir Mühe, sie mir immer mehr anzueignen, und wenn ich sie bisweilen vergesse, so wirst Du mich wieder auf den rechten Weg bringen. Willst Du das? (Otto, 5. 5. 1867). Ist dieser „rechte Weg“ nun der, den beide „aufwärts“ beschreiten wollen? Auf alle Fälle handelt es sich um eine wesent­liche Einstellung, die dem jungen Paar in der Ehe Disziplin, Kraft, Mut und Durchhaltevermögen abverlangen wird. Denn natür­lich blieben Probleme nicht aus. Sophie musste so lange auf Kinder warten, dass Emma schließ­lich Sophies schönes Kinderspielzeug verschenkte, das auf dem elter­lichen Boden lagerte, um nur ein Beispiel zu nennen. Ein zweites und gewichtiges Problem war Ottos Angst vor finanziellem Ruin, die ihn immer von neuem packte, besonders dann, wenn die Klienten wieder mal ausblieben. Von seinem „Geiz“ war schon warnend in den Brautbriefen die Rede, aber Sophie sah darin kein Problem: Über die Stelle Deines Briefes über Deinen geiz habe ich gelächelt, und besonders über Deine Entschuldigung, dass Du darüber schreibst. Warum solltest Du denn nicht, und wenn Du wirk­lich ein so schreck­licher Geizhals bist, ist es dann nicht besser, ich bereite mich darauf vor, als dass ich ­später damit überrascht werde (Sophie, 19. 9. 1867). Sophie hatte wohl längst gemerkt, dass Otto ungern Geld ausgibt.401 Deshalb nahm sie sein Geständnis ernst – der Ton, in dem sie schreibt, ist auffallend, ihre Reak­tion merkwürdig verhalten: Sie habe „gelächelt“. Aber ein großes Problem sah sie in Ottos

401 Siehe Kapitel „Mög­liche Differenzen“.

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Geständnis nicht, da sie selbst in sparsamen Verhältnissen aufgewachsen war. Von daher ist z. B. Sophies erste Reak­tion auf die Anmietung der Braunschweiger Wohnung zu verstehen: Bist Du nicht ein furchtbarer verschwender, mein geliebter Junge, dass Du eine ­solche Prachtwohnung nimmst? (Sophie, 18. 4. 1867). Sophie hatte nicht nur Verständnis für Ottos Sparsamkeit, sondern beruhigte ihn auch mit Blick auf das zukünftige Leben: Ich glaube nicht, dass einer von uns darum verschwenderischer sein wird weil wir jetzt mehr ausgeben als wir je bisher getan haben, sondern wir werden uns wohl unser gemeinschaft­ liches Leben recht vernünftig einrichten. Wir werden uns gegenseitig Concessionen zu machen haben, da unsere Lebensgewohnheiten durch die verschiedenen Städte in denen wir aufgewachsen sind wohl in manchen Dingen sehr verschieden sein werden. Aber da müssen wir miteinander fertig werden und das wollen wir auch, nicht wahr, mein Mann?! (Sophie, 19. 9. 1867).

Das war, keine drei Wochen vor der Hochzeit, ein notwendiges Thema. Verschwendung also war nicht Sophies Sache, sie hatte rechtzeitig gelernt, Geld einzuteilen und hauszuhalten, denn als „großes Mädchen“ hatte sie über einen Betrag allein verfügen dürfen, um für ihre Kleidung selbst zu sorgen.402 Otto wusste auch, dass seine Frau und sein Haushalt Ansprüche stellen würden, die seiner gesellschaft­lichen Stellung entsprachen. Daran sollte es nie mangeln. Sophies persön­licher Lebensstil sollte sich schnell den besseren finanziellen Verhältnissen anpassen, aber eine Verschwenderin wurde sie nicht. In dieser Frage war Otto auch mit Sophie gänz­lich einverstanden: Mit Deiner Ansicht über die geldausgaben bin ich völlig Deiner Ansicht. Wir werden uns auch in dieser Beziehung arrangieren … (Otto, 21. 9. 1867, im Brief vom 20. 9. 1867).

Aber eigent­lich ging es ja um Ottos „Geiz“ und der zeigte sich dort erschwerend, wo es um die Unterstützung anderer ging. Damit sind wir bei einem zentralen Punkt auch und vor allem jüdischen Selbstverständnisses. Dem gläubigen Juden ist es Verpflichtung, anderen finanziell beizustehen, Familienmitgliedern vor allem, aber auch Menschen, die in Not geraten sind, und sich nach Mög­lichkeit an gemeinnützigen Projekten zu beteiligen. Wir erinnern uns: Ottos Urgroßvater Herz Samson* war nicht nur ein ungeheuer vermögender Mann, sondern auch außergewöhn­lich fromm. Teil dieser Frömmigkeit war die Unterstützung derer, die in Schwierigkeiten waren, nicht immer nur mit Geld, sondern auch mit Rat, mit Fürsprache beim Herzog und Angeboten zur Selbsthilfe. Sein Einsatz und seine Freigebigkeit waren berühmt. Die große Samsonsche Stiftung hat in dieser Frömmigkeit ihren Ursprung. Zu denken ist auch an den Hamburger Bankier Samson Heine, der als frommer Jude zu den Mitinitiatoren des Hamburger Tempels gehörte, ein Krankenhaus stiftete und den armen Neffen Heinrich immer wieder mit Geld unterstützte, weil der durch das Dichten allein auf keinen grünen Zweig kam.

402 Sophies „Kindheitserinnerungen“, S. 23.

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Diese fromme Hilfsbereitschaft galt nun nicht nur für die reichen, sondern für alle frommen Juden. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Emma Isler heiratete in einen finanziell sehr schmalen Gelehrtenhaushalt. Das war ihr nie ein Problem, nur in einem Punkt war sie über die Begrenztheit der Mittel traurig: Sie hätte gern oft und ausreichend geholfen, doch es langte immer nur zu knappen Beträgen. Allerdings: Oft genug gaben die Brüder Moritz* und Ferdinand* dazu. Gehörte demnach Freigebigkeit zu den ethischen Grundsätzen, die Sophie und Otto leben wollten? Für Sophie war das jedenfalls so selbstverständ­lich, dass sie diesen Komplex gar nicht eigens erwähnte. Deshalb sprach sie in den Geizpassagen der Brautbriefe nur von sparsamer Haushaltsführung und „vernünftigen“ persön­lichen Ausgaben. Für Otto war das schwieriger; er wusste offenbar, wovon er eigent­lich sprach und dass sein Geiz zu Komplika­tionen führen könnte. Der Briefwechsel der späteren Jahre belehrt uns, ­welche Klippen zu überwinden waren. 1872, im fünften Ehejahr, wurde diese Frage zum Problem. Emma hatte Sophie über die Notlage der Doktorin Steinheim* unterrichtet und um Hilfe gebeten. Der Mann der 80-jährigen Frau ­Steinheim 403, ein angesehener Altonaer Arzt, hatte sein Vermögen der Altonaer Gemeinde vermacht und seiner Witwe jähr­lich einen geringen Zinsbetrag davon ausgesetzt. An ­diesem Vermächtnis durfte nicht gerüttelt werden, deshalb hatten die Hamburger Freundinnen und Freunde der Doktorin eine Spendenak­tion ins Leben gerufen, um der alten Dame die inzwischen notwendig gewordene Pflegerin und Gesellschafterin zu ermög­lichen. Die Rede war von mindestens 300 Talern (also 900 Mark); gedacht war an fünf Großspender, die 100 Mark jähr­lich geben sollten, die rest­lichen 400 Mark sollten über kleine Beträge zusammenkommen. Sophie antwortete auf Emmas Bitte: Otto meint wir wollen 10 th jähr­lich geben, wenn es auch euch wie mir sehr wenig erscheint, so schreibt es bitte, ich glaube nicht, dass bei so kleinen Beiträgen die nöthige Summe zusammenkommt (Sophie, 8. 10. 1872). Dass es zu wenig wäre, schrieb Emma nicht, ihre Antwort enthielt nur einen indirekten Tadel: Wir werden auch das Minimum das angegeben wird 10 Thaler geben, unsere Verhältnisse gestatten nicht mehr (Emma, 9. 10. 1872). Dass die Verhältnisse der Braunschweiger Kinder mehr als das Minimum erlaubten, musste gar nicht erst gesagt werden. Auch Otto war das bewusst, deshalb griff er selbst zur Feder und machte den Vorschlag, dass die Altonaer Gemeinde aus dem gespendeten Nachlass eine Leib­ rente zahlen sollte. Meyer Isler antwortete gemessen, dass Ottos Vorschlag auf unrichtigen Voraussetzungen basiere und daher unausführbar sei (Meyer, 10. 10. 1872). Sophies Brief vom selben Tag verdeut­licht, wie unglück­lich sie sich fühlt: Ich bitte euch, versucht euch nicht über den lumpigen Beitrag den wir geben zu ärgern, ich kann nichts dafür, dieser Punct ist überhaupt meine einzige Differenz mit Otto, vielleicht wird es für die Zukunft besser, wenn wir uns etwas Bestimmtes zu[m] Weggeben aussetzen; aber da ich nichts Bestimmtes habe und Otto auch auf s­ olche Trennung unserer Interessen durchaus nicht eingehen will, so hilft es nichts. Denkt aber um Gotteswillen nicht, dass Otto nicht dies sehr gern, wirk­lich mit Freuden gäbe, aber er

403 Dr. Salomon Ludwig Steinheim*

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findet es genug. Nun nichts mehr davon, hoffent­lich sind die Andern alle gentiler … (Sophie 10. 10. 1872). Zum ersten Mal spricht Sophie aus, dass es eine nicht überwindbare Differenz mit Otto gibt; andere Unterschiede, die Emma früher gelegent­lich angesprochen hatte, hatte sie als unwesent­lich ­zurückgewiesen: Immer konnte sie sich mit Otto „arrangieren“, nur in der Frage der Freigebigkeit nicht. Anderer­seits möchte Sophie auf keinen Fall, dass ein negatives Licht auf den geliebten Mann fällt, sie entschuldigt, rechtfertigt und – bricht ab: nichts mehr davon (ebd.). Aber Emma schweigt nicht: Die Doktorin Steinheim* hat eine Einnahme von 2200 m, also nicht ganz 900 th, davon kann man mit oder ohne Gastfreiheit 404 keinen Menschen zur Gesellschaft halten, soll das geschehen müssen Freunde eintreten (Emma, 10. 10. 1872). Dass das Gespräch ­zwischen dem jungen Paar aber auch weitergegangen war, zeigt Sophies jubelnder Brief: Otto hat es mir geschenkt, dass wir 20 th geben, überhaupt werden wir von nun an furchtbar gentil und lassen hoffent­lich etwas die Sonne von uns scheinen. Ich habe ihm aus unsern Büchern gezeigt, dass wir dreist etwas mehr weggeben können, als wir thun, ohne arm zu werden und besonders, dass er nicht zu denken braucht, ich müsste verhungern, wenn er vor mir stürbe, was sein Schreckgespenst ist. […] Du sollst nun aber auch begeistert von Otto sein, Ma, weil er nun so sehr gut werden will! Er mag viel lieber ne[e] sagen, aber er sagt nun immer ja, weil ich es so gern will (Sophie, 11. 10. 1872). Sophie hat wirk­lich Grund zur Freude! Nicht nur, dass Magnussens am Ende doch mehr geben, sondern auch, weil ihr gelungen war, Otto anhand der Bücher zu überzeugen. Nicht Überredung, nicht Schmeichelei – die Fakten haben ihn belehrt, dass seine Furcht einer Grundlage in der Realität entbehrt. Hatte sich Sophie vorher ihres „geizigen“ M ­ annes etwas geschämt, so verlangt sie jetzt von der M ­ utter Beifall für Otto. Der wurde auch gleich gespendet, allerdings nicht ohne kritische Worte an Sophie: Ihr habt mir eine große Jom Kipurfreude gemacht und ich bin auch so begeistert von Otto wie Dein Herz es nur wünschen kann. Ich war recht tief inner­lich betrübt, besonders über Dich; das ist nicht das rechte Liebhaben wenn man ruhig zusieht wenn etwas geschieht was nicht Recht ist, nun ist aber Otto gut und schön und ganz wie ich mir gewünscht habe (Emma, 12. 10. 1872). Emma wird sehr grundsätz­lich, denn hier geht es um eine mora­lische Frage und da hat sie Kritik an Otto und Sophie. Das rechte Liebhaben schließt ein, dass man den Partner auf den rechten Weg bringt und nicht vor dessen Geiz kapituliert. Das hat Sophie am Ende auch getan, aber es hat Emma beinahe zu lange gedauert. Und: Hätte Sophie sich auch dann so engagiert, wenn sie nicht das deut­liche Missfallen der Eltern gespürt hätte? Einiges spricht dafür, aber es war doch gut, dass Sophie ihre mora­lischen „Wächter“ in Hamburg hatte. Bedenkt man diese Episode im Licht der Frage nach den Grundsätzen, denen sich das junge Paar verpflichtet weiß, so basieren sie wohl teilweise auf jüdischem Selbstverständnis: Die Eltern zu ehren und sich ihrer immer anzunehmen und für ihr Wohlergehen zu sorgen,

404 Zu großzügige „Gastfreiheit“ war der Doktorin Steinheim* in ­diesem Zusammenhang vorgeworfen worden, als hätten Einsparungen auf d ­ iesem Gebiet ihr ermög­licht, eine Gesellschafterin zu finanzieren.

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ist einer dieser Grundsätze, Freigebigkeit gegenüber Armen und der Gemeinschaft ein anderer. Teilweise finden sie sich aber auch in Gedanken des deutschen Idealismus und sind inzwischen zur bloßen Formel vom Aufwärtsschreiten geworden. Emma jedenfalls lebt stark in der Vorstellung, dass das Leben sich einem Ideal annähern müsse, das am Ende allerdings nicht vollständig zu erreichen sei: […] ich habe gelernt, dass Ideal und leben eins sind, das eine den Weg weisend den man mit Fallen und Aufstehen zu machen und nie zu verlassen hat (Emma, 11. 11. 1873). Wer so lebt, wird am Ende auch eigent­lich kein besserer mensch, er gehört nur einer höheren Culturstufe an (ebd.). Für Emma hatten diese Vorstellungen eine bindende Kraft, bei Sophie finden wir sie in der Formel vom Aufwärtsschreiten, die ihre Eltern und das Hamburger Umfeld ihrer Kindheit und Jugend sie gelehrt hatten. Eine höhere Kulturstufe also, auf der mehr Humanität, Friedfertigkeit und Toleranz herrschen. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Jüdisches Selbstverständnis und deutscher Idealismus gaben das Ziel an, auf das sich Sophie und Otto zubewegen wollten. Und noch etwas wird durch diese Episode belegt: Die anfangs erwähnte gegenseitige Erziehung funk­tioniert, weil Otto am Ende sich überzeugen ließ und ganz gegen seine Natur ja sagte zu einer spendableren Haltung gegenüber Bedürftigen. Der Vorgang erschließt uns aber auch, wozu denn eigent­lich ­dieses „Aufwärtsschreiten“ führen soll. Erfahren haben wir das schon am Anfang der Verlobungsgeschichte: […] wir wurden froh, wenn wir überdachten, wie nach menschlichem Ermess und mit Gottes Hilfe, ein schönes uns Glück und anderen Segen bringendes Leben vor uns liegt (Sophie, 25. 4. 1867). Über das Satzende kann man leicht hinweglesen. Doch werden Glück und Segen, die man sonst als „Doppelpack“ dem Brautpaar für die Ehe wünscht, hier auseinandergezogen. Um das Spannungsfeld ­zwischen „uns“ und „anderen“ soll es in und mit der Ehe gehen: „uns Glück“ – „anderen Segen bringend“. Erst wenn gelingt, dass die Ehe nach innen und nach außen wirkt, ist erreicht, was ihren Sinn ausmacht. So wichtig und erstrebenswert das individuelle Glück auch sein mag, es reicht nicht aus, um eine Ehe nach dieser Auffassung als geglückt anzusehen. Hinzukommen muss das Wirken nach außen, in die Gesellschaft hinein. Dass d ­ ieses zweifache Ziel nicht vom Wollen allein abhängt, wird in den zitierten Zeilen deut­lich: Das geht nicht ohne „Gottes Hilfe“. Dass das junge Paar sich aber auch selber einsetzen und für andere oder die Allgemeinheit wirken muss, wird von ihm erwartet, zumindest von den Hamburger Eltern – wie die Braunschweiger dazu stehen, erfahren wir leider nicht. Islers haben ihre Tochter in d ­ iesem Sinn erzogen und es wundert die Chronistin nicht, dass Emma auch in dieser Frage nicht viel Zeit verstreichen lässt und die im privaten Glück ganz eingeigelten „Kinder“ ermahnt, auch der anderen Seite ihrer Ehe Rechnung zu tragen. Zwar stimmt sie Ottos Meinung zu, dass ein Jude sich nicht überall in die Öffent­ lichkeit drängen sollte, fährt aber fort, dass diese Einsicht nicht zu dem Resultate führen dürfe, dass ihm daraus eine Pflicht erwachsen könne auf das schönste Glück verzichten zu müssen, der Allgemeinheit mit uneigennütz­lichkeit und Hingebung zu dienen […] Ein gutes familienmitglied und treu in seinem Beruf sein ist viel, aber es ist nicht Alles. Das Höhere ist doch mitzustehen in den Reihen derer, die um die höchsten Güter des Lebens ringen

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und wer nur die Sache und nicht sich selber meint, der wird es auch ohne Anmassung tun (Emma, 22. 1. 1868). Und hart fällt ihr Urteil gegen Ottos Begründung: Sich seine Meinungen zu Tugenden aufzuputzen, ist auch eine Gefahr! (ebd.). Sich öffent­lich und ehrenamt­lich zu betätigen war nicht nur bei Islers, sondern auch bei den Hamburger Verwandten und Freunden üb­lich, aber auch im jüdischen Braunschweig ist solches bürgerschaft­liche Engagement nicht unbekannt: Der 1867 verstorbene Onkel Ludwig Helfft*, Unternehmer, Stadtverordneter und Abgeordneter im Landtag, hatte das vorgelebt, und Dr. Adolf Aronheim*, Ottos älterer Anwaltskollege, gab ein ähn­liches Beispiel politischen Einsatzes – an Vorbildern fehlte es also für Otto nicht. Auch Meyer geht auf die Frage ein, milder als Emma, aber nicht weniger entschieden: Über das Nichtvordrängen der Juden stimme ich ganz Dir bei. Nachdem die äusseren Schranken gefallen sind, müssen wir uns für eben so gut, nicht aber für besser halten als unsere christ­lichen Mitbürger, uns ­lieber aufsuchen lassen als anbieten: will man uns dann haben, auch mit ganzer Kraft für die uns zugewiesene Aufgabe einstehen. Es wird Dir, fügt er hinzu, vermöge Deiner Stellung gewiss nicht fehlen, lieber Otto, dass man Dich für Dieses und Jenes in Anspruch nimmt: dann magst Du Dich bewähren und man wird nicht unterlassen, Dir weiteres material zu übertragen. Darin seid Ihr Jüngeren glück­licher als wir, die wir alles mit Mühe zu erkämpfen hatten, und vielfach zu spät gekommen sind (Meyer, 26. 1. 1868). Hier wird nicht nur eine leise Trauer deut­lich, sondern auch, wie problematisch die Frage öffent­licher Wirksamkeit, sei es auf politischem oder sozialem oder kulturellem Gebiet, für Juden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer noch war. Aus Meyers Worten wird erkennbar, w ­ elche Gratwanderung ein derartiges Hervortreten bedeutete. Es ist anzunehmen, dass auch Emma sich dessen bewusst war, aber das änderte nichts an ihrer unbedingten Haltung in dieser Frage. Allerdings: Ottos Zögern, sein Hinweis, dass er keine Neigung habe, dass er nicht „auffallen“ wolle, konnte weder durch Emmas häufige noch durch Meyers seltenere Vorstöße überwunden werden. Während sein jüngerer Bruder Carl, der Bankier, durch finanziellen Einsatz und Einfluss in sozialen Belangen an der Seite seiner Frau hervortrat und Felix Aronheim*, Ottos Schwager, sich einen Namen als Mäzen in Braunschweig machte, findet sich bisher für die Chronistin kein Hinweis in der Stadtgeschichte auf Otto Magnus, sieht man von der jahrzehntelangen Bewerbung um ein Notariat ab und davon, was im Rahmen seines Berufes an ihn herangetragen wurde. Den Anforderungen, die die jüdische Gemeinde an Otto stellte, kam er, soweit ersicht­lich, immer nach, sein Einsatz in Sachen öffent­liches Gemeinwohl reichte bis auf die Vereins­ ebene, für mehr fehlten ihm wohl persön­licher Ehrgeiz und jener Schuss Eitelkeit, den es auch braucht, um in ein öffent­liches Amt zu streben. Auch Sophie war eher schüchtern und nicht die Frau, die ihren Mann ehrgeizig in die Öffent­lichkeit drängte. Sie selbst war zwar maßgeb­lich an der Gründung des „Erziehungsvereins“ beteiligt und ließ sich in den Vorstand wählen, als ihr aber der Vorsitz angetragen wurde, weil der Vorsitzende Schrader* heiratete und nach Berlin zog, lehnte sie die Führungsrolle ab und hielt das so auch bei allen folgenden Engagements. Vom Sinn der bürgerlichen Ehe   |

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DA S JAHRHUNDERT DER MODERNISIERUNG Herkunft, Brautzeit, Bildung und Wunschvorstellungen haben bei aller Fremdheit manch uns heute Vertrautes in einer vergangenen Zeit deut­lich gemacht. Nicht herausgearbeitet wurde bisher die Besonderheit d ­ ieses 19. Jahrhunderts. Waren es doch rasante Entwicklungen, die sich in wenigen Jahrzehnten vollzogen und die Zeitgenossen fortdauernden Veränderungen aussetzten. Dass die Modernisierung, die diese Zeit in ganz Deutschland prägte, sich nicht nur auf die industrielle Entwicklung beschränkte, sondern die Menschen einem zivilisatorischen Wandel unterwarf, der ihnen auf der einen Seite Fortschritt brachte, auf der andern aber immer neue Anpassung abverlangte, bestimmte das Lebensgefühl dieser Zeit. Das ist den Zeitgenossen auch bewusst: Es ist ganz gut, schreibt Sophie 1881, wenn man einmal ­wieder darauf gestoßen wird in welcher grossartigen Zeit wir leben und wie neu alles das [was] jetzt unser Leben beherrscht noch ist (Sophie, 9. 4. 1881) – sie hat gerade einen Aufsatz über die Eröffnung der ersten Eisenbahn in England in Westermanns Monatsheften 405 gelesen. Was Modernisierung im Einzelnen hieß, erfahren wir in den Briefen der Familien Isler und Magnus aus den Jahrzehnten z­ wischen 1827 und 1888. Kultureller Wandel und politische Ereignisse scheinen zwar nur am Rande auf, geben aber ein anschau­liches Bild, wie sich das Leben in diesen Jahren veränderte. Am auffälligsten ist das, wenn vom Reisen erzählt wird, und das geschieht oft, sind doch die Reisen immer wieder Anlass, einander Briefe zu schreiben.

Die Beschleunigung Als Meyer 1827 – er war knapp zwanzig Jahre alt – zum Studium nach Bonn aufbrach, konnte von Eisenbahnen noch nicht die Rede sein.406 Wie also kam der junge Mann von Hamburg nach Bonn? Wie war der Briefverkehr? Auf welchem Wege schickten ihm die Eltern Geld? Für das meiste war die Post zuständig, noch nicht die gesamtdeutsche, staat­liche 405 George Westermann gab ab 1856 die Zeitschrift „Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte“ in Braunschweig heraus. Meyers Konversa­tionslexikon, 5. Auflage, 17. Band, 1897, S. 684. 406 1830 fuhr die erste Eisenbahn ­zwischen Liverpool und Manchester. 1835 wurde in Deutschland die Strecke ­zwischen Nürnberg und Fürth in Betrieb gesetzt – eine sechs Kilometer lange Strecke. Drei Jahre ­später gab es deutschlandweit schon zehn Eisenbahnstrecken.

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Post – die gab es erst nach der Reichsgründung 1871 –, sondern regionale bzw. die der einzelnen Bundesstaaten. Gereist wurde mit der Postkutsche, die Briefe, Personen und Gepäck beförderte. Eine eigene Reisekutsche, wie Goethe z. B. sie besaß, hatte den Vorteil größerer Bequem­lichkeit und der Unabhängigkeit von Fahrplänen. Das Reisen selbst aber, das war kein Zuckerlecken! Die Straßen voller Löcher, der Platz in der Postkutsche eng, weil alles mit Gepäck vollgestopft wurde, und gefähr­lich, weil nur allzu oft Pakete auf die Passagiere fielen oder Straßenlöcher die Reisenden von den Sitzen rissen, ganz zu schweigen von etwaigen Radbrüchen! 1827 erfahren wir ledig­lich, dass Meyer mit der Diligence gefahren ist, einer Art Eilpostwagen, sein Gepäck ging von Hamburg via Amsterdam nach Köln und von dort nach Bonn. Er selbst reiste über Frankfurt am Main und Mainz, also quer durch deutsche Staaten und damit über manche Grenze hinweg. Das notwendige Geld bekam er als Wechsel. Einliegend findest Du einen Wechsel von Trudor 20 von Jonas Sohne an I. Cahn, die Dir gleich ausbezahlt werden müssen (I. A. Isler, 9. 11. 1827). Das ist auch wegen der unterschied­ lichen Währungen günstiger: Meine Anfrage was für Geld in Bonn cursiert hast Du nicht beantwortet, ich hätte mich danach richten können (ebd.). Noch 1877, als er seine Erinnerungen aufzuschreiben beginnt, weiß Meyer, wie beschwer­ lich die Reise vor fünfzig Jahren war, denn von Mainz ging es rheinabwärts nach Bonn: Die Dampfschiffahrt auf dem Rhein war damals erst kürz­lich eingeführt, und man wagte es nach dem 18. Oktober nicht mehr, die Dampfböte fahren zu lassen. Wir mussten daher die alte Fahrgelegenheit des Marktschiffes, eines sehr primitiven Fahrzeuges, benutzen und brauchten den ganzen Tag, um von Mainz nach Koblenz zu gelangen. Hier übernachteten wir und bestiegen am anderen Morgen das Schiff noch einmal. Es war ein kalter Herbsttag, der Nebel lag so dicht auf dem Flusse, dass wir beide Ufer des Rheins nicht sehen konnten, die Schiffer mussten auf dem vielgewundenen Strome nur durch ihre Erinnerung sich leiten lassen. Auf dem Verdeck war es feucht und kalt, in der Kajüte ein Dunst zum Ersticken, ein höchst ungemüt­ licher Zustand. Plötz­lich kam ein starker Krach, das Schiff war auf einen Felsen geraten und sämt­liche Passagiere gerieten in die höchste Angst. Doch geschah kein Unglück, die Schiffer brachten das Fahrzeug in etwa 10 Minuten wieder in Bewegung, das Wetter klärte sich auf und wir kamen am 20. Oktober ­zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags in Bonn an.407 Noch also steckt die Dampfschifffahrt in den Kinderschuhen und noch ist der Rhein ein gefähr­licher, weil wenig begradigter und für größere Schiffe nicht schiffbar gemachter Strom. Genauer schilderte Meyer die Reise von Hamburg nach Bonn, als er 1829 von einem Osterbesuch im Hamburger Elternhaus an die Universität zurückkehrte: Schon die Strecke von Hamburg nach Harburg war ein Unternehmen für sich, weil die verschiedenen Elbarme bei Hamburg ein glattes Durchkommen erheb­lich erschwerten. Zuerst also mit der Harburger Post, die diesmal schnell vorankam, weil der Wind […] ausserordent­lich günstig war, sodass wir in einer Stunde hinüber und nur einmal auf den Sand gerieten (Meyer, 10. 5. 1829) – ohne

407 Meyer Islers Erinnerungen, S. 69.

Das Jahrhundert der Modernisierung   |

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Fähre (oder Dampfschiff) ging nichts! Von Harburg fuhr der Postwagen weiter über Celle bis ­Hannover. Dort quartierte sich Meyer in „Ahles Schenke“ ein. Am Abend und am folgenden Tag besuchte er Bekannte und guckte sich in der Stadt um. Nach einem Theaterabend – Goethes „Egmont“ – fuhr er früh am anderen Morgen […] mit noch einem in einem Mietwagen nach Minden (ebd.). Dort erreichte er wieder das öffent­liche Verkehrsmittel Post[-kutsche]. Wetter und Wege waren schlecht, daher kamen wir erst 1/2 3 in der Nacht nach Cöln. Ich fuhr dann um sechs mit dem Dampfschiff nach Bonn (ebd.). Welch langwieriges Unternehmen! Was tat man z­ wischen drei Uhr in der Nacht und sechs Uhr morgens? Zwar versicherte Meyer seinen Eltern, er habe nachts in der Postkutsche schlafen können, weil er nicht gefroren habe, aber der Postwagen wäre für 6 Köpfe aber nicht für 12 Füsse eingerichtet (ebd.). Da war das Dampfschiff z­ wischen Köln und Bonn schon ein Lichtblick und für die Reisenden 1829 bereits eine Selbstverständ­lichkeit. Wie viele Tage bzw. Nächte die Reise insgesamt dauerte, geht aus dem Bericht leider nicht hervor 408 und bliebe wegen der Unterbrechung in Hannover auch ungenau. Zwölf Jahre ­später, als Emma 1841 mit der knapp einjährigen Sophie (und deren Amme) nach Berlin reiste, gab es bereits Eisenbahnen, aber natür­lich noch nicht auf allen Strecken, leider auch nicht ­zwischen Hamburg und Berlin 409 – noch ist Deutschland ja kein Einheitsstaat. Deshalb benutzte Emma das Dampfschiff von Hamburg elbaufwärts nach Magdeburg, von da mit Extrapost von 1/2 6 Uhr früh bis 6 Uhr abends bis Potsdam und von da in 5/4 Stunden nach Berlin.410 Diesmal gibt es Zeitangaben: Sie brach am 21. früh auf und war bis zum 24. Juni 1841 abends unterwegs 411 – vier volle Tage! Zwei Jahre ­später reiste Meyer nach Berlin: Auch er benötigte zwei Tage mit dem Dampfer bis Magdeburg, fuhr aber von dort mit der Eisenbahn über Köthen (und Dessau) nach Berlin durch. Das war schon eine erheb­liche Verbesserung! Aber noch immer war die direkte Strecke Magdeburg–Potsdam nicht fertig, während ­zwischen Potsdam und Berlin die Eisenbahn schon seit 1838 verkehrte.412 Meyer bewertete das Reisen zu Schiff als „ungesellig“, das mit der Eisenbahn als „gesellig“: […] man sitzt zu 8 zusammen und spricht mit einander (Meyer, 8. 10. 1843). So kann eine Reise angenehmer vergehen als auf dem Dampfschiff, wo man sich, nicht eingezwängt in ein Coupé, erst am zweiten Tage allmäh­lich kennen lernte.

408 „Um 1820 waren die bedeutenden Überland-­Postkurse so gut ausgebaut, dass die dort verkehrenden Kutschen mit dem Tempo einzelner Reiter mithalten konnten. Die Reisegeschwindigkeit der Postkutsche wurde durch Straßenbau von etwa 2 km/h im Jahr 1700 auf etwa 10 km/h im Jahr 1850 gesteigert. Eine Kutsche konnte damals an einem Tag bisweilen über 100 Kilometer zurücklegen.“ de.wikipedia.org/wiki/Postkutsche. 29. 01. 2015. 409 1846 wurde die Strecke Berlin-­Hamburg eröffnet. Der „Berliner Bahnhof“ in Hamburg wurde 1857 ­fertiggestellt. 410 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 17. Von Emma erfahren wir, dass sie auf dem letzten Stück der Reise, ­zwischen Potsdam und Berlin, zum ersten Mal die Eisenbahn benutzte (Emma, 26. 6. 1841). 411 Die 284 km ­zwischen Hamburg und Berlin bewältigt man heute mit dem Auto in drei Stunden. 412 Die „Lücke“ ­zwischen Magdeburg und Potsdam schloss sich endgültig 1848.

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Aber: An und für sich ist die Eisenbahnfahrt [nach Berlin] einförmig, weil man durch keinen Ort hindurchfährt, sondern alles seitwärts liegen lässt. Es würde mich natür­lich sehr interessiert haben Dessau, Cöthen, Wittenberg u. s. w. wenn auch nur im Fluge in ihrer Physio­ gnomie ansehen zu können (ebd.). Meyers Bericht lenkt den Blick darauf, dass zunächst kein komplettes Schienennetz bestand, sondern einzelne Strecken von unterschied­lichen Gesellschaften gebaut wurden, die Bahnhöfe lagen an den Stadträndern, dort näm­lich, von wo aus die angestrebte nächste Sta­tion am besten zu erreichen war, sie waren in der Regel nach dem Zielbahnhof benannt. Eine Reise nach Berlin traten die Hamburger z. B. im Berliner Bahnhof am Oberhafen an, von wo aus die Schienen die Elbe nicht überqueren mussten, während Harburg, das noch nicht zu Hamburg gehörte, zunächst der Bahnhof blieb, von dem aus Islers ihre Tochter in Braunschweig besuchten.413 Erst ­später bündelten die Hauptbahnhöfe die Strecken und führten die Eisenbahnen bis in die Städte hinein. – Das von Meyer als „gesellig“ gerühmte Zusammensitzen im Coupé hatte auch Schattenseiten: […] der Regen goss in Strömen und der Wind wehte heftig: wir mussten daher alle Fenster schliessen und dabei den Rauch aus 5 Pfeifen oder Cigarren einatmen, das ist nicht anmuthig!414 (ebd.). Eisenbahnbekanntschaften, -erlebnisse und -gespräche gehörten von nun an zu allen Reiseerzählungen und wurden natür­lich auch bei Islers geführt. Wie rasant sich im Laufe weniger Jahrzehnte der Zeitaufwand beim Reisen verkürzte, sieht man am besten, wenn man die Strecke Hamburg–Braunschweig betrachtet, die für Sophie und Otto so entscheidend werden sollte. 1828 legte Malchen Isler (später Cohen*) diese Strecke zurück, um die Verwandten in Wolfenbüttel zu besuchen. Auch sie benutzte die Diligence von Hamburg nach Braunschweig; sie brach am Montag auf und kam wegen der durch Regen aufgeweichten Straßen erst Dienstag gegen Mitternacht in Braunschweig an. Auf der Poststa­tion erwarteten sie Onkel Ehrenberg*415, Cousin Philipp und Kusine Julchen; zu viert fuhren sie gleich weiter nach Wolfenbüttel.416 Von Hamburg bis Braunschweig war Malchen also zwei volle Tage und anderthalb Nächte unterwegs. 1867, vierzig Jahre ­später, fuhr Otto die Strecke häufig, um seine Braut zu besuchen. Er brauchte bis Harburg mit der Eisenbahn – umsteigen in Lehrte – nur noch fünf bis sechs Stunden. Von hier nahm er den (Pferde-)Omnibus und war eine gute Stunde s­ päter bei Sophie: […] anzeigen, dass

413 1872 wurde in Zusammenhang mit den Elbbrücken der Hannöversche Bahnhof auf der Grasbrookinsel in Betrieb genommen. Die Gleise führten nach Harburg zu der seit 1847 bestehenden Strecke Harburg–Celle. 414 1868 reist Meyer im „Nichtrauchercoupé“, als er von Braunschweig nach Harburg unterwegs ist (dazu Meyer, 16. 4. 1868). 415 Samuel Meyer Ehrenberg. 416 Zehn Jahre ­später wird genau auf dieser Strecke die erste Deutsche Staatseisenbahn (Herzogtum Braunschweig) den Betrieb aufnehmen: Seit dem 1. 12. 1838 verkehrten täg­lich vier Züge z­ wischen Braunschweig und Wolfenbüttel in beide Richtungen und wurden eifrig genutzt. Für die 11,85 km benötigte die Bahn je nach Windstärke und -richtung ­zwischen 13 und 30 Minuten.

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ich morgen (Mittwoch) morgens um 9.40 Uhr von hier abfahre und um 3 Uhr in harburg und um 4 Uhr 30 Min. per Omnibus in hamburg eintreffen werde (Otto, 16. 7. 1867). Immerhin: Aus ca. vierzig Stunden sind sieben geworden!417 Die Reisezeit verkürzte sich noch einmal, nachdem end­lich die Brücke über die Elbe gebaut worden war und den Hamburgern die Fahrt nach Harburg erleichterte und auch älteren Personen die Reise zu jeder Jahreszeit ermög­lichte. Anders als in der Postkutschenzeit wurden mit den Eisenbahnen die Angaben auf die Minute genau. Das wirkte bis in den Alltag, denn jetzt erhielten öffent­liche Uhren, sogar die Kirchturmuhren, einen Minutenzeiger. Bei aller Genauigkeit – Zugverspätungen begleiteten das neue, schnelle Verkehrsmittel von Anfang an. Beschwer­lich blieb das Reisen trotz Eisenbahn noch lange. Das wird sehr anschau­lich, wenn wir von Emmas erster Reise zu ihrer verheirateten Tochter nach Braunschweig lesen. Ende November, als das Gröbste erledigt war – nach dem Schwelbrand in der Küche, den das Hochzeitsessen ausgelöst hatte, waren Reparaturen notwendig –, brach Emma auf und auch das Wetter, das eine nicht zu unterschätzende Rolle bei ­diesem Unternehmen spielte, schien end­lich günstig zu sein. Deshalb schrieb sie an Sophie: Es ist mir ganz lieb, dass es regnet und warm ist, ich erwartete bestimmt, dass es Puckelsteine frieren würde wenn ich reiste. […] Vater und ich haben aber beschlossen, dass ich nicht allein nach Harburg gehe, sondern dass Line [Islers Mädchen] mich hinbringt; wenn ich etwas von meinen Sachen verliere, ist es teurer … (Emma, 25. 11. 1867). Emmas Gepäck und Reiseausstattung waren näm­lich umfangreich, es ging nicht nur um den (zu großen) neuen Koffer, den sie für die Tochter-­Reisen gerade erst als Geburtstagsgeschenk erhalten hatte, sondern vor allem um die zahlreichen Schutzhüllen, die sie auf Sophies Anordnung hin tragen sollte: Du musst alles doppelt anziehen, Hosen, Flanellrock und dann über alles ein Nachthemd. Denke ja nicht, dass Dir etwas zu viel wird wenn man stundenlang sitzt wird man sehr kalt. Deine[n] Muff musst Du umbinden, an den Fusssack auch ein Band machen, und mög­lichst wenig sonst in der Hand haben. […] In Lehrte musst Du ins Damenzimmer gehen, da ist es warm; wenn Du kannst nimm etwas zu lesen mit für die 2 Stunden dort … (Sophie, 22. 11. 1867). Nicht nur doppelte Unterwäsche also sollte Emma tragen, sondern auch noch Fußsack, Muff und, wie aus anderen Zusammenhängen hervorgeht, natür­lich ein Plaid – sie ist aber keine Tapergreisin, wie angesichts der töchter­ lichen Bemutterung anzunehmen wäre, sondern gerade eben 51 Jahre alt geworden.418 Auch ging Sophie davon aus, dass es geheizte Coupés gibt: Du sollst Dich ja erkundigen w ­ elche 417 Nachtfahrten mit der Eisenbahn waren im Gegensatz zu denen mit der Postkutsche sehr beliebt: Otto reiste gern nachts, um dann am Morgen bei Islers zu frühstücken und den ganzen Tag mit seiner Braut zu verbringen oder bis zum Abend in Hamburg zu sein und die Nacht für die Rückreise zu ­nutzen. Auch Sophie fand Nachtfahrten angenehm, weil sie sich bequem ausstrecken konnte, falls das Coupé, wie nachts häufig, wenig besetzt war. 418 Wenn man bedenkt, dass Sophie 1880 mit knapp 40 Jahren ihre Tochter Helene zur Welt brachte und nichts in den Briefen diese späte Schwangerschaft als etwas Besonderes bewertet, drängt sich der

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Coupées geheizt sind, vorigen Frühling waren es nur die Damencoupées (Sophie, 25. 11. 1867). Für Damen gab es alles separat: „Damencoupés“ im Zug, in denen nur Frauen (und Mütter mit Kindern) sitzen und sich ungeniert fühlen durften, und ein „Damenzimmer“ im Bahnhof, damit sie nicht im allgemeinen Wartesaal auf den Anschlusszug warten mussten. Zigarren- und Pfeifenrauch, von dem Meyer geschrieben hatte, waren sie dort natür­lich auch nicht ausgesetzt, denn rauchende Frauen waren zu dieser Zeit noch höchst selten. 1881 berichtet Emma, dass Sophies Kusine Elise Bettelheim* sich in Wien das Rauchen angewöhnt habe.419 – Alles klappte nach diesen Vorbereitungen wunderbar, sodass Emma nach Hamburg berichten konnte: Gefroren hat mich garnicht, von Celle ab fühlte ich mich aber recht erschlafft, sodass mir der Aufenthalt in Lehrte recht behag­lich war. Hätte er nur eine Stunde gedauert, würde ich die Einrichtung preisen, zwei ist etwas zu lang. Aber jedenfalls kam ich Frischer in Braunschweig an wie wenn ich durchgefahren wäre (Emma, 29. 11. 1867). Die Rückreise allerdings stand unter wesent­lich ungünstigeren Sternen, wettermäßig betrachtet. Am 13. Dezember kehrte Emma nach Hamburg zurück; bis zuletzt wurde überlegt, ob sie wegen des schlechten Wetters überhaupt reisen sollte. 10 Grad Kälte meldete otto heute Morgen […] es ängstigt mich aber gar nicht, denn es ist in den Coupées behag­lich warm und so werde ich wohl durchkommen (Emma, 9.12.[1867]). Aber da gibt es etwas anderes zu bedenken: Bitte erkundige Dich recht genau wie es mit der Elbe steht, ich müsste sonst über Magdeburg und das ist eine viel längere Reise (ebd.). Auch Sophie meldet sich in dieser Frage zu Wort: […] das fahren an sich ist schon schlimm genug und dann die Elbe. […] sollte die Überfahrt irgend w ­ elche Schwierigkeit haben, so müsste M ­ utter über Magdeburg gehen, was unangenehm wäre, da es entweder von morgens 8 bis abends 8 oder von Nachmittags 4 Uhr bis den anderen Tag bis 1/2 4 [nachts] dauert (Sophie, 9. 12. 1867). Meyer antwortete beschwörend: Wenn aber die Überfahrt über die Elbe unsicher ist, so kannst Du, liebe Emma, in keinem Fall reisen. Ich binde es Sophie und Otto auf die Seele, es nicht zu gestatten (Meyer, 10. 12. 1867). Meyers Machtwort war wichtig, denn er musste fürchten, dass Emma sich seinetwegen Gefahren aussetzte: Er hat am 14. Dezember Geburtstag. Deshalb fügte er seinen eindring­lichen Worten einen Nachsatz an: Meinen Geburtstag verlege ich dann auf den 31. d. M. (ebd.). Emma soll also der Elbe wegen unter diesen Umständen auf keinen Fall über Harburg reisen. Um die Aufregung wegen der Elbe zu verstehen, ist es nötig, sich die Situa­tion Hamburgs zu vergegenwärtigen. Dass die Stadt an der Elbe liegt, weiß jedes Schulkind. Weniger bekannt ist, dass es sich dabei um die Norderelbe handelt. Harburg hingegen liegt an der Verdacht auf, dass Frauen im 19. Jahrhundert ­zwischen 40 und 50, wohl mit dem Eintritt ins Klimakte­ rium, in der gesamtgesellschaft­lichen Sicht schlagartig zur alten Frau mutierten. 419 Anfangs rauchten nur Prostituierte. Erst um die Jahrhundertwende wurde Rauchen bei Damen als ­­Zeichen der Emanzipa­tion üb­licher. Elise Bettelheim wäre demnach ein sehr frühes Beispiel. In bürger­ lichen Kreisen allerdings verfiel eine rauchende Frau bis in die 50er-­Jahre des 20. Jahrhunderts häufig dem abwertenden Verdikt „unweib­lich“.

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Süderelbe und gehörte nicht zum Hamburger Staatsgebiet.420 Die Elbe trennt sich kurz vor Hamburg in zwei Flüsse, deren einer an dem nörd­lich liegenden Hamburg, der andere an dem süd­lich davon liegenden Harburg vorbeifließt. Es handelt sich um das Elbdelta, folg­lich ist das ­zwischen beiden Städten liegende Gebiet überwiegend Marschland und von Wasser durchzogen. Zahllose Kanäle, Fleete, der breite Köhlbrand – ein weiterer Teil der Süderelbe – und der schmalere Reiherstieg durchziehen das Gelände; die Hafenanlagen auf der Südseite der Norderelbe gegenüber Hamburg verstärken den Eindruck des Zerrissenen. In Kontrast dazu liegen Hamburg und das benachbarte Altona sozusagen kompakt auf der Nordseite des Flusses. Weit hinter Altona finden die Flussarme wieder zueinander und fließen vereint der Nordsee zu. Wer nach Berlin oder Magdeburg reisen wollte, blieb in Hamburg auf der sicheren Seite nörd­lich der Elbe, wer nach Hannover, Braunschweig, Köln wollte, musste nach Harburg, also die Elbe überqueren. Hier kamen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts neben Fähren auch Dampfschiffe zum Einsatz, aber heikel blieb die Überquerung bei schlechtem Wetter und Sturm, besonders aber im Winter, wenn Eisschollen die Fahrt behinderten. Dass die Elbe für die Hamburger immer wieder unangenehme Überraschungen bereithielt, war allen vertraut, auch Sophie natür­lich seit ihrer Kindheit. Wenn der Wind z. B. das Wasser von der Nordsee elbaufwärts drückte, war Hochwassergefahr. Mit Kanonenschüssen wurden die Hamburger gewarnt und konnten sich in den betroffenen Gebieten in Sicherheit bringen. In ihren „Kindheitserinnerungen“ schildert Sophie, dass das Wasser in der Deichstraße, wo Islers während Sophies Kindheit wohnten, in die Keller drang, die Seite […], wo wir wohnten lag hoch und blieb vom Hochwasser verschont; in den gegenüberliegenden Häusern stieg das Wasser und man konnte zuweilen Tische und Stühle im Wasser schwimmen sehen. Mit der Ebbe lief das Wasser ab und die Leute wohnten ruhig weiter in den feuchten Räumen, sie kannten es nicht anders.421 Schwierigkeiten mit der Elbe gehörten demnach zum Hamburger Alltag, aber man musste sich ihnen natür­lich nicht aussetzen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Deshalb die Warnungen von allen Seiten, als Emma bei frostigem Wetter von Harburg nach Hamburg reisen wollte. Glück­licherweise setzte Tauwetter ein und Emma reiste wie beabsichtigt am 13. Dezember nach Hamburg. Da sitze ich wieder zu Hause wo ich um 6 Uhr angelangt bin; ich wollte gleich telegraphieren ob Du vielleicht meine Füsse gefunden hättest, sie waren abhanden (oder besser abfüssen) gekommen, aber nun sind sie wieder da. Papchen hat mich am Omnibus erwartet, […] Onkel Moritz*, Ferdinand und Siegmund waren auch schon hier […] (Emma, 13.12. [1867], abends). Alle gehfähigen Brüder Emmas waren gekommen, um die Schwester zu begrüßen und von Sophie und Otto zu hören. Zu Onkel Ludwig*, der sein Haus krankheitshalber nicht mehr verlassen konnte, würde Emma selbst gehen und ihm berichten. Aber wie war die Reise?

420 Harburg gehörte zum Königreich Hannover und kam erst 1938 zu Hamburg, zusammen mit Altona, Wandsbek, Blankenese, Stellingen. 421 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 11.

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Emma war zunächst allein im Coupé; das war ihr ganz recht, weil ihre Gedanken ungestört in Braunschweig bleiben konnten. Dann aber fiel ihr auf, dass der Zug sehr langsam fuhr, dass ihm jedes Droschkenpferd voran gekommen wäre. […] So bummelten wir nach Lehrte, wo der Zug nach Harburg schon da war und mir zugerufen wurde, ich möchte laufen; das tat ich dann auch. Das Damencoupée wurde aufgemacht, ich konnte aber nicht hinein, weil der obere Tritt zu hoch war: ich würde jetzt da noch hängen, wenn mich nicht eine dicke Blondine mit kräftiger Faust gepackt und hineingezogen hätte (ebd.). Emma, nicht sehr hoch gewachsen, konnte von Glück sagen, dass die Damen im Abteil ihr Problem erkannten und im Wortsinn handgreif­lich lösten. Während sich Emma und ihre Retterin nach einiger Zeit lebhaft unterhielten, änderte sich das Wetter: […] zuerst Regen, dann Schneegestöber und jetzt empfind­licher Frost, aber bis Harburg tat das nichts und ich empfand nicht die geringsten beschwerden, sicherte mir dort zuerst einen Platz im Omnibus, besorgte dann meine Sachen und glaubte mich geborgen als ich end­lich sass. Er fuhr aber nur bis Wilhelmsburg, dann mussten wir alle heraus und sehr lange im Freien stehen bis end­lich alles gepäck auf ein kleines offenes Dampfboot gebracht war, was uns nach Hamburg brachte (ebd.). Erst in ihrem nächsten Brief erzählte Emma, dass der Wechsel aufs Dampfboot seine Schwierig­ keiten hatte. Die Passagiere mussten näm­lich über lange, schmale Planken über Wasser und Eis klettern, während es völlig dunkel geworden war. Als einzigen Schutz den Zuruf der Bootsleute „Madame nicht fallen!“, was nicht wesent­lich zur Sicherheit beitrug, was ich aber jedesmal mit einem höf­lichen „ich habe nicht die Absicht“ erwiderte (Emma, 16. 12. 1867). Das Umsteigen aufs Dampfschiff machte die Reise z­ wischen Harburg und Hamburg mühselig, schlimmer noch, wenn das Wetter Kapriolen schlug. – Im Verlauf des Briefwechsels erfahren wir, dass Emmas erste Reise nach Braunschweig dann doch ein Nachspiel hatte: Sie erkrankte an Rheumatismus und litt fast zwei Monate unter bösen Schmerzen. Erst Sophies Ankündigung Anfang Februar, in Kürze nach Hamburg kommen zu wollen, richtete Emma wieder auf und verjagte bald die letzten Anzeichen der Krankheit. Kein Wunder also, dass die Hamburger auf die Elbbrücke hofften! Darauf war 1867 nun auch Aussicht. Schon Ende Oktober schrieb Emma: Freust Du Dich, dass die Elbbrücke nun beschlossen ist? […] für uns ist […] das Wichtigste dass im Frühling angefangen wird (Emma, Dienstagabend, 8 Uhr, [29. 10. 1867]). Im Zusammenhang mit ihrer ersten Reise zu den Braunschweiger Kindern findet sich das Thema wieder: In der nächsten Bürgerschaft wird die Bewilligungssumme für den Elbbrückenbau vorkommen, ich glaube 10 oder 18 MILLIO­ NEN; ICH BIN GANZ ENTSCHLOSSEN AUCH DAZU ZU GEBEN; IHRE Abwesenheit ist wirk­lich unangenehm (Emma, 13. 12. 1867). Meyer seinerseits verzichtete ganz darauf, während des Winterhalbjahrs nach Braunschweig zu reisen: Im Winter werde ich ohne dringende Veranlassung nicht leicht reisen, wenigstens müssten dazu erst andere Vorbereitungen getroffen werden, z. B.die Brücke nach Harburg fertig sein […] (Meyer, 14. 12. 1867). Noch erwies sich also die Elbe, jedenfalls für ältere Menschen – Meyer ist gerade 60 Jahre alt – als trennende Macht. Deshalb durchzieht der geplante Brückenbau von nun an den Briefwechsel. Im Februar, als sich Sophies erste Reise Das Jahrhundert der Modernisierung   |

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in die Heimat abzuzeichnen beginnt, heißt es: Ich habe heute mit befriedigung gelesen, dass der Baumeister der Kölner brücke bereits nach Hamburg abgereist ist um den Brückenbau zu übernehmen […] (Emma, 6.2.[1868], abends, 6 Uhr). Und Otto fragte drei Monate ­später nach der genauen Route: Nach einer Notiz in den gestrigen Nachrichten schien es, als ob die Elbbrück[e] zwar bei aber nicht über Wilhelmsburg gebaut würde. Wisst Ihr darüber etwas Näheres? (Otto, 12. 5. 1868). Am Ende vergingen doch fast fünf Jahre, bis Emma 1873 nach einer Reise zu Sophie end­lich nach Hamburg melden konnte: Die Reise hat durch die Brücke alle Unbehag­lichkeit verloren. Als ich über die Elbe wegflog und unten das Eis sah, freute ich mich, nicht im Omnibus auf der Fähre zu sein, die sich knirschend durch die Eisschollen zu arbeiten hätte (Emma, 20. 2. 1873). Auch der innerstädtische Verkehr wurde lebhafter und moderner. Benutzte Sophie anfangs in Braunschweig gelegent­lich Pferd und Wagen des Schwiegervaters oder die Equipage der reichen Tante Jeanette Helfft*, wenn das Wetter schlecht war oder sie gesundheit­liche Pro­bleme hatte – ein sehr gepriesener Luxus –, so verkehrten bald auch dort die Pferdebahnen 422 und wurden zu einem allgemein gern benutzten Verkehrsmittel. Der Fortschritt führte zu einer Art Demokratisierung der Fortbewegung, weil das Fahren nun nicht mehr nur den besonders Begüterten mög­lich war. Aber es gab auch Verlierer: Da alle Welt mit der Pferdebahn fuhr, gerieten die Eigner der Pferdedroschken in wirtschaft­liche Schwierigkeiten; jedenfalls berichtet Emma davon, dass das Droschkengeschäft […] durch die Pferdebahn sehr herunter gekommen ist und deshalb erwogen wird, dass hier Droschken eingeführt werden, die 400 Meter weit für 10 Pfennig fahren wollen, ein im Wagen angebrachtes Uhrwerk zeigt an der Zahl der Umdrehung der Räder genau die Entfernung an (Emma, 31. 12. 1883). – Noch sind wir tief im 19. Jahrhundert und doch gab es bereits einen Vorläufer des Taxameters, wie wir es heute in jedem Taxi finden! * Doch nicht nur die Eisen- und Pferdebahnen verkürzten die Strecken und führten zu Zeit­ gewinn, die Beschleunigung des Lebens machte sich auch und besonders bei der Nachrichten­ übermittlung bemerkbar. Noch 1827 klagte die Hamburger Familie Isler, dass sie lange auf Meyers Briefe aus dem fernen Bonn warten musste, und wies auf die mög­licherweise schnellere preußische Post hin: Dein Schreiben vom 3. ­dieses, den aber das Postamt mit dem 4. bezeichnet hat, haben wir gestern Nachmittag um 4 Uhr erhalten. Erkundige Dich, ob die Briefe mit der Preuss. Post schneller befördert werden, und wir wollen durch diese schreiben (I. A. Isler, 9. 11. 1827) – der Brief war also mindestens vier Tage unterwegs. Mit dem wachsenden Schienennetz der Eisenbahnen wurden auch die Postverbindungen rascher: Sophies und Ottos Briefe waren 1867 durchweg am folgenden Tag in Braunschweig bzw. Hamburg – von seltenen Pannen abgesehen. Damit ein Brief rechtzeitig nach Hamburg kam, lief Otto oft

422 Oktober 1879 wurde die Pferdebahn in Braunschweig eröffnet.

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noch in der Nacht zum Bahnhof; so erhielt Sophie den Brief pünkt­lich zum Frühstück. Auch am Sonntag wurde Post zugestellt, allerdings bald nicht mehr zweimal wie am Wochentag: Der Norddeutsche Bund hat näm­lich die dumme Einrichtung, dass am Sonntag nur einmal die Briefe ausgetragen werden und das ist jetzt überall (also auch wohl in Hamburg) eingeführt. Also müssen wir jetzt künftig immer so schreiben, denn selbst das Abholen nützt nicht viel, da bis 5 die Post ganz geschlossen ist und man ­später nur aus besonderer gefälligkeit von einem der Beamten ihn suchen lassen könnte (Sophie, 19. 4. 1868, Sonntag, 12 Uhr). Ganz nebenbei erfahren wir hier, dass das Postamt am Sonntag geöffnet hatte. Wer eine dringende Sendung erwartete, konnte sie dort selber abholen, falls sie erst nach Weggang des Postboten eingetroffen war. Über einen derartigen Service kann man heute nur staunen und sich auch darüber wundern, dass der Sonntag 1868 offensicht­lich kein grundsätz­lich arbeitsfreier Tag war.423 Noch waren Leben und Geschäfte nicht durch verbind­liche Ladenöffnungszeiten reglementiert. Wollten Otto oder Sophie noch rascher eine Nachricht übermitteln, wurde telegraphiert. Wie sehr hat mich die Nachricht betrübt, dass Du meinen Brief gestern nicht erhalten hast. Die Schuld liegt ledig­lich bei der Post. Ich habe bei Empfang des Briefes gleich an Dich telegraphiert um Dich zu beruhigen (Otto, 25. 6. 1867). – Ja, und dann gab es eine Neuerung, die für kurze Mitteilungen wunderbar geeignet war: Im Juni 1870 wurde die Postkarte unter dem Namen „Correspondenzkarte“ eingeführt; schon einen Monat ­später finden wir sie im Briefwechsel von Otto und Sophie.424 Schneller wurde der Austausch von schrift­lichen Mitteilungen erst wieder im Computerzeitalter. Eins ist nachzutragen: das Telefon! Emma Isler, die alle Entwicklungen und Beschleunigungen des Jahrhunderts mit vollzogen hatte, erlebt im Hamburg der 1880er-­Jahre das Telefon. Auf unserem Dach sind Arbeiter beschäftigt Telefonstangen zu befestigen, schade, dass die nicht z­ wischen hier und braunschweig liegen. Onkel Ferdinand* war einen tag in Cuxhaven und sah zu, wie Kanonen probiert und dabei der Fernsprecher benutzt wurde. Er fragte den Soldaten, ob er auch mit dem Mann der weit weg postiert war sprechen könne, der sprach in das Mundstück hinein und gleich schallte die Antwort zurück (Emma, 15. 8. 1881). Aber nicht

423 Dazu gibt es auch an anderer Stelle einen Hinweis: „Es fällt mir auf wie in unserer Zeit wo die Richtung ist sich von der ­Kirche zu emanzipieren, das Verlangen nach der Erholung des Sonntags überall hervor tritt[.] – Die Krämer, die sonst menschen ohne Feiertag waren, schliessen jetzt grösstenteils Sonntag Nachmittags“ (Emma, 30. 4. 1868). 424 In Deutschland wurde die Postkarte nach dem Amtsantritt Heinrich Stephans (später: von Stephan) als Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes am 6. Juni 1870 eingeführt. Sie trug den Aufdruck „Correspondenzkarte“ und war ein Formular, das mit einer Marke zu einem Silbergroschen für den Versand freizumachen war. Sophies Correspondenzkarte im Briefwechsel stammt vom 2. Juli 1870. Die Postkarte verbreitete sich außerordent­lich schnell; 1870, im ersten Kriegsjahr des Deutsch-­ Franzö­sischen Krieges, wurden 10 Mill. Feldpostkarten ­zwischen Armee und Heimat versandt. Meyers ­Konvers. Lexikon, 6. Auflage, 16. Band, S. 220 f.

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nur im militärischen Bereich finden wir das Telefon, sondern s­ päter auch im Geschäftsleben als fernmünd­liche Mitteilungsmög­lichkeit im Unternehmen der Neffen, Ende 1884 näm­lich. Dass sich auch die öffent­liche Nachrichtenübermittlung durch die neuen Mög­lichkeiten beschleunigte, leuchtet ein. Wie bewusst das den Zeitgenossen war, zeigt noch einmal Sophies Lektüre. Ich habe in diesen tagen ein sehr interessantes Westermanns Monatsheft gelesen, über Zeitungen während der Freiheitskriege, von deren Dürftigkeit wir uns keinen begriff mehr machen können. Wie anders hat die Welt ausgesehen als man nur den kleinsten Teil auf dem man lebte kannte und von der nächsten Stadt nichts sicheres erfuhr; während jetzt die Welt soweit sie bekannt ist täg­lich offen vor uns liegt (Sophie, 9. 4. 1881, Sonnabend). So erfreu­lich diese Entwicklung war – nicht nur interessante und positive Nachrichten erreichten die Leserschaft schneller, sondern auch Katastrophenmeldungen wie Schiffs- und Eisenbahnunglücke überraschten unmittelbarer und beunruhigten, solange man nicht erfahren hatte, ob etwa Verwandte oder Bekannte betroffen waren. Denn Benachrichtigungen darüber dauerten länger. Was ist das aber wieder für ein grauenhaftes Unglück mit der Cimbria!425 Man kann sich kaum vorstellen, wie so nah am Land so viele menschen umkommen können; verschiedene Hiesige sind auch unter den Passagieren, die teils gerettet, teils vermisst werden. Fritz Ehrenberg* war doch wohl nicht darauf? Bei dem californischen Eisenbahnunglück 426 musste ich an Helene Heymann* denken, hoffent­lich ist keiner der Ihrigen dabei (Sophie, 23. 1. 1883). Sophies Schlussfolgerung hat ihre Allgemeingültigkeit bis heute nicht verloren: Man mag keine Zeitung mehr in die hand nehmen, es passiert so viel Schreck­liches (ebd.). Die Beschleunigung veränderte das Leben nachhaltig. Sie führte nicht nur äußer­lich zu schnellerem Vorankommen, sondern sie drang bald schon tiefer in das Denken und Empfinden ein, sie veränderte Wertsystem und Lebensweise. Hatte Sophie Isler sich noch 1867 moderne und doch zeitlos schöne Möbel ausgesucht, weil sie sich für ein ganzes Leben einzurichten gedachte, so liest die Chronistin erstaunt, dass sich Sophie zehn Jahre s­ päter auf den nächsten Umzug freut – er gilt der dritten Wohnung in Braunschweig 427 –, weil sie sich bei dieser Gelegenheit neu einrichten möchte: Wir wissen noch nicht, was die Wohnung kosten soll, weil der Erbauer Campe es selbst noch nicht weiss […]. Ich möchte auch

425 Am 19. 1. 1883 sank die „Cimbria“ (ein Auswandererschiff der Hapag) nörd­lich von Borkum, nachdem sie in dichtem Nebel von einem britischen Kohlendampfer gerammt worden war. Der Untergang der „Cimbria“ galt als die größte Schiffskatastrophe der zivilen Schifffahrt vor Untergang der „Titanic“: 437 Menschen starben in der eisigen Nordsee, nur ca. 39 (hier schwanken die Angaben) konnten gerettet werden. 426 20. 1. 1883, schweres Eisenbahnunglück des Southern Pacific Train am Tehachapi-­Pass auf der Strecke z­ wischen San Francisco und Los Angeles. Wenn Sophie bereits am 23. Januar von beiden Vorfällen berichtete, war die Nachrichtenübermittlung wirk­lich sehr schnell. 427 Im April 1871 zeigt Dr. Magnus, Advocat-­Anwalt, seine neue Adresse an: Am Bruchthore 4a, im Haus des Maurermeisters Herrn Götter; Braunschwei­gische Anzeigen, April 1871, S. 4619.

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gern unsere Einrichtung los sein damit wir uns neue Sachen anschaffen können; […] Max ­Aronheim soll sehr schöne Möbel haben die hier gemacht sind, danach können wir uns vielleicht richten (Sophie, 22. 5. 1877). Auch die Geschwister Magnus, mit denen Sophie und Otto viel zusammen waren, veränderten ihre Wohnsitua­tion immer wieder: mal wurde bei Carl* angebaut, mal Haus und Garten erworben; kaum war man eingerichtet und hatte die neue Wohnung über Einladungen präsentiert, gingen Carl und Bertha Magnus* auf Reisen, kurz nach Berlin in Theater und Museen oder quer durch Europa, um sich end­lich zu erholen. Auch Anna und Felix ­Aronheim* veränderten sich gern. Bei ihnen spielte das Einrichten die wichtigste Rolle, denn Felix war Ästhet und sammelte antike Möbel und Kunst. Die größte Freude machten ihm beim Antiquar entdeckte alte, unscheinbare Sachen, deren Wert er mit sicherem Blick erkannte. Das war ein Lebensstil der großzügigen Geste, der selten fragte, ob er auch finanziell leistbar war, aber vor allem eine Haltung, die rasche Veränderung bevorzugte und sich damit einem Rhythmus anpasste, der das Leben im industrialisierten Deutschland vorantrieb. Dass es vor allem die jüngeren Leute waren, die von dem Tempo mitgerissen wurden, fällt auf: Die Eltern Magnus wohnten genauso unerschütter­lich seit Jahrzehnten im Braunschweiger Bohlweg wie Islers seit Mitte der fünfziger Jahre in Scholviens Passage hinterm Jungfernstieg.

Alltag im Wandel Mit Brückenbau, wachsendem Schienennetz und immer schnellerer Nachrichtenübermittlung schritt die Industrialisierung in Deutschland voran; die Städte füllten sich mit Menschen und dehnten sich über die mittelalter­lichen Wallanlagen aus, Mauern und Stadttore verloren ihre Funk­tion. Zu den Messen, die noch Emmas Vater Berend Meyer* fleißig besucht hatte und die auch weiter stattfanden, gesellten sich die großen Industrieausstellungen, die als „Welt­ ausstellungen“ in den Metropolen stattfanden und den staunenden Besuchern die neuesten Industrieprodukte in aufwendig errichteten Bauten präsentierten.428 Emma bemerkt dazu: Wir sprachen über die Braunschweiger Messe, die von früherer bedeutenheit zu einem Markt herab gesunken ist. Er [Onkel Ferdinand*] meinte bei den jetzigen verkehrsverhältnissen müssen alle messen aufhören. Nun scheint mir aber, dass Reisen einem kaufmann nie den Überblick geben können, wie wenn die Waaren von allen Enden auf einen Punkt zusammen gebracht werden. Jetzt ersetzen das wohl die grossen Industrieausstellungen (Emma, 4. 2. 1868). Unaufhaltsam veränderten sich Umwelt und Leben. Dass damit nicht nur der von unsern Briefschreibern begrüßte Fortschritt verbunden war, sondern auch wachsende s­oziale Probleme, wissen wir. Auch den Zeitgenossen wurde die s­ oziale Frage drängend. Es ist Emma,

428 Während der Brautzeit Sophies reisten viele Bekannte und Verwandte 1867 zur Weltausstellung nach Paris; sie war die vierte interna­tionale Industrieausstellung (London 1851, Paris 1855 und London 1862).

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die das ins Wort hebt: Interessiert sich Otto eigent­lich für die Details der Arbeiterfrage?, erkundigt sie sich bei Sophie und fügt an: Ich glaube es ist eine, die die Welt bewegen wird (Emma, 25. 10. 1868). Sophie berichtet unverzüg­lich, dass Otto gerade jetzt zum Mitglied eines Vereins zum Wohl der arbeitenden Classen gewählt worden sei und von jetzt an mehr sich mit den Dingen beschäftigen werde (Sophie, 26. 10. 1868). Der Briefwechsel zeigt, dass die Familien Isler und Magnus junior der organisierten Arbeiterbewegung ablehnend gegenüberstanden, da verhielten sie sich ganz bürger­lich. Ein Vorfall unter verschiedenen soll das illustrieren: Das Tageblatt erscheint in sehr reduciertem Massstab wegen des Streikes. Es waren Sonnabend viele Gehilfen aus dem Verband ausgetreten, hatten sich also vom Streik ausgeschlossen. B[r]acke* und noch einer haben aber so agitiert, dass sie Montag doch alle erklärten bei ihren Forderungen zu bleiben, worauf sie dann sämt­lich entlassen werden mussten (Sophie, 12. 3. 1873). Ein Zweifel an d ­ iesem unternehmerischen Handeln taucht nicht auf, es wird auch anschließend nicht diskutiert. Dass Otto direkt mit in die Auseinandersetzung gezogen wurde, berichtet der folgende Brief: Einer der Buchdrucker, der gegen seine contractbrüchigen Arbeiter klagen will, hat sich an Otto gewandt: ich bin jetzt so feige, dass ich mich anfangs fürchtete, weil er gegen die Sozialdemocraten auftreten muss, aber es hat sich schon wieder gegeben (Sophie, 14. 3. 1873). Was fürchtete Sophie? Übergriffe der Sozialdemokraten? Dass Otto in Misskredit geraten könnte, weil er sich in einem sozial-­politischen Streit exponierte? Der Briefwechsel gibt darüber keine Auskunft. An anderer Stelle wird das Verhalten des Unternehmers Alexander Fischel* lobend hervorgehoben, das bei Islers in Hamburg und Magnussens in Braunschweig Beifall fand: Er beschäftigt 500 Arbeiter um die er sich sehr viel kümmert, für die er Kranken- und andere Kassen eingerichtet hat, und unter denen er lebt wie ein kleiner Fürst (Emma, 20. 2. 1873). – Wer als „sozialer“ Unternehmer auftrat, sich patriarcha­lisch um „seine“ Leute kümmerte, war bei Islers wohlgelitten, Alexander Fischel* zumal, den seine Schwester Julie Ehrenberg* vor Jahren gerne mit Sophie verheiratet hätte und den alle Islers mochten. Die trotz Bismarcks Sozialistengesetz wachsende Arbeiterbewegung beobachtete man in den bürger­lichen Kreisen Hamburgs und Braunschweigs mit Skepsis. Bei den R ­ eichstagswahlen verfolgten Islers und Magnussens das Abschneiden der Sozialdemokraten mit deut­licher Ablehnung. Diese bürger­lichen Familien standen dem Proletariat und seinen Ansprüchen sehr fern. Ja, für Meyer Isler war das allgemeine Wahlrecht im neuen Deutschen Reich ein schwerer Fehler Bismarcks. Woher sollten die Arbeiter denn die Kenntnisse nehmen, um die Richtigen wählen zu können? Sie mussten doch den sozialdemokratischen Demagogen – und nichts anderes waren sie! – in die Hände fallen! 1884 berichtete Emma anläss­lich der Reichstagswahlen von einem bemerkenswerten Dialog bei Islers. In Hamburg waren zwei Sozialdemokraten in den Reichstag gekommen, ein dritter konnte bei der Stichwahl verhindert werden. Trotzdem herrschte bis nach Braunschweig hin große Aufregung und Empörung, dass es überhaupt so weit gekommen war. Als Onkel Ferdinand* in diesen Tagen bei Emma auch Anna Wohlwill° traf, fragte er die beiden Frauen, für wen wir uns entschieden hätten bei einem Wahlkampf z­ wischen [Hofprediger] Stöcker*

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und einem Socialisten. Wir stutzten beide, er erklärte es für Pflicht für Stöcker zu stimmen um einen Reichsfeind fern zu halten, auch wenn er ein persön­licher ist (Emma, 14. 11. 1884). Das überrascht dann doch! Der „persön­liche“ Feind war der wilde Judenhasser Stöcker, dessen flammende Reden den Antisemitismus in der Hauptstadt anfachten. Den könnte normalerweise kein Jude wählen. Der aber müsste bei der Entscheidung z­ wischen Sozialismus und Bürgertum vom Besitzbürger Ferdinand Meyer* gewählt werden, um einen Feind aller Deutschen (was hier heißt: aller Bürger) zu verhindern? Das ist für uns schwer nachvollziehbar, auch, weil wir die Folgen d ­ ieses hier entzündeten Antisemitismus kennen. Emma übrigens stimmte mit dieser Auffassung nicht einfach überein, sie schrieb: Ich weiss aber doch nicht, was ich getan hätte … (ebd.). Schwer vorstellbar, dass sie am Ende ihrem Bruder zugestimmt hätte. Dass die Frage sowieso nur eine theoretische war, darf nicht vergessen werden: Frauen hatten kein Wahlrecht. Das erhielten sie erst 1919 mit der Weimarer Verfassung. * Soviel zu den allgemein bekannten sozialen Umwälzungen. Hier soll noch von den vielen kleinen und großen Dingen die Rede sein, die den kulturellen Wandel im 19. Jahrhundert veranschau­lichen und im Isler-­Magnus-­Briefwechsel ganz nebenbei und absichtslos auftauchen. Wie sah es denn z. B. mit der Hygiene aus in diesen Jahrzehnten? Das Wasserklosett setzte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den größeren Städten allmäh­lich durch; in Hamburg war es bereits in Sophies Kindheit Standard, in Braunschweig blieb es noch lange eine Besonderheit.429 Dass fast alle Wohnungen 1867 kein Badezimmer hatten, wurde bereits erwähnt,430 aber vom Baden ist bei Emma und Sophie, ja, auch bei Meyer Isler häufig die Rede. Dazu ging man in Hamburg in die Badeanstalt und nahm ein Wannenbad. Emma jedenfalls berichtet ihrer Tochter nach Braunschweig immer wieder davon: Ich habe heute schon sehr viel geleistet, mir bei Fürst ein Kleid gekauft, bei Vachez 431 gebadet. Das nette bademädchen hat sich verheiratet und bei dem neuen muss erst einige Zeit vergehen ehe ein stummes Kopfnicken genügt; dass ich heute Wärmegrad und die Höhe des Wassers zu bestimmen hatte ist unerhört (Emma, 28. 5. 1868). Ohne Bademädchen ging in einem öffent­lichen Bad natür­lich nichts: Die Wanne musste ja z­ wischen den einzelnen Benutzerinnen gereinigt, das Wasser aus- und eingelassen und Menge und Wärme mit dem zahlenden Gast abgesprochen werden, ganz zu schweigen von der Betreuung während des Bades. Auch Sophie ging in Braunschweig zum 429 Im Kapitel „Die Wohnung“. 430 Ebd. 431 1867 befindet sich die Badeanstalt von F. Vachez in der Straße Große Bleichen 36, von der Passage aus nur um die Ecke. Schon 1851 bietet Vachez (Adresse: Hohe Bleichen Nr. 18) medizinische und einfache Wannenbäder an und wirbt damit, dass „Corridore“ und Bäder durch Dampfheizung angenehm warm ­seien. Die Damenbäder hätten einen eigenen Eingang, es gäbe Ruhe- und Unterhaltungszimmer. So in den Adressbüchern von 1867 und 1851.

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Baden aus dem Haus: […] dann gingen wir aus, und ich nahm zum ersten Mal ein Bad, es ist lange nicht so hübsch wie bei Vachez […] (Sophie, 16. 2. 1868, Montagabend, 9 Uhr). Nebenbei: ein Ereignis! Vier Monate nach der Hochzeit war der Weg ins Bad ein mutiger Schritt. Das zeigt, wie schwer es Sophie trotz aller Vorbereitung fiel, sich in der fremden Stadt einzuleben. Anfangs beschränkte sie sich ganz auf die Wohnung – die Verwandtenbesuche zählen nicht, auch lagen die Wohnungen nahe beieinander.432 Von nun an gehörte das öffent­liche Bad zu Sophies Zielen in Braunschweig. Jahre ­später ließen sich Magnussens – sie waren inzwischen umgezogen – ein Bad in die Wohnung einbauen, obwohl sie nur zur Miete wohnten 433. Eine grosse wichtige begebenheit ist, dass wir uns eine badeeinrichtung machen lassen und dass es ganz leicht geht (Sophie, 26. 1. 1876). Der Einbau ist in einem Tag zu schaffen und das Bad ist transportabel: […] die Einrichtung hat man ein für alle mal und kann sie überallhin mitnehmen (ebd.), denn sie besteht nur aus Wanne und Badeofen, in dessen Zylinder das Wasser für eine Wannenfüllung erhitzt wurde. Keinen Monat ­später meldete Emma anläss­lich eines Besuches nach Hamburg: Gestern hat Sophie die neue Badeeinrichtung benutzt zum ersten Mal; sie war sehr glück­lich mit der Mög­lichkeit zu baden; […] es hat ungefähr 100 Thaler gekostet (Emma, 11. 2. 1876, Freitagabend). Das allerdings ist eine Ausgabe, die sich nicht jeder so schlankweg leisten konnte, Islers jedenfalls zogen den Einbau eines Bades nicht in Betracht. Zehn Jahre ­später aber, nach Emmas Tod, schlug Sophie ihrem Vater die Einrichtung vor, als er durch Onkel Morchens Testament finanziell in die Lage gekommen war, sich derartige Bequem­ lichkeiten leisten zu können.434 Doch Isler verwarf die Idee. Was wurde denn sonst in den Wohnungen in diesen Jahrzehnten „modernisiert“? Die Öfen waren ein häufiges Thema, immer wieder wurden neue Modelle, auch eng­lische, empfohlen und gegebenenfalls eingebaut – wenn der Hauseigentümer sich dazu bereitfand. Die Öfen zu heizen, war Sache der Dienstboten, aber auch der „Herr“ griff in Braunschweig gelegent­ lich regulierend ein. Wir haben jetzt ein neues Spielzeug, unseren Ofen, den wir seit gestern ordent­lich heizen. […] Otto läuft alle 5 Minuten hin, um sich zu überzeugen, dass er noch brennt (Sophie, 22. 10. 1868). Unser Ofen meint es wirk­lich gut mit uns, unter 19 Grad tut er es nicht. Wir müssen immer alle Türen offen haben […]. Um 7 Uhr wird geheizt, wenn es brennt, zugeschroben, und dann ist abends um 10 noch Glut drin, ohne dass man sich je

432 Die Straße „Damm 18“ etwa, wo Sophie und Otto zuerst wohnten, stieß auf den Bohlweg, wo Ottos Eltern wohnten. 433 Ab April 1871 wohnten Magnussens „Am Bruchthore 4a“. Im Zusammenhang mit dem Bau des Hauptbahnhofs änderte sich die Adresse in Friedrich-­Wilhelm-­Straße 12. 1878 zogen Magnussens noch einmal um, in das neue Haus gegenüber, Nr. 29, mit Blick auf den Friedrich-­Wilhelm-­Platz. Die zentrale Lage der Wohnung und der allseits bewunderte Balkon brachten häufig schaulustige Gäste ins Haus, am Sedantag z. B. oder als der Leichenzug des letzten Herzogs 1884 auf seinem Weg vom Bahnhof zum Schloss am Hause vorbeiführte. 434 Siehe Anm. 64.

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wieder kümmert. Denk mal, wie angenehm das für Paps Stube wäre […] (Sophie, 1. 11. 1868). Hier handelte es sich um einen eisernen Regulierofen. Von dem ist auch noch 1874 im Briefwechsel die Rede. Später, 1883, sind „wandernde“ Öfen der große Hit, weil sie von Zimmer zu Zimmer gerollt wurden, nur leider noch nicht die Treppen bewältigen konnten. Geheizt wurde anfangs mit Torf, ­später ist von Kohlen die Rede. Als Sophie und Otto Ende der 1880er-­Jahre ihr Haus in der Campestraße, Ecke Wolfenbütteler Straße bauten, wurde eine Zentralheizung gewählt, die die Räume schnell und gleichmäßig erwärmte. Die angegebenen Temperaturen machen deut­lich, dass man die Räume mit 19 Grad für gut gewärmt ansah, ja fast schon als überheizt betrachtete. In der altertüm­licheren Hamburger Wohnung der Eltern gab es außer den Öfen das „Comfort“, einen tragbaren Wärmespender, der eigent­lich zur ­Kaffee- oder Teebereitung diente. In der Küche wurden glühender Torf oder Kohlen eingefüllt, die das Wasser im Kessel zum Kochen brachten und dadurch neben dem am Schreibtisch arbeitenden Meyer Isler ein wenig Wärme verbreiteten: War es im Sommer oder Herbst in der Studierstube mal besonders kühl, so wurde das Comfort gebracht, das durch die Kohlen und das dampfende Wasser etwas behag­liche Wärme verbreitete.435 Dass sich in der Wohnung Rauch und mög­licherweise Ruß verbreiteten, nicht nur, wenn der Ofen nicht „zog“, kann die Chronistin nur schließen, denn beinahe jedes Jahr wurden zumindest in Hamburg Decken, Wände und Böden in wechselnden Zimmern „gemalt“; erst danach sah es w ­ ieder hell und sauber aus. Auch der Küchenofen war eine heikle Angelegenheit, zumindest in Sophies Hamburger Kindheit und Jugend. Die Hauptkochstelle befand sich direkt unter dem Schornstein; dort wurde wie seit Jahrhunderten mit offenem Feuer gekocht, gebraten und gebacken. Die Töpfe standen auf einem Rost und je nach Anzahl wurde ein größeres oder kleineres Feuer entfacht. Eine gemauerte dachförmige Kappe führte direkt in den Schornstein. Das offene Herdfeuer setzte im Schornstein eine Menge Russ ab, den der Schornsteinfeger entfernen musste. Dazu wurde die Küche bis auf das letzte Stück ausgeräumt; der Schornsteinfeger, ein besonders schmächtiger Mensch stieg vom Dach in den Schornstein, kletterte darin herunter, bis die schwarzen Beine aus dem Dunkel erschienen und fegte den Russ fort, der natür­lich in Massen in die Küche fiel und von Wänden und Decke entfernt werden musste […].436 Kein Wunder also, dass die Räume immer wieder einen neuen Anstrich brauchten! In ­diesem gemauerten Küchenherd gab es keine Brat- oder Backröhre. Braten und Backen wurde über dem offenen Feuer in Pfannen bewerkstelligt; die Oberhitze gewann man durch glühende Kohlen, die auf den Deckel gelegt wurden; der hohe Rand schützte vorm Herabfallen: […] die Braten und Kuchen wurden sehr schön darin und bekamen eine besonders

435 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 46. 436 Ebd., S. 45.

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gute Farbe.437 In den Stunden, in denen nicht gekocht wurde, deckte man die Glut mit der weißen Asche, denn sie durfte mög­lichst nicht verlöschen. Wurde es dann dem Mädchen bzw. der Köchin zu kalt, benutzte sie in der Küche die „Feuerkieke“, eine große Rolle, eine Fussbank mit Kohlentopf, auf der die Füsse gewärmt wurden. Dies […] war nur mög­lich, weil der Torf, wenn er richtig behandelt wurde, weder Geruch noch schäd­liche Dünste verbreitete.438 In der moderneren Braunschweiger Küche Sophies finden wir schon bald einen Herd, in dessen „Schiff“ auch Wasser ganz nebenbei erhitzt werden konnte. Wenn Sophie in ihren „Kindheitserinnerungen“ so anschau­lich aus ihrer Hamburger Kindheitswelt erzählt, tat sie das, anders als im Briefwechsel, durchaus in der Absicht, eine vergangene Zeit sichtbar und verständ­lich zu machen. Sie hatte die Blätter für ihre Kinder und Enkelkinder geschrieben. Darin folgte sie der Familientradi­tion, Vergangenheit und persön­lich Erlebtes für die Nachkommen noch einmal lebendig werden zu lassen. Hatte sie doch selbst ihre Eltern gedrängt, Erinnerungen aufzuschreiben, und damit zunächst bei Emma Erfolg gehabt, die 1874 ihre „Erinnerungen“ an die Dessauer Kinder- und Jugendzeit mit einem kleinen Ausblick auf Hamburg niederschrieb. Leider verschloss sie sich Sophies Drängen, diesen ersten rund dreißig Blättern weitere über die Hamburger Jahre folgen zu lassen. Sophie hatte aber auch ihren Vater bestimmt, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Kindheit und Studienzeit stehen im Mittelpunkt, wenn auch die Hamburger Bibliothek und Islers Wirken dort noch in den Blick geraten.439 Als Sophie selbst sich – nun schon über die Siebzig hinaus – hinsetzte, um ihre Erinnerungen an die Kindheit festzuhalten, folgte sie also dem Beispiel der Eltern und dem eigenen historischen Bedürfnis.440 Das zu konsta­ tieren, ist nicht ohne Amüsement. Denn Sophie galt bei den an Geschichtsschreibung so lebhaft interessierten Eltern und auch nach eigener Einschätzung als an Geschichtsbüchern nicht sonder­lich interessierte Person. Dass gerade sie es nun war, die ihre Eltern zur Nieder­ schrift drängte, durch ihre eigenen präzisen Beschreibungen aus dem Hamburger Leben um 1850 manches im Briefwechsel für die Chronistin erst verständ­lich machte und Details eines längst vergessenen Alltags erklärte, ist nicht ohne besonderen Reiz, zeigt uns aber vor allem, wie deut­lich sich Sophie der Veränderungen des Jahrhunderts auch während ihrer eigenen Lebenszeit bewusst war.441

437 Ebd., S. 45. Verdankt der Name „Topfkuchen“ sich dieser Backmethode? 438 Ebd., S. 46. 439 1877, Anfang Juni, wird das Problem der „Erinnerungen“ beider Eltern im Briefwechsel diskutiert (4.6.–17. 6. 1877). 440 Sophies Kindheitserinnerungen sind nicht exakt datiert. 1914 muss der größte Teil fertig gewesen sein – sie schildert die Silberhochzeit ihrer Eltern am 12. 6. 1914. 1919 fügt sie dem Text „Jugenderinnerungen“ an. 441 1864 hatte Sophie ihren Eltern zur Silberhochzeit ein Album geschenkt, für das sie die Vergangenheit der Eltern in Bildern (Häuser und Personen) zusammengestellt hatte. Dieses Album wurde zum Grundstock eines „Familienarchivs“, das Sophie in Braunschweig anzulegen begann.

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Vom Siegeszug des Gas­lichts war oben schon die Rede, parallel dazu hielten sich Petroleumlampen noch längere Zeit. Dabei barg das Hantieren mit dem offenen Licht Gefahren, die besonders den Dienstmädchen einzuschärfen waren, damit sie nicht leichtsinnig mit der offenen Flamme umgingen. Bitte sei recht wohl, schreibt Emma an Meyer, als sie Sophie das erste Mal in Braunschweig besuchte, und sage Line, sie solle mit der Petroleumlampe nie ohne Cylinder gehen (Emma, 28. 11. 1868). Am folgenden Tag fügte sie ergänzend dazu: Ich hatte gestern auf der Reise so viel von Petroleumunheil gehört […] (Emma, 29. 11. 1868). Aber auch Gas war gefähr­lich – wir wissen es schon.442 Der Briefwechsel berichtet auch hier getreu­lich von Unfällen, die sich ereignen können oder ereignet haben. Ich höre, dass bei Löwengards gestern eine Gaskrone hinunter gestürzt ist, dass sie zwar gleich die Gasuhr abgeschlossen haben, aber licht angesteckt haben ohne die Fenster zu öffnen, wodurch eine sehr starke Explosion entstanden ist, wobei der älteste Sohn sehr schwer verletzt ist. Die Zerstörung soll so groß sein, dass sie wahrschein­lich zeitweise ausziehen müssen. Die armen Leute! (Emma, 25. 3. 1876). Von den Gefahren also ist die Rede, aber mehr natür­lich von den Vorteilen, die die neuen Lichtquellen boten. Vor allem ist da die Straßenbeleuchtung zu nennen, die durch die Gaslaternen so viel heller wurde. Noch gab es keine Werbung, die mit Leuchtschrift und farbigen Lichtbildern auf Waren aufmerksam machte. Und doch schwelgte man in Licht! Davon zeugen die Illumina­ tionen, die im 19. Jahrhundert sehr beliebt wurden und heute noch auf Postkarten und anderen Abbildungen unser Erstaunen erregen. Gestern Abend war Illumina­tion auf dem Jungfernstieg, wir waren bei Meyers 2 Treppen hoch [Neuer Jungfernstieg 7] und es war ein reizender Anblick. Der Pavillon, den Ihr gesehen habt war von der Spitze bis zum Wasserspiegel eine bunte Lichtmasse; die umliegenden Häuser fast Alle, zum Teil sehr glänzend erleuchtet, und die Alster mit Booten bedeckt, die meisten mit bunten Laternen. Dass der Mond einen glänzenden Streifen über das Bassin zog schadete nicht, es machte das Bild nur reizender. Dazu die wogende Menschenmasse, die Wagenreihe und vom Wasser herauf tönende Musik bei der köst­lichsten Luft, war so, dass ich Euch unend­lich hergesehnt habe. Wir gingen um ½ 10 nach Hause und haben vom Feuerwerk nichts mehr gesehen, nur die Lombardsbrücke in benga­lischer Beleuchtung (Emma, 5. 9. 1868, 8 Uhr abends). Ein Meer von Licht also und Menschen über Menschen, die sich um die Alster bewegten und das bunte Spektakel genossen – aber die Kosten waren erheb­ lich. Angesichts des bevorstehenden Besuchs des Königs von Preußen erfahren wir, dass auch die Elbe von Blankenese bis Hamburg illuminiert werden [soll], was recht schön werden kann […]. Die Nikolaikirche soll in benga­lischem Licht erleuchtet werden […]. Wenn nur unser Eins Alles sehen kann, die Wagenpassage um das Alsterbassin ist von 6 Uhr abends an untersagt; Börse, Kunsthalle und alle Ufer bis an die Uhlenhorst sollen in Feuer strahlen: die Stadt wird wohl 30.000 Mark dafür auszugeben haben (Meyer an Emma,

442 Kapitel „Die Gasbeleuchtung“.

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Wenn die Stadt das Geld auszugeben hatte, musste es das Hamburger Parlament, die „Bürgerschaft“ also, bewilligt haben und dann waren das ja wohl Steuergelder, die benutzt wurden. In ­diesem besonderen Fall handelte es sich um einen Staatsbesuch, bei dem das „freie“ Hamburg sich durch üppigen Lichterglanz hervorheben wollte, aber in d ­ iesem und anderen Fällen kamen derartige Illumina­tionen natür­lich auch allen Bürgern als wunderbares Schauspiel zugute. Zurück zum Alltag: Emmas Reisen nach Braunschweig führten häufig zu einer Modernisierung des Hamburger Haushalts. Sophie hatte z. B. einen Spülschrank in Braunschweig, der so praktisch war, dass Emma sich auch einen wünschte. Glück­licherweise wollte Onkel Morchen seiner Schwester ein großes Geschenk machen, und so wurde in Braunschweig der Schrank beim Tischler in Auftrag gegeben und dann nach Hamburg geschickt. Emma und – was fast wichtiger ist – ihr Dienstmädchen Anna waren von dem neuen Küchenmöbel begeistert: Der Aufwaschschrank ist das Schönste was ich je gesehen habe und Anna die gestern behauptet hat das Aufwaschen kostete darin nur die Hälfte der Zeit, hat es heute bereits auf ein drittel reduziert, morgen wird sie wohl noch Zeit zu kriegen! Sie hat ihre Hochzeit noch um 1 oder 1 1/2 Wochen hinausgeschoben, meinetwegen, sonst hätte sie es sicher des Schrankes wegen getan. Dass der mehr als 20 Thaler kostet kann man ihm ansehen […] (Emma, 1. 2. 1874). Eine andere Neuerung war der Eisschrank, der wohl in den 80er-­Jahren des 19. Jahrhunderts in die bürger­lichen Haushalte kam. Zwar hatte man Speisekammer und Keller, in denen Nahrungsmittel relativ kühl und trocken aufbewahrt werden konnten, aber der Eisschrank war dann doch ein echter Fortschritt. Das Eis kam in großen Blöcken ins Haus und hielt sich, leise tropfend, erstaun­lich lange im Eisfach. Ein so luxuriöses Küchenmöbel schenkten die Braunschweiger Kinder Emma 1884 zum Geburtstag. So kündigten sich auch für Haushalt und Küche Modernisierungen an, die ­später im Laufe des 20. Jahrhunderts die Hausarbeit deut­lich erleichtern und, wie aller technischer Fortschritt, Arbeitsplätze wegra­tionalisieren sollten. Aber auch eine andere Sicht ist mög­ lich: Hausmädchen fehlten zunehmend auf dem Arbeitsmarkt, weil die jungen Frauen immer häufiger in die Fabriken oder gar nach den USA strebten. Da wurde Ra­tionalisierung der Hausarbeit nötig. Endgültig geschah das allerdings erst mit der Elektrifizierung; die Eltern Isler und Magnus haben sie nicht mehr erlebt. Vom elektrischen Licht im öffent­ lichen Raum ist allerdings in den 1880er-­Jahren schon die Rede und auch von der elek­ trischen Nähmaschine! Das sind positive Seiten der Entwicklung, aber manches blieb noch lange unberührt von der neuen Zeit. Dass Flöhe z. B. ganz selbstverständ­lich zum Leben auch in gutbürger­ lichen Familien gehörten, die ja in gepflegten, immer wieder „von Grund auf“ gereinigten Wohnungen lebten, zeigt die alltäg­liche Erwähnung: Das Liegen wurde wieder sehr verleidet, in Ottos Plaid sass Einer und biss und obgleich ich ihn mal sah konnte ich ihn doch nicht fangen und nachher hatte er die Frechheit, es mit Otto ebenso zu machen, worüber wir empört waren (Sophie, 17. 4. 1868). Und Emma antwortete: Wie Onkel Ferdinand* von 17. 9. 1868).

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Amerika kam sagte er immer, er ärgerte sich so über die Dummheit der deutschen Flöhe, sie liessen sich so leicht FANGEN : Deine und meine Erfahrungen bestätigt das aber nicht (Emma, 18. 4. 1868, im Brief vom 17. 4. 1868).

So häufig ist von derartigen „Plagen“ die Rede, dass sich die Leserin fragt, ob denn nichts dagegen unternommen werden konnte – die chemische Industrie wurde ja gerade in dieser Zeit zu einer der innovativsten und erfolgreichsten im jungen Industriestaat Deutschland. Offenbar waren Flöhe aber ein akzeptierter Teil des Lebens; ihre Verbannung aus den Städten passierte erst s­päter. Dabei wusste man, dass gegen die Plagegeister ein „Kraut gewachsen“ war. Onkel Ferdinand* etwa riet, nicht ohne Insektenpulver 443 (Emma, 24. 5. 1880) zu reisen, als Hirschs 1880 in die Karpaten aufbrechen wollten. – Auch von Mäusen, und wie man sie am trickreichsten fängt, war oft die Rede. Sie tummelten sich in der Hamburger Wohnung genauso wie in der moderneren der Braunschweiger Kinder. Einmal liehen sich Magnussens sogar eine Katze aus, weil alle Fallen nichts taugten und die Mäuse immer ungenierter von der ganzen Wohnung, ja sogar vom Schlafzimmer Besitz ergriffen. Dieser erheiternde Blick auf das bürger­liche 19. Jahrhundert soll nicht davon ablenken, wie häufig die in den Städten sich ballende Bevölkerung ansteckenden Krankheiten und Seuchen ausgesetzt war: Cholera, Typhus, Pocken werden in den Briefen immer wieder erwähnt. So schlimm Epidemien grassierten – zugleich wird doch auch vom Fortschritt der Medizin und der Wissenschaften, vornehm­lich der Chemie berichtet. Unter Ottos Freunden und Verwandten waren Chemiker und Ärzte, die sich in solchen Fällen ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit um die Bekämpfung der Krankheiten kümmerten. Onkel Schertel [Freund und Kegelbruder Ottos] ist nach Hildesheim gereist […]. Dort haben sie ihn zugleich zum Mitglied einer zur Bekämpfung der Cholera eingesetzten Commission gemacht und er ­leitet die Desinfizierungen. […] Ich hatte ihm abgeraten jetzt nach Hildesheim zu gehen, da zufolge der Zeitungsnachrichten die Cholera dort ziem­lich heftig auftreten soll und es doch nicht recht ist die krankheit unnützerweise aufzusuchen (Otto, 22. 9. 1867). An anderer Stelle ist von der Pockenepidemie die Rede, die 1872 grassierte und deren effektive Bekämpfung nicht wirk­lich vorankam. Sophie berichtete von der unglaub­lichen Untätigkeit mit der die Behörden der Pockenepidemie zusehen und auch nicht die kleinste Massregel weder zur Impfung noch zur Abtrennung der Kranken von den Gesunden, noch zur Desinfec­tion der Wohnungen vornehmen (Sophie, 20. 1. 1872). Sophie und Otto hatten sich 1870 gegen Pocken impfen lassen.444 Aber sie waren wohl darin Avantgarde und – billig war die Impfung nicht! 443 Wirksames Mittel zur Vertilgung von Wanzen, Flöhen, Motten, Ameisen, Fliegen, Läuse etc., das aus getrockneten Blütenköpfen (z. B.Pyrethrum carneum und P. roseum) hergestellt wurde. Vgl. Meyers Konversa­tionslexikon, 5. Auflage, 9. Band, S. 275. 444 Pockenschutzimpfung war seit ca. 1800 in europäischen Staaten bekannt, aber noch nicht Pflicht. Das wurde sie im Deutschen Reich erst am 8. 4. 1874. Vorangegangen war die Erfahrung im Deutsch-­ Franzö­sischen Krieg 1870/71, in dem nach Ausbruch der Pocken „die franzö­sische Armee und durch sie die franzö­sische Bevölkerung […] mehr als dezimiert wurden“ – allein bei der Belagerung von Paris

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Krankheiten, sich rasch ausbreitende Seuchen waren trotz der vielen im Text e­ rwähnten tüchtigen Ärzte bestürzend oft töd­lich. Hier ist auch ein junges Mädchen, die einzige Tochter unter 3 Brüdern und Braut, 24 Jahre alt am Typhus gestorben […] (ebd.), schrieb Sophie etwa. Nicht ohne Bewegung erfährt man, wie junge Frauen nach kurzer Krankheit starben und eine Familie mit kleinen Kindern zurückließen: Hermann Mays Schwester, heißt es z. B., Mme Elias ist gestern Morgen im Wochenbett gestorben. Es ist ein schreck­liches Unglück: sie hinterlässt 5 Mädchen und einen Jungen. Sie hat schon bei zwei früheren Wochenbetten am Tode gelegen: Eltern, Mann, Kinder, man weiss nicht, wen man zuerst bedauern soll (Emma, 4. 9. 1868). Von Luise Schulz*445, die Sophie in Braunschweig so gern zur Freundin haben wollte, berichteten Otto und Sophie nach Hamburg, dass sie seit Wochen „lebensgefähr­lich“ erkrankt wäre, unmittelbar darauf starb die junge Frau an Typhus: Sich dies schöne blühende Wesen tot zu denken ist fast unmög­lich, ebenso sich alles Schreck­ liche für die Hinterbliebenen auszudenken. 22 Jahre und aus der Fülle des Glücks! Schulz* ist erst 28 Jahre […] (Sophie, 2. 10. 1868). Zwei kleine Kinder verloren auch in d ­ iesem Fall ihre ­Mutter. Die „guten“ Bürger blieben also von Epidemien nicht verschont, wenn diese auch bei den sozial Schwachen viel mehr Opfer forderten. Trotzdem wuchs die Bevölkerung unaufhaltsam. Das zog Probleme nach sich, die im Briefwechsel erörtert werden. Denn mit Wachstum und Zusammenballung in den Städten stieg die Wohnungsnot und fehlten trotz enormer Bautätigkeit z. B. auch Schulen. So erzählte Sophie 1873: Sonnabend war Versammlung [des Erziehungsvereins] […]. Die Lehrer erzählten mit Entrüstung von der unglaub­lichen Überfüllung der Schule, die sich seit Ostern wieder furchtbar geltend macht: in einer Klasse sind 115 Jungen und 117 Mädchen! Unser Kollege, Herr Mühe, […] hatte es bisher durchgesetzt, seine Schule auf einen einigermassen guten Fuss zu erhalten, in der untersten Klasse wären nur 65, jetzt hat er aber 90. Es werden wohl Schul­ häuser gebaut, aber nicht genug und zu langsam. Die Bevölkerung wächst viel schneller (Sophie, 29. 4. 1873). Emmas Antwort war bezeichnend für sie: […] was muss das für ein Local sein, das 115 Knaben und 117 Mädchen fasst und wie soll sich da ein Lehrer um den Einzelnen kümmern? (Emma, 30. 4. 1873). Um den Einzelnen ging es dabei in der Tat nicht, sondern nur noch um Organisa­tion und die Raumfrage. […] die Überfüllung ist immer nur in den untersten Klassen, und da die Lokale nicht gross genug sind um eine s­ olche Masse von Kindern unterzubringen (obgleich sie oft auf der Erde sitzen!) so wird nur immer die Hälfte unterrichtet, die andere Hälfte ist dann zu Hause. Die Kinder haben also nur den halben Unterricht der ihnen zukommt. Es sind schreck­liche Zustände und die Lehrer natür­lich ausser sich. Im Erziehungs Verein sollen auch grosse Reden darüber gehalten werden; das hat das Gute dass es wenigstens erkrankten über 23.000 –, demgegenüber erkrankten unter den rund 800.000 Deutschen „nur 269, und darunter waren zum größten Teil Bayern, bei denen bis dahin die I. nicht so streng durchgeführt worden war“. Meyers Großes Konversa­tionslexikon, 6. Auflage, 9. Band, 1905, S. 779. Grund war eine vorsorg­liche Pockenschutzimpfung der deutschen Truppen vor Kriegsbeginn. 445 Näheres unter „Frauenbiographien“ im Anhang.

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in die Zeitungen kommt … (Sophie, 6. 5. 1873). Sicher war es von Vorteil, dass dieser Notstand öffent­lich gemacht wurde, aber Abhilfe war so schnell nicht zu schaffen – das Volksbildungswie überhaupt das Bildungswesen blieb ein Problem noch längere Zeit. Angesichts der wachsenden Zahl von Kindern fehlten nicht nur die Unterrichtsräume, sondern vor allem Lehrerinnen und Lehrer. Auch wenn deren Ausbildung allmäh­lich in Gang kam, blieben Schwierigkeiten. Jüdische Interessenten waren dabei wieder besonders betroffen. So berichtete Emma von einem Aufenthalt bei Sophie in Braunschweig: Das heutige tageblatt enthält einen Erlass dass eine Lehrerinnenbildungsanstalt errichtet werden soll und dass diese nach dem Examen Staatsanstellungen an Töchterschulen bekommen können. Die beigefügten Bestimmungen verlangen ein taufzeugnis derer die sich melden und unter den Prüfungsgegenständen wird bei Geschichte verlangt: hauptsäch­lich Geschichte der Offen­ barung und alles was auf das Christentum Bezug hat (Emma, Braunschw., Donnerstag, 2. 7. 1868). Emmas Schlussfolgerung brachte das Problem auf den Punkt: Die Gleichberechtigung der Confessionen wird wohl noch recht lange ein blosses Wort bleiben … (ebd.). Der Vorgang macht deut­lich, wie eng Fortschritt und Beharren miteinander verknüpft blieben, obwohl das Gefühl rasant fortschreitender Entwicklung die zweite Hälfte des Jahrhunderts prägte. Das Staunen überwog: Wie hat sich aber die Welt verändert […]. Von London sagt er [Jean Paul 446] es habe 600.000 Einwohner, jetzt 3 Millionen. Die Kluft z­ wischen Bürger und Patrizier, die er schildert, scheint uns ausgefüllt, auf Reisen habe ich den Eindruck, dass die Verschiedenheit der Stände sich viel weniger ausgeg­lichen hat, als ich in meinen vier P ­ fählen annehme (Emma, 10. 6. 1872, Montag, 1 Uhr). Emmas kritischer Blick sah auch das Negative. Wirk­ lich beschwert aber haben diese Hemmnisse die Bürger nicht. Natür­lich gab es angesichts immer neuer Veränderungen auch den verklärenden Blick auf die Vergangenheit. Dass die „alte Zeit“ besser gewesen sein könnte, klingt wohl an, wird aber nach einigem Abwägen bei Islers verworfen: Dass die frühere Zeit gegen jetzt ein Vorteil gewesen wäre, kann ich nicht glauben: die Sterb­lichkeit ist viel geringer geworden und auch der Gesundheitszustand besser. […] daher auch die Zunahme der Bevölkerung an so vielen Orten, während man anderswo nicht von Abnehmen hört: es sind doch viele Millionen nach Amerika ausgewandert, und es ist nicht leerer geworden. Das sind die Tatsachen! Es bleibt auch zu beweisen, dass unter grösserer Verbreitung der Bildung, die Individualität leidet […] (Meyer, 11. 5. 1873). Grundsätz­lich also wurde der Fortschritt bejaht, trotz mancher anhaltenden Beeinträchtigungen, und es war gerade Meyer Isler, der sich zu dieser Haltung bekannte. Bürger­liche Vergnügungen? Ja, die gab es auch. Während die Braunschweiger z. B. jede Gelegenheit nutzten, um über Berg und Tal im nahen Harz zu wandern, folgten die Hamburger anderen Gewohnheiten: Im Sommer zog, wer es sich leisten konnte, vor die Tore der Stadt, um in der guten Luft das länd­liche Leben zu genießen. Davon ist Sophies Kindheit voll: Großmutter Meyer etwa, Emmas ­Mutter, mietete eins der Gartenhäuschen bei „­Berdien*“,

446 Jean Paul (1763 – 1825).

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einem Gasthaus mit großem Wirtsgarten vor dem „Dammthor“.447 Und Emma tat es ihr nach; sie mietete sich mit Sophie in eben solchem Häuschen ein. Begüterte Familien besaßen ­später ein richtiges Sommerhaus in Pöseldorf. Davon erfahren wir in den ­Verlobungsbriefen, wenn Sophie erzählt, dass sie Onkel Ludwigs* Familie und Wolffsons* beim Umzug in die Sommerwohnung geholfen habe. In jenen goldenen Kindertagen aber kam Meyer Isler nach der Arbeit zum Sommerhäuschen hinaus, am Abend und am Wochenende. Das taten andere Väter und Junggesellen auch und so entfaltete sich ein fröh­liches Familienleben. Bei „­Berdien*“  […] standen Bänke und Tische, die nachmittags an schönen Sommertagen – und alle Sommertage waren schön – mit Müttern und Kindern besetzt waren. Hier „konnten Familien ­Kaffee kochen“, das kochende Wasser lieferte der Wirth, den ­Kaffee hatten die Familien in kleinen Schränkchen, die verschlossen waren. […] Mittwochs und Sonntags klangen von der Uhlenhorst die Töne der Musik herüber; dort mit ­Mutter und Vater zu sitzen war Hochgenuss.448 Die Außenalster, damals nur von Ruder- und Segelbooten belebt, ergänzte die Aktivitäten im Wirtsgarten. Unter den Kastanien- und Lindenbäumen näm­lich gab es Kegelbahnen und das gleichförmige Rollen der Kugeln, das fröh­liche „Alle Neune“ oder „Rudel“, wenn nichts getroffen war, klang sehr lustig. Unter den Herrn, die da in Hemds­ ärmeln kegelten, war auch Onkel Moritz* und es hatte großen Reiz für mich, ihn und seine Freunde da begrüßen zu können.449 Solche fröh­lichen Szenen aus dem bürger­lichen Leben kennen wir auch aus anderen europäischen Städten; die franzö­sischen Impressionisten haben sie auf ihren Bildern von Paris festgehalten. In Braunschweig ist von solch öffent­licher Freizeitgestaltung nicht die Rede: Hier traf man sich privat, Magnussens etwa fast täg­lich im Garten von Tante Jeanette Helfft* im Familienkreis. Ob es anderes gab, erfahren wir nicht. Aber wir hören von aktiver Freizeitgestaltung bürger­licher Herren. Zum Kegeln etwa ging Otto mit Freunden nach Ölper. Und dann gab es noch den Klub. Diese Feierabendunternehmungen brachten Otto häufig einen „Katzenjammer“ am nächsten Tag ein. In Hamburg gab es mehr, z. B. den Zoolo­gischen Garten! Am „Vierschillingstag“,450 wenn der Zoobesuch erschwing­licher war, füllten sich die Anlagen mit Menschen und immer gab es Neues zu entdecken. Denn der Hamburger Zoo hatte in den Anfangsjahren 451 einen häufig wechselnden Tierbestand. Er wurde von dem Zoologen Alfred Brehm* geleitet, der seit 1863 sein „Illustrirtes Thierleben“ in Lieferungen herausgab, die s­ päter als mehrbändiges „Brehms Tierleben“ in viele bürger­liche Haushalte kamen und zum Standardwerk wurden.

447 Das Gasthaus lag an der Alster, No. 36. So im Adressbuch 1851. 448 Sophies Kindheitserinnerungen, S. 3. 449 Ebd. 450 Normalerweise zahlten Erwachsene 12, Kinder (unter 10) 6 Schillinge, sonntags wurden im Sommer manchmal „4 resp. 2“ Schillinge verlangt. Angaben im Hambur­gischen Adressbuch 1867. 451 1863 – 1930. Den Zoo gründeten 700 Ak­tionäre 1861, der Platz dazu wurde von Senat und Bürgerschaft unentgelt­lich überlassen. Der heutige Zoolo­gische Garten geht auf Hagenbeck und seine Tierschauen zurück.

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Vater und Tochter Isler gingen an den preiswerten Vierschillingstagen schon früh am Morgen hin, genossen Natur und Stille und nahmen das erste Frühstück im Zoo, bevor der Ansturm einsetzte. Heute früh um 6 – es ist Sonntag! Auch für Juden ein arbeitsfreier Tag – gingen Vater und ich in den zoolo­gischen Garten wo es sonnig und schön war. Wir tranken kaffee und gingen dann spazieren: viele Tiere schliefen noch, andere die man sonst nicht sieht waren munter. Sehr lebhaft war das ganze Vogelgeschlecht; die Teiche waren in vollster Bewegung und am Frühstück: die Vögel wurden gefüttert. Hunderte Sperlinge nahmen als unberufene Gäste teil. Wir hatten anfangs das Reich ganz für uns allein, als wir aber um 8 Uhr fortgingen, wurde es schon sehr voll. Heute ist Vierschillingstag und bei dem schönen Wetter ist gewiss ungeheurer Andrang (Sophie, 22. 6. 1867). Der Zoo bot Spaziermög­lichkeit in guter Luft und zugleich Belehrung – das war ein ganz und gar bildungsbürger­liches Vergnügen: Bei Wetter, wie es jetzt ist, ist der Garten ein wahrer Segen für uns Stadtleute. An der Restaura­ tion stehen eine Menge junger Bäume, die aus Holland geschenkt sind. Wir trafen Emma Horwitz* und Carl [Meyer*] dort, die sich uns anschlossen und von Onkel [­Ferdinand] mit Eis belohnt wurden, ich begnügte mich mit ­Kaffee und Kuchen (Emma, 23. 5. 1868). Dass die Hamburger den Zoolo­gischen Garten genossen, kann man immer wieder lesen: Mays haben am 2. Pfingsttag im zoolo­gischen Garten gegessen, an dem 4 Schillingstag, wo 22.000 Erwachsene und 4.000 Kinder da waren … (Emma, Sonnabend, 6. 6. 1868, 1 Uhr). Wer derartigem Trubel aus dem Weg gehen wollte, besuchte den Botanischen Garten und fand dort ebenfalls interessante Neuigkeiten. Später kam Hagenbeck* dazu und brachte weitere Attrak­tionen: Ich war mit Onkel in Hagenbeck, wo Wagen an Wagen war, der Mann versteht es die Neugierigen anzulocken. In einem grossen umzäunten Rundel waren Elefanten und Strausse, Giraffen und Kamele, auf denen Nubier sassen, mit ihnen herum jagten und sie dann zum Absteigen niederknieen liessen. Die Nubier sehen aus wie lebende Broncestatuen, einige gesichter mit durchaus europäischer Gesichtsbildung, andere mehr mulattenhaft, alle haben schlanke, geschmeidige gestalten. Ich habe Emma Lazarus da einen Augenblick gesprochen, Onkel Ferdinand* konnte nicht begreifen, wie wir beide die braunen Teufel hübsch finden konnten (Emma, 14. 7. 1877). Hamburg, das sich so gern als Tor zur Welt sah, holte für seine Bürgerinnen und Bürger mit Hagenbeck die Welt nach Hamburg – doch da lebte Sophie schon in Braunschweig und kam nur ein- oder zweimal im Jahr in die Heimat zurück. Betrachtet man derlei unterhaltende Freiluftveranstaltungen am Ort und vergleicht sie mit dem regen Reiseverkehr, der sich mit den Eisenbahnen entwickelt hatte, scheinen zwei Zeitalter aufeinanderzutreffen: hier die tradi­tionellen Familienunternehmungen, dort die pulsierende Mobilität. Doch sind beide Produkte der wachsenden Verstädterung des Lebens, die den Wunsch nach Natur und einfachem Leben schon in ihren Anfängen im 18. Jahrhundert hervorrief. Sommeraufenthalte, Sommerreisen waren bei vermögenden Hamburger und Braunschweiger Familien üb­lich. Sie führten in den Harz oder den Schwarzwald, an den Rhein oder nach Bayern, an die Ostsee oder nach Helgoland, aber natür­lich auch, wenn es die „Verhältnisse“ zuließen, in die Schweiz, nach Italien, nach Frankreich oder England. Die Wahl der Reiseziele macht deut­lich, worum es ging: um Luftveränderung und Erholung und Das Jahrhundert der Modernisierung   |

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um Anregung und Bildung. Gern wurde bei der Rückkehr betont, man habe sich herr­lich „amüsiert“, was nichts anderes bedeutete als: Abwechslung, anregende Eindrücke, interessante Begegnungen. Wir finden Magnussens beim Baden im Meer – Sophie in der neusten Bademode – und beim Wandern in der Schweiz: Otto auf Berg- und Gletschertouren mit dem Alpenverein, Sophie bei Spaziergängen im Wald – nie allein, sondern immer in der Gesellschaft von Reisebekanntschaften oder befreundeten Familien. Aber es gab natür­lich auch die Verwandtenreisen – einmal im Jahr tauchte beispielsweise Tante Hannchen in Braunschweig auf und verbreitete regelmäßig Schrecken, aber niemand wagte, sie auszuladen. Kusine Therese blieb monatelang bei Verwandten in Amsterdam oder bei ihrer Schwester in Wien, Tante Jettchen fuhr ungeachtet ihrer siebzig Jahre mehrfach nach London zu ihrem Sohn und dessen Familie, und ­zwischen Braunschweig und Hamburg herrschte eh reger Familienreiseverkehr. Dann gab es Kurzreisen: mal eben nach Berlin, um Bismarck im Reichstag zu erleben, oder eine viertägige Männerpartie in den Harz – die Mobilität ist erstaun­lich. Selbst Emma war viel unterwegs, zwei-, dreimal im Jahr besuchte sie Sophie in Braunschweig; oft leistete sie ihr an einem Ferienort Gesellschaft oder reiste mit Onkel Panne z. B. nach Bad Gastein. Dass bei einer solchen Reise von Hamburg nach Österreich viele Städte und Sehenswürdigkeiten besucht wurden, die am Weg lagen, machte eigent­lich jede Reise zur Bildungsreise. Emma aber brachte noch mehr nach Haus zurück: Kaum eine Eisenbahnfahrt ohne bemerkenswerte oder merkwürdige Bekanntschaften oder anregende Gespräche, die ihr Stoff lieferten zum Nachdenken oder für die Briefe an Sophie. Eine Fundgrube für heutige LeserInnen! Zu dem Schluss kam schon Sophie bei der Durchsicht eines Briefjahrgangs: Nun habe ich die Briefe von 1870 durchgesehen und gelegt, es ist doch ein eigenthüm­liches Gefühl, die Vergangenheit so lebendig noch einmal zu durch­ leben, nach 100 Jahren steckt da ein gutes Stück Kulturgeschichte darin […] (Sophie, 24. 4. 1872, Montag, 4 Uhr).

Das ist vor allem der Kunst der beiden Briefeschreiberinnen zu danken, die so viel Anschauung und Leben in ihre langen Briefe einfließen ließen, um ihr Gegenüber teilhaben zu lassen, und die nun auch uns damit erfreuen. Fast ließe sich darüber vergessen, dass unser junges Paar noch immer vor der Hochzeit steht. Das lässt sich ändern. Mit dem folgenden Kapitel rückt der Schluss der Verlobungsgeschichte in greifbare Nähe.

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DIE HOCHZEIT Wunderbar wäre es jetzt, eine jüdische Hochzeit 1867 in Hamburg zu beschreiben, aber ­leider, leider waren alle Beteiligten bei der Hochzeit anwesend und haben sich keine Briefe geschrieben. Also müssen wir uns mit den Splittern begnügen, die sich in Vor- und Rückverweisen im Briefwechsel finden. Allenthalben kündigt sich nach Ottos Gerichtsferien im August 1867 an, dass die Hochzeit mehr oder weniger nahe bevor steht. So lohnt es sich z. B. nicht, noch einmal Briefpapier mit dem Namen ‚Sophie Isler‘ drucken zu lassen. Denk Dir, mein nettes Briefpapier ist zu Ende, wie ich eben zu meinem Schrecken entdeckt habe! Und nun kann ich mir nichts neues mehr mit S. I. machen lassen, denn ich darf ja nichts übrig behalten. Ich habe mir also von vater etwas geben lassen, da dieser aber mit Papier recht geizig ist, so musste ich ihm jedes Blatt abbetteln (Sophie, 1. 9. 1867). Auch die notwendigen Unterlagen hat Otto beisammen: Ich schicke auch den Proclama­ tionsschein mit, den ich gestern von Dr. Herzfeld* geholt habe. Nun wird hoffent­lich alles in Ordnung sein, und weder bürger­liche noch geist­liche Behörden werden sich unserer Hochzeit widersetzen können (Otto, 4. 9. 1867). Wenige Tage s­päter heißt es: Eben kam der Schusterjunge und brachte mir meine Hochzeitsstiefel: sie sind wunderschön blank. Gestern habe ich auch den Koffer bekommen, der uns auf der Hochzeitsreise begleiten soll. Es ist ein hölzerner Koffer, den sich der selige Onkel August [Magnus] einst in Paris gekauft hat, und den ich mir habe zurecht machen lassen. Er ist schwarz lakiert und sieht wieder ganz anständig aus (Otto, 8. 9. 1867). Otto persön­lich ist damit so gut wie fertig, nur die Wohnung ist es noch nicht und deshalb konnte auch noch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, wann genau die Hochzeit stattfinden wird. Immerhin schreibt Meyer Isler wegen der Trauung jetzt an Dr. Sänger, den neuen Prediger im Hamburger Tempel, von dem man eigent­lich noch zu wenig weiß, denn er ist noch gar nicht offiziell eingeführt. Da aber Sophie mit dem bereits amtierenden Dr. Jonas überhaupt nicht sympathisiert, soll Dr. Sänger das Paar trauen. Glück­licherweise gibt es einen Vorlauf: Einen tag nach seiner Einführung soll er Ida Jaffé trauen. Ich freue mich, dass wir nicht die E ­ rsten sind, schreibt Sophie und fährt fort: Ich habe heute in Mendelsohns Ritualgesetzen gelesen, dass wenn ich in Sklaverei gerathe, Du verpflichtet bist mich loszukaufen auch wenn es Dein ganzes Vermögen kostet (Sophie, 9. 9. 1867). Jetzt also wird es ernst! Die Hochzeit   |

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Abb. 17  Eingeprägte Initialen „S. I.“ in Sophie Islers Briefpapier (aus Sophies Album zur Silberhochzeit ihrer Eltern)

Inzwischen ist vom 13. Oktober als Hochzeitstermin die Rede, obwohl d ­ ieses Datum Islers am allerwenigsten passt, weil man damit in die Nähe vieler jüdischer Feiertage kommt – an den Mitteltagen des Laubhüttenfestes kann eigent­lich keine Hochzeit sein (Sophie, 7. 9. 1867) – und gar nicht abschätzbar ist, wie sich der neue Prediger zu einem solchen Terminwunsch stellen würde. Mög­licherweise müsste dann die Hochzeit noch weiter verschoben werden. Angesichts dieser neuer­lichen Schwierigkeiten greift Ottos ­Mutter ein und lässt den Sohn ausrichten, dass sie wünsche, dass unsere Hochzeit schon am 6.10. sei, und dass als dann die nöthigen Einrichtungen nach unserer Hochzeit während unserer Hochzeitsreise getroffen werden können (Otto, 10. 9. 1867, im Brief vom 9. 9. 1867). Sollte das nicht mög­lich sein, werde sie nicht mit nach Hamburg reisen. Da muss natür­lich alles andere zurücktreten! Für Otto ist entscheidend, dass er sich nach dieser Aussage nicht mehr selbst um die vollständige Einrichtung der Wohnung kümmern muss. Als Termin für den Polterabend schlagen die Eltern Magnus Sonnabend, den 5. Oktober, vor. Jetzt reagieren die Hamburger mit gelinder Panik: 11 Uhr. Nachdem ich mich von der grossen Aufregung, in die mich Dein Brief, geliebter Mann, versetzt hat, etwas erholt habe, will ich anfangen Dir zu schreiben. M ­ utter ist eben bei mays, um wegen des Polterabends zu sprechen […]. Der gedanke, dass die Hochzeit Sonntag über 3 Wochen sein soll, ist uns so überraschend gekommen, als wenn wir bisher gedacht hätten, es dauerte noch mindestens ein Jahr. […] Sei mir deshalb nicht böse, wenn ich confus schreibe […] (Sophie, 12. 9. 1867). Nicht nur M ­ utter und Tochter sind durch den vorgeschlagenen Termin in Aufregung versetzt und – Emma zumindest – in eiliger Bewegung, selbst Meyer Isler, von den Vorbereitungen im Haus bisher beinahe unbehelligt, reagiert aufgeschreckt: Vater, der zum Frühstück zu Hause war, hat uns gestanden, dass auch ihn die Nachricht alteriert hat. Das ist ein Trost (ebd.). Und dann erfahren wir, dass der 6. Oktober akzeptiert wird und Islers nur den Polter­ abend gern einen Tag früher hätten, weil ein Zwischentag sehr wünschenswert wäre (ebd.) Währenddessen malt sich Otto in Braunschweig schon aus, wie auf seinen Brief hin am Hamburger Frühstückstisch beraten wird und am Ende seine Terminvorschläge akzeptiert werden: Wie wollte ich mich freuen wenn dieser Wunsch in Erfüllung ginge: dann sind wir heute über 4 Wochen schon ein altes Ehepaar und Du nennst mich „Alter“ und ich nenne Dich „Alte“! (Otto, 12. 9. 1867, morgens, 7 Uhr). Noch im selben Brief heißt es – Sophies Zeilen sind gerade eingetroffen: Hurrah, am 6. Oktober wirst Du mein Weib! Hoffent­lich ist may

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einverstanden, dass der Polterabend am Freitag Abend ist, dann sind alle Wünsche befriedigt (Otto, 10. 9. 1867 [eigent­lich 13. 9. 1867], im Brief vom 12. 9. 1867, 12 Uhr im Gericht – vor Aufregung bringt Otto die Daten durcheinander!). Der Polterabend, zu dem viele Freundinnen und Freunde, Ver-

wandte und Bekannte eingeladen werden, soll nicht bei Islers gefeiert werden, sondern bei May senior, der sein Local zum Polterabend angeboten hat (Sophie, 27. 8. 1867, im Brief vom 26. 8. 1867). Da aber liegt die Schwierigkeit, denn der „alte“ May ist sehr fromm und wird schwer­lich einer lauten Feier am Freitagabend zustimmen, an dem für den frommen Juden der Sabbat beginnt. Für Otto stellt das Datum bezeichnenderweise kein Problem dar, er jubiliert in jedem Brief: Heute in 3 Wochen um diese Zeit ist wahrschein­lich unser Polterabend in vollem gange, und wir sitzen auf grossen Sesseln und lassen uns Komödien vorspielen, möchten aber viel lieber nicht gefeiert werden. Das hilft aber nicht, wir müssen stillhalten (Otto, 13. 9. 1867, abends, 9 Uhr). Anders Sophie, für die Hochzeit zugleich Trennung von Hamburg und den Eltern bedeutet: […] ich habe Dir einen heiteren Brief versprochen und falle schon wieder in denselben Ton. Es ist der Gedanke: heute in 3 Wochen! süss und bitter zugleich, der mich wieder hineinbringt, obgleich ich heiter und froh bin. Jetzt aber hat jedes Wort schon doppelte bedeutung: das scheinbar gleichgültigste spricht von Abschied und trennung (Sophie, 13. 9. 1867, 12 Uhr).

Das weiß Otto natür­lich auch und bedenkt es in diesen Tagen. Deshalb finden sich auch nachdenk­liche Passagen in seinen Briefen und ein sensibles Eingehen auf Sophies Situa­tion. Heute über 3 Wochen beginnen wir unsere Ehe! Eigent­lich haben wir sie am 7.4. begonnen, als wir uns zum 1. Mal umarmten und küssten. Denn haben wir uns nicht schon von jenem Augenblick als einander angehörig betrachtet? Was jetzt hinzukommt ist die äussere Form und die Seligkeit des wirk­lichen auch körper­lichen Zusammenseins. Dann wird das wehmütige Gefühl [verschwinden] welches unser jetziges nur geistiges Zusammensein übrig lässt und wir werden nur von Freude bewegt werden. Das gilt natür­lich nur von den Gefühlen, ­welche unser gegenseitiges verhältnis erweckt, denn ausserdem werden schmerz­liche Gefühle nicht ausbleiben, und ­solche Prüfungen stehen uns von Anfang an bevor, da Du ja die Freude der Vereinigung mit mir durch den Schmerz der Trennung von den Deinigen erkaufen musst. Auch den Schmerz wollen wir gemeinsam tragen und ich fordere von demselben meine Hälfte, wie von der Freude. Gegen solchen Schmerz, der seine Ursache ausser uns hat, kann man sich ja nicht sichern, aber dafür wollen wir stets sorgen, dass die verhältnisse ­zwischen uns beiden immer so bleib[en] dass uns daraus nur Glück und Freude entspringt. Dann wird es uns auch immer gelingen des Lebens Mühen und Sorgen mit gemeinsamen Kräften zu tragen. – Wie ich sehe habe ich eben eine Traurede niedergeschrieben und vielleicht habe ich dem armen Dr. Sänger seine Worte aus dem Mund genommen (Otto, 15.9., im Brief vom 13. 9. 1867). Sophies zwiespältige Gefühle sind Otto bei aller freudigen Erwartung also gegenwärtig und er vergisst auch jetzt nicht, durch sein Mitdenken ihren Schmerz zu verringern. – Auch halten derlei Stimmungen bei Sophie nicht an. Am nächsten Tag schon teilt sie mit: Heute kann ich Dir die Entscheidung über den Polterabend schreiben: er muss leider am Sonnabend sein, weil es Mays Die Hochzeit   |

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Vater unangenehm wäre, wenn am Freitag bei ihm so viel gefahren würde, und natür­lich müssen wir uns dem fügen (Sophie, 16. 9. 1867). Damit stehen die Termine fest: Polterabend am 5. und Hochzeit am 6. Oktober. In Hamburg wird Meyer Isler immer häufiger in die Vorbereitungen einbezogen und lässt Otto scherzhaft ausrichten: Du möchtest mich doch vorher entführen, da wäre allen Schwierigkeiten am besten abgeholfen (ebd.). Doch daran oder an eine Einschränkung der Feier­lichkeiten ist natür­lich nicht zu denken, es soll ja eine wunderschöne Hochzeit werden, mit allem Drum und Dran: Vor unserem Polterabend fürchte ich mich nicht so sehr, da man nun einmal ­solche Zeit nicht still für sich genießen kann, was das allerschönste wäre, will ich doch lieber etwas Feier­lichkeit haben, als nichts. Helene Philipps Hochzeit, bei der das ganz fehlte, hat einen recht kahlen Eindruck dadurch hinterlassen (Sophie, 16. 9. 1867). Dass es noch andere Arten der Ehefindung und -schließung gibt, erzählt Sophie nebenbei: Jettchen Gutmann aus Kassel sei eben in Hamburg gewesen, um 17 Bräuten (!) die von hier in ferne Weltteile zu ihren Männern, die Missionäre sind, gehen […] das Geleit zu geben. Es war ein feier­licher Gottesdienst und eine Einsegnung ehe das Schiff abging. Eine sonderbare Schiffsladung! Wie den armen Mädchen wohl zu Mute sein mag, die zwar sich vorher verlobt haben, aber doch die Männer nicht kennen und nun in eine ungewisse Zukunft gehen. Hu! – Ich möchte nicht zu einem unbekannten Bräutigam nach Australien gehen! (ebd.). Neben d ­ iesem exotisch anmutenden Vorfall ist schon merkwürdig, wie sehr Sophie betont, dass die Kette der Feier­lichkeiten eigent­lich überflüssig sei, und gleichzeitig wünscht, dass genau so und nicht anders gefeiert wird. Dahinter steht, dass unser Brautpaar, wie oben zu lesen war, die Verlobung als unverbrüch­liche Verbindung betrachtet, trotz aller Diskussionen über Sinn und Notwendigkeit einer Verlobungszeit.452 Das Kennenlernen und miteinander Vertrautwerden über den Briefwechsel und die Zeitspanne eines halben Jahres z­ wischen Verlobung und Hochzeit haben beiden nur bestätigt, was sie schon am 7. April wussten: Sie werden sich in allem einigen können. Deshalb bestätigt Sophie: […] wir datieren unsere Zusammengehörigkeit von unserer verlobung an und nicht erst von der hochzeit (ebd.). Und doch war das halbe Jahr wichtig, weil es in Begegnungen, Gesprächen und Briefen den ersten Eindruck bestätigte und „Fremdsein“ abbaute: In frankreich darf das Brautpaar nicht einmal allein zusammen sein und muss also fast ganz fremd die Ehe mit einander beginnen. Wie schreck­lich, wenn sie dann sehen, sie haben sich ineinander getäuscht (ebd.). Wir aber wissen: Die Eltern Isler waren „nachsichtig“, die Eltern Magnus eher streng. Ohne Sophies aufgeklärtes Elternhaus wäre das mehrfach erwähnte Sich-­ineinander-­Einfühlen

452 Im tradi­tionellen Judentum galt die Verlobung bereits als recht­lich bindend; mög­lich, dass sich Sophie und Otto auch deshalb in ihren Brautbriefen schon als Mann und Frau ansprechen und unterschreiben.

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so nicht mög­lich gewesen. Meyer und Emma Isler betrachteten ihre Tochter als mündigen und selbständigen Menschen. Sie sollte ihre Mög­lichkeiten n ­ utzen, eine Fehlentscheidung zu vermeiden. – Gefeiert werden aber muss in allen Phasen, die sich in der bürger­lichen Gesellschaft entwickelt haben, denn im Einhalten der notwendigen Rituale versichert man sich der Zugehörigkeit zu dieser Schicht, und das ist für ein jüdisches Paar im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung. * Konkrete Vorbereitungen in Hamburg heißt: Die Kochfrau wird für das Hochzeitsessen engagiert, ein Lohndiener herangezogen, erst einmal zur Beratung: Heute Morgen verabredeten wir mit dem Lohndiener alle Details der Hochzeit, wobei er sich erkundigte, ob er auch den Bräutigam holen müsste. Wir meinten aber, der könnte allein kommen. Solltest Du aber vielleicht nicht gutwillig kommen, was ja immer mög­lich ist, so wissen wir ja nun, wie wir es machen um Dich herbei zu schleppen (Sophie, 19. 9. 1867, abends, 9 Uhr). Schon 14 Tage vorher war der Lohndiener nütz­lich gewesen, als es um die Frage ging, wie viele Gäste in der islerschen Wohnung Platz finden könnten. […] er meinte 38 ginge ganz gut. Nun haben wir frei­lich 40 aufgeschrieben, aber vielleicht bleiben 2 fort, und ich möchte so gerne an dem Tag im eigenen Haus bleiben […] (Sophie, 6. 9. 1867, im Brief vom 5. 9. 1867). Jetzt ist es auch Zeit, die Gäste einzuladen: Wir haben die Texte für die Einladungen zum Polterabend und zur Hochzeit aufgesetzt, die wir drucken lassen wollen um Zeit zu sparen. Du brauchst wohl keine davon, nicht wahr, Deine Einladungen müssen wohl alle brief­lich besorgt werden (Sophie, 19. 9. 1967, abends, 9 Uhr). Ottos Einwand, dass die Hochzeit im Elternhaus viel zu belastend für Islers sei, hat Sophie frühzeitig abgewehrt, denn die Hochzeit im Hause zu haben ist nicht so schwierig wie Du denkst, da das Essen bei einer Kochfrau ausser dem Hause gekocht wird und man alles Gerät bis auf die kleinsten Kleinigkeiten mietet, sodass man sich wirk­lich um garnichts zu kümmern hat. Also mög­lich ist Alles (Sophie, 8. 9. 1867, im Brief vom 7. 9. 1867). Das ändert allerdings nichts daran, dass Mutters befinden […] so schlecht wie mög­lich ist, sodass es sich noch sehr ändern muss wenn sie Anstrengung und Aufregung aushalten soll (ebd.). Wichtig sind jetzt natür­lich auch die Toilettenfragen. Was trägt eine bürger­liche Braut 1867? Schon am Polterabend erscheint Sophie in Weiß: Ich habe neu­lich vergessen Dir zu antworten, dass ich am Polterabend ein neues weißes Mullkleid mit hellblauer Schärpe anziehen werde (Sophie, 19. 9. 1967, abends, 9 Uhr). Ottos Schwester Anna* möchte sicher gern Brautjungfer sein, meint Sophie, und erkundigt sich deshalb: Weiss Anna schon, was sie zur Hochzeit anziehen wird? Die anderen Brautjungfern werden weiss und rosa sein (ebd.). Das Brautkleid selbst wird gerade gemacht; die Schneiderin ist im Haus, die Stimmung feier­lich (ebd.). Später heißt es: Eben habe ich mein brautkleid anprobiert: es hat eine Schleppe von hier bis nach Braunschweig, also wenn Du anfassen willst, kannst Du mich gleich dorthin ziehen (ebd.). Während Sophie ungeniert ihrem Bräutigam Details des Brautkleides erzählt, was andernorts aus Angst vor einem bösen Omen geheim gehalten wird, gibt es in Braunschweig Einwände, weil es nach Die Hochzeit   |

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hiesigen Ansichten Unglück bringt, wenn eine Braut brautjungfer ist, und dass Anna* deshalb Bedenken trägt, Brautjungfer zu werden. Ich bin frei­lich nicht abergläubig, schreibt Otto, aber s­ olche Gebräuche muss man doch ehren. Wenn Du also nicht aus besonderen Gründen darauf bestehst, so wird Anna nicht Brautjungfer werden. Ich glaube übrigens, dass Du auch an Elise*, Johanna* und Anna Wohlwill° genug hast. Nicht wahr? (Otto, 21. 9. 1867, im Brief vom 20. 9. 1867). Dann folgen die Angaben zu Annas* Toilette, die Sophie ja erbeten hatte. Anna wird am Polterabend ein weißes Tüllkleid mit Rosen garniert, und zur Hochzeit ein Kleid von blauer Seide tragen (ebd.). Das ergibt nun wirk­lich ein Bild: Sophie im weißen Kleid mit Schleppe, Kranz und Schleier, hinter ihr die weiß gekleideten Brautjungfern, schlichter und durch die rosa Schärpen von der Braut unterschieden. Nichts darf fehlen. Myrtenkranz und Schleier hat sich Sophie ausdrück­lich gewünscht, denn sie möchte nicht ohne die sichtbaren ­­Zeichen der Braut in die Ehe treten (Sophie, 24. 9. 1867, morgens, 7 Uhr). Ist das nun eine jüdische Braut? Weiß gekleidet unter die Chuppa zu treten, war (und ist) mancherorts für beide Brautleute üb­lich – in Hamburg gab es wohl keine Vorschriften. Über Ottos Anzug erfahren wir keine Details, Mitte August hat er seinen Hochzeits­ anzug bestellt, u. a. auch einen Hut, der Dir [Sophie] ja so sehr am herzen liegt (Otto, 15.8.67), aber dass der Bräutigam den Brautstrauß und Blumen mitbringt, ist üb­lich, und Otto muss überlegen, ob der in Braunschweig oder doch in Hamburg besorgt werden muss, schließ­ lich reist er Tage vor Beginn der Feier­lichkeiten an. Glaubst Du, dass es praktisch und nicht sehr teuer ist, die Blumen von braunschweig kommen zu lassen? (Sophie, 19. 9. 1867). Ottos Antwort zeigt, dass er Sophies Hinweis verstanden hat: Wegen der Bouquets kannst Du Dich ja bei Onkel Siegmund* erkundigen. Es wäre auch mir lieber, wenn man dieselben in Hamburg nehmen könnte. […] Wenn Ihr also meint, dass man sie in Hamburg (wo ich ja sehr traurige Erfahrungen bisher in dieser Beziehung gemacht habe) gut bekommen kann, so will ich sie gern dort nehmen (Otto, 21. 9. 1867, im Brief vom 20. 9. 1867). Noch gehen 14 Tage ins Land, aber alles muss rechtzeitig bedacht und bestellt werden. Die Trauung wird 13.30 Uhr sein, das Hochzeitsessen beginnt erst 16.30 Uhr. Ottos Vater ist darüber gar nicht glück­lich, weil er nicht weiß, was er denn in der langen Zeitfrist anfangen soll (Otto, 20. 9. 1867). Kommt hinzu, dass in Braunschweig ­zwischen 12 und 13 Uhr Mittag gegessen wird, während die Hamburger erst gegen 17 Uhr ihr Diner haben. Dem entspricht die Planung, den Braunschweigern aber dürfte schon bei der Trauung der Magen schief hängen. Sophie sieht darin, ganz Hamburgerin, kein Problem, im Gegenteil – die Zeit soll anderweitig genutzt werden. Sie antwortet, dass Otto seinen Vater wegen der langen Pause beruhigen könne. Bis 3 wird es etwa dauern bis die Trauungsgäste fort sind, damit sich alle etwa 1 Stunde in ihren eigenen Behausungen ausruhen und dann zum Essen wieder kommen (Sophie, 22. 9. 1867, morgens, 7 Uhr). Das sei dann weniger anstrengend. Trotz aller gemeinsamen Vorbereitung ist die Stimmung des Paares weiter nicht einheit­lich; Otto ist nur Jubel und freudige Erwartung: Heute über 14 Tage ist unser Polterabend und in der Morgenstunde sitze ich dann bei Euch am kaffeetisch und bin freudig und glück­lich und garnicht so sehnsüchtig wie heute (Otto, 21. 9. 1867, im Brief vom 20. 9. 1867). Wenn er dann

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zurückblickt, findet er neue Worte, um sein Glück zu beschreiben. Weißt Du, dass unser brautstand genau 1/2 Jahr dauert? Genau 26 Wochen. Wie es doch vor einem Jahr so ganz anders in uns aussah! Damals glaubte ich für Liebe unempfind­lich zu sein, und war fest überzeugt, dass mich ihr Feuer niemals erwärmen werde. Und wie hat sie mich nun durchglüht! (ebd.). Einen Tag ­später schreibt er: Könnte ich doch das Rollen der Erde beschleunigen und dadurch den Lauf der Zeit beflügeln, um schneller in den Besitz meines Liebchens zu kommen. Ich würde es tun, selbst auf die Gefahr hin, die ganze Welt in Unordnung zu bringen. Der liebe Gott würde gewiss dafür sorgen, dass es wieder in Ordnung kommt (Otto, 22. 9. 1867). Sophies Empfinden bleibt zwiespältig, sie kann sich nicht so vorbehaltlos der Freude überlassen. Ich bin in einer sonderbaren Stimmung, im Ganzen lange nicht so aufgeregt wie ich mir gedacht hatte, sondern mehr in einem traumähn­lichen fast empfindungslosen Zustand, der nur manchmal durchzuckt wird von einer hellen Freude, wenn ich an unser Wiedersehen denke, und von einem scharfen Schmerz, wenn die anderen gedanken in den vordergrund treten. […] Ich schlafe aber keinen Morgen länger als bis 4 oder 1/2 5 (Sophie, 24. 9. 1867, morgens, 7 Uhr).

Obwohl beider Zeit durch die Vorbereitungen sehr eingeschränkt ist und Sophie schon am 21. September Otto die langen Briefe aufgekündigt hatte, finden sie immer noch Zeit, sich gegenseitig über alle Details zu informieren – allerdings: Immer öfter schreibt Sophie früh am Morgen, weil tagsüber keine ruhige Minute zu finden ist. Ottos Briefe sind häufig gestückelt, morgens ein Absatz, nachmittags 4 Uhr der nächste, am folgenden Tag ganz früh weiter und dann 9 Uhr morgens der Rest (Otto, 20./21. 9. 1867). Er arbeitet in dieser Zeit ja nicht nur in seinem Büro, wir finden ihn im Gericht oder in der Wohnung, wo er die Arbeiten vorantreibt. Dass die Wohnung rechtzeitig fertig wird und das junge Paar das von Otto erträumte gemüt­liche Heim vorfinden kann, wenn beide nach der Hochzeitsreise und einigen Tagen im Hamburger Elternhaus end­lich in Braunschweig eintreffen, scheint nicht mehr mög­lich. Das findet Sophie zwar schade, aber ihrem Naturell entsprechend entdeckt sie auch darin etwas Positives. […] wir leben dann wie Studenten und freuen uns doppelt, wenn [sich] allmäh­lich das Chaos lichtet (Sophie, 24. 9. 1867). Jetzt geht es darum, dass die Familie Magnus rechtzeitig anreist, dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass Islers vor der Hochzeit keine Zeit haben werden, sich um die lieben Neu-­Verwandten zu kümmern. Auch hier also muss vieles überlegt und genau geplant ­werden. Wann ich kommen werde kann ich noch nicht sagen. Die anderen werden am Donnerstag Nachmittag um 5 Uhr kommen. Wir wollen alle im Viktoria Hotel wohnen (Otto, 21. 9. 1867, im Brief vom 20. 9. 1867). Ob es vernünftig ist, dass die Meinigen wenn sie in Hamburg ankommen bei Euch essen, scheint mir sehr zweifelhaft, da Ihr um die Zeit Ruhe haben müsst. Ich glaube deshalb, dass sie lieber im Hotel essen sollen (Otto, 23. 9. 1867, im Brief vom 22. 9. 1867). Aber besprochen mit Ottos Familie ist noch gar nichts und auch diese Ankündigung ist natür­lich nicht die letzte in dieser Frage. Doch beginnt jetzt der Countdown für die Hochzeit: Am 25. September meldet Otto nach Hamburg, dass er für den Umzug zu packen beginnt, da ich nicht wissen kann, ob ich s­ päter dazu Zeit haben werde … (Otto, 25. 9. 1867), Die Hochzeit   |

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am 28. September schreibt er, dass er nun doch erst zusammen mit der Familie kommen wird, und bittet Sophie, ins Victoria Hotel zu gehen und für uns Logis zu bestellen. Wir wünschen ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer ein jedes mit 2 Betten (Otto, 28. 9. 1867). Es folgen detaillierte Angaben, wo und in welcher Anordnung die Zimmer gewünscht werden und was sie enthalten sollen; dann fährt Otto fort: Du bist dann wohl auch so gut dafür zu sorgen, dass wir nach unserer Ankunft Mittagessen bekommen, und da Du jedenfalls mit uns essen musst, so musst Du 5 Couverts bestellen. Felix [Aronheim*, Annas halboffizieller Bräutigam] logiert bei Wolffsons*. Die Eltern müssen sehen, dass am Freitag Du und Deine Eltern bei uns im Hotel zu Mittag essen, damit Deine M ­ utter an jenem Tag recht sorgenfrei sein kann (ebd.). Am 29. September fügt Otto seinen Zeilen die Bitte an, dass bei Schlüter ein Wagen bestellt wird der uns am Donnerstag von harburg abholt. […] Dem Wagen muss gesagt werden, dass er Dr. magnus* aus Braunschweig holen soll (ebd., 29.9.[1867], morgens, 7 Uhr). Die Wohnung ist immer noch nicht fertig, glück­licherweise treffen die Möbel erst am 1. Oktober ein, zeitgleich mit dem bereits engagierten Mädchen. Auch bei Islers überlegt man an ­diesem Tag noch mal alle Einrichtungen für den Hochzeitstag, das scenische Arrangement, wie Onkel Siegmund* es nennen würde. Ich hoffe der Morgen soll recht ruhig und behag­lich werden. Wir meine[n], dass Du wie gewöhn­lich zum ­Kaffee kommst, dass wir dann einige Stunden ganz für uns haben, dass dann die ­Freundinnen kommen, die mir den Kranz bringen und mir vielleicht bei der Toilette helfen, und dass wir um 12 Uhr etwa fertig sind (Sophie, 29. 9. 1867). Während Otto bis ins letzte Detail alles vorplanen möchte und dadurch Sicherheit zu gewinnen hofft, dass der schönste aller Tage auch gelingt, wünscht sich Sophie vor allem einen ruhig-­schönen Morgen und einige ­Stunden ganz für uns – also vor allem keine Hektik an d ­ iesem besonderen Tag. Dabei ist beiden die Angst anzumerken, dass am Ende doch etwas schief laufen könnte, weil sie wissen oder doch untergründig ahnen, dass nicht alles planbar ist. Zu Sophies Bemühen um Ruhe und Beibehaltung des normalen Rhythmus auch in diesen Tagen, die immer schneller auf den 6. Oktober zuzulaufen scheinen, gehört der Besuch im Tempel – ein Innehalten und Abschiednehmen. Heute Morgen war ich im Tempel und habe Abschied genommen. Dr. Sängers Predigt hat mir und den Meisten recht gut gefallen, und man kann wieder in den Tempel gehen, ohne sich zu ärgern oder zu schämen. …… Das Fortgehen aus dem Tempel ist mir recht nah gegangen, wie der Abschied von einem lieben Menschen. Seit ich denken kann, habe ich die Festtage dort zugebracht und mich dort als Glied eines großen Ganzen gefühlt, und bis auf die letzte Zeit habe ich immer mit inniger Liebe denjenigen zugehört die dort sprachen. Mit einem langen, letzten Blick trennte ich mich von den schönen, einfachen Räumen …… (Sophie, [Montag], 30. 9. 1867, im Brief vom 29. 9. 1867). Sophies Abschied vom Tempel hat einen hohen Stellenwert. Es ist nicht nur der Abschied von den schönen, einfachen Räumen, sondern eigent­lich zugleich ein Abschied von Kindheit und Jugend – seit ich denken kann –, von der Hamburger Judenheit – Glied eines großen Ganzen –, und damit von Hamburg und dem Elternhaus. Im Bild des Tempels zieht sich für Sophie zusammen, was die Hochzeit auch bedeutet: Trennung von allem,

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was ihr bisher Heimat war. Dass Otto am selben Tag zur Post in Braunschweig geht, um für Dich die Hamburger Nachrichten zu bestellen (Otto, 30. 9. 1867), zeigt, dass er weiß, was Sophie empfindet. Mit der vertrauten Zeitung – die Hamburger „Nachrichten“ waren ein renommiertes Blatt 453 – holt Otto für Sophie ein Stück Hamburg ins fremde Braunschweig. Jahrelang wird sie diese Zeitung lesen und aus der Ferne am Hamburger Leben teilnehmen, bis sie schließ­lich 1882 findet, dass ihr die Lektüre so viel Zeit wegnimmt, dass sie die „Nachrichten“ abbestellen wird. (so Sophie, 22. 8. 1882). Das Heimweh nach dem Hamburger Tempel und den vertrauten Bräuchen wird Sophie immer wieder anwehen, solange die Eltern in Hamburg leben, weil sie ihnen gegenüber davon sprechen kann. An ­diesem 30. September, dem Montag der Woche, an deren Ende der Polterabend stattfinden wird, überdenkt Otto den halbjährigen Briefwechsel und resümiert, dass sie doch die Zahl 100 nicht erreicht haben (Otto, 30. 9. 1867). Ich bekomme morgen Brief No 95. Wieviel Schönes steht in diesen 95 Briefen […]. Möge die schöne Harmonie unseres Brautstandes ein Vorbild für unsere Ehe werden. Und möge auch in dieser nie ein Misston erklingen, wie wir bisher immer inniger uns in einander hineingelebt haben. So soll auch das äußere Band welches uns jetzt vereinen wird ein Symbol sein, dass wir eins miteinander werden, dass jeder Gedanke und jedes Gefühl des Einen bei dem Anderen wiederklingt. Vor allem wollen wir stets einander vertrauen und in jeder Hinsicht offen miteinander verfahren. Selbst wenn es einmal vorkommen sollte, dass Einem etwas an dem Anderen nicht recht wäre, so wollen wir uns darüber sofort aussprechen und nichts gegeneinander auf dem Herzen behalten (ebd.). Ein letztes Mal beschwört Otto in seinem vermeint­lich letzten Brief vor der Hochzeit das Grundkonzept der Ehe, in dem sich beide wiederfinden können: Vertrauen, Offenheit, Wahrheit, Gleichberechtigung, Harmonie – so soll es sein. Und dann kommt doch noch ein allerletzter Brief, weil Otto das Hotel für Donnerstag abbestellen muss; seine M ­ utter ist wieder einmal etwas unwohl, nicht krank sondern nur ­nervös (Otto, 1. 10. 1867). Deshalb werden die Eltern, Anna und Felix erst am Freitag kommen. Ich komme aber schon am Donnerstag zur verabredeten Stunde … (ebd.). Hatte doch Sophie beim Hin und Her um den Hochzeitstag und die Teilnahme daran schon früher geschrieben: Was uns unsere Mütter zu schaffen machen! (Sophie, 19. 9. 1867). Aber das ist nun wirk­ lich die letzte Änderung. Sophies Abschlussbrief muss am 1. oder 2. Oktober geschrieben und verschickt worden sein, sonst hätte er Otto nicht mehr in Braunschweig erreicht. Sie ist neben allen Vorbereitungen fleißig dabei, Abschiedsbesuche bei Bekannten und Freunden zu machen. Unsicher, ob dieser Brief definitiv ihr letzter vor der Hochzeit sein wird, schreibt sie: Wenn dies nun mein letzter Brief als Braut an Dich ist, so schließe ich diese unsere schöne Correspondenz ab, die sich in einem schönen Zusammenleben fortsetzen wird und sage

453 Die „Hamburger Nachrichten“, 1792 gegründet, waren eine gemäßigt liberale, politische Zeitung, die zweimal täg­lich in Hamburg erschien. Es war die Zeitung, die in Sophies Elternhaus und dessen Umfeld gelesen wurde.

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Dir, meinem Bräutigam, Lebe wohl. Auf frohes schönes Wiedersehen du, mein Geliebter, mein Gatte! Und so unterschreibe ich mich zum letzten Mal Dir gegenüber mit meinem Mädchennamen, Sophie Isler, Dein Weib (Sophie, Oktober 31 – an diese Datierung kann man nur irritiert ein Fragezeichen setzen).

Bewusst beendet Sophie Isler ihren Braut-­Briefwechsel mit Otto Magnus. Noch einmal wird deut­lich, was diese fast einhundert Briefe von jedem der beiden ausmacht: eine eindring­liche Aufmerksamkeit gegenüber dem jeweils Anderen; geduldiges Zuhören und der immer neue Versuch, sich in das Gegenüber hineinzudenken; die sorgfältige Einbeziehung vieler denkbarer Mög­lichkeiten, um Fehlschläge oder Kränkungen zu vermeiden; Rücksichtnahme und Achtsamkeit dem Partner, der Partnerin gegenüber, aber auch gegenüber Eltern, Verwandten und Freunden. Und immer wieder das Bemühen um Offenheit und Wahrheit, die Mitteilung aller Stimmungen und Gefühle, aller Erlebnisse und Ängste. Hier „sprechen“ zwei Menschen miteinander, die sich gleichberechtigt aufeinander zubewegen und die auf ­diesem Wege die Rollenverteilung in ihrer Ehe einzurichten versuchen. Von Unterordnung ist nicht die Rede, aber auch nicht von einer Führungsrolle. Die Bereiche werden getrennte sein, aber Sophie und Otto haben alles Denkbare getan, um auch in der Ehe im Gespräch zu bleiben und etwaige Probleme partnerschaft­lich zu regeln. * Den Rest müssen wir uns denken. Was wissen wir denn? Otto wird am 3. Oktober nach Hamburg reisen, 15.30 Uhr in Harburg sein, wird dort den (Pferde-)Omnibus nehmen und eine knappe Stunde s­ päter bei Islers eintreffen, falls er nicht vorher noch beim Hotel ­Victoria vorbeifährt. Am 4. Oktober, dem Freitagmorgen, wird er wohl bei Islers f­rühstücken, am Nachmittag gegen 16.30 Uhr werden seine Eltern, seine Schwester Anna und Felix A ­ ronheim*, deren Noch-­nicht-­Verlobter, im Hotel eintreffen und mit Sophie und vermut­lich auch deren Eltern ein Diner einnehmen. Dass es noch immer einiges zu klären gibt, liegt auf der Hand. Lange wird es am Abend jedoch nicht gehen, weil alle Angst vor den Anstrengungen der beiden kommenden Tage haben. Ottos M ­ utter und Schwester werden das eine S­ chlafzimmer benutzen, Vater Magnus und Otto das zweite. Felix Aronheim* wird sich spätestens jetzt zu Wolffsons* begeben, wo er in diesen Tagen übernachtet. Vermut­lich wird die Familie am Sonnabend getrennt frühstücken: Magnussens im Hotel, Otto bei Islers, Felix bei ­Wolffsons bzw. Tante Minna Leppoc*, der Freundin seiner ­Mutter, die im Haus Wolffson* lebt. Dass das Brautpaar vor der Hochzeit fastet, wird nicht erwähnt. Diesen Brauch und das rituelle Bad – beides sollte der spirituellen Vorbereitung auf die Hochzeit dienen – hatten die Hamburger Reformjuden wohl abgeschafft. Bis zum Abend werden Sophies Onkel sich wahrschein­lich der Familie Magnus annehmen, dann geht man zum Polterabend zu May senior. Sophie hatte sich gewünscht, dass keine großartige Aufführung stattfindet, denn sie fände es viel netter, wenn man mit seinen Freunden zusammen ist und es kämen vielleicht einzelne Scherze, als wenn eine grosse Aufführung [stattfände,] zu denen die Leute zusammen­getrommelt werden müssen (Sophie, 12. 9. 1867).

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Was dann wirk­lich geboten wurde, erfahren wir in den Briefen nicht, nur einen Monat ­später, am 8. November, lässt Anna May* ausrichten, dass „der Polterabend“ end­lich ­fertig sei und nur noch nach Braunschweig überbracht werden müsse. Also wurden wohl alle Vorgänge aufgezeichnet und zur Erinnerung in einem Album zusammengestellt. Übrigens: Auch der Polterabend ist eine Angleichung an gesellschaft­liche Bräuche – er ist bei der jüdischen Hochzeit unbekannt. Dass man ihn umso leichter übernehmen konnte, weil er eigent­lich „heidnischen“ Ursprungs ist, leuchtet ein. Meyer hatte auf Anna Mays* Hochzeit in einem Toast diesen Sachverhalt geklärt und Sophie hat sich das eingeprägt. Als Otto davon schreibt, dass es in Braunschweig Sitte sei, am Abend vor der Hochzeit vor dem Hause der Braut i­ rdenes und porzellanenes Geschirr zur Erde zu werfen, dass es in Scherben bricht (Otto, 18. 8. 1867, im Brief vom 17. 8. 1867), antwortet sie, dass das Töpfezerbrechen am Polterabend […] allgemein nordische Sitte [sei], die aus dem Heidenthum stammt und dazu dient, die bösen Geister, die an ­diesem tage besonders bestrebt sind, den Menschen zu schaden, zu vertreiben (Sophie, 19. 8. 1867, im Brief vom 18. 8. 1867). Wer d ­ iesem Brauch folgte, bewegte sich damit nicht auf das Christentum zu, wohl aber auf Verhaltensweisen, wie sie bei bürger­lichen ­Hochzeiten üb­lich geworden waren. Dass die Hochzeit selbst wunderschön gewesen sei, wird von Meyer und Emma Isler in den ersten Briefen nach Sophies Abreise hervorgehoben. Eure Hochzeit hat nicht blos auf uns sondern auf Alle einen wunderschönen Eindruck gemacht: es ist doch hübsch, dass unseren Familienfesten nicht die Weihe fehlt (Emma, 7. 10. 1867). Spielt Emma mit dieser Bewertung auf die religiöse Seite der Hochzeit an? Dass in der Hamburger Tempelgemeinde Rituale bei der Trauung eingehalten wurden, ist selbstverständ­lich. Aber wie war das Zeremoniell? Tradi­ tionell steht der Bräutigam unter dem Traubaldachin, der Chuppa, und erwartet, zusammen mit dem Rabbiner, die Braut, die von ­Mutter und Schwiegermutter zu ihm geführt wird. Nach mehreren Segenssprüchen steckt der Bräutigam der Braut einen Ring an den Zeigefinger und spricht die Trauformel: Mit d ­ iesem Ring bist du mir angetraut nach dem Gesetz Moses’ und Israels. Die Ketuba, der (vom Bräutigam vorher unterschriebene) Ehevertrag, wird vorgelesen und nach dem Segen über einem Glas Wein trinken die Eheleute zum ersten Mal als Frau und Mann aus demselben Glas. Dann folgen die sieben Segenssprüche für das Brautpaar und anschließend zertritt der frisch vermählte Ehemann ein Glas – als Erinnerung an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Jetzt end­lich rufen die Gäste „Mazel Tov“ und gratulieren von allen Seiten.454 1874 erwähnt Meyer anläss­lich der Hochzeit von Bertha Salomon, dass die Brautjungfern hinter dem Brautpaar standen – auch sie eine Angleichung an gängige bürger­liche Bräuche – und die Eltern den Wein nicht austranken (Meyer, 26. 4. 1874). Sophie antwortet, dass die Eltern des Brautpaars […] doch nicht verpflichtet ­seien, den Wein auszutrinken: Ihr habt das doch auch nicht getan, dann wäret ihr auch gewiss alle betrunken

454 Die Darstellung hält sich an die Beschreibung bei Paul Spiegel, Was ist koscher?, 2005, S. 46 – 49.

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gewesen, es war ein grosser Kelch voll! … (Sophie, 27. 4. 1874). Das tradi­tionelle Weinglas, aus dem das Paar während der Trauung trinkt, wurde also benutzt und in Hamburg an die Eltern weitergereicht. Wo aber fand die Trauung statt? Im Freien, wie jüdische Hochzeiten oft? Oder im Tempel? Nein. In der islerschen Wohnung! Denn Sophie schreibt: Bis 3 wird es etwa dauern bis die Trauungsgäste fort sind […] und dann zum Essen wieder kommen (Sophie, 22. 9. 1867, morgens, 7 Uhr). Später erst wird der Tempel in Hamburg zum Ort der Trauungen, wie aus einem Brief Emmas 1882 hervorgeht: Die Trauung war im Tempel, wie das jetzt neue Sitte ist, weil der Chor durch Frauenstimmen verstärkt, den Akt besonders feier­lich macht (Emma, 28. 4. 1882). Aus ­diesem Bericht von 1882 über eine Hochzeit in Hamburg 455 geht hervor, dass das Paar mit dem Prediger unter dem Trauhimmel, der Chuppa, stand und die Trauformel dem Bräutigam hebräisch, nicht aramäisch, vorgesprochen wurde. Der Segen beschloss die Zeremonie. Das wird auch 1867 so gewesen sein, und damit keine neuer­liche Rückbesinnung auf jüdische Tradi­tionen, wie sie an anderer Stelle seit Anwachsen des Antisemitismus zu beobachten war. Dass die Chuppa in Hamburg sich von der in Berlin unterschied, erfahren wir anläss­lich der Hochzeit von Gustav Sachs*: Es ist kein fester Trauhimmel wie bei uns, sondern von 4 Stangen getragen, die junge Männer tragen […] (Emma an Meyer, 13. 9. 1868, 9 Uhr morgens), berichtet Emma nach Hamburg. Auch ist anzunehmen, dass Sophie und Otto Ringe wechselten, weil Emma vom Ringwechsel in Berlin berichtet, ohne ihn als Besonderheit hervorzuheben. Ein Glas wurde in Hamburg offensicht­lich nicht am Ende der Zeremonie zertreten – das verwundert nicht, denn die Hamburger Reformjuden hatten die Erwähnung Jerusalems aus ihrem Zeremoniell gestrichen. Trotzdem ist von der eigent­lichen jüdischen Trauung eine Menge „stehen geblieben“ – immerhin hatte Sophie von anderthalb Stunden Dauer geschrieben – und Emmas Worte, dass d ­ iesem Fest „die Weihe“ nicht fehlte, bestätigt das. Sorgfältig vorbereitet haben Sophie Isler und Otto Magnus ihre Ehe geschlossen; auf dieser Basis haben sie lange und harmonisch miteinander gelebt. Ottos Wunsch, wenige Wochen vor der Hochzeit an Sophie geschrieben, hat sich am Ende erfüllt: Der liebe Gott möge uns ein halbes Jahrhundert für unsere Ehe schenken und darauf uns in seinen Himmel nehmen, wie Philemon und Baucis, denn ich möchte weder allein bleiben, noch Dich allein hier zurücklassen, sondern wie ich im Leben nur an Deiner Seite glück­lich sein kann, so möchte ich auch im Tode mit Dir vereint sein (Otto, 13. 9. 1867, abends, 9 Uhr). Sophie Magnus, geborene Isler, wurde knapp achtzig Jahre alt. Sie starb am 18. Februar 1920, ein Opfer der in Europa grassierenden großen Influenzawelle. Otto Magnus, an derselben Grippe erkrankt, folgte ihr elf Tage ­später, am 29. Februar 1920; er wurde 83 Jahre alt. Das gewünschte halbe Jahrhundert haben sie um gut zwei Jahre überschritten.

455 Es ist Sängers letzte Trauung. Das berichtet Emma: „[…] dass Dr. Sänger als er Olga Hertz getraut hatte unter dem Trauhimmel vom Schlag getroffen, umgesunken ist. Er hat noch bis zum anderen Morgen gelebt, aber ohne wieder zum Bewusstsein gekommen zu sein …“ (Emma, 28. 4. 1882).

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Abb. 18  E. M. Lilien, Das Abendblatt II, Ausschnitt, aus Hannah Peters’ Fotoalbum

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ANHANG

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen Aufgenommen wurden hier Personen, bei denen weitere Informa­tionen für das Verständnis des Textes und/oder des historischen Zusammenhangs nütz­lich sein können.   Aegidi, Ludwig Karl James (1825 – 1901), Jurist, Publizist und Politiker. Schon 1848 trat er als Führer der studentischen Jugend in Berlin auf, arbeitete mit Gervinus an der „Deutschen Zeitung“, trat in den preußischen Staatsdienst ein, verließ ihn wieder, arbeitete bis 1851 an der „Konstitu­tionszeitung“, habilitierte sich 1853 in Göttingen, erhielt 1857 eine Professur in Erlangen, war 1859 – 1868 Professor für Geschichte am Akademischen Gymnasium in Hamburg, 1867 – 1868 im Norddeutschen Reichstag, von 1873 – 1893 im preußischen Landtag und ­zwischen 1871 und 1877 Vortragender Rat im Auswärtigen Amt. Nach seiner politischen Karriere lehrte er ab 1893 an der Universität Berlin. Albrecht, Prinz von Preußen, (1837 – 1906), Regent im Herzogtum Braunschweig (1885 – 1906). Preußischer General und Neffe Kaiser Wilhelms I. Während seiner mehr als 20-jährigen Regentschaft in Braunschweig wurde kein einziger jüdischer Jurist Notar. Anna, in der Regel Anna Aronheim, siehe dort. Aronheim, Dr. Adolf (1818 – 1880), Anwalt in Braunschweig. 1848 politisch links, ­später na­tional-­liberal engagiert, mehrfach Landtagsabgeordneter; ab 1870 Direktor der braunschwei­gischen Landeseisenbahn, Sprecher im Landesgerichtshof. Vier Kinder: Max, Berthold, Adelheid, Richard. Aronheim, Anna (1846 – 1899), geb. Magnus, Ottos jüngere Schwester. Verh. mit Dr. Felix Aronheim in Braunschweig. Vier Kinder: Fritz, Marie, Ruth, Ernst. Aronheim, Dr. Felix (1843 – 1913), Arzt und Geburtshelfer in Braunschweig. Sohn von ­Jeanette und Dr. Marcus Aronheim, verh. mit Anna Magnus. Vier Kinder. Aronheim, Jeanette (1809 – 1895), geb. Aronheim, gen. „Tante Jeannette“, Witwe des Braunschweiger Arztes Dr. Marcus Aronheim, ­Mutter von Dr. Felix Aronheim und ­Schwester des Juristen Dr. Adolf Aronheim in Braunschweig. Vermittelte 1867 die Beziehung ­zwischen Sophie und Otto. Aronheim, Rosalie (1827 – 1896), geb. Simon, verh. mit dem Anwalt Dr. Adolf Aronheim in Braunschweig. Vier Kinder. Auerbach, Berthold (1812 – 1882), eigent­lich Moses Baruch Auerbacher, volkstüm­licher Schriftsteller. Von ihm stammt der bittere Satz: „Es ist eine schwere Aufgabe, ein Deutscher und ein deutscher Schriftsteller zu sein, und noch dazu ein Jude.“ Seine „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ gehörten zur meistgelesenen Literatur des 19. Jahrhunderts.

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Berdien, Andreas Chr. (o. J.), 1851 Wirt im Gasthaus „Zum neuen Raben“ außerhalb des Dammtors an der Alster. Sein Gasthaus war ein beliebtes Ausflugsziel der Hamburger Mitte des 19. Jahrhunderts.456 Bernstein, Aaron (1812 – 1884), Publizist und Volksschriftsteller. B. setzte sich seit Mitte der 1840er-­Jahre für eine Reform des Judentums ein und gründete 1849 in Berlin die demokratische „Urwählerzeitung“, die dem Herausgeber Prozesse und Gefängnisstrafen einbrachte. Seit 1852 erschien das Blatt als „Volkszeitung“ bei Franz Duncker in Berlin. Bethmann, Ludwig Konrad (1812 – 1867), Leiter der Bibliothek in Wolfenbüttel ab 1855. Bettelheim, Elise (geb. 1844), geb. Meyer, Onkel Ludwigs zweitälteste Tochter, also Sophies Kusine. Verh. mit dem Arzt Dr. Karl Bettelheim (1840 – 1895) in Wien. Zwei Kinder. Bischoff°, Charitas (1848 – 1925), geb. Dietrich, Erzieherin und Publizistin. Tochter der Naturforscherin Amalie Dietrich. Bracke, Wilhelm (1842 – 1880), Kaufmann, Publizist, Verleger und Sozialdemokrat. 1865 gehörte B. zu den Gründern der braunschwei­gischen Sek­tion des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) mit anfangs 40 Mitgliedern (vier Jahre ­später 300). B. steckte sein Kapital 1871 in den „Braunschweiger Volksfreund“ und einen Parteiverlag, um sozialistische und demokratische Bildung zu vermitteln. 1869 trat er aus dem ADAV aus und beteiligte sich in Eisenach an der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die sich 1875 mit dem ADAV zusammenschloss zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). 1877 wurde B. in den Reichstag gewählt. Das Sozialistengesetz mit seinem Publika­tionsverbot schädigte seinen Verlag erheb­lich, obwohl es B. gelang, einen Teil der Bücher in die Schweiz zu retten. 1879 musste B. wegen eines Lungenleidens sein Reichstagsmandat niederlegen. Brehm, Alfred Edmund (1829 – 1884), Zoologe, Reisender und Schriftsteller. Seine Aufsätze und Reiseberichte sicherten ihm eine breite Anhängerschaft im deutschen Bildungsbürgertum. „Brehms Tierleben“, populärwissenschaft­lich geschrieben, machte ihn weltweit bekannt. 1862 – 1866 leitete er den Hamburger Zoo. 1869 entstand nach seinen Ideen das „Berliner Aquarium“, das er bis 1878 leitete. Breymann°, Henriette (1827 – 1899), Pädagogin. Seit 1872 verh. mit dem Juristen Karl Schrader (1834 – 1913). Campe, Joachim Heinrich (1746 – 1818), Schriftsteller der Aufklärung, Pädagoge und Verleger. Sein „Väter­licher Rath für meine Tochter“ führt die Reihe der Veröffent­lichungen an, die für die Festlegung junger Frauen auf das bürger­liche Frauenbild verantwort­lich waren. Er gründete 1787 die „Braunschwei­gische Schulbuchhandlung“, die 1799 von seinem Schwiegersohn Friedrich Vieweg übernommen wurde. Camphausen, Helene (gest. 8. Januar 1877), 1867 Gesellschafterin von Minna Magnus in Braunschweig. C. wanderte 1868 nach Mexiko aus, um ihren Verlobten, einen

456 So im Adressbuch 1851.

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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deutschen Arzt, zu heiraten. Bei ihrem Tod in Mexiko waren ihre beiden Kinder zwei und sieben Jahre alt. Cohen, Malchen (1806 – 1855), geb. Isler, Schwester Meyer Islers. Verh. mit dem Hebraisten Salomon Jacob Cohen. Drei Töchter, Julchen Udewald, Helene Heymann, Mathilde, und zwei im Briefwechsel erwähnte Söhne. de Boor°, Julie (1848 – 1932), geb. Unna, verw. Ploos van Amstel, angesehene P ­ orträtmalerin der Hamburger Gesellschaft. Dieffenbach, Anton (1831 – 1914), Genremaler (länd­ liches Leben, Kinderwelt). ­Düsseldorfer Schule. Dietrich°, Amalie (1821 – 1891), geb. Melle, Naturforscherin und Forschungsreisende. Ehrenberg, Emilie (1812 – 1888), geb. Meyer, Tochter von Seligmann Meyer Ehrenberg in Seesen. Verh. mit ihrem Cousin, dem Musiker Moritz Ehrenberg. Vier Söhne: G ­ ottlieb, Gustav, Heinrich und Friedrich. Ehrenberg, Emilie (1859 – 1941), geb. Fischel, gen. Emmi. Tochter des Unternehmers ­Alexander Fischel, eines Bruders von Julie Ehrenberg, verh. mit dem Bankier Otto Ehrenberg. Drei Söhne: Hans, Paul, Victor. Von Emmi E. stammen die „Erinnerungen an unsere Urgroßmutter Julie“, Kassel, Februar 1937 (unveröffent­lichtes Schreibmaschinenmanuskript in Familienbesitz). Ehrenberg, Fritz (1849 – 1910), Sohn des Musikers Moritz Ehrenberg. Wanderte 1882 in die USA aus. Ehrenberg, Julie (1827 – 1922), geb. Fischel aus Prag. Verh. mit Dr. Philipp Ehrenberg in Wolfenbüttel. Drei Söhne: Otto, Viktor, Richard. Ehrenberg, Moritz (1809 – 1884), Musiker und Musiklehrer in Braunschweig. Ältester Sohn von Samuel Meyer Ehrenberg, verh. mit Emilie Ehrenberg, seiner Kusine. Vier Söhne. Ehrenberg, Otto (1849 – 1928), Bankier. Ältester Sohn von Philipp und Julie Ehrenberg, verh. mit seiner Kusine Emmi Fischel (1859 – 1941). Drei Söhne. Ehrenberg, Dr. Philipp (1811 – 1882), zweiter Sohn von Samuel Meyer Ehrenberg. Als Nachfolger seines Vaters leitete E. die Samsonschule in Wolfenbüttel bis 1871. Verh. mit Julie Fischel aus Prag. Drei Söhne. Sein Buch „Die Samson’sche Freischule zu Wolfenbüttel“ (1844) gibt über Geschichte und pädago­gisches Konzept der Schule Auskunft. Ehrenberg, Dr. Richard (1857 – 1921), Professor, Volkswirtschaftler. Jüngster Sohn von ­Philipp und Julie Ehrenberg. Verh. mit Helene Rochow. Drei Töchter, ein Sohn. Ehrenberg, Samuel Meyer (1773 – 1853), Reformpädagoge, Leiter der Samsonschule in Wolfenbüttel. Er heiratete seine Kusine Jette Maas. Vier Kinder: Moritz, Philipp, Julie Wichelhausen und Malchen (Amalie) Rosenzweig. Ehrenberg, Dr. Viktor (1851 – 1929), Professor, Jurist. Zweiter Sohn von Philipp und Julie Ehrenberg. Verh. mit Helene Ihering. Zwei Söhne, eine Tochter. Fischel, Alexander (o. J.), Unternehmer. Bruder der Julie Ehrenberg, geb. Fischel, verh. mit Pauline von Portheim. Seine einzige Tochter Emilie heiratete ihren Cousin, den Bankier Otto Ehrenberg.

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Fröbel, Friedrich (1782 – 1852), Pädagoge. F. „erfand“ den Kindergarten, in dem ausgebildete Kindergärtnerinnen Kinder betreuten, erzogen und bildeten. Sein Institut in Keilhau (Thüringen), eine Bildungs- und Erziehungsanstalt, bot jungen Frauen ein breites Bildungsangebot und ermög­lichte ihnen die Ausbildung zur Kindergärtnerin. Fröbel, Karl (1808 – 1894), Neffe Friedrich Fröbels, kam 1850 nach Hamburg und beteiligte sich an der Gründung der „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ mit K ­ indergarten, an der er und seine Frau Johanna unterrichteten. Godeffroy, Johan(n) Cesar VI. (1813 – 1885), Reeder. G. plante und errichtete ein Museum für Natur- und Völkerkunde der Südsee in Hamburg und beschäftigte mehrere Naturwissenschaftler; Amalie Dietrich war die einzige Frau unter ihnen. Goldschmidt, Henriette (1825 – 1920), geb. Benas, Mitbegründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. G. lebte seit 1858 in Leipzig und war eine eifrige Vertreterin der fröbelschen Kindergartenidee. Goldschmidt, Johanna (1806 – 1884), geb. Schwabe, Publizistin und Feministin. Verh. mit Moritz David Goldschmidt. Acht Kinder. G. lebte seit 1812 in Hamburg und gehörte mit ihren Eltern zu den Reformjuden. Sie veröffent­lichte 1847 ihren Roman „Rebekka und Amalia. Briefwechsel z­ wischen einer Israelitin und einer Adeligen über Zeit- und Lebensfragen“, der den Entwurf eines interkonfessionellen Frauenvereins enthielt. 1848 gründete sie einen derartigen sozialen Verein für Jüdinnen und Christinnen. G. setzte sich für Kindererziehung im Sinne Fröbels ein und gründete gegen Widerstände eine informelle Schule für Kinder erwerbstätiger Mütter, die s­ päter im Paulsenstift aufging. Gumpel, Samson (um 1702 – 1767), Hoffaktor im Herzogtum Braunschweig-­Wolfenbüttel. Hagenbeck, Gottfried Claes Carl (1810 – 1887), Fischhändler. Der Tierpark Hagenbeck geht auf sein Tiergeschäft am Spielbudenplatz, St. Pauli, zurück. Sein Sohn Carl Hagenbeck übernahm das Geschäft 1866, baute es zur größten Tierhandlung der Welt aus, verlegte es zum Pferdemarkt und nannte es „Hagenbeck’s Thierpark“. Von 1875 an veranstaltete er nicht allein Tier-, sondern Völkerschauen. 1907 eröffnete Hagenbeck den weltweit ersten gitterlosen Tierpark am heutigen Standort im Stadtteil Stellingen. Der Tierpark ist noch heute in Privatbesitz. Hausmann, Luise (1821 – 1901), geb. Bennighauß. ­Mutter der Luise Schulz° und der Sängerin Marie Hausmann°. Helfft, Gottschalk (1790 – 1872), Mitinhaber der Firma J. N. Helfft Nachfolger (Seidenund Modewarenhandlung, Bohlweg 10) und Repräsentant der jüdischen Gemeinde in Braunschweig (Vorsteher, Personal- und Steuerangelegenheiten). Sohn von Jacob (Nathan) Helfft. Die Familie Helfft gehörte zu den alteingesessenen und angesehenen Familien in Braunschweig. Deshalb war auch der Witwe des Nathan Jacob Helfft 1807 erlaubt worden, die Ellenwarenhandlung ihres Mannes fortzuführen, weil sie Söhne hatte, die das Geschäft s­ päter übernehmen konnten: Levy/Ludwig, Hirsch/Heinrich und Gottschalk Helfft. Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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Helfft, Heinrich [Hirsch] (1794 – 1878), Mitinhaber der Firma J. N. Helfft Nachfolger, Sohn des Jacob (Nathan) Helfft. Er führte nach Ludwig Helffts Tod die Firma Gebr. Helfft (am Bohlweg), handelte mit eng­lischen Stoffen und Modewaren; auch eine Wachstuchfabrik (Wendeltorbleiche) gehörte dazu. Helfft, Jeanette (1803[?]–1888), geb. Samson, gen. „Tante Jeanette“. Witwe des Unternehmers Ludwig Helfft, ältere Schwester von Minna Magnus. Helfft, Ludwig [Levy] (1793 – 1867), Kaufmann und Unternehmer in Braunschweig. Sohn des Jacob (Nathan) Helfft. 1829 – 1867 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, im Vorstand des 1840 gegründeten Gewerbevereins, 1845 erster jüdischer Stadtverordneter in Braunschweig, 1850 Mitglied des Landtags. Er war der erste Jude, der im Herzogtum Braunschweig zu einem Repräsentanten der Öffent­lichkeit gewählt wurde. Ludwig Helfft war ein Cousin von Ottos Vater, seine Frau Jeannette (Samson) war die ältere Schwester von Ottos ­Mutter. Herzfeld, Dr. Levi (1810 – 1884), Rabbiner der Stadt Braunschweig (seit 1842) und Landesrabbiner des Herzogtums Braunschweig (ab Januar 1843). Er gehörte in seinen Anfangsjahren zur Reformbewegung, zog sich aber ­später aus den Auseinandersetzungen zurück und widmete sich ganz der Wissenschaft. Er war einer der ersten Wirtschaftshistoriker des alttestamentarischen Judentums. Heymann, Helene (o. J.), geb. Cohen. Tochter von Malchen Cohen, der Schwester Meyer Islers, Kusine Sophies. H. lebte mit ihrer vielköpfigen Familie seit Ende der sechziger Jahre in Kalifornien. Heymann, Victor (1842 – 1926), Anwalt und Stadtrat in Braunschweig. 1908 wurde ihm als dem ersten jüdischen Juristen in Braunschweig durch den Regenten Johann Albrecht das Notariat erteilt. Während seiner Stadtratstätigkeit setzte er sich erfolgreich für die Wiedererrichtung der Burg Dankwarderrode ein. H. war Vorsitzender der Anwaltskammer für das Land Braunschweig und war bis 1923 als Anwalt tätig. Hirsch, Johanna (o. J.), Sophies lebenslange Freundin in Hamburg. Hirsch°, Marie (1848 – 1911), alias Adalbert Meinhardt, Schriftstellerin und Übersetzerin. Schwester von Johanna Hirsch. Horwitz, Emma (geb. 1839), Hausdame bei Siegmund Meyer. Sie erzog die beiden Söhne Ernst und Carl und wurde ihnen zur Ersatzmutter. Nach Siegmund Meyers Tod zog Ferdinand Meyer zu seinem Neffen Ernst. H. führte beiden den Haushalt. Isler, Emma, geb. Meyer (1816 – 1886), Feministin. Frau des Bibliothekars Dr. Meyer Isler. Sophies ­Mutter. Ihre Eltern, der Kaufmann Berend Meyer und seine zweite Frau ­Friederike, geb. Schwabe, sorgten bei ihrer begabten jüngsten Tochter für eine sehr gute Ausbildung in Dessau. Nach dem Umzug der Familie nach Hamburg heiratete sie mit Isler einen „Gelehrten“. Ihre Tochter Sophie wurde 1840 geboren. 1986 erschienen ihre Lebenserinnerungen: Ursula Randt (Hg.), „Die Erinnerungen der Emma Isler“. Ihr Briefwechsel mit der verheirateten Tochter ist in das Buch eingegangen.

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Isler, Henriette (1776 – 1853), geb. Meyer, gen. Jette Meyer, Hausmutter in der Isler-­Schule in Hamburg. Verh. mit dem Schulmann Israel Abraham Isler in Hamburg. Schwester von Samuel Meyer Ehrenberg, Sophies Großmutter väter­licherseits. Kinder: Amalie, gen. Malchen, und Meier. Isler, Israel Abraham (1763 – 1849), Gründer und Leiter der Isler-­Schule in Hamburg. Verh. mit Jette Meyer aus Braunschweig. Sophies Großvater väter­licherseits. Zwei Kinder. Isler, Dr. Meyer (1807 – 1888), Bibliothekar an der Hamburger Stadtbibliothek, ab 1872 deren Leiter. Verh. mit Emma Meyer. Sophies Vater. Studium der Philosophie und Geschichte in Bonn und Berlin; er war einer der ersten jüdischen Studenten, die in Berlin zum Dr. phil. promovierten. Nach Hamburg zurückgekehrt übernahm er die Schule seines Vaters, suchte aber gleichzeitig eine Anstellung an der Hamburger Stadtbibliothek zu erhalten. Als ihm das gelungen war, schloss er die Schule, arbeitete als Bibliothekar und gab Privat­unterricht, um das Familienbudget aufzubessern. I. gehörte zu den Bibliothekaren einer Übergangszeit: Das Berufsbild änderte sich im 19. Jahrhundert vom Gelehrten, bei dem Lehr- und Publika­tionstätigkeit im Vordergrund standen, zum Bibliothekar im heutigen Sinne, der die wachsenden Bestände der Bibliothek zu verwalten und der Öffent­lichkeit zugäng­lich zu machen hat. Seinem Wunsch, wissenschaft­lich zu arbeiten und zu veröffent­lichen, konnte er nur in seiner Freizeit nachkommen. Jacobson, Gotthelf (1821 – 1875), Domänenpächter. Einer der Kuratoren der Samsonschen Stiftung in Wolfenbüttel. Die Mitglieder der Familien Samson, Cohen und Jacobson waren mit je einem Vertreter im Kuratorium der Stiftung vertreten. Jacobson, Israel (1768 – 1828), Hoffaktor/Kammeragent, Gründer der Jacobson-­Schule (1801) und einer Reformsynagoge in Seesen. J. gilt als Begründer des Reformjudentums. Verh. mit Mina Samson (1786), einer Tochter Herz Samsons. Der erfolgreiche Bankier agierte weit über die Grenzen des Herzogtums Braunschweig hinaus, wurde badischer Hofagent, hessen-­darmstädtischer Kommerzienrat, Mecklenburg-­Schweriner Finanzrat. Er hielt eine enge Beziehung zu Herzog Karl II. von Braunschweig und, nach Gründung des Königreichs Westfalen, zu König Jérôme Bonaparte. J. nutzte seinen Einfluss, um das Reformjudentum voranzubringen, sorgte 1803 für die Abschaffung des Leibzolls, einer jahrhundertealten Sondersteuer für Juden, und wurde 1808 Präsident des in den franzö­sischen Ländern neu eingeführten israelitischen Konsistoriums. Mit großer Mehrheit wurde er als Abgeordneter der Kaufleute und Fabrikanten in das Parlament des Königreichs Westfalen gewählt und erhielt viele Ehrungen. Weil seine Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten, entschädigte ihn das Königreich Westfalen mit Gütern aufgelöster Klöster. Nach dem Ende der Napoleonischen Ära zog er nach Berlin und verbrachte dort seinen Lebensabend. Johann Albrecht, Herzog zu Mecklenburg, (1857 – 1920), Regent des Herzogtums Braunschweig (1907 – 1913). Ein halbes Jahr nach Amtsantritt hob er die Sperre seines Vorgängers auf und machte den jüdischen Juristen Victor Heymann zum Notar; für Otto Magnus kam diese Entwicklung zu spät. Durch die Aussöhnung ­zwischen Hohenzollern und Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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Welfen (Hochzeit Viktoria Luises, der Tochter Kaiser Wilhelms II., mit dem Prinzen Ernst August von Hannover) blieb der Regent nur wenige Jahre im Amt. An seiner Stelle wurde mit Ernst August (1878 – 1953) noch einmal ein Welfe Herzog in Braunschweig. Er dankte allerdings fünf Jahre ­später (Novemberrevolu­tion 1918) wie alle deutschen Fürsten ab. Aus dem Herzogtum Braunschweig wurde zunächst eine sozialistische Republik und 1922 der Freistaat Braunschweig mit einer demokratischen Verfassung. Knaus, Ludwig (1829 – 1910), Künstler, wichtiger Vertreter der deutschen Genremalerei (Düsseldorfer Schule). Hauptbilder der ersten Periode: Die goldene Hochzeit (1858), Die Taufe (1859), Der Auszug zum Tanz. Lasker, Gretchen (o. J.), geb. Meyer. Tochter des Bankiers Martin Meyer in Berlin, Emmas Bruder. Sophies Kusine, die nach Hamburg geheiratet hatte. Leppoc, Minna (1813 – 1890), gen. „Tante Minna“, Hausdame und Erzieherin. Tochter des Braunschweiger Juweliers Coppel Jonas, der seinen Vornamen durch Umdrehen zum Nachnamen machte, also Jonas Leppoc hieß. L. war Emma Islers Freundin seit 1836. Emma vermittelte Fräulein Leppoc an Herrn Hirsch als (Hausdame und) Erzieherin seiner mutterlosen Tochter Johanna (nicht zu verwechseln mit Sophies Freundin Johanna Hirsch, die aus Wien stammte, während die hier erwähnten Hirschs aus Parchim in Mecklenburg zugezogen waren). Als Johanna s­ päter Dr. Isaak Wolffson heiratete, zog L. für einige Jahre zu Islers, kehrte aber dann zu Johanna zurück und lebte bis zu ihrem Tod in der Familie Wolffson als Familienmitglied. L. gehörte zum Kreis der Frauen, die in Hamburg die „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ gründeten. Lette, Wilhelm Adolf (1799 – 1868), preuß. Staatsmann. L. stiftete 1865 in Berlin den „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weib­lichen Geschlechts“, ­später Lette-­ Verein genannt. Lilien, Ephraim Moses (1874 – 1925), Jugendstilmaler/-graphiker. Verh. mit Helene ­Magnus, der Tochter von Sophie und Otto Magnus. Zwei Kinder: Otto und Hannah. L. war der Sohn eines armen Drechslers in Drohobycz (Kreis Lemberg), der ihm weder Gymnasialbesuch noch Studium finanzieren konnte. Nur die karg bemessene Hilfe reicher Verwandter konnte für beides sorgen, aber eine Existenz als Künstler konnte sich L. erst aufbauen, als er bei einem Wettbewerb den ersten Preis erhielt. Der setzte ihn in die Lage, über Wien nach München zu gehen. Dort konnte er allmäh­lich Fuß fassen, wurde freier Mitarbeiter der Zeitschrift „Jugend“ und übersiedelte 1899 nach Berlin. 1900 veröffent­lichte er „Juda“, eine Gemeinschaftsarbeit mit Börries von ­Münchhausen, und etablierte sich damit als Künstler. Weitere Sta­tionen: Reisen nach Jerusalem/ Palästina, Verbindung zum Zionismus. Teilnahme am ­Ersten Weltkrieg. Umzug nach Braunschweig. Er starb während eines Kuraufenthaltes in Badenweiler. Lilien, Helene (1880 – 1956), geb. Magnus, Graphikerin. Tochter von Sophie und Otto Magnus, verh. mit Ephraim M. Lilien, zwei Kinder. Früh verwitwet begann sie wieder als Graphikerin zu arbeiten, weil ihre zwei Kinder noch in der Ausbildung steckten und das Familienvermögen sich sehr verringert hatte. Ihr Leben nach der Emigra­tion aus

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dem na­tionalsozialistischen Deutschland hatte viele Sta­tionen: 1939 ging L. zunächst nach England zu ihrem Sohn Otto, zog dann zu ihrer Tochter Hannah nach Kalifornien, mit der Familie zusammen nach New York, dann für Jahre nach Indien. Von dort kehrte sie für einige Zeit zu ihrem Sohn Otto nach England zurück, um ­später wieder zu Hannah zu ziehen, die inzwischen in Kopenhagen lebte. Lilly, Friedrich [Carl August] (1835 – 1906), Braunschweiger Architekt, Hofbaurat und Dozent für landwirtschaft­liche Baukunst und Ingenieurhochbauten. Magnus, (Ara)Bella (1773 – 1851), geb. Helfft, verh. mit Dr. Salomon Magnus in Braunschweig. Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1812 zog sie ihre vier Söhne mit einem Kleiderwarenhandel groß und ermög­lichte dem ältesten sogar das Studium. Söhne: Jakob/Julius (1804 – 1882), Wilhelm (o. J.), August (1807 – 1865) und Ludwig (geb. 1810). Magnus, Carl Ludwig (1839 – 1910), Bankier. M. war der jüngere Bruder Ottos. Er trat mit seiner Heirat als „Sohn“ in das Bankhaus Oppenheimer in Braunschweig ein und führte die Geschäfte erfolgreich. M. gehörte zu den Stiftern des Bürgerparks und des Luisenstifts in Braunschweig. Magnus°, Bertha [Rebekka] (1848 – 1939), geb. Oppenheimer. Verh. mit Carl Magnus (1868), Ottos Bruder. Die Ehe blieb zunächst kinderlos, 1884 adoptierte das Ehepaar eine Tochter. Drei weitere Kinder kamen ­später dazu. M. engagierte sich in vielen sozialen Projekten, die die Situa­tion von Frauen und Kindern verbessern sollten. Magnus, Helene (o. J.), Sängerin in Wien. Nichte von Pius Warburg. Verh. mit dem Sohn des österreichischen Industriellen und zeitweiligen Ministers Theodor Friedrich von Hornbostel (1815 – 1888). Magnus, Dr. Julius/Jacob (1804 – 1882), Arzt. Ottos Vater, verh. mit Minna Samson. Drei Kinder: Otto, Carl und Anna (Aronheim). Magnus, Minna (1809 – 1883), geb. Samson. Ottos ­Mutter, verh. mit dem Arzt Dr. Julius Magnus in Braunschweig. Drei Kinder. Magnus, Dr. Otto [Salman] (1836 – 1920), Anwalt. Verh. mit Sophie Isler. Zwei Kinder: Rudolf (1873) und Helene (1880). Magnus, [Michaela] Sophie (1840 – 1920), geb. Isler. Verh. mit dem Juristen Dr. Otto ­Magnus in Braunschweig. Zwei Kinder. Ungedruckte „Kindheitserinnerungen“ (Schreibmaschinenmanuskript). Magnus, Dr. Salomon/Samuel (1778 – 1812), Militärarzt. Verh. mit Bella Helfft (1773 – 1851). Vier Söhne. Ottos Großvater. M. war einer der beiden ersten jüdischen Ärzte in Braunschweig; auch seine Beschäftigung als Militärarzt war für einen Juden höchst ­ungewöhn­lich. M.s hohes Ansehen drückt sich darin aus, dass er in die Klubs der Bürger aufgenommen wurde, was vor ihm nur Israel Jacobson gelungen war. Magnus, Wilhelm (o. J.), Bruder von Julius Magnus in Braunschweig, Sohn des Salomon Magnus und seiner Frau Bella, geb. Helfft.

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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May, Anna (geb. 1839), geb. Meyer, Hamburg. Tochter Ludwig und Bertha Meyers, Kusine Sophies. Verh. mit dem Hamburger Juristen Dr. Hermann May. Vier Kinder: Helene, Hugo, Franz und Gertrud. May, Dr. Hermann (o. J.), Anwalt in Hamburg. 1867 im siebenköpfigen Vorstand der Bürgerschaft (Schriftführer). Verh. mit Anna Meyer, der ältesten Tochter des Bankiers und Kaufmanns Ludwig Meyer, vier Kinder. Mendelssohn, Moses (1729 – 1786), deutsch-­jüdischer Philosoph im Zeitalter der Aufklärung, Freund Lessings, Wegbereiter der jüdischen Integra­tion in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Verh. mit Fromet Gugenheim (1737 – 1812), sechs Kinder. Großvater der Komponistin Fanny Hensel und des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Mestorf°, Johanna (1828 – 1909), Prof. Dr. h. c., Archäologin. Meyer, Abraham (1801 – 1842). Hier unter Meyer, Heinrich. Meyer, Dr. Adolph Bernhard (1840 – 1911), Naturwissenschaftler und Anthropologe. Sohn von Ludwig und Bertha Meyer, Cousin Sophies. M. unternahm 1870 und 1872 ausgedehnte Forschungsreisen in den indone­sischen Archipel (Celebes, Philippinen, Neuguinea) und wurde 1874 Direktor des König­lichen Naturwissenschaft­lichen Museums in Dresden. Er erhielt den Titel eines Hofrats. Der von ihm entdeckte Schmalschwanz-­ Sichelkopf, eine Paradiesvogelart, wurde nach ihm benannt (Epimachus meyeri); das Gebäude der Staat­lichen Naturhistorischen Sammlungen in Dresden-­Klotzsche heißt Adolf-­Bernhard-­Meyer-­Bau. Meyer, Berend (1764 – 1851), Kaufmann in Dessau. Emma Islers Vater, Sophies Großvater mütter­licherseits. Er galt als vermögend und sehr gebildet, beherrschte also die deutsche Sprache und war reformorientiert.457 Seine Bildung hatte er sich im Selbststudium angeeignet, wie andere seiner Genera­tion. Verh. mit 1. Hannchen Kaufmann, mit der er fünf Kinder hatte: Abraham/Heinrich, Meyer/Martin, Louis/Ludwig, Moses/Emanuel bzw. Moritz, Jettchen [Henriette Sachs]; 2. Friederike Schwabe, mit der er weitere drei Kinder bekam: David/Ferdinand, Siegmund und Emma. Den Familiennamen Meyer trug die Familie ab 1. 1. 1821 in Dessau. Meyer, Bertha (1815 – 1893), geb. Rothschild in Hamburg, gen. Tante Bertha, verh. mit Ludwig Meyer, Emmas Bruder. Fünf Kinder: Anna May, Elise Bettelheim, Therese May und die Söhne Adolph und Heinrich. Meyer, Carl (geb. 1851), Bankier bei Rothschild in London und Paris, Sohn des Kaufmanns Siegmund Meyer und seiner Frau Elise, Cousin Sophies. Verh. mit Adele Lewis. Zwei Kinder: Elsie und Frank. Meyer, Elise (1824 – 1855), geb. Hahn, in Hamburg. Verh. mit Siegmund Meyer, Emmas Bruder. Drei Söhne: Albert (1847 – 1855), Ernst und Carl.

457 So in: Briefwechsel z­ wischen Prof. Dr. Tom F. Peters, Bethlehem/USA, und Dr. Werner Grossert, Dessau, 2007. Privatbesitz.

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Meyer, Ernst (geb. 1849), Bankier/Kaufmann in Hamburg. Sohn des Kaufmanns Siegmund Meyer und seiner Frau Elise, Sophies Cousin. Verh. mit Olga Rée. Eine Tochter: Gertrud. Meyer, Ferdinand (1813 – 1887), genannt: Onkel Ferdinand oder Onkel Panne, Kaufmann in Hamburg. Emma Islers Bruder. Meyer, Friederike (1788 – 1851), geb. Schwabe. Emmas ­Mutter, Sophies Großmutter mütter­ licherseits. Zweite Frau des Kaufmanns/Bankiers Berend Meyer in Dessau, Tochter des Juweliers Schwabe (Vorname unbekannt) aus Rudolstadt. Meyer, Heinrich (1801 – 1842), eigent­lich Abraham, Plantagenbesitzer in Venezuela. Emma Islers ältester (Halb-)Bruder. Er besuchte als einziger das Gymnasium in Dessau (alle jüngeren Brüder besuchten die Franzschule, also eine der berühmten jüdischen Knaben­ schulen), verließ 1818 heim­lich das Elternhaus und gelangte nach Venezuela. Dort machte der gebildete junge Mann in der Armee Bolivars Karriere, wurde Hauptmann und erwarb nach Kriegsende eine Plantage. Damit erfüllte er sich einen Jugendwunsch: Er hatte „Landmann“ werden wollen, was für einen Juden in Dessau damals unmög­lich war. M. „vergaß“ sein Judentum, kam 1831 für ein Jahr besuchsweise nach Deutschland und kehrte 1840 endgültig wegen einer Kriegsverletzung zurück, die in Venezuela nicht geheilt werden konnte. Er lebte in Charlottenburg (Berlin), wo er Heilung durch eine Opera­tion erhoffte, starb aber, bevor es dazu kam. Meyer, Heinrich (o. J.), Kaufmann und Bankier. Jüngster Sohn Ludwig Meyers und seiner Frau Bertha, Cousin Sophies. M. wurde 1867 als ganz junger Mann nach Java geschickt, um dort Geschäfte zu machen. Nach seines Vaters Tod 1870 lebte er in Wien, verspe­ kulierte sich an der Börse (Börsenkrach 1873), verlor sein Vermögen, kam dennoch wieder ins Geschäft und heiratete. Zwei Kinder. Meyer, Dr. Heinrich Adolph (1822 – 1889), Fabrikbesitzer und Unternehmer. Sohn des Hamburger Spazierstock-­Fabrikanten H[einrich] C[hristian] Meyer, genannt „­Stockmeyer“ (1797 – 1848), in dessen Fabrik 1839 die erste Dampfmaschine in Hamburg zum Einsatz kam. Bruder von Bertha Ronge, gesch. Traun, von Madame Westendarp und M ­ argarethe Schurz, die in der Frauen- und der Kindergartenbewegung eine Rolle spielten. Meyer, Ludwig (1807 – 1870), gen. Onkel Ludwig, Bankier, Inhaber der Fa. L. B. Meyer in Hamburg, Neuer Jungfernstieg 7.458 Moritz Meyer war sein Teilhaber. (Halb-)Bruder Emma Islers. Verh. mit Bertha Rothschild in Hamburg, fünf Kinder. Meyer, Martin (geb. 1802), Bankier in Berlin (seit 1830). (Halb-)Bruder Emma Islers. Verh. mit Helene Bezold, drei Kinder. Eine Tochter heiratete nach Hamburg: Gretchen Lasker. Meyer, Moritz (1805 – 1886), gen. Onkel Moritz oder Onkel Morchen, Kaufmann und Bankier in Hamburg. (Halb-)Bruder Emma Islers.

458 So in: Hambur­gisches Adressbuch für 1867.

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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Meyer, Siegmund (1815 – 1882), gen. Onkel Siegmund oder Onkel Munte, Kaufmann in Hamburg. Mitglied der Bürgerschaft. Emma Islers Bruder. Verh. mit Elise Hahn (sie starb 1855). Drei Söhne: Albert (1847 – 1855), Ernst und Carl. Nachruf im Anhang. Mohrhagen, Bernhard (1813 – 1872), Landschafts- und Genremaler. Sein Unterricht war bei den zeichnenden und malenden Damen der „guten Gesellschaft“ in Hamburg sehr beliebt. Eine Zeitlang wurde Sophie dort zusammen mit Julie Unna unterrichtet, die als Julie de Boor zur gefragten Porträtistin in Hamburg wurde. Moses ben Fulda, Gumpel (1660 – 1733), erster Hofjude, der im Herzogtum Braunschweig-­ Wolfenbüttel nach der Vertreibung der Juden 1546 wieder zugelassen wurde. Mit der Herausbildung des Absolutismus hatte der Herzog die Zulassung von Juden in seinem Territorium als „landesherr­liches Exklusivrecht“ durchgesetzt. Oppenheimer, Albert (1814 – 1897), Bankier und Kommerzienrat. Verh. mit Rosalie Levin (1824 – 1911), fünf Töchter: Bertha Magnus, Elise Michels, Anna Jaspers, Minna Cohn und Helene Aronheim. O. leitete das Bankhaus Lehmann Oppenheimer und Söhne in Braunschweig, das ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im Herzogtum war, beteiligte sich an vielen Industrieunternehmungen und finanzierte den Bau wichtiger Straßen (Friedrich-­Wilhelm-, Pockels-, Schlossstraße). Nach O.s Tod leitete sein Schwiegersohn Carl Magnus die Bank bis 1910. O. war Repräsentant und seit 1868 Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Oppenheimer, Bertha, siehe Magnus, Bertha. Piza, Dr. Joseph de Mose (1824 – 1879), Rabbiner, Kantor, Lehrer, Journalist und Übersetzer. P. gehörte zur portugie­sisch-­jüdischen Gemeinde in Hamburg. Seit 1854 war er Sprachlehrer an der israelitischen Freischule in Hamburg, seit 1855 Kantor am Tempelverein, 1866 führte er die staat­lich angeordnete Konfirma­tion durch; 1869 wurde er in die Bürgerschaft gewählt. Riegel, Herman (1834 – 1900), Kunsthistoriker, Museumsdirektor und Gründer des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins in Braunschweig. Verh. mit einer Hamburger Pasto­ rentochter, in den Briefen „die kleine Riegel“ genannt. Riesser, Gabriel (1806 – 1863), jüdischer Rechtsanwalt, Journalist und Politiker. R. setzte sich zeit seines Lebens für die Gleichberechtigung der Juden ein. 1848 war er Mitglied der Na­tionalversammlung. 1859 wurde er Obergerichtsrat in Hamburg und damit der erste jüdische Richter in Deutschland. Ronge°, Bertha (1818 – 1863), gesch. Traun, geb. Meyer. Hamburger Feministin. Tochter des Hamburger Spazierstock-­Fabrikanten und Unternehmers H. C. Meyer. Rosenzweig, Franz (1886 – 1929), Religionsphilosoph. R. war ein Urenkel Samuel Meyer Ehrenbergs. Er setzte sich für den Dialog z­ wischen Juden und Christen sowie z­ wischen orthodoxen, liberalen und zionistischen Juden ein. Ab 1920 lehrte er am „Freien jüdischen Lehrhaus“ in Frankfurt am Main. Hauptwerk: „Der Stern der Erlösung“ (1921). Bibelübersetzung mit Martin Buber.

340 |  Anhang

Rulf/Ruelf, Dr. Gutmann (1851 – 1915), Landesrabbiner des Herzogtums Braunschweig seit 1884. Nachfolger Levi Herzfelds. Er führte dessen Reformkurs fort, verhielt sich aber skeptisch gegenüber den Assimila­tionswünschen vieler Gemeindemitglieder. Sachs, D. B. (1802 – 1865), Kaufmann in Berlin. S. stammte aus Dessau und etablierte sich erst ­später in Berlin. Verh. mit Henriette Meyer, der (Halb-)Schwester Emmas. Zwei Söhne: Gustav und Otto (1840 – 1856). Sachs, Gustav (1835 – 1911), Kaufmann in London. Sohn von Emmas (Halb-)Schwester, Cousin Sophies. Verh. mit Nanni Samson aus Berlin. Zwei Söhne: Edwin und Alfred. Sachs, Henriette (1804 – 1886), geb. Meyer, gen. Tante Jettchen. Emmas (Halb-)Schwester lebte in Berlin, wo ihr Mann D. B. Sachs Kaufmann war. Ihr Sohn Gustav hielt lebenslang eine enge Verbindung zu seiner ­Mutter. Salomon, Gotthold (1784 – 1862), wichtigster Reformprediger in Hamburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (neben Eduard Kley). Salomon, Henriette, geborene Goldschmidt (o. J.), Feministin in Hamburg. Tochter der Schriftstellerin Johanna Goldschmidt und des Kaufmanns Moritz David Goldschmidt, verh. mit dem Arzt Dr. Moritz Gustav Salomon, Sohn des Predigers Gotthold S­ alomon (1846). S. engagierte sich bei der „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ 1849. Samson, Herz (1738 – 1794), Bankier und herzog­licher Kammerrat in Braunschweig. Samson, Philipp (1743 – 1805), Hofbankier und Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Mitbegründer und Namensgeber der Samsonschen Freischule in Wolfenbüttel. Schrader, Karl (1834 – 1913), Jurist und Politiker. Verh. mit Henriette Breymann (1827 – 1899), Pädagogin. Das Ehepaar zog nach Berlin um und gründete dort u. a. das „Pestalozzi-­ Fröbel-­Haus“ in Schöneberg, das noch heute als ein Verbund von Praxiseinrichtungen und Ausbildungsstätten existiert (Schwerpunkt Sozialwesen und Sozialpädagogik). Schuback, Gottlieb Emil (1820 – 1902), Historien- und Genremaler. S. war 1836 – 1842 in München Schüler des Nazareners Peter von Cornelius, ließ sich anschließend in Hamburg nieder, verkaufte aber nur wenige Bilder. Deshalb entschloss er sich 1855, nach Düsseldorf zu ziehen und dort noch einmal zu studieren, Genremalerei bei Rudolf Jordan. Tatsäch­lich hatte er Erfolg: Er konnte seine Bilder in vielen deutschen Städten ausstellen und verkaufte sie besonders häufig nach Amerika. Schuback°, Emma (1825 – 1914), geb. Crüger, gen. „Madame Schuback“ (Briefwechsel). Gründerin und Leiterin einer höheren Mädchenschule in Düsseldorf. Verh. mit dem Künstler Emil Schuback. Schulz, Dr. Friedrich August (1840 – 1925), Jurist und 1867 Eisenbahndirektor in Braunschweig. Nach der Reichsgründung machte S. Karriere: Er wurde Kaiser­licher Wirk­ licher Geheimer Rat, Präsident des Reichseisenbahnamts und 1909 geadelt. Er nannte sich Friedrich von Schulz-­Hausmann. Verh. mit Luise Hausmann und Jahre nach deren Tod mit deren Schwester, der Sängerin Marie Hausmann. Fünf Kinder. Schulz°, Luise (1846 – 1868), geb. Hausmann. Erste Frau des Eisenbahndirektors ­Friedrich Schulz. Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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Schulz°, Marie (1847 – 1914), geb. Hausmann. Zweite Frau des Eisenbahndirektors ­Friedrich Schulz. Schurz°, Margarethe (1833 – 1876), geb. Meyer. Sie war die jüngste Tochter H. C. Meyers, des Hamburger Stock-­Fabrikanten und Unternehmers, und eine der Schülerinnen der „Hamburger Hochschule für das weib­liche Geschlecht“. Sie heiratete den deutschen 48er-­Emigranten Carl Schurz und wanderte mit ihm in die USA aus. Sieveking, Amalie Wilhelmine (1794 – 1859), sozial engagierte Hamburgerin. Die Tochter des Senators Heinrich Christian Sieveking und seiner Frau Caroline Louise, geb. Volkmann, gründete 1832 den „Weib­lichen Verein für Armen- und Krankenpflege“, in dem „protestantische Frauen der gehobenen Stände“ evange­lische Arme betreuten. Sie initiierte Berufs- und Arbeitsbeschaffung und setzte sich für den Bau von Wohnungen und Kliniken ein. S. gilt heute als Vorreiterin der modernen Sozialarbeit und als eine der Mitbegründerinnen der Diakonie in Deutschland. Speckter, Otto (1807 – 1871), Illustrator und Lithograph in Hamburg. Er illustrierte u. a. „Fünfzig Fabeln für Kinder“ mit Radierungen und „Noch fünfzig Fabeln für Kinder“ mit lithographischen Federzeichnungen, die großen Anklang fanden. Stein, A[nna], eigent­lich Margarethe Wulff (1792 – 1874), Kinder- und Jugendschriftstellerin, darunter „52 Sonntage oder Tagebuch dreier Kinder“, Berlin: Winckelmann & Söhne, um 1860 ff., 3 Bde. Illustra­tionen von Hosemann (in den beiden ersten ­Bänden); „Lebensbuch für erwachsene Mädchen“, Berlin: Winckelmann & Söhne, 1860 ff. Steinheim, Dr. Salomon Ludwig (1789 – 1866), Arzt und Religionsphilosoph. Weggefährte Gabriel Riessers, Mitglied im Vorstand der jüdischen Gemeinde Altona. Engagement im jüdischen Schul- und Vereinswesen; ehrenamt­licher Hospital- und Armenarzt der Gemeinde. 1827 richtete er mit dem Großkaufmann Karl Theodor Arnemann die erste Flussbadeanstalt in Altona ein, die kostenlos genutzt werden konnte. Verh. mit Johanna (Hinde) Mathiessen. 1849 zog das Ehepaar nach Rom um, wo sich St. ganz seinen philosophischen Studien widmete. Steinheim, Johanna (Hinde), geb. Mathiessen (o. J.), Witwe des Arztes Dr. Salomon ­Ludwig Steinheim. Sie lebte nach dessen Tod in Rom und dann in der Schweiz. Ab 1872 sorgten die Hamburger Freunde durch Spenden dafür, dass sie eine Pflegerin bzw. Gesellschafterin bezahlen konnte. Stern, Dr. Sigismund (1812 – 1867), Pädagoge und Schriftsteller. Vorlesungen zur Reform des Judentums in Berlin ab 1844. Sie gaben den Anstoß zur Gründung der „Genossenschaft für die Reform des Judenthums“, aus der sich die Berliner Reformgemeinde entwickelte. 1855 wurde er Direktor der Realschule der israelitischen Gemeinde in Frankfurt am Main, wo er eine breite pädago­gische und schriftstellerische Tätigkeit entfaltete. Stern, Ida (o. J.), geb. Fürstenberg. Verh. mit Sigismund Stern. Emma Isler war mit Ida Fürstenberg befreundet, die sie 1832 in Berlin kennengelernt hatte, wo sie die ­Geschwister Fürstenberg (Sophie, Moritz und Ida) im Haus des Predigers Auerbach traf.

342 |  Anhang

Stöcker, Adolf (1835 – 1909), Theologe und Sozialpolitiker. 1874 – 1890 Hof- und Domprediger in Berlin, 1880 – 1893 Abgeordneter im Reichstag. Lautstarker Vertreter des modernen Antisemitismus, dem jedes K­lischee recht war, um es bedenkenlos auf jüdische Männer und Frauen anzuwenden, mit dem Ziel, die staatsbürger­liche Gleichstellung des Judentums zu verhindern bzw. rückgängig zu machen. Stockhausen, Julius Christian (1826 – 1906), Sänger, Gesangspädagoge und Dirigent. 1862 – 1867 an der Singakademie in Hamburg und Dirigent der Hamburger Philharmonischen Konzerte. Die Sängerinnen Helene Magnus und Marie Hausmann wurden zeitweise von ihm unterrichtet. St.s Tätigkeit beschränkte sich nicht auf Hamburg. Er war der bedeutendste Lieder- und Oratoriensänger seiner Zeit und ein hochgeschätzter Gesangspädagoge. 1869/70 war St. Kammersänger am Stuttgarter Hof und inspizierte den Gesangsunterricht an den öffent­lichen Lehranstalten im Königreich Württemberg. St. gab Konzerte und Liederabende u. a. mit Clara Schumann, Johannes Brahms und dem Violinisten Joseph Joachim. 1878 wurde er als Gesangspädagoge an das Hochsche Konservatorium in Frankfurt am Main berufen, zog sich 1880 zurück und leitete bis zuletzt seine eigene Gesangsschule in Frankfurt. Treitschke, Heinrich von (1834 – 1896), Historiker und Publizist, 1880 „Ein Wort über unser Judentum“. Udewald, Julie (Julchen), geb. Cohen (o. J.), älteste Tochter von Meyer Islers Schwester Amalie (Malchen) Cohen, Sophies Kusine. Unna, Dr. Moritz Adolph (1813 – 1888), Allgemeinmediziner in Hamburg, firmierte im Adressbuch 1867 als Dr. med., Chirurg, Geburtshelfer und Augenarzt. Mitglied der Konstituante. Verh. mit Ida Gerson. Von seinen vier Kindern erreichten die Malerin Julie de Boor und der Dermatologe Paul in Hamburg hohes Ansehen. U. war Hausarzt der Familie Isler in Hamburg. Unna, Dr. Paul Gerson (1850 – 1929), Arzt und Dermatologe in Hamburg. 1907 verlieh ihm der Hamburger Senat den Titel eines Professors, 1908 wurde er Chefarzt am Krankenhaus Eppendorf, 1919 erhielt U. den ersten Lehrstuhl für Dermatologie an der Universität Hamburg. Unna, Ida, (gest. 1881), geb. Gerson. Tochter des Mediziners Georg Harthog Gerson (1788 – 1843). Verh. mit dem Arzt Dr. Moritz Adolph Unna. Unter ihren vier Kindern erlangten Julie de Boor und Paul Gerson Unna besondere Bedeutung. Vieweg, Johann Friedrich (1761 – 1835), Verleger in Braunschweig. Während die „Verlagsbuchhandlung Friedrich Vieweg und Sohn“ an seinen ältesten Sohn Eduard V. (1797 – 1869) überging, gründete sein Sohn Friedrich Vieweg jun. (1808 – 1888) eine eigene Verlagsbuchhandlung in Paris. Eine seiner Töchter, Blanca, heiratete den Verlagsbuchhändler George Westermann in Braunschweig. Vogt, Karl (1817 – 1895), Naturwissenschaftler. Verfechter des Materialismus und Darwinismus. 1848 in der Na­tionalversammlung (äußerste Linke), verlor seine Gießener Professur, lehrte ab 1852 in Genf, ab 1878 dort Na­tionalrat. Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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von Dommer, Arrey (1828 – 1905), Musikkritiker in Hamburg. Meyer Isler gelang es, von Dommer 1873 eine Stelle als Bibliothekar an der Stadtbibliothek zu verschaffen, wo dieser 1889 pensioniert wurde. Durch die Neubearbeitung des „Musika­lischen Lexikons“ 1865 und durch sein „Handbuch der Musikgeschichte von den ersten Anfängen bis zum Tod Beethovens“ 1868 machte sich v. D. als Musikhistoriker einen Namen. Warburg, Pius (1816 – 1900), Bankier, Kunstsammler und Mäzen. W. war einer der bedeutendsten Repräsentanten des Altonaer Zweigs der Familie Warburg. Er engagierte sich in kulturellen und politischen Fragen. 1865 – 1885 war er Stadtverordneter in Altona, „Bürgerworthalter“ und zeitweise Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung, 1869 – 1887 saß er im schleswig-­holsteinischen Provinziallandtag. Er engagierte sich sowohl in der Verwaltung der Hochdeutschen Israelitengemeinde als auch im Vorstand des Altonaer Kunstvereins. Welcker, Karl Theodor (1790 – 1869), bedeutender Staatsrechtler, liberaler Abgeordneter in der zweiten Kammer des badischen Landtags und im Paulskirchenparlament. Westendarp, Amalie (1816 – 1893), geb. Meyer, Hamburger Feministin. Sie war die älteste Tochter des Hamburger Spazierstock-­Fabrikanten und Unternehmers H. C. Meyer (gen. „Stockmeyer“). Verh. mit Rudolf Carl Westendarp. 1873 nahm ihr Bruder H. A. Meyer ihn in die Geschäftsleitung seines Betriebs für Elfenbeinprodukte in Hamburg auf und übergab ihm 1889 den ganzen Betrieb. W. engagierte sich bei den Kinderbetreuungsplänen der Charlotte Paulsen und bei der „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ in Hamburg. Westermann, George (1810 – 1879), Buchhändler. Gründete 1838 in Braunschweig eine Verlagsbuchhandlung und gab ab 1856 die Zeitschrift „Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte“ heraus. Wilhelm, (letzter) Herzog von Braunschweig-­Wolfenbüttel (1806 – 1884). Regierte 1830 – 1884. Seine Regierung schloss 1866 ein Bündnis mit Preußen und trat dem Norddeutschen Bund bei. Allerdings hielt sich der Herzog auf Distanz wegen der Entthronung der Hannoverschen Welfen durch Preußen, die auch als Erben des kinderlosen Herzogs vorgesehen waren. 1879 wurde die Erbfrage neu geregelt: Ein Regentschaftsrat sollte an die Staatsspitze treten, falls der Erbe und Nachfolger am Regierungsantritt verhindert wäre (er lebte im österreichischen Exil). Beim Tod des Herzogs meldete der Herzog von Cumberland als erbberechtigter Hannoverscher Thronfolger seinen Anspruch schrift­lich an und bekannte sich zugleich zur Reichsverfassung. Aber der automatisch angetretene Regentschaftsrat lieferte ihm nur das Privatvermögen des verstorbenen Herzogs aus. Statt Cumberlands wählte die braunschwei­gische Landesversammlung auf Vorschlag des Regentschaftsrates Prinz Albrecht von Preußen zum neuen Regenten. Damit folgten die Braunschweiger dem Bundesrat, der Cumberlands Anspruch als Gefahr für den inneren Frieden und die Sicherheit des Reiches angesehen hatte.459

459 So in: Meyers Konversa­tionslexikon, 5. Auflage, 3. Bd., 1896.

344 |  Anhang

Wohlwill, Dr. Adolf Benjamin (1843 – 1916), Historiker. W. unterrichtete seit 1867 als Professor am Akademischen Gymnasium in Hamburg, erhielt 1873 eine Stelle als Hilfslehrer für Geschichte an der Gelehrtenschule des Johanneums. Er war damit vermut­lich der erste Jude in Deutschland, der an einer öffent­lichen Schule Geschichte lehren durfte. 1874 kehrte W. ans Akademische Gymnasium zurück und hielt nach dessen Schließung 1883 öffent­liche Vorlesungen. W. gehört zu den renommierten Historikern Hamburgs im 19. Jahrhundert. Genau wie sein Bruder Emil bezeichnete W. sich als „confessionslos“.460 Wohlwill°, Anna (1841 – 1919), Lehrerin und Schulleiterin. Wohlwill, Dr. Emil (1835 – 1912), Chemiker und Wissenschaftshistoriker. Als Erfinder der elektrolytischen Kupferraffina­tion erlangte Emil W. große Bedeutung. Als er 1863 das Bürgerrecht in Hamburg beantragte, verweigerte er ausdrück­lich die Angabe einer Religionszugehörigkeit. Wohlwill, Friederike (o. J.), geb. Warburg. Witwe des bedeutenden Pädagogen Immanuel Wolf, Schuldirektor in Seesen, der sich ab 1822 Wohlwill nannte. Sechs Kindern, darun­ ter Adolph, Anna und Emil Wohlwill. Wohlwill, Louise (1847 – 1919), geb. Nathan. Verh. mit Dr. Emil Wohlwill. Fünf Kinder, ­darunter die Malerin Gretchen W., die Musikerin Sophie W. und der Pathologe F ­ riedrich W. Wohlwill, Marie (1851 – 1929), geb. Nathan. Tochter des Mediziners Dr. Elias Salomon ­Nathan. Verh. mit dem Historiker Adolf Wohlwill. Wolffson°, Agnes (1849 – 1936), Tochter des Reichstagsabgeordneten Dr. Isaac Wolffson und seiner Frau Johanna. Wolffson, Dr. Albert (1847 – 1913), Anwalt. Sohn des Reichstagsabgeordneten Dr. Isaac Wolffson und seiner Frau Johanna. W. saß 1880 – 1910 in der Hamburger Bürgerschaft, wurde mehrfach in den Bürgerausschuss gewählt, aber wegen seines Judentums nicht Senator. W. war Mitglied der Reichskommission zur Ausarbeitung einer neuen Strafprozessordnung. Er widmete sich sozialen Aufgaben, der Verwaltungsreform und den Wahlrechtsänderungen.461 Wolffson, Dr. Isaac (1817 – 1895), Anwalt und Politiker. 1859 – 1889 Mitglied der Bürgerschaft, 186l–1863 deren Präsident, und damit der erste Jude, der d ­ ieses Amt in einem Länderparlament bekleidete, 1871 – 1881 Reichstagsabgeordneter im dritten Hamburger Wahlkreis für die Na­tionalliberale Partei. Auch in seinem Fachgebiet genoss er hohe Anerkennung: 1875/76 war er Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung der Reichsjustizgesetze und gehörte ab 1890 der Kommission für die Zweite Lesung des Bürger­ lichen Gesetzbuches an. 1879 wurde er zum ersten Präsidenten der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer für Hamburg, Lübeck und Bremen gewählt.462

460 Krohn, Juden in Hamburg, a. a. O., S. 116 f. 461 Krohn, Juden in Hamburg, a. a. O., S. 93 f. 462 Alle Daten siehe Krohn, Juden in Hamburg, a. a. O., S. 91 und S. 97 f.

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen   |

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Wolffson, Johanna (o. J.), geb. Hirsch, gen. Tante Johanna. Die Familie Hirsch war aus Parchim/Mecklenburg nach Hamburg gezogen. Verh. mit Dr. Isaac Wolffson. Vier Kinder, darunter Agnes und Albert W. Wüstenfeld°, Emilie (1817 – 1874), Hamburger Feministin. Zunz, Leopold (1794 – 1886), jüdischer Gelehrter und Mitbegründer der Wissenschaft des Judentums. Schüler und Freund Samuel Meyer Ehrenbergs. Freund Meyer Islers.

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Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus Charitas Bischoff (1848 – 1925)

Tochter der Naturforscherin und Forschungsreisenden Amalie Dietrich° und des Apothekers ­ ilhelm Dietrich. Sie wuchs in Siebenlehn (Sachsen) auf, konnte die Schule aber nicht kontinuier­ W lich besuchen, weil das beruf­lich bedingte Wanderleben ihrer Eltern dazu führte, dass die Tochter immer wieder in Pflegestellen gegeben werden musste. Als ihre ­Mutter 1863 für zehn Jahre zu Forschungen nach Australien reiste, konnte B. durch die Vermittlung der Familie Heinrich Adolph Meyer in Hamburg das Breymannsche Institut in Wolfenbüttel besuchen, in dem sie ihre lückenhafte Schulbildung ergänzte und zur Erzieherin ausgebildet wurde. Ihre erste Beschäftigung fand sie in einer eng­lischen Familie, kehrte 1871 nach Deutschland zurück und arbeitete durch Vermittlung der Familie Meyer in einem Krankenhaus in Kiel, wo sie die Bibliothek betreute und kranke Kinder unterrichtete. Im Haus der Familie Meyer lernte sie ihren späteren Mann, einen Theologen, kennen, der dort als Erzieher des Sohnes arbeitete. Nach der Rückkehr ihrer ­Mutter 1873 heiratete sie und zog mit ihrem Mann zunächst nach Schleswig-­Holstein, wo dieser seine erste Pfarrstelle nahe der dänischen Grenze erhielt, ­später nach Rendsburg. B. schrieb die Lebensgeschichte ihrer ­Mutter auf und veröffent­lichte sie: „Amalie Dietrich. Ein Leben“. Auch ihr zweites Buch „Bilder aus meinem Leben“ fand eine große Leserschaft. Henriette Breymann (1827 – 1899)

stammte aus einer Braunschweiger Pastorenfamilie und besuchte in Wolfenbüttel eine Töchterschule. Wenig interessiert an Hausarbeit und der Rolle als Hausfrau und M ­ utter fand sie erst einen Lebenssinn durch den Aufenthalt bei ihrem Großonkel Friedrich Fröbel in Keilhau (Thüringen). In dessen Bildungs- und Erziehungsanstalt lernte sie sein pädago­gisches Konzept kennen und wurde zur Kindergärtnerin ausgebildet. Im Pfarrhaus ihres Vaters in Watzum (bei Schöppenstedt) gründete sie 1854 eine Lehranstalt für Töchter der gebildeten Stände und einen Kindergarten. Dieses „Breymannsche Institut“ wurde 1864 nach Wolfenbüttel an den Neuen Weg verlegt, wo der Kindergarten mitten in Gärten lag. Der vorzüg­liche Ruf des Instituts lockte viele Schülerinnen an: Junge Frauen konnten hier eine breit gefächerte Bildung erhalten und auf den Beruf einer Kindergärtnerin oder Erzieherin vorbereitet werden. 1866 gründete B. einen „Verein für Erziehung“, der einen Kindergarten im Schloss in Wolfenbüttel eröffnete. 1872 heiratete sie ihren juristischen Berater, den Assessor Karl Schrader, und zog mit ihm nach Berlin. Schraders führten ein offenes Haus, in dem Persön­ lichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Politik verkehrten. Auch in Berlin beschäftigte sich die Pädagogin mit Problemen der Frauenfrage, der Volksbildung, der Wohnungsnot, der Gesundheits- und Wirtschaftsfürsorge. Das „Pestalozzi-­Fröbel-­Haus“ in Schöneberg (Berlin), getragen vom „Verein für Volksbildung“, wurde Schraders Lebenswerk: Kindergarten, Frauenbildung, Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Volksbildung wurden in ­diesem Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus   |

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sozialpädago­gischen Institut zusammengefasst. Außerdem beteiligte sie sich an der Gründung der Berliner „Ferienkolonie“, am „Victoria-­Haus“ für Krankenpflege und am „Verein für häus­ liche Gesundheitspflege“. Das Pestalozzi-­Fröbel-­Haus existiert und funk­tioniert noch heute. Julie de Boor (1848 – 1932)

wurde als erstes Kind und einzige Tochter des Hamburger Arztes Moritz Adolph Unna und seiner Frau Ida, geb. Gerson, in Hamburg geboren. Ihre künstlerische Begabung fiel früh auf, sodass sie Privatunterricht bei dem Landschafts- und Porträtmaler Bernhard M ­ ohrhagen in Hamburg erhielt. 1873 heiratete sie den Witwer Adrian Ploos van Amstel und zog nach Heidelberg, kehrte aber nach dessen Selbstmord 1874 in ihr Elternhaus nach Hamburg zurück. Aus dieser ­kurzen Ehe stammt ihre Tochter Paula. Bald schon nahm de B. die Malerei wieder auf, erhielt wieder Unterricht, zuerst bei Eleonore Götsche, dann bei Carl Gussow in Berlin und Carolus Duran in Paris. 1880 kehrte sie nach Hamburg zurück und begann in Ateliergemeinschaft mit Hermann de Boor, einem Schlachtenmaler, zu arbeiten; s­päter heirateten sie. De B. wurde zur beliebten Porträtmalerin der „guten“ Hamburger Gesellschaft (ca. 400 Porträts) und malte 1882 auch Meyer und Emma Isler. Meyer Islers Porträt war für die Stadtbibliothek bestimmt; für Sophie Magnus stellte die Künstlerin eine Kopie her, die wie das ­später gemalte Bild Emma Islers nach Braunschweig geschickt wurde. Trotz ihrer Erfolge und jahrzehntelanger Anerkennung musste de B. noch zu Lebzeiten erfahren, dass sie als Künstlerin nicht mehr gefragt war. Ihr Stil und ihre künstlerische Auffassung waren durch die „Moderne“ inzwischen überholt. Das Porträt Meyer Islers befindet sich im Besitz der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Ob die Originale der nach Braunschweig an Sophie Magnus geschickten Bilder noch vorhanden sind, ließ sich bisher nicht aufklären. Amalie Dietrich (1821 – 1891)

wurde als Amalie Melle, Tochter eines Beutlers, in Siebenlehn (Sachsen) geboren und erhielt dort eine Elementarschulbildung. Sie heiratete den Apotheker Wilhelm Dietrich, der sie in die Botanik einführte und ihr beibrachte, wie man Pflanzen für wissenschaft­liche Zwecke sammelt, bestimmt und präpariert. Gemeinsam legten sie Herbarien an und lebten von deren Verkauf. Zwischen Muttersein und Beruf jonglierend musste D. ihre Tochter Charitas, 1848 geboren, oft in Pflegestellen geben, wenn sich ihre Exkursionen über Monate hinzogen: Mit einem Hundewagen wanderte D. bis nach Holland. Ihre kenntnisreich zusammengestellten Herbarien mit den sorgfältig präparierten Pflanzen brachten sie in Kontakt mit führenden Gelehrten. Dadurch erweiterte sich ihr Wissen. Schließ­lich trennte sich D. von ihrem Mann, der mit ihrer Entwicklung und ihren Aktivitäten immer weniger Schritt halten konnte. Der Hamburger Reeder Johann Cesar VI. Godeffroy bot ihr eine Fernexpedi­tion an: Sie sollte 1863

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für zehn Jahre nach Australien und in die Südsee reisen und dort Pflanzen für ein in Hamburg geplantes Museum sammeln. Gestützt durch die Befürwortung namhafter Naturwissenschaftler nahm sie diese Chance wahr. Unermüd­lich schickte sie Präparate nach Hamburg, anfangs nur Pflanzen, ­später auch Insekten und andere Kleintiere, denn sie ging immer mehr dazu über, den gesamten Lebensraum einer Art zu erfassen und darzustellen. Verschiedene von ihr entdeckte Arten wurden nach ihr benannt. Ihre Tochter hatte sie vorher in die Familie ­Heinrich Adolph Meyers (Bruder von Bertha Ronge° und Margarete Schurz°) geben dürfen, die für Ausbildung und beruf­liches Fortkommen des jungen Mädchens sorgte; die finanziellen Mittel dazu konnte die M ­ utter durch die feste Anstellung bei Godeffroy aufbringen. 1873 kehrte D. nach Deutschland zurück, betreute und verwaltete zunächst „ihre“ Sammlungen und wurde 1879 Kustodin im Botanischen Museum in Hamburg. 1891 starb sie während eines Besuchs bei ihrer Tochter Charitas Bischoff° in Rendsburg. Marie Hausmann (1847 – 1914)

war die jüngere Schwester der Luise Schulz, Tochter Friedrich Hausmanns und seiner Frau Luise, geb. Bennighauß. Sie wuchs in Rottleberrode auf, wo der Vater einen Teil des bennighaußenschen Betriebes leitete. Beide Eltern widmeten sich der Bildung ihrer Kinder mit großem Einsatz: Der Vater führte sie in die Naturwissenschaften ein, die M ­ utter weckte und förderte mu­sische Neigungen, besonders die musika­lische Begabung. Nach dem Umzug der Familie nach Braunschweig besuchten Marie und ihre Schwester Lina die Pottsche [höhere Privat-] Töchterschule. 1867 ging H. nach Hamburg, um sich dort zur Sängerin ausbilden zu lassen. Sie begann ihre Studien bei Julius Stockhausen in Hamburg und wechselte dann zu der berühmten Gesangslehrerin Pauline Viardot-­Garcia (1821 – 1910) nach Baden-­Baden und Karlsruhe, um ihre Ausbildung fortzusetzen. Im Anschluss daran nahm sie ein Engagement an der Hofbühne in Karlsruhe an und startete eine aussichtsreiche Karriere als Bühnenkünstlerin. Ein Besuch im Sommer 1870 in Greifswald bei ihrem Vater änderte ihre Pläne. Zu Beginn des 1870er-­Krieges war ihr Bruder Fritz Hausmann, der älteste Sohn der Familie, vor Sedan gefallen. In der folgenden für die Familie schweren Zeit stand Friedrich Schulz, der Mann ihrer verstorbenen Schwester Luise, seinen Schwiegereltern bei. Bald darauf verlobte sich H. mit ihrem verwitweten Schwager und heiratete. Die junge Familie begann ihr gemeinsames Leben in Straßburg. Dieser Ehe entstammten drei Kinder, die zusammen mit den zwei Kindern aus Schulz’ erster Ehe aufwuchsen. Friedrich Schulz (1840 – 1925) stand an der Schwelle zu einer außerordent­lichen Karriere; er sollte es am Ende zum Wirk­lichen Geheimen Rat und zum Präsidenten des Reichseisenbahnamtes im neugegründeten Deutschen Reich bringen. 1909 wurde Schulz geadelt und nannte sich von nun an „von Schulz-­Hausmann“.463

463 Material zu den Biographien der Schwestern Hausmann stellte mir freund­licherweise der Urenkel von Friedrich Schulz-­Hausmann zur Verfügung: Friedrich K. von Schulz-­Hausmann.

Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus   |

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Marie Hirsch (1848 – 1911)

wurde in Hamburg geboren, ihre vermögende Familie stammte aus Wien und hatte dort einem großen, angesehenen Kreis angehört. Nach dem frühen Tod der Eltern wurde H. von ihren beiden älteren Geschwistern erzogen, woraus eine große Verbundenheit erwuchs. Besonders eng war das Verhältnis zu ihrer Schwester Johanna, das lebenslang andauerte. Vermut­lich wurde H. wie die ältere Schwester zunächst privat unterrichtet, besuchte anschließend eine höhere Töchterschule und vielleicht einen „Cursus“, der ihre Bildung abrundete. Im Isler-­ Magnus-­Briefwechsel wird erzählt, dass Hirschs viel reisten und oft Monate fernblieben. Eine Freundin ermunterte H. Spanisch zu lernen; bald begann sie mit Übersetzungen, die sie veröffent­lichte. Dann fing sie an, eigene Texte zu schreiben, vor allem Novellen, veröffent­ lichte diese unter dem männ­lichen Pseudonym Adalbert Meinhardt und entwickelte sich zu einer bekannten und durchaus erfolgreichen Schriftstellerin. Bertha Magnus (1848 – 1939)

war Ottos und Sophies Schwägerin, älteste Tochter des Bankiers Albert Oppenheimer (1814 – 1897) in Braunschweig. Über ihre Schulzeit ist nichts Genaues bekannt; ihren ­eigenen Aussagen zufolge durchlief sie eine Töchterschule erfolgreich, weil sie ein fabelhaftes Gedächtnis hatte, nicht weil ihr Interesse geweckt worden wäre. 1868 heiratete sie den Bankier Carl Magnus, den jüngeren Bruder von Otto Magnus. Als reiche Bankierstochter war sie gewöhnt, ein „großes Haus“ zu führen. Beschäftigung mit Kindern und Kinderbetreuung waren ihr vertraut, weil sie die älteste von fünf Töchtern war. Als ihre Ehe kinderlos blieb, engagierte sich M. vielfältig in der Frauenfrage und bei Kinderbetreuungsproblemen. Ihr couragiertes Auftreten und ihr direkter Zugang zu den Reichen der Stadt brachten ihren Projekten immer genügend finanzielle Unterstützung. Tatkraft und Entschlussfreude zeichneten sie aus, bei öffent­lichen Auftritten schob sie allerdings gern Sophie Magnus vor. In den 1880er-­Jahren adoptierte das Ehepaar M. zunächst Else Köhler (1874 – 1923), ein (christ­liches) Waisenkind, bei dem nach einiger Zeit eine Tendenz zu epileptischen Anfällen diagnostiziert wurde. Später adoptierte die verwitwete M. die drei Kinder ihrer verstorbenen Adoptivtochter.464 1908 gehörte M. zu den Gründern des Luisenstifts, einer Anstalt für epileptische Kinder, von 1911 bis 1933 gehörte sie zum Vorstand. 1914 gründete M. mit anderen zusammen den Na­tionalen Frauendienst und leitete ihn in den folgenden Jahren. Diese Organisa­tion verschaffte Soldatenfrauen Arbeit, verwaltete und verteilte materielle Hilfen. M. erhielt mehrere Orden und wurde mit dem Kriegsverdienstkreuz für Frauen ausgezeichnet.

464 Angaben zu den Adop­tionen aus: Bein, Sie lebten in Braunschweig, S. 365.

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Nach 1933 wurde sie trotz ihrer Verdienste aus allen Ämtern gedrängt. Von ihren Adoptiv­ kindern gepflegt und unterstützt, scheint sie relativ unbehelligt gelebt zu haben. Als 1938 an sie die Aufforderung erging, ihrem Vornamen Bertha den Namen Sara hinzuzufügen, unterschrieb sie mit ihrem einst abgelegten jüdischen Vornamen Rebekka und entkräftete damit das denunziatorische „Sara“ in ihrem Ausweis. Sie starb 1939, über 91 Jahre alt. Johanna Mestorf (1828 – 1909)

wurde in Bramstedt (Holstein) als viertes Kind eines Arztes geboren, der sich in seiner Freizeit mit Altertumsforschung beschäftigte. Nach dem Tod des Vaters zog die Familie nach Itzehoe, wo M. die höhere Töchterschule, das Blöckersche Institut, besuchte. 1849 – 1853 arbeitete sie als Erzieherin in Schweden und lernte nordische Sprachen. Anschließend reiste sie als Begleiterin einer italienischen Gräfin mehrfach nach Frankreich und Italien. Ab 1859 lebte sie in Hamburg. Ihr Interesse galt der Altertumsforschung und Archäologie. Da sie als Frau nicht studieren konnte, bildete sie sich im Selbststudium unermüd­lich fort. Ab 1863 übersetzte sie wichtige archäolo­gische Werke aus Skandinavien, veröffent­lichte archäolo­gische und volkskund­liche Artikel und begann wissenschaft­liche Vorträge vor Damen zu halten. 1867 nahm sie eine Stelle als Sekretärin für ausländische Korrespondenzen an. M. reiste zu archäolo­gischen Tagungen, hielt dort Vorträge und machte sich durch ihre Kenntnisse in Fachkreisen einen Namen. 1868 zerschlug sich Meyer Islers Absicht, sie an die Hamburger Stadtbibliothek zu holen, stattdessen begann sie ehrenamt­lich am Museum in Kiel zu arbeiten, 1873 gab der „Verein für Hambur­ gische Geschichte“ M. ein Abschiedsessen, weil sie Hamburg verließ, um Kustodin am Museum vaterländischer Alterthümer in Kiel zu werden; 1891 wurde sie dessen Direktorin und war damit die erste Museumsdirektorin in Deutschland. 1899 wurde sie Honorarprofessorin an der Universität Kiel, zehn Jahre s­ päter erhielt sie dort die Ehrendoktorwürde der medizinischen Fakultät. Schwerpunkt ihrer Forschung war die Vorgeschichte Schleswig-­Holsteins, sie prägte eine Reihe archäolo­gischer Begriffe, wie z. B. „Einzelgrabkultur“ und „Moorleiche“. 1999 fand am hundertsten Jahrestag der Verleihung der Professorenwürde eine interna­ tionale Tagung in Bad Bramstedt statt: „Johanna Mestorf. Werk und Wirkung“. Bertha Ronge, geschiedene Traun (1818 – 1863)

wurde als zweitälteste Tochter des wohlhabenden Stockfabrikanten Heinrich Christian Meyer in Hamburg geboren und heiratete mit 16 Jahren auf Wunsch ihres Vaters den 30-jährigen Fabri­ kanten Christian Julius Traun. Sie brachte sechs Kinder zur Welt und engagierte sich trotzdem in verschiedenen Vereinen der Hansestadt, u. a. im „Socialen Verein Hamburger Frauen zur Ausgleichung konfessioneller Unterschiede“ und im „Verein der Frauen und Jungfrauen zur Unterstützung der Deutschkatholiken“. Ihr Interesse an Fröbels Kindergartenvorstellungen, der Frauenbewegung und freireligiösen Bestrebungen brachte sie mit vielen Gleichgesinnten zusammen, zu denen vor allen Dingen der exkommunizierte Priester Johannes Ronge gehörte. Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus   |

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T. und Emilie Wüstenfeld° gründeten 1850 zusammen mit anderen Hamburgerinnen die „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ in Hamburg. Sie hatten dazu Friedrich Fröbel, den Erfinder des Kindergartens, und seinen Neffen Karl Fröbel sowie dessen Frau Johanna nach Hamburg geholt und mit der Leitung von Kindergartenausbildung und Hochschule betraut. T. trennte sich einvernehm­lich von ihrem Mann, weil sie sich in Ronge verliebt hatte, der die Bestrebungen der Frauen unterstützte. Mit drei ihrer Kinder reiste sie nach Holland und ermög­lichte dadurch die Scheidung. Dann siedelte sie nach London über und heiratete Ronge. Zehn Jahre (1851 – 1861) lebten beide dort und R. etablierte in dieser Zeit den Kindergarten in England. Dann kehrten die Ronges nach Deutschland zurück, nach Frankfurt am Main, wo R. 1863 starb. Marie Ronge, einzige Tochter der zweiten Ehe, hielt sich 1868 in Hamburg im Hause Trauns auf und wurde von d ­ iesem als seine „Stieftochter“ in die Gesellschaft eingeführt, eine Mitteilung, die wir Emma Isler verdanken,465 die dieser öffent­lichen Präsenta­tion als „Patchworkfamilie“ eher fern stand. Emma Schuback (1825 – 1914)

wurde als Therese Karoline/Karolina Marianne Crüger in Hamburg geboren. Sie war die Tochter des Direktors der Hamburger Handlungsakademie und erhielt offensicht­lich eine sehr gute Bildung. 1851 heiratete sie den Maler Gottlieb Emil Schuback (1820 – 1902). Von da an nannte sie sich Emma Schuback und sorgte als Musiklehrerin für den Familienunterhalt (sie gab u. a. Sophie Klavierunterricht). Denn die Bilder ihres Mannes – er war Cornelius-­ Schüler – verkauften sich schlecht. Er entschloss sich deshalb 1855 in Düsseldorf noch einmal zu studieren und sich in die Genremalerei einführen zu lassen. Obwohl Sch. nicht glück­lich über die Entscheidung war, sich dieser (weniger geachteten) Kunstrichtung zuzuwenden, folgte sie ihrem Mann nach Düsseldorf, gründete dort 1859 eine höhere (Mädchen-)Schule und sorgte zunächst allein für den Unterhalt des kinderlosen Paares. Im Briefwechsel erfahren wir, dass die Protestantin Sch. nicht nur mit der katho­lischen Geist­lichkeit Kölns Schwierigkeiten hatte, die das Bildungswesen dominierte, sondern auch mit den preußischen Behörden, die von ihr ein „Staatsexamen“ verlangten, bevor sie ihr die „Concession“ für einen kleinen „Cursus“ erteilten. Die (nicht konfessionsgebundene) Schuback-­Schule war so erfolgreich, dass sie mehrfach erweitert werden musste. Erst 1887 legte Sch. die Leitung der Schule nieder, obwohl ihr Mann mit seinen Genrebildern längst sehr gut verdiente. Schubacks Biographie zeigt, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts bürger­liche Frauen durch eigenen „Erwerb“ das Studium ihres Mannes bzw. die Familie finanzierten und über Jahrzehnte berufstätig waren.466

465 Emma Isler an Sophie Magnus, 22. 1. 1868. 466 Vornamen und Geburtsnamen sowie Daten zur Schuback-­Schule verdanke ich dem Stadtarchiv Düsseldorf.

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Luise Schulz (1846 – 1868)

wurde als Luise Hausmann in Rottleberrode im Harz geboren. Sie stammte aus einem gutbürger­ lichen Haus; ihr Vater Friedrich Hausmann war Hüttenbesitzer, akademisch gebildet (Naturwissenschaftler) und kunstliebend. Die M ­ utter Luise Hausmann, geb. Bennighauß, war außerordent­ lich musika­lisch, spielte anspruchsvoll Klavier und sang. Beide Eltern widmeten sich der Bildung ihrer fünf Kinder mit besonderem Eifer: Die ­Mutter förderte die musika­lischen Neigungen, der Vater unterstützte das Zeichentalent der Kinder und lehrte sie die Liebe zur Natur. Über die Schulbildung Luises ist nichts bekannt; sie war mit 14 Jahren und der Konfirma­ tion abgeschlossen, als die Eltern nach Braunschweig zogen. Dort übernahm sie Aufgaben im Haushalt und half der M ­ utter bei der Betreuung der drei jüngeren Geschwister. Als 15-Jährige lernte S. ihren späteren Mann kennen, der damals noch studierte. 1865, nach seinem Examen und der Anstellung bei der Herzog­lichen Eisenbahndirek­tion in Braunschweig, heirateten Luise Hausmann und Dr. jur. Friedrich Schulz. 1866 wurde ein Sohn, 1868 eine Tochter geboren. Sophie Magnus lernte die gebildete junge Frau 1867 kennen und teilte mit ihr geistige Interessen. Doch die von beiden gewünschte Freundschaft entwickelte sich nicht, weil Luise Schulz bereits 1868 an Typhus erkrankte und starb. Friedrich Schulz wurde s­ päter Eisenbahnpräsident im 1871 gegründeten Deutschen Reich. 1909 erhielt er den erb­lichen Adel und nannte sich von nun an „von Schulz-­Hausmann“.467 In zweiter Ehe war er mit der Sängerin Marie Hausmann°, Luises jüngerer Schwester, verheiratet. Margarethe Schurz (1833 – 1876)

wurde als jüngste Tochter des Stockfabrikanten Heinrich Christian Meyer in Hamburg geboren. Da ihre M ­ utter unmittelbar nach der Geburt starb, erzogen die älteren Geschwister die jüngste Schwester. Durch diese, besonders durch Amalie (verheiratete Westendarp) und Bertha (Traun bzw. Ronge°), kam sie früh in Kontakt mit demokratischen Ideen, der Frauenfrage und den pädago­gischen Vorstellungen Fröbels. Als 1850 die „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ in Hamburg gegründet wurde, gehörte Margarethe Meyer zu den ­ersten Schülerinnen ­Fröbels. 1851 reiste sie nach London zu ihrer Schwester Bertha Ronge und lernte dort Carl Schurz kennen, der seit dem Scheitern der 48er-­Revolu­tion im eng­lischen Exil lebte. Nach der Heirat wanderte das junge Paar in die USA aus. Dort sorgte Sch. für die Verbreitung der fröbelschen Erziehungsvorstellungen und gründete 1856 in Watertown/Wisconsin den ersten Kindergarten der USA. Idee und Einrichtung von Kindergärten verbreiteten sich schnell; der Name „Kindergarten“ ging als Fremdwort in die amerikanische Sprache ein. Sch. starb nach der Geburt ihres fünften Kindes in New York – ihr Mann war inzwischen US-Innenminister geworden. 1957 wurde das einstige Kindergartengebäude in Watertown zum Museum.

467 Siehe Anm. 463.

Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus   |

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Anna Wohlwill (1841 – 1919)

war eine Tochter Immanuel Wohlwills, des Direktors der Reformschule in Seesen, und seiner Frau Friederike, geborene Warburg. Nach dem Tod des Vaters zog die Familie nach Hamburg in die Nähe der mütter­lichen Verwandten. W. besuchte die höhere Töchterschule des Herrn Kröger und erhielt im Anschluss daran mit wenigen anderen Mädchen Unterricht in Geschichte, Deutsch, Literatur, Naturwissenschaften und Mathematik. Zu ihren Lehrern gehörten Anton Rée und Otto Jessen. Außerdem gaben Annas Brüder Emil (Chemiker) und Adolph (Historiker) im Studium erworbenes Wissen gern an die Schwester weiter, was sie auch dann noch fortsetzten, als W. schon Lehrerin bzw. Direktorin der Paulsenstiftschule geworden war. Eine Lehrerinnenausbildung erhielt sie nicht: Sie hospitierte im Unterricht und eignete sich das pädago­gische Wissen autodidaktisch an. Seit ihrem 15. Lebensjahr unterrichtete W. an der vom Frauenverein gegründeten Armenschule für Mädchen, dem „Paulsenstift bei den Pumpen“. 1866 wurde sie Leiterin der Schule, die sich unter ihrer Führung von der Armenschule zur höheren Mädchenschule entwickelte, indem immer neue Fächer das Angebot ergänzten: Eng­lisch und naturwissenschaft­licher Anschauungsunterricht, Turnen, Pflichtenlehre, Maschinennähen, Franzö­sisch. W. nahm selber Turnunterricht, bevor dieser an der Schule eingeführt wurde. Die Paulsenstiftschule besaß auch eine Schülerinnenbücherei und eine für Lehrerinnen samt Zeitschriftensammlung. Das pädago­gische Konzept machte es mög­lich, dass 1880 die Anforderungen der neunjährigen höheren Mädchenschule schon in acht Jahren erreicht wurden. 1893 wurde die Schule als höhere Mädchenschule von der Oberschulbehörde anerkannt und ersetzte damit die fehlende staat­ liche höhere Schule für Mädchen. 1894 wurde das neunte, 1908 das zehnte Schuljahr eingeführt. Anläss­lich ihres 50-jährigen Lehrerinnenjubiläums verlieh der Senat der Hansestadt W. als erster Frau eine goldene Denkmünze; 1911 wurde sie im Alter von 70 Jahren pensioniert, blieb aber im Schulvorstand und unterrichtete weiter. 1914, nach Beginn des ­Ersten Weltkrieges, richtete sie mit ihrer Freundin Agnes Wolffson° eine Kriegsküche im Keller der Schule ein. Nach ihrem Tod wurde eine Straße in Eimsbüttel nach Anna Wohlwill benannt; 1938 wurde diese in Felix-­Dahn-­Straße umbenannt, wie sie bis heute heißt. Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erhielt eine Straße in Altona Anna Wohlwills Namen. Agnes Wolffson (1849 – 1936)

wuchs als Tochter des Hamburger Rechtsanwalts und Politikers Isaak Wolffson (1817 – 1895) und seiner Frau Johanna, geb. Hirsch, in Hamburg auf. Über ihre Bildung ist im Einzelnen nichts bekannt. Durch ihre M ­ utter und die in der Familie als mütter­liche Freundin lebende Minna Leppoc kam sie mit ­Themen der Frauenbewegung und dem ehrenamt­lichen Engagement bürger­licher Frauen in Hamburg in Kontakt. Sie fiel früh durch eigene Ideen, selbständiges Handeln und ihre sozialen Neigungen auf: 17-jährig unterrichtete sie z. B. unentgelt­lich an der Paulsenstiftschule; 1877 finanzierte sie mit Hilfe ihres Freundeskreises

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zwei Witwen und deren Kinder, während die Frauen eine Ausbildung absolvierten. Sonst aber führte sie das typische Leben einer unverheirateten Bürgertochter im 19. Jahrhundert, pflegte ihre Schwestern Helene Philipp und Martha, s­ päter ihre ­Mutter. Danach führte sie dem verwitweten Vater den Haushalt und engagierte sich bei der Kindererziehung im Haus ihres Bruders Albert Wolffson. Erst mit 46 Jahren begann sie ein eigenes Leben: Sie adoptierte eine neunjährige Waise und gründete eine Haushaltungsschule für Volksschülerinnen. Der Unterricht war kostenlos, denn W. hatte ein Vermögen geerbt und setzte es für ihre sozialen Ideen ein. Der ersten Schulgründung folgten rasch zwei weitere: 1899/1900 besuchten 465 Schülerinnen W.s Schulen. Als 1906 an zwei staat­lichen Mädchenvolksschulen Haushaltungsunterricht obligatorisch eingeführt wurde, schenkte W. ihre drei Schulen dem Hamburger Staat und widmete sich anderen Aufgaben. Seit 1901 beteiligte sie sich an einer Ferienkolonie für VolksschülerInnen, 1902 gründete sie eine Haushaltungsschule für Töchter der Oberschicht. Trotz des hohen Schulgeldes wurde die Schule gut besucht, benötigte allerdings einen staat­lichen Zuschuss. 1910 gründete W. ein Arbeiterinnenheim, das sie nach ihren Schwestern Martha-­Helene-­Heim nannte. Es bot sechzig erwerbstätigen Frauen Einzelzimmer und Kurse, die Allgemeinbildung vermittelten. Im August 1914 richtete W. hier die erste Hamburger Kriegsküche ein. Durch die Infla­tion verlor sie ihr Vermögen und lebte nun in so bescheidenen Verhältnissen, dass ihr der Senat ab 1925 eine Ehrenrente bezahlte. Schon 1922 war sie wegen ihrer Verdienste mit der Anna-­Wohlwill-­Gedenkmünze geehrt worden. 1929 erhielt eine der von ihr gegründeten Schulen den Namen Agnes-­Wolffson-­Schule. Nach 1933 kürzten die Na­tio­ nalsozialisten ihre Ehrenrente. Heute erinnert eine Straße in Hamburg an Agnes Wolffson. Emilie Wüstenfeld (1817 – 1874)

wurde als Tochter des Kaufmanns W. E. Capelle in Hannover geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters lag die Erziehung ganz in der Hand der M ­ utter, die im Geschäft mitarbeiten musste. Sie schickte die Tochter auf die Bürgerschule. In Zeichnen, Musik und Fremdsprachen erhielt sie Privatunterricht. Emilie C. heiratete mit 24 Jahren den angesehenen Kaufmann Julius Wüstenfeld und zog mit ihm nach Hamburg. Ehe und Familie – drei Kinder wurden geboren – füllten sie nicht aus. Interessiert an politischen und sozialen Veränderungen schloss sie sich mit ihrer Freundin Bertha Traun (später: Ronge°) den Deutsch-­Katholiken an, die demokratische Ziele verfolgten und Frauen eine gleichberechtigtere Rolle in der Gesellschaft einräumen wollten. Diese Vorstellungen führten sie mit Johanna Goldschmidt und Amalie Westendarp 468 zusammen, die sich mit jüdischen Frauen im „Sozialen Verein Hamburger

468 Sie war wie Bertha Ronge und Margarethe Schurz* ebenfalls eine Tochter des Hamburger Stockfabrikanten Meyer.

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Frauen zur Ausgleichung konfessioneller Unterschiede“ trafen. Gemeinsam gründeten sie den „Bildungsverein deutscher Frauen“ in Hamburg. Entschlossen, nicht nur über Veränderungen nachzudenken, sondern wirk­lich zu handeln, gründeten die Frauen 1850 eine „Hochschule für das weib­liche Geschlecht“ und holten dafür Friedrich und Karl Fröbel sowie dessen Frau Johanna Fröbel nach Hamburg. Zur Realisierung des Plans hatten die Frauen Gelder eingeworben und Unterstützung unter den reichen Hamburgern gefunden. Die Hochschule bot begüterten Bürgertöchtern allgemeines Wissen und eine Ausbildung zur Kindergärtnerin oder Lehrerin. Doch schon nach zwei Jahren musste das Experiment abgebrochen werden: Unstimmigkeiten ­zwischen den Frauen und Karl Fröbel, der Rückzug einiger Geldgeber und die Scheidung Bertha Trauns gehörten zu den Gründen. Nach dem Scheitern der Hochschule wandte sich W. sozialen Aufgaben zu, vor allem der Armenschule. Sie hatte aus dem Misserfolg den Schluss gezogen, dass Bildung von unten aufgebaut werden müsse, wollte man tatsäch­lich zu Veränderungen kommen. Deshalb konzentrierte sie sich auf die Armenschule für Mädchen, das „Paulsenstift bei den Pumpen“. Sie gewann die Überzeugung, dass Frauen nur über ökonomische Unabhängigkeit zu mehr Freiheit und Selbständigkeit gelangen könnten. 1867 gründete sie den „Verein zur Förderung weib­licher Erwerbstätigkeit“ und eröffnete noch im selben Jahr eine Gewerbeschule für Mädchen. Außerdem förderte sie die Umwandlung der Armenschule in eine höhere Schule für Mädchen und setzte sich dafür ein, dass Anna Wohlwill° Leiterin dieser Schule wurde. Dass sich die Schule erfolgreich vergrößerte und weiterentwickelte, erlebte sie noch mit.

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Stammbaum Sophie Isler und Otto Magnus

Israel Abraham Isler*  Henriette (Jette) Meyer 1763 – 1849 1776 – 1853 Halberstadt Hamburg Braunschweig Hamburg

Amalie (Malchen) 1806 – 1855 Hamburg

Meyer Isler 1807 – 1888 Hamburg

Berend Meyer  2. Friederike Schwabe 1764 – 1851 1788 – 1851 Dessau Hamburg Rudolstadt Hamburg



(1. Ehe: Hannchen Kaufmann)

Emma Meyer (7 Geschwister) 1816 – 1886 Dessau Hamburg

Sophie Isler 1840 – 1920 Hamburg Braunschweig



 Gertraud Helene Rau Rudolf Magnus 1873 – 1927 1875 – 1947 Braunschweig Pontresina München Doorn/NI.

5 Kinder

Lore Witkowski 1910 – 2005 Berlin Rehovot/IL

Otto Lilien 1907 – 1991 Charlottenburg Rehovot/IL



2 Kinder *lt. Heiratsurkunde 1805: Israel Isserl Halevi Isler ben Abraham Segal s.A. und Gitchen Meir s.A. Braunschweig.

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Salomo (Samuel) Magnus  Arabella Helfft 1778 – 1812 1773 – 1851 Burgdorf/Peine Braunschweig Braunschweig

(Geschwister) Jakob (Julius) Magnus 1804 – 1882 Braunschweig

Otto Magnus 1836 – 1920 Braunschweig

Isaac Hertz Sarah Samson  1778 – 1849 1776 – 1856 Braunschweig? Berlin Wolfenbüttel Berlin



Carl Magnus 1839 – 1910

Minna Samson (5 Geschwister) 1809 – 1883 Berlin? Braunschweig

Anna Magnus 1846 – 1899

 Ephraim M. Lilien Helene Magnus 1880 – 1971 1874 – 1925 Braunschweig Birkerod/DK Drohobicz/Gal. Badenweiler

 Hannah Lilien 1911 – 2009 Braunschweig  Kgs. Lyngby/DK

Tom Peters

Bernard Peters (Bernhard Pietrkowski) 1910 – 1993 Posen  Kgs. Lyngby/DK

Susan Peters

Stammbaum Sophie Isler und Otto Magnus   |

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Stammbaum der Familie Ehrenberg-Rosenzweig-Isler Eliezer Liebermann (Halle)



Lea Eisenstadt 1678(?) – 1780

Meyer Halle 1725 – 1799

Levy Meyer 1767 – 1797 unverheiratet

Seligmann Meyer  Bella Moses 1770 – 1842 – 1853



Samuel Meyer  Jette Maas 1773 – 1853 1781 – 1845

ab 1809 nannten sich die Brüder Seligmann und Samuel Meyer Ehrenberg

Helene = Frau Gudemann Moritz Meyer Ehrenberg Marcus (1807 – 1850) 1809 – 1884 Bram (1805 – 1835, Jamaika) Röschen = Frau Scharlach (*1810) Emilie = Frau M. Ehrenberg (1812 – 1888)  Jettchen (*1814) vier Söhne Jacob (1816 – 1836)

Meyer Maximilian Otto Ehrenberg 1849 – 1928  Emilie Fischel 1859 – 1941 (Tante Emmi)

Hans E. Paul E. Victor E. 1883 – 1958 1884 – 1960 1891 – 1976

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Philipp Samuel Ehrenberg 1811 – 1882  Julie Fischel 1827 – 1922

Victor Gabriel Ehrenberg 1851 – 1929  Helene von Ihering 1852 – 1920

Kurt E. Rudolf E. 1882 – 1964 1884 – 1969

Hedi (Born) 1891 – 1970

Richard Ehrenberg 1857 – 1921  Helene Rochow 1867 – 1937

Gertrud Walter E. (Herrmann) 1902 – 1988 1901 – 1966

Seligmann Landau



Rösele

Hale (Heilchen) Landau 1741 – 1818

Jette Meyer  Israel Abraham Isler 1776 – 1853 1763 – 1849

Julie E. 1813 – 1847  Wichelhausen o. J.

Malchen E. 1822 – 1885  Louis Rosenzweig 1818 – 1875

ein Sohn eine Tochter

Ursel E. 1905 – 1969

Erika (Galley) 1908 – 2001

Malchen Isler 1806 – 1855  Cohen o. J.

Meyer Isler 1807 – 1888  Emma Meyer 1816 – 1886

drei Töchter zwei Söhne

Traugott Rosenzweig 1848 – 1887  Henriette o. J.

Georg Rosenzweig 1857 – 1918  Adele Alsberg 1867 – 1933

ein Sohn eine Tochter

Franz Rosenzweig 1886 – 1929

Sophie Isler 1840 – 1920  Otto Magnus 1836 – 1920

Rudolf M. 1873 – 1927

Helene (Lilien) 1880 – 1971

Stammbaum der Familie Ehrenberg-Rosenzweig-Isler   |

361

Auszug aus dem Stammbaum der Familie Samson

Marcus Gumbel Moses Fulda 1660 – 1733 Wolfenbüttel

Meyer Gumbel um 1702 – 1764





Minkle † 1732

Hannah Goldschmidt † 1743

Hannah Gumbel † 1808 Wolfenbüttel

Samson Gumpel † 1767



Röschen Cohe † 1747



(2.) Philipp Samson 1743 – 1805 Wolfenbüttel

u. a. Sarah Samson 1776 – 1856 Wolfenbüttel Berlin

Sophie Isler 1840 – 1920 Hamburg Braunschweig

Rudolf Magnus

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Otto Magnus 1836 – 1920 Braunschweig

Helene Magnus (Lilien)

(1.) Hertz Samson 1738 – 1794 Wolfenbüttel



Schendel Oppenheim † 1797 Braunschweig

u. a. Isaac Hertz Samson 1778 – 1849 Braunschweig Berlin

Dr. Salomon Magnus 1778 – 1812 Burgdorf

u. a. Minna Samson 1809 – 1883 Braunschweig

Carl Magnus  Bertha Oppenheimer 1839 – 1910 1848 – 1939 Braunschweig Braunschweig

Adoptivkinder



Bella Helfft 1773 – 1851 Braunschweig

u. a. Dr. Jacob/Julius Magnus 1804 – 1882 Braunschweig

Anna Magnus 1846 – 1899 Braunschweig

Fritz A.



Felix Aronheim 1843 – 1913 Braunschweig

Marie Ruth Ernst A. (Sievers) (von Büren)

Stammbaum der Familie Samson   |

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Meyer Islers Artikel zum Unterrichtsgesetz Quelle: Hamburger Nachrichten, 31. Januar 1868 (Abschrift) Der neue Entwurf des Unterrichtsgesetzes. Dispensation jüdischer Kinder vom Schulbesuch am Sonnabend.

§ 30. des von der interimistischen Oberschulbehörde vorgelegten Entwurfes zu einem Unterrichtsgesetz lautet: „Der Religionsunterricht wird nach der evange­lisch lutherischen Confession ertheilt. Auf Verlangen der Eltern werden Kinder, ­welche anderen Confessionen angehören, von der Theilnahme an d ­ iesem Unterricht, Kinder israelitischer Eltern auch von dem Schulbesuche am Sonnabend entbunden.“ Dafür hat der (zweite) von der Bürgerschaft am 21sten Januar 1866 niedergesetzte Ausschuß in seinem kürz­lich ausgegebenen Bericht, der am 5ten Februar zur Berathung der Bürgerschaft gestellt werden soll, folgende Fassung vorgeschlagen (§ 33). „Der Religionsunterricht wird in der Regel nur nach der evange­lisch-­lutherischen Confession ertheilt, Ausnahmen finden jedoch statt, wenn ein größerer Bruchtheil der Schüler einer anderen Confession angehört; in ­diesem Fall wird auch für ­solche Schüler Religionsunterricht ertheilt.“ In den Motiven zu letzterem Paragraphen heißt es: „Der Ausschuß kann die Dispensa­tion der Kinder israelitischer Eltern vom Schulbesuch am Sonnabend nicht empfehlen, da die dadurch hervorgerufene Störung für die ganze Schule und die bestreffenden Schüler selbst nachtheilig ist, und ein in Vorschlag gebrachter Ersatz durch Privatunterricht unter Aufsicht des Schuldirectors nicht für genügend erachtet würde.“ Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, dass in der Verfassung Gewissenssensfreiheit für alle Staatsangehörigen, daß in dem Gesetze vom 7ten November 1864 betreffend die Verhältnisse der hiesigen israelitischen Gemeinden § 8 es heißt: „Die Armen- und Krankenpflege, so wie das Armen-­Schulwesen der israelitischen Gemeinden hört auf ein obligatorischer zu sein. Die erforder­lich werdende Unterstützung wird den jüdischen Staatsangehörigen künftig in gleicher Weise wie allen übrigen Staatsangehörigen durch die öffent­lichen Wohlthätigkeits-­Anstalten gewährt.“ so leuchtet ein, daß durch die Bestimmung des Ausschusses dieser Gewissensfreiheit, wie dieser Gleichheit mit anderen Staatsangehörigen nicht Genüge geschiehdt. Juden in Hamburg unterscheiden sich seit den Gesetzen vom Februar 1849 und 7ten November 1864 von anderen Hamburgern durch nichts Anderes als durch ihre Religion: in dieser ist das Gebot der Sabbath­heiligung eines der wichtigsten, das einem großen Theil unter ihnen unverbrüch­lich ist; sie opfern demselben Handel und Erwerb und widmen den Sabath der religiösen Erbauung. Gerade dieser Theil der jüdischen Bevölkerung ist es, der am ersten auf den Unterricht

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seiner Kinder in den beabsichtigten Volksschulen sein Augenmerk richten wird; er wird die Wohlthat dieser Schulen in Anspruch nehmen, da er um ein mäßiges Schulgeld das Ziel der von ihnen erstrebten Bildung für seine Kinder als ein glückverheißendes ansehen muß. Ihm wird aber das Opfer seiner religiösen Überzeugung zugemuthet, er darf seine Söhne und Töchter nicht an dem Gottesdienst des heiligen Tages Theil nehmen lassen, ohne auf die Segnungen der Staatsschulen zu verzichten. Man wende nun einmal die Sache um, und frage, ob ein Schulgesetz denkbar sei, das christ­liche Kinder von dem Kirchbesuch an Sonn- und Festtagen ausschließt! Durch diese Bestimmung also wird mit der einen Hand wieder genommen, was die andere Hand so eben gegeben, oder besser, was der Mund so eben versprochen hatte. Ohne Befreiung vom Unterricht am Sabbath giebt es für die meisten jüdischen Kinder keine Staatsschulen. Dieses Moment ist in der Motivierung des Ausschusses ganz unberücksichtigt geblieben; wir können die freund­liche Absicht, die in dem neuen Passus: „Wenn ein größerer Bruchtheil der Schüler einer andern Confession angehört, wird auch für s­olche Schüler Religionsunterricht ertheilt.“ ausgesprochen wird, nicht als einen Ersatz ansehen. Denn in d ­ iesem Religionsunterricht, wenn er jüdischen Kindern zu Gute kommen sollte, wird gelehrt: Du sollst den siebenten Tag als Ruhetag heiligen. Die Behörde aber sagt: Du mußt an dem siebenten Tag arbeiten wie Deine christ­lichen Mitschüler.*) Die Einwendungen des Ausschusses gehen aus disziplinarischen Erwägungen hervor, es werden dadurch Störungen für die ganze Schule und die betreffenden Schulen selbst hervorgerufen. Wir haben also zu untersuchen, ob diese Störungen wirk­lich vorhanden, und wenn vorhanden, ob sie nicht zu beseitigen sind. Sie sind vorhanden, wenn dadurch Lehrgegenstände in ihrem Zusammenhang unterbrochen werden; wenn also z. B. ein Geschichtsunterricht Mittwochs und Sonnabends stattfindet, und die jüdischen Kinder die Sonnabendsstunden versäumen, so werden sie den Zusammenhang verlieren, und ihre Unkenntniß wird allerdings den Lehrer, sowie die übrigen Kinder stören. Aber dies ist nicht von der Nothwendigkeit geboten. Es gibt eine Reihe von Unterrichtsgegenständen, die ­dieses Zusammenhangs im Vortrag entbehren, wenn diese auf den Sonnabend gelegt werden, so braucht weder für die Schule, noch für die jüdischen Schüler irgend w ­ elche Ungelegenheit einzutreten. Dahin gehört das Schreiben, ein Theil des Rechenunterrichts (da wo die Schüler jeder durch besondere Aufgaben beschäftigt wird), Zeichnen, Turnen, Singen; es wird sich auch aus anderen Gründen empfehlen, den christ­lichen Religionsunterricht, als Vorbereitung auf den Sonntags Gottesdienst, auf den Sonnabend zu verlegen. Es wird also nicht schwer sein, den Stundenplan so einzurichten, daß durch das Fehlen der jüdischen Kinder am Sonnabend keine Störung für die Schule und die übrigen Schüler eintritt. Der Nachtheil, der die versäumenden Kinder selbst betrifft, wenn sie in gewissen Gegenständen weniger unterrichtet werden als andere, ist frei­lich nicht zu umgehen. Das muß sich aber jede Minderheit gefallen lassen, wenn sie dafür Exem­tionen in Anspruch nimmt. Wird es allzu fühlbar, so ist es Sache der Eltern, oder unter bestimmten Voraussetzungen der ganzen Gemeinde, für deren Abhülfe zu sorgen. Daß ein Privatunterricht unter Aufsicht des Directors nicht ausführbar ist, darin stimmen wir dem Ausschuß durchaus bei. Meyer Islers Artikel zum Unterrichtsgesetz   |

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Um noch einen Einwand, der gemacht werden könnte, im Voraus zu begegnen, wollen wir auch der anderen jüdischen Feiertage erwähnen, die jüdische Kinder am Schulbesuch hindern könnten. Ihre Zahl aber ist äußerst gering, und die meisten derselben (das Osterfest, das Pfingstfest) fallen in der Regel mit entsprechenden christ­lichen Festen zusammen, andere (das Neujahrsfest, der Versöhnungstag) mit üb­lichen Ferien, so daß also auch hierin keine größere Unbequem­lichkeit übrig bleibt, als auch sonst bei Versäumniß der Schule durch Unwohlsein und andere Ursachen hervorgebracht wird. Wir achten [sic!] daher das dringende Gesuch an die ehrenwerthen Mitglieder der Bürger­ schaft, bei Berathung des § 35 des neuen Entwurfs die Fassung des § 30 aus dem Entwurf der interimistischen Oberschulbehörde, soweit er eine Dispensa­tion jüdischer Schüler von dem Schulbesuch am Sonnabend entspricht, wiederherzustellen. I *) Wir können auch den Zweifel nicht unterdrücken, ob diese Bestimmung in der Praxis wirk­lich zu Gunsten der Juden gedeutet werden wird; die Ausdrücke Confession und ein größerer Bruchtheil lassen der intoleranten Gesinnung weite Hinterthüren offen.

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Nachruf auf Siegmund Meyer Hamburger „Fremdenblatt“ – ohne nähere Angaben. Typoscript Hannah Peters, wohl nach einer handschrift­lichen Abschrift Emma Islers. Siegmund Meyer, Emma Islers Bruder, geboren 1815, starb am 3. 7. 1882.

Nachruf auf Siegmund Meyer   |

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Abbildungsnachweis Album P23 – 125: Familienarchiv Isler/Magnus/Lilien – P23, in: The Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem/Israel (CAHJP) (Abb. 6, 8, 9, 17) Ausschnitt aus E. M. Liliens „Abendblatt II“: Privatfoto Hannah Peters, Familienarchiv Peters, Poschiavo/Schweiz (Abb. 7, 18) Autographen und der Nachruf auf Siegmund Meyer: in den Briefbänden (Abb. 1, 2, 3, 10, 14, 16 und Nachruf auf Siegmund Meyer) Fotographien vom Haus Campestraße: Privatarchiv Ute Herrmann, Schleswig (Abb. 13, 15) Stadtpläne Braunschweig und Hamburg: Meiers Großes Konversa­tionslexikon (s. u.) (Abb. 4, 5, 11, 12)

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Bibliographie 1. Quellen Briefe der Familien Isler und Magnus

(Titel der von mir benutzten Bände, geordnet nach der Chronologie der Briefe. Die Bände, wie auch die Originalbriefe: Familienarchiv Isler/Magnus/Lilien – P23, in: The Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem/Israel (CAHJP ). Eine Kopie der Transkriptionen unter dem Titel „Briefnachlass Isler“ auch im Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg) Letters. Sophie Isler and Otto Magnus during the Time of Their Engagement 1867, Part I and II. Briefe der Familie Isler 1828 – 1830. Diese Briefe wurden in den Jahren geschrieben, als Meyer Isler Student in Bonn und Berlin war. Transcribed by Hannah Peters, 2001. Letters Meyer and Emma Isler to each other June to August 1841. These letters were copied from the originals (written in gothic script) by Hannah Peters in 1998. Letters of Meyer and Emma Isler to each other. 1843 [und 1845/6]. Meyer Isler in Wolfenbüttel to visit his sick mother July to August 1849. Emma Isler in Schwalbach 9.7.–5. 8. 1850. Emma Isler in Helgoland July–August 1852. Emma Isler in Helgoland August–September 1853. Letters from Emma and Meyer Isler to each other while Emma is on vaca­tion in Helgoland and Meyer and their daughter Sophie in Hamburg July/August 1843. Correspondence between Emma and Meyer Isler living in Hamburg and their daughter Sophie and husband Otto Magnus living in Braunschweig 1873 [2] [8. 4. 1873 – 8. 10. 1873], typed in 1998 from the originals by Hannah Peters. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1867/1868 (nicht gebunden). Letters Otto and Sophie Magnus 1868/1869/1870. Transcribed from the originals by Birgit Christensen, 2003 (nicht gebunden). Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1872 I und II. Übertragen von den originalen Briefen von Hannah Peters und Birgit Christensen, 2002. Correspondence between Emma and Meyer Isler living in Hamburg and Their daughter Sophie and husband Otto Magnus living in Braunschweig (1873) 1 [1. 1. 1873 – 6. 4. 1873]. Transcribed from the original letters by Hannah Peters in 2001. Letters Emma and Meyer Isler and Sophie and Otto Magnus 1873 – 1874 [11. 10. 1873 – 30. 6. 1874]. Transcribed from the original handwritten letters by Hannah Peters, 2001. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1876. Die Briefe wurden von den handgeschriebenen Briefen kopiert von Hannah Peters, 2005. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1877. Die Briefe wurden von den handgeschriebenen Originalen kopiert von Hannah Peters, 2005. Bibliographie  |

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Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1880. Transcribed from the original handwritten letters by Hannah Peters, 2002. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1881. Die Briefe wurden übertragen von den originalen handgeschriebenen Briefen von Hannah Peters, 2004. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1882. Die Briefe wurden übertragen von den originalen handgeschriebenen Briefen von Hannah Peters, 2004. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1883. Die Briefe wurden übertragen von den originalen handgeschriebenen Briefen von Hannah Peters, 2003. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1884. Die Briefe wurden übertragen von den originalen handgeschriebenen Briefen von Hannah Peters, 2003. Briefe Emma und Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1886. Die Briefe wurden übertragen von den originalen handgeschriebenen Briefen von Hannah Peters, 2002. Briefe Meyer Isler, Sophie und Otto Magnus 1887/1888. Die Briefe wurden übertragen von den originalen handgeschriebenen Briefen von Hannah Peters, 2005. E. M. Lilien, Briefe an seine Frau 1905 – 1925. Herausgegeben von Otto M. Lilien und Eve Strauss. Mit einer Einleitung von Ekkehard Hieronimus. Eine Veröffent­lichung des Leo Baeck Instituts, Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag, Athenäum 1985. Autobiographien, Biographisches

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DEUTSCH-JÜDISCHE AUTOREN DES 19. JAHRHUNDERTS SCHRIFTEN ZU STAAT, NATION, GESELLSCHAFT. WERKAUSGABEN HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL BROCKE, JOBST PAUL UND SIEGFRIED JÄGER BD. 5 | LUDWIG PHILIPPSON

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